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Alfred Meyerhuber<br />
<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>:<br />
Im <strong>Umkreis</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Daphne</strong>
Alfred Meyerhuber<br />
<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>: Im <strong>Umkreis</strong> <strong>der</strong> <strong>Daphne</strong>
Alfred Meyerhuber<br />
<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>: Im <strong>Umkreis</strong> <strong>der</strong> <strong>Daphne</strong>
Inhalt<br />
6<br />
25<br />
26<br />
27<br />
28<br />
29<br />
30<br />
32<br />
38<br />
43<br />
44<br />
46<br />
50<br />
56<br />
67<br />
86<br />
87<br />
89<br />
90<br />
94<br />
101<br />
115<br />
123<br />
127<br />
130<br />
134<br />
136<br />
Vorspann<br />
Vorwort<br />
Verwandlungen<br />
Lucifer<br />
Die Frau des Lot<br />
Gregor Samsa<br />
Midas<br />
Saulus und Paulus<br />
Dr. Jekyll und Mr. Hyde<br />
<strong>Daphne</strong><br />
<strong>Daphne</strong>: Die Werkgruppe<br />
<strong>Daphne</strong> I<br />
<strong>Daphne</strong> II<br />
<strong>Daphne</strong> Büste<br />
Kopf 248 (<strong>Daphne</strong>)<br />
<strong>Daphne</strong> III<br />
Fig. 352 (<strong>Daphne</strong> IV)<br />
Fig. 356 (<strong>Daphne</strong> V)<br />
<strong>Daphne</strong> ?VI!<br />
Exkurs: Maske<br />
Exkurs: Person<br />
Exkurs: Kontrapost<br />
Exkurs: Wille zur Körperplastik<br />
Exkurs: Mimesis<br />
Fig. 264 (<strong>Daphne</strong> VII)<br />
<strong>Daphne</strong> VIII<br />
<strong>Daphne</strong> IX<br />
Kopf 252 (<strong>Daphne</strong>)<br />
Kopf 253 (<strong>Daphne</strong>)<br />
Fig. 365, Fig. 367 (<strong>Daphne</strong> X)<br />
Schlusswort<br />
Nachwort<br />
Impressum
12
13
16
17
25
Vorwort<br />
<strong>Daphne</strong> heißt die Werkgruppe, heißen die aus Holz und Wachs geschaffenen, in<br />
Bronze gegossenen Statuen, Büsten und Köpfe des Künstlers <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>.<br />
Entstanden sind sie in den Jahren 2015 und 2016.<br />
Die Gruppe umfasst vier überlebensgroße Skulpturen, nämlich <strong>Daphne</strong> I,<br />
<strong>Daphne</strong> ?VI!, <strong>Daphne</strong> VIII und <strong>Daphne</strong> IX, eine lebensgroße, nämlich <strong>Daphne</strong> II<br />
(Kore), <strong>der</strong>en Büste und den daraus abgeleiteten <strong>Daphne</strong>-Korenkopf, sowie die Kleinplastiken<br />
<strong>Daphne</strong> III, <strong>Daphne</strong> IV, <strong>Daphne</strong> V, <strong>Daphne</strong> VII und Figur 365 und 366.<br />
Den Endpunkt <strong>der</strong> Werkgruppe <strong>der</strong> <strong>Daphne</strong>s stellen die Werke Kopf 252 und Kopf<br />
253 dar. Und als Anfangs- und Ausgangspunkt steht die große, die schöne, die<br />
lächelnde <strong>Daphne</strong> I, die Stammschwester ihrer insgesamt vierzehn schwesterlichen<br />
Nachfolgerinnen.<br />
Es wird sich zeigen, dass die griechische Sage <strong>der</strong> vom liebestollen Apollon bedrängten<br />
und verfolgten Bergnymphe für den Künstler <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> lediglich <strong>der</strong><br />
Anlass war, Fragen, die Menschen seit allen Zeiten stellen, sich selbst vorzulegen<br />
und zu versuchen Antworten im <strong>Umkreis</strong> <strong>der</strong> <strong>Daphne</strong> zu geben.
28<br />
1<br />
Bibel, Offenbarung, 12. Kapitel,<br />
3. Vers<br />
2<br />
aaO, Vers 9<br />
3<br />
Heinrich Krauss, Die Engel,<br />
Überlieferung, Gestalt, Deutung,<br />
München 2000, Seite 67.<br />
4<br />
aaO, Seite 67<br />
5<br />
aaO, Seite 95<br />
6<br />
Bibel, Lukas, Kapitel 10, Vers 18<br />
7<br />
Krauss, aaO, Seite 53<br />
8<br />
Krauss, aaO, Seite 53<br />
Verwandlungen<br />
Lucifer<br />
Das Böse, das uns überall umlauert und unfassbar, gestaltlos scheint,<br />
nimmt furchterregende Ausmaße an, wenn es seine Macht, die aber nach<br />
christlichem Gedankengut zugleich <strong>der</strong>en Ende, also Ohnmacht ist, zeigt,<br />
wie in <strong>der</strong> Offenbarung des Johannes wo <strong>der</strong> große, rote Drache erscheint,<br />
<strong>der</strong> „sieben Häupter und zehn Hörner und auf seinen Häuptern<br />
sieben Kronen“ 1 trägt.<br />
Und dieser „große Drache, die alte Schlange … heißt <strong>der</strong> Teufel und<br />
Satanas, <strong>der</strong> die ganze Welt verführt.“ 2<br />
Dieses wi<strong>der</strong>wärtige Ungeheuer, war jedoch einst, vor Äonen, bevor die Menschen<br />
wurden, <strong>der</strong> erste Engel im Himmel Gottes, des Allmächtigen.<br />
Aus den neun Chören <strong>der</strong> Engel war er, bevor er zum Drachen wurde, <strong>der</strong><br />
Erhabenste und <strong>der</strong> Mächtigste.<br />
Unter ihm, ihm untertan waren <strong>der</strong> Neunte Chor <strong>der</strong> Engel, <strong>der</strong> Achte Chor<br />
<strong>der</strong> Erzengel, <strong>der</strong> Siebente Chor <strong>der</strong> Fürstentümer, <strong>der</strong> Sechste Chor <strong>der</strong><br />
Gewalten, <strong>der</strong> Fünfte Chor <strong>der</strong> Mächte, <strong>der</strong> Vierte Chor <strong>der</strong> Herrschaften, <strong>der</strong><br />
Dritte Chor <strong>der</strong> Throne, <strong>der</strong> Zweite Chor <strong>der</strong> Cherubim und <strong>der</strong> Erste und<br />
höchste Chor aller Seraphim! 3<br />
Die sechsflügeligen Seraphim erglühten und erglühen „vom Feuer ekstatischer<br />
Liebe zu Gott, die sie unablässig ‘Heilig, Heilig, Heilig‘ singen<br />
lässt.“ 4 Der abgefallene Engel aber war „die schönste aller himmlischen<br />
Kreaturen“ 5 . Vor seinem Sturz, das höchste aller englischen Wesen.<br />
Warum aber ist diese leuchtende Gestalt „wie ein Blitz vom Himmel<br />
gefallen?“ 6<br />
Er, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> griechischen Bibel „heosphoros“, Bringer <strong>der</strong> Morgendämmerung,<br />
in <strong>der</strong> lateinischen „lucifer“, Bringer des Lichts 7 , genannt wurde,<br />
in Texten aus Ugarit, dem uralten kanaanäischen Stadtstaat „Glänzen<strong>der</strong>“<br />
und – poetisch schön – „Sohn <strong>der</strong> Morgendämmerung“ 8 ?<br />
Aus freien Stücken soll er sich vom machtvollsten aller guten Wesen zum<br />
bösesten Höllenfürsten gewandelt, sich verwandelt haben! Die furchterregendste<br />
umwälzendste, folgenreichste Verwandlung durch alle Zeiten, selbst<br />
vor <strong>der</strong> Zeit, von Gut zu Böse.<br />
9<br />
Bibel, Lukas, Kapitel 17, Vers 32<br />
Die Frau des Lot<br />
Im christlichen Neuen Testament erinnert Christus selbst an eine an<strong>der</strong>e<br />
Verwandlung, von <strong>der</strong> bereits die Genesis weiß, wenn er spricht: „Gedenket<br />
an des Lot Weib“ 9 .
Im Koran wird von Lot, arabisch Lut, in verschiedenen Suren berichtet. Und<br />
das Alte Testament <strong>der</strong> Christen-Bibel erzählt uns, dass <strong>der</strong> Herr „Schwefel<br />
und Feuer“ herabregnen lies „auf Sodom und Gomorra“ 10 .<br />
Lot war mit Frau und seinen Töchtern auf Geheiß zweier Engel aus <strong>der</strong> Stadt<br />
geflohen, mit auf den Weg war ihm und seiner Familie <strong>der</strong> englische Imperativ<br />
gegeben: „Errette deine Seele und sieh nicht hinter dich!“ 11<br />
Trocken formuliert die Bibel weiter: „Und sein Weib sah hinter sich und<br />
ward zur Salzsäule.“ 12<br />
Lebendiges Fleisch und Blut einer Frau verwandelten sich in eine Säule aus<br />
unbelebten Kristallen von Salz.<br />
Die Stimmen, die heute „Frau Lot“ <strong>der</strong>en Namen in <strong>der</strong> Bibel nicht genannt<br />
wird, als „ein Vorbild ehren und von ihr lernen wollen, sind<br />
zahlreich.“ 13<br />
Man kann freilich das Thema ignorieren und schlicht feststellen: „Heute<br />
könnte sich Frau Lot getrost umwenden. Wo einst die sündigen<br />
Städte Sodom und Gomorra standen, würde sie die neuen israelischen<br />
Pottasche-Werke erblicken, <strong>der</strong>en einzige Sünde darin besteht,<br />
dass sie mit Verlust arbeiten …“ 14<br />
Wichtig in unserem Zusammenhang ist nur die Verwandlung einer Frau<br />
zu einer Gestalt aus Salz, dem, wie die eigentliche Wortbedeutung heißt,<br />
Schmutziggrauen!<br />
Gregor Samsa<br />
Mit Buchwaren handelte er. Seit fünf Jahren. Den Beruf mochte er nicht.<br />
Nachts verschloss er die Türe seines Zimmers in <strong>der</strong> Wohnung seiner Familie.<br />
Eines Morgens erwachte er als zu einem „ungeheuren Ungeziefer“<br />
geworden.<br />
So groß geblieben allerdings wie er war, Gregor Samsa. Zunächst nur äußerlich<br />
verwandelt wird er einsamer und einsamer und wandelt sich auch<br />
im Inneren zum Tier. Für Vater, Mutter und Schwester bleibt er innen wie<br />
außen unwillkommenes Ungeziefer, 15 ein Störenfried. Seine Tierlaute, für<br />
Menschenohren zwar verständlich, verhallen aber gerade deshalb doppelt<br />
ungehört. Ein Apfelwurf seines Vaters bleibt in Samsas Rücken verfaulend<br />
stecken. Ausgegrenzt – körperlich und seelisch – stirbt Gregor Samsa als<br />
Verwandelter, als Opfer. Unverwandelt blieb seine Einsamkeit.<br />
Einsam war auch Franz Kafka, als er begann „Die Verwandlung“ zu Papier<br />
zu bringen. Seine unerfüllte, unerfüllbare Liebe zu Felice Bauer, sie in Berlin,<br />
er in Prag, ausformuliert in beinahe täglichen Briefen, war zugleich voll von<br />
Angst.<br />
10<br />
Bibel, 1. Buch Mose, Kapitel 19,<br />
Vers 24<br />
11<br />
Bibel, 1. Buch Mose, Kapitel 19,<br />
Vers 17<br />
12<br />
Bibel, 1. Buch Mose, Kapitel 19,<br />
Vers 26<br />
13<br />
etwa Rüdiger Sachau, Sommerpredigt<br />
des Freundeskreises <strong>der</strong><br />
Evangelischen Akademie Berlin<br />
vom 28.06.2015<br />
14<br />
Ephraim Kishon, Drehn Sie sich<br />
um, Frau Lot!, München 1991,<br />
Seite 12.<br />
15<br />
Franz Kafka, Die Verwandlung,<br />
Köln 2005, Seite 5.<br />
29
16<br />
Florian Illies, 1913, Der Sommer<br />
des Jahrhun<strong>der</strong>ts, Frankfurt/<br />
Main, Seite 10.<br />
17<br />
zit. nach Florian Illies, aaO,<br />
Seite 57f.<br />
Kafka hatte – einige Tage nur – keine Nachricht von Felice erhalten, „da<br />
fing er an, als er aus unruhigen Träumen erwachte, verzweifelt<br />
‘Die Verwandlung‘ an zu schreiben“ 16<br />
Am 17.02.1913 steht in einem Brief an sie:<br />
Manchmal denke ich, du hast doch, Felice, eine solche Macht<br />
über mich, verwandle mich doch zu einem Menschen, <strong>der</strong> des<br />
Selbstverständlichen fähig ist. 17<br />
Gregor Samsa ist Franz Kafka, Franz Kafka ist wer?<br />
30<br />
Midas<br />
Midas, <strong>der</strong> mythische König, bat verwandelt zu werden, um verwandeln zu<br />
können. Dionysos gewährte ihm den Wunsch und fortan wurde alles, was<br />
Midas berührte zu Gold. Reichtum, unermesslicher Reichtum war ihm gewiss.<br />
Kein Mensch unter <strong>der</strong> Sonne wäre in Vergangenheit, Gegenwart und<br />
Zukunft begüterter, reicher gewesen als er. Eine Burg aus Gold, die Waffen,<br />
Kleidung, ein Streitwagen, nein alle Streitwagen und die Pferde, alle Pferde.<br />
Aber auch seine Tochter! Alles wurde zu Gold! Und <strong>der</strong> Wein im Becher,<br />
also Becher und Wein, die Früchte, das Brot, das Fleisch, das aus <strong>der</strong> Quelle<br />
rinnende Wasser, was er auch essen und trinken wollte verwandelte seine<br />
Berührung unweigerlich zu Gold. Sein baldiger Tod war ihm gewiss.<br />
Erst als er auf Rat des Dionysos durch ein Bad im Fluss Paktolos, diesem das<br />
Goldgeschenk übergeben konnte, verlor er seine Gabe, seine Verwandlung,<br />
den erfüllten Wunsch. Der Fluss freilich wurde zum goldreichsten Gewässer.<br />
An einer weiteren Verwandlung des Midas war <strong>der</strong> sattsam bekannte Apollon<br />
beteiligt. Der lichte Gott wollte, wie weiland gegen Marsyas, im Wettstreit<br />
gegen den zotteligen Pan, <strong>der</strong> die Syrinx blies, mit <strong>der</strong> Kithara Sieger<br />
sein. Der unglückliche Midas erkannte jedoch Pan den Preis zu. Marsyas,<br />
<strong>der</strong> frühere Gegenspieler des Apollon, jener mit <strong>der</strong> Doppelflöte, wurde von<br />
dem schönen Gotte enthäutet. Midas dem Preisrichter des weiteren Wettstreits<br />
wurden lediglich die Ohren langgezogen, jedoch zu Eselsohren!<br />
Midas verbarg dieses Schandmal <strong>der</strong> Verwandlung unter einer Mütze und<br />
außer seinem Barbier kannte das furchtbare Geheimnis kein Mensch. Bis jener,<br />
den sein berufsbedingtes Mitteilungsbedürfnis (Barbier!) schier platzen<br />
lies zum Fluss vor die Stadt lief, ein Loch grub und – um die Bürde <strong>der</strong> Verschwiegenheit<br />
abzuladen - dreimal hineinrief: „König Midas hat Eselsohren!“<br />
Dann verschüttete er sorgfältig das Loch. Jedoch die Binsen am Ufer<br />
hatten die Worte sehr wohl vernommen und mit jedem Rauschen des Windes<br />
gaben sie dieses Wissen <strong>der</strong> Binsen, die Binsenweisheit also, weiter.
Saulus und Paulus<br />
Ein Verwandlungserlebnis vor <strong>der</strong> Stadt Damaskus, ein Damaskus-Erlebnis<br />
eben, wie<strong>der</strong>fuhr dem gnadenlosen Christenverfolger Saulus, denn <strong>der</strong><br />
„schnaubte … mit Drohen und Morden wi<strong>der</strong> die Jünger des Herrn.“ 18<br />
Ein Licht umleuchtete ihn, warf ihn vom Pferd. Er konnte drei Tage nichts essen,<br />
nichts trinken und nichts sehen. Und Jesus erklärte ihm mit aller Deutlichkeit,<br />
dass es schwer wäre wi<strong>der</strong> den Stachel zu löcken!<br />
„Saulus aber, <strong>der</strong> auch Paulus heißt“ war „voll heiligen Geistes“ 19<br />
Und „alsbald predigte er Christum in den Schulen, dass <strong>der</strong>selbe und<br />
Gottes Sohn sei“. 20<br />
Durch göttlichen Einfluss also geschah an ihm eine Verwandlung vom Bösen<br />
zum Guten.<br />
Dr. Jekyll und Mr. Hyde<br />
Im Jahre 1886 berichtete Robert Louis Stevenson, <strong>der</strong> Verfasser „Der Schatzinsel“<br />
von dem „Strange case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde“.<br />
Ein hochherziger und gutmütiger Arzt war Dr. Henry Jekyll, dessen Freund<br />
Mr. Edward Hyde hingegen wild und ungezügelt. Jekyll lebte ein tugendhaftes<br />
an <strong>der</strong> christlichen Nächstenliebe ausgerichtetes Leben. Hyde wurde<br />
zum Mör<strong>der</strong>! Und doch Jekyll war Hyde und Hyde war Jekyll.<br />
Dem Arzt gelang es nämlich, dass Gute vom Bösen im Menschen zu trennen.<br />
Ein, sagen wir, Zaubertrank machte es möglich. Er spaltete die eine Person auf<br />
in zwei Personen, in den guten Jekyll und den bösen Hyde.<br />
War es wie die Trennung, die uralte und spaltendste Trennung von Gott und<br />
Teufel, dem Guten-Guten vom Guten-Bösen?<br />
Ja, denn es „bedarf nicht viel, um aus ganz normalen Menschen<br />
Massenmör<strong>der</strong> zu machen“ 21 .<br />
Und: Die Verwandlung eines guten in einen bösen Menschen geschieht je<strong>der</strong>zeit<br />
und überall. Und: Es bedarf dazu keiner großen Anstrengungen, we<strong>der</strong><br />
in philosophischer, psychologischer, geschweige denn in praktischer Hinsicht.<br />
Je<strong>der</strong> kann Jekyll, je<strong>der</strong> kann Hyde sein o<strong>der</strong> werden.<br />
Das Verwandlungspotential, das je<strong>der</strong> Mensch in sich trägt ist wie <strong>der</strong> Sprengstoffgürtel<br />
des Selbstmordattentäters. Es ist gewaltig und unumkehrbar, wenn<br />
die Zündung erfolgte.<br />
18<br />
Bibel, Die Apostelgeschichte<br />
des Lukas, 9. Kapitel, Vers 1<br />
19<br />
aaO, Kapitel 13, Vers 9<br />
20<br />
aaO, Kapitel 9, Vers 20<br />
21<br />
Harald Welzer, Täter, Frankfurt<br />
Main 2005, Seite 268.<br />
31
32<br />
Massimiliano Soldani<br />
(1656-1740)<br />
Apollo and <strong>Daphne</strong>,<br />
um 1700, Terracotta<br />
Cleveland Museum of Art<br />
22<br />
Joachim Richter-Reichhelm,<br />
Apollo und <strong>Daphne</strong>, Ovids Metamorphose<br />
und <strong>der</strong> fruchtbare<br />
Augenblick in <strong>der</strong> Skulptur Berninis,<br />
Nor<strong>der</strong>stedt 2013, S. 6.<br />
23<br />
Ovid Metamorphoseon libri,<br />
X. <strong>Daphne</strong> (505 – 507): sic agna<br />
lupum, sic cerva leonem, sic<br />
aquilam penna fugiunt trepidante<br />
columbae, hostes quaeque suos,<br />
505<br />
24<br />
Ovid, aaO, 540.<br />
25<br />
Ovid, aaO, 550.<br />
26<br />
Fritz Baumgart, Geschichte <strong>der</strong><br />
abendländischen Plastik, Köln<br />
1957, S. 33.<br />
27<br />
Ovid, aaO, 543<br />
<strong>Daphne</strong><br />
Publius Ovidius Naso, genannt Ovid (43 v.u.Z. – 17 n.u.Z.), berichtet uns ausführlich<br />
in den ‘Metaporphoseon libri‘, in den Büchern <strong>der</strong> Verwandlungen,<br />
was mit <strong>Daphne</strong> und Apollon geschah, besser nicht geschah!<br />
Denn Ovids <strong>Daphne</strong> wehrt den mächtigen, den kräftigen, den liebestollen<br />
Apollon auf wun<strong>der</strong>same, jedoch schmerzvolle Weise ab.<br />
Und das kam so: Apollon verspottet Eros (<strong>der</strong> Römer Ovid nennt ihn Cupido),<br />
den Gott <strong>der</strong> Liebe, Sohn des Ares und <strong>der</strong> Aphrodite, prahlt mit seinen Ruhmestaten<br />
und belächelt Pfeil und Bogen des Knaben. 22<br />
Mit zweien seiner Pfeile fügt <strong>der</strong> Kleine dem vermeintlich Großen eine bittersüße<br />
(o<strong>der</strong> doch saure?), jedenfalls empfindliche Nie<strong>der</strong>lage bei. Der Liebespfeil<br />
trifft Apollon ins tiefste Mark. Er ist entfacht, er entflammt, er entbrennt in<br />
übergroßer Liebe zu <strong>der</strong> schönen <strong>Daphne</strong>.<br />
In <strong>Daphne</strong> bohrt sich <strong>der</strong> zweite Pfeil des Eros, dieser mit einer bleiernen Spitze<br />
versehen, die Scheu, ja Abscheu gegenüber Apollon bewirkt. Sie flieht, sie<br />
flieht wie das Lamm vor dem Wolf, <strong>der</strong> Hirsch vor dem Löwen, die Taube vor<br />
dem Adler. 23<br />
Der bedrängende Apollon verfolgt sie, die Atemlose, „von den Fittichen<br />
Amors geför<strong>der</strong>t“ 24 bis zu ihrer Erschöpfung. Und „grünend erwachsen<br />
zu Laub die Haare, zu Ästen die Arme“ 25 .<br />
Der Apollon des Gian Lorenzo Bernini (1598 – 1680), den er als junger Mann<br />
von kaum fünfundzwanzig Jahren schuf, umfasst <strong>Daphne</strong> mit seiner Linken.<br />
Mit Daumen und Zeigefinger berührt er noch zarte Haut, die an<strong>der</strong>en Finger<br />
ertasten schon Rinde, <strong>der</strong> sich in den Lorbeerbaum verwandelnden <strong>Daphne</strong>.<br />
Ihr flehen<strong>der</strong> Blick zeigt, wie sehnlich sie wünscht, von ihrem Leiden, ihrer<br />
Schönheit (!) erlöst zu werden.<br />
Und Bernini ist ein Beispiel jahrhun<strong>der</strong>telanger „unaufhörlicher Verfeinerung,<br />
Komplizierung, Versinnlichung, Verweltlichung und auch<br />
Veräußerlichung“, 26 die sich nach ihm noch fortsetzt und steigert, bis abrupt<br />
zu Beginn des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts Künstler, auch und gerade unter dem Einfluss<br />
damals noch so genannter primitiver Kunst, neue und an<strong>der</strong>e Antworten<br />
gaben.<br />
Flüchtigen Laufes erschöpft, fleht sie: „Vater, ach hilf“, schreibt Ovid. 27<br />
Und dann verwandelt sich das Wesen aus Fleisch und Blut in ein Wesen aus<br />
Holz und Blatt, von <strong>der</strong> Frau zum Lorbeerbaum eine vollständige, eine unumkehrbare<br />
Verwandlung.<br />
<strong>Daphne</strong> heißt Lorbeer.
34<br />
<strong>Daphne</strong> I,<br />
2015, Bronze,<br />
H. 2,55 m, 6 Ex.<br />
28<br />
Ovid, aaO, 549<br />
29<br />
Ovid, aaO, 554<br />
30<br />
Wilhelm Heinrich Roscher<br />
(Hg.), Ausführliches Lexikon <strong>der</strong><br />
griechischen und römischen<br />
Mythologie, 1. Bd., Leipzig<br />
1884 – 1890, <strong>Daphne</strong>: „Von <strong>der</strong><br />
peloponnesischen <strong>Daphne</strong> wird<br />
noch erzählt, dass Leukippos,<br />
Sohn des Oinomaos von Pisa, sie<br />
liebte; um sich trotz ihrer Sprödigkeit<br />
ihr zu nähern, kleidete er<br />
sich als Mädchen und gewann als<br />
Jagdgenossin ihre Freundschaft;<br />
aber <strong>der</strong> eifersüchtige Apollon<br />
regt <strong>Daphne</strong> an zu baden, wobei<br />
Leukippos entlarvt und von den<br />
Mädchen mit ihren Jagdmessern<br />
und Speeren getötet wird.“<br />
<strong>Daphne</strong>: Die Werkgruppe<br />
<strong>Daphne</strong> I<br />
Überlebensgroß ist <strong>Daphne</strong> I eine machtvolle Erscheinung. Ihr Leib zeigt eine<br />
junge Frau voll Lebensenergie und Spannung, zeigt Brüste in vollendeter Form,<br />
ein Schönheitsideal. Und schön ist sie anzuschauen, <strong>Daphne</strong>, wie die Aphrodite<br />
von Melos, die Venus von Milo. Gleich ihr steht <strong>Klinge</strong>s <strong>Daphne</strong> mit<br />
bloßem Oberkörper und verhülltem Unterleib. Die Arme fehlen. Aphrodite ist<br />
durch die Zeiten zum Torso geworden. <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> hat <strong>Daphne</strong> als Torso<br />
geschaffen. Und <strong>Daphne</strong> I ist an<strong>der</strong>s als ihre mythische Schwester. Sie ist keineswegs<br />
erschöpft, ist nicht geflohen, nicht außer Atem. In Ruhe und Würde<br />
steht sie. Unbedrängt, aufrecht, alleine und für sich.<br />
Mit beiden Beinen ist sie schon eingewurzelt in <strong>der</strong> Erde. Kein Standbein und<br />
kein Spielbein.<br />
Nicht umzieht sich „mit geschmeidigem Bast…<strong>der</strong> schwellende Busen“. 28<br />
We<strong>der</strong> sind ihre Brüste Zeichen von Mutterschaft, noch sind sie geschlechtlich<br />
aufreizend betont. Sie sind, was sie sind in vollendeter Form. Sind, obwohl so<br />
prägnant und - im Wortsinne – greifbar, eher die Idee einer weiblichen Brust<br />
und – wie<strong>der</strong>um im Wortsinne – unantastbar.<br />
Der Unterleib ist bereits Holz, ist Stamm. Der Stamm eines mächtigen, gerade<br />
gewachsenen Kirschbaums. Die Rinde ist an einigen Körperstellen <strong>Daphne</strong>s,<br />
besser im Holze offen. <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> beantwortet die sich aufdrängende<br />
Frage, ob sich diese Rinde gerade öffnet o<strong>der</strong> aber schließt nicht, Dialektisch<br />
kann beides <strong>der</strong> Fall sein, kann beides möglich sein.<br />
Der Mythos trifft die Entscheidung eindeutig: Es ist „bergende Rinde“, 29<br />
Rinde die umhüllt, die sich schließt, wie ein Mantel den Körper bedeckt, das<br />
Holz beschirmt. Der Stamm selbst zeigt sich an<strong>der</strong>s.<br />
Apollon wollte <strong>Daphne</strong> nehmen, schänden, vergewaltigen. Er, <strong>der</strong> große, lichte<br />
Gott, missachtete ihren erklärten Willen, ihre Flucht, ihr Flehen. Allein sein<br />
Wille sollte Geltung haben! Und er hätte mit aller bösen Macht, die ihm zu<br />
Gebote stand, die Vernichtung <strong>Daphne</strong>s bewerkstelligt. So, wie heute, barbarische<br />
Männer, nicht selten in Rudeln, wie höllische Raubtiere, Frauen versklaven,<br />
misshandeln, an Körper und Seele vergewaltigen, ja töten. Apollon, <strong>der</strong><br />
Hochverehrte, war zu solchen Taten, solchen Schand-Taten, fähig und zeigte<br />
dies etwa als er Marsyas bei lebendigem Leibe häutete o<strong>der</strong> intrigant seinen<br />
Nebenbuhler Leukippos 30 durch aufgebrachte Nymphen zerreißen lies.<br />
<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s <strong>Daphne</strong> ist kein Opfer, lässt sich nicht in die Rolle <strong>der</strong> Willenlosen<br />
drängen.
36
Es ist unvorstellbar, dass sie, wie Ovids <strong>Daphne</strong>, die Erde (Tellus, also ihre<br />
Mutter!), <strong>der</strong>en Priesterin sie war, angefleht hätte, sie möge ihre schöne Gestalt,<br />
um <strong>der</strong>en Willen sie so leiden müsse, verschlingen o<strong>der</strong> ihren Vater, den<br />
Flussgott Peneios, er solle sie verwandeln, als Frau vergehen lassen.<br />
Diese <strong>Daphne</strong> verwandelt sich, weil sie es will. Und sie tut es nicht außer sich<br />
und voll von Panik. Sie steht aufrecht, nicht gejagt und lässt die von ihr gewollte<br />
Umwandlung geschehen, nur und deswegen, weil sie selbst es will.<br />
Und Apollon ist einflusslos, besitzt keine Macht, nicht über Körper und nicht<br />
über Geist, weil sie es nicht will!<br />
Der leicht nach rechts geneigte Kopf zeigt es. <strong>Daphne</strong> trägt den Wurzelstrunk<br />
nicht als Strafe und Ausdruck einer gewaltsamen, erzwungenen Verwandlung;<br />
es ist keine Dornenkrone, die ihr aufs blutige Haupt gepresst wurde. Sie trägt<br />
das Wurzelwerk leicht, ohne Belastung, wie die Krone einer Herrscherin, ohne<br />
Angst, hoheitsvoll. Erfüllt von <strong>der</strong> Hoheit einer Herrscherin aus sich heraus.<br />
Aus eigenem Wert und nicht von Gottes Gnaden, des Gottes Apollon!<br />
Und da ist noch ihr Lächeln:<br />
Es ist kein schmerzvolles, grimmiges, kein sardonisches Lächeln, weil sie von<br />
Apollon verfolgt wurde. Es ist schon gar kein unauslöschliches Gelächter, kein<br />
„Gelos asbestos“, 31 kein homerisches Göttergelächter. 32 Es ist kein Zeichen<br />
von Güte, wie das Lächeln des Parmenides. 33 Es ist kein englisches Lächeln,<br />
wie das des Engels am Hauptportal <strong>der</strong> Kathedrale zu Reims, kein gotisches<br />
Lächeln, das eher diesseitsentrückt ist und fast grinst. 34<br />
Es ist eher ein archaisches Lächeln, 35 wie das <strong>der</strong> Kouroi und Koren, als Ausdruck<br />
von Erhabenheit über Schicksalsschläge, über unentrinnbare Ereignisse.<br />
Es ist ein Lächeln zwischen dem leisen, verhaltenen, nur angedeutetem Lächeln<br />
einer überlegenen Frau, wie dasjenige <strong>der</strong> Uta von Ballenstedt, <strong>der</strong> Uta<br />
aus dem Westchor des Naumburger Doms und dem offenen, zugewandten,<br />
herzlichen Lächeln <strong>der</strong> Kaiserin Adelheid von Burgund aus dem Meißener<br />
Dom.<br />
Dieser Exkurs in die Kunstgeschichte ist keine bildungsbürgerliche Eitelkeit,<br />
son<strong>der</strong>n soll schlaglichtartig beleuchten, wie tief <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> Kunst <strong>der</strong> Vergangenheit<br />
in sein Werk als Grundlage eines ernsten Diskurses einlässt, ohne<br />
jemals Nachahmer o<strong>der</strong> gar Kopist zu sein.<br />
Doch zurück also zum Lächeln <strong>der</strong> <strong>Daphne</strong>: denn „die Klugheit lächelt und<br />
die Dummheit, <strong>der</strong> Stolz und die Bescheidenheit, die Überlegenheit<br />
und die Verlegenheit. Wir kennen das freundliche, das abweisende<br />
und das zurückhaltende, das spottende und das mitleidige, das verzeihende<br />
und das verachtende Lächeln“ 36 .<br />
<strong>Daphne</strong> I,<br />
2015, Bronze,<br />
H. 2,55 m, 6 Ex.<br />
31<br />
Paul Friedlän<strong>der</strong>, Das Lachen<br />
und die Philosophie, Berlin 1969,<br />
S. 21., vgl. auch Heinrich Furrer,<br />
Das Lächeln: Ein Beitrag zur Theorie<br />
<strong>der</strong> Beziehung von Ausdruck<br />
und Situation, 1978, passim.<br />
32<br />
Homer, Ilias, 1599f.<br />
33<br />
Gyburg Radke, Das Lächeln des<br />
Parmenides, Berlin 2006, S. 322.<br />
34<br />
Stephan Albrecht, Das Portal<br />
als Ort <strong>der</strong> Transformation,<br />
S. 280.<br />
35<br />
Helga Bumke, Statuarische<br />
Gruppen in <strong>der</strong> frühen griechischen<br />
Kunst, Berlin 2004, S. 102.<br />
36<br />
Helmuth Plessner, Das Lächeln<br />
in, pro regno, pro sanctuario,<br />
Festschrift für G. van <strong>der</strong> Leeuw,<br />
1950 in GS VII. S. 419-434, hier<br />
421.<br />
37
Und demzufolge ist „auch die Kulturbedeutung ambivalent“ 37 ; wir müssen<br />
also erforschen, welche Bedeutung <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> diesem Lächeln gab.<br />
Grenzen wir es ab: Nicht verlegen, nicht mädchenhaft scheu, nicht schuldvoll,<br />
aber auch nicht huldvoll, nicht betroffen, nicht getroffen, nicht überheblich<br />
stolz, nicht abweisend, nicht bitter und (von beson<strong>der</strong>er Bedeutung!) nicht<br />
nach außen gemeint!<br />
Son<strong>der</strong>n dieses Lächeln ist: überlegen, fraulich reif, versonnen, mit sich im<br />
Reinen, angemessen und (von beson<strong>der</strong>er Bedeutung!) nach innen gerichtet.<br />
Es ist aber auch offen, es ist eine Möglichkeit und wir wissen nicht wie sich<br />
dieses Lächeln entwickeln wird.<br />
So ist das Lächeln <strong>der</strong> <strong>Daphne</strong>! Es ist ein Augenblick <strong>der</strong> Ewigkeit, <strong>der</strong> alles in<br />
sich birgt.<br />
38<br />
37<br />
Karl-Siegbert Rehberg, Die<br />
Angst vor dem Glück, Anthropologische<br />
Motive in Alfred Bellebaum,<br />
Robert Hettlage (Hg),<br />
Glück hat viele Gesichter, Wiesbaden<br />
2010, S. 101.<br />
Lachen hat ein Gegenüber, über das gelacht wird.<br />
Lächeln kann ein Gegenüber haben. Es antwortet in einer Situation und auf<br />
eine Situation mit einem An<strong>der</strong>en, einem Du. Das seltene, das „Große Lächeln“<br />
ist dasjenige, das nur dem Lächelnden selbst gilt. Es ist kein erzwungenes<br />
Fotolächeln für beliebige An<strong>der</strong>e. Dieses Lächeln entsteht im Innersten<br />
und kommt aus ihm, ist ein Spiegel <strong>der</strong> Person und ihrer Haltung.<br />
Dies ist das Lächeln <strong>der</strong> <strong>Daphne</strong>.<br />
Es ist ein weises Lächeln, es ist ein Lächeln im Wissen um Werden und Vergehen,<br />
im Verstehen von werden und Vergehen und im Annehmen – und das ist<br />
das Größte – von Werden und Vergehen.<br />
Und dieses Lächeln erzählt die ganze Geschichte <strong>Daphne</strong>s, <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s<br />
<strong>Daphne</strong>:<br />
Und diese Geschichte kennt keinen gierigen Verfolger, <strong>der</strong> die Verfolgte in eine<br />
ausweglose Lage bringt, sodass sie Vater und Mutter um Hilfe anflehen muss.<br />
Der Apollon <strong>der</strong> <strong>Klinge</strong>schen Geschichte <strong>der</strong> <strong>Daphne</strong> hat we<strong>der</strong> physische<br />
noch psychische Macht, die Frau, die er begehrt, zum willenlosen Werkzeug<br />
machen zu können, sie also zu missbrauchen!<br />
Er kann seine Vorstellung, wie Ovid sie beschreibt, <strong>Daphne</strong> mit Gewalt zu nehmen<br />
nicht, nicht einmal ansatzweise verwirklichen. Die scheinbare, göttlichmännliche<br />
Überlegenheit dieses Apollon ist so wenig feststellbar, dass er für<br />
die von <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> erzählte Geschichte entbehrlich ist. Apollon ist nicht<br />
<strong>der</strong> Grund und <strong>der</strong> Zwang zur Verän<strong>der</strong>ung dieser Frau. Ja, es gibt einen Anlass<br />
zur Verwandlung.<br />
Jedoch beruht dieser auf einer freien Entscheidung von <strong>Daphne</strong>. Und sie entzieht<br />
sich jeglichem Übergriff, dem würdelosen Betasten, Begrapschen, den
geschlechtlichen Nötigungen, die von Apollon gewollt und geplant waren, dadurch,<br />
dass sie eine an<strong>der</strong>e, nicht antastbare Gestalt annimmt.<br />
Deswegen lächelt sie dieses versonnene Lächeln ihres rechten Mundwinkels.<br />
Der linke Mundwinkel zeigt sich deutlicher gebogen, fast ein wenig süffisant<br />
gehoben, als ob <strong>Daphne</strong> damit zeigen wollte, wie zufrieden sie ist, den unerträglichen<br />
Allmachtsphantastereien eines Mannes – Gottes ihren erfolgreichen,<br />
fraulichen Wi<strong>der</strong>stand entgegengesetzt zu haben. Dies, ohne selbst zu<br />
leiden, ohne sich selbst aufzugeben, ohne zu zerbrechen!<br />
Denn diese <strong>Daphne</strong> ruht in sich. Sie kann entscheiden und hat entschieden.<br />
Sie ist wie ein Mensch, <strong>der</strong> seine geliebte Heimat verlässt, jedoch nicht aus<br />
Not, Furcht o<strong>der</strong> Zwang, son<strong>der</strong>n weil er will. Weil er das Neue, das An<strong>der</strong>e<br />
sucht und damit freiwillig das Alte hinter sich lässt.<br />
In <strong>Daphne</strong> ist keine Trauer zu spüren über den Verlust ihrer menschlichen Gestalt.<br />
Denn für sie ist dieser Gestaltwandel kein Verlorengehen, kein Abschied<br />
nehmen für immer. Kurz, diese <strong>Daphne</strong> ist keine Trauernde, die ihr eigenes<br />
Ende, den Tod als Menschen, beweint. Diese Frau geht freudig, einer neuen,<br />
selbstgewählten Aufgabe entgegen. Sie ist Partnerin dann, wenn sie es will,<br />
sie ist Geliebte dann, wenn sie es will, sie wird Mutter dann, wenn sie es will!<br />
Und in diesem Augenblick wird dann erneut eine Verwandlung einsetzen, die<br />
Verwandlung des Baumes aus Blatt und Stamm in eine Frau aus Fleisch und<br />
Blut. Und deshalb lächelt <strong>Daphne</strong>.<br />
Es ist ein siegreiches Lächeln, kein Lachen, denn <strong>Daphne</strong> wollte an<strong>der</strong>s, als<br />
die <strong>Daphne</strong> von Markus Lüpertz, nicht töten. Friedrich Nietzsche sagt es im<br />
Zarathustra (Eselsfest): „Nicht durch Zorn, son<strong>der</strong>n durch Lachen tötet man.“<br />
Nein, <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s <strong>Daphne</strong> lächelt ohne Zorn.<br />
Dieses Bild einer Frau, das <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> zeigt, ist voll von Hoffnung. Er zeigt<br />
auch in diesen Zeiten voller Düsternis auf, wie Menschen, wie Mann und Frau<br />
sein können, um ein Leben in Würde und Respekt miteinan<strong>der</strong> zu führen.<br />
In einer solchen Welt ist kein Platz für die dunkle Seite des Apollon.<br />
39
40<br />
<strong>Daphne</strong> II,<br />
2016, Bronze,<br />
H. 1,67 m, 6 Ex.<br />
<strong>Daphne</strong> II (Kore)<br />
Kore, das attische Wort meint Mädchen, eine unberührte junge Frau also, eine<br />
Jungfrau. Die bekleidete Figur wurde zumeist aus Marmor, aber auch aus Bronze,<br />
Elfenbein, selbst Holz gefertigt und bemalt. Koren entstanden nach <strong>der</strong> kunstgeschichtlichen<br />
griechischen „Geometrischen Zeit“, also etwa 900 bis 700<br />
v.u.Z., vor <strong>der</strong> „Klassik“ um 500 bis 330 v.u.Z., also in <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> Archaik.<br />
Wie<strong>der</strong> und wie<strong>der</strong> wurde und wird archaische Kunst in die Nähe des Primitiven<br />
gerückt, als wären die griechischen Künstler nicht in <strong>der</strong> Lage gewesen, das,<br />
was sie darstellen wollten auch plastisch auszuformulieren. Welch Irrtum!<br />
Kore und Kouros, das männliche Pendant zu Kore, allerdings unbekleidet,<br />
folgen einem festen Kanon in Ausdruck und Haltung.<br />
Eine, man ist versucht zu sagen strenge, Symmetrie und stete Frontalität, Axialität<br />
und Vertikalität sind die Gestaltungsprinzipien dieser Skulpturen schlechthin.<br />
Deren Blick ist auf den vor <strong>der</strong> Skulptur stehenden, imaginierten Betrachter<br />
gerichtet. Der Blick hält sich an diesem Betrachter aber nicht auf. Er geht durch<br />
ihn hindurch in unbestimmte Ferne. Arme und Beine sind wenig bewegt. Arme<br />
angelegt, Beine allenfalls mit kleinem Schritt gezeigt.<br />
Koren, um die es hier geht, freilich aber auch Kouroi, sind auf sich bezogen,<br />
sind verinnerlicht, stehen im Außen und leben im Innen. Dies obwohl ihr<br />
„archaisches Lächeln“, diese beson<strong>der</strong>e Stellung ihrer hochgezogenen Mundwinkel,<br />
zunächst als freundliche Wendung zu einem Gegenüber empfunden<br />
werden kann, ist es dennoch Ausdruck ihrer seelischen Verfassung, ein Ausdruck<br />
dessen, was ohne Beteiligung eines Außen im Innen geschieht! Ein Abbild<br />
<strong>der</strong> Gelassenheit gegenüber den Fährnissen des Lebens, ein Im-Reinen-Sein mit<br />
sich selbst. Keine Überheblichkeit, kein Überheben über an<strong>der</strong>e Menschen und<br />
ihre Gebrechen, Leiden, ja Schicksale, son<strong>der</strong>n gefasst sein, darauf, was das<br />
eigene Schicksal bringen wird. Und auch ihre Körper drücken dies aus.<br />
Ursprünglich Säulen, also Architekturelemente, wandeln sie sich zu menschlichen<br />
Figuren. Das Bild ihrer Stützfunktion jedoch, die Verbindung über ihre<br />
Rücken mit Fassaden von Gebäuden o<strong>der</strong> vor allem Tempeln und die tragende<br />
Kraft als Karyatiden (wie in <strong>der</strong> Zeit des Reichen Stils <strong>der</strong> griechischen Klassik<br />
eindrucksvoll in <strong>der</strong> Korenhalle des Erechtheion zu sehen ist), zeigt sich weiterhin,<br />
auch wenn sich die Koren von den Fesseln <strong>der</strong> Tempel und Gebäude befreit<br />
haben, in ihrer Gestalt. Sie, die Koren (und Kouroi) stehen aufrecht, ihr Körper<br />
ist eine Vertikale im Raum, voll Stärke und Kraft. Ein Bild vollendeter Harmonie<br />
des Innen und Außen. Ausdruck des „kalós kai agathós“ des Schön-und-Gut-<br />
Seins, also des Ideals <strong>der</strong> vortrefflichen Menschen <strong>der</strong> archaischen Philosophie.<br />
Aufrecht, geradezu unbeugsam, einem Stamm gleich, einer Säule, steht folglich<br />
auch <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s Kore-<strong>Daphne</strong>, wie ihre archaischen Anverwandten.
41
42<br />
<strong>Daphne</strong> II,<br />
2016, Bronze,<br />
H. 1,67 m, 6 Ex.<br />
Der eher gedrungen wirkende Körper wird seiner lastentragenden Aufgabe<br />
offenkundig gerecht, besser, könnte ihr gerecht werden. Was lastet auf<br />
<strong>Daphne</strong> II? Eine äußerliche Last nicht, obwohl <strong>der</strong> Kopf karyatidenhaft abgeschnitten<br />
ist, bereit, sich von Gewicht nicht „hinab“ drücken zu lassen,<br />
son<strong>der</strong>n zu tragen, zu ertragen, einen tatsächlichen o<strong>der</strong> auch nur gefühlten<br />
Architrav. Nichts ist ersichtlich. <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s Kore ist auch nicht dieser Funktionen<br />
beraubt, also beispielswiese aus einer Korenhalle entfernt worden. Sie<br />
ist zudem keine Botschaft aus vergangen Jahrtausenden als archäologischer<br />
Schatzfund, wie eine ausgegrabene Statue also. Sie steht im Hier und Jetzt.<br />
Trägt sie aber etwa eine innerliche Last, diese <strong>Daphne</strong>? Ist sie nicht, wie<br />
<strong>Daphne</strong> I, eine überlegene souveräne Frau, <strong>der</strong>en Handlungsmaßstab die<br />
eigene Entscheidung, die Selbstbestimmung ist?<br />
Ist sie nicht frei von <strong>der</strong> Einflussnahme des gierigen Verfolgers?<br />
Was sagt uns die Erscheinung von <strong>Daphne</strong> II hierzu?<br />
Sie lächelt, wie Koren lächeln. Aber an<strong>der</strong>s als Koren, ist sie verletzt, verwundet<br />
an und in ihrer Seele. Und lächelt. Dennoch! In ihrer vergehenden, sich verwandelnden<br />
Körperlichkeit zeigt sie ihre Sehnsucht nach Heilung, heil werden, heil<br />
sein, zeigt sie ihre Sehnsucht nach Berührung, berührt werden, berühren und<br />
im weiteren Sinn berührt sein.<br />
Betrachten wir das von <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> geschaffene Modell aus Holz. Der Unterleib<br />
ist ein Stamm, ein umrindeter zumal, <strong>der</strong> an die alte Funktion <strong>der</strong> Kore<br />
als Karyatide erinnert. Ein Teil eines Lindenstammes, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Zeit eines Menschenalters<br />
empor gewachsen war. Die Rinde im Frontalansichtsbereich zeigt<br />
sich als geschlossenes Kleid, als Bedeckung <strong>der</strong> Füße, <strong>der</strong> Beine, des Beckens<br />
und <strong>der</strong> Scham. Im seitlichen Bereich zeigt <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> eine Blöße <strong>der</strong> Figur,<br />
indem er Rinde mit <strong>der</strong> Säge entfernt und den Schwung des Unterkörpers modelliert.<br />
Damit evoziert <strong>der</strong> Künstler die archaischen Kleidungsstücke des Chiton<br />
o<strong>der</strong> Peplos, die meist seitlich geöffnet waren und somit Blicke auf den bloßen<br />
Körper <strong>der</strong> Trägerin gestatteten. Der Oberkörper auch geformt aus massivem Lindenholz,<br />
das aufgrund seiner Glätte <strong>der</strong> Büste eine haptische Hautoberfläche<br />
beschert, ist mit Rinde eines an<strong>der</strong>en Baumes zum Teil bedeckt. Diese Rinde<br />
zeigt eine völlig an<strong>der</strong>e Struktur als die grob gerasterte Rinde des Stammes, des<br />
Unterleibs also, und stammt von einem Kirschbaum. Sie zeichnet sich durch<br />
große, glatte Anteile <strong>der</strong> Rindenoberfläche aus und korrespondiert deshalb mit<br />
dem Materialcharakter des Lindenholzes <strong>der</strong> Büste. Diese Kirschrinde umringt<br />
nämlich die Taille <strong>der</strong> <strong>Daphne</strong>-Kore wie ein Mie<strong>der</strong>, fast ein Korsett und betont<br />
damit ihre wohlgeformten Brüste. Der rechte Arm fehlt völlig, mit ihm sogar <strong>der</strong><br />
anschließende Teil <strong>der</strong> Schulter und wirkt wie durch einen Schwerthieb abgetrennt.<br />
Auch <strong>der</strong> linken Seite <strong>der</strong> Kore fehlen ebenfalls Arm und Schulter, jedoch
43
44<br />
sitzt, besser hockt, als wäre es ein Tier, eine Eule <strong>der</strong> Athene etwa, ein massives<br />
Stück einer Baumrinde und weist eindrücklich auf die stattfindende Verwandlung<br />
<strong>der</strong> <strong>Daphne</strong> in einen Baum hin. Zugleich ist dies bildhauerisch <strong>der</strong> Gegenpart<br />
zur verlorenen Schulter auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Körperhälfte. Die Körperlichkeit <strong>der</strong><br />
Kore, ihr Formenvokabular wirkt zwar nicht naturalistisch, aber natürlich. Ein<br />
Bruch mit dieser Gestaltung zeigt allerdings <strong>der</strong> Übergang des Oberkörpers zum<br />
Kopf, <strong>der</strong> Hals. Er ist mit einem schrägen, jedoch geradlinigen Schnitt dem Thorax<br />
aufgesetzt, mit <strong>der</strong> Grundfläche eines Trapezes, ausgeformt als Hexae<strong>der</strong>.<br />
Der Kopf ist mitsamt dem Hals aus weichem Pappelholz skulptiert. Diese Weichheit<br />
vor allem die Großporigkeit des Holzes zeigt <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> und setzt sie als<br />
Gestaltungselement in Kontrast zur Glätte <strong>der</strong> Brüste, vor allem im Stirnbereich<br />
des Kopfes ein. Aber auch die Schrunden im Bereich <strong>der</strong> linken Braue, des rechten<br />
Nasenflügels und <strong>der</strong> rechten Wange weisen durch diesen Holzcharakter auf<br />
Verletzungen <strong>der</strong> Skulptur hin, die wie<strong>der</strong>um im deutlichen Gegensatz zu dem<br />
lächelnden Mund zu sehen sind.<br />
Dieses Konglomerat <strong>der</strong> verschiedenen Hölzer und Rinden von Eiche, Kirsche,<br />
Ahorn und Pappel ist eine Assemblage, die die unterschiedlichen Materialitäten,<br />
gar den Charakter dieser Materialien zur Aussage durch den Künstler zwingt<br />
– schon beim Modell <strong>der</strong> Skulptur. Denn, um dies erneut in Erinnerung zu rufen,<br />
als Original eines seiner Werke bezeichnet <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> nicht das von seinen<br />
Händen unmittelbar geschaffene Holzmodell, son<strong>der</strong>n erst den transmutierten<br />
Bronzeguss. Diese Bronze aber ist in <strong>der</strong> Tat ein neues Werk im Verhältnis zur<br />
Holzskulptur. Die Verschiedenartigkeit des Aussehens und damit <strong>der</strong> Aussage<br />
<strong>der</strong> Hölzer bleibt freilich durch Abformung und Abguss erhalten, jedoch sind es<br />
eben keine unterschiedlichen Hölzer o<strong>der</strong> Rinden mehr, son<strong>der</strong>n ausschließlich<br />
das Material Bronze. Somit schließt sich die Skulptur zu einer bislang nicht vorhandenen,<br />
wie neu geborenen Einheit, zu einem erst hier geschlossenen Werk<br />
zusammen.<br />
Durch die Patinierung, eigentlich eine Bemalung, wie die <strong>der</strong> archaischen Koren,<br />
freilich mit an<strong>der</strong>en Farben, jedoch bezogen auf das Material Bronze und dieses<br />
betonend, hebt <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> hervor, lenkt den Blick und schafft Schwerpunkte,<br />
die diejenigen des Materialcharakters vertiefen.<br />
Die Rinde, das neue Kleid <strong>der</strong> sich wandelnden <strong>Daphne</strong>, ist in dunklen erdigen,<br />
dem Holz angemessenen Tönen als dem Urmaterial wie bestätigt. Kopf, Hals<br />
und Oberkörper zeigen ein helles, kaltes Grün. Erstmals im Werk des Künstlers<br />
tauchen als Erhöhung von Augen und Mund neue Farben auf. Gelb für die Augen,<br />
Rot für den Mund, wodurch eine vermeintliche, eine vor<strong>der</strong>gründige Lieblichkeit<br />
entsteht. Diese ist diametral zu <strong>der</strong> schweren Bürde, welche die Kore-<strong>Daphne</strong>,<br />
die zweite <strong>Daphne</strong> in sich trägt.
<strong>Daphne</strong> II, Büste<br />
Weshalb nimmt <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> seiner <strong>Daphne</strong> II den umkleideten, umrindeten<br />
Unterleib weg? Än<strong>der</strong>t sich dadurch <strong>der</strong> Inhalt, <strong>der</strong> Gehalt <strong>der</strong> Skulpturenaussage,<br />
wenn „nur“ noch die Büste <strong>der</strong> Figur <strong>Daphne</strong> II gezeigt wird?<br />
Nein und ja zugleich.<br />
Die Grundaussage <strong>der</strong> Arbeit bleibt. Es ist eine in Verwandlung begriffene Kore,<br />
die durch ihre innere Zerrissenheit gekennzeichnet ist. Sie leidet unter <strong>der</strong><br />
stattgefundenen Verfolgung<br />
und versucht diese „wegzulächeln“.<br />
Dieses Lächeln<br />
aber rückt durch die Weglassung<br />
des Unterleibes stärker<br />
in den Fokus <strong>der</strong> Betrachtung.<br />
Der dahinterliegende<br />
Schmerz <strong>der</strong> angegriffenen<br />
und dadurch missbrauchten<br />
Frau wird offenkundiger.<br />
Und <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> zeigt<br />
wie<strong>der</strong>um eines seiner Gestaltungsprinzipien,<br />
nämlich<br />
eine scheinbar eindeutige<br />
Aussage zu konterkarieren,<br />
zu wi<strong>der</strong>rufen.<br />
Den Betrachter führt er,<br />
um ihn ans Ziel zu bringen,<br />
zunächst in die Irre, denn<br />
jener glaubt eine starke,<br />
nicht übergriffig beeinflussbare<br />
Frau vor sich zu haben,<br />
erkennbar an ihrem breiten<br />
Lächeln. Ein spannungsvolles<br />
Spiel zwischen Innen und<br />
Außen.<br />
Büste <strong>Daphne</strong> II,<br />
2016, Bronze,<br />
H. 78 cm, 6 Ex<br />
45
46<br />
Kopf 248 (<strong>Daphne</strong>-Kore)<br />
Eine noch sich steigernde Verdichtung <strong>der</strong> Problematik <strong>der</strong> an und in <strong>der</strong><br />
Seele verwundeten <strong>Daphne</strong>, die ihren Schmerz weglächelt, scheint <strong>der</strong> Kopf<br />
<strong>der</strong> Koren-<strong>Daphne</strong> zu zeigen.<br />
Jedoch ist dieser Kopf keine simple Reduktion von <strong>Daphne</strong> II über die Büste<br />
von <strong>Daphne</strong> II hin allein auf <strong>der</strong>en Kopf, <strong>der</strong> nunmehr sozusagen ohne Unterleib<br />
und ohne Oberleib gezeigt wird. Denn die Betrachtung des Kopfes<br />
von <strong>Daphne</strong> II und dieses Korenkopfes zeigt signifikante Unterschiede auf.<br />
Zunächst aber die Gemeinsamkeiten: Die Gesichtszüge ähneln sich stark,<br />
<strong>der</strong> Farbauftrag auf den jeweiligen Köpfen wirkt, als habe sich diese <strong>Daphne</strong><br />
für ein Fest bereit gemacht. Und schließlich erinnert die Form des Kopfes an<br />
die Aufgabe, Lasten karyatidenhaft zu tragen.<br />
An<strong>der</strong>s, ganz an<strong>der</strong>s jedoch ist die Aussage in den tieferen Schichten dieser<br />
Arbeit zu sehen. Es ist glaubhaft, fühlbar, dass <strong>der</strong> Korenkopf sein Lächeln<br />
nicht nur an <strong>der</strong> Oberfläche zeigt und dies in eklatanter Diskrepanz zu dem,<br />
wie es im Inneren aussieht, stünde. Hier sind Körper und Seele eins. Dieses<br />
Lächeln ist das echte Lächeln <strong>der</strong> Kore, das archaische Lächeln <strong>der</strong> Erhabenheit<br />
über Schläge des Schicksals, über die brutale Verfolgung <strong>Daphne</strong>s<br />
durch Apollon.<br />
Und <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> erreicht dies durch Verwendung des Kopfes von <strong>Daphne</strong><br />
II. Die Weitergabe, Wie<strong>der</strong>verwendung von Holzteilen bereits entstandener<br />
und in Bronze gegossener Skulpturen ist ein Gestaltungsmerkmal des<br />
Künstlers, das bei genauer Betrachtung und Beobachtung nicht selten festgestellt<br />
werden kann. Es ist wie die Weitergabe von Leben von Generation zu<br />
Generation. Der jetzt Lebende erinnert in Haltung, Gesichtszügen, Stimme<br />
an einen lange vergangenen Vorfahren, <strong>der</strong> wie<strong>der</strong>um gleichsam weiterhin<br />
existieren darf – in <strong>der</strong> Erinnerung! Diese Fortsetzung von Formen ist<br />
„dauerhafter als Erz“ (exegi monumentum aere perennius, Horaz, Oden,<br />
Liber III, Carmen XXX), weil sie nicht eigentlich Material, das zum Erz, zur<br />
Bronze gewordene Holz körperlich weitergibt, son<strong>der</strong>n die Gedanken, die<br />
Absicht des Künstlers. <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> überarbeitet den Korenkopf <strong>der</strong><br />
<strong>Daphne</strong> II fast unmerklich. Die linke Gesichtshälfte ist im Stirn- und Augenbereich<br />
unverän<strong>der</strong>t. Von <strong>der</strong> rechten Hälfte sind wenige Millimeter abgetragen,<br />
Brauenbögen und Nasenschwung vertieft und in einer Linie zusammengefasst.<br />
Und <strong>der</strong> Mund lächelt an<strong>der</strong>s, voller, sinnlicher und unzerstört.<br />
Dieser Kopf hat allem Leid getrotzt, er ruht in sich, das archaische Lächeln<br />
zeigt, dass alle Schicksalsschläge überwunden sind. Und es ist ein Lächeln,<br />
das von Innen kommt und das Gesicht, das Außen also, überstrahlt. An<strong>der</strong>s<br />
wie<strong>der</strong>um als das <strong>der</strong> <strong>Daphne</strong> I, das auch die, sagen wir es ruhig, Süffisanz
kennt, das überlegene Lächeln <strong>der</strong> eigentlichen Siegerin über den so siegesgewissen<br />
und nun besiegten Apollon. Jenes <strong>Daphne</strong>-Lächeln hat noch<br />
ein Gegenüber, nämlich den Verfolger, dem dies gilt. Dieser Kopf aber zeigt<br />
das selten, sehr selten wirkungsvoll dargestellte „große Lächeln“, das nur<br />
dem o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Lächelnden selbst gilt. Als Rückversicherung mit sich selbst im<br />
Reinen zu sein.<br />
47<br />
Kopf 248 (Kopf <strong>Daphne</strong>),<br />
2016, Bronze, H. 39,2 cm, 6 Ex.
48<br />
<strong>Daphne</strong> III,<br />
2016, Bronze,<br />
H. 49 cm, 9 Ex<br />
39<br />
Ovid, Metamorphoseon libri,<br />
Liber I, 10. <strong>Daphne</strong>, 550<br />
40<br />
Ovid, aaO, 547<br />
<strong>Daphne</strong> III<br />
Über <strong>Daphne</strong> III, so will es scheinen, schreibt „Das Hohe Lied Salomos“<br />
im vierten Kapitel in den Versen 1 bis 7:<br />
1. Siehe, meine Freundin, Du bist schön!<br />
Siehe, schön bist Du! Deine Augen sind,<br />
wie Taubenaugen zwischen deinen Zöpfen.<br />
Dein Haar ist wie eine Herde Ziegen,<br />
die gelagert sind am Berge Gilead herab.<br />
2. Deine Zähne sind wie eine Herde<br />
Schafe mit beschnittener Wolle, die aus <strong>der</strong><br />
Schwämme kommen, die allzumal Zwillinge<br />
haben und es fehlt keiner unter ihnen.<br />
3. Deine Lippen sind wie eine scharlachfarbene<br />
Schnur und Deine Rede lieblich.<br />
4. Deine Wangen sind wie <strong>der</strong> Ritz am Granatapfel<br />
zwischen Deinen Zöpfen.<br />
5. Dein Hals ist wie <strong>der</strong> Turm Davids,<br />
mit Brustwehr gebaut, daran tausend<br />
Schilde hangen und allerlei Waffen <strong>der</strong><br />
Starken.<br />
6. Deine zwei Brüste sind wie zwei junge<br />
Rehzwillinge, die unter den Rosen weiden.<br />
7. Bis <strong>der</strong> Tag kühl wird und die Schatten<br />
weichen, will ich zum Myrrhenberge gehen<br />
und zum Weihrauchhügel.<br />
8. Du bist allerdinge schön, meine Freundin,<br />
und ist kein Flecken an Dir.<br />
Die da besungen wird, kann nur diese <strong>Daphne</strong> sein, die jungfräulich zart, durch<br />
die Bronze auf alle Ewigkeit, vor uns steht. Lieblich lächelnd von schlanker erhabener<br />
Statur, mit festen wohlgeformten Brüsten – das unter Rosen weidende<br />
Zwillingspärchen <strong>der</strong> Rehe.<br />
Der Rock, sanft geschwungen, sitzt auf den Hüften. Das Lächeln im Antlitz ist<br />
fein gezeichnet. Das <strong>Daphne</strong>-Haar, das ihre Verwandlung zeigt, ist „wie im<br />
Frühjahr geschnittener Haselnuss“ (sagt nicht das Hohe Lied Salomos,<br />
son<strong>der</strong>n <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>). Hat <strong>Daphne</strong> III ihre Verwandlung von <strong>der</strong> jungen Frau<br />
zur vollendeten Schönheit etwa wie Ovids <strong>Daphne</strong> aus den Metamorphosen<br />
selbst unterbrochen, gar beendet? Hat sie unbekannte Göttinnen und Götter<br />
angefleht, „die Schönheit mein ver<strong>der</strong>be durch Verwandlung“ 39 ? Hat<br />
ihre offenkundige Schönheit sie ebenso gequält, weil man (Mann) „allzusehr“<br />
an ihr Gefallen fand? 40 Wir wissen es nicht. Möglich erscheint es und so überlässt<br />
es <strong>der</strong> Künstler dem Betrachter, seine eigene Geschichte zu denken und<br />
zu fühlen, die ebenso ihre Geschichte, nämlich die von <strong>Daphne</strong> III sein kann.
49
50
52
Fig. 352 (<strong>Daphne</strong> IV)<br />
Da steht nun eine <strong>Daphne</strong>, bezeichnet mit <strong>der</strong> römischen Ziffer Vier, die so an<strong>der</strong>s<br />
ist als ihre Vorgängerin <strong>Daphne</strong> III und ganz an<strong>der</strong>s als ihre Nachfolgerin<br />
<strong>Daphne</strong> V.<br />
Jene jugendfrisch und erotisch anmutend, diese fraulich und sinnlich. Und<br />
<strong>Daphne</strong> IV: We<strong>der</strong> das eine noch das an<strong>der</strong>e! Diese <strong>Daphne</strong> hat also, dass lehrt<br />
uns <strong>der</strong> erste Blick, nichts mit ihren beiden Schwestern zu tun! O<strong>der</strong> doch?<br />
Freilich <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> will gerade das erreichen auf einer ersten Betrachtungsebene,<br />
unser vorschnelles Urteil, das nur diejenigen revidieren können, die<br />
sehen wollen und hinter Fassaden blicken!<br />
Also schauen wir genau hin. Wir stellen, selbst nach <strong>der</strong> Transformation des<br />
Modells in Bronze, die Kombination unterschiedlichster Materialien bei dieser<br />
aufrecht stehenden, armlosen, haarlosen Frau fest. Der Unterleib ist aus einem<br />
berindeten Stück Lärchenholz geformt, das am unteren Ende weit ausschwingt,<br />
wie ein bodenlanger Rock. Eingefasst jedoch, bevor das Kleidungsstück den<br />
Boden berührt von angenagelten und festverbundenen Metallstreifen, enganliegend.<br />
Oberhalb des nur hüfthoch angesetzten Rocks, wölbt sich ein weich aus Wachs<br />
geformter Bauch, <strong>der</strong> unterhalb <strong>der</strong> vollen Brüste glatt, wie unmodelliert und<br />
eingezwängt wirkt. Gleiches stellen wir am Hals fest, <strong>der</strong> vollständig in einer<br />
metallenen Ummantelung weggeschlossen ist, die ein Bewegen des Kopfes erschwert,<br />
ein Nicken, ein Senken gar unmöglich macht. Das Gesicht, in <strong>der</strong> rechten<br />
Hälfte zerstört, scheint feine Züge, einen lächelnden Mund, einen schmalen<br />
Nasen- und Brauenbogen und ein wie friedlich fast geschlossenes linkes Auge<br />
zu zeigen.<br />
Der Kopf, dessen Oberfläche von Einschlagsspuren übersät scheint, ist haarlos.<br />
Eine rätselhafte Erscheinung! Das Modell von <strong>Daphne</strong> IV wird weiterhelfen: Die<br />
Körpermitte, die fast tonnenförmig wirkt, ist weiß und gerieft. Es ist Bein!<br />
Bein, genauer Fischbein trugen die Damen des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts an genau dieser<br />
Körperstelle als Korsett. Und damit sind wir auch <strong>der</strong> zeitlichen Verortung<br />
dieser <strong>Daphne</strong> gefolgt, denn in früheren Jahrhun<strong>der</strong>ten, etwa ab den 16. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
kleideten sich adelige Frauen mit einem versteiften Mie<strong>der</strong>. Die spanische<br />
Hoftracht, wie auf den Kunstwerken von Diego Velázquez (1599 – 1560)<br />
zu sehen, formte den Oberkörper zu einem Konus und drückte die Brust flach.<br />
Noch heute gilt als klassische Korsettform die Sanduhrform, wie sie an <strong>Daphne</strong><br />
IV angedeutet und erkennbar ist, das meint große Ober- und Hüftweite, bei kleiner<br />
Taillenweite. Nach diesen Vorstellungen „nähert sich <strong>der</strong> Oberkörper<br />
stets einem auf die Spitze gestellten Kegel, während die Darmbeinschaufeln<br />
weit vorspringen“ 41 , also die Hüften <strong>der</strong> Frau.<br />
Fig.352(<strong>Daphne</strong> IV)<br />
2016, Bronze,<br />
H. 37,2 cm, 9 Ex.<br />
41<br />
Paul Schultze – Naumburg, Die<br />
Kultur des weiblichen Körpers als<br />
Grundlage <strong>der</strong> Frauenkleidung,<br />
Leipzig 1901, Seite 21.<br />
53
54<br />
Doch welcher gedanklichen Spur folgen wir? Der Einschnürung, <strong>der</strong> Einengung<br />
einer Frau, ihrer Lebendigkeit, ihrer Emotionalität! Die Metallbän<strong>der</strong> an Hals<br />
und am Sockel <strong>der</strong> Plastik am Ende des bodenlangen Rockes, sprechen dieselbe<br />
Sprache.<br />
Auch sie zwängen den Körper, seine Beweglichkeit ein, wirken wie angelegte<br />
Sklavenfesseln, Halseisen zumal.<br />
Ein Schließmechanismus ist im Nackenbereich zu erkennen, wo das Kupferband,<br />
das Fesseleisen, zusammenstößt. Starke Hände klappen zu und verschließen.<br />
Enge entsteht! Das Halseisen kann nicht über den Kopf gezogen<br />
werden und ist so verengt, dass – gerade noch – geatmet und das wenige an<br />
Speis und Trank geschluckt werden kann. Im Napoleonischen code pénal impérial<br />
von 1810 wurde die Anwendung von le carcan, des Halseisens, noch gesetzlich<br />
geregelt, <strong>der</strong> code pénal setzte auf Einschüchterung, was freilich wenig<br />
verwun<strong>der</strong>t.<br />
Wer also ist diese <strong>Daphne</strong>? Eine starke Frau, die diese Demütigungen <strong>der</strong> Fesselung,<br />
<strong>der</strong> Abhängigkeit kurz ihrer Zwangslage – im wahren Wortsinne eine<br />
Lage des unmittelbaren Zwangs – erträgt und darüber hinwegsehen kann?<br />
Was sagt ihr Gesicht? Ist es ein liebliches Gesicht? Der Mund, er lächelt doch!?<br />
Ja, aber die rechte Gesichtshälfte, in die die lächelnden Lippen wie als Verhöhnung<br />
noch hineinführen, ist zerstört, ist eine einzige klaffende Wunde.<br />
Der Kopf ist kahl, nicht glatt, etwa rasiert, son<strong>der</strong>n als wären ihm die Haare<br />
gewaltsam entrissen, herausgerissen worden. Die Schädelkalotte, Stirnbein,<br />
Scheitelbein und Hinterhauptsbein sind wie mit Kratern übersät. <strong>Daphne</strong> IV<br />
ist schwer verwundet, als lebendes Wesen wäre sie kaum überlebensfähig. Sie<br />
wurde malträtiert, missbraucht, war roher Gewalt ausgesetzt. Doch von wem<br />
und warum? Wenn wir einen weiteren tiefen Blick auf ihr geschundenes Gesicht<br />
werfen, dann sehen wir bekannte Züge. Sie erinnern uns an die scheue, schöne<br />
<strong>Daphne</strong> III. Nein, sie erinnern nicht nur, es ist <strong>der</strong>en Gesicht, <strong>der</strong>en Kopf. Ihrer<br />
frühlinghaften Haarpracht beraubt, je<strong>der</strong> Frohsinn ist gewichen! Und auch das<br />
Lächeln ist kein feines freudiges Lächeln, es ist sarkastisch bitter und sardonisch<br />
grimmig, schmerzvoll. 42<br />
42<br />
„Ain Sardonisch glächter würt<br />
in aim Sprichwort für ain erdichtets<br />
gespöttiges vnd vast bitters<br />
gelächter gebraucht“, Ioannis<br />
Lodovici Vives, Von Gebirliche<br />
Thun und Lassen aines Ehemanns,<br />
Augsburg 1544,fol. 12b<br />
am Rand<br />
Wie kann sich ein Gesicht so grundlegend verän<strong>der</strong>n, dass es kaum wie<strong>der</strong>erkannt<br />
werden kann? Nun, <strong>Daphne</strong> IV zeigt es uns mit ihrem Körper: Jede<br />
Leichtigkeit ist gewichen, sie ist eingezwängt in Knochen und Metall, ist beständigen<br />
Zwängen unterworfen, sie ist Sklavin ihrer inneren Zwänge, sie ist<br />
unfrei geworden, unfrei gemacht worden. <strong>Daphne</strong> IV ist eine hart ausgeformte<br />
Metapher für gesellschaftlichen Zwang. Ein Gegenbeispiel zu <strong>Daphne</strong> III. Und<br />
<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> tut ein übriges: Er hat eine weitere <strong>Daphne</strong> IV geschaffen, an <strong>der</strong>
er die Zwänge noch hervorhebt und übersteigert betont. Über die Fesselungen<br />
von Bein und Metall hinaus besetzt er den Körper dieser wenig weiblichen Figur<br />
mit Steinen, wie Smaragd, Citrin, Spinell, Granat. Aus dem Kopf wachsen<br />
Korunde und Rauchquarz.<br />
Der Zwang wird gewissermaßen veredelt und damit noch zwanghafter ausgedrückt.<br />
Bil<strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Klatschpresse drängen sich auf. <strong>Daphne</strong> IV hat kein gutes<br />
Leben gehabt, und wie um diesen Fluch abzuschütteln, die unguten Gedanken<br />
und Gefühle über diese Verwandlung, die ihr wi<strong>der</strong>fahren ist zu verscheuchen,<br />
schuf <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> <strong>Daphne</strong> V.<br />
Fig.352(<strong>Daphne</strong> IV)<br />
2016, Bronze,<br />
H. 37,2 cm, 9 Ex.<br />
55
56 Fig.352 Unikat<br />
2016, Bronze,<br />
Saphir, Smaragd, Korund,<br />
Topas, Citrin, etc.,<br />
H. 37,5 cm, Unikat
57
Fig. 362 (<strong>Daphne</strong> V)<br />
Trotz ihrer Körperhaltung, des gesenkten Kopf, <strong>der</strong> nie<strong>der</strong>geschlagenen Augen<br />
und ihrer Größe von nur fünfunddreißig Zentimetern, hat Figur 362 alias <strong>Daphne</strong><br />
V eine monumentale Anmutung. Eine hohe Frau!<br />
Eine frouwe, eine Herrin des Hochmittelalters! Und Herr, dieses Wort und diese<br />
Bezeichnung stecken wahrhaftig in dem Wort frouwe, denn frô ist <strong>der</strong> Herr,<br />
wie er noch heute in dem Wort Fronleichnam enthalten ist.<br />
Schamhaft und keusch, 43 demütig und würdig 44 sollten seit den Zeiten <strong>der</strong> Kirchenväter<br />
die Frauen sein. Und es scheint, als könnte <strong>der</strong> Betrachter dieser<br />
Skulptur in und mit diesen Adjektiven die Gestaltungsabsicht <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s<br />
erkennen. Denn, dass <strong>der</strong> Künstler eine Frau des hohen Mittelalters zitiert, ist<br />
bereits an ihrer Kopfbedeckung abzulesen.<br />
Aber holen wir uns einen weiteren Rat bei einem <strong>der</strong> bedeutendsten Dichter<br />
des 12. und 13. Jahrhun<strong>der</strong>ts, Wolfram von Eschenbach und seinem epochalen<br />
Epos ‘Parzival‘. Das Frauen- und Männerbild mutet mo<strong>der</strong>ner, fortgeschrittener<br />
und ehrlicher an als das <strong>der</strong> Heutigen!<br />
58<br />
Fig.362(<strong>Daphne</strong> V)<br />
2016, Bronze,<br />
H. 34,8 cm, 9 Ex.<br />
Ich sag noch was zu Frauen<br />
Mann und Frau sind völlig eins<br />
wie die Sonne, die heut schien,<br />
und sogenanntes Tageslicht<br />
Hier lässt sich keins vom an<strong>der</strong>n trennen:<br />
aus einem Kerne blühn sie auf 45<br />
Spricht hieraus nicht tief überzeugte Achtung, so wie sie sich in <strong>Daphne</strong> V wi<strong>der</strong>spiegelt?<br />
Und wenn Wolfram über Condwiramurs und Parzival so schreibt:<br />
43<br />
Joachim Bumke, Höfische Kultur,<br />
2. Bd, Nördlingen 1986, Seite<br />
471.<br />
44<br />
aaO, Seite 471, Seite 475.<br />
45<br />
Eberhard Nellmann (Hg.), Wolfram<br />
von Eschenbach, Parzival I,<br />
Text übertragen von Dieter Kühn,<br />
Seite 291.<br />
46<br />
aaO, Seite 315.<br />
Dies war die Herrscherin des Landes:<br />
es war, wie wenn im süßen Tau<br />
die Rose aus <strong>der</strong> Knospenhülle<br />
in ihrem frischem Schimmer bricht,<br />
und zwar zugleich in Weiß und Rot<br />
das brachte ihn in Herzensnot 46<br />
dann lassen sich diese Verse ebenso auf <strong>Klinge</strong>s <strong>Daphne</strong> übertragen!<br />
Es kommt eben nicht darauf an, die Erfolgskriterien unserer Zeit, wie „Mann,<br />
Oberschicht, skrupellos, zu allem Bereit“ zu erfüllen!
59
61
Wolfram, um ihn wie<strong>der</strong>um in Beziehung zu <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> und <strong>der</strong> Fragezeichen-<strong>Daphne</strong><br />
zu bringen, qualifiziert seine Frauenfiguren nicht ab, wenn sie<br />
Heidinnen, wenn sie schwarz sind!<br />
Und:<br />
Und:<br />
Da erschien es Gahmuret –<br />
obwohl sie eine Heidin war –<br />
als wäre größre Fraulichkeit<br />
sonst nie ins Frauenherz geschlüpft<br />
sie war getauft: durch ihre Reinheit 47<br />
Doch war ihm diese schwarze Frau<br />
lieber als sein eigen Leben 48<br />
So heller Glanz ging von ihr aus<br />
wärn alle Kerzen ausgegangen<br />
es wär hier hell genug gewesen 49<br />
62<br />
Denn <strong>der</strong> Künstler hat zu recht den Namen <strong>Daphne</strong> bei <strong>der</strong> Betitelung dieser<br />
Skulptur mit einem, Fragezeichen versehen. Ist es denn eine Verfolgte,<br />
die von Mutter und Vater erfleht von Mensch zu Baum, von Fleisch zu Holz<br />
verwandelt zu werden? Der Unterleib dieser <strong>Daphne</strong> scheint es zu bestätigen,<br />
denn das, was wie ein Gewand, Füße, Beine und Scham verhüllt, ist im<br />
Modell Rinde eines Korkeichenbaumes, gewellt, bewegt, wie brodelnd. Und<br />
dies führt im Ausdruck des Materials zum Eindruck, den <strong>der</strong> Künstler zeigt,<br />
als wäre eine Schöpfung im Gange. Aus dem Wabern <strong>der</strong> Rindenstruktur, die<br />
gleichsam ein neues Wesen gebären will, entsteigt, entwickelt sich, wächst<br />
diese <strong>Daphne</strong>. Ein umgekehrter Prozess als: Holz wird zu Fleisch, Baum wird<br />
zu Mensch, zu einer würdigen, unantastbaren Frau. Dann, wenn sie will,<br />
weil sie will, entsteht Verwandlung.<br />
Bei aller feinen Zurückhaltung ist <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s <strong>Daphne</strong> V aber auch eine<br />
erotische Frau. Die wie gedrechselt wirkenden Brüste sehen wir, wenn wir<br />
die Plastik betrachten. Wolfram von Eschenbach beschreibt im Parzival die<br />
„Brüstlein“ so:<br />
47<br />
aaO, Seite 55<br />
48<br />
aaO, Seite 97<br />
49<br />
aaO, Seite 145<br />
Sie ragten rund und weiß und hoch<br />
als wären sie gedrechselt worden<br />
kein noch so guter Drechsler hätte<br />
je so schöne drechseln können
Der Dichter bekennt sich, wie <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> auch, zu einer offenen, ehrlichen,<br />
ja sogar tugendsamen Erotik, und dies ist kein Wi<strong>der</strong>spruch, denn die Treue<br />
war in jenen Zeiten – und ist es auch bei dieser <strong>Daphne</strong> – ein höchstes Gut.<br />
Die Herrin Herzeloyde<br />
verlor nun ihre Jungfernschaft.<br />
Sie schonten ihre Lippen nicht<br />
die machten sie mit Küssen müde<br />
und hielten Unglück fern vom Glück<br />
Und als verwegenes, ritterliches, keineswegs frivoles Beispiel sei aus dem<br />
Parzival wie<strong>der</strong>um zitiert:<br />
Und ein Hemd <strong>der</strong> Königin,<br />
sehr fein aus weißer Seide<br />
das sie auf bloßem Leib getragen<br />
sie war ja seine Frau geworden<br />
das zog er über sein Kettenhemd.<br />
Achtzehn Stück sah man durchstochen<br />
und von Schwertern ganz zerhackt<br />
bevor er von ihr Abschied nahm<br />
sie zog die an, auf bloßer Haut<br />
sobald ihr liebster vom Turnier kam.<br />
63<br />
Es geht also um die seidenen Hemden <strong>der</strong> Königin, die sie ihrem Gemahl mit<br />
ins Turnier als Zeichen ihrer sichtbaren Verbundenheit über das Kettenhemd<br />
streift.<br />
Eine Einheit, eine mögliche, auf freier Willens- und Wollensentscheidung<br />
beruhende Verbindung von Frau und Mann, das zeigt uns diese <strong>Daphne</strong> von<br />
<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>.<br />
Es ist nicht die gejagte, gehetzte, missbrauchte Frauenfigur, son<strong>der</strong>n eine<br />
Frau, die sich entwickelt, nicht verbirgt, wie neu geboren wird aus <strong>der</strong> Rinde<br />
des Baumes. Bereit wie die schwarze Königin Belakane Wolfram von Eschenbachs<br />
sich zusammen mit ihrem weißen Ehemann Gahmuret „<strong>der</strong> hohen,<br />
süßen Liebe“ bedingungslos hinzugeben, denn „verschieden war nur<br />
ihre Haut“ 50 .<br />
50<br />
aaO, Seite 81
64
65
67
68
<strong>Daphne</strong> ?VI!<br />
Da steht sie! Als ob es kein an<strong>der</strong>es weibliches Wesen gäbe, als sie! Nur sie!<br />
Als ob an ihrer formvollendeten Schönheit niemand, kein Apollon, keine um<br />
Hilfe angeflehten Eltern, Tellus, die Erde und Peneus, <strong>der</strong> Flussgott, auch nur<br />
das Geringste än<strong>der</strong>n, zum Bösen än<strong>der</strong>n, sie verwandeln könnte.<br />
<strong>Daphne</strong> ist sie benannt.<br />
Hinter ihrem Namen setzte <strong>der</strong> Künstler ein Fragezeichen, als sei er, <strong>der</strong><br />
Schöpfer dieser Skulptur nicht gewiss, dass es eine <strong>Daphne</strong> ist. Nach <strong>der</strong><br />
in römischen Ziffern geschriebenen Zahl sechs, die innerhalb <strong>der</strong> Werkgruppe<br />
„<strong>Daphne</strong>“ die Rangfolge ihrer Entstehung bezeichnet, hier, wir<br />
werden sehen, vielleicht auch mehr, findet wir ein Ausrufungszeichen, als<br />
ober <strong>der</strong> Künstler bei <strong>der</strong> Abwägung, ob es sich um ein verwandeltes o<strong>der</strong><br />
sich verwandelndes Wesen handelt o<strong>der</strong> nicht zu einem sicherem Schluss<br />
gekommen sei! Wobei es durchaus so scheint, als habe <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> dasselbe<br />
Bekenntnis, wie Günter Eich, <strong>der</strong> sagte: „Nein, ich bin nicht auf<br />
Antworten aus, ich optiere für die Frage“ 51 .<br />
Die Vorgeschichte ihrer Entstehung gibt Hinweise auf die den Künstler sehr<br />
gelegen kommende Verrätselung des Titels „<strong>Daphne</strong> ?VI!“ dieser Skulptur.<br />
Als völlig eigenständiges Werk schuf <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> zunächst die Kleinplastik<br />
<strong>Daphne</strong> V (die aufgrund ihrer niedrigeren Ziffer eben auch zeitlich vor<br />
<strong>Daphne</strong> ?VI! entstanden sein muss). Kopf mit Haube und Oberkörper sind<br />
bei dieser Skulptur aus Wachs geformt, <strong>der</strong> Unterleib besteht aus dem Rindenstück<br />
einer Korkeiche. Diese Materialien werden zusammengeführt im<br />
bronzenen Abguss, <strong>der</strong> das fertige Werk ist. Modell, besser Vorstufe hierfür,<br />
war die durch die Hände des Künstlers geformte Plastik. Im Erarbeiten einer<br />
bildnerischen Idee, um sie im wahren Wortsinne auszuformen, bedient sich<br />
<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> des kleinen Formats und seiner Beweglichkeit, <strong>der</strong> möglichen<br />
Gestalt des abzuschließenden Entstehungsprozesses. Die Figur kann<br />
die o<strong>der</strong> jene Entscheidung tragen, ist wahrhaftig Wachs in den Händen des<br />
Künstlers. Und die getroffene Wahl unter den unendlichen Möglichkeiten<br />
des Ausdrucks zeigt zugleich, dass nur eine einzige und einzigartige Entscheidung<br />
von <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> getroffen werden konnte, die aus <strong>der</strong> Potentialität<br />
in die Aktualität geflossen ist. Und deswegen ist <strong>Daphne</strong> V gerade keine<br />
Skizze, kein flüchtiger Entwurf, kein Bozzetto, son<strong>der</strong>n ein Werk, das in sich<br />
geschlossen ist; beendet <strong>der</strong> Prozess, vollendet das Werk!<br />
Und – ein Wi<strong>der</strong>spruch mehr – <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> wollte und hat <strong>Daphne</strong> V tatsächlich<br />
zugleich und dennoch als Bozzetto, als Maquette, als modellum,<br />
als Vorgabe für eine große Skulptur verwendet. 52 <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> war sich sicher,<br />
diesen Bozzetto neu und in an<strong>der</strong>em Maßstab formen zu wollen und<br />
<strong>Daphne</strong> ?VI!,<br />
2016, Bronze,<br />
H. 2,51 m, 6 Ex.<br />
51<br />
Dietz-Rüdiger Moser (Hg.),<br />
Lexikon <strong>der</strong> deutschsprachigen<br />
Gegenwartsliteratur seit 1945,<br />
München 1997, Band 1, Seite 276.<br />
52<br />
vgl. Peter C. Bol in „Das Modell<br />
in <strong>der</strong> bildenden Kunst des<br />
Mittelalters und <strong>der</strong> Neuzeit“,<br />
Festschrift für Herbert Beck, Petersberg<br />
2006, Seite 11.<br />
69
70<br />
dies zu tun. Die Fotografien auf den nachstehenden Seiten zeigen einen<br />
Entstehungsprozess, wobei das Ergebnis nahezu völlig vom vorgestellten<br />
und zunächst gewollten Ziel abweicht:<br />
Ein mächtiger Stamm einer Pappel birgt Kopf und Oberkörper <strong>der</strong> künftigen<br />
<strong>Daphne</strong>. <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> stellt den Bozzetto <strong>Daphne</strong> V auf diesen Stamm und<br />
zeichnet mit grober Kreide Umrisslinien in den gewollten Maßstab auf das<br />
entrindete Holz (Abb. 1 und Abb. 2).<br />
Die Kopfhaltung entspricht <strong>der</strong>jenigen, <strong>der</strong> kleinen Plastik, demütig nach<br />
rechts, aus <strong>der</strong> Haltung <strong>der</strong> Figur abgeleitet. Sie, <strong>Daphne</strong> V, steht, thront<br />
gar als Herrscherin über <strong>der</strong> künftigen, sich aus dem Stamm schälenden,<br />
aus ihm herauszuschneidenden in künftigen Zeiten erst existenten, dort<br />
hineingeborenen, großen Figur. Folgerichtig setzt <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> durch Einschnitte<br />
und Materialwegnahme den Weg zur überlebensgroßen <strong>Daphne</strong><br />
V, besser zu <strong>der</strong>en Nachfolgerin <strong>Daphne</strong> VI fort (Abb. 3 und Abb. 4). Doch<br />
bereits bei den ersten Schnitten scheint <strong>der</strong> Künstler zu zögern, in ihm ist,<br />
so will es scheinen, ein neuer, ein an<strong>der</strong>er Skulpturengedanke entstanden<br />
(Abb. 5 und Abb. 6). Die Demutshaltung ist aufgebgeben. Der Kopf hat sich<br />
merklich aufgerichtet. Volle Lippen sind geformt und die linke Brust ist in<br />
rohem Zustand aus dem Stamm befreit (Abb. 6). Dann aber geschieht etwas<br />
völlig Unerwartetes, denn bereits in diesem frühen Stadium <strong>der</strong> Skulpturenentstehung<br />
(<strong>der</strong> Oberleib ist noch nahezu vollständig im Stamm verborgen!)<br />
bringt <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> ein Element, das, so wäre es vorstellbar, erst als letzter<br />
Akt <strong>der</strong> Gestaltung, als Vollendung <strong>der</strong> Figur hinzugefügt werden würde:<br />
Die Maske. Der Künstler aber geht an<strong>der</strong>s vor. Er weiß, dass es eine an<strong>der</strong>e<br />
<strong>Daphne</strong> werden wird und er erarbeitet nun zunächst wie stets in seinem<br />
Arbeitsprozess, den Kopfbereich und vollendet ihn. Danach erst wendet er<br />
sich dem Oberkörper zu.<br />
<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> setzt also dieser <strong>Daphne</strong> eine Maske vor ihr Antlitz, als müsse<br />
sie vor fremden Blicken, selbst denen ihres Schöpfers, geschützt werden<br />
o<strong>der</strong> sie hätte dies selbst gar kategorisch eingefor<strong>der</strong>t (Abb. 7).<br />
Und nun formt sich hinter <strong>der</strong> weiter vervollständigten Maske ein neuer, an<strong>der</strong>er<br />
Kopf als <strong>der</strong> von <strong>Daphne</strong> V. Die Haube ist weggenommen, keine Kopfbedeckung<br />
ist sichtbar, das rechte Ohr, bereits ausgeformt verschwindet<br />
erst hinter <strong>der</strong> Maske, später allerdings vollständig (Abb. 8). Während <strong>der</strong><br />
Arbeit an <strong>der</strong> Modellierung des Oberkörpers behält diese <strong>Daphne</strong> ihre Maske<br />
auf, verbirgt ihr Gesicht, verbirgt sich, die doch immer offener mit bloßem<br />
und vollbrüstigen Oberkörper sich zeigt. Ist es diese Blöße, die sie zwingt,<br />
sich zu verhüllen? Das Unverhüllte benötigt, um den Kern <strong>der</strong> Spannung zu<br />
zeigen, das Verhüllte (Abb. 9 bis Abb. 14)!
<strong>Daphne</strong> V, ihre Vorgängerin scheint sich nirgendwo abzubilden, keine bildhauerische<br />
Idee, hinter <strong>der</strong> sich bei <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> stets ein tiefausformuliertes<br />
Gedankengebäude verbirgt, führt mehr zurück zu ihr. Dies gilt für<br />
Kopf und freilich die Maske, Hals und Oberkörper zum großen Teil, nicht<br />
aber für den Unterleib. <strong>Daphne</strong> V schien aus ihrem Kleidungsstück, einer<br />
Korkeichenrinde, emporzuwachsen. Die vielfältig strukturierte Rinde ließ<br />
eine lebendige, sich stets verän<strong>der</strong>nde, stets verän<strong>der</strong>bare Form erahnen,<br />
als etwas Pulsierendes, Gärendes, Ausbrechendes unter dem Gewebe des<br />
Rockes spürbar. Dieses Gewandstück bei <strong>Daphne</strong> VI ist aber geglättet und<br />
doch wie<strong>der</strong> nicht, es ist in feines Plissee verwandelt, kleine und kleinste<br />
Falten umgürten den Unterleib. Ein aus <strong>der</strong> Verwitterung, Verrottung <strong>der</strong><br />
weicheren Holzbestandteile gewordenes Bild, „das wie bei Statuen <strong>der</strong><br />
griechischen Klassik als starrer, strenger Faltenwurf den Eindruck<br />
gewollter Monumentalität erhöht“ 53 .<br />
71<br />
Und dieser Rock ist nicht enganliegend, er ist weit, zu weit (Abb. 15, Abb. 16),<br />
wie auch bei <strong>Daphne</strong> V und damit zeigt sich eine wesentliche Gemeinsamkeit:<br />
Das Moment <strong>der</strong> Verwandlung in Holz, in einen Baum ist nicht erfüllt.<br />
Selbst wenn <strong>Daphne</strong> VI von einem Astgürtel umgeben ist, wird sie nicht in<br />
das Holz verbannt, verwandelt, son<strong>der</strong>n entsteigt, entflieht ihm, lässt es zurück!<br />
Es ist eine <strong>Daphne</strong>, die sich nicht einer Verfolgung entzieht, die sich ob<br />
ihrer Körperlichkeit schützen muss, schützen will. Deshalb also setzt <strong>Dietrich</strong><br />
<strong>Klinge</strong> das Fragezeichen in den Titel <strong>der</strong> Skulptur.<br />
Womit aber rechtfertigt sich dann, bei den offenkundigen Abweichungen<br />
von Mythos <strong>der</strong> <strong>Daphne</strong> das ultimative und kategorische Ausrufungszeichen<br />
am Ende <strong>der</strong> Skulpturenbezeichnung?<br />
Abb. 1<br />
53<br />
Thassilo von Scheffer, Die Kultur<br />
<strong>der</strong> Griechen, Zürich 1955,<br />
Seite 248.
72<br />
Abb. 2
Abb. 3<br />
73
74<br />
Abb. 4
Abb. 5<br />
75
76<br />
Abb. 6
Abb. 7<br />
77
78<br />
Abb. 8
Abb. 9<br />
79
80<br />
Abb. 10
Abb. 11<br />
81
82<br />
Abb. 12
Abb. 13<br />
83
84<br />
Abb. 14
Abb. 15<br />
85
86<br />
Abb. 16
87<br />
Abb. 17
88<br />
Exkurs: Maske<br />
Wie nicht selten, führen Worte, die seit langen Zeiten feste Bestandteile<br />
unserer, <strong>der</strong> deutschen Sprache sind, ins Arabische. „Maskharat“ steht<br />
ursprünglich für den komödiantischen Verwendungsbereich und bedeutet<br />
Hänselei, Scherz, meint auch den Narren, <strong>der</strong> eine Maske trägt.<br />
Das Maskenwesen ist freilich älter, viel älter.<br />
In allen Kulturen dieser Welt hatten und haben Masken mit dem<br />
Numinosen, mit dem Göttlichen, zu tun. Götter, Geister, Ahnen werden um<br />
Beistand angefleht, um Schutz gebeten. Das Böse, in welcher Erscheinungsform<br />
auch immer, soll keine Wirkmacht entfalten können, muss getäuscht<br />
werden, abgehalten von ver<strong>der</strong>blichem Einfluss, gar vernichtet werden.<br />
Und <strong>der</strong> Träger <strong>der</strong> Maske, <strong>der</strong> Tänzer, <strong>der</strong> Mensch, ist niemals er selbst.<br />
Er wird für die Dauer seiner Maskierung zum Geistwesen, verwandelt sich.<br />
Weshalb auch nicht er, <strong>der</strong> leibhaftige Mensch für Handlungen (selbst Tötungen)<br />
in diesem Zustand verantwortlich ist, son<strong>der</strong>n jenes unfassbare – im<br />
doppelten Wortsinne – Wesen, das er geworden ist. In <strong>der</strong> französischen<br />
Höhle Le trois fréres, so benannt, weil drei Brü<strong>der</strong> die Höhle im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
miteinan<strong>der</strong> endeckten, sind Felsmalereien aus dem Magdalénien,<br />
vor über fünfzehntausend Jahren also, auf uns gekommen. Und es scheint<br />
so, als ob <strong>der</strong> an die Felswände gezeichnete Schamane eine Maske in Form<br />
eines Tierkopfes trüge. Ferne Vergangenheit.<br />
In afrikanischen Gesellschaften, die ein hochentwickeltes soziales Gefüge<br />
seit langen Jahrhun<strong>der</strong>ten (etwa Benin und in Kamerun) aufweisen, ist<br />
das Maskenwesen bis heute lebendig, sei es bei Initiationsriten, sei es<br />
zur Lösung sozialer Konflikte, sei es bei gesellschaftlichen Anlässen, einer<br />
Beerdigung, jahreszeitlichen Festen. Davon, also <strong>der</strong> Verwandlung des<br />
Maskenträgers selbst, zu unterscheiden ist die Maskierung ohne diese Metamorphose,<br />
etwa um soziale Rollen spielen zu können.<br />
Masken sind stets ambivalent, einerseits verbergen sie das was ist, an<strong>der</strong>erseits<br />
enthüllen sie, das was sein soll, sein kann, sein muss.<br />
Exkurs: Person<br />
Nun hängt <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Person seit ältesten Zeiten mit jenem <strong>der</strong> Maske<br />
– und wie es scheint – auch untrennbar zusammen. Welche Wortherleitungstheorie<br />
auch immer bemüht wird, es geht um den Menschen, wie er ist und<br />
wie er scheint zu sein.<br />
Das etruskische Wort ‘phersu‘ als möglicher Urgrund des Begriffs Person<br />
steht für Maske und ist <strong>der</strong> Name einer bei Begräbnisriten auftretenden,<br />
verkleideten Gestalt.
Das alte griechische Wort ‘prosôpon‘, als Ursprung für das Wort Person,<br />
bedeutete Mensch, Rolle, Maske. Lateinisch wurde die Maske des Schauspielers<br />
als ‘persona‘ bezeichnet. Und daran knüpft sich <strong>der</strong> weitere Erklärungsversuch,<br />
das Ertönen <strong>der</strong> Schauspielerstimme durch die Maske hindurch<br />
als ‘per-sonare‘ zu benennen, als das Tun einer Person.<br />
Was aber ist eine Person?<br />
Statt Vieler sei ein Philosoph, ein vergessener Denker zitiert, Josef Pieper<br />
(1901 – 1997) <strong>der</strong> in selten klarer Sprache schrieb:<br />
Ein Wesen, das um seiner eigenen Vollendung willen existiert: So<br />
könnte man, mit einer [nicht allzu unerlaubt] vereinfachenden Formulierung,<br />
die Person definieren 54<br />
„Sinnvoll in sich selbst“ sein, wie wie<strong>der</strong>um Pieper formulierte 55 , ist das<br />
Ziel, muss das Ziel einer jeden Person sein, gar dann, wenn sie sich zur Persönlichkeit<br />
entwickeln will.<br />
In <strong>der</strong> Jetzt-Zeit scheint jedoch die Anzahl von Personen eklatant abgenommen<br />
zu haben und weiter abzunehmen, trotz <strong>der</strong> ins Ungeheuerliche anschwellenden<br />
Anzahl von Menschen!<br />
Umso wohltuen<strong>der</strong>, wenn ein Künstler wie <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> uns eine Person<br />
wie <strong>Daphne</strong> ?VI! schenkt. Und <strong>der</strong> Künstler, selbst und sicherlich eine Person,<br />
muss sein, wie Jack Kerouac (1922 – 1969) sagt, „desirous of everything<br />
at the same time, the ones who never yawn or say a commonplace<br />
thing, but burn, burn, burn like fabulous yellow roman candles<br />
exploding like spi<strong>der</strong>s across the stars“ 56 .<br />
54<br />
Josef Pieper, Verteidigungsrede<br />
für die Philosophie, München<br />
1966, Seite 63.<br />
55<br />
aaO, Seite 63.<br />
56<br />
Also etwa: Ein Künstler muss<br />
voll Sehnsucht sein, nach allem<br />
und immer, niemals gähnend<br />
o<strong>der</strong> Binsenweisheiten erzählend,<br />
son<strong>der</strong>n er muss brennen,<br />
brennen, brennen, wie ein märchenhaftes<br />
goldgelbes Feuerwerk,<br />
das als wären es lauter<br />
Spinnen hoch in den Sternen zerbirst,<br />
zit. nach Wolfgang Herrndorf,<br />
Arbeit und Struktur, Berlin<br />
2013, Seite 306.<br />
89<br />
Exkurs: Kontrapost<br />
<strong>Daphne</strong> ?VI! ist einer klassischen griechischen Plastik mehr als verschwistert.<br />
Die Leitideen <strong>der</strong> Künstler im 5. vorchristlichen Jahrhun<strong>der</strong>t sind durch<br />
<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> nach mehr als zweieinhalb Jahrtausenden klar und eindeutig<br />
in unsere Zeiten – in seiner ganz eigenen Formensprache - nicht nur übersetzt,<br />
son<strong>der</strong>n umgesetzt worden.<br />
Auf den ersten Blick scheint <strong>Daphne</strong> ?VI! gerade, wie regungslos, aufrecht<br />
und ungebeugt, ja unbeugsam zu stehen. Steht sie aber, wie <strong>Daphne</strong> II, wie<br />
eine Kore mit beiden Beinen gleichermaßen fest auf <strong>der</strong> Erde? Zweifelsfrei<br />
sind <strong>Daphne</strong> II und <strong>Daphne</strong> ?VI! vollplastisch modelliert. Gleichwohl wirkt<br />
die <strong>der</strong> archaischen, griechischen Kunst anverwandte <strong>Daphne</strong> II flächenhafter<br />
und ruft so Erinnerungen an einen geometrischen Stil auf. Ihre Lebendigkeit<br />
kann sie nur im Innen, nicht im Außen zeigen.
An<strong>der</strong>s, ganz an<strong>der</strong>s aber <strong>Daphne</strong> ?VI!, die „die archaische Frontalität<br />
und symmetrisch strenge Glie<strong>der</strong>ordnung überwindet“ 57 .<br />
<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> zeigt in dieser <strong>Daphne</strong> wie exemplarisch, dass „alle<br />
Elemente und Kräfte des Körpers kontrapostisch aufeinan<strong>der</strong><br />
bezogen“ 58 sind.<br />
Denn Kontrapost 59 , lässt sich keineswegs nur auf die Funktion <strong>der</strong> Beine,<br />
belastet o<strong>der</strong> unbelastet, Standbein o<strong>der</strong> Spielbein reduzieren. Und dies ist<br />
auch folgerichtig, denn die Ablastung des Körpers auf nur ein Bein bewirkt<br />
und muss bewirken, dass sich die Haltung des Beckens, <strong>der</strong> Wirbelsäule,<br />
<strong>der</strong> Schultern und des Kopfes verän<strong>der</strong>t.<br />
„Kein Motiv exponiert sich, ohne in <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Richtung zurückgenommen<br />
zu sein, kein Nachgeben auf <strong>der</strong> einen Seite, ohne ein<br />
Zulegen auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en, Tragen und Lasten, Hebung und Senkung,<br />
Anspannung und Entspannung sind sichtbar unterschieden, bilden<br />
ebenso sichtbar einen korrespondierenden Chiasmus und halten<br />
sich vollkommen die Waage. So wird <strong>der</strong> Körper in seiner Gänze<br />
zum Hort des Gleichgewichtes <strong>der</strong> Gegensätze“ 60 .<br />
90<br />
57<br />
Gottfried Lindemann in Hermann<br />
Boekhoff (Hg.), Lexikon<br />
<strong>der</strong> Kunststile, Band 1, Hamburg<br />
1970, Seite 10f.<br />
58<br />
Berthold Hinz, Aphrodite, Geschichte<br />
einer abendländischen<br />
Passion, Wien 1998, Seite 3.1.<br />
59<br />
von italienisch contrapposto,<br />
Gegensatz, Gegenstück.<br />
60<br />
Berthold Hinz, aaO, Seite 31.<br />
61<br />
Xenophon, Xenophon´s Erinnerungen<br />
an Sokrates, Kapitel<br />
7, übertragen von Otto Güthling<br />
1883.<br />
62<br />
Jakob Burckhardt, Griechische<br />
Kultur, Berlin 1941, Seite 106.<br />
63<br />
vgl. Robert Hedicke, Studien zur<br />
Logik <strong>der</strong> Kunstgeschichte, Der<br />
Begriff des Kontrapost, Ein geistesgeschichtlicher<br />
Grundbegriff<br />
<strong>der</strong> Weltgeschichte <strong>der</strong> Plastik, in<br />
Deutsche Vierteljahresschrift für<br />
Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte,<br />
Heft 9, Stuttgart<br />
1931, Seite 186ff. und passim.<br />
Xenophon (430 – 355) hat in seinen Erinnerungen an Sokrates ein Gespräch<br />
des Philosophen mit dem Bildhauer Kleiton beschrieben, als er diesen nach<br />
<strong>der</strong> Ursache für die Lebendigkeit seiner Skulpturen befragte:<br />
Gelingt es dir vielleicht dadurch, dass du deine Bildsäulen so lebendig<br />
erscheinen lässt, dass du dir lebende Gestalten zu Mustern<br />
nimmst? – Ja wohl, sagte jener. – Bringst du also nicht durch<br />
Nachahmung dessen, was infolge <strong>der</strong> Stellungen an den Körpern<br />
sich hebt und senkt, zusammendrückt und auseinan<strong>der</strong>gezogen,<br />
angespannt und gelockert wird, die Wirkung hervor, dass es <strong>der</strong><br />
Natur ähnlicher und täuschen<strong>der</strong> erscheint? – Allerdings – 61<br />
Und Jakob Burckhardt hat den „Ausdruck des Momentanen … in Stellung<br />
und Bewegung <strong>der</strong> ganzen Gestalt – oft nur leise sprechend<br />
und dabei doch von höchster Wahrheit und Schönheit“ gesehen und<br />
beschrieben. 62<br />
Dies wie<strong>der</strong>um bedeutet beim Anblick einer kontrapostischen Skulptur, dass<br />
die Schulter über dem Standbein niedriger, die über dem Spielbein höher<br />
ist und sein muss. 63 Gleiches gilt für die Waage <strong>der</strong> Hüfte, die sich über dem<br />
Standbein neigt, über den Spielbein steigt.
Diese Überkreuzung von Be- und Entlastung wird nach dem griechischen<br />
Buchstaben Chi (=X) eben Chiasmus benannt, den <strong>der</strong> im 5. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
v.u.Z. lebende griechische Bildhauer Polyklet in seinem Kanon bereits beschrieb<br />
und in seinem Doryphoros, dem Speerträger, von <strong>der</strong> Theorie des Kanons,<br />
in die Praxis <strong>der</strong> Skulptur umsetzte. Damals allerdings eingeschränkt<br />
auf die Physis darzustellen<strong>der</strong> Männer. Erst einhun<strong>der</strong>t Jahre später gelang<br />
es Praxiteles mit seiner knidischen Aphrodite dies mit einer vollendeten<br />
Figur einer Frau zu zeigen.<br />
<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> hat den Körper <strong>der</strong> <strong>Daphne</strong> ?VI! fein und behutsam kontrapostisch<br />
formuliert: Die rechte Hüfte und die rechte Schulter sind fast unmerklich<br />
gesenkt, die linke Körperhälfte angehoben. Die zwingende Schlussfolgerung<br />
hieraus ist, dass das rechte Bein belastet, also das Standbein sein<br />
muss, das linke das Spielbein. Und tatsächlich sehen wir den Rock, den als<br />
objet-trouvée verwendeten Kirschenstamm, auf <strong>der</strong> rechten Seite zurückgenommen,<br />
links wie vom Spielbein etwas nach vorne gedrückt.<br />
Dadurch dass keine Extremitäten, also Beine und Arme „vorhanden“ sind,<br />
die Beine verborgen, die Arme zugunsten des Torsos weggelassen, sind sie<br />
als „Potentiale <strong>der</strong> Aktivität zurückgenommen“ 64 . Damit wirkt <strong>der</strong> Körper<br />
wie fokussiert, ausladen<strong>der</strong> und wird „zur ruhenden Mitte <strong>der</strong> figuralen<br />
Komposition“ 65 .<br />
Exkurs: Wille zur Körperplastik<br />
Die Erfüllung <strong>der</strong> Pon<strong>der</strong>ation, also <strong>der</strong> Wechselbeziehung aller Körperteile<br />
in harmonischem Gleichgewicht des Körpers und <strong>der</strong> Seele, entspricht dem<br />
Willen, eine Körperplastik zu schaffen.<br />
Freilich gibt es bei <strong>Daphne</strong> ?VI! eine Hauptansicht, dies ist schon dem frontalen<br />
Aufbau des menschlichen Körpers geschuldet. Gleichwohl erzeugt „sie<br />
einen künstlerischen Existenzraum, aber dieser Raum bleibt passiv,<br />
denn er wird durch die Statue in keiner Weise aktiv geformt“ 66 .<br />
Dennoch wird „aus <strong>der</strong> objektiven Wie<strong>der</strong>gabe des Menschen, aus dem<br />
‘Es ist‘ ein neues ‘Ich bin‘“ 67 .<br />
Der Raum muss, um das Werk vollständig erfassen zu können, durchschritten,<br />
die Plastik umschritten werden. Dabei zeigt sich wie<strong>der</strong>um die vollendete<br />
Formensprache <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s, etwa wenn die Formung <strong>der</strong> Brüste<br />
bei <strong>der</strong> seitlichen Ansicht dieser <strong>Daphne</strong> im Wechselspiel mit <strong>der</strong> konkaven<br />
Biegung <strong>der</strong> Wirbelsäule erblickt wird.<br />
64<br />
Berthold Hinz, aaO, Seite 32.<br />
65<br />
aaO, Seite 32.<br />
66<br />
Gottfried Lindemann, aaO,<br />
Seite 11<br />
67<br />
Werner Fuchs in Werner Knopp<br />
(Hg.), Spiegelungen, Mainz 1986,<br />
Die Eroberung <strong>der</strong> Freiheit in <strong>der</strong><br />
griechischen Kunst, Seite 2<br />
91
92<br />
68<br />
Klaus Kowalski, Stundenblätter<br />
Plastik, Stuttgart 1985, Seite 22f.<br />
69<br />
Berthold Hinz, aaO, Seite 30.<br />
70<br />
aaO, Seite 30.<br />
71<br />
Umberto Eco (Hg.), Die Geschichte<br />
<strong>der</strong> Schönheit, München<br />
2006, Seite 45.<br />
72<br />
aaO, Seite 45.<br />
Exkurs: Mimesis<br />
Der „mimetische Grundzug <strong>der</strong> griechischen Plastik, das heißt ihr<br />
Bestreben, den Menschen möglichst vollkommen abzubilden, ist bis<br />
heute Leitbild des ‘schönen Menschen‘ geblieben“ 68 .<br />
Die Schönheit des weiblichen Körpers von <strong>Daphne</strong> ?VI!, ablesbar „im vollendeten<br />
Ausgleich <strong>der</strong> gegensätzlichen Spannungen des Körpers“ 69<br />
hat sie mit klassischer, griechischer Plastik gemein, damit aber ebenso „die<br />
Harmonie <strong>der</strong> Seele“ 70 . Und diese Schönheit, „das Ideal <strong>der</strong> kalókagathia<br />
also“ 71 , tritt, wie eben hier „am besten in statischen Formen<br />
zutage in denen noch ein Überrest von Handlung o<strong>der</strong> Bewegung in<br />
Gleichgewicht und Ruhe übergeht“ 72 .<br />
Dass aber diese Schönheit nicht losgelöst von Körperlichkeit, Sinnlichkeit<br />
sein kann, ist augenfällig. Natürlich (und das ist natürlich!) zeigt <strong>Dietrich</strong><br />
<strong>Klinge</strong>s <strong>Daphne</strong> eine erotische Spannung und Aufladung. Nicht nur an den<br />
im Vergleich zu allen an<strong>der</strong>en Körperpartien glatt und glatter werdenden<br />
Brüsten bis hin zu ihren Spitzen, ist dies an Form und Oberfläche <strong>der</strong> Brüste<br />
offenbar geworden. Auch <strong>der</strong> von <strong>der</strong> Maske nicht verdeckte, volllippige,<br />
sanft geschwungene Mund spricht eben diese Sprache.<br />
Das bis auf die schlanken Hüften herabgesunkene Gewand, <strong>der</strong> Rock, umgeben<br />
von seinem hölzernen Ring aus Ästen, <strong>der</strong> wie eine Wulst aus feinen<br />
Stoffen wirkt, will dem Unterleib durchaus die Möglichkeit bieten – ohne<br />
Scham, jedoch keinesfalls schamlos – sich seiner ganz zu entledigen.<br />
Die Maske aber würde diese <strong>Daphne</strong> niemals ablegen. Es ist keine Maske,<br />
die dämonisiert, die wie eine Aufrüstung im Kampf <strong>der</strong> Geschlechter wirken<br />
soll. Diese Maske ist vieles in Einem: Sie ist eine Bekrönung <strong>der</strong> Figur, sie<br />
lässt <strong>Daphne</strong> wie eine geheimnisvolle Königin, gekrönt mit den Insignien<br />
ihrer Herkunft aus <strong>der</strong> Harmonie von Natur und mit Natur erscheinen. Es<br />
ist keine Dornenkrone, die Schmerz verheißt, son<strong>der</strong>n eine Rindenkrone,<br />
die Kraft und Stärke physisch und psychisch symbolisiert. Sie ist zugleich<br />
Schutz vor ungewollter Zudringlichkeit. Und dies hat sie wie<strong>der</strong>um mit <strong>der</strong><br />
mythologischen <strong>Daphne</strong> gemeinsam. Der menschliche Kopf, genauer das<br />
menschliche Antlitz, ist nicht nur unter <strong>der</strong> Maske verschwunden, es ist<br />
vergangen. Bei <strong>der</strong> Entstehung dieser <strong>Daphne</strong>, das können wir auf Abb. 6<br />
sehen, trägt <strong>der</strong> Kopf noch zwei Ohren, eine Nase war im Werden und Augen<br />
bzw. Brauen waren angedeutet. Das ist in <strong>der</strong> vollendeten Figur an<strong>der</strong>s,<br />
bemerkenswert an<strong>der</strong>s! Das linke Ohr ist unter <strong>der</strong> rindigen Behelmung verborgen,<br />
ist möglicherweise gar nicht mehr vorhanden. Um das rechte Ohr ist<br />
<strong>der</strong> Rindenhelm ausgespart, als wenn <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> damit die beson<strong>der</strong>e<br />
Bedeutung des Hörens, des noch mit einem Ohr Hören-Könnens, hervorhe-
en wollte. Dort, wo Augen sind, ist Rinde, ist Maske. Wir wissen nicht, ob<br />
diese <strong>Daphne</strong> jemals Augen hatte o<strong>der</strong> noch hat. Ebenso könnte es mit <strong>der</strong><br />
Nase während des Arbeitens am Holz ergangen sein. Die Mitte des Kopfes,<br />
dort wo sich <strong>der</strong> Nasenrücken und die Spitze <strong>der</strong> Nase im menschlichen Gesicht<br />
befindet, ist allerdings flach mit Rinde bedeckt, keinerlei Erhebung ist<br />
sichtbar. Das spricht dafür, dass sich diese Gesichtsteile Augen und Nase in<br />
Holz, in Rinde, in Maske verwandelt haben. Und bei genauem Betrachten<br />
vermögen wir ein aus <strong>der</strong> Rinde nunmehr wachsendes, besser in die Rinde<br />
eingebettetes Gesicht zu erkennen.<br />
Und die Maske lässt den Blick zu auf die vollen, sinnlich geschwungenen<br />
Lippen dieser schönen Frau. Diese Lippen sind wohl wie eine Verheißung,<br />
wie ein erotisches Versprechen. Gleichwohl nicht gegenüber Je<strong>der</strong>mann!<br />
Diese Frau entzieht sich <strong>der</strong> Verfügbarkeit, <strong>der</strong> Beliebigkeit, <strong>der</strong> Unterwürfigkeit.<br />
Sie entzieht sich in ihre selbstgewählte Sphäre, in ihre Selbstbestimmung,<br />
in ihre hoheitliche Distanz – ohne sich zu beugen! Diese <strong>Daphne</strong> aber<br />
ist wie eine mythische Göttin schön, wie Aphrodite schön, wie die Aphrodite<br />
von Knidos des Praxiteles schön.<br />
Und deswegen sei, nicht hochfahrend, son<strong>der</strong>n in aller Bescheidenheit,<br />
vielleicht sogar – ein heutzutage schier unbekanntes Wort – in Demut die<br />
Homerische Hymne an Aphrodite zitiert:<br />
93<br />
Muse, sage mir die Werke <strong>der</strong><br />
goldenen Aphrodite / Herrin auf Kypros<br />
süßes Verlangen weckt sie den Göttern /<br />
überwältigt <strong>der</strong> sterblichen Menschen Geschlechter,<br />
die Vögel / hoch in den Lüften,<br />
die Scharen <strong>der</strong> Tiere, aller zusammen,<br />
mag sie das Festland,<br />
mag sie das Weltmeer zahllos ernähren:<br />
jedes buhlt um die Gnaden<br />
<strong>der</strong> schön gekränzten Kythera<br />
Homerische Hymnen V, An Aphrodite, 1-6 73<br />
Nachdem die Knidia im Altertum gewissermaßen „welt“-berühmt war, viele<br />
Kopien dieses Werkes entstanden waren, kam die Göttin Aphrodite <strong>der</strong><br />
Legende nach selbst nach Knidos, um ihr Abbild zu bestaunen, um dann<br />
verwun<strong>der</strong>t zu fragen: „Wo hat mich Praxiteles denn nackt gesehen?“<br />
73<br />
Zit. nach Anton Weiher (Hg.),<br />
Homerische Hymnen, München/<br />
Zürich 1989, Seite 93.
74<br />
Umberto Eco, aaO, Seite 37.<br />
75<br />
Erich Lessing, Philippe Sollers,<br />
Venus Grazie & Madonna, Evolution<br />
des Weiblichen in <strong>der</strong> Kunst,<br />
München 1994, Seite 143.<br />
Und das Orakel von Delphi antwortete auf die Frage, was Schönheit sei:<br />
„Das Richtige ist das Schönste!“ 74<br />
Ist es nicht an <strong>der</strong> Zeit, Bildwerke von Frauen, schöne Bildwerke von schönen<br />
Frauen in unserer Zeit zu schaffen? Dies klingt provokativ, eher nach<br />
Kitsch, denn nach Kunst. Jedoch im Griechenland des 5. Jahrhun<strong>der</strong>ts v.u.Z.<br />
entstanden die ersten und bald mehr und mehr Skulpturen von Frauen, von<br />
<strong>der</strong> Göttin <strong>der</strong> Liebe, Aphrodite, und zwar in einer Zeit „die vom Krieg verwüstet<br />
ist und in <strong>der</strong> die alten Werte zu verfallen beginnen“ 75<br />
Und leben wir Heutigen nicht in eben solchen Zeiten? Und muss nicht gegen<br />
den Ungeist dieser Zeiten, das Richtige, das körperlich und seelisch Schöne<br />
in all seiner Ambivalenz, in all seiner Verwundbarkeit, trotz all <strong>der</strong> vielen<br />
Möglichkeiten <strong>der</strong> Fehldeutung und des Missbrauchs wie<strong>der</strong> an Bedeutung<br />
gewinnen?<br />
Diese Skulptur <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s ist eine Antwort darauf. Und auf die Frage, die<br />
sich <strong>Klinge</strong> im Titel und mit dem Titel dieser Skulptur stellte „<strong>Daphne</strong>?“ mit<br />
einem Ausrufungszeichen beantwortet worden: Ja es ist eine <strong>Daphne</strong>, eine<br />
<strong>Daphne</strong> ganz eigener Art, ohne Vorbild. Eine Wegbereiterin!<br />
94<br />
<strong>Daphne</strong> ?VI!,<br />
2016, Bronze,<br />
H. 2,51 m, 6 Ex.
95
96<br />
Fig. 264 (<strong>Daphne</strong> VII)<br />
Eine fein, feinsinnige, zarte, zärtliche junge Frau ist <strong>Daphne</strong> VII. Nach <strong>der</strong><br />
mächtigen <strong>Daphne</strong> ?VI! in prangen<strong>der</strong>, selbstbewusster Schönheit ist es, als<br />
ob <strong>der</strong> Künstler einen Gegenpol suchte. Nein, nicht „Gegen“-Pol, jedoch einen<br />
an<strong>der</strong>en körperlichen und seelischen Ausdruck.<br />
Der Unterleib zwar wie<strong>der</strong>um aus dem Holz eines Baumes entstanden, jedoch<br />
umkleidet mit dünner und glatter Rinde. Der Torso des Oberkörpers, im<br />
Modell aus Wachs geformt, zeigt ebenfalls eine straffe Glätte. Und er sollte<br />
dem aufmerksamen Betrachter bekannt vorkommen: <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> hat den<br />
Leib <strong>der</strong> <strong>Daphne</strong> V, <strong>der</strong> hochmittelalterlichen Herrin und frouwe weitergegeben,<br />
weiterleben lassen. Die Stellung des Halses hat sich verän<strong>der</strong>t, aus<br />
dem schier demutsvollen Neigen, wird ein freimütig und stolz aufgerichteter<br />
Nacken und Hals, <strong>der</strong> den ebenso in jugendlicher Unbekümmertheit und<br />
Freiheit sich zeigenden Kopf trägt.<br />
Der Verwandlungsansatz dieser <strong>Daphne</strong> ist wie<strong>der</strong>um neu und an<strong>der</strong>s. Das,<br />
was sich selbst verän<strong>der</strong>nd, aus dem Kopf wächst, dient nicht zum Schutz,<br />
zeigt keine Abwehr. Es ist wie ein frühlingshaftes, ahnungsvolles Erwachen<br />
einer jungen Frau, die ihr Leben, ein volles, freudiges Leben vor sich hat, es<br />
bewältigen will und kann.<br />
Und doch lässt <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> sich und dieser <strong>Daphne</strong> VII alle Möglichkeiten<br />
ihres Wachsens und Werdens offen. Wir wissen nicht, welches Wesen aus<br />
diesen frischen und weltbejahenden, weltzugewandten Attributen entstehen<br />
wird. Wird es doch gewaltig wie <strong>Daphne</strong> ?VI! o<strong>der</strong> bleibt es ätherisch,<br />
zukunftsverheißend auch und dennoch im Alter? Diese Figur des Frühlings<br />
trägt die Antwort in sich verborgen und geborgen.<br />
Fig.364 (<strong>Daphne</strong> VII),<br />
2016, Bronze, H. 43 cm, 9 Ex.
97
98
99
100
101
102
<strong>Daphne</strong> VIII<br />
Die rätselhafteste und zugleich poetischste <strong>der</strong> <strong>Daphne</strong>n ist allein und wird<br />
alleine bleiben. Zunächst durch die Entscheidung des Künstlers, das Modell<br />
aus Stamm und Gezweig nur ein einziges Mal in Bronze zu transformieren.<br />
Es werden keine weiteren Bronzegüsse entstehen, die ihr gleichen. Ihre Botschaft<br />
kann und muss <strong>Daphne</strong> VIII alleine tragen.<br />
Alle an<strong>der</strong>en Großplastiken aus dem <strong>Daphne</strong>-Werkzyklus des Künstlers<br />
scheinen wirkmächtiger, größer als Erscheinung mit einem festeren Stand in<br />
<strong>der</strong> Welt. Sie scheinen so, denn <strong>Daphne</strong> VIII lebt in einer ganz an<strong>der</strong>en Welt.<br />
Verse, Worte aus dem ‘Abendlied‘ von Matthias Claudius (1740 – 1815) klingen<br />
bei ihrer Erscheinung auf. <strong>Daphne</strong> VIII: Steht sie nicht am Saum eines<br />
schwarz schweigenden Waldes und zu ihren Füßen schwebt seidenweißer<br />
Nebel aus taufeuchten Wiesen? Es ist eine stille Welt, in <strong>der</strong> sie ohne Bewegung,<br />
jedoch weich und fließend, steht. Und <strong>Daphne</strong> VIII sieht „manche Sachen,<br />
die wir getrost belachen, weil unsere Augen sie nicht sehen.“ 76<br />
Und man ist versucht (und erliegt auch <strong>der</strong> Versuchung) diese lyrische <strong>Daphne</strong><br />
mit Dichterworten zu erspüren, zu beschreiben. <strong>Daphne</strong> VIII verströmt<br />
keine Tristesse, bejammert nicht ihr einsames Schicksal. Für sie gelten wohl<br />
die Worte von Rose Auslän<strong>der</strong> (1901 – 1988) im Beson<strong>der</strong>en:<br />
du wirst verlieren<br />
Menschen und Schlaf<br />
wirst reden mit geschlossenen Lippen<br />
zu fremden Lippen<br />
Lieben wird dich<br />
die Einsamkeit<br />
wird dich umarmen 77<br />
Aber auch den Nachhall feiner zwischenmenschlicher Beziehungen zeigt<br />
diese Skulptur <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s, wie Wolf Wondratschek (1943) leicht und tief<br />
zugleich schreibt:<br />
Die Wärme einer Hand<br />
<strong>der</strong> Klang einer Berührung<br />
Aufenthalt im Gedächtnis<br />
des Glückes<br />
Erinnerung schwebt über ihr, jedoch kein Wollen, kein Müssen, ihre Einsamkeit<br />
zu beenden. Diese <strong>Daphne</strong> muss kein Gegenüber haben. Doch wer o<strong>der</strong><br />
was ist <strong>Daphne</strong> VIII?<br />
<strong>Daphne</strong> VIII,<br />
H. 2,60 m, Unikat<br />
76<br />
Matthias Claudius, Abendlied,<br />
Strophe 3, Verse 4-6.<br />
77<br />
Rose Auslän<strong>der</strong>, Einsamkeit,<br />
Verse 5-11.<br />
103
104<br />
<strong>Daphne</strong> VIII,<br />
H. 2,60 m, Unikat<br />
Der Torso einer formvollendeten Frau steht vor uns. Eine Frau ohne Arme<br />
und Hände, die nicht berühren, nicht halten kann, aber auch nicht will.<br />
Merkwürdigerweise steht <strong>der</strong> so kompakt wirkende Leib auf zwei Keilen, die<br />
wohl aus Gründen <strong>der</strong> Stabilität unter dem Stammabschnitt des Unterleibs,<br />
wie ein Paar Füße geschoben sind. Eigenartig schroff auch <strong>der</strong> Hals, <strong>der</strong> in<br />
starkem Kontrast zur weichen, fließenden Form <strong>der</strong> Brüste steht. Wie ein<br />
trapezförmiger Block sitzt er auf den flach geschnittenen Schultern. Die<br />
Halspartie setzt sich jedoch nicht weiter fort. Dem Hals ist kein Kopf aufgesetzt.<br />
Ein Etwas, etwas Kopfähnliches schwebt zwei Finger breit ohne<br />
Verbindung mit dem Hals über ihm. Fest verbunden damit, eingezapft, eingepflockt<br />
ist ein Astgewirr, die Krone eines Obstgehölzes, eines Apfelbäumchens,<br />
dessen Stamm nunmehr durch den Leib dieser <strong>Daphne</strong> ersetzt wurde.<br />
Beschnittenes, gepflegtes Nutzholz, das zwingend weichen, gefällt werden<br />
musste, findet zu neuem Dasein. Jetzt hat sich die Krone des Baumes zur<br />
Bekrönung einer Frau, eines rätselhaften Wesens, gewandelt, das die Anmutung<br />
eines Geweihs einer animalischen Göttin trägt o<strong>der</strong> im Entsetzen<br />
zu Berge stehendes Haarwerk, gar gorgonenhaft? Doch das Antlitz spricht<br />
an<strong>der</strong>es. Die Gesichtszüge sind ohne jegliche Angriffslust, ruhig, gelassen,<br />
besonnen. Es ist keine scharf geschnittene ziselierte Mimik, wie etwa bei ihrer<br />
Nachfolgerin, mit demselben Leib, <strong>Daphne</strong> IX zu sehen. Nase und Mund<br />
sind nicht <strong>der</strong>b, aber ebenso wenig fein. Die Augen unter den Brauenschwingen<br />
sind wie in tiefer Versenkung geschlossen. Die Li<strong>der</strong> sanft aufeinan<strong>der</strong><br />
gelegt. Aber ist es ein Kopf? Doch wohin gehörig, zu welchem Körper? O<strong>der</strong><br />
ist es eine Maske, aber für welche Trägerin?<br />
Für die Eigenschaft als Maske spricht die Halbierung des Kopfes, noch vor<br />
dem Ansatz <strong>der</strong> Ohren. Dafür spricht die Körperlosigkeit, spricht <strong>der</strong> Anschein,<br />
als wolle sich hinter diesem Gesicht ein Wesen verbergen, verhüllen,<br />
entschwinden.<br />
Jedoch würde diese Maske diesem Lebewesen keinen Augenblick, keinen<br />
Blick <strong>der</strong> Augen in seine Welt gestatten, denn die Augen dieser Maske sind<br />
verschlossen. Der wesentlichste Grund einer Maske wäre unerfüllbar: Zu sehen<br />
und nicht gesehen zu werden.<br />
Der Kopf, <strong>der</strong> halbe Kopf, aber, welchem Hals war er verbunden? Zweifelsfrei<br />
entwuchs dem kantigen Hals zuerst das Astwerk, denn die Rückseite des<br />
Kopfes ist dort, wo ein Ast sich streckt wie um ihn herum gewachsen, gewuchert<br />
als wäre er, <strong>der</strong> halbe Kopf ein Lebewesen eigener Art, <strong>der</strong> doch mit<br />
dem ihn beherbergenden Astwerk wie<strong>der</strong>um keine lebendige Verbindung<br />
hat.
105
106
107
108<br />
78<br />
Paul Celan, (1920 – 1970), Niedrigwasser,<br />
Strophe 3, Verse 4-6<br />
79<br />
Paul Celan, (1920 – 1970),<br />
Schliere, Strophe 4, Vers 3<br />
Eindeutigkeit, ein Ausschluss an<strong>der</strong>er Möglichkeiten, ist nicht das, was <strong>der</strong><br />
Künstler wollte. Gerade die Zweideutigkeit des Gesichts, des Kopfes o<strong>der</strong><br />
doch <strong>der</strong> Maske(?), lebend o<strong>der</strong> tot, ist es, was <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> als offene,<br />
nicht beantwortbare Frage stellen will und stellt.<br />
Vielleicht, wer weiß, ist es die Maske, die einem Lebenden o<strong>der</strong> einem Toten,<br />
diesem als letzte Erinnerung an sein Leben, abgenommen wurde. Und ist so<br />
notwendigerweise beides, eine Maske, die zugleich ihren Träger abbildet,<br />
ja beinhaltet. <strong>Daphne</strong> VIII wirkt auf starke Weise geschlossen, verschlossen<br />
und ist doch ein offenes Konstrukt, eine Konstruktion. Alles wirkt flüchtig,<br />
brüchig, nur für einen Augenblick gemacht, aus Fundstücken improvisierend<br />
zusammengesteckt, mit Keilen vor dem Schiefstand bewahrt. We<strong>der</strong><br />
Baum, noch Figur, we<strong>der</strong> Maske, noch Kopf, we<strong>der</strong> lebend, noch tot.<br />
Sie hat nichts mit den <strong>Daphne</strong>s aus <strong>der</strong> Werkstatt Wenzel Jamnitzers<br />
(1507 – 1585) gemeinsam, denen aus den edlen Köpfen, rote Korallenbäume<br />
entwachsen. Diese <strong>Daphne</strong> präsentiert sich nicht. Sie lebt nicht entzogen,<br />
son<strong>der</strong>n entrückt in ihrem eigenen Land, das ihr Schutz und Schirm gewährt,<br />
als Königin, als Herrscherin. Mutterseelenallein! Sie, die unberührt ist und<br />
sein wird, alterslos in bleiben<strong>der</strong> Unschuld. Und sie bewahrt sich ihre<br />
Reinheit durch die (vielleicht nur auf ihrer geistigen Ebene) stattgefundene<br />
Verwandlung. In ihre Welt kann und wird kein an<strong>der</strong>es Wesen eindringen.<br />
<strong>Daphne</strong> VIII ist wie „ein kleines unbefahrbares Schweigen“ 78 , wie „ein<br />
durchs Dunkel getragenes Zeichen“ 79 .<br />
<strong>Daphne</strong> VIII,<br />
H. 2,60 m, Unikat
109
110
111
112
113
114
115
116
<strong>Daphne</strong> IX<br />
Königlich, über jeden Zweifel, auch jeden eigenen Zweifel erhaben, steht<br />
<strong>Daphne</strong> IX, wie aus einem Guss. Sicherlich <strong>der</strong> Bronzeguss des Holzmodells<br />
fügte die Teile ihres Körpers, <strong>der</strong> Unterleib aus Hainbuche, die Büste aus<br />
Kirsche und <strong>der</strong> Kopf aus Linde, in einem Material und im Wortsinne nahtlos<br />
zusammen. Doch sind diese Teile ihres Körpers für einan<strong>der</strong> bestimmt,<br />
aufeinan<strong>der</strong> abgestimmt? Daran kann es doch ebenso wenig Zweifel, nicht<br />
den leisteten Zweifel, geben, wie an ihrer edlen Herkunft: Eine erdverbundene,<br />
eine erdgebundene Göttin, eine Chtonia, wie Ceres und Persephone!<br />
Und doch ist dieser ganz auf sie und ihre Ausstrahlung ein- und ausgerichtete<br />
Körper zwar keine Leihgabe, wohl aber ein Geschenk ihrer Schwester<br />
<strong>Daphne</strong> VIII! Und es ist tatsächlich, bis auf die notwendigen und wenigen<br />
Verän<strong>der</strong>ungen im Schulter- und Halsbereich <strong>der</strong> identische Körper!<br />
<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> gelingt ein so nie gesehener – im positiven Sinne des Wortes<br />
– Kunstgriff. Denn <strong>Daphne</strong> VIII wirkt in ihrer Konstruktion nicht nur leicht,<br />
vergänglich, son<strong>der</strong>n sie ist ätherisch, nicht ein Wesen von dieser Welt. Und<br />
ihr Körper unterstreicht dies in großer Selbstverständlichkeit, schwebt mit<br />
in <strong>der</strong> Aura, die von dem Maskengesicht im Baum und dem Baum ausgeht.<br />
Mit eben dieser Selbstverständlichkeit, also <strong>der</strong>selben Selbstverständlichkeit,<br />
die mit dem Körper, wie weitergegeben wirkt, steht nun die chtonische<br />
Göttin unverrückbar, unangreifbar da. Eine Verwandlung ein und desselben<br />
Körpers in <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Verwandlungen <strong>der</strong> <strong>Daphne</strong>! Ohne sich verwandelt<br />
zu haben! Es scheinen demzufolge durch die Hand des Künstlers<br />
Möglichkeiten, sowohl in den Köpfen, als auch – wie hier – in den Körpern<br />
<strong>der</strong> Skulpturen angelegt zu sein, Spuren gelegt worden zu sein, die in völlig<br />
entgegengesetzten Richtungen materialisieren können, wie Luft und Erde:<br />
<strong>Daphne</strong> VIII und <strong>Daphne</strong> IX!<br />
Der Leib von <strong>Daphne</strong> IX wirkt mit seinen drei Teilen wie eine Säulenordnung<br />
bei barocken Bauten übereinan<strong>der</strong>gestellt, geschichtet, als wäre <strong>der</strong>, die Beine<br />
und Füße bedeckende Rock, ein dorisches, <strong>der</strong> Oberkörper ein ionisches<br />
und das fein geschnittene Gesicht ein korinthisches Element.<br />
Der Kopf in seiner länglichen Form, fest in aufgestellter Qua<strong>der</strong>form auf die<br />
Schultern gesetzt, musste so und nicht an<strong>der</strong>s als zwingende Schlussfolgerung<br />
aus dem Aufbau des Körpers geschaffen werden.<br />
Die nicht vorhandenen Arme und Hände könnten, wie<strong>der</strong>um als eine Möglichkeit,<br />
was bei <strong>Daphne</strong> VIII undenkbar wäre im Segnungsgestus, die Oberarme<br />
horizontal, die Unterarme vertikal, einen rechten Winkel zueinan<strong>der</strong><br />
bildend, hinzugedacht, besser hinzugefühlt werden, zu dieser herrschaftlichfraulichen<br />
Erdgöttin 80 .<br />
<strong>Daphne</strong> IX,<br />
2016, Bronze,<br />
H. 1,96 m, 6 Ex.<br />
80<br />
Ein anekdotisches Erlebnis<br />
kann und darf hier nicht verschwiegen<br />
werden: Im Gespräch<br />
mit <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> über <strong>Daphne</strong><br />
IX, ihre Anmutung, ihren Charakter,<br />
fiel das Wort ‘Napfsülze‘,<br />
das ausschließlich im Wortschatz<br />
des Künstlers vorhanden ist. Damit<br />
beschrieb er das Gegenteil<br />
und den Gegensatz zu <strong>Daphne</strong><br />
IX. ‘Napfsülze‘ bezeichnet eine<br />
dumpfe Frau!<br />
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Kopf 252 (<strong>Daphne</strong>)<br />
Der Kopf einer Kriegerin, einer <strong>Daphne</strong>-Amazone, einer „männergleichen“<br />
Frau, so scheint es, blickt uns an. Auf einem festen, kantigen Hals, sitzt ein<br />
Kopf, <strong>der</strong> den Strunk eines verrotteten Baumes stolz wie einen Paradehelm<br />
trägt. Das Antlitz ist klar geglie<strong>der</strong>t, <strong>der</strong> Blick unter den augenlosen Brauen<br />
– <strong>der</strong> dennoch ein Blick ist – furchtlos und offen. Der Mund ausdrucksstark<br />
und kraftvoll. Die Plinthe ist zugleich Teil des Oberkörpers, <strong>der</strong> Schulter.<br />
Deshalb mutet <strong>der</strong> gesockelte Kopf wie eine Büste an. Es ist die Darstellung<br />
einer <strong>Daphne</strong>, die sich keineswegs flehentlich verwandeln will o<strong>der</strong><br />
gar muss. Es ist eine <strong>Daphne</strong>, die ihrem Verfolger die Stirn bietet. Sie wird<br />
nicht gejagt. Sie stellt sich zum Kampf, tritt dem lüsternen Apollon gegenüber,<br />
zeigt dass es keinen Unterschied <strong>der</strong> Werte von Mann zu Frau, von<br />
Frau zu Mann gibt und geben kann. Sie ist eben nicht wie eine Amazone<br />
<strong>der</strong> Griechischen Mythologie „gleich wie ein Mann“, sie ist „gleich wie<br />
eine Frau“, ist eine Frau. Sie zeigt, das bedarf sie nicht, keine Attribute von<br />
Gleichberechtigung, denn sie kommt nicht aus einer schwächeren o<strong>der</strong> gar<br />
schwachen Position zum Kampf und benötigt gleiche Rechte, die sie erringen,<br />
erzwingen will. Sie hat – und zwar von jeher – das gleiche Recht als Frau<br />
wie Mann, wie Frau und Mann. Und dass sie vorsorglich mit Doppelaxt und<br />
halbmondförmigem Schild bewaffnet ist, soll ebenso ihr gutes Recht sein,<br />
wie auch das <strong>der</strong> zu Kopf 252 (<strong>Daphne</strong>) hinzugedachten weiblichen Person.<br />
<strong>Daphne</strong> ?VI!,<br />
2016, Bronze,<br />
H. 2,51 m, 6 Ex.<br />
Kopf 252 (<strong>Daphne</strong>)<br />
2016, Bronze,<br />
H. 82 cm, 6 Ex.<br />
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Kopf 253 (<strong>Daphne</strong>)<br />
Ein Kopf, ein Antlitz, geboren aus unserer Zeit, geboren in unsere Zeit. Das<br />
schale, schal gewordene Wort „mo<strong>der</strong>n“ passt nicht zu diesem Werk, will<br />
auch nicht passen. Mo<strong>der</strong>ne zu definieren, das war <strong>der</strong> „Versuch, das<br />
Gegenwärtige, zeitgemäße Relevante <strong>der</strong> eigenen Zeit zu identifizieren“<br />
81 . Mo<strong>der</strong>ne „das ist ein solch flexibler Begriff, von Zeitgenossen<br />
und Nachgeborenen immer an<strong>der</strong>s ausgelegt und von je<strong>der</strong><br />
Generation zeitlich wie<strong>der</strong> neu angesiedelt..,“ 82 . Jedoch hat sich dieser<br />
Begriff <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne „weit zurückgezogen und dem Eintritt in die Postmo<strong>der</strong>ne<br />
Platz gemacht“ 83 .<br />
Kopf 253 (<strong>Daphne</strong>) ist nun alles an<strong>der</strong>e als beliebig und effektheischend,<br />
alles an<strong>der</strong>e als um Applaus bettelnd, alles an<strong>der</strong>e als gefällig geglättet,<br />
alles an<strong>der</strong>e als <strong>der</strong> wohl abgestimmten Dekoration eines gehobenen Lebensstils<br />
dienend.<br />
Dieser Kopf for<strong>der</strong>t heraus, er for<strong>der</strong>t das Zwiegespräch mit dem Betrachter<br />
heraus und dies in aller Demut und Bescheidenheit, gleichwohl in vollem<br />
Bewusstsein seiner Schönheit, ja Erhabenheit.<br />
Entstanden, geboren, besser noch wie<strong>der</strong>geboren wurde er aus früheren<br />
Werken <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s.<br />
<strong>Daphne</strong> II Kore trägt ihr bronzenes Haupt stolz und aufrecht. Das hölzerne<br />
gab sie weiter in den Schöpfungswerdegang <strong>der</strong> Werke des Künstlers.<br />
Die Büste <strong>der</strong> <strong>Daphne</strong> II trägt die identische Form, jedoch mit einer Patinierung,<br />
die an farbliche Verschönerung und Betonung fraulichen Zu-rechtmachens,<br />
das eben das Rechte tun, das Rechte machen in sich trägt. Der<br />
Kopf 248 (<strong>Daphne</strong>-Kore) zeigt wie<strong>der</strong>um diese Farbigkeit. Das Gesicht aber<br />
hat sich verän<strong>der</strong>t, verfeinert. Die vordem verletzte Nase ist nahezu geheilt,<br />
die Brauenbögen schwingen erstmals harmonisch, ohne Störung, ohne Zerstörung<br />
und die Lippen des lächelnden Mundes sind voller.<br />
Dies ist den tastenden, behutsamen Eingriffen des Künstlers geschuldet,<br />
<strong>der</strong> diese treffenden, den gewollten neuen Ausdruck des neuen Gesichts<br />
sicher treffenden Verän<strong>der</strong>ungen am ursprünglich zu <strong>Daphne</strong> II Kore gehörenden<br />
Kopf vornahm.<br />
Damit aber war die Verwandlung dieses Kopfes nicht beendet, wie auch die<br />
Verwandlung von <strong>Daphne</strong>, die wie in einer weiteren Ebene stattfindet, erlebt<br />
und gesehen werden kann.<br />
Der offensichtliche Schmerz auf dem auch ebenso offenen Antlitz <strong>der</strong><br />
<strong>Daphne</strong>-Kore ist nunmehr, so scheint es zunächst, einem inneren Frieden<br />
gewichen. Das Holz des Modells also, des Kopfes von <strong>Daphne</strong> II, <strong>der</strong> Büste<br />
von <strong>Daphne</strong> II und des Kopfes 248 (<strong>Daphne</strong>-Kore) wurde ein nächstes und<br />
Kopf 253 (<strong>Daphne</strong>)<br />
2016, Bronze,<br />
H. 66 cm, 6 Ex.<br />
81<br />
Roger Willemsen, Wer wir waren,<br />
Zukunftsrede, Frankfurt/<br />
Main 2016, Seite 17.<br />
82<br />
Florian Illies, aaO, Seite 76.<br />
83<br />
Roger Willemsen, aaO, Seite 18.<br />
129
130<br />
Gandhara Köpfe<br />
Musée Guimet Paris<br />
letztes Mal durch die Hand des Künstlers in <strong>der</strong> Tiefe des Ausdrucks verän<strong>der</strong>t.<br />
Erkennbar tiefe Abtragungen sind vorgenommen worden, <strong>der</strong> Kopf<br />
dadurch verkleinert. Die hölzerne Hautoberfläche ist geglättet, die Nase<br />
gänzlich geheilt und die Brauen wölben sich nun vollständig über den sanft<br />
geschlossenen Augen. Gleichsam eine Konzentrierung <strong>der</strong> in den Vorgängerköpfen<br />
angelegten Möglichkeiten fand statt.<br />
<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> hat etwas, wie es Michelangelo über die Steine, aus denen<br />
er Skulpturen freilegte, gesagt hat, was bereits im Holz vorhanden war, als<br />
zu findende Gestaltung, aus dem Holz befreit, an die Oberfläche geholt. Das<br />
Antlitz des Kopfes zeigt tiefe innere Versenkung, ein Bei-sich-Sein. Und ist<br />
damit, weil bei sich, nicht bei uns. Diese <strong>Daphne</strong> entzieht sich. Nicht dem<br />
Verfolger Apollon. Der spielt keine, nicht einmal untergeordnete, gar unterwürfige<br />
Rolle. Nein, sie benötigt eben keine Hilfe von außen, sie ruht innen.<br />
Und entzieht sich, jedoch ohne entrückt zu sein, in an<strong>der</strong>e Sphären. Kopf<br />
253 (<strong>Daphne</strong>) ist in seinem ganz eigenen Hier und Jetzt, scheint gar zu atmen.<br />
So lebendig ist ihre Stille. Wie bekrönt ist sie. Nicht mit einer maskenhaften<br />
Rindenkrone wie <strong>Daphne</strong> ?VI!, nicht wie Kopf 252 (<strong>Daphne</strong>), den <strong>der</strong> Kriegshelm<br />
krönend ziert, son<strong>der</strong>n mit Holzteilen, die ihre Vergangenheit und damit<br />
auch ihre Vergänglichkeit und die <strong>der</strong> <strong>Daphne</strong> gleichermaßen, zeigen.<br />
Ehedem Wurzeln, die unter <strong>der</strong> Erde im Dunkel <strong>der</strong> Unterwelt, dem Baum<br />
Sicherheit gaben, die Sicherheit aufrecht stehen zu können und Nahrung<br />
gaben, Nahrung, um sein zu können! <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> zeigt nun Wurzeln, die<br />
ihre althochdeutsche Wortherkunft von „wurzala“, das ist das Gewundene,<br />
bildlich rechtfertigen.<br />
Durch lange Zeiten, Wind und Wetter ausgesetzt, haben sie bis auf ihren<br />
„harten Kern“ alles verloren, sind verrottet, sind zurückgeworfen auf das<br />
letzte, das von ihnen vor völliger Auflösung verbleibt.<br />
Diese Zeichen <strong>der</strong> Vergänglichkeit wandeln sich aber bei Kopf 253 (<strong>Daphne</strong>)<br />
zu etwas Lebendem, einem Gefüge, das wie organisch Gewachsenes, Haare<br />
etwa, eine Frisur, eine Frisurenkrone bildend, zum Kopf gehört.<br />
Und, dass dieser ausgewogene, schöne Kopf an die Kunst <strong>der</strong> Khmer und<br />
noch vielmehr an die Werke aus Gandhara, erinnert ist so, wenn auch vom<br />
Künstler nicht gewollt, nicht wissentlich herbeigeführt.<br />
Wenn in an<strong>der</strong>en <strong>Daphne</strong>-Darstellungen <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s Seelenverwandtschaften<br />
mit griechischer archaischer und klassischer Kunst, mit römischer<br />
Kunst, mit <strong>der</strong> Kunst des hohen Mittelalters aufscheinen und in einer ganz<br />
eigenen und neuen Formensprache sichtbar werden, so muss ein Hinweis<br />
auf den beson<strong>der</strong>en und ausgeprägten Gandhara-Stil erlaubt sein. Denn<br />
dieser Stil schuf in einzigartiger Weise Eigenständiges aus den Wurzeln <strong>der</strong>
Kopf 253 (<strong>Daphne</strong>)<br />
2016, Bronze,<br />
H. 66 cm, 6 Ex.<br />
131<br />
indischen und hellenistischen Kultur, ja Kulturen, und verschmolz sie in<br />
wechselvoller Geschichte nach Alexan<strong>der</strong> dem Großen mit den Kulturen <strong>der</strong><br />
Perserreiche. Und dieser Kopf unserer Zeit zeigt, wie zeitlos Kunst sein kann<br />
und ist, wenn Innen und Außen in tiefer Übereinstimmung miteinan<strong>der</strong><br />
verbunden sind.<br />
Robert Musil schreibt über Diotima, die begehrte Schönheit, eine Frau voller<br />
Eigenschaften:<br />
Und etwas stand offen: Es war wohl die Zukunft, jedenfalls waren<br />
es aber ein wenig auch ihre Lippen. 84<br />
83<br />
zit. nach Florian Illies, aaO,<br />
Seite 306.
Fig. 365, Fig. 367 (<strong>Daphne</strong> X)<br />
Kennen wir sie nicht, die Gestalten, die Figuren von Figur 365 und jener von<br />
367? Freilich: Der Körper von Figur 365 ist entliehen von <strong>der</strong> feinsinnigen<br />
<strong>Daphne</strong> VII. Und Figur 367 erschien mit Ober- und Unterleib in <strong>Daphne</strong> V.<br />
Und die Körper, die mit ihren früheren Köpfen so in Einklang standen, die<br />
Gefühle, die sich in ihren Gesichtern wi<strong>der</strong>spiegelten, in corpore wie<strong>der</strong>holten,<br />
sprechen in diesen Figuren eine völlig neue Sprache.<br />
Auf den ersten Blick meint <strong>der</strong> Betrachter, die sich in den Baum verwandelnde<br />
<strong>Daphne</strong> zu sehen. Doch die Äste sind seltsam geglättet, wirken als ob sie<br />
Tentakeln gleich, suchend in Bewegung wären. Gierige, animalische Fangarme,<br />
die ihren Körpern eine so an<strong>der</strong>e Anmutung geben. Die Köpfe amorph,<br />
allenfalls die vage Andeutung von Gesichtern. Ist es gar die versteckte Ankündigung<br />
einer Darstellung <strong>der</strong> Medusa, eine <strong>der</strong> Gorgonen, die wun<strong>der</strong>schön,<br />
so die Sage, gewesen war? Auch sie wurde verwandelt durch eine<br />
Göttin, Pallas Athene, die sie zum Ungeheuer mit Schlangenhaaren machte.<br />
Die „Haare“ <strong>der</strong> <strong>Klinge</strong>schen Figuren waren keine Schlangen, son<strong>der</strong>n mit<br />
einer feinen Wachsschicht überzogene Fenchelwurzeln!<br />
132<br />
Fig. 365 (<strong>Daphne</strong> X)<br />
2016, Bronze, H. 55,7 cm, Unikat<br />
Fig. 367 (<strong>Daphne</strong> X)<br />
2016, Bronze, H. 54,5 cm, Unikat
133
134
135
85<br />
Bibel, Psalm 90, Vers 6.<br />
86<br />
Goethe, Selige Sehnsucht,<br />
Strophe 5, Vers 2.<br />
Schlusswort<br />
Und ist nicht in jedem Leben, ist nicht jedes Leben unaufhörliche Wandlung,<br />
Verwandlung?<br />
Nicht nur so auffällige, augenfällige Verwandlung, wie die <strong>der</strong> plumpen Raupe<br />
zum flatternden, schwebenden Schmetterling o<strong>der</strong> eben die Verwandlung<br />
<strong>der</strong> <strong>Daphne</strong> von Fleisch zu Holz, son<strong>der</strong>n die vom Nicht-Sein zum Kind im<br />
Mutterleib, zum Neugeborenen, vom Säugling zum Erwachsenen, Greis und<br />
Leichnam und schließlich Nicht-Sein.<br />
Es ist eine Ferne, die war, von <strong>der</strong> wir kommen und es ist eine Ferne, die sein<br />
wird, zu <strong>der</strong> wir gehen, sagt Goethe. Der Mensch „ein Gras, das da frühe<br />
blüht und doch bald welk wird“ 85 .<br />
Deshalb aber ist <strong>der</strong> <strong>Daphne</strong>-Zyklus keineswegs nur Beschäftigung mit einer<br />
mythologischen Verwandlung <strong>der</strong> griechischen Nymphe <strong>Daphne</strong> in einen<br />
Lorbeerbaum, auch nicht die Deklination ihrer Verwandlungsmöglichkeiten<br />
o<strong>der</strong> die Darstellung des gedanklichen und gestalterischen Potentials des<br />
Künstlers <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>, son<strong>der</strong>n ein tiefes künstlerisches Nachsinnen über<br />
den Urgrund allen Seins über das ‘stirb und werde‘ 86 den ewigen Zwang zum<br />
Wandel. Und hinter allem steht <strong>der</strong> verwundbare und verwundete Mensch.<br />
136<br />
Nachwort<br />
Mit wenig mehr als zwei Jahrzehnten Lebens schreibt (nein, er schreibt nicht<br />
auf Papier, er kratzt es in Felsgestein, brennt es in hölzerne Bohlen, schweißt<br />
es auf kaltes Eisen) Georg Büchner (1813-1837) am Ende seines Woyzeck im<br />
achten Kapitel eine schaurig-poetische Geschichte, die die Großmutter den<br />
Kin<strong>der</strong>n erzählt:<br />
Und weil auf <strong>der</strong> Erd niemand mehr war, wollt´s in Himmel gehen,<br />
und <strong>der</strong> Mond guckt es so freundlich an und wie´s endlich zum<br />
Mond kam, war´s ein Stück faul Holz und da ist es zur Sonn gegangen<br />
und wie´s zur Sonn kam, war´s ein verwelkt Sonnenblum.<br />
Und wie´s zu den Sternen kam, waren´s kleine goldene Mücken, die<br />
waren angesteckt wie <strong>der</strong> Neuntöter sie auf die Schlehen steckt. Und<br />
wie´s wie<strong>der</strong> auf die Erde wollt, war die Erd ein umgestürzter Hafen<br />
und war ganz allein.<br />
87<br />
Rainer Maria Rilke, Brief an Marie<br />
von Thurn und Taxis - Hohenlohe<br />
vom 9. Juli 1915<br />
Rilke, <strong>der</strong> gute Nassauer und hilflose Fernlieber Rilke, sagte, dass er, dieser<br />
Woyzeck, „dieser missbrauchte Mensch in seiner Stalljacke im Weltall<br />
steht … im unendlichen Bezug <strong>der</strong> Sterne“ 87 .
137<br />
Und <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>, er macht das ‘Stück faul Holz‘, die ‘verwelkt Sonnenblum‘,<br />
die auf Dornen gespießten ‚Goldnen Mücken‘ und die ‚Erd diesen<br />
umgestürzten Hafen‘ zu Elementen seiner Kunst, zu Botschaftern seines humanen<br />
Erkennens und Verstehens.<br />
Dies, indem er etwa das ‘Stück faul Holz‘ adelt, aufnimmt, transmutiert, als<br />
Bronze darbietet, unternimmt er den gleichermaßen gewagten wie geglückten<br />
Versuch, die Einsamkeit, die Ausweglosigkeit, die Verwundbarkeit und<br />
Trauer <strong>der</strong> Menschen wenn nicht aufzuheben, so doch zu lin<strong>der</strong>n.<br />
Und deswegen ist das Werk <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s ein Werk voller Hoffnung, voller<br />
Stärke und Kraft in Fährnissen des Lebens Aller.
Impressum<br />
© 2017<br />
Freshup! publishing, Alfred Meyerhuber, Bode Galerie<br />
Vorspann aus Junk 151, 2016<br />
Text<br />
Alfred Meyerhuber<br />
Fotografie<br />
<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong><br />
Typographie, Gestaltung,<br />
Reproduktion<br />
<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>, Rica Bock, Stephanie Maas<br />
Schwabenrepro GmbH<br />
Redaktion<br />
Christina Luff<br />
Druck<br />
Wenng Druck,<br />
Dinkelsbühl<br />
ISBN<br />
978-3-943800-16-6<br />
Lorenzer Str. 2<br />
90402 Nürnberg<br />
Deutschland / Germany<br />
+49-(0)911-5109200<br />
E-Mail: bode@bode-galerie.de<br />
9-2, Hyeonchung-ro 6-gil, Namgu,<br />
Daegu, South-Korea 705-804<br />
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