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Dietrich Klinge – Im Umkreis der Daphne

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Alfred Meyerhuber<br />

<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>:<br />

Im <strong>Umkreis</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Daphne</strong>


Alfred Meyerhuber<br />

<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>: Im <strong>Umkreis</strong> <strong>der</strong> <strong>Daphne</strong>


Alfred Meyerhuber<br />

<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>: Im <strong>Umkreis</strong> <strong>der</strong> <strong>Daphne</strong>


Inhalt<br />

6<br />

25<br />

26<br />

27<br />

28<br />

29<br />

30<br />

32<br />

38<br />

43<br />

44<br />

46<br />

50<br />

56<br />

67<br />

86<br />

87<br />

89<br />

90<br />

94<br />

101<br />

115<br />

123<br />

127<br />

130<br />

134<br />

136<br />

Vorspann<br />

Vorwort<br />

Verwandlungen<br />

Lucifer<br />

Die Frau des Lot<br />

Gregor Samsa<br />

Midas<br />

Saulus und Paulus<br />

Dr. Jekyll und Mr. Hyde<br />

<strong>Daphne</strong><br />

<strong>Daphne</strong>: Die Werkgruppe<br />

<strong>Daphne</strong> I<br />

<strong>Daphne</strong> II<br />

<strong>Daphne</strong> Büste<br />

Kopf 248 (<strong>Daphne</strong>)<br />

<strong>Daphne</strong> III<br />

Fig. 352 (<strong>Daphne</strong> IV)<br />

Fig. 356 (<strong>Daphne</strong> V)<br />

<strong>Daphne</strong> ?VI!<br />

Exkurs: Maske<br />

Exkurs: Person<br />

Exkurs: Kontrapost<br />

Exkurs: Wille zur Körperplastik<br />

Exkurs: Mimesis<br />

Fig. 264 (<strong>Daphne</strong> VII)<br />

<strong>Daphne</strong> VIII<br />

<strong>Daphne</strong> IX<br />

Kopf 252 (<strong>Daphne</strong>)<br />

Kopf 253 (<strong>Daphne</strong>)<br />

Fig. 365, Fig. 367 (<strong>Daphne</strong> X)<br />

Schlusswort<br />

Nachwort<br />

Impressum


12


13


16


17


25


Vorwort<br />

<strong>Daphne</strong> heißt die Werkgruppe, heißen die aus Holz und Wachs geschaffenen, in<br />

Bronze gegossenen Statuen, Büsten und Köpfe des Künstlers <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>.<br />

Entstanden sind sie in den Jahren 2015 und 2016.<br />

Die Gruppe umfasst vier überlebensgroße Skulpturen, nämlich <strong>Daphne</strong> I,<br />

<strong>Daphne</strong> ?VI!, <strong>Daphne</strong> VIII und <strong>Daphne</strong> IX, eine lebensgroße, nämlich <strong>Daphne</strong> II<br />

(Kore), <strong>der</strong>en Büste und den daraus abgeleiteten <strong>Daphne</strong>-Korenkopf, sowie die Kleinplastiken<br />

<strong>Daphne</strong> III, <strong>Daphne</strong> IV, <strong>Daphne</strong> V, <strong>Daphne</strong> VII und Figur 365 und 366.<br />

Den Endpunkt <strong>der</strong> Werkgruppe <strong>der</strong> <strong>Daphne</strong>s stellen die Werke Kopf 252 und Kopf<br />

253 dar. Und als Anfangs- und Ausgangspunkt steht die große, die schöne, die<br />

lächelnde <strong>Daphne</strong> I, die Stammschwester ihrer insgesamt vierzehn schwesterlichen<br />

Nachfolgerinnen.<br />

Es wird sich zeigen, dass die griechische Sage <strong>der</strong> vom liebestollen Apollon bedrängten<br />

und verfolgten Bergnymphe für den Künstler <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> lediglich <strong>der</strong><br />

Anlass war, Fragen, die Menschen seit allen Zeiten stellen, sich selbst vorzulegen<br />

und zu versuchen Antworten im <strong>Umkreis</strong> <strong>der</strong> <strong>Daphne</strong> zu geben.


28<br />

1<br />

Bibel, Offenbarung, 12. Kapitel,<br />

3. Vers<br />

2<br />

aaO, Vers 9<br />

3<br />

Heinrich Krauss, Die Engel,<br />

Überlieferung, Gestalt, Deutung,<br />

München 2000, Seite 67.<br />

4<br />

aaO, Seite 67<br />

5<br />

aaO, Seite 95<br />

6<br />

Bibel, Lukas, Kapitel 10, Vers 18<br />

7<br />

Krauss, aaO, Seite 53<br />

8<br />

Krauss, aaO, Seite 53<br />

Verwandlungen<br />

Lucifer<br />

Das Böse, das uns überall umlauert und unfassbar, gestaltlos scheint,<br />

nimmt furchterregende Ausmaße an, wenn es seine Macht, die aber nach<br />

christlichem Gedankengut zugleich <strong>der</strong>en Ende, also Ohnmacht ist, zeigt,<br />

wie in <strong>der</strong> Offenbarung des Johannes wo <strong>der</strong> große, rote Drache erscheint,<br />

<strong>der</strong> „sieben Häupter und zehn Hörner und auf seinen Häuptern<br />

sieben Kronen“ 1 trägt.<br />

Und dieser „große Drache, die alte Schlange … heißt <strong>der</strong> Teufel und<br />

Satanas, <strong>der</strong> die ganze Welt verführt.“ 2<br />

Dieses wi<strong>der</strong>wärtige Ungeheuer, war jedoch einst, vor Äonen, bevor die Menschen<br />

wurden, <strong>der</strong> erste Engel im Himmel Gottes, des Allmächtigen.<br />

Aus den neun Chören <strong>der</strong> Engel war er, bevor er zum Drachen wurde, <strong>der</strong><br />

Erhabenste und <strong>der</strong> Mächtigste.<br />

Unter ihm, ihm untertan waren <strong>der</strong> Neunte Chor <strong>der</strong> Engel, <strong>der</strong> Achte Chor<br />

<strong>der</strong> Erzengel, <strong>der</strong> Siebente Chor <strong>der</strong> Fürstentümer, <strong>der</strong> Sechste Chor <strong>der</strong><br />

Gewalten, <strong>der</strong> Fünfte Chor <strong>der</strong> Mächte, <strong>der</strong> Vierte Chor <strong>der</strong> Herrschaften, <strong>der</strong><br />

Dritte Chor <strong>der</strong> Throne, <strong>der</strong> Zweite Chor <strong>der</strong> Cherubim und <strong>der</strong> Erste und<br />

höchste Chor aller Seraphim! 3<br />

Die sechsflügeligen Seraphim erglühten und erglühen „vom Feuer ekstatischer<br />

Liebe zu Gott, die sie unablässig ‘Heilig, Heilig, Heilig‘ singen<br />

lässt.“ 4 Der abgefallene Engel aber war „die schönste aller himmlischen<br />

Kreaturen“ 5 . Vor seinem Sturz, das höchste aller englischen Wesen.<br />

Warum aber ist diese leuchtende Gestalt „wie ein Blitz vom Himmel<br />

gefallen?“ 6<br />

Er, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> griechischen Bibel „heosphoros“, Bringer <strong>der</strong> Morgendämmerung,<br />

in <strong>der</strong> lateinischen „lucifer“, Bringer des Lichts 7 , genannt wurde,<br />

in Texten aus Ugarit, dem uralten kanaanäischen Stadtstaat „Glänzen<strong>der</strong>“<br />

und – poetisch schön – „Sohn <strong>der</strong> Morgendämmerung“ 8 ?<br />

Aus freien Stücken soll er sich vom machtvollsten aller guten Wesen zum<br />

bösesten Höllenfürsten gewandelt, sich verwandelt haben! Die furchterregendste<br />

umwälzendste, folgenreichste Verwandlung durch alle Zeiten, selbst<br />

vor <strong>der</strong> Zeit, von Gut zu Böse.<br />

9<br />

Bibel, Lukas, Kapitel 17, Vers 32<br />

Die Frau des Lot<br />

Im christlichen Neuen Testament erinnert Christus selbst an eine an<strong>der</strong>e<br />

Verwandlung, von <strong>der</strong> bereits die Genesis weiß, wenn er spricht: „Gedenket<br />

an des Lot Weib“ 9 .


Im Koran wird von Lot, arabisch Lut, in verschiedenen Suren berichtet. Und<br />

das Alte Testament <strong>der</strong> Christen-Bibel erzählt uns, dass <strong>der</strong> Herr „Schwefel<br />

und Feuer“ herabregnen lies „auf Sodom und Gomorra“ 10 .<br />

Lot war mit Frau und seinen Töchtern auf Geheiß zweier Engel aus <strong>der</strong> Stadt<br />

geflohen, mit auf den Weg war ihm und seiner Familie <strong>der</strong> englische Imperativ<br />

gegeben: „Errette deine Seele und sieh nicht hinter dich!“ 11<br />

Trocken formuliert die Bibel weiter: „Und sein Weib sah hinter sich und<br />

ward zur Salzsäule.“ 12<br />

Lebendiges Fleisch und Blut einer Frau verwandelten sich in eine Säule aus<br />

unbelebten Kristallen von Salz.<br />

Die Stimmen, die heute „Frau Lot“ <strong>der</strong>en Namen in <strong>der</strong> Bibel nicht genannt<br />

wird, als „ein Vorbild ehren und von ihr lernen wollen, sind<br />

zahlreich.“ 13<br />

Man kann freilich das Thema ignorieren und schlicht feststellen: „Heute<br />

könnte sich Frau Lot getrost umwenden. Wo einst die sündigen<br />

Städte Sodom und Gomorra standen, würde sie die neuen israelischen<br />

Pottasche-Werke erblicken, <strong>der</strong>en einzige Sünde darin besteht,<br />

dass sie mit Verlust arbeiten …“ 14<br />

Wichtig in unserem Zusammenhang ist nur die Verwandlung einer Frau<br />

zu einer Gestalt aus Salz, dem, wie die eigentliche Wortbedeutung heißt,<br />

Schmutziggrauen!<br />

Gregor Samsa<br />

Mit Buchwaren handelte er. Seit fünf Jahren. Den Beruf mochte er nicht.<br />

Nachts verschloss er die Türe seines Zimmers in <strong>der</strong> Wohnung seiner Familie.<br />

Eines Morgens erwachte er als zu einem „ungeheuren Ungeziefer“<br />

geworden.<br />

So groß geblieben allerdings wie er war, Gregor Samsa. Zunächst nur äußerlich<br />

verwandelt wird er einsamer und einsamer und wandelt sich auch<br />

im Inneren zum Tier. Für Vater, Mutter und Schwester bleibt er innen wie<br />

außen unwillkommenes Ungeziefer, 15 ein Störenfried. Seine Tierlaute, für<br />

Menschenohren zwar verständlich, verhallen aber gerade deshalb doppelt<br />

ungehört. Ein Apfelwurf seines Vaters bleibt in Samsas Rücken verfaulend<br />

stecken. Ausgegrenzt – körperlich und seelisch – stirbt Gregor Samsa als<br />

Verwandelter, als Opfer. Unverwandelt blieb seine Einsamkeit.<br />

Einsam war auch Franz Kafka, als er begann „Die Verwandlung“ zu Papier<br />

zu bringen. Seine unerfüllte, unerfüllbare Liebe zu Felice Bauer, sie in Berlin,<br />

er in Prag, ausformuliert in beinahe täglichen Briefen, war zugleich voll von<br />

Angst.<br />

10<br />

Bibel, 1. Buch Mose, Kapitel 19,<br />

Vers 24<br />

11<br />

Bibel, 1. Buch Mose, Kapitel 19,<br />

Vers 17<br />

12<br />

Bibel, 1. Buch Mose, Kapitel 19,<br />

Vers 26<br />

13<br />

etwa Rüdiger Sachau, Sommerpredigt<br />

des Freundeskreises <strong>der</strong><br />

Evangelischen Akademie Berlin<br />

vom 28.06.2015<br />

14<br />

Ephraim Kishon, Drehn Sie sich<br />

um, Frau Lot!, München 1991,<br />

Seite 12.<br />

15<br />

Franz Kafka, Die Verwandlung,<br />

Köln 2005, Seite 5.<br />

29


16<br />

Florian Illies, 1913, Der Sommer<br />

des Jahrhun<strong>der</strong>ts, Frankfurt/<br />

Main, Seite 10.<br />

17<br />

zit. nach Florian Illies, aaO,<br />

Seite 57f.<br />

Kafka hatte – einige Tage nur – keine Nachricht von Felice erhalten, „da<br />

fing er an, als er aus unruhigen Träumen erwachte, verzweifelt<br />

‘Die Verwandlung‘ an zu schreiben“ 16<br />

Am 17.02.1913 steht in einem Brief an sie:<br />

Manchmal denke ich, du hast doch, Felice, eine solche Macht<br />

über mich, verwandle mich doch zu einem Menschen, <strong>der</strong> des<br />

Selbstverständlichen fähig ist. 17<br />

Gregor Samsa ist Franz Kafka, Franz Kafka ist wer?<br />

30<br />

Midas<br />

Midas, <strong>der</strong> mythische König, bat verwandelt zu werden, um verwandeln zu<br />

können. Dionysos gewährte ihm den Wunsch und fortan wurde alles, was<br />

Midas berührte zu Gold. Reichtum, unermesslicher Reichtum war ihm gewiss.<br />

Kein Mensch unter <strong>der</strong> Sonne wäre in Vergangenheit, Gegenwart und<br />

Zukunft begüterter, reicher gewesen als er. Eine Burg aus Gold, die Waffen,<br />

Kleidung, ein Streitwagen, nein alle Streitwagen und die Pferde, alle Pferde.<br />

Aber auch seine Tochter! Alles wurde zu Gold! Und <strong>der</strong> Wein im Becher,<br />

also Becher und Wein, die Früchte, das Brot, das Fleisch, das aus <strong>der</strong> Quelle<br />

rinnende Wasser, was er auch essen und trinken wollte verwandelte seine<br />

Berührung unweigerlich zu Gold. Sein baldiger Tod war ihm gewiss.<br />

Erst als er auf Rat des Dionysos durch ein Bad im Fluss Paktolos, diesem das<br />

Goldgeschenk übergeben konnte, verlor er seine Gabe, seine Verwandlung,<br />

den erfüllten Wunsch. Der Fluss freilich wurde zum goldreichsten Gewässer.<br />

An einer weiteren Verwandlung des Midas war <strong>der</strong> sattsam bekannte Apollon<br />

beteiligt. Der lichte Gott wollte, wie weiland gegen Marsyas, im Wettstreit<br />

gegen den zotteligen Pan, <strong>der</strong> die Syrinx blies, mit <strong>der</strong> Kithara Sieger<br />

sein. Der unglückliche Midas erkannte jedoch Pan den Preis zu. Marsyas,<br />

<strong>der</strong> frühere Gegenspieler des Apollon, jener mit <strong>der</strong> Doppelflöte, wurde von<br />

dem schönen Gotte enthäutet. Midas dem Preisrichter des weiteren Wettstreits<br />

wurden lediglich die Ohren langgezogen, jedoch zu Eselsohren!<br />

Midas verbarg dieses Schandmal <strong>der</strong> Verwandlung unter einer Mütze und<br />

außer seinem Barbier kannte das furchtbare Geheimnis kein Mensch. Bis jener,<br />

den sein berufsbedingtes Mitteilungsbedürfnis (Barbier!) schier platzen<br />

lies zum Fluss vor die Stadt lief, ein Loch grub und – um die Bürde <strong>der</strong> Verschwiegenheit<br />

abzuladen - dreimal hineinrief: „König Midas hat Eselsohren!“<br />

Dann verschüttete er sorgfältig das Loch. Jedoch die Binsen am Ufer<br />

hatten die Worte sehr wohl vernommen und mit jedem Rauschen des Windes<br />

gaben sie dieses Wissen <strong>der</strong> Binsen, die Binsenweisheit also, weiter.


Saulus und Paulus<br />

Ein Verwandlungserlebnis vor <strong>der</strong> Stadt Damaskus, ein Damaskus-Erlebnis<br />

eben, wie<strong>der</strong>fuhr dem gnadenlosen Christenverfolger Saulus, denn <strong>der</strong><br />

„schnaubte … mit Drohen und Morden wi<strong>der</strong> die Jünger des Herrn.“ 18<br />

Ein Licht umleuchtete ihn, warf ihn vom Pferd. Er konnte drei Tage nichts essen,<br />

nichts trinken und nichts sehen. Und Jesus erklärte ihm mit aller Deutlichkeit,<br />

dass es schwer wäre wi<strong>der</strong> den Stachel zu löcken!<br />

„Saulus aber, <strong>der</strong> auch Paulus heißt“ war „voll heiligen Geistes“ 19<br />

Und „alsbald predigte er Christum in den Schulen, dass <strong>der</strong>selbe und<br />

Gottes Sohn sei“. 20<br />

Durch göttlichen Einfluss also geschah an ihm eine Verwandlung vom Bösen<br />

zum Guten.<br />

Dr. Jekyll und Mr. Hyde<br />

Im Jahre 1886 berichtete Robert Louis Stevenson, <strong>der</strong> Verfasser „Der Schatzinsel“<br />

von dem „Strange case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde“.<br />

Ein hochherziger und gutmütiger Arzt war Dr. Henry Jekyll, dessen Freund<br />

Mr. Edward Hyde hingegen wild und ungezügelt. Jekyll lebte ein tugendhaftes<br />

an <strong>der</strong> christlichen Nächstenliebe ausgerichtetes Leben. Hyde wurde<br />

zum Mör<strong>der</strong>! Und doch Jekyll war Hyde und Hyde war Jekyll.<br />

Dem Arzt gelang es nämlich, dass Gute vom Bösen im Menschen zu trennen.<br />

Ein, sagen wir, Zaubertrank machte es möglich. Er spaltete die eine Person auf<br />

in zwei Personen, in den guten Jekyll und den bösen Hyde.<br />

War es wie die Trennung, die uralte und spaltendste Trennung von Gott und<br />

Teufel, dem Guten-Guten vom Guten-Bösen?<br />

Ja, denn es „bedarf nicht viel, um aus ganz normalen Menschen<br />

Massenmör<strong>der</strong> zu machen“ 21 .<br />

Und: Die Verwandlung eines guten in einen bösen Menschen geschieht je<strong>der</strong>zeit<br />

und überall. Und: Es bedarf dazu keiner großen Anstrengungen, we<strong>der</strong><br />

in philosophischer, psychologischer, geschweige denn in praktischer Hinsicht.<br />

Je<strong>der</strong> kann Jekyll, je<strong>der</strong> kann Hyde sein o<strong>der</strong> werden.<br />

Das Verwandlungspotential, das je<strong>der</strong> Mensch in sich trägt ist wie <strong>der</strong> Sprengstoffgürtel<br />

des Selbstmordattentäters. Es ist gewaltig und unumkehrbar, wenn<br />

die Zündung erfolgte.<br />

18<br />

Bibel, Die Apostelgeschichte<br />

des Lukas, 9. Kapitel, Vers 1<br />

19<br />

aaO, Kapitel 13, Vers 9<br />

20<br />

aaO, Kapitel 9, Vers 20<br />

21<br />

Harald Welzer, Täter, Frankfurt<br />

Main 2005, Seite 268.<br />

31


32<br />

Massimiliano Soldani<br />

(1656-1740)<br />

Apollo and <strong>Daphne</strong>,<br />

um 1700, Terracotta<br />

Cleveland Museum of Art<br />

22<br />

Joachim Richter-Reichhelm,<br />

Apollo und <strong>Daphne</strong>, Ovids Metamorphose<br />

und <strong>der</strong> fruchtbare<br />

Augenblick in <strong>der</strong> Skulptur Berninis,<br />

Nor<strong>der</strong>stedt 2013, S. 6.<br />

23<br />

Ovid Metamorphoseon libri,<br />

X. <strong>Daphne</strong> (505 – 507): sic agna<br />

lupum, sic cerva leonem, sic<br />

aquilam penna fugiunt trepidante<br />

columbae, hostes quaeque suos,<br />

505<br />

24<br />

Ovid, aaO, 540.<br />

25<br />

Ovid, aaO, 550.<br />

26<br />

Fritz Baumgart, Geschichte <strong>der</strong><br />

abendländischen Plastik, Köln<br />

1957, S. 33.<br />

27<br />

Ovid, aaO, 543<br />

<strong>Daphne</strong><br />

Publius Ovidius Naso, genannt Ovid (43 v.u.Z. – 17 n.u.Z.), berichtet uns ausführlich<br />

in den ‘Metaporphoseon libri‘, in den Büchern <strong>der</strong> Verwandlungen,<br />

was mit <strong>Daphne</strong> und Apollon geschah, besser nicht geschah!<br />

Denn Ovids <strong>Daphne</strong> wehrt den mächtigen, den kräftigen, den liebestollen<br />

Apollon auf wun<strong>der</strong>same, jedoch schmerzvolle Weise ab.<br />

Und das kam so: Apollon verspottet Eros (<strong>der</strong> Römer Ovid nennt ihn Cupido),<br />

den Gott <strong>der</strong> Liebe, Sohn des Ares und <strong>der</strong> Aphrodite, prahlt mit seinen Ruhmestaten<br />

und belächelt Pfeil und Bogen des Knaben. 22<br />

Mit zweien seiner Pfeile fügt <strong>der</strong> Kleine dem vermeintlich Großen eine bittersüße<br />

(o<strong>der</strong> doch saure?), jedenfalls empfindliche Nie<strong>der</strong>lage bei. Der Liebespfeil<br />

trifft Apollon ins tiefste Mark. Er ist entfacht, er entflammt, er entbrennt in<br />

übergroßer Liebe zu <strong>der</strong> schönen <strong>Daphne</strong>.<br />

In <strong>Daphne</strong> bohrt sich <strong>der</strong> zweite Pfeil des Eros, dieser mit einer bleiernen Spitze<br />

versehen, die Scheu, ja Abscheu gegenüber Apollon bewirkt. Sie flieht, sie<br />

flieht wie das Lamm vor dem Wolf, <strong>der</strong> Hirsch vor dem Löwen, die Taube vor<br />

dem Adler. 23<br />

Der bedrängende Apollon verfolgt sie, die Atemlose, „von den Fittichen<br />

Amors geför<strong>der</strong>t“ 24 bis zu ihrer Erschöpfung. Und „grünend erwachsen<br />

zu Laub die Haare, zu Ästen die Arme“ 25 .<br />

Der Apollon des Gian Lorenzo Bernini (1598 – 1680), den er als junger Mann<br />

von kaum fünfundzwanzig Jahren schuf, umfasst <strong>Daphne</strong> mit seiner Linken.<br />

Mit Daumen und Zeigefinger berührt er noch zarte Haut, die an<strong>der</strong>en Finger<br />

ertasten schon Rinde, <strong>der</strong> sich in den Lorbeerbaum verwandelnden <strong>Daphne</strong>.<br />

Ihr flehen<strong>der</strong> Blick zeigt, wie sehnlich sie wünscht, von ihrem Leiden, ihrer<br />

Schönheit (!) erlöst zu werden.<br />

Und Bernini ist ein Beispiel jahrhun<strong>der</strong>telanger „unaufhörlicher Verfeinerung,<br />

Komplizierung, Versinnlichung, Verweltlichung und auch<br />

Veräußerlichung“, 26 die sich nach ihm noch fortsetzt und steigert, bis abrupt<br />

zu Beginn des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts Künstler, auch und gerade unter dem Einfluss<br />

damals noch so genannter primitiver Kunst, neue und an<strong>der</strong>e Antworten<br />

gaben.<br />

Flüchtigen Laufes erschöpft, fleht sie: „Vater, ach hilf“, schreibt Ovid. 27<br />

Und dann verwandelt sich das Wesen aus Fleisch und Blut in ein Wesen aus<br />

Holz und Blatt, von <strong>der</strong> Frau zum Lorbeerbaum eine vollständige, eine unumkehrbare<br />

Verwandlung.<br />

<strong>Daphne</strong> heißt Lorbeer.


34<br />

<strong>Daphne</strong> I,<br />

2015, Bronze,<br />

H. 2,55 m, 6 Ex.<br />

28<br />

Ovid, aaO, 549<br />

29<br />

Ovid, aaO, 554<br />

30<br />

Wilhelm Heinrich Roscher<br />

(Hg.), Ausführliches Lexikon <strong>der</strong><br />

griechischen und römischen<br />

Mythologie, 1. Bd., Leipzig<br />

1884 – 1890, <strong>Daphne</strong>: „Von <strong>der</strong><br />

peloponnesischen <strong>Daphne</strong> wird<br />

noch erzählt, dass Leukippos,<br />

Sohn des Oinomaos von Pisa, sie<br />

liebte; um sich trotz ihrer Sprödigkeit<br />

ihr zu nähern, kleidete er<br />

sich als Mädchen und gewann als<br />

Jagdgenossin ihre Freundschaft;<br />

aber <strong>der</strong> eifersüchtige Apollon<br />

regt <strong>Daphne</strong> an zu baden, wobei<br />

Leukippos entlarvt und von den<br />

Mädchen mit ihren Jagdmessern<br />

und Speeren getötet wird.“<br />

<strong>Daphne</strong>: Die Werkgruppe<br />

<strong>Daphne</strong> I<br />

Überlebensgroß ist <strong>Daphne</strong> I eine machtvolle Erscheinung. Ihr Leib zeigt eine<br />

junge Frau voll Lebensenergie und Spannung, zeigt Brüste in vollendeter Form,<br />

ein Schönheitsideal. Und schön ist sie anzuschauen, <strong>Daphne</strong>, wie die Aphrodite<br />

von Melos, die Venus von Milo. Gleich ihr steht <strong>Klinge</strong>s <strong>Daphne</strong> mit<br />

bloßem Oberkörper und verhülltem Unterleib. Die Arme fehlen. Aphrodite ist<br />

durch die Zeiten zum Torso geworden. <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> hat <strong>Daphne</strong> als Torso<br />

geschaffen. Und <strong>Daphne</strong> I ist an<strong>der</strong>s als ihre mythische Schwester. Sie ist keineswegs<br />

erschöpft, ist nicht geflohen, nicht außer Atem. In Ruhe und Würde<br />

steht sie. Unbedrängt, aufrecht, alleine und für sich.<br />

Mit beiden Beinen ist sie schon eingewurzelt in <strong>der</strong> Erde. Kein Standbein und<br />

kein Spielbein.<br />

Nicht umzieht sich „mit geschmeidigem Bast…<strong>der</strong> schwellende Busen“. 28<br />

We<strong>der</strong> sind ihre Brüste Zeichen von Mutterschaft, noch sind sie geschlechtlich<br />

aufreizend betont. Sie sind, was sie sind in vollendeter Form. Sind, obwohl so<br />

prägnant und - im Wortsinne – greifbar, eher die Idee einer weiblichen Brust<br />

und – wie<strong>der</strong>um im Wortsinne – unantastbar.<br />

Der Unterleib ist bereits Holz, ist Stamm. Der Stamm eines mächtigen, gerade<br />

gewachsenen Kirschbaums. Die Rinde ist an einigen Körperstellen <strong>Daphne</strong>s,<br />

besser im Holze offen. <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> beantwortet die sich aufdrängende<br />

Frage, ob sich diese Rinde gerade öffnet o<strong>der</strong> aber schließt nicht, Dialektisch<br />

kann beides <strong>der</strong> Fall sein, kann beides möglich sein.<br />

Der Mythos trifft die Entscheidung eindeutig: Es ist „bergende Rinde“, 29<br />

Rinde die umhüllt, die sich schließt, wie ein Mantel den Körper bedeckt, das<br />

Holz beschirmt. Der Stamm selbst zeigt sich an<strong>der</strong>s.<br />

Apollon wollte <strong>Daphne</strong> nehmen, schänden, vergewaltigen. Er, <strong>der</strong> große, lichte<br />

Gott, missachtete ihren erklärten Willen, ihre Flucht, ihr Flehen. Allein sein<br />

Wille sollte Geltung haben! Und er hätte mit aller bösen Macht, die ihm zu<br />

Gebote stand, die Vernichtung <strong>Daphne</strong>s bewerkstelligt. So, wie heute, barbarische<br />

Männer, nicht selten in Rudeln, wie höllische Raubtiere, Frauen versklaven,<br />

misshandeln, an Körper und Seele vergewaltigen, ja töten. Apollon, <strong>der</strong><br />

Hochverehrte, war zu solchen Taten, solchen Schand-Taten, fähig und zeigte<br />

dies etwa als er Marsyas bei lebendigem Leibe häutete o<strong>der</strong> intrigant seinen<br />

Nebenbuhler Leukippos 30 durch aufgebrachte Nymphen zerreißen lies.<br />

<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s <strong>Daphne</strong> ist kein Opfer, lässt sich nicht in die Rolle <strong>der</strong> Willenlosen<br />

drängen.


36


Es ist unvorstellbar, dass sie, wie Ovids <strong>Daphne</strong>, die Erde (Tellus, also ihre<br />

Mutter!), <strong>der</strong>en Priesterin sie war, angefleht hätte, sie möge ihre schöne Gestalt,<br />

um <strong>der</strong>en Willen sie so leiden müsse, verschlingen o<strong>der</strong> ihren Vater, den<br />

Flussgott Peneios, er solle sie verwandeln, als Frau vergehen lassen.<br />

Diese <strong>Daphne</strong> verwandelt sich, weil sie es will. Und sie tut es nicht außer sich<br />

und voll von Panik. Sie steht aufrecht, nicht gejagt und lässt die von ihr gewollte<br />

Umwandlung geschehen, nur und deswegen, weil sie selbst es will.<br />

Und Apollon ist einflusslos, besitzt keine Macht, nicht über Körper und nicht<br />

über Geist, weil sie es nicht will!<br />

Der leicht nach rechts geneigte Kopf zeigt es. <strong>Daphne</strong> trägt den Wurzelstrunk<br />

nicht als Strafe und Ausdruck einer gewaltsamen, erzwungenen Verwandlung;<br />

es ist keine Dornenkrone, die ihr aufs blutige Haupt gepresst wurde. Sie trägt<br />

das Wurzelwerk leicht, ohne Belastung, wie die Krone einer Herrscherin, ohne<br />

Angst, hoheitsvoll. Erfüllt von <strong>der</strong> Hoheit einer Herrscherin aus sich heraus.<br />

Aus eigenem Wert und nicht von Gottes Gnaden, des Gottes Apollon!<br />

Und da ist noch ihr Lächeln:<br />

Es ist kein schmerzvolles, grimmiges, kein sardonisches Lächeln, weil sie von<br />

Apollon verfolgt wurde. Es ist schon gar kein unauslöschliches Gelächter, kein<br />

„Gelos asbestos“, 31 kein homerisches Göttergelächter. 32 Es ist kein Zeichen<br />

von Güte, wie das Lächeln des Parmenides. 33 Es ist kein englisches Lächeln,<br />

wie das des Engels am Hauptportal <strong>der</strong> Kathedrale zu Reims, kein gotisches<br />

Lächeln, das eher diesseitsentrückt ist und fast grinst. 34<br />

Es ist eher ein archaisches Lächeln, 35 wie das <strong>der</strong> Kouroi und Koren, als Ausdruck<br />

von Erhabenheit über Schicksalsschläge, über unentrinnbare Ereignisse.<br />

Es ist ein Lächeln zwischen dem leisen, verhaltenen, nur angedeutetem Lächeln<br />

einer überlegenen Frau, wie dasjenige <strong>der</strong> Uta von Ballenstedt, <strong>der</strong> Uta<br />

aus dem Westchor des Naumburger Doms und dem offenen, zugewandten,<br />

herzlichen Lächeln <strong>der</strong> Kaiserin Adelheid von Burgund aus dem Meißener<br />

Dom.<br />

Dieser Exkurs in die Kunstgeschichte ist keine bildungsbürgerliche Eitelkeit,<br />

son<strong>der</strong>n soll schlaglichtartig beleuchten, wie tief <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> Kunst <strong>der</strong> Vergangenheit<br />

in sein Werk als Grundlage eines ernsten Diskurses einlässt, ohne<br />

jemals Nachahmer o<strong>der</strong> gar Kopist zu sein.<br />

Doch zurück also zum Lächeln <strong>der</strong> <strong>Daphne</strong>: denn „die Klugheit lächelt und<br />

die Dummheit, <strong>der</strong> Stolz und die Bescheidenheit, die Überlegenheit<br />

und die Verlegenheit. Wir kennen das freundliche, das abweisende<br />

und das zurückhaltende, das spottende und das mitleidige, das verzeihende<br />

und das verachtende Lächeln“ 36 .<br />

<strong>Daphne</strong> I,<br />

2015, Bronze,<br />

H. 2,55 m, 6 Ex.<br />

31<br />

Paul Friedlän<strong>der</strong>, Das Lachen<br />

und die Philosophie, Berlin 1969,<br />

S. 21., vgl. auch Heinrich Furrer,<br />

Das Lächeln: Ein Beitrag zur Theorie<br />

<strong>der</strong> Beziehung von Ausdruck<br />

und Situation, 1978, passim.<br />

32<br />

Homer, Ilias, 1599f.<br />

33<br />

Gyburg Radke, Das Lächeln des<br />

Parmenides, Berlin 2006, S. 322.<br />

34<br />

Stephan Albrecht, Das Portal<br />

als Ort <strong>der</strong> Transformation,<br />

S. 280.<br />

35<br />

Helga Bumke, Statuarische<br />

Gruppen in <strong>der</strong> frühen griechischen<br />

Kunst, Berlin 2004, S. 102.<br />

36<br />

Helmuth Plessner, Das Lächeln<br />

in, pro regno, pro sanctuario,<br />

Festschrift für G. van <strong>der</strong> Leeuw,<br />

1950 in GS VII. S. 419-434, hier<br />

421.<br />

37


Und demzufolge ist „auch die Kulturbedeutung ambivalent“ 37 ; wir müssen<br />

also erforschen, welche Bedeutung <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> diesem Lächeln gab.<br />

Grenzen wir es ab: Nicht verlegen, nicht mädchenhaft scheu, nicht schuldvoll,<br />

aber auch nicht huldvoll, nicht betroffen, nicht getroffen, nicht überheblich<br />

stolz, nicht abweisend, nicht bitter und (von beson<strong>der</strong>er Bedeutung!) nicht<br />

nach außen gemeint!<br />

Son<strong>der</strong>n dieses Lächeln ist: überlegen, fraulich reif, versonnen, mit sich im<br />

Reinen, angemessen und (von beson<strong>der</strong>er Bedeutung!) nach innen gerichtet.<br />

Es ist aber auch offen, es ist eine Möglichkeit und wir wissen nicht wie sich<br />

dieses Lächeln entwickeln wird.<br />

So ist das Lächeln <strong>der</strong> <strong>Daphne</strong>! Es ist ein Augenblick <strong>der</strong> Ewigkeit, <strong>der</strong> alles in<br />

sich birgt.<br />

38<br />

37<br />

Karl-Siegbert Rehberg, Die<br />

Angst vor dem Glück, Anthropologische<br />

Motive in Alfred Bellebaum,<br />

Robert Hettlage (Hg),<br />

Glück hat viele Gesichter, Wiesbaden<br />

2010, S. 101.<br />

Lachen hat ein Gegenüber, über das gelacht wird.<br />

Lächeln kann ein Gegenüber haben. Es antwortet in einer Situation und auf<br />

eine Situation mit einem An<strong>der</strong>en, einem Du. Das seltene, das „Große Lächeln“<br />

ist dasjenige, das nur dem Lächelnden selbst gilt. Es ist kein erzwungenes<br />

Fotolächeln für beliebige An<strong>der</strong>e. Dieses Lächeln entsteht im Innersten<br />

und kommt aus ihm, ist ein Spiegel <strong>der</strong> Person und ihrer Haltung.<br />

Dies ist das Lächeln <strong>der</strong> <strong>Daphne</strong>.<br />

Es ist ein weises Lächeln, es ist ein Lächeln im Wissen um Werden und Vergehen,<br />

im Verstehen von werden und Vergehen und im Annehmen – und das ist<br />

das Größte – von Werden und Vergehen.<br />

Und dieses Lächeln erzählt die ganze Geschichte <strong>Daphne</strong>s, <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s<br />

<strong>Daphne</strong>:<br />

Und diese Geschichte kennt keinen gierigen Verfolger, <strong>der</strong> die Verfolgte in eine<br />

ausweglose Lage bringt, sodass sie Vater und Mutter um Hilfe anflehen muss.<br />

Der Apollon <strong>der</strong> <strong>Klinge</strong>schen Geschichte <strong>der</strong> <strong>Daphne</strong> hat we<strong>der</strong> physische<br />

noch psychische Macht, die Frau, die er begehrt, zum willenlosen Werkzeug<br />

machen zu können, sie also zu missbrauchen!<br />

Er kann seine Vorstellung, wie Ovid sie beschreibt, <strong>Daphne</strong> mit Gewalt zu nehmen<br />

nicht, nicht einmal ansatzweise verwirklichen. Die scheinbare, göttlichmännliche<br />

Überlegenheit dieses Apollon ist so wenig feststellbar, dass er für<br />

die von <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> erzählte Geschichte entbehrlich ist. Apollon ist nicht<br />

<strong>der</strong> Grund und <strong>der</strong> Zwang zur Verän<strong>der</strong>ung dieser Frau. Ja, es gibt einen Anlass<br />

zur Verwandlung.<br />

Jedoch beruht dieser auf einer freien Entscheidung von <strong>Daphne</strong>. Und sie entzieht<br />

sich jeglichem Übergriff, dem würdelosen Betasten, Begrapschen, den


geschlechtlichen Nötigungen, die von Apollon gewollt und geplant waren, dadurch,<br />

dass sie eine an<strong>der</strong>e, nicht antastbare Gestalt annimmt.<br />

Deswegen lächelt sie dieses versonnene Lächeln ihres rechten Mundwinkels.<br />

Der linke Mundwinkel zeigt sich deutlicher gebogen, fast ein wenig süffisant<br />

gehoben, als ob <strong>Daphne</strong> damit zeigen wollte, wie zufrieden sie ist, den unerträglichen<br />

Allmachtsphantastereien eines Mannes – Gottes ihren erfolgreichen,<br />

fraulichen Wi<strong>der</strong>stand entgegengesetzt zu haben. Dies, ohne selbst zu<br />

leiden, ohne sich selbst aufzugeben, ohne zu zerbrechen!<br />

Denn diese <strong>Daphne</strong> ruht in sich. Sie kann entscheiden und hat entschieden.<br />

Sie ist wie ein Mensch, <strong>der</strong> seine geliebte Heimat verlässt, jedoch nicht aus<br />

Not, Furcht o<strong>der</strong> Zwang, son<strong>der</strong>n weil er will. Weil er das Neue, das An<strong>der</strong>e<br />

sucht und damit freiwillig das Alte hinter sich lässt.<br />

In <strong>Daphne</strong> ist keine Trauer zu spüren über den Verlust ihrer menschlichen Gestalt.<br />

Denn für sie ist dieser Gestaltwandel kein Verlorengehen, kein Abschied<br />

nehmen für immer. Kurz, diese <strong>Daphne</strong> ist keine Trauernde, die ihr eigenes<br />

Ende, den Tod als Menschen, beweint. Diese Frau geht freudig, einer neuen,<br />

selbstgewählten Aufgabe entgegen. Sie ist Partnerin dann, wenn sie es will,<br />

sie ist Geliebte dann, wenn sie es will, sie wird Mutter dann, wenn sie es will!<br />

Und in diesem Augenblick wird dann erneut eine Verwandlung einsetzen, die<br />

Verwandlung des Baumes aus Blatt und Stamm in eine Frau aus Fleisch und<br />

Blut. Und deshalb lächelt <strong>Daphne</strong>.<br />

Es ist ein siegreiches Lächeln, kein Lachen, denn <strong>Daphne</strong> wollte an<strong>der</strong>s, als<br />

die <strong>Daphne</strong> von Markus Lüpertz, nicht töten. Friedrich Nietzsche sagt es im<br />

Zarathustra (Eselsfest): „Nicht durch Zorn, son<strong>der</strong>n durch Lachen tötet man.“<br />

Nein, <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s <strong>Daphne</strong> lächelt ohne Zorn.<br />

Dieses Bild einer Frau, das <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> zeigt, ist voll von Hoffnung. Er zeigt<br />

auch in diesen Zeiten voller Düsternis auf, wie Menschen, wie Mann und Frau<br />

sein können, um ein Leben in Würde und Respekt miteinan<strong>der</strong> zu führen.<br />

In einer solchen Welt ist kein Platz für die dunkle Seite des Apollon.<br />

39


40<br />

<strong>Daphne</strong> II,<br />

2016, Bronze,<br />

H. 1,67 m, 6 Ex.<br />

<strong>Daphne</strong> II (Kore)<br />

Kore, das attische Wort meint Mädchen, eine unberührte junge Frau also, eine<br />

Jungfrau. Die bekleidete Figur wurde zumeist aus Marmor, aber auch aus Bronze,<br />

Elfenbein, selbst Holz gefertigt und bemalt. Koren entstanden nach <strong>der</strong> kunstgeschichtlichen<br />

griechischen „Geometrischen Zeit“, also etwa 900 bis 700<br />

v.u.Z., vor <strong>der</strong> „Klassik“ um 500 bis 330 v.u.Z., also in <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> Archaik.<br />

Wie<strong>der</strong> und wie<strong>der</strong> wurde und wird archaische Kunst in die Nähe des Primitiven<br />

gerückt, als wären die griechischen Künstler nicht in <strong>der</strong> Lage gewesen, das,<br />

was sie darstellen wollten auch plastisch auszuformulieren. Welch Irrtum!<br />

Kore und Kouros, das männliche Pendant zu Kore, allerdings unbekleidet,<br />

folgen einem festen Kanon in Ausdruck und Haltung.<br />

Eine, man ist versucht zu sagen strenge, Symmetrie und stete Frontalität, Axialität<br />

und Vertikalität sind die Gestaltungsprinzipien dieser Skulpturen schlechthin.<br />

Deren Blick ist auf den vor <strong>der</strong> Skulptur stehenden, imaginierten Betrachter<br />

gerichtet. Der Blick hält sich an diesem Betrachter aber nicht auf. Er geht durch<br />

ihn hindurch in unbestimmte Ferne. Arme und Beine sind wenig bewegt. Arme<br />

angelegt, Beine allenfalls mit kleinem Schritt gezeigt.<br />

Koren, um die es hier geht, freilich aber auch Kouroi, sind auf sich bezogen,<br />

sind verinnerlicht, stehen im Außen und leben im Innen. Dies obwohl ihr<br />

„archaisches Lächeln“, diese beson<strong>der</strong>e Stellung ihrer hochgezogenen Mundwinkel,<br />

zunächst als freundliche Wendung zu einem Gegenüber empfunden<br />

werden kann, ist es dennoch Ausdruck ihrer seelischen Verfassung, ein Ausdruck<br />

dessen, was ohne Beteiligung eines Außen im Innen geschieht! Ein Abbild<br />

<strong>der</strong> Gelassenheit gegenüber den Fährnissen des Lebens, ein Im-Reinen-Sein mit<br />

sich selbst. Keine Überheblichkeit, kein Überheben über an<strong>der</strong>e Menschen und<br />

ihre Gebrechen, Leiden, ja Schicksale, son<strong>der</strong>n gefasst sein, darauf, was das<br />

eigene Schicksal bringen wird. Und auch ihre Körper drücken dies aus.<br />

Ursprünglich Säulen, also Architekturelemente, wandeln sie sich zu menschlichen<br />

Figuren. Das Bild ihrer Stützfunktion jedoch, die Verbindung über ihre<br />

Rücken mit Fassaden von Gebäuden o<strong>der</strong> vor allem Tempeln und die tragende<br />

Kraft als Karyatiden (wie in <strong>der</strong> Zeit des Reichen Stils <strong>der</strong> griechischen Klassik<br />

eindrucksvoll in <strong>der</strong> Korenhalle des Erechtheion zu sehen ist), zeigt sich weiterhin,<br />

auch wenn sich die Koren von den Fesseln <strong>der</strong> Tempel und Gebäude befreit<br />

haben, in ihrer Gestalt. Sie, die Koren (und Kouroi) stehen aufrecht, ihr Körper<br />

ist eine Vertikale im Raum, voll Stärke und Kraft. Ein Bild vollendeter Harmonie<br />

des Innen und Außen. Ausdruck des „kalós kai agathós“ des Schön-und-Gut-<br />

Seins, also des Ideals <strong>der</strong> vortrefflichen Menschen <strong>der</strong> archaischen Philosophie.<br />

Aufrecht, geradezu unbeugsam, einem Stamm gleich, einer Säule, steht folglich<br />

auch <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s Kore-<strong>Daphne</strong>, wie ihre archaischen Anverwandten.


41


42<br />

<strong>Daphne</strong> II,<br />

2016, Bronze,<br />

H. 1,67 m, 6 Ex.<br />

Der eher gedrungen wirkende Körper wird seiner lastentragenden Aufgabe<br />

offenkundig gerecht, besser, könnte ihr gerecht werden. Was lastet auf<br />

<strong>Daphne</strong> II? Eine äußerliche Last nicht, obwohl <strong>der</strong> Kopf karyatidenhaft abgeschnitten<br />

ist, bereit, sich von Gewicht nicht „hinab“ drücken zu lassen,<br />

son<strong>der</strong>n zu tragen, zu ertragen, einen tatsächlichen o<strong>der</strong> auch nur gefühlten<br />

Architrav. Nichts ist ersichtlich. <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s Kore ist auch nicht dieser Funktionen<br />

beraubt, also beispielswiese aus einer Korenhalle entfernt worden. Sie<br />

ist zudem keine Botschaft aus vergangen Jahrtausenden als archäologischer<br />

Schatzfund, wie eine ausgegrabene Statue also. Sie steht im Hier und Jetzt.<br />

Trägt sie aber etwa eine innerliche Last, diese <strong>Daphne</strong>? Ist sie nicht, wie<br />

<strong>Daphne</strong> I, eine überlegene souveräne Frau, <strong>der</strong>en Handlungsmaßstab die<br />

eigene Entscheidung, die Selbstbestimmung ist?<br />

Ist sie nicht frei von <strong>der</strong> Einflussnahme des gierigen Verfolgers?<br />

Was sagt uns die Erscheinung von <strong>Daphne</strong> II hierzu?<br />

Sie lächelt, wie Koren lächeln. Aber an<strong>der</strong>s als Koren, ist sie verletzt, verwundet<br />

an und in ihrer Seele. Und lächelt. Dennoch! In ihrer vergehenden, sich verwandelnden<br />

Körperlichkeit zeigt sie ihre Sehnsucht nach Heilung, heil werden, heil<br />

sein, zeigt sie ihre Sehnsucht nach Berührung, berührt werden, berühren und<br />

im weiteren Sinn berührt sein.<br />

Betrachten wir das von <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> geschaffene Modell aus Holz. Der Unterleib<br />

ist ein Stamm, ein umrindeter zumal, <strong>der</strong> an die alte Funktion <strong>der</strong> Kore<br />

als Karyatide erinnert. Ein Teil eines Lindenstammes, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Zeit eines Menschenalters<br />

empor gewachsen war. Die Rinde im Frontalansichtsbereich zeigt<br />

sich als geschlossenes Kleid, als Bedeckung <strong>der</strong> Füße, <strong>der</strong> Beine, des Beckens<br />

und <strong>der</strong> Scham. Im seitlichen Bereich zeigt <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> eine Blöße <strong>der</strong> Figur,<br />

indem er Rinde mit <strong>der</strong> Säge entfernt und den Schwung des Unterkörpers modelliert.<br />

Damit evoziert <strong>der</strong> Künstler die archaischen Kleidungsstücke des Chiton<br />

o<strong>der</strong> Peplos, die meist seitlich geöffnet waren und somit Blicke auf den bloßen<br />

Körper <strong>der</strong> Trägerin gestatteten. Der Oberkörper auch geformt aus massivem Lindenholz,<br />

das aufgrund seiner Glätte <strong>der</strong> Büste eine haptische Hautoberfläche<br />

beschert, ist mit Rinde eines an<strong>der</strong>en Baumes zum Teil bedeckt. Diese Rinde<br />

zeigt eine völlig an<strong>der</strong>e Struktur als die grob gerasterte Rinde des Stammes, des<br />

Unterleibs also, und stammt von einem Kirschbaum. Sie zeichnet sich durch<br />

große, glatte Anteile <strong>der</strong> Rindenoberfläche aus und korrespondiert deshalb mit<br />

dem Materialcharakter des Lindenholzes <strong>der</strong> Büste. Diese Kirschrinde umringt<br />

nämlich die Taille <strong>der</strong> <strong>Daphne</strong>-Kore wie ein Mie<strong>der</strong>, fast ein Korsett und betont<br />

damit ihre wohlgeformten Brüste. Der rechte Arm fehlt völlig, mit ihm sogar <strong>der</strong><br />

anschließende Teil <strong>der</strong> Schulter und wirkt wie durch einen Schwerthieb abgetrennt.<br />

Auch <strong>der</strong> linken Seite <strong>der</strong> Kore fehlen ebenfalls Arm und Schulter, jedoch


43


44<br />

sitzt, besser hockt, als wäre es ein Tier, eine Eule <strong>der</strong> Athene etwa, ein massives<br />

Stück einer Baumrinde und weist eindrücklich auf die stattfindende Verwandlung<br />

<strong>der</strong> <strong>Daphne</strong> in einen Baum hin. Zugleich ist dies bildhauerisch <strong>der</strong> Gegenpart<br />

zur verlorenen Schulter auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Körperhälfte. Die Körperlichkeit <strong>der</strong><br />

Kore, ihr Formenvokabular wirkt zwar nicht naturalistisch, aber natürlich. Ein<br />

Bruch mit dieser Gestaltung zeigt allerdings <strong>der</strong> Übergang des Oberkörpers zum<br />

Kopf, <strong>der</strong> Hals. Er ist mit einem schrägen, jedoch geradlinigen Schnitt dem Thorax<br />

aufgesetzt, mit <strong>der</strong> Grundfläche eines Trapezes, ausgeformt als Hexae<strong>der</strong>.<br />

Der Kopf ist mitsamt dem Hals aus weichem Pappelholz skulptiert. Diese Weichheit<br />

vor allem die Großporigkeit des Holzes zeigt <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> und setzt sie als<br />

Gestaltungselement in Kontrast zur Glätte <strong>der</strong> Brüste, vor allem im Stirnbereich<br />

des Kopfes ein. Aber auch die Schrunden im Bereich <strong>der</strong> linken Braue, des rechten<br />

Nasenflügels und <strong>der</strong> rechten Wange weisen durch diesen Holzcharakter auf<br />

Verletzungen <strong>der</strong> Skulptur hin, die wie<strong>der</strong>um im deutlichen Gegensatz zu dem<br />

lächelnden Mund zu sehen sind.<br />

Dieses Konglomerat <strong>der</strong> verschiedenen Hölzer und Rinden von Eiche, Kirsche,<br />

Ahorn und Pappel ist eine Assemblage, die die unterschiedlichen Materialitäten,<br />

gar den Charakter dieser Materialien zur Aussage durch den Künstler zwingt<br />

– schon beim Modell <strong>der</strong> Skulptur. Denn, um dies erneut in Erinnerung zu rufen,<br />

als Original eines seiner Werke bezeichnet <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> nicht das von seinen<br />

Händen unmittelbar geschaffene Holzmodell, son<strong>der</strong>n erst den transmutierten<br />

Bronzeguss. Diese Bronze aber ist in <strong>der</strong> Tat ein neues Werk im Verhältnis zur<br />

Holzskulptur. Die Verschiedenartigkeit des Aussehens und damit <strong>der</strong> Aussage<br />

<strong>der</strong> Hölzer bleibt freilich durch Abformung und Abguss erhalten, jedoch sind es<br />

eben keine unterschiedlichen Hölzer o<strong>der</strong> Rinden mehr, son<strong>der</strong>n ausschließlich<br />

das Material Bronze. Somit schließt sich die Skulptur zu einer bislang nicht vorhandenen,<br />

wie neu geborenen Einheit, zu einem erst hier geschlossenen Werk<br />

zusammen.<br />

Durch die Patinierung, eigentlich eine Bemalung, wie die <strong>der</strong> archaischen Koren,<br />

freilich mit an<strong>der</strong>en Farben, jedoch bezogen auf das Material Bronze und dieses<br />

betonend, hebt <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> hervor, lenkt den Blick und schafft Schwerpunkte,<br />

die diejenigen des Materialcharakters vertiefen.<br />

Die Rinde, das neue Kleid <strong>der</strong> sich wandelnden <strong>Daphne</strong>, ist in dunklen erdigen,<br />

dem Holz angemessenen Tönen als dem Urmaterial wie bestätigt. Kopf, Hals<br />

und Oberkörper zeigen ein helles, kaltes Grün. Erstmals im Werk des Künstlers<br />

tauchen als Erhöhung von Augen und Mund neue Farben auf. Gelb für die Augen,<br />

Rot für den Mund, wodurch eine vermeintliche, eine vor<strong>der</strong>gründige Lieblichkeit<br />

entsteht. Diese ist diametral zu <strong>der</strong> schweren Bürde, welche die Kore-<strong>Daphne</strong>,<br />

die zweite <strong>Daphne</strong> in sich trägt.


<strong>Daphne</strong> II, Büste<br />

Weshalb nimmt <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> seiner <strong>Daphne</strong> II den umkleideten, umrindeten<br />

Unterleib weg? Än<strong>der</strong>t sich dadurch <strong>der</strong> Inhalt, <strong>der</strong> Gehalt <strong>der</strong> Skulpturenaussage,<br />

wenn „nur“ noch die Büste <strong>der</strong> Figur <strong>Daphne</strong> II gezeigt wird?<br />

Nein und ja zugleich.<br />

Die Grundaussage <strong>der</strong> Arbeit bleibt. Es ist eine in Verwandlung begriffene Kore,<br />

die durch ihre innere Zerrissenheit gekennzeichnet ist. Sie leidet unter <strong>der</strong><br />

stattgefundenen Verfolgung<br />

und versucht diese „wegzulächeln“.<br />

Dieses Lächeln<br />

aber rückt durch die Weglassung<br />

des Unterleibes stärker<br />

in den Fokus <strong>der</strong> Betrachtung.<br />

Der dahinterliegende<br />

Schmerz <strong>der</strong> angegriffenen<br />

und dadurch missbrauchten<br />

Frau wird offenkundiger.<br />

Und <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> zeigt<br />

wie<strong>der</strong>um eines seiner Gestaltungsprinzipien,<br />

nämlich<br />

eine scheinbar eindeutige<br />

Aussage zu konterkarieren,<br />

zu wi<strong>der</strong>rufen.<br />

Den Betrachter führt er,<br />

um ihn ans Ziel zu bringen,<br />

zunächst in die Irre, denn<br />

jener glaubt eine starke,<br />

nicht übergriffig beeinflussbare<br />

Frau vor sich zu haben,<br />

erkennbar an ihrem breiten<br />

Lächeln. Ein spannungsvolles<br />

Spiel zwischen Innen und<br />

Außen.<br />

Büste <strong>Daphne</strong> II,<br />

2016, Bronze,<br />

H. 78 cm, 6 Ex<br />

45


46<br />

Kopf 248 (<strong>Daphne</strong>-Kore)<br />

Eine noch sich steigernde Verdichtung <strong>der</strong> Problematik <strong>der</strong> an und in <strong>der</strong><br />

Seele verwundeten <strong>Daphne</strong>, die ihren Schmerz weglächelt, scheint <strong>der</strong> Kopf<br />

<strong>der</strong> Koren-<strong>Daphne</strong> zu zeigen.<br />

Jedoch ist dieser Kopf keine simple Reduktion von <strong>Daphne</strong> II über die Büste<br />

von <strong>Daphne</strong> II hin allein auf <strong>der</strong>en Kopf, <strong>der</strong> nunmehr sozusagen ohne Unterleib<br />

und ohne Oberleib gezeigt wird. Denn die Betrachtung des Kopfes<br />

von <strong>Daphne</strong> II und dieses Korenkopfes zeigt signifikante Unterschiede auf.<br />

Zunächst aber die Gemeinsamkeiten: Die Gesichtszüge ähneln sich stark,<br />

<strong>der</strong> Farbauftrag auf den jeweiligen Köpfen wirkt, als habe sich diese <strong>Daphne</strong><br />

für ein Fest bereit gemacht. Und schließlich erinnert die Form des Kopfes an<br />

die Aufgabe, Lasten karyatidenhaft zu tragen.<br />

An<strong>der</strong>s, ganz an<strong>der</strong>s jedoch ist die Aussage in den tieferen Schichten dieser<br />

Arbeit zu sehen. Es ist glaubhaft, fühlbar, dass <strong>der</strong> Korenkopf sein Lächeln<br />

nicht nur an <strong>der</strong> Oberfläche zeigt und dies in eklatanter Diskrepanz zu dem,<br />

wie es im Inneren aussieht, stünde. Hier sind Körper und Seele eins. Dieses<br />

Lächeln ist das echte Lächeln <strong>der</strong> Kore, das archaische Lächeln <strong>der</strong> Erhabenheit<br />

über Schläge des Schicksals, über die brutale Verfolgung <strong>Daphne</strong>s<br />

durch Apollon.<br />

Und <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> erreicht dies durch Verwendung des Kopfes von <strong>Daphne</strong><br />

II. Die Weitergabe, Wie<strong>der</strong>verwendung von Holzteilen bereits entstandener<br />

und in Bronze gegossener Skulpturen ist ein Gestaltungsmerkmal des<br />

Künstlers, das bei genauer Betrachtung und Beobachtung nicht selten festgestellt<br />

werden kann. Es ist wie die Weitergabe von Leben von Generation zu<br />

Generation. Der jetzt Lebende erinnert in Haltung, Gesichtszügen, Stimme<br />

an einen lange vergangenen Vorfahren, <strong>der</strong> wie<strong>der</strong>um gleichsam weiterhin<br />

existieren darf – in <strong>der</strong> Erinnerung! Diese Fortsetzung von Formen ist<br />

„dauerhafter als Erz“ (exegi monumentum aere perennius, Horaz, Oden,<br />

Liber III, Carmen XXX), weil sie nicht eigentlich Material, das zum Erz, zur<br />

Bronze gewordene Holz körperlich weitergibt, son<strong>der</strong>n die Gedanken, die<br />

Absicht des Künstlers. <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> überarbeitet den Korenkopf <strong>der</strong><br />

<strong>Daphne</strong> II fast unmerklich. Die linke Gesichtshälfte ist im Stirn- und Augenbereich<br />

unverän<strong>der</strong>t. Von <strong>der</strong> rechten Hälfte sind wenige Millimeter abgetragen,<br />

Brauenbögen und Nasenschwung vertieft und in einer Linie zusammengefasst.<br />

Und <strong>der</strong> Mund lächelt an<strong>der</strong>s, voller, sinnlicher und unzerstört.<br />

Dieser Kopf hat allem Leid getrotzt, er ruht in sich, das archaische Lächeln<br />

zeigt, dass alle Schicksalsschläge überwunden sind. Und es ist ein Lächeln,<br />

das von Innen kommt und das Gesicht, das Außen also, überstrahlt. An<strong>der</strong>s<br />

wie<strong>der</strong>um als das <strong>der</strong> <strong>Daphne</strong> I, das auch die, sagen wir es ruhig, Süffisanz


kennt, das überlegene Lächeln <strong>der</strong> eigentlichen Siegerin über den so siegesgewissen<br />

und nun besiegten Apollon. Jenes <strong>Daphne</strong>-Lächeln hat noch<br />

ein Gegenüber, nämlich den Verfolger, dem dies gilt. Dieser Kopf aber zeigt<br />

das selten, sehr selten wirkungsvoll dargestellte „große Lächeln“, das nur<br />

dem o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Lächelnden selbst gilt. Als Rückversicherung mit sich selbst im<br />

Reinen zu sein.<br />

47<br />

Kopf 248 (Kopf <strong>Daphne</strong>),<br />

2016, Bronze, H. 39,2 cm, 6 Ex.


48<br />

<strong>Daphne</strong> III,<br />

2016, Bronze,<br />

H. 49 cm, 9 Ex<br />

39<br />

Ovid, Metamorphoseon libri,<br />

Liber I, 10. <strong>Daphne</strong>, 550<br />

40<br />

Ovid, aaO, 547<br />

<strong>Daphne</strong> III<br />

Über <strong>Daphne</strong> III, so will es scheinen, schreibt „Das Hohe Lied Salomos“<br />

im vierten Kapitel in den Versen 1 bis 7:<br />

1. Siehe, meine Freundin, Du bist schön!<br />

Siehe, schön bist Du! Deine Augen sind,<br />

wie Taubenaugen zwischen deinen Zöpfen.<br />

Dein Haar ist wie eine Herde Ziegen,<br />

die gelagert sind am Berge Gilead herab.<br />

2. Deine Zähne sind wie eine Herde<br />

Schafe mit beschnittener Wolle, die aus <strong>der</strong><br />

Schwämme kommen, die allzumal Zwillinge<br />

haben und es fehlt keiner unter ihnen.<br />

3. Deine Lippen sind wie eine scharlachfarbene<br />

Schnur und Deine Rede lieblich.<br />

4. Deine Wangen sind wie <strong>der</strong> Ritz am Granatapfel<br />

zwischen Deinen Zöpfen.<br />

5. Dein Hals ist wie <strong>der</strong> Turm Davids,<br />

mit Brustwehr gebaut, daran tausend<br />

Schilde hangen und allerlei Waffen <strong>der</strong><br />

Starken.<br />

6. Deine zwei Brüste sind wie zwei junge<br />

Rehzwillinge, die unter den Rosen weiden.<br />

7. Bis <strong>der</strong> Tag kühl wird und die Schatten<br />

weichen, will ich zum Myrrhenberge gehen<br />

und zum Weihrauchhügel.<br />

8. Du bist allerdinge schön, meine Freundin,<br />

und ist kein Flecken an Dir.<br />

Die da besungen wird, kann nur diese <strong>Daphne</strong> sein, die jungfräulich zart, durch<br />

die Bronze auf alle Ewigkeit, vor uns steht. Lieblich lächelnd von schlanker erhabener<br />

Statur, mit festen wohlgeformten Brüsten – das unter Rosen weidende<br />

Zwillingspärchen <strong>der</strong> Rehe.<br />

Der Rock, sanft geschwungen, sitzt auf den Hüften. Das Lächeln im Antlitz ist<br />

fein gezeichnet. Das <strong>Daphne</strong>-Haar, das ihre Verwandlung zeigt, ist „wie im<br />

Frühjahr geschnittener Haselnuss“ (sagt nicht das Hohe Lied Salomos,<br />

son<strong>der</strong>n <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>). Hat <strong>Daphne</strong> III ihre Verwandlung von <strong>der</strong> jungen Frau<br />

zur vollendeten Schönheit etwa wie Ovids <strong>Daphne</strong> aus den Metamorphosen<br />

selbst unterbrochen, gar beendet? Hat sie unbekannte Göttinnen und Götter<br />

angefleht, „die Schönheit mein ver<strong>der</strong>be durch Verwandlung“ 39 ? Hat<br />

ihre offenkundige Schönheit sie ebenso gequält, weil man (Mann) „allzusehr“<br />

an ihr Gefallen fand? 40 Wir wissen es nicht. Möglich erscheint es und so überlässt<br />

es <strong>der</strong> Künstler dem Betrachter, seine eigene Geschichte zu denken und<br />

zu fühlen, die ebenso ihre Geschichte, nämlich die von <strong>Daphne</strong> III sein kann.


49


50


52


Fig. 352 (<strong>Daphne</strong> IV)<br />

Da steht nun eine <strong>Daphne</strong>, bezeichnet mit <strong>der</strong> römischen Ziffer Vier, die so an<strong>der</strong>s<br />

ist als ihre Vorgängerin <strong>Daphne</strong> III und ganz an<strong>der</strong>s als ihre Nachfolgerin<br />

<strong>Daphne</strong> V.<br />

Jene jugendfrisch und erotisch anmutend, diese fraulich und sinnlich. Und<br />

<strong>Daphne</strong> IV: We<strong>der</strong> das eine noch das an<strong>der</strong>e! Diese <strong>Daphne</strong> hat also, dass lehrt<br />

uns <strong>der</strong> erste Blick, nichts mit ihren beiden Schwestern zu tun! O<strong>der</strong> doch?<br />

Freilich <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> will gerade das erreichen auf einer ersten Betrachtungsebene,<br />

unser vorschnelles Urteil, das nur diejenigen revidieren können, die<br />

sehen wollen und hinter Fassaden blicken!<br />

Also schauen wir genau hin. Wir stellen, selbst nach <strong>der</strong> Transformation des<br />

Modells in Bronze, die Kombination unterschiedlichster Materialien bei dieser<br />

aufrecht stehenden, armlosen, haarlosen Frau fest. Der Unterleib ist aus einem<br />

berindeten Stück Lärchenholz geformt, das am unteren Ende weit ausschwingt,<br />

wie ein bodenlanger Rock. Eingefasst jedoch, bevor das Kleidungsstück den<br />

Boden berührt von angenagelten und festverbundenen Metallstreifen, enganliegend.<br />

Oberhalb des nur hüfthoch angesetzten Rocks, wölbt sich ein weich aus Wachs<br />

geformter Bauch, <strong>der</strong> unterhalb <strong>der</strong> vollen Brüste glatt, wie unmodelliert und<br />

eingezwängt wirkt. Gleiches stellen wir am Hals fest, <strong>der</strong> vollständig in einer<br />

metallenen Ummantelung weggeschlossen ist, die ein Bewegen des Kopfes erschwert,<br />

ein Nicken, ein Senken gar unmöglich macht. Das Gesicht, in <strong>der</strong> rechten<br />

Hälfte zerstört, scheint feine Züge, einen lächelnden Mund, einen schmalen<br />

Nasen- und Brauenbogen und ein wie friedlich fast geschlossenes linkes Auge<br />

zu zeigen.<br />

Der Kopf, dessen Oberfläche von Einschlagsspuren übersät scheint, ist haarlos.<br />

Eine rätselhafte Erscheinung! Das Modell von <strong>Daphne</strong> IV wird weiterhelfen: Die<br />

Körpermitte, die fast tonnenförmig wirkt, ist weiß und gerieft. Es ist Bein!<br />

Bein, genauer Fischbein trugen die Damen des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts an genau dieser<br />

Körperstelle als Korsett. Und damit sind wir auch <strong>der</strong> zeitlichen Verortung<br />

dieser <strong>Daphne</strong> gefolgt, denn in früheren Jahrhun<strong>der</strong>ten, etwa ab den 16. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

kleideten sich adelige Frauen mit einem versteiften Mie<strong>der</strong>. Die spanische<br />

Hoftracht, wie auf den Kunstwerken von Diego Velázquez (1599 – 1560)<br />

zu sehen, formte den Oberkörper zu einem Konus und drückte die Brust flach.<br />

Noch heute gilt als klassische Korsettform die Sanduhrform, wie sie an <strong>Daphne</strong><br />

IV angedeutet und erkennbar ist, das meint große Ober- und Hüftweite, bei kleiner<br />

Taillenweite. Nach diesen Vorstellungen „nähert sich <strong>der</strong> Oberkörper<br />

stets einem auf die Spitze gestellten Kegel, während die Darmbeinschaufeln<br />

weit vorspringen“ 41 , also die Hüften <strong>der</strong> Frau.<br />

Fig.352(<strong>Daphne</strong> IV)<br />

2016, Bronze,<br />

H. 37,2 cm, 9 Ex.<br />

41<br />

Paul Schultze – Naumburg, Die<br />

Kultur des weiblichen Körpers als<br />

Grundlage <strong>der</strong> Frauenkleidung,<br />

Leipzig 1901, Seite 21.<br />

53


54<br />

Doch welcher gedanklichen Spur folgen wir? Der Einschnürung, <strong>der</strong> Einengung<br />

einer Frau, ihrer Lebendigkeit, ihrer Emotionalität! Die Metallbän<strong>der</strong> an Hals<br />

und am Sockel <strong>der</strong> Plastik am Ende des bodenlangen Rockes, sprechen dieselbe<br />

Sprache.<br />

Auch sie zwängen den Körper, seine Beweglichkeit ein, wirken wie angelegte<br />

Sklavenfesseln, Halseisen zumal.<br />

Ein Schließmechanismus ist im Nackenbereich zu erkennen, wo das Kupferband,<br />

das Fesseleisen, zusammenstößt. Starke Hände klappen zu und verschließen.<br />

Enge entsteht! Das Halseisen kann nicht über den Kopf gezogen<br />

werden und ist so verengt, dass – gerade noch – geatmet und das wenige an<br />

Speis und Trank geschluckt werden kann. Im Napoleonischen code pénal impérial<br />

von 1810 wurde die Anwendung von le carcan, des Halseisens, noch gesetzlich<br />

geregelt, <strong>der</strong> code pénal setzte auf Einschüchterung, was freilich wenig<br />

verwun<strong>der</strong>t.<br />

Wer also ist diese <strong>Daphne</strong>? Eine starke Frau, die diese Demütigungen <strong>der</strong> Fesselung,<br />

<strong>der</strong> Abhängigkeit kurz ihrer Zwangslage – im wahren Wortsinne eine<br />

Lage des unmittelbaren Zwangs – erträgt und darüber hinwegsehen kann?<br />

Was sagt ihr Gesicht? Ist es ein liebliches Gesicht? Der Mund, er lächelt doch!?<br />

Ja, aber die rechte Gesichtshälfte, in die die lächelnden Lippen wie als Verhöhnung<br />

noch hineinführen, ist zerstört, ist eine einzige klaffende Wunde.<br />

Der Kopf ist kahl, nicht glatt, etwa rasiert, son<strong>der</strong>n als wären ihm die Haare<br />

gewaltsam entrissen, herausgerissen worden. Die Schädelkalotte, Stirnbein,<br />

Scheitelbein und Hinterhauptsbein sind wie mit Kratern übersät. <strong>Daphne</strong> IV<br />

ist schwer verwundet, als lebendes Wesen wäre sie kaum überlebensfähig. Sie<br />

wurde malträtiert, missbraucht, war roher Gewalt ausgesetzt. Doch von wem<br />

und warum? Wenn wir einen weiteren tiefen Blick auf ihr geschundenes Gesicht<br />

werfen, dann sehen wir bekannte Züge. Sie erinnern uns an die scheue, schöne<br />

<strong>Daphne</strong> III. Nein, sie erinnern nicht nur, es ist <strong>der</strong>en Gesicht, <strong>der</strong>en Kopf. Ihrer<br />

frühlinghaften Haarpracht beraubt, je<strong>der</strong> Frohsinn ist gewichen! Und auch das<br />

Lächeln ist kein feines freudiges Lächeln, es ist sarkastisch bitter und sardonisch<br />

grimmig, schmerzvoll. 42<br />

42<br />

„Ain Sardonisch glächter würt<br />

in aim Sprichwort für ain erdichtets<br />

gespöttiges vnd vast bitters<br />

gelächter gebraucht“, Ioannis<br />

Lodovici Vives, Von Gebirliche<br />

Thun und Lassen aines Ehemanns,<br />

Augsburg 1544,fol. 12b<br />

am Rand<br />

Wie kann sich ein Gesicht so grundlegend verän<strong>der</strong>n, dass es kaum wie<strong>der</strong>erkannt<br />

werden kann? Nun, <strong>Daphne</strong> IV zeigt es uns mit ihrem Körper: Jede<br />

Leichtigkeit ist gewichen, sie ist eingezwängt in Knochen und Metall, ist beständigen<br />

Zwängen unterworfen, sie ist Sklavin ihrer inneren Zwänge, sie ist<br />

unfrei geworden, unfrei gemacht worden. <strong>Daphne</strong> IV ist eine hart ausgeformte<br />

Metapher für gesellschaftlichen Zwang. Ein Gegenbeispiel zu <strong>Daphne</strong> III. Und<br />

<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> tut ein übriges: Er hat eine weitere <strong>Daphne</strong> IV geschaffen, an <strong>der</strong>


er die Zwänge noch hervorhebt und übersteigert betont. Über die Fesselungen<br />

von Bein und Metall hinaus besetzt er den Körper dieser wenig weiblichen Figur<br />

mit Steinen, wie Smaragd, Citrin, Spinell, Granat. Aus dem Kopf wachsen<br />

Korunde und Rauchquarz.<br />

Der Zwang wird gewissermaßen veredelt und damit noch zwanghafter ausgedrückt.<br />

Bil<strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Klatschpresse drängen sich auf. <strong>Daphne</strong> IV hat kein gutes<br />

Leben gehabt, und wie um diesen Fluch abzuschütteln, die unguten Gedanken<br />

und Gefühle über diese Verwandlung, die ihr wi<strong>der</strong>fahren ist zu verscheuchen,<br />

schuf <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> <strong>Daphne</strong> V.<br />

Fig.352(<strong>Daphne</strong> IV)<br />

2016, Bronze,<br />

H. 37,2 cm, 9 Ex.<br />

55


56 Fig.352 Unikat<br />

2016, Bronze,<br />

Saphir, Smaragd, Korund,<br />

Topas, Citrin, etc.,<br />

H. 37,5 cm, Unikat


57


Fig. 362 (<strong>Daphne</strong> V)<br />

Trotz ihrer Körperhaltung, des gesenkten Kopf, <strong>der</strong> nie<strong>der</strong>geschlagenen Augen<br />

und ihrer Größe von nur fünfunddreißig Zentimetern, hat Figur 362 alias <strong>Daphne</strong><br />

V eine monumentale Anmutung. Eine hohe Frau!<br />

Eine frouwe, eine Herrin des Hochmittelalters! Und Herr, dieses Wort und diese<br />

Bezeichnung stecken wahrhaftig in dem Wort frouwe, denn frô ist <strong>der</strong> Herr,<br />

wie er noch heute in dem Wort Fronleichnam enthalten ist.<br />

Schamhaft und keusch, 43 demütig und würdig 44 sollten seit den Zeiten <strong>der</strong> Kirchenväter<br />

die Frauen sein. Und es scheint, als könnte <strong>der</strong> Betrachter dieser<br />

Skulptur in und mit diesen Adjektiven die Gestaltungsabsicht <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s<br />

erkennen. Denn, dass <strong>der</strong> Künstler eine Frau des hohen Mittelalters zitiert, ist<br />

bereits an ihrer Kopfbedeckung abzulesen.<br />

Aber holen wir uns einen weiteren Rat bei einem <strong>der</strong> bedeutendsten Dichter<br />

des 12. und 13. Jahrhun<strong>der</strong>ts, Wolfram von Eschenbach und seinem epochalen<br />

Epos ‘Parzival‘. Das Frauen- und Männerbild mutet mo<strong>der</strong>ner, fortgeschrittener<br />

und ehrlicher an als das <strong>der</strong> Heutigen!<br />

58<br />

Fig.362(<strong>Daphne</strong> V)<br />

2016, Bronze,<br />

H. 34,8 cm, 9 Ex.<br />

Ich sag noch was zu Frauen<br />

Mann und Frau sind völlig eins<br />

wie die Sonne, die heut schien,<br />

und sogenanntes Tageslicht<br />

Hier lässt sich keins vom an<strong>der</strong>n trennen:<br />

aus einem Kerne blühn sie auf 45<br />

Spricht hieraus nicht tief überzeugte Achtung, so wie sie sich in <strong>Daphne</strong> V wi<strong>der</strong>spiegelt?<br />

Und wenn Wolfram über Condwiramurs und Parzival so schreibt:<br />

43<br />

Joachim Bumke, Höfische Kultur,<br />

2. Bd, Nördlingen 1986, Seite<br />

471.<br />

44<br />

aaO, Seite 471, Seite 475.<br />

45<br />

Eberhard Nellmann (Hg.), Wolfram<br />

von Eschenbach, Parzival I,<br />

Text übertragen von Dieter Kühn,<br />

Seite 291.<br />

46<br />

aaO, Seite 315.<br />

Dies war die Herrscherin des Landes:<br />

es war, wie wenn im süßen Tau<br />

die Rose aus <strong>der</strong> Knospenhülle<br />

in ihrem frischem Schimmer bricht,<br />

und zwar zugleich in Weiß und Rot<br />

das brachte ihn in Herzensnot 46<br />

dann lassen sich diese Verse ebenso auf <strong>Klinge</strong>s <strong>Daphne</strong> übertragen!<br />

Es kommt eben nicht darauf an, die Erfolgskriterien unserer Zeit, wie „Mann,<br />

Oberschicht, skrupellos, zu allem Bereit“ zu erfüllen!


59


61


Wolfram, um ihn wie<strong>der</strong>um in Beziehung zu <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> und <strong>der</strong> Fragezeichen-<strong>Daphne</strong><br />

zu bringen, qualifiziert seine Frauenfiguren nicht ab, wenn sie<br />

Heidinnen, wenn sie schwarz sind!<br />

Und:<br />

Und:<br />

Da erschien es Gahmuret –<br />

obwohl sie eine Heidin war –<br />

als wäre größre Fraulichkeit<br />

sonst nie ins Frauenherz geschlüpft<br />

sie war getauft: durch ihre Reinheit 47<br />

Doch war ihm diese schwarze Frau<br />

lieber als sein eigen Leben 48<br />

So heller Glanz ging von ihr aus<br />

wärn alle Kerzen ausgegangen<br />

es wär hier hell genug gewesen 49<br />

62<br />

Denn <strong>der</strong> Künstler hat zu recht den Namen <strong>Daphne</strong> bei <strong>der</strong> Betitelung dieser<br />

Skulptur mit einem, Fragezeichen versehen. Ist es denn eine Verfolgte,<br />

die von Mutter und Vater erfleht von Mensch zu Baum, von Fleisch zu Holz<br />

verwandelt zu werden? Der Unterleib dieser <strong>Daphne</strong> scheint es zu bestätigen,<br />

denn das, was wie ein Gewand, Füße, Beine und Scham verhüllt, ist im<br />

Modell Rinde eines Korkeichenbaumes, gewellt, bewegt, wie brodelnd. Und<br />

dies führt im Ausdruck des Materials zum Eindruck, den <strong>der</strong> Künstler zeigt,<br />

als wäre eine Schöpfung im Gange. Aus dem Wabern <strong>der</strong> Rindenstruktur, die<br />

gleichsam ein neues Wesen gebären will, entsteigt, entwickelt sich, wächst<br />

diese <strong>Daphne</strong>. Ein umgekehrter Prozess als: Holz wird zu Fleisch, Baum wird<br />

zu Mensch, zu einer würdigen, unantastbaren Frau. Dann, wenn sie will,<br />

weil sie will, entsteht Verwandlung.<br />

Bei aller feinen Zurückhaltung ist <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s <strong>Daphne</strong> V aber auch eine<br />

erotische Frau. Die wie gedrechselt wirkenden Brüste sehen wir, wenn wir<br />

die Plastik betrachten. Wolfram von Eschenbach beschreibt im Parzival die<br />

„Brüstlein“ so:<br />

47<br />

aaO, Seite 55<br />

48<br />

aaO, Seite 97<br />

49<br />

aaO, Seite 145<br />

Sie ragten rund und weiß und hoch<br />

als wären sie gedrechselt worden<br />

kein noch so guter Drechsler hätte<br />

je so schöne drechseln können


Der Dichter bekennt sich, wie <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> auch, zu einer offenen, ehrlichen,<br />

ja sogar tugendsamen Erotik, und dies ist kein Wi<strong>der</strong>spruch, denn die Treue<br />

war in jenen Zeiten – und ist es auch bei dieser <strong>Daphne</strong> – ein höchstes Gut.<br />

Die Herrin Herzeloyde<br />

verlor nun ihre Jungfernschaft.<br />

Sie schonten ihre Lippen nicht<br />

die machten sie mit Küssen müde<br />

und hielten Unglück fern vom Glück<br />

Und als verwegenes, ritterliches, keineswegs frivoles Beispiel sei aus dem<br />

Parzival wie<strong>der</strong>um zitiert:<br />

Und ein Hemd <strong>der</strong> Königin,<br />

sehr fein aus weißer Seide<br />

das sie auf bloßem Leib getragen<br />

sie war ja seine Frau geworden<br />

das zog er über sein Kettenhemd.<br />

Achtzehn Stück sah man durchstochen<br />

und von Schwertern ganz zerhackt<br />

bevor er von ihr Abschied nahm<br />

sie zog die an, auf bloßer Haut<br />

sobald ihr liebster vom Turnier kam.<br />

63<br />

Es geht also um die seidenen Hemden <strong>der</strong> Königin, die sie ihrem Gemahl mit<br />

ins Turnier als Zeichen ihrer sichtbaren Verbundenheit über das Kettenhemd<br />

streift.<br />

Eine Einheit, eine mögliche, auf freier Willens- und Wollensentscheidung<br />

beruhende Verbindung von Frau und Mann, das zeigt uns diese <strong>Daphne</strong> von<br />

<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>.<br />

Es ist nicht die gejagte, gehetzte, missbrauchte Frauenfigur, son<strong>der</strong>n eine<br />

Frau, die sich entwickelt, nicht verbirgt, wie neu geboren wird aus <strong>der</strong> Rinde<br />

des Baumes. Bereit wie die schwarze Königin Belakane Wolfram von Eschenbachs<br />

sich zusammen mit ihrem weißen Ehemann Gahmuret „<strong>der</strong> hohen,<br />

süßen Liebe“ bedingungslos hinzugeben, denn „verschieden war nur<br />

ihre Haut“ 50 .<br />

50<br />

aaO, Seite 81


64


65


67


68


<strong>Daphne</strong> ?VI!<br />

Da steht sie! Als ob es kein an<strong>der</strong>es weibliches Wesen gäbe, als sie! Nur sie!<br />

Als ob an ihrer formvollendeten Schönheit niemand, kein Apollon, keine um<br />

Hilfe angeflehten Eltern, Tellus, die Erde und Peneus, <strong>der</strong> Flussgott, auch nur<br />

das Geringste än<strong>der</strong>n, zum Bösen än<strong>der</strong>n, sie verwandeln könnte.<br />

<strong>Daphne</strong> ist sie benannt.<br />

Hinter ihrem Namen setzte <strong>der</strong> Künstler ein Fragezeichen, als sei er, <strong>der</strong><br />

Schöpfer dieser Skulptur nicht gewiss, dass es eine <strong>Daphne</strong> ist. Nach <strong>der</strong><br />

in römischen Ziffern geschriebenen Zahl sechs, die innerhalb <strong>der</strong> Werkgruppe<br />

„<strong>Daphne</strong>“ die Rangfolge ihrer Entstehung bezeichnet, hier, wir<br />

werden sehen, vielleicht auch mehr, findet wir ein Ausrufungszeichen, als<br />

ober <strong>der</strong> Künstler bei <strong>der</strong> Abwägung, ob es sich um ein verwandeltes o<strong>der</strong><br />

sich verwandelndes Wesen handelt o<strong>der</strong> nicht zu einem sicherem Schluss<br />

gekommen sei! Wobei es durchaus so scheint, als habe <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> dasselbe<br />

Bekenntnis, wie Günter Eich, <strong>der</strong> sagte: „Nein, ich bin nicht auf<br />

Antworten aus, ich optiere für die Frage“ 51 .<br />

Die Vorgeschichte ihrer Entstehung gibt Hinweise auf die den Künstler sehr<br />

gelegen kommende Verrätselung des Titels „<strong>Daphne</strong> ?VI!“ dieser Skulptur.<br />

Als völlig eigenständiges Werk schuf <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> zunächst die Kleinplastik<br />

<strong>Daphne</strong> V (die aufgrund ihrer niedrigeren Ziffer eben auch zeitlich vor<br />

<strong>Daphne</strong> ?VI! entstanden sein muss). Kopf mit Haube und Oberkörper sind<br />

bei dieser Skulptur aus Wachs geformt, <strong>der</strong> Unterleib besteht aus dem Rindenstück<br />

einer Korkeiche. Diese Materialien werden zusammengeführt im<br />

bronzenen Abguss, <strong>der</strong> das fertige Werk ist. Modell, besser Vorstufe hierfür,<br />

war die durch die Hände des Künstlers geformte Plastik. Im Erarbeiten einer<br />

bildnerischen Idee, um sie im wahren Wortsinne auszuformen, bedient sich<br />

<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> des kleinen Formats und seiner Beweglichkeit, <strong>der</strong> möglichen<br />

Gestalt des abzuschließenden Entstehungsprozesses. Die Figur kann<br />

die o<strong>der</strong> jene Entscheidung tragen, ist wahrhaftig Wachs in den Händen des<br />

Künstlers. Und die getroffene Wahl unter den unendlichen Möglichkeiten<br />

des Ausdrucks zeigt zugleich, dass nur eine einzige und einzigartige Entscheidung<br />

von <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> getroffen werden konnte, die aus <strong>der</strong> Potentialität<br />

in die Aktualität geflossen ist. Und deswegen ist <strong>Daphne</strong> V gerade keine<br />

Skizze, kein flüchtiger Entwurf, kein Bozzetto, son<strong>der</strong>n ein Werk, das in sich<br />

geschlossen ist; beendet <strong>der</strong> Prozess, vollendet das Werk!<br />

Und – ein Wi<strong>der</strong>spruch mehr – <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> wollte und hat <strong>Daphne</strong> V tatsächlich<br />

zugleich und dennoch als Bozzetto, als Maquette, als modellum,<br />

als Vorgabe für eine große Skulptur verwendet. 52 <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> war sich sicher,<br />

diesen Bozzetto neu und in an<strong>der</strong>em Maßstab formen zu wollen und<br />

<strong>Daphne</strong> ?VI!,<br />

2016, Bronze,<br />

H. 2,51 m, 6 Ex.<br />

51<br />

Dietz-Rüdiger Moser (Hg.),<br />

Lexikon <strong>der</strong> deutschsprachigen<br />

Gegenwartsliteratur seit 1945,<br />

München 1997, Band 1, Seite 276.<br />

52<br />

vgl. Peter C. Bol in „Das Modell<br />

in <strong>der</strong> bildenden Kunst des<br />

Mittelalters und <strong>der</strong> Neuzeit“,<br />

Festschrift für Herbert Beck, Petersberg<br />

2006, Seite 11.<br />

69


70<br />

dies zu tun. Die Fotografien auf den nachstehenden Seiten zeigen einen<br />

Entstehungsprozess, wobei das Ergebnis nahezu völlig vom vorgestellten<br />

und zunächst gewollten Ziel abweicht:<br />

Ein mächtiger Stamm einer Pappel birgt Kopf und Oberkörper <strong>der</strong> künftigen<br />

<strong>Daphne</strong>. <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> stellt den Bozzetto <strong>Daphne</strong> V auf diesen Stamm und<br />

zeichnet mit grober Kreide Umrisslinien in den gewollten Maßstab auf das<br />

entrindete Holz (Abb. 1 und Abb. 2).<br />

Die Kopfhaltung entspricht <strong>der</strong>jenigen, <strong>der</strong> kleinen Plastik, demütig nach<br />

rechts, aus <strong>der</strong> Haltung <strong>der</strong> Figur abgeleitet. Sie, <strong>Daphne</strong> V, steht, thront<br />

gar als Herrscherin über <strong>der</strong> künftigen, sich aus dem Stamm schälenden,<br />

aus ihm herauszuschneidenden in künftigen Zeiten erst existenten, dort<br />

hineingeborenen, großen Figur. Folgerichtig setzt <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> durch Einschnitte<br />

und Materialwegnahme den Weg zur überlebensgroßen <strong>Daphne</strong><br />

V, besser zu <strong>der</strong>en Nachfolgerin <strong>Daphne</strong> VI fort (Abb. 3 und Abb. 4). Doch<br />

bereits bei den ersten Schnitten scheint <strong>der</strong> Künstler zu zögern, in ihm ist,<br />

so will es scheinen, ein neuer, ein an<strong>der</strong>er Skulpturengedanke entstanden<br />

(Abb. 5 und Abb. 6). Die Demutshaltung ist aufgebgeben. Der Kopf hat sich<br />

merklich aufgerichtet. Volle Lippen sind geformt und die linke Brust ist in<br />

rohem Zustand aus dem Stamm befreit (Abb. 6). Dann aber geschieht etwas<br />

völlig Unerwartetes, denn bereits in diesem frühen Stadium <strong>der</strong> Skulpturenentstehung<br />

(<strong>der</strong> Oberleib ist noch nahezu vollständig im Stamm verborgen!)<br />

bringt <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> ein Element, das, so wäre es vorstellbar, erst als letzter<br />

Akt <strong>der</strong> Gestaltung, als Vollendung <strong>der</strong> Figur hinzugefügt werden würde:<br />

Die Maske. Der Künstler aber geht an<strong>der</strong>s vor. Er weiß, dass es eine an<strong>der</strong>e<br />

<strong>Daphne</strong> werden wird und er erarbeitet nun zunächst wie stets in seinem<br />

Arbeitsprozess, den Kopfbereich und vollendet ihn. Danach erst wendet er<br />

sich dem Oberkörper zu.<br />

<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> setzt also dieser <strong>Daphne</strong> eine Maske vor ihr Antlitz, als müsse<br />

sie vor fremden Blicken, selbst denen ihres Schöpfers, geschützt werden<br />

o<strong>der</strong> sie hätte dies selbst gar kategorisch eingefor<strong>der</strong>t (Abb. 7).<br />

Und nun formt sich hinter <strong>der</strong> weiter vervollständigten Maske ein neuer, an<strong>der</strong>er<br />

Kopf als <strong>der</strong> von <strong>Daphne</strong> V. Die Haube ist weggenommen, keine Kopfbedeckung<br />

ist sichtbar, das rechte Ohr, bereits ausgeformt verschwindet<br />

erst hinter <strong>der</strong> Maske, später allerdings vollständig (Abb. 8). Während <strong>der</strong><br />

Arbeit an <strong>der</strong> Modellierung des Oberkörpers behält diese <strong>Daphne</strong> ihre Maske<br />

auf, verbirgt ihr Gesicht, verbirgt sich, die doch immer offener mit bloßem<br />

und vollbrüstigen Oberkörper sich zeigt. Ist es diese Blöße, die sie zwingt,<br />

sich zu verhüllen? Das Unverhüllte benötigt, um den Kern <strong>der</strong> Spannung zu<br />

zeigen, das Verhüllte (Abb. 9 bis Abb. 14)!


<strong>Daphne</strong> V, ihre Vorgängerin scheint sich nirgendwo abzubilden, keine bildhauerische<br />

Idee, hinter <strong>der</strong> sich bei <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> stets ein tiefausformuliertes<br />

Gedankengebäude verbirgt, führt mehr zurück zu ihr. Dies gilt für<br />

Kopf und freilich die Maske, Hals und Oberkörper zum großen Teil, nicht<br />

aber für den Unterleib. <strong>Daphne</strong> V schien aus ihrem Kleidungsstück, einer<br />

Korkeichenrinde, emporzuwachsen. Die vielfältig strukturierte Rinde ließ<br />

eine lebendige, sich stets verän<strong>der</strong>nde, stets verän<strong>der</strong>bare Form erahnen,<br />

als etwas Pulsierendes, Gärendes, Ausbrechendes unter dem Gewebe des<br />

Rockes spürbar. Dieses Gewandstück bei <strong>Daphne</strong> VI ist aber geglättet und<br />

doch wie<strong>der</strong> nicht, es ist in feines Plissee verwandelt, kleine und kleinste<br />

Falten umgürten den Unterleib. Ein aus <strong>der</strong> Verwitterung, Verrottung <strong>der</strong><br />

weicheren Holzbestandteile gewordenes Bild, „das wie bei Statuen <strong>der</strong><br />

griechischen Klassik als starrer, strenger Faltenwurf den Eindruck<br />

gewollter Monumentalität erhöht“ 53 .<br />

71<br />

Und dieser Rock ist nicht enganliegend, er ist weit, zu weit (Abb. 15, Abb. 16),<br />

wie auch bei <strong>Daphne</strong> V und damit zeigt sich eine wesentliche Gemeinsamkeit:<br />

Das Moment <strong>der</strong> Verwandlung in Holz, in einen Baum ist nicht erfüllt.<br />

Selbst wenn <strong>Daphne</strong> VI von einem Astgürtel umgeben ist, wird sie nicht in<br />

das Holz verbannt, verwandelt, son<strong>der</strong>n entsteigt, entflieht ihm, lässt es zurück!<br />

Es ist eine <strong>Daphne</strong>, die sich nicht einer Verfolgung entzieht, die sich ob<br />

ihrer Körperlichkeit schützen muss, schützen will. Deshalb also setzt <strong>Dietrich</strong><br />

<strong>Klinge</strong> das Fragezeichen in den Titel <strong>der</strong> Skulptur.<br />

Womit aber rechtfertigt sich dann, bei den offenkundigen Abweichungen<br />

von Mythos <strong>der</strong> <strong>Daphne</strong> das ultimative und kategorische Ausrufungszeichen<br />

am Ende <strong>der</strong> Skulpturenbezeichnung?<br />

Abb. 1<br />

53<br />

Thassilo von Scheffer, Die Kultur<br />

<strong>der</strong> Griechen, Zürich 1955,<br />

Seite 248.


72<br />

Abb. 2


Abb. 3<br />

73


74<br />

Abb. 4


Abb. 5<br />

75


76<br />

Abb. 6


Abb. 7<br />

77


78<br />

Abb. 8


Abb. 9<br />

79


80<br />

Abb. 10


Abb. 11<br />

81


82<br />

Abb. 12


Abb. 13<br />

83


84<br />

Abb. 14


Abb. 15<br />

85


86<br />

Abb. 16


87<br />

Abb. 17


88<br />

Exkurs: Maske<br />

Wie nicht selten, führen Worte, die seit langen Zeiten feste Bestandteile<br />

unserer, <strong>der</strong> deutschen Sprache sind, ins Arabische. „Maskharat“ steht<br />

ursprünglich für den komödiantischen Verwendungsbereich und bedeutet<br />

Hänselei, Scherz, meint auch den Narren, <strong>der</strong> eine Maske trägt.<br />

Das Maskenwesen ist freilich älter, viel älter.<br />

In allen Kulturen dieser Welt hatten und haben Masken mit dem<br />

Numinosen, mit dem Göttlichen, zu tun. Götter, Geister, Ahnen werden um<br />

Beistand angefleht, um Schutz gebeten. Das Böse, in welcher Erscheinungsform<br />

auch immer, soll keine Wirkmacht entfalten können, muss getäuscht<br />

werden, abgehalten von ver<strong>der</strong>blichem Einfluss, gar vernichtet werden.<br />

Und <strong>der</strong> Träger <strong>der</strong> Maske, <strong>der</strong> Tänzer, <strong>der</strong> Mensch, ist niemals er selbst.<br />

Er wird für die Dauer seiner Maskierung zum Geistwesen, verwandelt sich.<br />

Weshalb auch nicht er, <strong>der</strong> leibhaftige Mensch für Handlungen (selbst Tötungen)<br />

in diesem Zustand verantwortlich ist, son<strong>der</strong>n jenes unfassbare – im<br />

doppelten Wortsinne – Wesen, das er geworden ist. In <strong>der</strong> französischen<br />

Höhle Le trois fréres, so benannt, weil drei Brü<strong>der</strong> die Höhle im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

miteinan<strong>der</strong> endeckten, sind Felsmalereien aus dem Magdalénien,<br />

vor über fünfzehntausend Jahren also, auf uns gekommen. Und es scheint<br />

so, als ob <strong>der</strong> an die Felswände gezeichnete Schamane eine Maske in Form<br />

eines Tierkopfes trüge. Ferne Vergangenheit.<br />

In afrikanischen Gesellschaften, die ein hochentwickeltes soziales Gefüge<br />

seit langen Jahrhun<strong>der</strong>ten (etwa Benin und in Kamerun) aufweisen, ist<br />

das Maskenwesen bis heute lebendig, sei es bei Initiationsriten, sei es<br />

zur Lösung sozialer Konflikte, sei es bei gesellschaftlichen Anlässen, einer<br />

Beerdigung, jahreszeitlichen Festen. Davon, also <strong>der</strong> Verwandlung des<br />

Maskenträgers selbst, zu unterscheiden ist die Maskierung ohne diese Metamorphose,<br />

etwa um soziale Rollen spielen zu können.<br />

Masken sind stets ambivalent, einerseits verbergen sie das was ist, an<strong>der</strong>erseits<br />

enthüllen sie, das was sein soll, sein kann, sein muss.<br />

Exkurs: Person<br />

Nun hängt <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Person seit ältesten Zeiten mit jenem <strong>der</strong> Maske<br />

– und wie es scheint – auch untrennbar zusammen. Welche Wortherleitungstheorie<br />

auch immer bemüht wird, es geht um den Menschen, wie er ist und<br />

wie er scheint zu sein.<br />

Das etruskische Wort ‘phersu‘ als möglicher Urgrund des Begriffs Person<br />

steht für Maske und ist <strong>der</strong> Name einer bei Begräbnisriten auftretenden,<br />

verkleideten Gestalt.


Das alte griechische Wort ‘prosôpon‘, als Ursprung für das Wort Person,<br />

bedeutete Mensch, Rolle, Maske. Lateinisch wurde die Maske des Schauspielers<br />

als ‘persona‘ bezeichnet. Und daran knüpft sich <strong>der</strong> weitere Erklärungsversuch,<br />

das Ertönen <strong>der</strong> Schauspielerstimme durch die Maske hindurch<br />

als ‘per-sonare‘ zu benennen, als das Tun einer Person.<br />

Was aber ist eine Person?<br />

Statt Vieler sei ein Philosoph, ein vergessener Denker zitiert, Josef Pieper<br />

(1901 – 1997) <strong>der</strong> in selten klarer Sprache schrieb:<br />

Ein Wesen, das um seiner eigenen Vollendung willen existiert: So<br />

könnte man, mit einer [nicht allzu unerlaubt] vereinfachenden Formulierung,<br />

die Person definieren 54<br />

„Sinnvoll in sich selbst“ sein, wie wie<strong>der</strong>um Pieper formulierte 55 , ist das<br />

Ziel, muss das Ziel einer jeden Person sein, gar dann, wenn sie sich zur Persönlichkeit<br />

entwickeln will.<br />

In <strong>der</strong> Jetzt-Zeit scheint jedoch die Anzahl von Personen eklatant abgenommen<br />

zu haben und weiter abzunehmen, trotz <strong>der</strong> ins Ungeheuerliche anschwellenden<br />

Anzahl von Menschen!<br />

Umso wohltuen<strong>der</strong>, wenn ein Künstler wie <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> uns eine Person<br />

wie <strong>Daphne</strong> ?VI! schenkt. Und <strong>der</strong> Künstler, selbst und sicherlich eine Person,<br />

muss sein, wie Jack Kerouac (1922 – 1969) sagt, „desirous of everything<br />

at the same time, the ones who never yawn or say a commonplace<br />

thing, but burn, burn, burn like fabulous yellow roman candles<br />

exploding like spi<strong>der</strong>s across the stars“ 56 .<br />

54<br />

Josef Pieper, Verteidigungsrede<br />

für die Philosophie, München<br />

1966, Seite 63.<br />

55<br />

aaO, Seite 63.<br />

56<br />

Also etwa: Ein Künstler muss<br />

voll Sehnsucht sein, nach allem<br />

und immer, niemals gähnend<br />

o<strong>der</strong> Binsenweisheiten erzählend,<br />

son<strong>der</strong>n er muss brennen,<br />

brennen, brennen, wie ein märchenhaftes<br />

goldgelbes Feuerwerk,<br />

das als wären es lauter<br />

Spinnen hoch in den Sternen zerbirst,<br />

zit. nach Wolfgang Herrndorf,<br />

Arbeit und Struktur, Berlin<br />

2013, Seite 306.<br />

89<br />

Exkurs: Kontrapost<br />

<strong>Daphne</strong> ?VI! ist einer klassischen griechischen Plastik mehr als verschwistert.<br />

Die Leitideen <strong>der</strong> Künstler im 5. vorchristlichen Jahrhun<strong>der</strong>t sind durch<br />

<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> nach mehr als zweieinhalb Jahrtausenden klar und eindeutig<br />

in unsere Zeiten – in seiner ganz eigenen Formensprache - nicht nur übersetzt,<br />

son<strong>der</strong>n umgesetzt worden.<br />

Auf den ersten Blick scheint <strong>Daphne</strong> ?VI! gerade, wie regungslos, aufrecht<br />

und ungebeugt, ja unbeugsam zu stehen. Steht sie aber, wie <strong>Daphne</strong> II, wie<br />

eine Kore mit beiden Beinen gleichermaßen fest auf <strong>der</strong> Erde? Zweifelsfrei<br />

sind <strong>Daphne</strong> II und <strong>Daphne</strong> ?VI! vollplastisch modelliert. Gleichwohl wirkt<br />

die <strong>der</strong> archaischen, griechischen Kunst anverwandte <strong>Daphne</strong> II flächenhafter<br />

und ruft so Erinnerungen an einen geometrischen Stil auf. Ihre Lebendigkeit<br />

kann sie nur im Innen, nicht im Außen zeigen.


An<strong>der</strong>s, ganz an<strong>der</strong>s aber <strong>Daphne</strong> ?VI!, die „die archaische Frontalität<br />

und symmetrisch strenge Glie<strong>der</strong>ordnung überwindet“ 57 .<br />

<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> zeigt in dieser <strong>Daphne</strong> wie exemplarisch, dass „alle<br />

Elemente und Kräfte des Körpers kontrapostisch aufeinan<strong>der</strong><br />

bezogen“ 58 sind.<br />

Denn Kontrapost 59 , lässt sich keineswegs nur auf die Funktion <strong>der</strong> Beine,<br />

belastet o<strong>der</strong> unbelastet, Standbein o<strong>der</strong> Spielbein reduzieren. Und dies ist<br />

auch folgerichtig, denn die Ablastung des Körpers auf nur ein Bein bewirkt<br />

und muss bewirken, dass sich die Haltung des Beckens, <strong>der</strong> Wirbelsäule,<br />

<strong>der</strong> Schultern und des Kopfes verän<strong>der</strong>t.<br />

„Kein Motiv exponiert sich, ohne in <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Richtung zurückgenommen<br />

zu sein, kein Nachgeben auf <strong>der</strong> einen Seite, ohne ein<br />

Zulegen auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en, Tragen und Lasten, Hebung und Senkung,<br />

Anspannung und Entspannung sind sichtbar unterschieden, bilden<br />

ebenso sichtbar einen korrespondierenden Chiasmus und halten<br />

sich vollkommen die Waage. So wird <strong>der</strong> Körper in seiner Gänze<br />

zum Hort des Gleichgewichtes <strong>der</strong> Gegensätze“ 60 .<br />

90<br />

57<br />

Gottfried Lindemann in Hermann<br />

Boekhoff (Hg.), Lexikon<br />

<strong>der</strong> Kunststile, Band 1, Hamburg<br />

1970, Seite 10f.<br />

58<br />

Berthold Hinz, Aphrodite, Geschichte<br />

einer abendländischen<br />

Passion, Wien 1998, Seite 3.1.<br />

59<br />

von italienisch contrapposto,<br />

Gegensatz, Gegenstück.<br />

60<br />

Berthold Hinz, aaO, Seite 31.<br />

61<br />

Xenophon, Xenophon´s Erinnerungen<br />

an Sokrates, Kapitel<br />

7, übertragen von Otto Güthling<br />

1883.<br />

62<br />

Jakob Burckhardt, Griechische<br />

Kultur, Berlin 1941, Seite 106.<br />

63<br />

vgl. Robert Hedicke, Studien zur<br />

Logik <strong>der</strong> Kunstgeschichte, Der<br />

Begriff des Kontrapost, Ein geistesgeschichtlicher<br />

Grundbegriff<br />

<strong>der</strong> Weltgeschichte <strong>der</strong> Plastik, in<br />

Deutsche Vierteljahresschrift für<br />

Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte,<br />

Heft 9, Stuttgart<br />

1931, Seite 186ff. und passim.<br />

Xenophon (430 – 355) hat in seinen Erinnerungen an Sokrates ein Gespräch<br />

des Philosophen mit dem Bildhauer Kleiton beschrieben, als er diesen nach<br />

<strong>der</strong> Ursache für die Lebendigkeit seiner Skulpturen befragte:<br />

Gelingt es dir vielleicht dadurch, dass du deine Bildsäulen so lebendig<br />

erscheinen lässt, dass du dir lebende Gestalten zu Mustern<br />

nimmst? – Ja wohl, sagte jener. – Bringst du also nicht durch<br />

Nachahmung dessen, was infolge <strong>der</strong> Stellungen an den Körpern<br />

sich hebt und senkt, zusammendrückt und auseinan<strong>der</strong>gezogen,<br />

angespannt und gelockert wird, die Wirkung hervor, dass es <strong>der</strong><br />

Natur ähnlicher und täuschen<strong>der</strong> erscheint? – Allerdings – 61<br />

Und Jakob Burckhardt hat den „Ausdruck des Momentanen … in Stellung<br />

und Bewegung <strong>der</strong> ganzen Gestalt – oft nur leise sprechend<br />

und dabei doch von höchster Wahrheit und Schönheit“ gesehen und<br />

beschrieben. 62<br />

Dies wie<strong>der</strong>um bedeutet beim Anblick einer kontrapostischen Skulptur, dass<br />

die Schulter über dem Standbein niedriger, die über dem Spielbein höher<br />

ist und sein muss. 63 Gleiches gilt für die Waage <strong>der</strong> Hüfte, die sich über dem<br />

Standbein neigt, über den Spielbein steigt.


Diese Überkreuzung von Be- und Entlastung wird nach dem griechischen<br />

Buchstaben Chi (=X) eben Chiasmus benannt, den <strong>der</strong> im 5. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

v.u.Z. lebende griechische Bildhauer Polyklet in seinem Kanon bereits beschrieb<br />

und in seinem Doryphoros, dem Speerträger, von <strong>der</strong> Theorie des Kanons,<br />

in die Praxis <strong>der</strong> Skulptur umsetzte. Damals allerdings eingeschränkt<br />

auf die Physis darzustellen<strong>der</strong> Männer. Erst einhun<strong>der</strong>t Jahre später gelang<br />

es Praxiteles mit seiner knidischen Aphrodite dies mit einer vollendeten<br />

Figur einer Frau zu zeigen.<br />

<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> hat den Körper <strong>der</strong> <strong>Daphne</strong> ?VI! fein und behutsam kontrapostisch<br />

formuliert: Die rechte Hüfte und die rechte Schulter sind fast unmerklich<br />

gesenkt, die linke Körperhälfte angehoben. Die zwingende Schlussfolgerung<br />

hieraus ist, dass das rechte Bein belastet, also das Standbein sein<br />

muss, das linke das Spielbein. Und tatsächlich sehen wir den Rock, den als<br />

objet-trouvée verwendeten Kirschenstamm, auf <strong>der</strong> rechten Seite zurückgenommen,<br />

links wie vom Spielbein etwas nach vorne gedrückt.<br />

Dadurch dass keine Extremitäten, also Beine und Arme „vorhanden“ sind,<br />

die Beine verborgen, die Arme zugunsten des Torsos weggelassen, sind sie<br />

als „Potentiale <strong>der</strong> Aktivität zurückgenommen“ 64 . Damit wirkt <strong>der</strong> Körper<br />

wie fokussiert, ausladen<strong>der</strong> und wird „zur ruhenden Mitte <strong>der</strong> figuralen<br />

Komposition“ 65 .<br />

Exkurs: Wille zur Körperplastik<br />

Die Erfüllung <strong>der</strong> Pon<strong>der</strong>ation, also <strong>der</strong> Wechselbeziehung aller Körperteile<br />

in harmonischem Gleichgewicht des Körpers und <strong>der</strong> Seele, entspricht dem<br />

Willen, eine Körperplastik zu schaffen.<br />

Freilich gibt es bei <strong>Daphne</strong> ?VI! eine Hauptansicht, dies ist schon dem frontalen<br />

Aufbau des menschlichen Körpers geschuldet. Gleichwohl erzeugt „sie<br />

einen künstlerischen Existenzraum, aber dieser Raum bleibt passiv,<br />

denn er wird durch die Statue in keiner Weise aktiv geformt“ 66 .<br />

Dennoch wird „aus <strong>der</strong> objektiven Wie<strong>der</strong>gabe des Menschen, aus dem<br />

‘Es ist‘ ein neues ‘Ich bin‘“ 67 .<br />

Der Raum muss, um das Werk vollständig erfassen zu können, durchschritten,<br />

die Plastik umschritten werden. Dabei zeigt sich wie<strong>der</strong>um die vollendete<br />

Formensprache <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s, etwa wenn die Formung <strong>der</strong> Brüste<br />

bei <strong>der</strong> seitlichen Ansicht dieser <strong>Daphne</strong> im Wechselspiel mit <strong>der</strong> konkaven<br />

Biegung <strong>der</strong> Wirbelsäule erblickt wird.<br />

64<br />

Berthold Hinz, aaO, Seite 32.<br />

65<br />

aaO, Seite 32.<br />

66<br />

Gottfried Lindemann, aaO,<br />

Seite 11<br />

67<br />

Werner Fuchs in Werner Knopp<br />

(Hg.), Spiegelungen, Mainz 1986,<br />

Die Eroberung <strong>der</strong> Freiheit in <strong>der</strong><br />

griechischen Kunst, Seite 2<br />

91


92<br />

68<br />

Klaus Kowalski, Stundenblätter<br />

Plastik, Stuttgart 1985, Seite 22f.<br />

69<br />

Berthold Hinz, aaO, Seite 30.<br />

70<br />

aaO, Seite 30.<br />

71<br />

Umberto Eco (Hg.), Die Geschichte<br />

<strong>der</strong> Schönheit, München<br />

2006, Seite 45.<br />

72<br />

aaO, Seite 45.<br />

Exkurs: Mimesis<br />

Der „mimetische Grundzug <strong>der</strong> griechischen Plastik, das heißt ihr<br />

Bestreben, den Menschen möglichst vollkommen abzubilden, ist bis<br />

heute Leitbild des ‘schönen Menschen‘ geblieben“ 68 .<br />

Die Schönheit des weiblichen Körpers von <strong>Daphne</strong> ?VI!, ablesbar „im vollendeten<br />

Ausgleich <strong>der</strong> gegensätzlichen Spannungen des Körpers“ 69<br />

hat sie mit klassischer, griechischer Plastik gemein, damit aber ebenso „die<br />

Harmonie <strong>der</strong> Seele“ 70 . Und diese Schönheit, „das Ideal <strong>der</strong> kalókagathia<br />

also“ 71 , tritt, wie eben hier „am besten in statischen Formen<br />

zutage in denen noch ein Überrest von Handlung o<strong>der</strong> Bewegung in<br />

Gleichgewicht und Ruhe übergeht“ 72 .<br />

Dass aber diese Schönheit nicht losgelöst von Körperlichkeit, Sinnlichkeit<br />

sein kann, ist augenfällig. Natürlich (und das ist natürlich!) zeigt <strong>Dietrich</strong><br />

<strong>Klinge</strong>s <strong>Daphne</strong> eine erotische Spannung und Aufladung. Nicht nur an den<br />

im Vergleich zu allen an<strong>der</strong>en Körperpartien glatt und glatter werdenden<br />

Brüsten bis hin zu ihren Spitzen, ist dies an Form und Oberfläche <strong>der</strong> Brüste<br />

offenbar geworden. Auch <strong>der</strong> von <strong>der</strong> Maske nicht verdeckte, volllippige,<br />

sanft geschwungene Mund spricht eben diese Sprache.<br />

Das bis auf die schlanken Hüften herabgesunkene Gewand, <strong>der</strong> Rock, umgeben<br />

von seinem hölzernen Ring aus Ästen, <strong>der</strong> wie eine Wulst aus feinen<br />

Stoffen wirkt, will dem Unterleib durchaus die Möglichkeit bieten – ohne<br />

Scham, jedoch keinesfalls schamlos – sich seiner ganz zu entledigen.<br />

Die Maske aber würde diese <strong>Daphne</strong> niemals ablegen. Es ist keine Maske,<br />

die dämonisiert, die wie eine Aufrüstung im Kampf <strong>der</strong> Geschlechter wirken<br />

soll. Diese Maske ist vieles in Einem: Sie ist eine Bekrönung <strong>der</strong> Figur, sie<br />

lässt <strong>Daphne</strong> wie eine geheimnisvolle Königin, gekrönt mit den Insignien<br />

ihrer Herkunft aus <strong>der</strong> Harmonie von Natur und mit Natur erscheinen. Es<br />

ist keine Dornenkrone, die Schmerz verheißt, son<strong>der</strong>n eine Rindenkrone,<br />

die Kraft und Stärke physisch und psychisch symbolisiert. Sie ist zugleich<br />

Schutz vor ungewollter Zudringlichkeit. Und dies hat sie wie<strong>der</strong>um mit <strong>der</strong><br />

mythologischen <strong>Daphne</strong> gemeinsam. Der menschliche Kopf, genauer das<br />

menschliche Antlitz, ist nicht nur unter <strong>der</strong> Maske verschwunden, es ist<br />

vergangen. Bei <strong>der</strong> Entstehung dieser <strong>Daphne</strong>, das können wir auf Abb. 6<br />

sehen, trägt <strong>der</strong> Kopf noch zwei Ohren, eine Nase war im Werden und Augen<br />

bzw. Brauen waren angedeutet. Das ist in <strong>der</strong> vollendeten Figur an<strong>der</strong>s,<br />

bemerkenswert an<strong>der</strong>s! Das linke Ohr ist unter <strong>der</strong> rindigen Behelmung verborgen,<br />

ist möglicherweise gar nicht mehr vorhanden. Um das rechte Ohr ist<br />

<strong>der</strong> Rindenhelm ausgespart, als wenn <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> damit die beson<strong>der</strong>e<br />

Bedeutung des Hörens, des noch mit einem Ohr Hören-Könnens, hervorhe-


en wollte. Dort, wo Augen sind, ist Rinde, ist Maske. Wir wissen nicht, ob<br />

diese <strong>Daphne</strong> jemals Augen hatte o<strong>der</strong> noch hat. Ebenso könnte es mit <strong>der</strong><br />

Nase während des Arbeitens am Holz ergangen sein. Die Mitte des Kopfes,<br />

dort wo sich <strong>der</strong> Nasenrücken und die Spitze <strong>der</strong> Nase im menschlichen Gesicht<br />

befindet, ist allerdings flach mit Rinde bedeckt, keinerlei Erhebung ist<br />

sichtbar. Das spricht dafür, dass sich diese Gesichtsteile Augen und Nase in<br />

Holz, in Rinde, in Maske verwandelt haben. Und bei genauem Betrachten<br />

vermögen wir ein aus <strong>der</strong> Rinde nunmehr wachsendes, besser in die Rinde<br />

eingebettetes Gesicht zu erkennen.<br />

Und die Maske lässt den Blick zu auf die vollen, sinnlich geschwungenen<br />

Lippen dieser schönen Frau. Diese Lippen sind wohl wie eine Verheißung,<br />

wie ein erotisches Versprechen. Gleichwohl nicht gegenüber Je<strong>der</strong>mann!<br />

Diese Frau entzieht sich <strong>der</strong> Verfügbarkeit, <strong>der</strong> Beliebigkeit, <strong>der</strong> Unterwürfigkeit.<br />

Sie entzieht sich in ihre selbstgewählte Sphäre, in ihre Selbstbestimmung,<br />

in ihre hoheitliche Distanz – ohne sich zu beugen! Diese <strong>Daphne</strong> aber<br />

ist wie eine mythische Göttin schön, wie Aphrodite schön, wie die Aphrodite<br />

von Knidos des Praxiteles schön.<br />

Und deswegen sei, nicht hochfahrend, son<strong>der</strong>n in aller Bescheidenheit,<br />

vielleicht sogar – ein heutzutage schier unbekanntes Wort – in Demut die<br />

Homerische Hymne an Aphrodite zitiert:<br />

93<br />

Muse, sage mir die Werke <strong>der</strong><br />

goldenen Aphrodite / Herrin auf Kypros<br />

süßes Verlangen weckt sie den Göttern /<br />

überwältigt <strong>der</strong> sterblichen Menschen Geschlechter,<br />

die Vögel / hoch in den Lüften,<br />

die Scharen <strong>der</strong> Tiere, aller zusammen,<br />

mag sie das Festland,<br />

mag sie das Weltmeer zahllos ernähren:<br />

jedes buhlt um die Gnaden<br />

<strong>der</strong> schön gekränzten Kythera<br />

Homerische Hymnen V, An Aphrodite, 1-6 73<br />

Nachdem die Knidia im Altertum gewissermaßen „welt“-berühmt war, viele<br />

Kopien dieses Werkes entstanden waren, kam die Göttin Aphrodite <strong>der</strong><br />

Legende nach selbst nach Knidos, um ihr Abbild zu bestaunen, um dann<br />

verwun<strong>der</strong>t zu fragen: „Wo hat mich Praxiteles denn nackt gesehen?“<br />

73<br />

Zit. nach Anton Weiher (Hg.),<br />

Homerische Hymnen, München/<br />

Zürich 1989, Seite 93.


74<br />

Umberto Eco, aaO, Seite 37.<br />

75<br />

Erich Lessing, Philippe Sollers,<br />

Venus Grazie & Madonna, Evolution<br />

des Weiblichen in <strong>der</strong> Kunst,<br />

München 1994, Seite 143.<br />

Und das Orakel von Delphi antwortete auf die Frage, was Schönheit sei:<br />

„Das Richtige ist das Schönste!“ 74<br />

Ist es nicht an <strong>der</strong> Zeit, Bildwerke von Frauen, schöne Bildwerke von schönen<br />

Frauen in unserer Zeit zu schaffen? Dies klingt provokativ, eher nach<br />

Kitsch, denn nach Kunst. Jedoch im Griechenland des 5. Jahrhun<strong>der</strong>ts v.u.Z.<br />

entstanden die ersten und bald mehr und mehr Skulpturen von Frauen, von<br />

<strong>der</strong> Göttin <strong>der</strong> Liebe, Aphrodite, und zwar in einer Zeit „die vom Krieg verwüstet<br />

ist und in <strong>der</strong> die alten Werte zu verfallen beginnen“ 75<br />

Und leben wir Heutigen nicht in eben solchen Zeiten? Und muss nicht gegen<br />

den Ungeist dieser Zeiten, das Richtige, das körperlich und seelisch Schöne<br />

in all seiner Ambivalenz, in all seiner Verwundbarkeit, trotz all <strong>der</strong> vielen<br />

Möglichkeiten <strong>der</strong> Fehldeutung und des Missbrauchs wie<strong>der</strong> an Bedeutung<br />

gewinnen?<br />

Diese Skulptur <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s ist eine Antwort darauf. Und auf die Frage, die<br />

sich <strong>Klinge</strong> im Titel und mit dem Titel dieser Skulptur stellte „<strong>Daphne</strong>?“ mit<br />

einem Ausrufungszeichen beantwortet worden: Ja es ist eine <strong>Daphne</strong>, eine<br />

<strong>Daphne</strong> ganz eigener Art, ohne Vorbild. Eine Wegbereiterin!<br />

94<br />

<strong>Daphne</strong> ?VI!,<br />

2016, Bronze,<br />

H. 2,51 m, 6 Ex.


95


96<br />

Fig. 264 (<strong>Daphne</strong> VII)<br />

Eine fein, feinsinnige, zarte, zärtliche junge Frau ist <strong>Daphne</strong> VII. Nach <strong>der</strong><br />

mächtigen <strong>Daphne</strong> ?VI! in prangen<strong>der</strong>, selbstbewusster Schönheit ist es, als<br />

ob <strong>der</strong> Künstler einen Gegenpol suchte. Nein, nicht „Gegen“-Pol, jedoch einen<br />

an<strong>der</strong>en körperlichen und seelischen Ausdruck.<br />

Der Unterleib zwar wie<strong>der</strong>um aus dem Holz eines Baumes entstanden, jedoch<br />

umkleidet mit dünner und glatter Rinde. Der Torso des Oberkörpers, im<br />

Modell aus Wachs geformt, zeigt ebenfalls eine straffe Glätte. Und er sollte<br />

dem aufmerksamen Betrachter bekannt vorkommen: <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> hat den<br />

Leib <strong>der</strong> <strong>Daphne</strong> V, <strong>der</strong> hochmittelalterlichen Herrin und frouwe weitergegeben,<br />

weiterleben lassen. Die Stellung des Halses hat sich verän<strong>der</strong>t, aus<br />

dem schier demutsvollen Neigen, wird ein freimütig und stolz aufgerichteter<br />

Nacken und Hals, <strong>der</strong> den ebenso in jugendlicher Unbekümmertheit und<br />

Freiheit sich zeigenden Kopf trägt.<br />

Der Verwandlungsansatz dieser <strong>Daphne</strong> ist wie<strong>der</strong>um neu und an<strong>der</strong>s. Das,<br />

was sich selbst verän<strong>der</strong>nd, aus dem Kopf wächst, dient nicht zum Schutz,<br />

zeigt keine Abwehr. Es ist wie ein frühlingshaftes, ahnungsvolles Erwachen<br />

einer jungen Frau, die ihr Leben, ein volles, freudiges Leben vor sich hat, es<br />

bewältigen will und kann.<br />

Und doch lässt <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> sich und dieser <strong>Daphne</strong> VII alle Möglichkeiten<br />

ihres Wachsens und Werdens offen. Wir wissen nicht, welches Wesen aus<br />

diesen frischen und weltbejahenden, weltzugewandten Attributen entstehen<br />

wird. Wird es doch gewaltig wie <strong>Daphne</strong> ?VI! o<strong>der</strong> bleibt es ätherisch,<br />

zukunftsverheißend auch und dennoch im Alter? Diese Figur des Frühlings<br />

trägt die Antwort in sich verborgen und geborgen.<br />

Fig.364 (<strong>Daphne</strong> VII),<br />

2016, Bronze, H. 43 cm, 9 Ex.


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<strong>Daphne</strong> VIII<br />

Die rätselhafteste und zugleich poetischste <strong>der</strong> <strong>Daphne</strong>n ist allein und wird<br />

alleine bleiben. Zunächst durch die Entscheidung des Künstlers, das Modell<br />

aus Stamm und Gezweig nur ein einziges Mal in Bronze zu transformieren.<br />

Es werden keine weiteren Bronzegüsse entstehen, die ihr gleichen. Ihre Botschaft<br />

kann und muss <strong>Daphne</strong> VIII alleine tragen.<br />

Alle an<strong>der</strong>en Großplastiken aus dem <strong>Daphne</strong>-Werkzyklus des Künstlers<br />

scheinen wirkmächtiger, größer als Erscheinung mit einem festeren Stand in<br />

<strong>der</strong> Welt. Sie scheinen so, denn <strong>Daphne</strong> VIII lebt in einer ganz an<strong>der</strong>en Welt.<br />

Verse, Worte aus dem ‘Abendlied‘ von Matthias Claudius (1740 – 1815) klingen<br />

bei ihrer Erscheinung auf. <strong>Daphne</strong> VIII: Steht sie nicht am Saum eines<br />

schwarz schweigenden Waldes und zu ihren Füßen schwebt seidenweißer<br />

Nebel aus taufeuchten Wiesen? Es ist eine stille Welt, in <strong>der</strong> sie ohne Bewegung,<br />

jedoch weich und fließend, steht. Und <strong>Daphne</strong> VIII sieht „manche Sachen,<br />

die wir getrost belachen, weil unsere Augen sie nicht sehen.“ 76<br />

Und man ist versucht (und erliegt auch <strong>der</strong> Versuchung) diese lyrische <strong>Daphne</strong><br />

mit Dichterworten zu erspüren, zu beschreiben. <strong>Daphne</strong> VIII verströmt<br />

keine Tristesse, bejammert nicht ihr einsames Schicksal. Für sie gelten wohl<br />

die Worte von Rose Auslän<strong>der</strong> (1901 – 1988) im Beson<strong>der</strong>en:<br />

du wirst verlieren<br />

Menschen und Schlaf<br />

wirst reden mit geschlossenen Lippen<br />

zu fremden Lippen<br />

Lieben wird dich<br />

die Einsamkeit<br />

wird dich umarmen 77<br />

Aber auch den Nachhall feiner zwischenmenschlicher Beziehungen zeigt<br />

diese Skulptur <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s, wie Wolf Wondratschek (1943) leicht und tief<br />

zugleich schreibt:<br />

Die Wärme einer Hand<br />

<strong>der</strong> Klang einer Berührung<br />

Aufenthalt im Gedächtnis<br />

des Glückes<br />

Erinnerung schwebt über ihr, jedoch kein Wollen, kein Müssen, ihre Einsamkeit<br />

zu beenden. Diese <strong>Daphne</strong> muss kein Gegenüber haben. Doch wer o<strong>der</strong><br />

was ist <strong>Daphne</strong> VIII?<br />

<strong>Daphne</strong> VIII,<br />

H. 2,60 m, Unikat<br />

76<br />

Matthias Claudius, Abendlied,<br />

Strophe 3, Verse 4-6.<br />

77<br />

Rose Auslän<strong>der</strong>, Einsamkeit,<br />

Verse 5-11.<br />

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104<br />

<strong>Daphne</strong> VIII,<br />

H. 2,60 m, Unikat<br />

Der Torso einer formvollendeten Frau steht vor uns. Eine Frau ohne Arme<br />

und Hände, die nicht berühren, nicht halten kann, aber auch nicht will.<br />

Merkwürdigerweise steht <strong>der</strong> so kompakt wirkende Leib auf zwei Keilen, die<br />

wohl aus Gründen <strong>der</strong> Stabilität unter dem Stammabschnitt des Unterleibs,<br />

wie ein Paar Füße geschoben sind. Eigenartig schroff auch <strong>der</strong> Hals, <strong>der</strong> in<br />

starkem Kontrast zur weichen, fließenden Form <strong>der</strong> Brüste steht. Wie ein<br />

trapezförmiger Block sitzt er auf den flach geschnittenen Schultern. Die<br />

Halspartie setzt sich jedoch nicht weiter fort. Dem Hals ist kein Kopf aufgesetzt.<br />

Ein Etwas, etwas Kopfähnliches schwebt zwei Finger breit ohne<br />

Verbindung mit dem Hals über ihm. Fest verbunden damit, eingezapft, eingepflockt<br />

ist ein Astgewirr, die Krone eines Obstgehölzes, eines Apfelbäumchens,<br />

dessen Stamm nunmehr durch den Leib dieser <strong>Daphne</strong> ersetzt wurde.<br />

Beschnittenes, gepflegtes Nutzholz, das zwingend weichen, gefällt werden<br />

musste, findet zu neuem Dasein. Jetzt hat sich die Krone des Baumes zur<br />

Bekrönung einer Frau, eines rätselhaften Wesens, gewandelt, das die Anmutung<br />

eines Geweihs einer animalischen Göttin trägt o<strong>der</strong> im Entsetzen<br />

zu Berge stehendes Haarwerk, gar gorgonenhaft? Doch das Antlitz spricht<br />

an<strong>der</strong>es. Die Gesichtszüge sind ohne jegliche Angriffslust, ruhig, gelassen,<br />

besonnen. Es ist keine scharf geschnittene ziselierte Mimik, wie etwa bei ihrer<br />

Nachfolgerin, mit demselben Leib, <strong>Daphne</strong> IX zu sehen. Nase und Mund<br />

sind nicht <strong>der</strong>b, aber ebenso wenig fein. Die Augen unter den Brauenschwingen<br />

sind wie in tiefer Versenkung geschlossen. Die Li<strong>der</strong> sanft aufeinan<strong>der</strong><br />

gelegt. Aber ist es ein Kopf? Doch wohin gehörig, zu welchem Körper? O<strong>der</strong><br />

ist es eine Maske, aber für welche Trägerin?<br />

Für die Eigenschaft als Maske spricht die Halbierung des Kopfes, noch vor<br />

dem Ansatz <strong>der</strong> Ohren. Dafür spricht die Körperlosigkeit, spricht <strong>der</strong> Anschein,<br />

als wolle sich hinter diesem Gesicht ein Wesen verbergen, verhüllen,<br />

entschwinden.<br />

Jedoch würde diese Maske diesem Lebewesen keinen Augenblick, keinen<br />

Blick <strong>der</strong> Augen in seine Welt gestatten, denn die Augen dieser Maske sind<br />

verschlossen. Der wesentlichste Grund einer Maske wäre unerfüllbar: Zu sehen<br />

und nicht gesehen zu werden.<br />

Der Kopf, <strong>der</strong> halbe Kopf, aber, welchem Hals war er verbunden? Zweifelsfrei<br />

entwuchs dem kantigen Hals zuerst das Astwerk, denn die Rückseite des<br />

Kopfes ist dort, wo ein Ast sich streckt wie um ihn herum gewachsen, gewuchert<br />

als wäre er, <strong>der</strong> halbe Kopf ein Lebewesen eigener Art, <strong>der</strong> doch mit<br />

dem ihn beherbergenden Astwerk wie<strong>der</strong>um keine lebendige Verbindung<br />

hat.


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108<br />

78<br />

Paul Celan, (1920 – 1970), Niedrigwasser,<br />

Strophe 3, Verse 4-6<br />

79<br />

Paul Celan, (1920 – 1970),<br />

Schliere, Strophe 4, Vers 3<br />

Eindeutigkeit, ein Ausschluss an<strong>der</strong>er Möglichkeiten, ist nicht das, was <strong>der</strong><br />

Künstler wollte. Gerade die Zweideutigkeit des Gesichts, des Kopfes o<strong>der</strong><br />

doch <strong>der</strong> Maske(?), lebend o<strong>der</strong> tot, ist es, was <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> als offene,<br />

nicht beantwortbare Frage stellen will und stellt.<br />

Vielleicht, wer weiß, ist es die Maske, die einem Lebenden o<strong>der</strong> einem Toten,<br />

diesem als letzte Erinnerung an sein Leben, abgenommen wurde. Und ist so<br />

notwendigerweise beides, eine Maske, die zugleich ihren Träger abbildet,<br />

ja beinhaltet. <strong>Daphne</strong> VIII wirkt auf starke Weise geschlossen, verschlossen<br />

und ist doch ein offenes Konstrukt, eine Konstruktion. Alles wirkt flüchtig,<br />

brüchig, nur für einen Augenblick gemacht, aus Fundstücken improvisierend<br />

zusammengesteckt, mit Keilen vor dem Schiefstand bewahrt. We<strong>der</strong><br />

Baum, noch Figur, we<strong>der</strong> Maske, noch Kopf, we<strong>der</strong> lebend, noch tot.<br />

Sie hat nichts mit den <strong>Daphne</strong>s aus <strong>der</strong> Werkstatt Wenzel Jamnitzers<br />

(1507 – 1585) gemeinsam, denen aus den edlen Köpfen, rote Korallenbäume<br />

entwachsen. Diese <strong>Daphne</strong> präsentiert sich nicht. Sie lebt nicht entzogen,<br />

son<strong>der</strong>n entrückt in ihrem eigenen Land, das ihr Schutz und Schirm gewährt,<br />

als Königin, als Herrscherin. Mutterseelenallein! Sie, die unberührt ist und<br />

sein wird, alterslos in bleiben<strong>der</strong> Unschuld. Und sie bewahrt sich ihre<br />

Reinheit durch die (vielleicht nur auf ihrer geistigen Ebene) stattgefundene<br />

Verwandlung. In ihre Welt kann und wird kein an<strong>der</strong>es Wesen eindringen.<br />

<strong>Daphne</strong> VIII ist wie „ein kleines unbefahrbares Schweigen“ 78 , wie „ein<br />

durchs Dunkel getragenes Zeichen“ 79 .<br />

<strong>Daphne</strong> VIII,<br />

H. 2,60 m, Unikat


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<strong>Daphne</strong> IX<br />

Königlich, über jeden Zweifel, auch jeden eigenen Zweifel erhaben, steht<br />

<strong>Daphne</strong> IX, wie aus einem Guss. Sicherlich <strong>der</strong> Bronzeguss des Holzmodells<br />

fügte die Teile ihres Körpers, <strong>der</strong> Unterleib aus Hainbuche, die Büste aus<br />

Kirsche und <strong>der</strong> Kopf aus Linde, in einem Material und im Wortsinne nahtlos<br />

zusammen. Doch sind diese Teile ihres Körpers für einan<strong>der</strong> bestimmt,<br />

aufeinan<strong>der</strong> abgestimmt? Daran kann es doch ebenso wenig Zweifel, nicht<br />

den leisteten Zweifel, geben, wie an ihrer edlen Herkunft: Eine erdverbundene,<br />

eine erdgebundene Göttin, eine Chtonia, wie Ceres und Persephone!<br />

Und doch ist dieser ganz auf sie und ihre Ausstrahlung ein- und ausgerichtete<br />

Körper zwar keine Leihgabe, wohl aber ein Geschenk ihrer Schwester<br />

<strong>Daphne</strong> VIII! Und es ist tatsächlich, bis auf die notwendigen und wenigen<br />

Verän<strong>der</strong>ungen im Schulter- und Halsbereich <strong>der</strong> identische Körper!<br />

<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> gelingt ein so nie gesehener – im positiven Sinne des Wortes<br />

– Kunstgriff. Denn <strong>Daphne</strong> VIII wirkt in ihrer Konstruktion nicht nur leicht,<br />

vergänglich, son<strong>der</strong>n sie ist ätherisch, nicht ein Wesen von dieser Welt. Und<br />

ihr Körper unterstreicht dies in großer Selbstverständlichkeit, schwebt mit<br />

in <strong>der</strong> Aura, die von dem Maskengesicht im Baum und dem Baum ausgeht.<br />

Mit eben dieser Selbstverständlichkeit, also <strong>der</strong>selben Selbstverständlichkeit,<br />

die mit dem Körper, wie weitergegeben wirkt, steht nun die chtonische<br />

Göttin unverrückbar, unangreifbar da. Eine Verwandlung ein und desselben<br />

Körpers in <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Verwandlungen <strong>der</strong> <strong>Daphne</strong>! Ohne sich verwandelt<br />

zu haben! Es scheinen demzufolge durch die Hand des Künstlers<br />

Möglichkeiten, sowohl in den Köpfen, als auch – wie hier – in den Körpern<br />

<strong>der</strong> Skulpturen angelegt zu sein, Spuren gelegt worden zu sein, die in völlig<br />

entgegengesetzten Richtungen materialisieren können, wie Luft und Erde:<br />

<strong>Daphne</strong> VIII und <strong>Daphne</strong> IX!<br />

Der Leib von <strong>Daphne</strong> IX wirkt mit seinen drei Teilen wie eine Säulenordnung<br />

bei barocken Bauten übereinan<strong>der</strong>gestellt, geschichtet, als wäre <strong>der</strong>, die Beine<br />

und Füße bedeckende Rock, ein dorisches, <strong>der</strong> Oberkörper ein ionisches<br />

und das fein geschnittene Gesicht ein korinthisches Element.<br />

Der Kopf in seiner länglichen Form, fest in aufgestellter Qua<strong>der</strong>form auf die<br />

Schultern gesetzt, musste so und nicht an<strong>der</strong>s als zwingende Schlussfolgerung<br />

aus dem Aufbau des Körpers geschaffen werden.<br />

Die nicht vorhandenen Arme und Hände könnten, wie<strong>der</strong>um als eine Möglichkeit,<br />

was bei <strong>Daphne</strong> VIII undenkbar wäre im Segnungsgestus, die Oberarme<br />

horizontal, die Unterarme vertikal, einen rechten Winkel zueinan<strong>der</strong><br />

bildend, hinzugedacht, besser hinzugefühlt werden, zu dieser herrschaftlichfraulichen<br />

Erdgöttin 80 .<br />

<strong>Daphne</strong> IX,<br />

2016, Bronze,<br />

H. 1,96 m, 6 Ex.<br />

80<br />

Ein anekdotisches Erlebnis<br />

kann und darf hier nicht verschwiegen<br />

werden: Im Gespräch<br />

mit <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> über <strong>Daphne</strong><br />

IX, ihre Anmutung, ihren Charakter,<br />

fiel das Wort ‘Napfsülze‘,<br />

das ausschließlich im Wortschatz<br />

des Künstlers vorhanden ist. Damit<br />

beschrieb er das Gegenteil<br />

und den Gegensatz zu <strong>Daphne</strong><br />

IX. ‘Napfsülze‘ bezeichnet eine<br />

dumpfe Frau!<br />

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Kopf 252 (<strong>Daphne</strong>)<br />

Der Kopf einer Kriegerin, einer <strong>Daphne</strong>-Amazone, einer „männergleichen“<br />

Frau, so scheint es, blickt uns an. Auf einem festen, kantigen Hals, sitzt ein<br />

Kopf, <strong>der</strong> den Strunk eines verrotteten Baumes stolz wie einen Paradehelm<br />

trägt. Das Antlitz ist klar geglie<strong>der</strong>t, <strong>der</strong> Blick unter den augenlosen Brauen<br />

– <strong>der</strong> dennoch ein Blick ist – furchtlos und offen. Der Mund ausdrucksstark<br />

und kraftvoll. Die Plinthe ist zugleich Teil des Oberkörpers, <strong>der</strong> Schulter.<br />

Deshalb mutet <strong>der</strong> gesockelte Kopf wie eine Büste an. Es ist die Darstellung<br />

einer <strong>Daphne</strong>, die sich keineswegs flehentlich verwandeln will o<strong>der</strong><br />

gar muss. Es ist eine <strong>Daphne</strong>, die ihrem Verfolger die Stirn bietet. Sie wird<br />

nicht gejagt. Sie stellt sich zum Kampf, tritt dem lüsternen Apollon gegenüber,<br />

zeigt dass es keinen Unterschied <strong>der</strong> Werte von Mann zu Frau, von<br />

Frau zu Mann gibt und geben kann. Sie ist eben nicht wie eine Amazone<br />

<strong>der</strong> Griechischen Mythologie „gleich wie ein Mann“, sie ist „gleich wie<br />

eine Frau“, ist eine Frau. Sie zeigt, das bedarf sie nicht, keine Attribute von<br />

Gleichberechtigung, denn sie kommt nicht aus einer schwächeren o<strong>der</strong> gar<br />

schwachen Position zum Kampf und benötigt gleiche Rechte, die sie erringen,<br />

erzwingen will. Sie hat – und zwar von jeher – das gleiche Recht als Frau<br />

wie Mann, wie Frau und Mann. Und dass sie vorsorglich mit Doppelaxt und<br />

halbmondförmigem Schild bewaffnet ist, soll ebenso ihr gutes Recht sein,<br />

wie auch das <strong>der</strong> zu Kopf 252 (<strong>Daphne</strong>) hinzugedachten weiblichen Person.<br />

<strong>Daphne</strong> ?VI!,<br />

2016, Bronze,<br />

H. 2,51 m, 6 Ex.<br />

Kopf 252 (<strong>Daphne</strong>)<br />

2016, Bronze,<br />

H. 82 cm, 6 Ex.<br />

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Kopf 253 (<strong>Daphne</strong>)<br />

Ein Kopf, ein Antlitz, geboren aus unserer Zeit, geboren in unsere Zeit. Das<br />

schale, schal gewordene Wort „mo<strong>der</strong>n“ passt nicht zu diesem Werk, will<br />

auch nicht passen. Mo<strong>der</strong>ne zu definieren, das war <strong>der</strong> „Versuch, das<br />

Gegenwärtige, zeitgemäße Relevante <strong>der</strong> eigenen Zeit zu identifizieren“<br />

81 . Mo<strong>der</strong>ne „das ist ein solch flexibler Begriff, von Zeitgenossen<br />

und Nachgeborenen immer an<strong>der</strong>s ausgelegt und von je<strong>der</strong><br />

Generation zeitlich wie<strong>der</strong> neu angesiedelt..,“ 82 . Jedoch hat sich dieser<br />

Begriff <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne „weit zurückgezogen und dem Eintritt in die Postmo<strong>der</strong>ne<br />

Platz gemacht“ 83 .<br />

Kopf 253 (<strong>Daphne</strong>) ist nun alles an<strong>der</strong>e als beliebig und effektheischend,<br />

alles an<strong>der</strong>e als um Applaus bettelnd, alles an<strong>der</strong>e als gefällig geglättet,<br />

alles an<strong>der</strong>e als <strong>der</strong> wohl abgestimmten Dekoration eines gehobenen Lebensstils<br />

dienend.<br />

Dieser Kopf for<strong>der</strong>t heraus, er for<strong>der</strong>t das Zwiegespräch mit dem Betrachter<br />

heraus und dies in aller Demut und Bescheidenheit, gleichwohl in vollem<br />

Bewusstsein seiner Schönheit, ja Erhabenheit.<br />

Entstanden, geboren, besser noch wie<strong>der</strong>geboren wurde er aus früheren<br />

Werken <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s.<br />

<strong>Daphne</strong> II Kore trägt ihr bronzenes Haupt stolz und aufrecht. Das hölzerne<br />

gab sie weiter in den Schöpfungswerdegang <strong>der</strong> Werke des Künstlers.<br />

Die Büste <strong>der</strong> <strong>Daphne</strong> II trägt die identische Form, jedoch mit einer Patinierung,<br />

die an farbliche Verschönerung und Betonung fraulichen Zu-rechtmachens,<br />

das eben das Rechte tun, das Rechte machen in sich trägt. Der<br />

Kopf 248 (<strong>Daphne</strong>-Kore) zeigt wie<strong>der</strong>um diese Farbigkeit. Das Gesicht aber<br />

hat sich verän<strong>der</strong>t, verfeinert. Die vordem verletzte Nase ist nahezu geheilt,<br />

die Brauenbögen schwingen erstmals harmonisch, ohne Störung, ohne Zerstörung<br />

und die Lippen des lächelnden Mundes sind voller.<br />

Dies ist den tastenden, behutsamen Eingriffen des Künstlers geschuldet,<br />

<strong>der</strong> diese treffenden, den gewollten neuen Ausdruck des neuen Gesichts<br />

sicher treffenden Verän<strong>der</strong>ungen am ursprünglich zu <strong>Daphne</strong> II Kore gehörenden<br />

Kopf vornahm.<br />

Damit aber war die Verwandlung dieses Kopfes nicht beendet, wie auch die<br />

Verwandlung von <strong>Daphne</strong>, die wie in einer weiteren Ebene stattfindet, erlebt<br />

und gesehen werden kann.<br />

Der offensichtliche Schmerz auf dem auch ebenso offenen Antlitz <strong>der</strong><br />

<strong>Daphne</strong>-Kore ist nunmehr, so scheint es zunächst, einem inneren Frieden<br />

gewichen. Das Holz des Modells also, des Kopfes von <strong>Daphne</strong> II, <strong>der</strong> Büste<br />

von <strong>Daphne</strong> II und des Kopfes 248 (<strong>Daphne</strong>-Kore) wurde ein nächstes und<br />

Kopf 253 (<strong>Daphne</strong>)<br />

2016, Bronze,<br />

H. 66 cm, 6 Ex.<br />

81<br />

Roger Willemsen, Wer wir waren,<br />

Zukunftsrede, Frankfurt/<br />

Main 2016, Seite 17.<br />

82<br />

Florian Illies, aaO, Seite 76.<br />

83<br />

Roger Willemsen, aaO, Seite 18.<br />

129


130<br />

Gandhara Köpfe<br />

Musée Guimet Paris<br />

letztes Mal durch die Hand des Künstlers in <strong>der</strong> Tiefe des Ausdrucks verän<strong>der</strong>t.<br />

Erkennbar tiefe Abtragungen sind vorgenommen worden, <strong>der</strong> Kopf<br />

dadurch verkleinert. Die hölzerne Hautoberfläche ist geglättet, die Nase<br />

gänzlich geheilt und die Brauen wölben sich nun vollständig über den sanft<br />

geschlossenen Augen. Gleichsam eine Konzentrierung <strong>der</strong> in den Vorgängerköpfen<br />

angelegten Möglichkeiten fand statt.<br />

<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> hat etwas, wie es Michelangelo über die Steine, aus denen<br />

er Skulpturen freilegte, gesagt hat, was bereits im Holz vorhanden war, als<br />

zu findende Gestaltung, aus dem Holz befreit, an die Oberfläche geholt. Das<br />

Antlitz des Kopfes zeigt tiefe innere Versenkung, ein Bei-sich-Sein. Und ist<br />

damit, weil bei sich, nicht bei uns. Diese <strong>Daphne</strong> entzieht sich. Nicht dem<br />

Verfolger Apollon. Der spielt keine, nicht einmal untergeordnete, gar unterwürfige<br />

Rolle. Nein, sie benötigt eben keine Hilfe von außen, sie ruht innen.<br />

Und entzieht sich, jedoch ohne entrückt zu sein, in an<strong>der</strong>e Sphären. Kopf<br />

253 (<strong>Daphne</strong>) ist in seinem ganz eigenen Hier und Jetzt, scheint gar zu atmen.<br />

So lebendig ist ihre Stille. Wie bekrönt ist sie. Nicht mit einer maskenhaften<br />

Rindenkrone wie <strong>Daphne</strong> ?VI!, nicht wie Kopf 252 (<strong>Daphne</strong>), den <strong>der</strong> Kriegshelm<br />

krönend ziert, son<strong>der</strong>n mit Holzteilen, die ihre Vergangenheit und damit<br />

auch ihre Vergänglichkeit und die <strong>der</strong> <strong>Daphne</strong> gleichermaßen, zeigen.<br />

Ehedem Wurzeln, die unter <strong>der</strong> Erde im Dunkel <strong>der</strong> Unterwelt, dem Baum<br />

Sicherheit gaben, die Sicherheit aufrecht stehen zu können und Nahrung<br />

gaben, Nahrung, um sein zu können! <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong> zeigt nun Wurzeln, die<br />

ihre althochdeutsche Wortherkunft von „wurzala“, das ist das Gewundene,<br />

bildlich rechtfertigen.<br />

Durch lange Zeiten, Wind und Wetter ausgesetzt, haben sie bis auf ihren<br />

„harten Kern“ alles verloren, sind verrottet, sind zurückgeworfen auf das<br />

letzte, das von ihnen vor völliger Auflösung verbleibt.<br />

Diese Zeichen <strong>der</strong> Vergänglichkeit wandeln sich aber bei Kopf 253 (<strong>Daphne</strong>)<br />

zu etwas Lebendem, einem Gefüge, das wie organisch Gewachsenes, Haare<br />

etwa, eine Frisur, eine Frisurenkrone bildend, zum Kopf gehört.<br />

Und, dass dieser ausgewogene, schöne Kopf an die Kunst <strong>der</strong> Khmer und<br />

noch vielmehr an die Werke aus Gandhara, erinnert ist so, wenn auch vom<br />

Künstler nicht gewollt, nicht wissentlich herbeigeführt.<br />

Wenn in an<strong>der</strong>en <strong>Daphne</strong>-Darstellungen <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s Seelenverwandtschaften<br />

mit griechischer archaischer und klassischer Kunst, mit römischer<br />

Kunst, mit <strong>der</strong> Kunst des hohen Mittelalters aufscheinen und in einer ganz<br />

eigenen und neuen Formensprache sichtbar werden, so muss ein Hinweis<br />

auf den beson<strong>der</strong>en und ausgeprägten Gandhara-Stil erlaubt sein. Denn<br />

dieser Stil schuf in einzigartiger Weise Eigenständiges aus den Wurzeln <strong>der</strong>


Kopf 253 (<strong>Daphne</strong>)<br />

2016, Bronze,<br />

H. 66 cm, 6 Ex.<br />

131<br />

indischen und hellenistischen Kultur, ja Kulturen, und verschmolz sie in<br />

wechselvoller Geschichte nach Alexan<strong>der</strong> dem Großen mit den Kulturen <strong>der</strong><br />

Perserreiche. Und dieser Kopf unserer Zeit zeigt, wie zeitlos Kunst sein kann<br />

und ist, wenn Innen und Außen in tiefer Übereinstimmung miteinan<strong>der</strong><br />

verbunden sind.<br />

Robert Musil schreibt über Diotima, die begehrte Schönheit, eine Frau voller<br />

Eigenschaften:<br />

Und etwas stand offen: Es war wohl die Zukunft, jedenfalls waren<br />

es aber ein wenig auch ihre Lippen. 84<br />

83<br />

zit. nach Florian Illies, aaO,<br />

Seite 306.


Fig. 365, Fig. 367 (<strong>Daphne</strong> X)<br />

Kennen wir sie nicht, die Gestalten, die Figuren von Figur 365 und jener von<br />

367? Freilich: Der Körper von Figur 365 ist entliehen von <strong>der</strong> feinsinnigen<br />

<strong>Daphne</strong> VII. Und Figur 367 erschien mit Ober- und Unterleib in <strong>Daphne</strong> V.<br />

Und die Körper, die mit ihren früheren Köpfen so in Einklang standen, die<br />

Gefühle, die sich in ihren Gesichtern wi<strong>der</strong>spiegelten, in corpore wie<strong>der</strong>holten,<br />

sprechen in diesen Figuren eine völlig neue Sprache.<br />

Auf den ersten Blick meint <strong>der</strong> Betrachter, die sich in den Baum verwandelnde<br />

<strong>Daphne</strong> zu sehen. Doch die Äste sind seltsam geglättet, wirken als ob sie<br />

Tentakeln gleich, suchend in Bewegung wären. Gierige, animalische Fangarme,<br />

die ihren Körpern eine so an<strong>der</strong>e Anmutung geben. Die Köpfe amorph,<br />

allenfalls die vage Andeutung von Gesichtern. Ist es gar die versteckte Ankündigung<br />

einer Darstellung <strong>der</strong> Medusa, eine <strong>der</strong> Gorgonen, die wun<strong>der</strong>schön,<br />

so die Sage, gewesen war? Auch sie wurde verwandelt durch eine<br />

Göttin, Pallas Athene, die sie zum Ungeheuer mit Schlangenhaaren machte.<br />

Die „Haare“ <strong>der</strong> <strong>Klinge</strong>schen Figuren waren keine Schlangen, son<strong>der</strong>n mit<br />

einer feinen Wachsschicht überzogene Fenchelwurzeln!<br />

132<br />

Fig. 365 (<strong>Daphne</strong> X)<br />

2016, Bronze, H. 55,7 cm, Unikat<br />

Fig. 367 (<strong>Daphne</strong> X)<br />

2016, Bronze, H. 54,5 cm, Unikat


133


134


135


85<br />

Bibel, Psalm 90, Vers 6.<br />

86<br />

Goethe, Selige Sehnsucht,<br />

Strophe 5, Vers 2.<br />

Schlusswort<br />

Und ist nicht in jedem Leben, ist nicht jedes Leben unaufhörliche Wandlung,<br />

Verwandlung?<br />

Nicht nur so auffällige, augenfällige Verwandlung, wie die <strong>der</strong> plumpen Raupe<br />

zum flatternden, schwebenden Schmetterling o<strong>der</strong> eben die Verwandlung<br />

<strong>der</strong> <strong>Daphne</strong> von Fleisch zu Holz, son<strong>der</strong>n die vom Nicht-Sein zum Kind im<br />

Mutterleib, zum Neugeborenen, vom Säugling zum Erwachsenen, Greis und<br />

Leichnam und schließlich Nicht-Sein.<br />

Es ist eine Ferne, die war, von <strong>der</strong> wir kommen und es ist eine Ferne, die sein<br />

wird, zu <strong>der</strong> wir gehen, sagt Goethe. Der Mensch „ein Gras, das da frühe<br />

blüht und doch bald welk wird“ 85 .<br />

Deshalb aber ist <strong>der</strong> <strong>Daphne</strong>-Zyklus keineswegs nur Beschäftigung mit einer<br />

mythologischen Verwandlung <strong>der</strong> griechischen Nymphe <strong>Daphne</strong> in einen<br />

Lorbeerbaum, auch nicht die Deklination ihrer Verwandlungsmöglichkeiten<br />

o<strong>der</strong> die Darstellung des gedanklichen und gestalterischen Potentials des<br />

Künstlers <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>, son<strong>der</strong>n ein tiefes künstlerisches Nachsinnen über<br />

den Urgrund allen Seins über das ‘stirb und werde‘ 86 den ewigen Zwang zum<br />

Wandel. Und hinter allem steht <strong>der</strong> verwundbare und verwundete Mensch.<br />

136<br />

Nachwort<br />

Mit wenig mehr als zwei Jahrzehnten Lebens schreibt (nein, er schreibt nicht<br />

auf Papier, er kratzt es in Felsgestein, brennt es in hölzerne Bohlen, schweißt<br />

es auf kaltes Eisen) Georg Büchner (1813-1837) am Ende seines Woyzeck im<br />

achten Kapitel eine schaurig-poetische Geschichte, die die Großmutter den<br />

Kin<strong>der</strong>n erzählt:<br />

Und weil auf <strong>der</strong> Erd niemand mehr war, wollt´s in Himmel gehen,<br />

und <strong>der</strong> Mond guckt es so freundlich an und wie´s endlich zum<br />

Mond kam, war´s ein Stück faul Holz und da ist es zur Sonn gegangen<br />

und wie´s zur Sonn kam, war´s ein verwelkt Sonnenblum.<br />

Und wie´s zu den Sternen kam, waren´s kleine goldene Mücken, die<br />

waren angesteckt wie <strong>der</strong> Neuntöter sie auf die Schlehen steckt. Und<br />

wie´s wie<strong>der</strong> auf die Erde wollt, war die Erd ein umgestürzter Hafen<br />

und war ganz allein.<br />

87<br />

Rainer Maria Rilke, Brief an Marie<br />

von Thurn und Taxis - Hohenlohe<br />

vom 9. Juli 1915<br />

Rilke, <strong>der</strong> gute Nassauer und hilflose Fernlieber Rilke, sagte, dass er, dieser<br />

Woyzeck, „dieser missbrauchte Mensch in seiner Stalljacke im Weltall<br />

steht … im unendlichen Bezug <strong>der</strong> Sterne“ 87 .


137<br />

Und <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>, er macht das ‘Stück faul Holz‘, die ‘verwelkt Sonnenblum‘,<br />

die auf Dornen gespießten ‚Goldnen Mücken‘ und die ‚Erd diesen<br />

umgestürzten Hafen‘ zu Elementen seiner Kunst, zu Botschaftern seines humanen<br />

Erkennens und Verstehens.<br />

Dies, indem er etwa das ‘Stück faul Holz‘ adelt, aufnimmt, transmutiert, als<br />

Bronze darbietet, unternimmt er den gleichermaßen gewagten wie geglückten<br />

Versuch, die Einsamkeit, die Ausweglosigkeit, die Verwundbarkeit und<br />

Trauer <strong>der</strong> Menschen wenn nicht aufzuheben, so doch zu lin<strong>der</strong>n.<br />

Und deswegen ist das Werk <strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>s ein Werk voller Hoffnung, voller<br />

Stärke und Kraft in Fährnissen des Lebens Aller.


Impressum<br />

© 2017<br />

Freshup! publishing, Alfred Meyerhuber, Bode Galerie<br />

Vorspann aus Junk 151, 2016<br />

Text<br />

Alfred Meyerhuber<br />

Fotografie<br />

<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong><br />

Typographie, Gestaltung,<br />

Reproduktion<br />

<strong>Dietrich</strong> <strong>Klinge</strong>, Rica Bock, Stephanie Maas<br />

Schwabenrepro GmbH<br />

Redaktion<br />

Christina Luff<br />

Druck<br />

Wenng Druck,<br />

Dinkelsbühl<br />

ISBN<br />

978-3-943800-16-6<br />

Lorenzer Str. 2<br />

90402 Nürnberg<br />

Deutschland / Germany<br />

+49-(0)911-5109200<br />

E-Mail: bode@bode-galerie.de<br />

9-2, Hyeonchung-ro 6-gil, Namgu,<br />

Daegu, South-Korea 705-804<br />

Cell phone: 0082 0 6723 3011<br />

E-Mail: lee.bodegalerie@gmail.com<br />

www.bode-galerie.de

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