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Leseprobe Langstrecke 2/2018

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L E S E P R O B E<br />

DAS MAGAZIN<br />

FÜR<br />

SZ-LIEBHABER


S CHWERPUNKT<br />

Sex<br />

und Moral<br />

US TOO<br />

Ulrike Schuster und Thorsten Schmitz befragen<br />

Frauen mit verschiedenen Berufen zu sexueller<br />

Belästigung am Arbeitsplatz<br />

„ AVE NIDAS“<br />

Hilmar Klute begleitet den Dichter<br />

Eugen Gomringer beim Versuch, sein Gedicht<br />

„Avenidas“ zu verteidigen<br />

SCHAM<br />

Nicolas Richter spricht mit dem Psychiater Josef<br />

Aldenhoff über die Aggression im Mann<br />

REBELLION<br />

Gianna Niewel trifft die Frau, die auf Bankformularen<br />

gerne als Frau angesprochen werden will<br />

POPMUSIK<br />

Boris Herrmann besucht Brasiliens größten<br />

Popstar Anitta. Die einen sehen in ihr eine Feministin,<br />

die anderen eine geschickte Geschäftsfrau<br />

68<br />

81<br />

85<br />

90<br />

93<br />

PYEONGCHANG<br />

Holger Gertz beobachtet, wie die beiden Koreas<br />

mit einer gemeinsamen Eishockeymannschaft bei<br />

Olympia ein politisches Zeichen setzen wollen<br />

117<br />

KLATSCH<br />

Peter Richter spricht mit dem US-Autor<br />

Michael Wolff über die Anfangszeit in<br />

Donald Trumps Weißem Haus<br />

123<br />

FREIZEITATHLETEN<br />

Martin Wittmann hat in seinem<br />

Fitnessstudio seit Jahrzehnten jeden Trend<br />

mitgemacht. Eine Abrechnung<br />

126<br />

Ö STERREICH<br />

Christian Mayer spricht mit David Schalko über Wien,<br />

den Schmäh und die Lust am Rauchen<br />

131<br />

KONSUM<br />

SZ-Autoren überlegen, wie die Statussymbole<br />

der Zukunft aussehen könnten<br />

135<br />

WELTALL<br />

Alexander Stirn schreibt über den Astronauten Alexander<br />

Gerst, der sich zwei Jahre auf den Teufelsritt<br />

zur Internationalen Raumstation vorbereitet hat<br />

BUCHHANDEL<br />

Pia Ratzesberger spricht mit einer Buchhändlerin über<br />

den Umgang mit der Konkurrenz aus dem Internet<br />

NATIONALSOZIALISMUS<br />

Sebastian Schoepp sucht nach der braunen<br />

Vergangenheit der Ferieninsel Mallorca, einem beliebten<br />

Reiseziel von Lebenskünstlern und Nazis<br />

96<br />

101<br />

104<br />

KOM MUNIKATION<br />

Claudia Fromme fragt sich, welche Folgen es hat,<br />

dass wir heute lieber über das Handy Nachrichten<br />

schreiben, als zu telefonieren<br />

109<br />

KREUZBRÜDER<br />

Andreas Glas begleitet drei junge Männer, die den<br />

Glauben in einem Dorf wiederbeleben wollen und sich<br />

dabei mit der katholischen Kirche anlegen<br />

114


WAIDMANNS<br />

LEID<br />

GRENZERFA HRUNG<br />

Unsere Autorin hat sich immer<br />

für einen Naturmenschen<br />

gehalten. Frohen Herzens meldete sie sich<br />

zur Jägerprüfung an. Sie hatte ja keine<br />

Ahnung<br />

Es beginnt zu dämmern, als im Wald Hufgetrappel<br />

ertönt und in rasender Eile näherkommt. Dem<br />

Klang nach zehn Stück Rehwild bestimmt, vielleicht<br />

mehr. Schon bricht das Rudel durch die Dickung und<br />

galoppiert an meinem Hochsitz vorbei, wunderschön<br />

anzuschauen, nur dass es keine Rehe sind. Sondern<br />

Impalas.<br />

Antilopen in einem bayerischen Forst, wie kann<br />

das sein? Das ist der erste Gedanke, gejagt von einem<br />

noch quälenderen: Wo in Heintges’ Lehrheft steht das<br />

Impala-Kapitel? Ist es denkbar, dass ich das überlesen<br />

habe und nichts weiß über Gehörnentwicklung,<br />

Zahnwechsel und Brunftzeit der Impala-Antilope,<br />

oh Schreck, oh Schreck, wie viele Tage noch bis zur<br />

Prüfung?!<br />

Dann wache ich auf.<br />

Ich sitze tatsächlich auf einem Hochsitz. Mir ist<br />

kalt. Die selbstheizenden Einlegesohlen geben gerade<br />

den Geist auf, ebenso die Wärmflasche auf meinem


Schoß, da hilft es auch nichts, dass ich mit Daunenjacke<br />

und Handschuhen im Schlafsack hocke. Es ist<br />

der 16. Dezember, acht Uhr morgens, zwei Grad unter<br />

null. Die Lichtung zu meinen Füßen ist leer. Ich habe<br />

eineinhalb Stunden geschlafen und bin in der Realität<br />

meines Jagdkurses erwacht.<br />

„Du machst was?“ Das ist die erste Lektion, bevor<br />

es überhaupt angefangen hat: Die meisten Menschen,<br />

wenn sie nicht zufällig aus einem Jägerumfeld stammen,<br />

haben für das Vorhaben,<br />

den Jagdschein zu machen,<br />

wenig oder gar kein Verständnis. Sie schauen<br />

einen mitleidig an, weil sie eine Lebenskrise vermuten,<br />

oder misstrauisch, weil man eine Waffennärrin<br />

sein könnte, die es geil findet, wehrlose Geschöpfe<br />

abzuknallen. „Schießt du dann auch auf Rehkitze?“,<br />

mailt eine Kollegin.<br />

Ich schieße nicht auf Rehkitze. Nicht, weil ich<br />

es prinzipiell verwerflich finde, sondern weil es mir<br />

keine Freude bereiten würde. Ich will auch gar nicht<br />

Jägerin werden, sondern Falknerin. Mein Leben lang<br />

schaue ich schon den Vögeln und ganz besonders<br />

den Greifvögeln hinterher; bei der<br />

Vorstellung, mit<br />

einem Falken auf die Jagd zu gehen, den ich nach<br />

einer uralten Kunst ausgebildet habe und der dennoch<br />

wild geblieben ist, kriege ich Gänsehaut. Um<br />

den Falknerschein machen zu dürfen, braucht man<br />

in Deutschland aber den Jagdschein, also melde ich<br />

mich an. 60 Stunden Theorie, 60 Stunden Jagdpraxis,<br />

sechs Monate Zeit: Das klingt hart, aber doch machbar,<br />

und meine Familie findet es toll. Als ich das Formular<br />

abschicke, bin ich glücklich.<br />

„Du machst was?“,<br />

sagt meine Mutter am Telefon.<br />

Sie betetalles runter, was ich vielleicht ein wenig aus-<br />

geblendet habe, dass ich nämlich<br />

viel arbeite, werktags<br />

alleinerziehend bin und für alles andere schon<br />

jetzt zu wenig Zeit habe, in ihrer Stimme schwingt<br />

Entsetzen. „Kind“, sagt meine Mutter, „du spinnst.“<br />

Wie recht sie hat, begreife ich in Etappen.<br />

An einem Donnerstag im September finden wir<br />

uns im Hinterstüberl eines Münchner Jagdgeschäfts<br />

ein, zur ersten von 20 Theorie-Einheiten: 18 Jagdschüler,<br />

alle Berufsgruppen, sämtliche Altersstufen<br />

von Mitte zwanzig bis Ende fünfzig, die Hälfte von<br />

ihnen Frauen. Die Motivationen? Vielfältig. Die eine<br />

will ihren Dackel zum Jagdhund ausbilden, der andere<br />

DER SCHORSCH<br />

VERSTEHT<br />

DIE WELT<br />

NICHT MEHR:<br />

„WARUM<br />

MACHT<br />

JETZT<br />

EINE D AME DEN<br />

JAGDSCHEIN?“<br />

hat ein Stück Wald geerbt und weiß nicht, was er damit<br />

anstellen soll. Der Nächste würde tatsächlich gerne<br />

schießen, die Übernächste ihren Job als Anwältin am<br />

liebsten hinwerfen und eine Naturbegegnungsstätte<br />

auf dem Land aufziehen. Das Einzige, was uns in<br />

diesem Moment verbindet, ist die diffuse Sehnsucht,<br />

unserem rasenden Leben als Städter etwas Sinnstiftendes<br />

entgegenzusetzen. Damit sind wir wohl<br />

der Trend.<br />

Immer mehr Menschen machen den Jagdschein,<br />

tatsächlich. Im vorigen Jahr waren es deutschlandweit<br />

fast 17000, darunter so viele Frauen wie noch nie.<br />

Der Schorsch, ein Waidmann vom alten Schlag, bei<br />

dem wir im Oktober zum Hochsitzbau antreten, wird<br />

unter fünf Anwärtern drei Frauen zählen und die Welt<br />

nicht mehr verstehen: „Warum macht jetzt eine Dame<br />

den Jagdschein?“ Dem Franz in seiner Starnberger<br />

Wildkammer wird der Satz „Schön ist nicht das Wild,<br />

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Schwe<br />

iß drauf<br />

FREIZEITATHLETEN<br />

Jeden Frühling wird ein neuer Sporttrend beworben,<br />

alle wollen ja gut in Schuss sein. Unser Autor hat<br />

in seinem Fitnessstudio 20 Jahre lang jede Mode mitgemacht.<br />

Beobachtungen an einem Ort ohne Ironie<br />

Mit Ende 30 haben echte Athleten ihren Höhepunkt<br />

überschritten und müssen sich allmählich in Fitnessstudios<br />

darum kümmern, den nun drohenden<br />

physischen Verfall aufzuhalten. Ob das gelingt, ist<br />

spätestens zu überprüfen, wenn sie als Fernsehexperten<br />

ihrer Disziplin auftreten. Vielen sieht man deutlich<br />

an, dass selbst ehemalige Leistungssportler körperlich<br />

vom Alltagsleben bezwungen, sprich zeckerlfett<br />

werden können.<br />

Normale Menschen beginnen meist früher – mit<br />

dem Kümmern wie mit dem Bezwungenwerden.<br />

Um kurz persönlich zu werden, bevor es dann im<br />

Folgenden auch um mich geht (Fitnesstraining ist<br />

eine sehr einsame Beschäftigung mit sich selbst):<br />

Mit Ende 30 habe ich bereits zwei Jahrzehnte Erfahrung<br />

auf dem Gebiet der repetitiven Leibesübung. Training<br />

des Trainings wegen, umsonst geschwitzter<br />

Schweiß, der in zu Recht Funktionskleidung genannten<br />

Shirts hängt.


Aber fad wurde es nie. Hat sich die Branche doch Ausführung einer Übung zu versichern. Männer und<br />

jedes Jahr einen neuen Trend ausgedacht, der interessiert<br />

beobachtet bis ausprobiert werden wollte. sie prahlten mit ihren Körpern, zeigten unverhohlen,<br />

Frauen zeigten sich in jeglicher Hinsicht nahezu nackt,<br />

Höchste Zeit, einen Erfahrungsschatz zu taxieren, zu was sie imstande waren. Der Umgang miteinan -<br />

der vielleicht wertvoll ist, ganz sicher aber teuer war. der war weniger ein Fall für Turnvater Jahn denn für<br />

Und so viel darf<br />

schon mal verraten werden: Am Ende<br />

warten phänomenale Ergebnisse.<br />

Die Muskeln<br />

Es ging nach dem Abitur los, Ende der Neunziger.<br />

Das Jahrzehnt war geprägt gewesen von physischen<br />

Extremerfahrungen, gesellschaftlich (Bungeespringen,<br />

Kitesurfen etc.) wie individuell (Pubertät). Der<br />

Höhepunkt der eigenen Karriere war schon im Alter<br />

von zehn Jahren erreicht – Vize-Niederbayerischer<br />

Meister im Tischtennisdoppel –, die folgenden Jahre<br />

waren sportlich geprägt von der Sorglosigkeit eines<br />

Fußball spielenden Kindes. Als Teenager aber entdeckte<br />

ich Sport als Mittel zur körperlichen Formung,<br />

in der Hoffnung, nicht nur in Mittelkreisen, sondern<br />

auch bei den Mädchen wettbewerbsfähig zu sein. Weil<br />

ich für die exotischen Sportarten zu mutlos und untalentiert<br />

war, suchte ich die örtliche Mucki-Bude auf.<br />

An der Wand<br />

hing damals noch ein Poster von Arnold<br />

Schwarzenegger, der Mann, der das Bodybuilding so<br />

populär gemacht hatte wie Jane Fonda das Aerobic.<br />

Ich machte mich daran, mich unauffällig irgendwo<br />

zwischen diesen beiden Strömungen einzuordnen.<br />

In dem Studio ging es erst mal um klassisches<br />

Pumpen, viel Ziehen, Drücken, Ächzen. Die Anweisungen<br />

des Trainers sollte man später eins zu eins<br />

nachlesen können, in Internetartikeln über „Die<br />

schlimmsten zehn Fehler beim Muskeltraining“.<br />

Die<br />

Arme blieben dünn, aber man hat etwas gelernt über<br />

das Wesen so einer Institution. Es präsentierte sich<br />

hier ein dystopisches Gemälde: Tapfere Muskelmenschen<br />

kämpften gegen übermächtige Maschinen, mit<br />

bloßen Händen, jeglicher Technik und Sprache beraubt.<br />

Das Fitnessstudio war eine archaische Höhle<br />

und dabei der ehrlichste Ort der Welt.<br />

Nirgends zeigten<br />

die Menschen ihren Narzissmus so offen wie in<br />

den wandhohen Spiegeln (es gab damals noch keine<br />

Selfies). Nur die Schamlosesten behaupteten, die<br />

Selbstbetrachtung diene dazu, sich der korrekten<br />

Tierfilmer Sielmann. So albern das bloße Muskelspiel<br />

wirkte, so unschuldig und erfrischend war der Ort in<br />

Zeiten aufkommender Ironie. Während<br />

sich die Welt<br />

da draußen hinter einem feigen Alles-nicht-so-ernstgemeint-Zeitgeist<br />

versteckte, blieben Bodybuilder<br />

und Halbstarke gezwungenermaßen unverstellt: Man<br />

kann nicht ironisch Gewichte stemmen.<br />

Die Lunge<br />

In den Nullerjahren lief auf einmal jeder Marathon.<br />

Vielleicht, weil es da im Gegensatz zu den anderen<br />

Sportarten ein fixes Ziel gab, schloss ich mich dieser<br />

Cardio-Bewegung an. Ab und zu trainierte ich drinnen<br />

auf dem Laufband vor dem Fernseher. Auf so einem<br />

Gerät müht man sich nach Kräften und tritt doch nur<br />

auf der Stelle, ein Umstand, den man nur deshalb<br />

nicht kritisch hinterfragt, weil man zu abgelenkt ist<br />

vom TV-Programm – eine bessere Metapher für das<br />

Schicksal des postmodernen Menschen kann man<br />

nicht erfinden.<br />

Die Sehnen<br />

2003 waren 4,38 Millionen Deutsche in Fitnessstudios<br />

angemeldet, die Kundschaft kam mittlerweile<br />

nicht nur aus der isotonischen, sondern dank<br />

Yoga<br />

und Pilates auch aus der esoterischen Ecke. Weil<br />

diese<br />

zwei Sportarten sehr an die Dehnübungen erinnerten,<br />

die ich wegen eines Rückenleidens regelmäßig<br />

machen musste, und als Bonus obendrein noch spirituelle<br />

Erfahrungen versprachen, praktizierte ich beides,<br />

mit leichter Präferenz für Yoga.<br />

So wie man lieber<br />

Coca-Cola trinkt, aber manchmal auch Pepsi nimmt.<br />

Die Unterschiede der beiden Sportarten sind auf den<br />

ersten Blick nicht sehr groß, der Muskel, den man<br />

anspannt, wenn man aufs Klo müsste und nicht darf,<br />

ist hier wie dort von zentraler Bedeutung, allerdings<br />

heißt er hier Powerhouse und dort Mula Bandha. Als<br />

Mann war ich in diesen wie in den meisten anderen<br />

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