Michael Evers - bei föpäd.net
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Einflüsse der Qualität des<br />
visuellen Inputs auf die<br />
Leseleistung <strong>bei</strong> LRS<br />
Erste Staatsexamensar<strong>bei</strong>t<br />
––– 1999 –––<br />
<strong>föpäd</strong>.<br />
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<strong>Michael</strong> <strong>Evers</strong>
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Quellenangabe für diese Veröffentlichung:<br />
<strong>Evers</strong>, <strong>Michael</strong>: Einflüsse der Qualität des visuellen Inputs auf die Leseleistung <strong>bei</strong><br />
LRS. Online im Inter<strong>net</strong>: URL: http://www.foepaed.<strong>net</strong>/volltexte/evers/lrs.pdf.
Inhaltsverzeichnis<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
Einleitung ......................................................................................................................1<br />
1. Lese-Rechtschreibschwäche..................................................................................4<br />
1.1 Zum Begriff......................................................................................................5<br />
1.2 Symptomatik..................................................................................................10<br />
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1.2.1 Das Störungsbild des Lesens.............................................................................10<br />
1.2.2 Das Störungsbild der Rechtschreibung..............................................................11<br />
1.3 Begleitsymptome ...........................................................................................12<br />
1.4 Ursachen.......................................................................................................14<br />
1.4.1 Konstitutionelle Dispositionen.............................................................................14<br />
1.4.2 Psychosoziale Einflüsse und defizitärer Unterrichtung<br />
als erklärende Variable.......................................................................................16<br />
1.4.3 Neuropsychologische Erklärungsansätze ..........................................................17<br />
1.4.4 Teilleistungsschwäche........................................................................................21<br />
1.5 Zusammenfassung ........................................................................................23<br />
2. Die visuelle Sensorik ............................................................................................24<br />
2.1 Abgrenzung zur visuellen Wahrnehmung ......................................................24<br />
2.2 Anatomie der visuellen Sensorik....................................................................24<br />
2.3 Teilprozesse der visuellen Sensorik...............................................................26<br />
2.3.1 Visus (Sehschärfe) .............................................................................................26<br />
2.3.2 Akkommodation..................................................................................................27<br />
2.3.3 Beidäugiges (binokulares) Sehen ......................................................................28<br />
3. Monokulare Fehlsichtigkeiten ...............................................................................30<br />
3.1 Myopie (Kurzsichtigkeit).................................................................................30<br />
3.2 Hyperopie (Übersichtigkeit)............................................................................30<br />
3.3 Astigmatismus (Hornhautverkrümmung)........................................................31<br />
3.4 Die juvenile Hypoakkommodation..................................................................31<br />
4. Winkelfehlsichtigkeit .............................................................................................33<br />
4.1 Ursache.........................................................................................................33<br />
4.2 Symptome .....................................................................................................34<br />
4.3 Auswirkungen der Behandlung von binokularen Fehlsichtigkeiten<br />
auf die Lese-Rechtschreibschwäche .............................................................36<br />
4.4 Kritik ..............................................................................................................38<br />
4.5 Zusammenfassung ........................................................................................39
Inhaltsverzeichnis<br />
5. Das Meares-Irlen-Syndrom...................................................................................40<br />
5.1 Zur Begriffsgeschichte...................................................................................40<br />
5.2 Begriffserläuterung ........................................................................................40<br />
5.3 Erscheinungsbild ...........................................................................................41<br />
www.foepaed.<strong>net</strong><br />
5.3.1 Lichtempfindlichkeit ............................................................................................41<br />
5.3.2 Ungenügende bzw. unzureichende Hintergrundakkommodation ......................42<br />
5.3.3 Schlechte Druckauflösung..................................................................................44<br />
5.3.4 Eingeschränkte Erkennensspanne.....................................................................47<br />
5.3.5 Geringe Aufmerksamkeitsdauer.........................................................................48<br />
5.3.6 Begleitsymptome ................................................................................................48<br />
5.4 Auswirkungen auf das Lesen (vgl. IRLEN 1997, S. 85ff)..................................49<br />
5.5 Auswirkungen auf das Schreiben (vgl. IRLEN 1997, S. 159ff) .........................52<br />
5.6 Zusammenfassung ........................................................................................53<br />
6. Die Irlen-Methode.................................................................................................54<br />
6.1 Vorgeschichte................................................................................................54<br />
6.2 Die Anwendung der Irlen-Methode ................................................................56<br />
6.2.1 Screening auf Meares-Irlen-Syndrom ................................................................57<br />
6.2.2 Einige Hinweise zur praktischen Umsetzung der Methode................................61<br />
6.3 Die Colorimeter-Methode...............................................................................65<br />
6.4 Die Rolle der Eltern........................................................................................66<br />
7. Die Wirkungsweise der Irlen-Methode bzw. der Farbfilter.....................................68<br />
7.1 Die Entdeckung der Kanäle der visuellen Sensorik........................................68<br />
7.1.1 Die tonischen Kanäle..........................................................................................69<br />
7.1.2 Die phasischen Kanäle.......................................................................................69<br />
7.2 Die Aufgabe der tonischen und phasischen Kanäle <strong>bei</strong>m Lesen....................69<br />
7.3 Ein Defizit der phasischen Kanäle als Ursache von Lesestörungen...............71<br />
7.4 Die Wirkung von Farbe auf die phasischen Kanäle........................................73<br />
7.5 Weiterführende Überlegungen.......................................................................73<br />
7.6 Zusammenfassung und Bewertung ...............................................................74<br />
8. Empirische Studien zur Irlen-Methode..................................................................75<br />
9. Abschließende Diskussion....................................................................................86<br />
Literatur.......................................................................................................................91<br />
Inter<strong>net</strong>-Quellen....................................................................................................96
Einleitung 1<br />
Einleitung<br />
www.foepaed.<strong>net</strong><br />
„Man muss ja wohl Respekt<br />
vor jedem haben der DIENSTAG<br />
buchstabieren kann, auch wenn er es<br />
nicht richtig buchstabiert.“<br />
(MILNE 1998)<br />
Weltweit gibt es zahlreiche Kinder und Erwachsene, die Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m Erlernen<br />
des Lesens und (Recht-) Schreibens haben. Zu ihnen zählen und zählten Winston<br />
Churchill, Thomas A. Edinson, Albert Einstein, Hans Christian Andersen, Harry<br />
Belafonte, Cher u.v.a. (vgl. DAVIS 1998, S. 22f). Ein Mensch mit einer Lese-Recht-<br />
schreibschwäche ist also nicht zwangsläufig „dumm“, er hat zunächst nur isolierte<br />
Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m Schriftspracherwerb. Durch den hohen Stellenwert des Lesens<br />
und Schreibens in Schule und Gesellschaft, kann jedoch aus der isolierten Schwäche<br />
eine allgemeine Beeinträchtigung oder sogar eine Behinderung entstehen. Da<strong>bei</strong><br />
spielen nicht nur die Schwierigkeiten im Bereich der Schriftsprache eine Rolle, sondern<br />
ebenso die vielfältigen und oft nicht zu unterschätzenden Begleitsymptome.<br />
Obwohl dieses Syndrom bereits seit einem Jahrhundert beschrieben und erforscht<br />
wird, kann über dessen Ursachen im Einzelfall nicht viel gesagt werden. Die Forschung<br />
hat bis heute zwar einige mögliche Ursachen isoliert, die jedoch immer nur <strong>bei</strong> einer<br />
Gruppe von betroffenen Kindern und nicht <strong>bei</strong> allen beobachtet werden konnten. Es<br />
liegen also zahlreiche Ursachenhypothesen vor, deren Zusammenwirken <strong>bei</strong>m Ent-<br />
stehen einer Lese-Rechtschreibschwäche offen ist. Das schließt mit ein, daß nicht<br />
beurteilt werden kann, inwieweit die Vielzahl von möglichen bedingenden Faktoren <strong>bei</strong><br />
jedem einzelnen vorliegen und zusammenwirken.<br />
Aufgrund des heutigen Wissensstandes ist also eher anzunehmen, daß die Lese-<br />
Rechtschreibschwäche durch verschiedene Ursachen entstehen kann. Folglich kann<br />
es die eine Therapiemethode nicht geben, die allen lese-rechtschreibschwachen<br />
Kinder gezielt helfen kann. Dieses hat in der Vergangenheit dazu geführt, daß viel-<br />
fältige Methoden zur Förderung der betroffenen Kinder ausprobiert wurden, von denen<br />
längst nicht alle den versprochenen Erfolg gebracht haben. So blieb z.B. der Förder-<br />
unterricht in der Schule <strong>bei</strong> vielen erfolglos. Überdies fühlten sich viele Kinder durch die<br />
zusätzlichen Förderstunden eher bestraft, als daß sie diese als hilfreich empfunden<br />
hätten. Bei den Therapie- und Förderangeboten, die neben der Schule existieren, ver-
Einleitung 2<br />
hält es sich meist nicht anders. Wenn sie überhaupt Erfolg haben, dann meist nur<br />
durch eine intensive Betreuung über einen langen Zeitraum. Das bedeutet für die<br />
betroffenen Kinder, daß sie neben dem erhöhten Zeitaufwand für die Hausaufgaben<br />
einen Teil ihrer Freizeit einsetzten müssen, um zusätzliche Angebote wahrnehmen zu<br />
können. Wenn zudem die Kinder selbst trotz der Förderung keine Fortschritte sehen<br />
und folglich die Maßnahmen nicht als Hilfe empfinden, ist ihre Motivation unter<br />
Umständen nicht groß, ein möglicher Erfolg erscheint dann zweifelhaft. Darüber hinaus<br />
gab und gibt es Therapiemethoden, die eine schnelle Hilfe versprechen. Meist kann auf<br />
Einzelfälle verwiesen werden, <strong>bei</strong> denen die Methode schnelle Erfolge zeigte. Viele<br />
betroffene Kinder und Eltern, die daraufhin Hoffnungen auf eine Hilfe auch in ihrem Fall<br />
setzten, wurden enttäuscht. Wiederholen sich die Erfahrungen, dann kommen ver-<br />
mutlich nicht wenige zu der Überzeugung, daß es für sie oder ihre Kinder keine Hilfe<br />
gibt und daß sie sich mit ihrem „Schicksal“ abfinden müssen.<br />
Wie der Titel „Einflüsse der Qualität des visuellen Inputs auf die Leseleistung <strong>bei</strong> LRS“<br />
bereits andeutet, wird im folgenden auf einen Zusammenhang zwischen der Lese-<br />
Rechtschreibschwäche (LRS) und der „Qualität“ des Sehens aufmerksam gemacht. Es<br />
wird gezeigt, daß verschiedene Sehprobleme und -störungen, auch wenn sie noch so<br />
unbedeutend erscheinen mögen, die Qualität des visuellen Inputs negativ beeinflussen<br />
oder anders gesagt, das Erkennen einer Textseite und damit das Lesen erheblich<br />
erschweren können. Thematisiert werden also Störungen der visuellen Sensorik, die in<br />
einem ursächlichen Zusammenhang mit dem Syndrom der Lese-Rechtschreib-<br />
schwäche stehen können.<br />
Zuvor wird, jedoch nur kurz, die Lese-Rechtschreibschwäche (LRS) behandelt, die<br />
einigen noch unter der Bezeichnung „Legasthenie“ bekannt ist. Warum der Begriff<br />
„Lese-Rechtschreibschwäche“ eingeführt wurde, wie sie sich äußert und welche Über-<br />
legungen es zu ihren Ursachen gibt, wird zumindest in Ansätzen dargelegt.<br />
Zur Annäherung an das eigentliche Thema wird zunächst die visuelle Sensorik näher<br />
zu betrachten sein, d.h. wichtige Aspekte ihres „anatomischen“ Aufbaus und einige für<br />
ihre Funktion wichtige Teilprozesse werden vorgestellt. Anschließend soll sich kurz den<br />
monokularen Fehlsichtigkeiten gewidmet werden. Zu diesen Störungen des Sehens<br />
gehört u.a. die jedem wohl gut bekannte Kurzsichtigkeit. Ein erster Schwerpunkt wird<br />
dann auf der sogenannten Winkelfehlsichtigkeit liegen, einer Störung des <strong>bei</strong>däugigen<br />
Sehens. Ihre Ursache und typische Symptome werden ebenso thematisiert, wie eine<br />
mögliche Behandlung. Einige Erfahrungen mit der Korrektion dieser Fehlsichtigkeit <strong>bei</strong><br />
lese-rechtschreibschwachen Kindern schließen diesen Teil ab.<br />
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Einleitung 3<br />
Eine weitere Störung der visuellen Sensorik ist das Meares-Irlen-Syndrom, auf dem in<br />
dieser Ar<strong>bei</strong>t ein weiterer Schwerpunkt liegt. Nach der Betrachtung der Symptome wird<br />
die Irlen-Methode vorgestellt, eine einfache aber wirkungsvolle Behandlungsmethode<br />
des Meares-Irlen-Syndroms. Daran anschließend soll sich den möglichen Ursachen<br />
des Syndroms und damit verbunden der Wirkungsweise der Irlen-Methode gewidmet<br />
werden. Abschließend werden einige empirische Studien dargestellt, die sich näher mit<br />
der Überprüfung des Erfolgs der Irlen-Methode befaßt haben.<br />
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Lese-Rechtschreibschwäche 4<br />
1. Lese-Rechtschreibschwäche<br />
Unter dem Begriff der „Lese-Rechtschreibschwäche (LRS)“ werden Schwierigkeiten <strong>bei</strong><br />
dem Erlernen der Schriftsprache, also dem Erlernen von Lesen und (Recht-) Schreiben<br />
zusammengefaßt. Da<strong>bei</strong> ist die LRS ein heterogenes Syndrom, d.h. es können<br />
mehrere Symptome (vgl. Kapitel 1.2) <strong>bei</strong> einem Kind beobachtet werden, die in ihrer<br />
Zusammenstellung und in ihrem Ausmaß sehr verschieden sein können. Der<br />
Syndromcharakter der LRS schließt jedoch nicht nur die unterschiedlichen Schwierig-<br />
keiten <strong>bei</strong>m Lesen und (Recht-) Schreiben ein, sondern auch die oft nicht zu<br />
unterschätzenden sekundären Begleitsymptome (vgl. Kapitel 1.3), die sich z.B. aus<br />
den immer wieder erlebten Mißerfolgen in der Schule entwickeln können.<br />
Bei der Lese-Rechtschreibschwäche handelt es sich zudem um ein Syndrom mit einer<br />
Polyätiologie. Es gibt nicht die eine Ursache für LRS, sondern eine ganze Reihe ver-<br />
schiedener. Auch <strong>bei</strong> der Betrachtung des einzelnen Kindes läßt sich nicht immer nur<br />
eine Ursache erkennen. Beim Entstehen einer LRS kommen meist mehrere ungünstige<br />
Bedingungsfaktoren zusammen (vgl. Kapitel 1.4).<br />
Lese-Rechtschreibschwäche ist nicht nur ein deutsches Problem. Sie kommt in allen<br />
Ländern der Erde fast gleich häufig vor. In Ländern mit einer eher lautgetreuen Schrift-<br />
sprache ist sie jedoch etwas seltener anzutreffen. Im deutschen Sprachraum ist sie<br />
also etwas seltener zu finden als im anglo-amerikanischen. Dieser Unterschied ist<br />
allerdings statistisch nicht bedeutsam (vgl. ROSENKÖTTER 1998, S. 11f).<br />
Bevor im folgenden näher auf die Definition, Symptome und Ursachen der LRS einge-<br />
gangen wird, sollen zunächst angeborene und erworbene Schwierigkeiten im Lesen<br />
und Schreiben unterschieden werden. Diese Unterscheidung erscheint notwendig, weil<br />
sich die weiteren Überlegungen auf die sogenannte angeborene LRS beziehen.<br />
Der Hauptunterschied dieser <strong>bei</strong>den Formen liegt in dem Zeitpunkt des Erwerbs der<br />
Störungen. Bei der erworbenen Lese-Schreib-Störung handelt es sich um den (teil-<br />
weisen) Verlust der Lese- (Alexie) und (Recht-)Schreibfähigkeiten (Agraphie) nach<br />
bereits abgeschlossenem Schriftspracherwerb. Ursache der Alexie bzw. der Agraphie<br />
ist eine Hirnverletzung (z.B. in Folge eines Schlaganfalls oder eines Unfalls), die erst<br />
nach Abschluß des Lese- bzw. Schreiblernprozesses eingetreten ist. In der Regel sind<br />
von diesen Störungen also Erwachsene betroffen.<br />
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Lese-Rechtschreibschwäche 5<br />
Bei der angeborenen Störung ist bereits der Erwerb des Lesens und Schreibens<br />
gestört. In diesem Fall bestehen die Ursachen schon vor Beginn des Schriftsprach-<br />
erwerbs. Im Allgemeinen wird in solchen Fällen von einer Lese-Rechtschreibschwäche<br />
(LRS) oder von einer Legasthenie gesprochen, von der in der Regel Kinder betroffen<br />
sind, die gerade das Lesen und (Recht-) Schreiben erlernen. Genau diese Erwerbs-<br />
störung der schriftsprachlichen Fähigkeiten soll im folgenden näher betrachtet werden.<br />
1.1 Zum Begriff<br />
Das Syndrom der Lese-Rechtschreibschwäche wurde erstmals Ende des letzten Jahr-<br />
hunderts von den Medizinern MORGAN und HINCHELWOOD beschrieben. Die erste<br />
Monographie zu diesem Thema mit dem Titel „Die Leseschwäche und Rechen-<br />
schwäche der Schulkinder im Lichte des Experiments“ wurde 1916 von RANSCHBURG<br />
veröffentlicht (vgl. SCHENK-DANZIGER 1991, S.19). Er führte auch den Begriff der<br />
„Legasthenie“ ein. Dieser Begriff ist eine Wortschöpfung aus dem griechischen Wort-<br />
stamm „leg“ für „lesen“ und dem griechischen Wort „asthenia“, das Schwäche<br />
bedeutet. Wörtlich übersetzt heißt „Legasthenie“ also „Leseschwäche“ (vgl. DUMMER-<br />
SMOCH 1994, S. 12).<br />
Bemerkenswert ist, daß RANSCHBURG <strong>bei</strong> seiner Beschreibung der Legasthenie kein<br />
Intelligenzkriterium anlegte. Dies tat jedoch Maria LINDER, die den Begriff der<br />
Legasthenie mit dem Kriterium der normalen bzw. überdurchschnittlichen Intelligenz<br />
verknüpfte. Erwähnenswert erscheint dies, da die Definition von LINDER für die<br />
Begriffsentwicklung und die Erforschung des Syndroms in Deutschland lange Zeit<br />
ausschlaggebend war (vgl. SCHEERER-NEUMANN 1989, S. 18).<br />
„Unter ‚Legasthenie‘ verstehen wir demnach eine spezielle und aus dem<br />
Rahmen der üblichen Leistungen fallende Schwäche im Erlernen des<br />
Lesens (und indirekt auch des selbständigen orthographischen Schreibens)<br />
<strong>bei</strong> sonst intakter oder (im Verhältnis zur Lesefähigkeit) relativ guter Intelligenz.<br />
[Der Verfasser: Ausgeschlossen werden da<strong>bei</strong> jene Arten von LRS,<br />
die] durch gewöhnlichen Schwachsinn, durch manifeste Gesichts- und Gehörstörungen<br />
oder sonstige körperliche Behinderungen erklärlich sind, oder<br />
aber durch mangelnde Übung infolge von Krankheit, Fehlen von Schule,<br />
Sprach- und Schulwechsel oder durch ungewöhnliche Schulumstände […]<br />
oder durch schlechte Schulmethoden oder offensichtlich gestörte Lehrer-<br />
Schüler-Beziehungen hervorgerufen werden. Wenn wir dementsprechend<br />
von einer ‚Legasthenie‘ sprechen, so verstehen wir, daß ein Kind unter <strong>bei</strong><br />
uns ‚landläufig‘ normalen Schulverhältnissen, trotz allen Bemühungen der<br />
Erwachsenen, und nicht erklärlich durch Debilität, das Lesen (und<br />
Schreiben) nicht oder nur mit größter Mühe erlernen kann, während in den<br />
anderen Fächern keine entsprechenden Schwierigkeiten bestehen“ (LINDER<br />
zit. n. SCHEERER-NEUMANN 1989, S. 18).<br />
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Lese-Rechtschreibschwäche 6<br />
LINDERs Definition umfaßt jedoch nicht alle Kinder mit LRS. Aufgrund der von ihr vor-<br />
genommenen Ausschlußkriterien, fielen all die Kinder aus dem Raster, die auch in<br />
anderen Fächern Schwierigkeiten hatten. Ferner schloß sie auch diejenigen aus, <strong>bei</strong><br />
denen offensichtlich negative Umwelteinflüsse als Ursache vorlagen. In der Praxis<br />
erwiesen sich aber gerade die zuletzt genannten Ausschlußkriterien als nicht brauch-<br />
bar, da <strong>bei</strong> der Diagnostik nicht mit letzter Sicherheit festgestellt werden konnte, ob <strong>bei</strong><br />
einem Kind die Kriterien vorlagen.<br />
Aus diesem Grund wurde <strong>bei</strong> allen weiteren Definitionen auf die Ausschlußkriterien<br />
verzichtet. Entsprechend wurde die Legasthenie z.B. wie folgt definiert, als<br />
„… eine partielle Lernstörung bzw. ein Rückstand im Lesen und in der<br />
Rechtschreibung, der im Mißverhältnis steht zu der relativ guten Allgemeinbegabung<br />
und zu den mindestens durchschnittlichen Leistungen in<br />
den andern Schulfächern“ (VALTIN zit. n. SCHEERER-NEUMANN 1989, S. 18).<br />
In der Folgezeit wurden daraufhin Diagnosekriterien festgelegt, die dazu führten, daß<br />
man immer dann von einer Legasthenie sprach, wenn das betroffene Kind einen<br />
Prozentrang von weniger als 15 in einem Lese- und/oder Rechtschreibtest erlangt<br />
hatte, aber eine mindestens durchschnittliche Intelligenz aufweisen konnte, d.h. das<br />
mindestens ein IQ-Wert von 90 (<strong>bei</strong> Berücksichtigung des Standardmeßfehlers von 85)<br />
in einem Intelligenztest erreicht wurde (vgl. SCHEERER-NEUMANN 1989, S. 18). Diese<br />
Diagnosekriterien sind jedoch nicht unproblematisch, da sie je nach verwendetem<br />
Intelligenztest und Lese- bzw. Rechtschreibtest unterschiedliche Gruppen von<br />
legasthenen Kindern beschreiben. Was schließlich die Vergleichbarkeit von Befunden<br />
aus empirischen Studien einschränkt, nicht jedoch deren Wert (vgl. ANGERMAIER 1982,<br />
S. 210).<br />
In diesem Sinne war die Legasthenie ein diagnostisches Konstrukt, eine Hilfe für die<br />
Praxis, um bestimmte Symptome zu ordnen und Entscheidungen für die Intervention<br />
zu finden. Darüber hinaus hatte der Begriff auch eine erklärende Funktion. Ein Kind<br />
versagte im Lesen und Schreiben, weil es Legastheniker war.<br />
Aus heutiger Sicht ist jedoch das Intelligenzkriterium nicht mehr haltbar (vgl. DUMMER-<br />
SMOCH 1994, S. 11), weshalb der Begriff „Legasthenie“ in der neueren Fachliteratur<br />
kaum noch Verwendung findet. In der Regel spricht man heute von Lese-Recht-<br />
schreibschwäche (LRS). Gelegentlich werden in deutschsprachigen Veröffentlichungen<br />
die Begriffe Lese-Rechtschreibstörung und Schreibleseschwäche synonym gebraucht<br />
(vgl. ROSENKÖTTER 1997, S. 9).<br />
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Lese-Rechtschreibschwäche 7<br />
Eine für das heutige Verständnis der LRS wichtige Definition ist die der WHO, wie sie<br />
in der ICD-10 1 veröffentlicht ist. Dort ist ihr unter F81 „umschriebene Entwicklungs-<br />
störungen schulischer Fertigkeiten“ ein eigener Punkt F81.0 die „Lese- und Recht-<br />
schreibstörung“ gewidmet.<br />
„Das Hauptmerkmal ist eine umschriebene und bedeutsame Beeinträchtigung<br />
in der Entwicklung der Lesefertigkeiten, die nicht allein durch das<br />
Entwicklungsalter, Visusprobleme oder unangemessene Beschulung<br />
erklärbar ist. Das Leseverständnis, die Fähigkeit, gelesene Worte wiederzuerkennen,<br />
vorzulesen und Leistungen für welche Lesefähigkeit nötig ist,<br />
können sämtlich betroffen sein. Bei umschriebenen Lesestörungen sind<br />
Rechtschreibstörungen häufig und persistieren oft bis in die Adoleszenz,<br />
auch wenn einige Fortschritte im Lesen gemacht werden. Umschriebene<br />
Entwicklungsstörungen des Lesens gehen Entwicklungsstörungen des<br />
Sprechens und der Sprache voraus. Während der Schulzeit sind<br />
begleitende Störungen im emotionalen und Verhaltensbereich häufig“<br />
(DIMDI 2 1994, S. 356).<br />
Als Synonyme werden „Entwicklungsdyslexie“, „umschriebene Lesestörung“ und<br />
„Leserückstand“ angegeben. Als von der Lese- und Rechtschreibstörung zu unter-<br />
scheidende Störungsbilder werden die Alexie/Dyslexie (R48.0 ohne nähere Abgaben)<br />
und die Lesestörung infolge emotionaler Störung (F93) genannt. Des weiteren wird im<br />
gleichen Kapitel unter F 81.1 die „isolierte Rechtschreibstörung“ unterschieden (vgl.<br />
DIMDI 1994).<br />
Für die Forschung, speziell in der Neurologie bzw. Psychiatrie sowie in der Neuropsy-<br />
chologie ist jedoch die Definition nach MAS (Multiaxiales Klassifikationsschema für<br />
psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters) richtungsweisend.<br />
„Die ‚umschriebene Lese-Rechtschreib-Schwäche‘ ist eine Störung, ‚deren<br />
Hauptmerkmal eine ausgeprägte Beeinträchtigung der Entwicklung der<br />
Lese- und Rechtschreibfähigkeit ist, die nicht durch eine allgemeine intellektuelle<br />
Behinderung oder inadäquate schulische Betreuung erklärt<br />
werden kann‘“ (REMSCHMIDT zit. n. ROSENKÖTTER 1997, S. 10).<br />
Es wird in dieser Definition zwar nicht mehr von „Legasthenie“ gesprochen, dennoch<br />
hat sich in dem hier gebrauchten Begriff der „umschriebenen Lese-Rechtschreib-<br />
schwäche“ das Intelligenzkriterium gehalten. Deutlich wird das in der Formulierung „die<br />
nicht durch eine allgemeine intellektuelle Behinderung […] erklärt werden kann“.<br />
1 Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme,<br />
10. Revision (in Deutschland herausgegeben vom Deutschen Institut für medizinische Dokumentation<br />
und Information)<br />
2 DIMDI = Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information<br />
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Lese-Rechtschreibschwäche 8<br />
Grundlegend für diese Definition, die sich im übrigen auf die ICD-10 beruft, ist die<br />
Annahme, daß <strong>bei</strong> Lese-Rechtschreibschwäche biologische Ursachen vorliegen. Diese<br />
beeinträchtigen bzw. verzögern die Entwicklung von Funktionen, die mit der Reifung<br />
des zentralen Nervensystems verbunden sind. Zum störungsfreien Lernen des Lesens<br />
müssen aber genau diese Funktionen bis zum Einschulungsalter intakt sein.<br />
Einschränkungen bzw. Beeinträchtigungen dieser zentral-nervösen Funktionen können<br />
da<strong>bei</strong> lange vor der Geburt angelegt sein (ge<strong>net</strong>isch bedingt sein) oder sie entstehen<br />
im zeitlichen Umfeld der Geburt, z.B. durch Sauerstoffmangel. Das Elternhaus,<br />
genauer gesagt, die sprachliche Anregung und die Erziehung durch die Eltern, haben<br />
da<strong>bei</strong> lediglich zusätzliche Bedeutung (vgl. BVL 3 o.J., S. 5; FIRNHABER 1994, S.26).<br />
Kinder, die vom Syndrom der LRS betroffen sind, fallen in der Regel durch ihre<br />
Probleme in der Schule auf. Da sich die bisher vorgestellten Definitionen nicht auf<br />
diese schulischen Schwierigkeiten der Kinder beziehen, sind sie für die alltägliche<br />
schulische Praxis auch nicht von großer Bedeutung. Sie sind keine Hilfe <strong>bei</strong>m Erken-<br />
nen und Verstehen der Problematik durch bzw. für die Schule. Daher seien an dieser<br />
Stelle zwei weitere Definitionen genannt, die vor allem für die Schule praktikabel sind<br />
bzw. die schulischen Probleme der betroffenen Kinder berücksichtigen.<br />
Als erstes sind die Empfehlungen der KMK (Kultusministerkonferenz) vom 30. Juni<br />
1978 4 zu nennen. Diese Empfehlungen gelten für „Schüler, die besondere Schwierig-<br />
keiten im Lesen und Rechtschreiben haben“ (zit. n. DUMMER-SMOCH 1994, S. 116).<br />
Unter 3.2 „besondere Fördermaßnahmen“ wird die Schülergruppe genauer beschrie-<br />
ben, für die solche Fördermaßnahmen angeboten werden sollen, d.h. die als lese-<br />
rechtschreibschwach angesehen werden (sollen).<br />
„Besondere Födermaßnahmen sollen für Schüler vorgesehen werden, die<br />
die Ziele des Lese- und/oder Rechtschreibunterrichts der Jahrgangsstufe 2<br />
noch nicht erreicht haben, sowie für Schüler der Jahrgangsstufe 3 und 4,<br />
deren Leistungen im Lesen und/oder Rechtschreiben über einen Zeitraum<br />
von mindestens drei Monaten hinweg schlechter als ausreichend bewertet<br />
werden“ (KMK zit. n. DUMMER-SMOCH 1994, S. 118).<br />
Eine zweite für die Schule relevante Definition stammt von Lisa DUMMER-SMOCH, die<br />
lange Zeit Vorsitzende des Bundesverbandes Legasthenie e.V. (BVL) war.<br />
3 BVL = Bundesverband Legasthenie e.V.<br />
4 Der gesamte Wortlaut der KMK-Empfehlungen kann <strong>bei</strong> DUMMER-Smoch (1994) nachgelesen<br />
werden.<br />
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Lese-Rechtschreibschwäche 9<br />
Spezifische oder umschriebene Lese-Rechtschreib-Schwächen<br />
(Legasthenien) sind die in der Schule auffallenden Erscheinungsbilder<br />
partiellen Lernversagens im Lesen und/oder Rechtschreiben <strong>bei</strong> nicht<br />
beeinträchtigten intellektuellen Lernvoraussetzungen und - zunächst -<br />
besseren Schulleistungen in anderen Bereichen. Durch fortgesetzte<br />
Entmutigung kann die Legasthenie das Erscheinungsbild allgemeinen<br />
Schulversagens annehmen.<br />
Zugrunde liegen diesen Erscheinungsbildern jeweils unterschiedliche<br />
Kombinationen von Teilleistungsschwächen der Wahrnehmung, Motorik<br />
und der sensorischen Integration (Zusammenspiel verschiedener Wahrnehmungsbereiche).<br />
So ergeben sich unterschiedliche Schweregrade und<br />
Schwerpunkte der Lernschwierigkeiten des einzelnen Kindes.<br />
Die Teilleistungsschwächen erschweren insbesondere die Unterscheidung<br />
von Buchstabenformen (visuelle Detailerfassung) und/oder die Unterscheidung<br />
ähnlicher Sprachlaute (auditive Diskrimination).<br />
Die Teilleistungsschwächen gehen ursächlich auf Erbfaktoren oder auf<br />
Hirnreifungsverzögerungen durch Infekte oder andere Risiken zurück, die<br />
vor, während oder nach der Geburt aufgetreten sind, bzw. auf das Zusammenwirken<br />
<strong>bei</strong>der Ursachen“ (zit. n. BVL o.J., S. 5f).<br />
Diese Definition ist insofern für die Schule gehaltvoll, als daß sie zunächst sagt, welche<br />
Personengruppe als lese-rechtschreibschwach gilt, nämlich jene, die ein partielles<br />
Lernversagen im Lesen und/oder Rechtschreiben zeigt. Ferner gibt sie erste Hinweise<br />
zu möglichen Ursachen und impliziert damit auch bereits erste Ansätze für Interven-<br />
tionen bzw. Fördermaßnahmen.<br />
Zusammenfassend sei für die weiteren Ausführungen darauf hingewiesen, daß der<br />
Begriff „Lese-Rechtschreibschwäche (LRS)“ auf alle Kinder angewendet wird, die<br />
Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m Erlernen des Lesens und des (Recht-) Schreibens haben.<br />
Demgegenüber werden nur die Kinder als Legastheniker bezeich<strong>net</strong>, die eine intelli-<br />
genzdiskrepante Lese-Rechtschreibschwäche aufweisen. Folglich wird der Begriff der<br />
„Legasthenie“ oder der „umschriebenen Lese-Rechtschreibschwäche“ nur auf die<br />
Gruppe von Kindern angewendet, die <strong>bei</strong> normaler oder überdurchschnittlicher<br />
Intelligenz die Symptome einer LRS zeigen. Diese Unterscheidung 5 erscheint not-<br />
wendig, damit Forschungsergebnisse, die im weiteren Verlauf dargestellt werden,<br />
richtig verstanden werden, in dem Sinne, daß deutlich wird, für welche Gruppe von<br />
lese-rechtschreibschwachen Kindern ihre Aussagen Gültigkeit haben.<br />
5 Leider wird diese Unterscheidung von einigen Autoren nicht immer exakt vorgenommen, so<br />
benutzen sie den Begriff der LRS und der Legasthenie synonym. Bei der Darstellung ihrer<br />
Aussagen bzw. Studien im Rahmen dieser Ar<strong>bei</strong>t werden die Begriffe in der hier aufgezeigten<br />
Differenzierung angewendet, d.h. es wird, wenn nötig, eine „Übersetzung“ vorgenommen.<br />
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Lese-Rechtschreibschwäche 10<br />
1.2 Symptomatik<br />
Historisch gesehen blieben die Versuche über die Beschreibung einer charakteri-<br />
stischen Fehlertypologie zu differenzierten LRS-Mustern zu gelangen weitestgehend<br />
erfolglos. Sie führten meist nur zu einer Zuordnung zum eher visuell oder eher auditiv<br />
betroffenen Kind.<br />
Dennoch haben sich einige Autoren darum bemüht, eine an den Symptomen orien-<br />
tierte Einteilung vorzunehmen. Ein Beispiel dafür ist die Unterscheidung der „Linguistik-<br />
Dyslexie“ und der „Perzeptual-Dyslexie“ nach BAKKER. Unter dem Bild der „Linguistik-<br />
Dyslexie“ werden betroffene Menschen gefaßt, die schnell und mit vielen Fehlern<br />
lesen. „Perzeptual-Dyslexie“ wird durch langsames fragmentierendes, aber relativ<br />
sauberes Lesen charakterisiert (vgl. ROSENKÖTTER 1997, S. 14).<br />
In den heutigen Beiträgen zur LRS-Diskussion wird immer häufiger davon ausge-<br />
gangen, daß es keine charakteristische Fehlertypologie gibt. Die Meinung geht dahin,<br />
daß lese-rechtschreibschwache Kinder dieselben Fehler machen wie schriftsprachlich<br />
unauffällige Kinder, nur mit einer größeren Häufung (vgl. ANGERMAIER 1982, S. 209;<br />
ROSENKÖTTER 1997, S. 14). Im folgenden soll eine Übersicht über Fehlergruppen<br />
gegeben werden, die <strong>bei</strong> lese-rechtschreibschwachen Kindern relativ häufig zu<br />
beobachten sind. (vgl. BECKER 1977; WARNKE 1995). Ob da<strong>bei</strong> von LRS-typischen<br />
Fehlern gesprochen werden kann oder ob sie von allen Kindern gemacht werden, soll<br />
an dieser Stelle nicht diskutiert werden.<br />
1.2.1 Das Störungsbild des Lesens<br />
Zu Beginn des Lese-Lernprozesses kann sich eine (drohende) LRS in der Schwierig-<br />
keit äußern,<br />
a) das Alphabet aufzusagen,<br />
b) Buchstaben korrekt zu benennen,<br />
c) Laute trotz normaler Hörfähigkeit auditiv zu unterscheiden und<br />
d) Laute den entsprechenden Buchstaben zuzuordnen.<br />
Beim lauten Lesen in einem späteren Leselernstadium können dann folgende Schwie-<br />
rigkeiten zutage treten (vgl. WARNKE 1995, S. 289):<br />
a) Auslassen, Ersetzen oder Hinzufügen von Worten oder Wortteilen,<br />
b) niedrige Lesegeschwindigkeit,<br />
c) Startschwierigkeiten <strong>bei</strong>m Vorlesen, langes Zögern oder Verlieren der Zeile im<br />
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Text, ungenaues Phrasieren und<br />
d) Vertauschen von Wörtern im Satz oder von Buchstaben in Wörtern.
Lese-Rechtschreibschwäche 11<br />
Defizite im Leseverständnis zeigen sich in:<br />
e) einer Unfähigkeit, Gelesenes wiederzugeben,<br />
f) einer Unfähigkeit, aus Gelesenem Schlüsse zu ziehen oder Zusammenhänge<br />
zu sehen und<br />
g) in der Verwendung von allgemeinem Hintergrundwissen anstelle von<br />
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Informationen aus einem Text <strong>bei</strong>m Beantworten von Fragen zu diesem.<br />
Auch nach einem Hinweis auf einen Lesefehler ist es schwerer betroffenen Kindern<br />
zuweilen nicht möglich, ihren Fehler zu erkennen und zu korrigieren. Einmal richtig<br />
gelesene Worte können <strong>bei</strong> ihrem nächsten Erscheinen falsch und unter Umständen in<br />
anderen Zusammenhängen dann wieder richtig gelesen werden. Dieses Phänomen<br />
spricht dafür, daß gelesene Worte nicht korrekt wiedererkannt bzw. nicht korrekt<br />
gelesen werden können. Diese Störungen des Lesens sind häufig mit Rechtschreib-<br />
störungen verknüpft.<br />
1.2.2 Das Störungsbild der Rechtschreibung<br />
Die Rechtschreibfehler, die ein Kind macht, sind abhängig von seinem schulischen<br />
Entwicklungsstand. Eine für die LRS charakteristische Fehlertypologie läßt sich jedoch<br />
nicht erkennen. Es lassen sich lediglich in der deutschen Sprache immer wieder<br />
folgende Rechtschreibfehler beobachten (vgl. WARNKE 1995, S. 290):<br />
a) Reversion: Verdrehungen von Buchstaben in einem Wort, wie b-d, p-q, u-n<br />
(z.B. „Kunstbünger“ statt „Kunstdünger“);<br />
b) Reihenfolge oder Sukzessionsfehler: Umstellungen von Buchstaben in einem<br />
Wort (z.B. „Mraburg“ statt „Marburg“);<br />
c) Auslassungen: ein Buchstabe wird ausgelassen (z.B. „Hrbron“ statt<br />
„Herborn“);<br />
d) Einfügungen: falsche, nicht gehörte oder nicht selbst artikulierte Laute werden<br />
eingefügt (z.B. „Weichlar“ statt „Wetzlar“ oder „Biedenkoft“ statt „Biedenkopf“);<br />
e) Regelfehler und andere: z.B. Dehnungsfehler, Vertauschungen von d-t, g-k<br />
oder n-m (z.B. „Walt“ statt „Wald“, „Rein“ statt „Rhein“);<br />
f) Fehlerinkonstanz: ein und dasselbe Wort wird möglicherweise auch nach<br />
jahrelanger Übung auf ein und derselben Seite unterschiedlich falsch<br />
geschrieben.<br />
Diese Fehler können auch <strong>bei</strong> Kindern beobachtet werden, die sich die Worte korrekt<br />
artikuliert vorsprechen können und sich das Wort Buchstabe für Buchstabe korrekt<br />
(lautierend) selbst diktieren können.
Lese-Rechtschreibschwäche 12<br />
1.3 Begleitsymptome<br />
Beim Vorliegen einer LRS sind folgende primäre Begleitsymptome relativ häufig, aber<br />
nicht in jedem Fall zu beobachten (vgl. WARNKE 1991, S. 14):<br />
a) expressive und/oder rezeptive Sprachentwicklungsstörungen,<br />
b) umschriebene Rechenstörungen (Dyskalkulie),<br />
c) entwicklungsbezogene Störungen der Koordination,<br />
d) Störungen der Sprachwahrnehmung, wie etwa der Lautdiskrimination,<br />
e) <strong>bei</strong> bis zu 10% der legasthenen Kinder Schwächen in der visuellen<br />
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Wahrnehmung.<br />
Herausragende sekundäre Begleitsymptome stehen in einem engen Zusammenhang<br />
mit der schulischen Situation der Kinder. Speziell Lese- und Rechtschreibfähigkeiten<br />
haben einen hohen Stellenwert in der Schule, nicht nur im Deutsch- bzw. Fremdspra-<br />
chenunterricht. Auch in vielen anderen Fächern müssen sich die Schüler Wissen<br />
erlesen. Darüber hinaus müssen sie auch Tests und Klassenar<strong>bei</strong>ten schreiben, <strong>bei</strong><br />
denen die Aufgabenstellung gelesen und verstanden sowie Wissen in den Antworten<br />
entsprechend verschriftlicht werden muß. Schüler mit einer LRS haben gerade damit<br />
Schwierigkeiten. Was häufig dazu führt, daß sie auch in nicht-sprachlichen Fächern,<br />
wie z.B. in den naturwissenschaftlichen, nicht ihrem tatsächlichen Leistungsvermögen<br />
entsprechend beurteilt werden. Diese Schüler werden dann aufgrund ihrer umschrie-<br />
benen bzw. isolierten Schwäche im schriftsprachlichen Bereich häufig und allzuleicht<br />
für „dumm“ gehalten (vgl. DuMMER-SMOCH 1994, S. 13f).<br />
Als Folge aus der Diskrepanz zwischen besserem Lernvermögen und der LRS sowie<br />
des langsamen Fortkommens im Erlernen des Lesens und Schreibens trotz guter,<br />
umfangreicher Förderung ergeben sich häufig Schullaufbahnprobleme. Das betroffene<br />
Kind „paßt“ aufgrund der ständigen Überforderung im Lesen und Schreiben gegenüber<br />
der teilweisen Unterforderung in anderen Leistungsbereichen nicht ins Schulsystem<br />
(vgl. DUMMER-SMOCH 1994, S. 14).<br />
Die häufigen und anhaltenden Mißerfolge stellen eine große psychische Belastung dar.<br />
Diese kann durch den erhöhten Zeitaufwand im schulischen Lernen bzw. <strong>bei</strong> den<br />
Hausaufgaben, den Mangel an Anerkennung und die Beeinträchtigung des Selbstwert-<br />
gefühls verstärkt werden und stellt dann einen hohen Risikofaktor für die Entstehung<br />
von psychischen und psychiatrischen Erkrankungen dar. Ferner wirkt die partielle<br />
Lernstörung des Kindes auch auf Familie zurück, d.h. relativ häufig kommt es in der<br />
Folge zu Familienkonflikten. Speziell das Verhältnis zu dem Elternteil, der für den<br />
schulischen Erfolg verantwortlich gemacht wird, meist die Mutter, ist sehr gespannt.<br />
Da<strong>bei</strong> ist zu beobachten, daß gerade <strong>bei</strong> Kindern aus sozial instabilen Familien die<br />
LRS einen zusätzlichen Streßfaktor darstellt (vgl. ROSENKÖTTER 1997, S. 14).
Lese-Rechtschreibschwäche 13<br />
Eine detaillierte Auflistung von sekundären Begleitsymptomen ist <strong>bei</strong> NIEBERGALL<br />
(1987) zu finden. Wo<strong>bei</strong> kritisch angemerkt werden muß, daß keine kausalen Zusam-<br />
menhänge aufgezeigt werden. Aus der Zusammenstellung geht nicht hervor, welche<br />
Symptome Folge der LRS sind und welche bereits vor ihr bestanden haben und somit<br />
als ursächlich oder zumindest bedingende, fördernde Faktoren in Betracht kommen<br />
(vgl. WARNKE 1991, S. 14f; ANGERMAIER 1982, S. 212). Die einzelnen Symptome<br />
wurden von WARNKE (1991) zu folgenden fünf Obergruppen zusammengefaßt:<br />
a) Störungen im Lern-Leistungsverhalten: in der Regel mangelnde, nur<br />
selten übermäßige Leistungshaltung;<br />
b) emotionale Störungen: Angst und Verstimmungen, besonders schulische<br />
Versagensängste und reaktive Depression;<br />
c) hyperaktive Symptomatik: Bewegungsunruhe und Konzentrationsschwäche;<br />
d) psychosomatische Symptome: häufig Kopf- und Bauchschmerzen sowie<br />
Übelkeitsgefühle im funktionellen Zusammenhang mit Schulleistungsanforderungen<br />
(Symptomgruppe I) und seltener Asthma, Neurodermitis<br />
usw. (Symptomgruppe II);<br />
e) Störungen im Sozialverhalten: schulische Disziplinschwierigkeiten<br />
Kontakstörungen, Gereiztheit, Aggressivität, Hausaufgabenkonflikte,<br />
Dissozialität.<br />
(vgl. WARNKE 1991, S. 15)<br />
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Lese-Rechtschreibschwäche 14<br />
1.4 Ursachen<br />
Den weiteren Überlegungen sei ein Zitat des englischen Philosophen SPENCER voran-<br />
gestellt:<br />
„Die Urteile des Menschen durchlaufen drei Phasen: (1) Einstimmigkeit der<br />
Unwissenden, (2) Nichtübereinstimmung der Fragenden, (3) Übereinstimmung<br />
der Wissenden“ (zit. n. SCHENK-DANZIGER 1991, S. 37).<br />
Die Ursachenforschung zur Lese-Rechtschreibschwäche befindet sich derzeit in der<br />
zweiten Phase, d.h. es werden sehr viele verschiedene Ursachen für die Entstehung<br />
einer LRS diskutiert.<br />
1.4.1 Konstitutionelle Dispositionen<br />
Als konstitutionelle Dispositionen, die Lese-Rechtschreibschwäche verursachen<br />
könnten, werden ge<strong>net</strong>ische Veranlagungen und vor dem Erlernen der Schriftsprache<br />
erworbene prä-, peri- und postnatale Hirnfunktionsstörungen angenommen.<br />
„Die spezifisch ge<strong>net</strong>ische Disposition oder/und erworbene hirnorganische<br />
Veränderungen, die die Teilleistungsschwäche begründen, werden in Interaktion<br />
mit ge<strong>net</strong>isch bestimmtem kognitivem Potential, Alter und Entwicklungsstand<br />
sowie Lernanreiz, Übung, anderen Milieueinflüssen und der Art<br />
der Aufgabenstellung (z.B. alphabetische Schrift) als umschriebene Rechtschreibschwäche<br />
manifestiert“ (WARNKE 1990, S. 9) (vgl. Abbildung 1).<br />
www.foepaed.<strong>net</strong><br />
Spezifisch ge<strong>net</strong>ische<br />
Belastung<br />
oder/und<br />
erworbene hirnorganische<br />
Veränderung<br />
begründen<br />
Teilleistungsschwäche<br />
in Relation zu<br />
- ge<strong>net</strong>isch limitiertem<br />
kognitivem Potential<br />
- Lernanreiz und<br />
Übung<br />
- Alter bzw.<br />
Entwicklungsstand<br />
Verknüpfungsmodus<br />
unklar<br />
Verknüpfungsmodus<br />
unklar<br />
Abbildung 1: Konstitutionelle Dispositionen und LRS (WARNKE 1990, S. 10)
Lese-Rechtschreibschwäche 15<br />
Für eine ge<strong>net</strong>ische Vorbelastung bzw. für eine ge<strong>net</strong>ische Komponente spricht die<br />
familiäre Häufung von Lese-Rechtschreibschwäche. ROSENKÖTTER (1997) spricht von<br />
60% aller Kinder mit LRS, <strong>bei</strong> denen mindestens ein naher Verwandter eine Schreib-<br />
leseschwäche aufweist. Ein weiterer Hinweis sind die Konkordanzwerte aus der<br />
Zwillingsforschung. So fand <strong>bei</strong>spielsweise HERMANN <strong>bei</strong> 11 Eineiigen-Zwillingspaaren<br />
eine Konkordanz von 100% <strong>bei</strong> Zweieiigen-Zwillingspaaren lag sie <strong>bei</strong> 33% (vgl.<br />
WARNKE 1990, S. 10). Für eine ge<strong>net</strong>ische Disposition spricht ferner, daß Jungen<br />
sechs- bis achtmal häufiger betroffen sind als Mädchen (vgl. ROSENKÖTTER, S. 14).<br />
1983 fanden SMITH u.a. Anhaltspunkte für ein legastheniespezifisches Gen auf<br />
Chromosom 15 (vgl. WARNKE 1990, S. 10). Daneben wird auch eine Verbindung zum<br />
Chromosom 6 vermutet (vgl. [3] 6 ). Ferner scheint eine Abweichung in der Anzahl der<br />
Chromosomen, speziell der Geschlechtschromosomen, ein erhöhtes Risiko für die<br />
Entstehung einer LRS darzustellen, was besonders für Jungen mit XXY-Chromoso-<br />
mensatz zutrifft (vgl. KLICPERA/GASTEIGER-KLICPERA 1995, S. 283). In diesem<br />
Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß <strong>bei</strong> lese-rechtschreibschwachen Kindern<br />
überproportional häufig allergische Erkrankungen und Erkrankungen des Immun-<br />
systems zu finden sind 7 . GALABURDA sieht darin einen Hinweis auf einen immunolo-<br />
gischen Teilmechanismus in der Genese der Lese-Rechtschreibschwäche. Bisher<br />
konnte dafür aber noch kein Genlokus auf den Chromosomen von Legasthenikern<br />
determiniert werden. Daher wird zur Zeit eher von einer hormonellen oder stoffwech-<br />
selbedingten intrauterinen Entstehung ausgegangen (vgl. ROSENKÖTTER 1997, S. 11).<br />
Für die Annahme einer minimalen cerebralen Dysfunktion (MCD) 8 als Ursache für<br />
Lese-Rechtschreibschwäche spricht die häufige Verknüpfung von LRS mit anderen<br />
cerebralen Dysfunktionen (vgl. WARNKE 1990, S. 11).<br />
RUTTER und YULE kamen zu dem Ergebnis, daß minderbegabte, lernschwache Kinder<br />
mit einer LRS deutlich mehr neuropsychologische Auffälligkeiten aufweisen als Kinder<br />
mit intelligenzdiskrepanter spezifischer Lese- und Rechtschreibschwäche (vgl. WARNKE<br />
1990, S 11). DENCKLA schlug deshalb vor, folgende zwei Formen zu unterscheiden<br />
(ebd.):<br />
f) „Dyslexia plus“, Lese-Rechtschreibschwäche mit Zusatzsymptomen (wie z.B.<br />
Hyperki<strong>net</strong>ik und andere neurologische Symptomen), und<br />
g) „Dyslexia pure“, Lese-Rechtschreibschwäche ohne Zusatzsymptome.<br />
6 Diese Form des Quellenverweises ist für alle Inter<strong>net</strong>-Quellen gewählt worden. Diese sind unter<br />
entsprechender Nummer am Ende des Literaturverzeichnisses zu finden.<br />
7 Lese-Rechtschreibschwache Kinder fallen auch wegen häufiger Schulversäumnisse auf, die nicht<br />
selten krankheitsbedingt sind (vgl. ANGERMAIER 1982, S. 209).<br />
8 Das Konzept der MCD ist durch das der Teilleistungsschwäche abgelöst (vgl. Kapitel 1.4.4)<br />
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Lese-Rechtschreibschwäche 16<br />
Ein Zusammenhang zwischen LRS und MCD ist aber nicht für alle Kinder nachweisbar.<br />
Der Anteil von Kindern, <strong>bei</strong> denen eine perinatale 9 Hirnschädigung von Bedeutung ist,<br />
wird auf 12% geschätzt. Offensichtlich besteht also ein solcher Zusammenhang, wie er<br />
sich im Einzelfall konkret äußert, ist jedoch noch nicht geklärt (vgl. ROSENKÖTTER 1997,<br />
S. 11).<br />
1.4.2 Psychosoziale Einflüsse und defizitärer Unterrichtung als erklärende<br />
Variable<br />
Häufig kommen Kinder mit LRS aus sozio-ökonomisch schlecht gestellten Familien<br />
und/oder aus Familien mit geringem sprachlichen Anregungsgrad (vgl. ANGERMAIER<br />
1981, S. 209). Bei einer vollständigen kinder- und jugendpsychiatrischen Inanspruch-<br />
nahmepopulation konnte REMSCHMIDT (1987) jedoch keinen Zusammenhang zwischen<br />
Legasthenie und sozialer Schicht ermitteln. LRS kam über alle (Herkunfts-) Schichten<br />
gleich verteilt vor. Was den Schluß zuläßt, daß <strong>bei</strong> Sicherung einer normalen und<br />
adäquaten Beschulung und <strong>bei</strong>m Ausschluß relevanter psychosozialer Hindernisse<br />
eine Anzahl Kinder mit LRS verbleibt, <strong>bei</strong> denen sich die LRS unabhängig von<br />
schichtspezifischen Faktoren entwickelt. Ob das soziale Umfeld des Kindes eine<br />
ursächliche Funktion <strong>bei</strong>m Entstehen einer LRS hat, kann aus diesen Ergebnissen<br />
nicht endgültig geklärt werden. Auf jeden Fall scheint es aber <strong>bei</strong>m Vorhandensein<br />
einer Anlage verstärkend zu wirken. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß in<br />
der ICD-10 der WHO soziokulturelle Komponenten zur Ätiologie der LRS nicht ausge-<br />
schlossen werden.<br />
Eine erhebliche Diskrepanz in der Quote von Kindern mit LRS stellten KLICPERA und<br />
GASTEIGER-KLICPERA (1995) in unterschiedlichen Klassen einer Schule fest. Bei einer<br />
genaueren Betrachtung ergaben sich Zusammenhänge zwischen der Quote von<br />
Schülern mit LRS und dem Stil des Deutschlehrers. Es scheint also unbestritten, daß<br />
schlechter schriftsprachlicher Unterricht <strong>bei</strong>m Vorhandensein einer Prädisposition zum<br />
Auftreten des Syndroms der LRS <strong>bei</strong>trägt. Ferner scheint ebenfalls festzustehen, daß<br />
sich <strong>bei</strong> Kindern eine Lese-Rechtschreibschwäche entwickeln kann, die einen norma-<br />
len oder sogar ungewöhnlich guten schriftsprachlichen Unterricht genossen haben und<br />
die auch mit einer therapeutischen Förderung keine normale Lese- und Rechtschreib-<br />
fähigkeit erlangen (vgl. KLICPERA/GASTEIGER-KLICPERA 1995, S. 296ff; ANGERMAIER<br />
1981, S. 211; FIRNHABER 1994, S. 25f).<br />
Im Wechselverhältnis Schule und Elternhaus ist <strong>bei</strong> LRS-Kindern zu beobachten, daß<br />
entweder jegliche Hausaufgabenunterstützung entfällt oder im Gegenteil stundenlag<br />
9 Die perinatale Phase umfaßt den Zeitraum von kurz vor bis zum siebten Tag nach der Geburt.<br />
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Lese-Rechtschreibschwäche 17<br />
geübt wird. Die Eltern lese-rechtschreibschwacher Kinder haben offensichtlich ein Pro-<br />
blem, das Leistungsverhalten und die Leistungsprobleme ihrer Kinder zu steuern (vgl.<br />
ANGERMAIER 1982, S. 212). Dieser Fakt spielt in der Genese der LRS sicherlich keine<br />
ursächliche Rolle, sondern wird eher die sekundären Begleitsymptome verstärken.<br />
1.4.3 Neuropsychologische Erklärungsansätze<br />
Schriftsprache ist eine komplexe Leistung, die z.B. eine intakte Lernfähigkeit, aus-<br />
reichende Sinnesfunktionen sowie eine ausreichende Integration sprachlicher,<br />
visueller, auditiver und motorischer Funktionen voraussetzt. Neuropsychologische<br />
Erklärungshypothesen setzten genau <strong>bei</strong> diesen zentral-nervösen Funktionen an. Sie<br />
konzentrieren sich auf Dysfunktionen in der zentral-nervösen Verar<strong>bei</strong>tung von Schrift-<br />
sprache bzw. schriftsprachlicher Informationen. Da<strong>bei</strong> soll keinesfalls das Vorhanden-<br />
sein einer Hirnschädigung postuliert werden. Vielmehr geht es darum, das Wissen um<br />
die Entwicklung zentral-nervöser Funktionen und um die Organisation des Zentralner-<br />
vensystems dazu zu benutzen, den Beitrag dieser konstitutionellen Faktoren <strong>bei</strong> der<br />
Entstehung der individuellen Schwierigkeiten der Kinder zu klären (vgl. WARNKE 1990,<br />
S. 12). Offen bleibt da<strong>bei</strong> die Frage, worin die ursächliche Dysfunktion genau besteht.<br />
Denkbar wäre „eine ‚nachweisbare strukturelle bzw. funktionelle Störung des zentralen<br />
Nervensystems‘, eine ‚zentralnervöse Funktionsstörung‘ für die sich aber kein struktu-<br />
relles Korrelat finden läßt, ‚eine verlangsamte oder andersartige Reifung von zentral-<br />
nervösen Funktionen‘ oder schließlich eine ‚individuelle Variation zentral-nervöser<br />
Funktionen‘“ (WARNKE 1990, S. 12). Bei der Entwicklung zentral-nervöser Funktionen<br />
und ihrer strukturellen Architektur ist neuronale Aktivität mitbestimmend, die wiederum<br />
ge<strong>net</strong>isch bedingt oder durch Umwelteinflüsse determiniert sein kann.<br />
Diese übergeord<strong>net</strong>en Überlegungen fächern sich in vielfältige neuropsychologische<br />
Ansätze auf, die im folgenden kurz charakterisiert werden sollen.<br />
(1) Abnorme anatomische Entwicklung der Hirnregionen, die für den Erwerb von<br />
Schriftsprache als ausschlaggebend angesehen wird, bzw. der intra- und inter-<br />
hemisphärischen Verbindungen (vgl. WARNKE 1990, S. 13).<br />
Diese Hypothese wird von neueren anatomischen Befunden gestützt. GALABURDA<br />
fand <strong>bei</strong> seinen Untersuchungen an acht Gehirnen früh verstorbener legasthener<br />
Personen eine entwicklungsbedingte, minimale Anomalie in der Hirnrinde und in<br />
einigen tieferliegenden Strukturen des Gehirns (vgl. DUMMER-SMOCH 1995, S. 4;<br />
ROSENKÖTTER 1997, S. 80).<br />
(2) Gestörter Aufbau funktioneller Hemisphärendominanz von an sich lateralisierter<br />
Hirnfunktionen bzw. eine abnorme Entwicklung der Lateralisierung schriftsprach-<br />
licher Informationsverar<strong>bei</strong>tung.<br />
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Lese-Rechtschreibschwäche 18<br />
In den bereits unter (1) genannten Untersuchungen fand GALABURDA <strong>bei</strong> allen<br />
Gehirnen eine Symmetrie der <strong>bei</strong>den Schläfenlappen (Planum Temporale). Bei<br />
80% aller Menschen haben jedoch Teile des linken Schläfenlappens, die zu den<br />
Sprachregionen zählen, ein größeres Volumen als diejenigen der entsprechenden<br />
rechten Seite (vgl. DUMMER-SMOCH 1995, S. 4; ROSENKÖTTER 1997, S. 81). Diese<br />
Aufhebung der physiologischen Hirnasymmetrie <strong>bei</strong> Legasthenikern konnte später<br />
in computer- und kernspintomographischen Studien bestätigt werden (vgl.<br />
ROSENKÖTTER 1997, S. 81).<br />
Auch Messungen der Durchblutung bzw. der neuronalen Aktivität in Gehirnen<br />
legasthener Personen <strong>bei</strong> sprachlichen Aufgaben kamen zu ähnlichen Ergeb-<br />
nissen (vgl. ROSENKÖTTER 1997, S. 80 ff).<br />
Die in diesem Zusammenhang auch diskutierte Häufung von Linkshändigkeit in<br />
der Gruppe der lese-rechtschreibschwachen Kinder ist mittlerweile widerlegt (vgl.<br />
ROSENKÖTTER 1997, S. 11; ANGERMAIER 1982, S. 210).<br />
(3) Dysfunktion intra- und interhemisphärischer Informationsverar<strong>bei</strong>tung<br />
Bei Kindern mit LRS lassen sich häufig intermodale Assoziationsschwierigkeiten<br />
beobachten, d.h. sie zeigen Schwächen <strong>bei</strong> der Verknüpfung von verbal auditiven<br />
und visuellen Informationen. Aus dieser Beobachtung läßt sich ableiten, daß eine<br />
Dysfunktion der intra- und interhemisphärischen Informationsverar<strong>bei</strong>tung <strong>bei</strong> der<br />
Entstehung einer LRS beteiligt sein könnte. Postuliert wird dementsprechend ein<br />
Defizit in der Integration visueller und sprachlicher Informationen. Elektro-<br />
physiologische Studien zeigen ferner, daß LRS-Kinder eine andere kortikale<br />
Verar<strong>bei</strong>tung von Funktionen des Lesens und Schreibens aufweisen, als<br />
schriftsprachlich normal entwickelte Kinder. Deutlich wird dies vor allem <strong>bei</strong><br />
topographischen Darstellungen von Hirnfunktion während schriftsprachlicher<br />
Aufgabenstellungen (vgl. WARNKE 1990, S. 14).<br />
(4) Störungen der Aufmerksamkeit<br />
Die Grundlage dieser Hypothese ergibt sich aus der Beobachtung, daß viele<br />
Kinder mit LRS im Unterricht unkonzentriert erscheinen. Lesen und (Recht-)<br />
Schreiben verlangt jedoch selektive Aufmerksamkeit, d.h. aus einem komplexen<br />
Reizgefüge muß zum richtigen Zeitpunkt auf einen relevanten Reiz zweckmäßig<br />
reagiert werden. Für eine Beeinträchtigung der selektiven Aufmerksamkeit, jedoch<br />
nicht der Daueraufmerksamkeit, <strong>bei</strong> LRS-Kindern konnte u.a. WARNKE (1990)<br />
einen signifikanten Hinweis finden.<br />
Die im Unterricht zu beobachtenden Aufmerksamkeitsschwierigkeiten von lese-<br />
rechtschreibschwachen Kindern sind jedoch differenziert zu betrachten. Sie<br />
müssen nicht unbedingt an der Verursachung einer LRS beteiligt sein, sondern<br />
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Lese-Rechtschreibschwäche 19<br />
können auch Folge derselben sein. Die ausgewählten Aufgaben bzw. Lesetexte<br />
stellen für diese Kinder oft eine Überforderung dar, weshalb sie dazu neigen diese<br />
vorzeitig abzubrechen oder nur flüchtig bzw. oberflächlich zu bear<strong>bei</strong>ten, da sie die<br />
Aufgabenstellung nicht wirklich verstanden haben (vgl. ANGERMAIER, 1982, S. 212;<br />
KLICPERA/GASTEIGER-KLICPERA 1995, S. 273f).<br />
(5) Dysfunktionen der sequenziellen Reizverar<strong>bei</strong>tung<br />
Schreiben ist die Fähigkeit eine akustisch-sprachliche und zeitlich geord<strong>net</strong>e<br />
Reihenfolge in eine visuelle und räumliche zu transformieren. Genau da<strong>bei</strong> haben<br />
aber einige Kinder mit LRS Schwierigkeiten; sie können die Phoneme nicht in die<br />
richtige Folge von Buchstaben übersetzten. Aufgrund dieser Beobachtung wird<br />
eine Dysfunktion im Kodieren längerer sequentieller Einheiten als bedeutsam für<br />
die Entstehung einer LRS angenommen. Diese Hypothese wird zum einen durch<br />
die von GRAICHEN untersuchte Bedeutung von hierarchisch-sequentiellen Regula-<br />
tionen für die Genese von Teilleistungsschwächen gestützt (vgl. WARNKE 1990, S.<br />
14). Zum anderen konnte GANTZER zeigen, daß dieses Defizit <strong>bei</strong> Aufgaben, <strong>bei</strong><br />
denen das genaue Einhalten einer Reihenfolge verlangt wird, um so deutlicher<br />
zutage tritt, je ähnlicher das da<strong>bei</strong> verwendete Material der Schriftsprache ist (vgl.<br />
WARNKE 1995, S. 307).<br />
(6) Dysfunktionen von Gedächtnisleistungen<br />
In einer Reihe von Studien konnte gezeigt werden, daß lese-rechtschreib-<br />
schwache Kinder eine geringere Kapazität des Ar<strong>bei</strong>tsgedächtnisses aufweisen.<br />
Da dieses für das Leseverständnis von großer Bedeutung ist, wird hierin eine<br />
Ursache von Leseschwierigkeiten gesehen (vgl. KLICPERA/GASTEIGER-KLICPERA<br />
1995, S. 257).<br />
Bei einigen Kindern mit LRS können ferner Wortfindungsstörungen beobachtet<br />
werden. Was darauf hinweist, daß für die Schriftsprachentwicklung bestimmte<br />
Gedächtnisleistungen nötig sind, deren Funktion <strong>bei</strong> lese-rechtschreibschwachen<br />
Kindern gestört sein kann. Ferner wurden <strong>bei</strong> betroffenen Kindern ungenügende<br />
Gedächtnisstrategien beobachtet, wie etwa zu geringer Zeitaufwand für das<br />
Memorieren schriftsprachlicher Informationen sowie ungenügende Wieder-<br />
holungsstrategien (vgl. WARNKE 1990, S. 14).<br />
(7) Dysfunktionen der sprachlichen Informationsverar<strong>bei</strong>tung<br />
Die Hypothese einer gestörten sprachlichen Informationsverar<strong>bei</strong>tung steht derzeit<br />
im Mittelpunkt neuropsychologischer Erklärungsansätze. Die Annahme ergibt sich<br />
aus der Tatsache, daß sich eine Subgruppe lese-rechtschreibschwacher Kinder<br />
herausar<strong>bei</strong>ten läßt, die neben der LRS auch Sprachentwicklungsauffälligkeiten<br />
zeigen. Da<strong>bei</strong> können in dieser Subgruppe vor allem Defizite in der Syntax, <strong>bei</strong> der<br />
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Lese-Rechtschreibschwäche 20<br />
Wortfindung, <strong>bei</strong> der Lautdiskrimination und im verbalen Gedächtnis beobachtet<br />
werden.<br />
SPREEN zeigte aber auf, daß es auch lese-rechtschreibschwache Kinder gibt, die<br />
ausgezeich<strong>net</strong>e sprachliche Fähigkeiten besitzen. Und auch BERKHAN, der den<br />
Zusammenhang von Dyslalie und LRS untersuchte, beobachtete die Unabhängig-<br />
keit einer Rechtschreibschwäche von expressiven Sprach- und Sprechstörungen<br />
(vgl. WARNKE 1990, S. 15).<br />
Klinische Befunde wie z.B. von ANGERMAIER belegen zweifellos, daß LRS und<br />
Sprachentwicklungsstörungen häufig gemeinsam auftreten. Gleichzeitig gibt es<br />
aber einen erheblichen Prozentsatz von lese-rechtschreibschwachen Kindern, die<br />
keine manifestierte Sprach- und/oder Sprechstörung aufweisen. Es wäre also<br />
denkbar, daß die Sprachstörung nicht Ursache der LRS ist, sondern daß <strong>bei</strong>de<br />
Symptome auf eine gemeinsame Ursache zurückzuführen sind. Diese könnte in<br />
einer Dysfunktion der Verar<strong>bei</strong>tung sprachlicher Informationen liegen.<br />
(8) Beeinträchtigung phonologischer Funktionen<br />
Eine zur Zeit ebenfalls viel diskutierte Hypothese ist die der phonologischen Ver-<br />
ar<strong>bei</strong>tungsschwäche. Sie stellt den direkten Bezug zu den Verar<strong>bei</strong>tungstheorien<br />
des Lesens und Schreibens dar. Aufgrund der Beobachtung, daß die Rekodierung<br />
der Grapheme in Phoneme <strong>bei</strong>m Lesen und umgekehrt der Phoneme in<br />
Grapheme <strong>bei</strong>m Schreiben eine Funktion ist, die scheinbar dem Großteil der lese-<br />
rechtschreibschwachen Kinder Schwierigkeiten bereitet, wäre eine allgemeine<br />
Beeinträchtigung phonologischer Funktionen als Ursache der LRS denkbar. Folg-<br />
lich würde es diesen Kindern schwerfallen, Einsicht in den Phonemaufbau der<br />
Sprache zu gewinnen, was wiederum zu Schwierigkeiten <strong>bei</strong> der Analyse von<br />
Phonemfolgen führen würde. Die phonologische Verar<strong>bei</strong>tungsschwäche kann<br />
da<strong>bei</strong> auf verschiedenen Ebenen verursacht sein, in Betracht kommen die Ebene<br />
der auditiven Analyse und Diskriminierung, des phonologischen Zwischen-<br />
speichers oder der Umwandlung phonologischer Informationen in Artikulations-<br />
programme (vgl. KLICPERA/GASTEIGER-KLICPERA 1995, S. 247ff).<br />
(9) Dysfunktionen des optischen Apparates<br />
Als mögliche Ursache von LRS werden auch Störungen der Sehschärfe und des<br />
<strong>bei</strong>däugigen Sehens, Interferenzen der retinalen Reizverar<strong>bei</strong>tung sowie Anoma-<br />
lien der Augenbewegungen in Betracht gezogen.<br />
BISCALDI (1996) konnte in ihren Untersuchungen zu Augenbewegungen <strong>bei</strong>m<br />
Lesen zeigen, daß eine Subgruppe von Legasthenikern beschrieben werden kann,<br />
die sich durch unregelmäßige Blicksprünge (Sakkaden) <strong>bei</strong>m Abtasten des Textes<br />
von normalen Lesern unterscheidet. Diese Gruppe weist also Besonderheiten <strong>bei</strong><br />
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Lese-Rechtschreibschwäche 21<br />
der Blickkontrolle auf, die sich in Schwierigkeiten <strong>bei</strong> der Blicksteuerung bzw. der<br />
Fixation und teilweise <strong>bei</strong> der visuellen Aufmerksamkeit äußern. Als Ursache<br />
werden kleinste zentral-nervöse Fehlfunktionen vermutet. Da aber auch einige<br />
„normale“ Leser diese Auffälligkeiten zeigten, wird die Frage aufgeworfen, inwie-<br />
weit hier eine Ursache oder nur ein begünstigender Faktor für die Entstehung einer<br />
LRS gefunden wurde (vgl. [3]; SCHROTH 1997b, S. 10). Ähnliche Auffälligkeiten in<br />
den Blickbewegungen von legasthenen Kindern <strong>bei</strong>m Betrachten eines Textes<br />
haben auch RABETGE und KRAUS-MACKIW (1982) beschrieben.<br />
In den bereits erwähnten Studien von GALABURDA zeigte sich ferner eine anato-<br />
mische Veränderung der visuellen Nervenbahnen im Bereich des seitlichen<br />
Kniehöckers (vgl. Kapitel 7).<br />
(10) Dysfunktionen in der visuellen Verar<strong>bei</strong>tung<br />
Ein generelles Defizit <strong>bei</strong> der Verar<strong>bei</strong>tung von visuellen Informationen konnte<br />
WARNKE (1990) zwar nicht beobachten. Bekamen die visuellen Informationen<br />
buchstabenähnlichen Charakter und/oder wurden verbale Lösungsstrategien<br />
möglich, zeigten sich jedoch deutliche Unterschiede zwischen der Gruppe der<br />
Legastheniker und der Vergleichsgruppe. Ferner zeigen die Ergebnisse seiner<br />
hirnelektrischen Untersuchungen, daß <strong>bei</strong> legasthenen Personen visuell provo-<br />
zierte Erregungsvorgänge linkshemisphärisch verzögert sind. Darüber hinaus<br />
stützen seine Befunde die Vermutung, daß die visuelle Informationsaufnahme <strong>bei</strong><br />
Legasthenikern dysfunktionell ist.<br />
1.4.4 Teilleistungsschwäche<br />
In der heutigen Diskussion um die Verursachung der Lese-Rechtschreibschwäche hat<br />
sich das Konzept der Teilleistungsschwäche bzw. -störung bereits weitgehend<br />
etabliert, auf das hier nur kurz eingegangen werden soll.<br />
Die Grundlage erfährt dieses Modell durch das Konzept der MCD. In den letzten<br />
Jahren ist aber gerade das MCD-Konzept durch seine unpräzise Definition und die<br />
unkontrollierte Anwendung, speziell in den 70er und Anfang der 80er Jahre, stark in die<br />
Kritik geraten und schließlich durch das Konzept der Teilleistungsstörungen ersetzt<br />
worden. Vor allem war auch die Vorstellung nicht mehr haltbar, daß die MCD (die Teil-<br />
leistungsstörung) durch eine Geburtsschädigung bzw. durch Sauerstoffmangel <strong>bei</strong> der<br />
Geburt verursacht sei (vgl. KLICPERA/GASTEIGER-KLICPERA 1995, S. 283ff; ROSEN-<br />
KÖTTER 1997, S. 65ff).<br />
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Lese-Rechtschreibschwäche 22<br />
„Teilleistungen sind Leistungen einzelner Faktoren oder Glieder innerhalb<br />
eines funktionellen Systems […], die zur Bewältigung einer komplexen<br />
physiologischen (z.B. Atmen, Laufen) oder einer pädagogisch-psychologischen<br />
Aufgabenstellung (z.B. Wahrnehmung, Denken, Sprechen,<br />
spezielle intellektuelle Funktionen wie z.B. Lesen, Schreiben, Rechnen)<br />
erforderlich sind. […]<br />
[…] unter Teilleistungen werden basale neuropsychologische Funktionen<br />
verstanden, die wesentliche Voraussetzungen für die Entwicklung bzw. das<br />
Erlernen aller höheren psychischen und physischen Tätigkeiten sind. Auf<br />
der Grundlage und im Zusammenhang dieser Teilleistungen lernen Kinder<br />
Lesen, Schreiben und Rechnen und natürlich auch situationsgemäßes<br />
soziales Handeln“ (DIETEL/KASSEL 1993, S. 299).<br />
In diesem Sinne kann die Lese-Rechtschreibschwäche auch als eine hirnorganisch<br />
bedingte und spezifische Teilleistungsschwäche/-störung verstanden werden. Im Fall<br />
der LRS betrifft die funktionelle und morphologische Schädigung vor allem das<br />
Schreiblesezentrum und andere Bereiche, die mit der Erfassung und Verar<strong>bei</strong>tung<br />
geschriebener Sprache befaßt sind. Beim Entstehen einer Lese-Rechtschreib-<br />
schwäche können also folgende Teilleistungen betroffen sein (vgl. ROSENKÖTTER 1997,<br />
S. 12):<br />
a) im visuellen System: die visuelle Erfassung, Speicherung und Wiedergabe<br />
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von Buchstaben, und Wörtern, die Steuerung der Augenfolgebewegungen<br />
<strong>bei</strong>m Lesen und die Verschmelzung der Seheindrücke (binokulare Fusion);<br />
b) im auditiven System: Lautsegmention, Rhythmisierung, vor allem aber die<br />
auditive Diskrimination (Laut- und Wortunterscheidungsfähigkeit);<br />
c) <strong>bei</strong> der Verknüpfung: Buchstaben-Laut-Verknüpfung, Verknüpfung von<br />
lexikalischem und semantischem Gedächtnis.<br />
Wie bereits unter 1.4.1 erwähnt wurde, kann beobachtet werden, daß eine Lese-<br />
Rechtschreibschwäche oft mit anderen cerebralen Dysfunktion vergesellschaftet ist. In<br />
diesem Sinne kann davon gesprochen werden, daß die LRS eine Teilleistungsstörung<br />
neben anderen ist. Sie kann aber auch als Erscheinungsbild einer Kombination<br />
mehrerer Teilleistungsschwächen bzw. -störungen gesehen werden.<br />
Daher sind die unter 1.4.3 vorgestellten Hypothesen zur Verursachung einer LRS hier<br />
ebenfalls bedeutsam. Sie können zum einen Hinweise auf mögliche Faktoren <strong>bei</strong> der<br />
Genese von Teilleistungsstörungen geben. Zum anderen wäre denkbar, daß sich<br />
hinter jeder Hypothese eine Teilleistungsstörung verbirgt.<br />
Ferner lassen sich Parallelen ziehen, die dafür sprechen, LRS als eine Teilleistungs-<br />
störung oder als Erscheinungsbild einer Kombination von Teilleistungsstörungen zu<br />
verstehen. So spielt in <strong>bei</strong>den Fällen eine familiäre Veranlagung eine Rolle. Eine<br />
ge<strong>net</strong>ische Veranlagung von Teilleistungsstörungen wird in mindestens 60% der Fälle
Lese-Rechtschreibschwäche 23<br />
angenommen. Jungen und Mädchen sind, ähnlich wie <strong>bei</strong> der LRS, im Verhältnis 6:1<br />
von diesen Störungen betroffen. Ferner wird angenommen, daß das soziale Umfeld<br />
ebenfalls manifestierend auf die Teilleistungsstörung wirkt. (vgl. ROSENKÖTTER 1997,<br />
S. 66f).<br />
1.5 Zusammenfassung<br />
Zusammenfassend kann also festgehalten werden, daß sich das Syndrom der Lese-<br />
Rechtschreibschwäche sehr vielfältig äußert. Neben den primären Symptomen im<br />
schriftsprachlichen Bereich existieren meist nicht zu unterschätzende sekundäre<br />
Begleitsymptome, die zusammen mit den oft nicht unerheblichen schulischen Pro-<br />
blemen eine zusätzliche Belastung für die Betroffenen und ihre Familie darstellen.<br />
Die Gründe für die Entstehung einer Lese-Rechtschreibschwäche sind derzeit noch<br />
nicht geklärt. Es können zwar Aussagen zu möglichen ursächlichen Faktoren gemacht<br />
werden, diese gelten aber nur für eine bestimmte Subgruppe lese-rechtschreib-<br />
schwacher Kinder. Eine Ursache, die für alle betroffenen Kinder gilt, ist nicht auszu-<br />
machen. Aus heutiger Sicht erscheint es auch fraglich, ob dies je möglich sein kann.<br />
Wahrscheinlicher scheint ein multifaktorielles Ursachenmodell, also ein Nebeneinander<br />
mehrerer Faktoren, die <strong>bei</strong> der Genese einer LRS bedeutsam sein könnten und deren<br />
Kombination in jedem Einzelfall individuell verschieden sein kann bzw. verschieden<br />
bewertet werden muß. Das Teilleistungsmodell könnte ein Schritt in diese Richtung<br />
sein. Wo<strong>bei</strong> noch zu klären wäre, welches die entscheidenden Teilleistungen sind und<br />
in welchem Verhältnis sie zueinander stehen 10 .<br />
Einigkeit scheint momentan nur darin zu bestehen, daß das soziale Umfeld nicht mehr<br />
als ursächlicher Faktor angesehen werden, sondern nur als verstärkender.<br />
10 Der Artikel von SCHLUND (1989) ord<strong>net</strong> die augenärztliche Vorsorge in ein Gesamtkonzept der<br />
Förderung <strong>bei</strong> Lernschwierigkeiten ein. Wird er aus dem Blickwinkel des Teilleistungsmodells betrachtet,<br />
finden sich einige interessante Gedankengänge, die eine Diskussion um die Verknüpfung<br />
von Teilleistungen bereichern kann. Vorgestellt wird ein Modell <strong>bei</strong> dem sich die einzelnen<br />
Ursachen nicht addieren, sondern multiplizieren. Also nicht A+B=LRS, sondern A•B=LRS.<br />
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Die visuelle Sensorik 24<br />
2. Die visuelle Sensorik<br />
Wie bereits in der Einleitung angekündigt wurde, soll in den folgenden Kapiteln näher<br />
auf Störungen der visuellen Sensorik eingegangen werden. Dazu erscheint es sinnvoll,<br />
den Aufbau und die Funktionsweise der visuellen Sensorik kurz näher zu betrachten.<br />
2.1 Abgrenzung zur visuellen Wahrnehmung<br />
Zunächst ist eine Abgrenzung zur visuellen Wahrnehmung nötig, die eng mit der<br />
Sensorik verbunden ist. Aus diesem Grund sei den weiteren Überlegungen eine Defini-<br />
tion von visueller Wahrnehmung vorangestellt:<br />
„Der Begriff visuelle Wahrnehmung bedeutet die Fähigkeit, visuelle Reize<br />
zu erkennen, zu unterscheiden und sie durch die Assoziation mit früheren<br />
Erfahrungen zu interpretieren. Visuell wahrzunehmen bedeutet nicht nur<br />
die Fähigkeit, gut zu sehen. Eine intakte periphere Sehfähigkeit zu<br />
besitzen, ist die Voraussetzung. Die Perzeption erfordert dagegen eine<br />
Interpretation der aufgenommenen Reize“ (FROSTIG/MÜLLER 1981, S. 59).<br />
Visuelle Wahrnehmung (Perzeption) schließt also immer eine Interpretation der aufge-<br />
nommenen Reize mit ein und ist somit eine kognitive Leistung. Um visuell wahrzu-<br />
nehmen, zu können ist also eine intakte Reizaufnahme erforderlich, in der Definition<br />
heißt es „eine intakte periphere Sehfähigkeit“. Genau diese Reizaufnahme ist gemeint,<br />
wenn hier von visueller Sensorik gesprochen wird. Anders ausgedrückt heißt das,<br />
visuelle Sensorik beschreibt die afferenten Prozesse, die der visuellen Wahrnehmung<br />
vorausgehen.<br />
2.2 Anatomie der visuellen Sensorik<br />
Die Sensorik beginnt am Sinnesorgan, genauer gesagt an der Hornhaut bzw. an der<br />
Linse des Auges, wo die einfallenden Lichtstrahlen so gebrochen werden, daß das<br />
betrachtete Objekt scharf auf der Netzhaut (Retina) abgebildet wird. Da<strong>bei</strong> sorgt der<br />
Prozeß der Akkommodation für eine scharfe Abbildung unterschiedlich weit entfernter<br />
Objekte (vgl. Kapitel 1.3.2).<br />
Auf der Netzhaut werden die einfallenden physikalischen Reize (Lichtstrahlen) von den<br />
Photorezeptoren 11 , den sogenannten Zapfen und Stäbchen, in Nervenimpulse umge-<br />
wandelt. Die Zapfen sind am Tage aktiv und besitzen eine geringe Lichtempfindlichkeit.<br />
Darüber hinaus können blau-, grün- und rotempfindliche Zapfen unterschieden werden.<br />
Die Existenz dieser drei Typen ermöglicht das Farbsehen. Für das Sehen in der Däm-<br />
11 Insgesamt besteht die Netzhaut aus 10.000.000 Zapfen und 100.000.000 Stäbchen (vgl.<br />
ROSENKÖTTER 1997, S. 44).<br />
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Die visuelle Sensorik 25<br />
merung sind die Stäbchen verantwortlich. Sie können Grauwerte unterscheiden und<br />
sind sehr lichtempfindlich. Eine entscheidende Rolle <strong>bei</strong> der Umwandlung spielt die<br />
Fovea 12 . Bei Ihr handelt es sich um das Gebiet der verdünnten Netzhaut innerhalb der<br />
Makula 13 , das weitgehend stäbchenfrei ist. In ihrer Mitte befindet sich die Foveola 14 ,<br />
das Gebiet des schärfsten Sehens. Sie besteht aus ungefähr 2.500 Zapfen, besitzt die<br />
höchste Kontrastempfindlichkeit und das höchste Auflösungsvermögen. Ein zu<br />
betrachtendes Objekt sollte also immer im Bereich der Fovea oder besser im Bereich<br />
der Foveola abgebildet werden. Dies trifft besonders dann zu, wenn kleine Details zu<br />
unterscheiden sind, wie z.B. <strong>bei</strong> Buchstaben (vgl. MÜTZE u.a. 1961; GOERSCH 1996).<br />
Die Photorezeptoren der Netzhaut sind über Bipolarzellen mit den Ganglienzellen<br />
verbunden (vgl. Abbildung 2). Aufgrund ihrer Größe und ihrer Verbindungen zu den<br />
Photorezeptoren können zwei Formen von Ganglienzellen unterschieden werden. Die<br />
größeren, die sogenannten Y-Fasern, erhalten ihre Informationen von allen drei<br />
Zapfentypen und leiten diese in die magnozellulären Schichten 15 des seitlichen Knie-<br />
höckers (Corpus geniculatum laterale) weiter. Die kleinen Ganglienzellen erhalten<br />
jeweils nur von einem Zapfentyp Informationen und übermitteln diese an die parvo-<br />
zellulären Schichten 16 des seitlichen Kniehöckers (vgl. KOLB/WHISHAW 1996, S. 90ff,<br />
BREITMEYER 1992). An dieser Stelle soll es <strong>bei</strong> dem Verweis auf das Vorhandensein<br />
dieser Zellsysteme bleiben, da ihre Funktion und ihre Bedeutung für das Lesen in<br />
Kapitel 7 genauer betrachtet wird.<br />
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Abbildung 2: Aufbau der Netzhaut (Retina) (vgl. KOLB/WHISHAW 1996, S. 90)<br />
12 Synonyme Begriffe: Fovea centralis, Netzhautgrube<br />
13 Die Makula ist das Gebiet des Netzhautzentrums mit einem Durchmesser von 1,5 mm.<br />
14<br />
Synonymer Begriff: Netzhautgrübchen<br />
15<br />
Ihren Namen erhalten diese Schichten aus der Tatsache, daß sie ausschließlich Zellen mit<br />
großem Soma (Körper) enthalten.<br />
16<br />
Sie enthalten im Gegensatz zu den magnozellulären Schichten kleinere Zellen.
Die visuelle Sensorik 26<br />
Die Axone (Nervenfasern) der Ganglienzellen bilden den Sehnerv. An der Stelle, an<br />
der dieser die Augapfel verläßt 17 , befinden sich keine Photorezeptoren, weshalb diese<br />
Stelle im Sehprozeß als blinder Fleck erscheint. In ihrem weiteren Verlauf tauschen die<br />
Sehnerven <strong>bei</strong>der Augen einen Teil ihrer Nervenfasern an der Sehnervenkreuzung<br />
(chiasma opticum) aus. Da<strong>bei</strong> werden diejenigen Fasern, die Informationen aus dem<br />
rechten Gesichtsfeld enthalten in die linke Hemisphäre (Gehirnhälfte) und diejenigen,<br />
die Impulse aus dem linken erhalten, in die rechte weitergeführt. Von dieser Stelle an<br />
wird auch von der Sehbahn gesprochen. Diese führt zum seitlichen Kniehöcker, an<br />
dem die Nervenimpulse verschaltet und über die Sehstrahlung in die primäre Sehrinde,<br />
dem primären visuellen Cortex, weitergeleitet werden.<br />
Dort werden die Seheindrücke bereits auf ihre Primärmerkmale hin untersucht. Da<strong>bei</strong><br />
werden Strich und Kreisbogen unterschieden, ferner wird ihre Neigung, Länge, Dicke,<br />
Lichtintensität, die Dauer der Darbietung und die Lokalisation im Blickfeld erfaßt. Nach<br />
dieser Primäranalyse der Seheindrücke werden die Informationen an die sekundären<br />
und tertiären Sehfelder weitergeleitet, wo sie auf komplexere Merkmale hin untersucht<br />
werden. Die primäre Sehrinde stellt also die Grenze zwischen der visuellen Sensorik<br />
und der visuellen Wahrnehmung (Perzeption) dar. Zur Merkmalsanalyse in den sekun-<br />
dären und tertiären Sehfeldern gehören die Farberkennung, das räumliche Sehen, die<br />
Figur-Hintergrund-Unterscheidung, der Abgleich im Sehgedächtnis, die Merkmalsun-<br />
terscheidung höherer Ordnung und die Verbindung mit aufmerksamkeitsmodulierenden<br />
Systemen im limbischen Cortex (vgl. ROSENKÖTTER 1997, S. 44f).<br />
2.3 Teilprozesse der visuellen Sensorik<br />
Im folgenden sollen einige Teilprozesse näher erläutert werden, die im Zusammenhang<br />
mit der visuellen Sensorik von Bedeutung sind und die zum Verständnis der weiteren<br />
Ausführungen <strong>bei</strong>tragen.<br />
2.3.1 Visus (Sehschärfe)<br />
Der Visus bzw. die Sehschärfe ist ein Maß für das Sehvermögen eines Menschen. Er<br />
mißt das Auflösungsvermögen, also die Fähigkeit zwei benachbarte Punkte noch<br />
getrennt voneinander wahrzunehmen, d.h. sie als zwei unterschiedliche, dicht neben-<br />
einander liegende Einzelheiten zu erkennen. Der Winkel, unter dem zwei benachbarte<br />
Punkte noch als getrennt voneinander erkannt werden können, heißt angulare Seh-<br />
schärfe (Winkelsehschärfe). Die Winkelsehschärfe wird in Winkelminuten gemessen<br />
und ihr Kehrwert ergibt den Visus. Ein normal gebautes Auge erreicht eine Winkelseh-<br />
17 Der Fachausdruck für diese Stelle lautet „Papille“.<br />
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Die visuelle Sensorik 27<br />
schärfe von einer Winkelminute und damit einen Visus von 1,0. Dieser Wert wird gleich<br />
100% gesetzt. Junge Menschen erreichen häufig eine bessere Sehschärfe (1,2). Die<br />
Beeinträchtigung des Sehens steigt mit der Abnahme der Sehschärfe (Wert des Visus<br />
ist kleiner als 1,0).<br />
Eine intakte visuelle Sensorik ist zwar die Voraussetzung für eine gute Sehschärfe,<br />
aber ebenso sind Reifung und Übung nötig. Zwar sind alle Sinneszellen und Nerven-<br />
bahnen schon <strong>bei</strong> der Geburt eines Kindes vorhanden, dennoch beträgt seine<br />
Sehfähigkeit in der Regel nur 0,1 (10%). Neugeborene sind also zuerst nur in der Lage<br />
hell und dunkel sowie Kontraste zu unterscheiden. Erst durch Reize von außen, durch<br />
das Aufnehmen und Verar<strong>bei</strong>ten von Bildern werden zwischen den einzelnen Nerven-<br />
fasern Verbindungen (Synapsen) gebildet, die eine Verschaltung ermöglichen. So<br />
entwickelt sich innerhalb der ersten zwei Lebensjahre über Reifung und Übung die<br />
volle Sehschärfe. Folglich kann ein Kind, <strong>bei</strong> dem eine Fehlsichtigkeit vorliegt, nie die<br />
volle Sehschärfe erlangen, weil die Abbildung im Auge durch eine Ametropie 18 , wie<br />
z.B. Kurzsichtigkeit, unscharf ist. Dieses hat Auswirkungen auf höhere visuelle<br />
Leistungen, wie z.B. das räumliche Sehen (vgl. MILZ 1996, S. 82f).<br />
2.3.2 Akkommodation<br />
Unter Akkommodation wird die Fähigkeit des menschlichen Auges verstanden, sich so<br />
einzustellen, daß ein Objekt in beliebiger Entfernung zum Auge scharf gesehen werden<br />
kann, d.h. daß es scharf auf der Netzhaut abgebildet wird. Sie beschreibt also den<br />
Vorgang der Brechwertänderung eines Auges, die durch die Veränderung der Linsen-<br />
form erreicht wird.<br />
Im entspannten Zustand sind die Augen auf die Ferne eingestellt, d.h. auf das Scharf-<br />
sehen in Entfernungen von mehr als 5 m. Dieser Zustand wird auch als Akkommoda-<br />
tionsruhelage bezeich<strong>net</strong>. Bei der Einstellung des Auges auf die Nähe kontrahiert sich<br />
der ringförmige Muskel um die Augenlinse (Muskulus ciliaris). Als Folge davon kommt<br />
es aufgrund der Eigenelastizität der Linse zu einer stärkeren Wölbung derselben und<br />
damit zu einer Erhöhung des Brechwertes der Augenlinse und des Auges. Durch diese<br />
Zunahme des Gesamtbrechwerts des Auges können Objekte in geringerer Entfernung<br />
als 5m scharf auf der Netzhaut abgebildet werden (vgl. MÜTZE u.a. 1961; MILZ 1996, S.<br />
84ff; GOERSCH 1996). Ergänzend ist darauf hinzuweisen, daß gleichzeitig mit der<br />
Akkommodation das Augenpaar einwärts dreht (konvergiert) (vgl. 2.3.3). Zwischen<br />
<strong>bei</strong>den Teilprozessen besteht ein proportionaler Zusammenhang.<br />
18 Ametropie ist der Fachbegriff für monokulare Fehlsichtigkeiten, die in Kapitel 3 näher behandelt<br />
werden.<br />
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Die visuelle Sensorik 28<br />
2.3.3 Beidäugiges (binokulares) Sehen<br />
Ein wichtiger Aspekt in der visuellen Sensorik ist das bionokulare Sehen, das gleich-<br />
zeitige Sehen mit <strong>bei</strong>den Augen. Die Voraussetzung dafür ist die Verschmelzung der<br />
Bildeindrücke <strong>bei</strong>der Augen zu einem. Dieser Vorgang wird als Fusion bezeich<strong>net</strong>,<br />
wo<strong>bei</strong> zwischen motorischer und sensorischer Fusion zu unterscheiden ist.<br />
Bei der motorischen Fusion wird durch Muskelar<strong>bei</strong>t der sechs äußeren Augenmuskeln<br />
die Augenstellung verändert. Beim Blick in die Ferne stehen die Augen parallel zuein-<br />
ander, wo<strong>bei</strong> sich im Idealfall alle Augenmuskeln im gleichen Spannungszustand<br />
befinden. Soll nun ein Objekt in der Nähe betrachtet werden, so müssen sich die<br />
<strong>bei</strong>den Augen in der Regel einwärts drehen. Damit soll erreicht werden, daß sich die<br />
Fixierlinien <strong>bei</strong>der Augen am zu betrachtenden Objekt schneiden, wodurch dieses in<br />
der Fovea bzw. Foveola, dem Bereich des besten Sehens, scharf abgebildet wird.<br />
Dieser Vorgang wird auch als Vergenz bezeich<strong>net</strong>. Wird die Verschmelzung der Blick-<br />
eindrücke <strong>bei</strong>der Augen nur teilweise oder gar nicht durch Vergenz erreicht, dann wird<br />
von sensorischer Fusion gesprochen. In diesem Fall werden die <strong>bei</strong>den unterschied-<br />
lichen Bilder durch Schaltvorgänge im Gehirn verschmolzen.<br />
Im Zusammenhang des <strong>bei</strong>däugigen Sehens ist auch das räumliche Sehen zu nennen,<br />
das die Wahrnehmung von Tiefenunterschieden ermöglicht. Dieses ist nur dann<br />
möglich, wenn der zu betrachtende Gegenstand in <strong>bei</strong>den Augen auf korrespon-<br />
dierenden Netzhautstellen abgebildet wird. Jede Stelle neben diesem Gegenstand wird<br />
nun aufgrund der Tatsache, daß die Augen <strong>bei</strong>m Menschen etwas auseinanderstehen,<br />
mit einem minimal anderen Blickwinkel betrachtet. Werden die <strong>bei</strong>den Bilder im Gehirn<br />
nun zur Deckung gebracht, dann können aus der Blickwinkeldifferenz Tiefenunter-<br />
schiede abgeschätzt werden. Die Entwicklung dieser Fähigkeit ist im allgemeinen erst<br />
mit sechs Jahren abgeschlossen (vgl. MILZ 1996, S. 86f).<br />
Die wohl bekannteste Störung des <strong>bei</strong>däugigen Sehens ist das Schielen. Bei ihm fällt<br />
das Abbild eines betrachteten Gegenstandes in <strong>bei</strong>den Augen nicht auf korrespon-<br />
dierende Netzhautstellen, was <strong>bei</strong> einem betroffenen Kind dazu führt, daß es doppelt<br />
sieht. Um dies zu vermeiden, unterdrückt es meist die Informationen von einem Auge.<br />
Zwar werden dadurch Doppelbilder verhindert, da aber das Sehen mit dem schielen-<br />
den Auge dann nicht trainiert wird, erreicht dieses nicht die volle Sehschärfe. Folglich<br />
kommt es auch zu Defiziten <strong>bei</strong> Leistungen, die auf dem <strong>bei</strong>däugigen Sehen basieren,<br />
wie z.B. das räumliche Sehen.<br />
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Die visuelle Sensorik 29<br />
Prinzipiell können manifestiertes und latentes Schielen unterschieden werden. Bei<br />
ersterem, dem sogenannten Strabismus, ist die Schielstellung von außen erkennbar.<br />
Diese Form hat in der Regel oben beschriebenen Mechanismus zur Folge und sollte<br />
deshalb baldmöglichst von einem Augenarzt behandelt werden. Das latente oder ver-<br />
deckte Schielen, auch Winkelfehlsichtigkeit oder Heterophorie genannt, wird in Kapitel<br />
4 näher behandelt.<br />
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Monokulare Fehlsichtigkeiten 30<br />
3. Monokulare Fehlsichtigkeiten<br />
Die monokularen Fehlsichtigkeiten (Ametropien) beschreiben, wie der Name schon<br />
sagt, den Zustand eines Auges. Sie beruhen in der Regel auf einem Mißverhältnis<br />
zwischen dem Brechwert des Auges <strong>bei</strong> Akkommodationsruhelage 19 und der Länge<br />
des Augapfels.<br />
3.1 Myopie (Kurzsichtigkeit)<br />
Bei der Myopie (Kurzsichtigkeit) ist der Augapfel im Verhältnis zum Brechwert des<br />
Auges <strong>bei</strong> Akkommodationsruhe zu lang. Als Folge davon kann ein Kurzsichtiger weit<br />
entfernte Objekte nicht mehr scharf sehen. In der Nähe sieht er jedoch normal, d.h.<br />
nahe Objekte können scharf auf der Netzhaut abgebildet werden. Eine Myopie kann<br />
durch eine einfache Brillenkorrektion ausgeglichen werden.<br />
Im schulischen Kontext sollte diese Form der Fehlsichtigkeit keine bedeutende Rolle<br />
spielen, da sie meist <strong>bei</strong> einer schulärztlichen Reihenuntersuchung erfaßt wird.<br />
Dennoch sollte bewußt sein, daß ein kurzsichtiger Schüler eventuell Schwierigkeiten<br />
hat, Anschriften an der Tafel zu lesen. Denn schon <strong>bei</strong> einer geringen Myopie nimmt<br />
der Visus beträchtlich ab.<br />
3.2 Hyperopie (Übersichtigkeit)<br />
Liegt eine Hyperopie (Übersichtigkeit 20 ) vor, so ist der Gesamtbrechwert des Auges <strong>bei</strong><br />
Akkommodationsruhe im Verhältnis zur Länge des Augapfels zu gering. Diese<br />
Fehlsichtigkeit kann der Betroffene jedoch ganz oder teilweise durch Akkommodation<br />
ausgleichen. Im Gegensatz zu einer rechtsichtigen (normalsichtigen) Person muß der<br />
Übersichtige bereits akkommodieren, wenn er ein Objekt in der Ferne scharf sehen<br />
möchte. Folglich ist der Akkomodationsaufwand für die Nähe im Vergleich zu einem<br />
Rechtsichtigen <strong>bei</strong>m ihm erhöht. Durch die akkommodative Konvergenz 21 kommt<br />
hinzu, daß <strong>bei</strong> der betroffenen Person das Augenpaar stärker einwärts drehen<br />
(konvergieren) möchte, als für die Entfernung tatsächlich nötig wäre. Dieses führt<br />
prinzipiell zu einer Winkelfehlsichtigkeit (vgl. Kapitel 4), die mit Hilfe der äußeren<br />
Augenmuskeln ausgeglichen werden muß. Folglich ist die Hyperopie mit einem erhöh-<br />
19 Damit wird der Zusand beschrieben, <strong>bei</strong> dem sich alle Muskeln, die an der Akkommodation<br />
beteiligt sind, im entspannten Zustand befinden. Bei einem rechtsichtigen (normalsichtigen)<br />
Menschen entspricht das der Einstellung für die Ferne, für die Betrachtung eines Objektes in<br />
mehr als 5m Entfernung.<br />
20 Umgangssprachlich wird von einer Weitsichtigkeit gesprochen.<br />
21 Der Begriff „akkommodative Konvergenz“ beschreibt den proportionalen Zusammenhang von<br />
Akkommodation und Konvergenz (vgl. Kapitel 2.3.2 und 2.3.3).<br />
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Monokulare Fehlsichtigkeiten 31<br />
ten Aufwand an Muskelar<strong>bei</strong>t verbunden. Dieser kann zu asthenopen Beschwerden<br />
(Anstrengungsproblemen) wie Kopfschmerzen, Augenreizen, Augentränen oder Licht-<br />
empfindlichkeit führen. Wird die Hyperopie durch eine einfache Brillenkorrektion<br />
ausgeglichen, verschwinden sowohl die Winkelfehlsichtigkeit als auch die asthenopen<br />
Beschwerden.<br />
Ein hyperoper Schüler muß folglich <strong>bei</strong>m Lesen mehr Akkommodationsaufwand leisten<br />
als seine rechtsichtigen Mitschüler. Der Mehraufwand an Muskelar<strong>bei</strong>t für die Akkom-<br />
modation und zum Ausgleich der akkommodativen Konvergenz kann eine nicht zu<br />
unterschätzende Belastung des betroffenen Schülers darstellen, die neben den oben<br />
genannten Anstrengungsproblemen oft auch zu einem schnelleren Ermüden <strong>bei</strong>m<br />
Lesen führt. Folglich ist das Lesen für diese Kinder meist eine unangenehme Tätigkeit.<br />
Da<strong>bei</strong> ist es gerade die geringe Abweichung vom „normalen“ Sehen, also eine leichten<br />
Hyperopie, die problematisch ist, da diese, wie oben beschrieben, durch den Betrof-<br />
fenen selbst ausgeglichen werden kann und deshalb meist unerkannt bleibt.<br />
3.3 Astigmatismus (Hornhautverkrümmung)<br />
Den zahlreichen Formen des Astigmatismus, auf die an dieser Stelle nicht näher ein-<br />
gegangen werden soll, ist gemeinsam, daß <strong>bei</strong> ihrem Vorliegen ein punktförmiges<br />
Objekt nicht als Punkt auf der Netzhaut dargestellt wird. Ein Astigmatismus führt<br />
folglich immer zu einer unscharfen Abbildung auf der Netzhaut und folglich zu einem<br />
schlechteren Visus.<br />
3.4 Die juvenile Hypoakkommodation<br />
Die juvenile Hypoakkommodation ist eine Akkommodationsstörung, die nur im Jugen-<br />
dalter vorkommt und <strong>bei</strong> Schulkindern nicht selten zu beobachten ist. Bei dieser<br />
Störung können betroffene Kinder nicht schnell genug oder gar nicht auf die Nähe<br />
einstellen. Unter Umständen können sie in der Ferne scharf sehen, aber nur mit<br />
maximaler Anstrengung und größter Mühe kurzzeitig in der Nähe. Aufgrund der großen<br />
Anstrengung und des hohen Energieverbrauchs für das Sehen in der Nähe, bekom-<br />
men diese Kinder Kopfschmerzen oder können sich nicht lange konzentrieren. In der<br />
Folge meiden sie alle Tätigkeiten, <strong>bei</strong> denen hohe Anforderungen an ihr Nahsehen<br />
gestellt werden, wie z.B. Malen oder Basteln. Eine große Belastung stellt für diese<br />
Kinder auch das Abschreiben von der Tafel dar, da sie dafür ständig zwischen Fern-<br />
und Nahbereich wechseln müssen. Meist ist ihre Leistung <strong>bei</strong>m Abschreiben daher<br />
verlangsamt und ungenau.<br />
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Monokulare Fehlsichtigkeiten 32<br />
Auch wenn das Phänomen der juvenilen Hypoakkommodation heute hinreichend<br />
belegt ist, kann jedoch noch nichts über dessen Ursachen gesagt werden. Vermutet<br />
wird, daß ein zentraler Steuerfehler vorliegt. Eine Behandlung bzw. Korrektion dieser<br />
Störung ist durch eine Lesebrille oder durch eine Bifokalbrille (Zweistärken-Brille)<br />
möglich.<br />
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Winkelfehlsichtigkeit 33<br />
4. Winkelfehlsichtigkeit<br />
In diesem Kapitel wird die Winkelfehlsichtigkeit als Störung des <strong>bei</strong>däugigen (binoku-<br />
laren) Sehens (vgl. Kapitel 2.3.3) näher betrachtet. Zunächst sollen kurz Ursache und<br />
Symptome dieses Augenstellungsfehlers geklärt werden. Anschließend werden Unter-<br />
suchungen vorgestellt, die den Einfluß der Korrektion einer Winkelfehlsichtigkeit auf die<br />
Symptome der LRS aufzeigen<br />
4.1 Ursache<br />
Bei einer Winkelfehlsichtigkeit 22 ist der unter 2.3.3 beschriebene Idealzustand nicht ge-<br />
geben, d.h. <strong>bei</strong>m Blick in die Ferne besteht kein Spannungsgleichgewicht der äußeren<br />
Augenmuskeln, sondern ein Ungleichgewicht. Dieser Zustand müßte eigentlich zum<br />
Schielen führen. Dennoch ist <strong>bei</strong> einem Betroffenen von Außen ein Schielen nicht<br />
erkennbar, da sein Gehirn der Fehlstellung aktiv entgegenwirkt, um das <strong>bei</strong>däugige<br />
Sehen aufrechtzuerhalten. D.h. ein Teil der Muskeln, die für die Augenstellung verant-<br />
wortlich sind, muß ständig mehr Ar<strong>bei</strong>t verrichten, um das Auge in der gewünschten<br />
Stellung zu halten. Fällt dieser Kompensationsmechanismus z.B. durch Überanstren-<br />
gung aus, entstehen Doppelbilder.<br />
Neben der motorischen Fusion steht dem Augenpaar auch noch die sensorische<br />
Fusion zur Verfügung. Mit ihrer Hilfe kann ein Teil der Muskelenergie zur Korrektion<br />
der Winkelfehlsichtigkeit eingespart werden. Das kann sogar soweit führen, daß sie,<br />
abhängig von der Größe der verborgenen Fehlstellung, die komplette zum Ausgleich<br />
nötige Muskelar<strong>bei</strong>t übernimmt. Damit können zwar einerseits die Anstrengungsbe-<br />
schwerden verringert werden, andererseits müssen vermehrte Sehstörungen (s.u.) und<br />
schlechteres Tiefensehen in Kauf genommen werden. Dieser Vorgang der senso-<br />
rischen Kompensation wird Fixationsdisparation genannt.<br />
22 Von einigen Autoren wird für diese Fehlsichtigkeit der Begriff „Heterophorie“ verwendet.<br />
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Winkelfehlsichtigkeit 34<br />
4.2 Symptome<br />
Die Kompensation einer Winkelfehlsichtigkeit kann <strong>bei</strong> einigen Menschen ein Leben<br />
lang ohne Schwierigkeiten bewältigt werden, <strong>bei</strong> anderen können jedoch starke<br />
Anstrengungsprobleme und/oder Sehstörungen hervorgerufen werden.<br />
Zu den Anstrengungsproblemen, die in Folge des erhöhten Aufwandes an Muskel-<br />
ar<strong>bei</strong>t entstehen können, gehören z.B. Kopfschmerzen, Augenreizungen und/oder<br />
Ermüdung. Diese können isoliert oder in Kombination mit Sehstörungen auftreten.<br />
Zuletzt genannte äußern sich in Nahsehstörungen, Schwierigkeiten mit dem Focus-<br />
wechsel, schlechtem räumlichen Sehen, Lichtempfindlichkeit und/oder Doppelbildern<br />
(vgl. Abbildung 3).<br />
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Lese-Rechtschreibschwäche<br />
Abbildung 3: Beispiel für Doppelbilder<br />
Liegt <strong>bei</strong> einem Kind eine solche Winkelfehlsichtigkeit vor, kann häufig beobachtet<br />
werden, daß es <strong>bei</strong>m Lesen schon nach kurzer Zeit müde wird, weil es die nötige<br />
Muskelar<strong>bei</strong>t nur mit größter Anstrengung bewältigen kann. Diese Kinder können<br />
schon vor ihrer Schulzeit z.B. durch die Unlust oder Unfähigkeit zum Ausmalen und<br />
Ausschneiden auffallen. Ferner ist zu beobachten, daß diese Kinder ungern fernsehen,<br />
ungern mit dem Computer spielen oder Aufgaben meiden, <strong>bei</strong> denen exaktes Nah-<br />
sehen erforderlich ist, wie z.B. <strong>bei</strong> Bastelar<strong>bei</strong>ten. Eine detaillierte Übersicht von<br />
Auffälligkeiten, die für das Vorhandensein einer Winkelfehlsichtigkeit <strong>bei</strong> einem Kind<br />
sprechen, kann der folgenden Tabelle entnommen werden.
Winkelfehlsichtigkeit 35<br />
Anstrengungsprobleme Feinmotorik/ Schreiben Lesen<br />
• Kopfschmerzen<br />
• Lichtempfindlichkeit<br />
während der Kopfschmerzphase<br />
• Neigung zu roten Augen<br />
nach der Schule<br />
• Neigung zu Augenblinzeln,<br />
Augenzucken,<br />
Augenkneifen, Augenreiben<br />
• Neigung zu trockenen<br />
Augen oder zu verstärktem<br />
Tränenfluß<br />
• Druckgefühl in<br />
Augennähe<br />
• Neigung zu Übelkeit und<br />
Schwindel<br />
• Beschwerden im Bereich<br />
der Halswirbelsäule durch<br />
Neigung zu leichter bis<br />
deutlicher Schiefhaltung<br />
des Kopfes<br />
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• Ungeschicklichkeit und<br />
Entwicklungsrückstand<br />
<strong>bei</strong>m Malen, Ausmalen<br />
und Ausschneiden<br />
• Vermeidungshaltung bis<br />
Abwehrhaltung gegenüber<br />
Malen und Schreiben<br />
(bis zur aggressiven<br />
Haltung gegenüber<br />
Ar<strong>bei</strong>ten anderer Kinder)<br />
• krakelige Handschrift,<br />
ungleichmäßig große<br />
Buchstaben, schlechte<br />
Linienhaltung<br />
• unsystematische<br />
Rechtschreibfehler<br />
- ausgelassene oder verdoppelte<br />
Buchstaben;<br />
- Vertauschung benachbarter<br />
Buchstaben;<br />
- Verwechslung ähnlicher<br />
Buchstaben, wie b und d<br />
• <strong>bei</strong>m Abschreiben werden<br />
ganze Wörter oder Zeilen<br />
ausgelassen oder<br />
verdoppelt<br />
• häufiger spiegelbildliches<br />
Schreiben<br />
• verlangsamte Tätigkeit<br />
oder schnelles,<br />
oberflächliches und<br />
ungenaues Ar<strong>bei</strong>ten<br />
• schnelles Ermüden <strong>bei</strong>m<br />
Lesen (ohne daß dies<br />
subjektiv benannt werden<br />
kann)<br />
• Auslassung oder Verdopplung<br />
von Wörtern<br />
oder Zeilen<br />
• Lesen von Wörtern, die<br />
nicht im Text stehen<br />
• Probleme, einen Text mit<br />
einmaligem Lesen inhaltlich<br />
zu verstehen (jedoch<br />
keine Probleme, wenn<br />
der Text vorgelesen wird)<br />
• Langwieriger Übergang<br />
zum sinnentnehmenden<br />
Lesen<br />
• Ausdauer-, Motivations-<br />
und Konzentrationsprobleme<br />
• Kinder lesen ungern,<br />
nicht freiwillig oder sie<br />
benötigen spätestens<br />
nach ein paar Seiten eine<br />
Pause<br />
Tabelle 1: Typische Auffälligkeiten <strong>bei</strong> Kindern mit einer Winkelfehlsichtigkeit<br />
(vgl. WULFF 1998, S. 30ff)<br />
Relativ häufig kann <strong>bei</strong> winkelfehlsichtigen Kindern auch eine große Diskrepanz<br />
zwischen gutem Sachwissen und reger mündlicher Beteiligung einerseits und Proble-<br />
men <strong>bei</strong> Stillar<strong>bei</strong>t, Erledigung von Hausaufgaben und schriftlichen Aufgabenstellungen<br />
anderseits beobachtet werden. Darüber hinaus wirkt <strong>bei</strong> ihnen Übung kontraproduktiv,<br />
d.h. je mehr geübt wird, desto schlechter werden ihre Leistungen.<br />
Leider gibt es keinen Vorsorgetest, mit dem eine Winkelfehlsichtigkeit diagnostiziert<br />
werden kann. Ein recht sicheres Zeichen für das Vorliegen einer Winkelfehlsichtigkeit<br />
ist das gleichzeitige Vorhandensein von Kopfschmerzen und gestörter Feinmotorik<br />
(Handschrift) oder unsystematischen Rechtschreibfehlern (vgl. Tabelle 1).
Winkelfehlsichtigkeit 36<br />
4.3 Auswirkungen der Behandlung von binokularen Fehlsichtigkeiten auf<br />
die Lese-Rechtschreibschwäche<br />
Binokulare Fehlsichtigkeiten oder Störungen des <strong>bei</strong>däugigen Sehens können durch<br />
Prismenbrillen korrigiert werden. Zwar ist die Vollkorrektion von Winkelfehlsichtigkeiten<br />
in der Fachwelt umstritten (vgl. Kapitel 4.4), dennoch zeigen Erfahrungen aus der<br />
augenärztlichen Praxis, daß sich eine Korrektion positiv auf die LRS auswirkt.<br />
Ein wichtiger Beitrag ist in diesem Zusammenhang die Ar<strong>bei</strong>t von PESTALOZZI (1986,<br />
1989, 1991). Er hat neben Einzelfallbeschreibungen auch 175 Kinder mit Lese-Recht-<br />
schreibschwäche statistisch erfaßt, die zur Behandlung einer Winkelfehlsichtigkeit in<br />
seiner Praxis vorgestellt wurden. Auf die Darstellung seiner Ergebnisse hinsichtlich der<br />
optischen Werte (Sehschärfe, Stärke und Art der Winkelfehlsichtigkeit) sei an dieser<br />
Stelle verzichtet, da sie im Zusammenhang dieser Ar<strong>bei</strong>t nicht von Bedeutung sind.<br />
Interessant ist jedoch der Einfluß von Prismenbrillen auf die Lese-Rechtschreib-<br />
schwäche, den er nach abgeschlossener Behandlung durch Eltern, Lehrer und Thera-<br />
peuten beurteilen ließ (vgl. Tabelle 2). Von Insgesamt 137 Fällen, in denen eine<br />
Beurteilung vorlag, zeigten 11 % einen sehr guten bis spektakulären Erfolg (++), 60%<br />
eine deutliche Besserung (+). Zumindest ein Verschwinden von subjektiven Sympto-<br />
men, wenn auch kein positiver Einfluß auf die LRS, konnte in 18% der Fälle erreicht<br />
werden (±). Bei den restlichen 12% (16 Fälle) fiel das Ergebnis negativ aus, d.h. in fünf<br />
Fällen war keine Besserung bzw. kein Unterschied mit und ohne Prismenbrille<br />
feststellbar und elf Fälle machten keine Angaben.<br />
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Beurteilung Fälle<br />
% von 137<br />
beurteilten Fällen<br />
++ 15 11 %<br />
+ 82 60 %<br />
± 24 18 %<br />
- 16 12 %<br />
Tabelle 2: Erfolg von Prismenbrillen hinsichtlich LRS<br />
(nach PESTALOZZI 1989, S. 17)<br />
Es kann also insgesamt davon ausgegangen werden, daß in dieser Untersuchung <strong>bei</strong><br />
gut 70% der Fälle ein Erfolg hinsichtlich der LRS erreicht wurde. Werden die elf Fälle,<br />
in denen keine Mitar<strong>bei</strong>t vorlag, herausgerech<strong>net</strong>, so wird ein noch besseres Ergebnis<br />
erreicht: rund 80% gute bis sehr gute Erfolge, 16 % Behebung von subjektiven<br />
Beschwerden und nur 4% Mißerfolge.
Winkelfehlsichtigkeit 37<br />
Über ähnliche Erfahrungen konnte auch WULFF (1998) berichten, der von 65% Erfolgs-<br />
quote von Prismenkorrektion bezüglich Lernschwierigkeiten spricht, d.h. bezüglich der<br />
oben genannten Auffälligkeiten von winkelfehlsichtigen Kindern (vgl. Tabelle 1). Kopf-<br />
schmerzen als Anzeichen augenbedingter Anstrengungsprobleme konnten sogar in<br />
90% der Fälle behoben werden.<br />
SCHÄFER ist es zu verdanken, daß erste Hinweise auf die Häufigkeit solcher Fehl-<br />
sichtigkeiten <strong>bei</strong> Schülern vorliegen. Bei einer Untersuchung von 341 Schülern stellte<br />
er <strong>bei</strong> 31% ein unbefriedigendes Sehvermögen fest. In 82% dieser Fälle lag eine<br />
behandlungsbedürftige Hyperopie (Übersichtig- bzw. Weitsichtigkeit) vor und in 75%<br />
ein latentes Schielen (Winkelfehlsichtigkeit) 23 (vgl. ROSENKÖTTER 1997, S. 162).<br />
Eine weitere nennenswerte Studie stammt von ROSENKÖTTER (1997). Es handelt sich<br />
da<strong>bei</strong> um eine Befragung von insgesamt 90 Eltern lese-rechtschreibschwacher Kinder,<br />
die gleichmäßig auf drei Gruppen aufgeteilt wurden. Folgende Gruppeneinteilung<br />
wurde festgelegt:<br />
1. Gruppe: die Kinder hatten keine Brille oder die vorher verord<strong>net</strong>e wurde <strong>bei</strong>behalten;<br />
2. Gruppe: die Kinder hatten augenärztlich einen normalen, unauffälligen Befund; eine<br />
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Nachuntersuchung <strong>bei</strong> einem anderen Augenarzt oder <strong>bei</strong> einem Optiker<br />
auf Winkelfehlsichtigkeit ergab die Indikation für eine Korrektion mit<br />
Prismenbrille;<br />
3. Gruppe: die Kinder wurden von einer Spezialabteilung für Orthoptik 24 untersucht und<br />
erhielten eine sehr exakt bestimmte Brillenkorrektion wegen einer Störung<br />
des binokularen Sehens.<br />
Das Ergebnis der Befragung zeigte, daß die Eltern der ersten Gruppe keine Verän-<br />
derung bemerkten. In der Gruppe 2 und 3 berichteten die Eltern aber über leichte bis<br />
hervorragende Verbesserungen. Eine exakt bestimmte Brillenkorrektion wird also<br />
anscheinend auch in der Elternbeurteilung als hilfreich erlebt.<br />
Ergänzt wurden diese Erfahrungen durch Studien von LIE, der auch Kontrollgruppen in<br />
seine Untersuchungen mit einbezog. Er fand da<strong>bei</strong> zwar optometrisch keine Unter-<br />
schiede zwischen der Gruppe Lese-Rechtschreibschwacher und der Kontrollgruppe,<br />
auch subjektive Symptome wurden in <strong>bei</strong>den Gruppen beschrieben; wenn aber zusätz-<br />
liche Belastungsfaktoren in Wechselwirkung mit den visuellen Störungen traten,<br />
konnten Auswirkungen auf das Lesen festgestellt werden. In solchen Fällen hat sich<br />
auch hier die Korrektion von Winkelfehlsichtigkeiten als geeig<strong>net</strong> erwiesen, um normale<br />
23 Dieser Wert entspricht der statistischen Häufigkeit von Winkelfehlsichtigkeiten im europäischen<br />
Bevölkerungsdurchschnitt, der <strong>bei</strong> ca. 75% liegt (vgl. Stollenwerk 1994, S. 143f).<br />
24 Die Orthoptik beschäftigt sich mit der Behandlung von Schielen mit Hilfe von optischen Mitteln.
Winkelfehlsichtigkeit 38<br />
Sehfunktionen wieder herzustellen, subjektive Beschwerden zu verringern und daher<br />
auch die Leseleistung zu verbessern (vgl. SCHROTH 1997b, S. 10).<br />
4.4 Kritik<br />
Die Kritik an der Behandlungsmethode mit Prismenbrillen ist sehr vielschichtig und<br />
durch unterschiedliche Blickwinkel geprägt. Sie ist wahrscheinlich mitverantwortlich,<br />
daß Testgeräte für die Bestimmung von Winkelfehlsichtigkeiten noch nicht in allen<br />
Arztpraxen für Augenheilkunde zu finden sind.<br />
Derzeit scheint noch nicht ausreichend geklärt zu sein, inwieweit mit falschen Prismen-<br />
verordnungen Schäden angerichtet werden können. Auf jeden Fall würde ein irre-<br />
parabler Schaden <strong>bei</strong> einem schielenden Kleinkind entstehen, wenn der Schielwinkel<br />
durch ein Prisma noch vergrößert würde. Ähnliches gilt wahrscheinlich auch für<br />
Winkelfehlsichtigkeiten, wenn die eigentliche Winkelfehlsichtigkeit durch ein falsch<br />
angepaßtes Prisma verstärkt würde (vgl. BRÜCKNER 1989).<br />
Ein weiterer nicht zu mißachtender Kritikpunkt ist, daß sich die Prismenstärke <strong>bei</strong><br />
einigen im Laufe der Behandlung erhöht. Wenn die Augen lange Zeit an die Winkel-<br />
fehlsichtigkeit gewöhnt waren, geben sie nicht sofort ihre Korrektionsbewegungen auf.<br />
Die Folge ist, daß nach drei bis zwölf Monaten eine neue Korrektions-/Prismenstärke<br />
verord<strong>net</strong> werden muß. In diesem Zusammenhang wird auch immer wieder angeführt,<br />
daß durch eine Behandlung mit Prismen <strong>bei</strong> 3-5% der behandelten Kinder ein Schielen<br />
manifestiert wird, das eine Schiel-Operation nötig macht (vgl. ROSENKÖTTER 1997, S.<br />
161). Diese Gefahr ist in jedem Fall ernst zunehmen.<br />
Zwar sind die guten Erfolge <strong>bei</strong> der Korrektion von Winkelfehlsichtigkeiten, auch in<br />
Hinsicht auf eine positive Beeinflussung der LRS, nicht von der Hand zu weisen,<br />
dennoch bleiben sie nicht gänzlich ohne Kritik. Aus dem Wissen um die Gesamthäufig-<br />
keit von Winkelfehlsichtigkeiten und aus den Untersuchungen mit Kontrollgruppen wird<br />
deutlich, daß die gleichen Fehlsichtigkeiten auch in der Gruppe der schriftsprachlich<br />
unauffälligen Kinder vorkommen. Was die Frage aufwirft, ob Störungen des binoku-<br />
laren Sehens tatsächlich Ursache für Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten oder nur<br />
Begleitsymptom sind. Für einen zumindest begünstigenden Einflußfaktor von<br />
Störungen des <strong>bei</strong>däugigen Sehens auf die Entstehung einer LRS spricht die Tat-<br />
sache, daß Einäugige 25 fast nie von Lese-Rechtschreib-Problemen betroffen sind (vgl.<br />
WULFF 1998, S. 32).<br />
25 Zu dieser Gruppe sind auch Kinder mit offen sichtbarem Schielen zu zählen, da <strong>bei</strong> ihnen in der<br />
Regel das Bild eines Auges vom Gehirn ignoriert wird.<br />
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Winkelfehlsichtigkeit 39<br />
Leider liegen bis heute keine kontrollierenden Studien vor, die Aussagen zulassen, in<br />
welchem Grad Brillenkorrektion, speziell <strong>bei</strong> Störungen des binokularen Sehens, zu<br />
einer Verbesserung <strong>bei</strong>tragen könnten, auch im Hinblick auf Lese- oder Lernschwierig-<br />
keiten. Wünschenswert ist ferner ein exakter Vergleich der Effektivität von einfachen<br />
bzw. normalen Brillen und von Prismenbrillen, der noch nicht vorliegt (vgl. ROSEN-<br />
KÖTTER 1997, S. 162).<br />
4.5 Zusammenfassung<br />
Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß zum einen eine Behandlung von<br />
binokularen Sehstörungen subjektive Beschwerden lindern kann. Hier ist vor allem an<br />
die Verringerung von Anstrengungsproblemen bzw. asthenopen Beschwerden zu<br />
denken, wie z.B. Kopfschmerzen oder tränende Augen, aber auch an subjektiv wahr-<br />
genommene Sehstörungen, wie z.B. die Doppelbilder (vgl. Abbildung 3). Zum anderen<br />
hat die Behandlung häufig einen positiven Einfluß auf eine vorhandene LRS, weshalb<br />
auch die Korrektion geringfügiger binokularer Fehlsichtigkeiten empfehlenswert<br />
erscheint. Dazu steht derzeit die Prismenbrille als einzige Korrektionsmöglichkeit zur<br />
Verfügung.<br />
Ferner lassen die dargestellten Untersuchungsergebnisse einen Zusammenhang von<br />
gestörtem binokularen Sehen und Lese-Rechtschreibschwäche vermuten. Inwieweit<br />
dieser jedoch <strong>bei</strong> der Verursachung einer LRS eine Rolle spielt, ist noch nicht hin-<br />
reichend geklärt. Aufgrund der insgesamt guten Erfahrungen scheint jedoch die<br />
Überprüfung auf Winkelfehlsichtigkeit in jedem Fall angezeigt, wenn entsprechende<br />
Hinweise für ein nicht exaktes <strong>bei</strong>däugiges Sehen vorhanden sind. Bei einem positiven<br />
Befund, d.h. wenn eine solche Fehlsichtigkeit vorliegt, sollte versucht werden, ob<br />
mittels einer Korrektion sowohl die subjektiven Beschwerden als auch die Lese-Recht-<br />
schreibschwäche positiv beeinflußt werden können.<br />
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Das Meares-Irlen-Syndrom 40<br />
5. Das Meares-Irlen-Syndrom<br />
5.1 Zur Begriffsgeschichte<br />
In der Fachliteratur werden drei unterschiedliche Begriffe für das Meares-Irlen-<br />
Syndrom verwendet. Frau Helen IRLEN selbst spricht vom Skotopischen Sensibilitäts-<br />
syndrom oder kurz SSS. Sie faßt damit eine Reihe von Sehproblemen zusammen, auf<br />
die im folgenden noch näher eingegangen wird. Als sich auch Fachleute aus dem<br />
Bereich der Optometrie 26 mit dem Syndrom befaßten, wurde der Vorschlag gemacht<br />
vom „Irlen-Syndrom“ zu sprechen. Der Begriff „skotopisches Sehen“ (Nachtsehen) hat<br />
in der Augenoptik/-heilkunde eine Bedeutung, die in keiner Beziehung zu dem von Irlen<br />
beschriebenen Syndrom steht. EVANS u.a. (1995) sprechen vom Meares-Irlen-<br />
Syndrom. Sie waren <strong>bei</strong> der Erforschung des Syndroms auf eine Veröffentlichung von<br />
O. MEARES aufmerksam geworden, in der ähnliche Sehprobleme im Zusammenhang<br />
mit Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m Lesen beschrieben werden. Im folgenden soll deshalb, in<br />
Anlehnung an EVANS u.a. (1995) vom „Meares-Irlen-Syndrom“ gesprochen werden.<br />
5.2 Begriffserläuterung<br />
Das Meares-Irlen-Syndrom bezeich<strong>net</strong> eine Wahrnehmungsstörung 27 , deren Folge es<br />
ist, daß Menschen mit Lese- oder auch Lernschwierigkeiten eine gedruckte Seite<br />
anders wahrnehmen als normale Leser (vgl. IRLEN 1997; SCHROTH 1995a).<br />
Festzuhalten ist also zunächst, daß das Meares-Irlen-Syndrom eine Fehlfunktion der<br />
visuellen Wahrnehmung bzw. Sensorik beschreibt und nicht eine Sehschwäche. D.h.<br />
<strong>bei</strong> einem Menschen mit Meares-Irlen-Syndrom muß keine Einschränkung der<br />
Sehschärfe vorliegen, wie z.B. Kurz- bzw. Übersichtigkeit. Es können also sowohl<br />
Menschen vom Meares-Irlen-Syndrom betroffen sein, die eine Brille benötigen, als<br />
auch solche, die keine tragen.<br />
Das Meares-Irlen-Syndrom wirkt sich jedoch nicht nur auf das Lesevermögen eines<br />
Betroffenen aus, sondern kann auch zu Problemen im Bereich der Aufmerksamkeits-<br />
26 Unter Optometrie wird die Wissenschaft vom Sehen sowie von den Fehlsichtigkeiten und deren<br />
Korrektion verstanden. Sie umfaßt die biologische und physikalische Optik. Sie verfügt über die<br />
Kenntnisse und Techniken, um die Ursachen von Sehproblemen zu erkennen und um Fehlsichtigkeiten<br />
zu messen und zu korrigieren. Das Ziel der Optometrie ist es, das bestmögliche<br />
Sehen gesunder Augen mit physikalisch-optischen Mittel zu erreichen.<br />
27 Von IRLEN selbst wird der Begriff der Wahrnehmungsstörung verwendet. Wie aber später noch<br />
aufgezeigt wird, liegt die Ursache für die beschriebenen Sehprobleme in einer Dysfunktion der<br />
visuellen Sensorik im Bereich der Sehbahnen am seitlichen Kniehöcker (vgl. Kapitel 7). Präziser<br />
wäre es also, wenn man von einer Störung der visuellen Sensorik spricht, in deren Folge es zu<br />
einer veränderten Wahrnehmung von gedruckten Seiten kommt.<br />
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Das Meares-Irlen-Syndrom 41<br />
spanne, der räumlichen Wahrnehmung, der Handschrift und der Grobmotorik führen.<br />
Es ist jedoch keine Lernschwäche im konventionellen Sinne, sondern vielmehr ein<br />
komplexer und veränderbarer Zustand, der als eine Komponente <strong>bei</strong> Lese-Recht-<br />
schreibschwäche, Rechenschwäche (Dyskalkulie), Konzentrationsschwächen und<br />
anderen Lernproblemen auftreten kann.<br />
5.3 Erscheinungsbild<br />
Die Bezeichnung „Syndrom“ verweist bereits auf ein aus mehreren Komponenten bzw.<br />
Symptomen bestehendes Phänomen. Zum Meares-Irlen-Syndrom gehören insgesamt<br />
fünf Symptome, die im folgenden näher beschrieben werden sollen. Zu Beginn sei<br />
darauf hingewiesen, daß <strong>bei</strong> einem Betroffenen nicht alle fünf gemeinsam auftreten<br />
müssen; die Symptome können ebenfalls einzeln in Erscheinung treten.<br />
5.3.1 Lichtempfindlichkeit<br />
Unter Lichtempfindlichkeit versteht man den Sachverhalt, daß Betroffene auf grelles<br />
Licht, Helligkeit und bestimmte Lichtverhältnisse empfindlich reagieren. Diese Empfind-<br />
lichkeit kann z.B. <strong>bei</strong> fluoreszierendem Licht, hellem Sonnenschein oder den Lichtver-<br />
hältnissen an dunstigen oder bewölkten Tagen bestehen.<br />
Menschen mit Meares-Irlen-Syndrom empfinden häufig die Beleuchtung (künstliches<br />
Licht) als zu hell bzw. „zu grell“, wo<strong>bei</strong> fluoreszierendes Licht häufig der Hauptver-<br />
ursacher ist. Deshalb lesen die meisten Menschen mit Meares-Irlen-Syndrom am<br />
liebsten <strong>bei</strong> schwachem Licht. Einige bevorzugen hingegen helles Licht. Sie haben das<br />
Gefühl, daß es nie hell genug sein kann, um angenehm lesen zu können. Liest ein<br />
Mensch mit Meares-Irlen-Syndrom <strong>bei</strong> fluoreszierendem Licht, so kann ihm eventuell<br />
schwindelig werden, er bekommt Kopfschmerzen oder sogar Migräne. Er versucht<br />
dann den direkten Lichteinfall auf das Lesematerial abzuschirmen oder verändert<br />
ständig seine Haltung.<br />
Lichtempfindliche Menschen ermüden <strong>bei</strong> allen Lichtverhältnissen schnell, wodurch sie<br />
visuell anspruchsvollen Aufgaben nicht so lange nachgehen können. Ihre Schwierig-<br />
keiten ergeben sich daraus, daß sie sich von ihrer Umgebung oder sogar von der<br />
Buchseite geblendet fühlen. Für sie bedeutet der Versuch, mit dem Blick auf einer<br />
Buchseite zu bleiben und den Zeilen beständig zu folgen, eine enorme Anstrengung.<br />
Neben den Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m Lesen können sie auch Probleme <strong>bei</strong>m Autofahren<br />
haben, da sie durch die Straßenbeleuchtung oder durch entgegenkommende Schein-<br />
werfer geblendet werden.<br />
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Das Meares-Irlen-Syndrom 42<br />
5.3.2 Ungenügende bzw. unzureichende Hintergrundakkommodation<br />
Mit Hilfe der Abbildung 4 soll versucht werden, einen Eindruck des Problems zu ver-<br />
mitteln. Die Schwierigkeiten liegen hier in der verzerrenden Wirkung starker Kontraste,<br />
wie z.B. zwischen weiß und schwarz. In diesem Beispiel konkurrieren die zwei schwar-<br />
zen Gesichter mit der weißen Vase. Für einen normalsichtigen Menschen ist es kein<br />
Problem diese zwei Motive zu erkennen. Für Menschen mit Meares-Irlen-Syndrom ist<br />
der Kontrast zwischen weiß und schwarz aber nicht ideal, da der weiße Hintergrund mit<br />
dem schwarzen Vordergrund um die Aufmerksamkeit des Betrachters konkurriert. Dies<br />
kann im Extremfall zu einer so starken Dominanz des weißen führen, daß das die Form<br />
des schwarzen nicht mehr erkannt werden kann. Folglich ist es nicht mehr möglich die<br />
<strong>bei</strong>den Gesichter zu erkennen.<br />
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Abbildung 4: Gesichter oder Vase ? (IRLEN 1997, S. 58)<br />
Beim Lesen ist normalerweise ein hoher Kontrast von Vorteil, damit sich dann die<br />
Buchstaben deutlich vom Hintergrund abheben. Bei Menschen mit Meares-Irlen-<br />
Syndrom ist es möglich, daß der weiße Hintergrund so dominant wird, daß die Buch-<br />
staben an Deutlichkeit verlieren. Durch das Phänomen der Irradiation 28 kann aber auch<br />
der Eindruck entstehen, daß sich das Weiße in den Vordergrund drängt und die<br />
schwarzen Buchstaben zu verschlucken scheint. Diese werden dadurch dünner, grauer<br />
28 Die Irradiation ist üblicherweise ein Nachtphänomen. Sie beschreibt eine von der Umgebungshelligkeit<br />
abhängige Wahrnehmung, <strong>bei</strong> der helle Objekte in einem dunklen Umfeld größer<br />
erscheinen, als gleich große dunkle Objekte in einem hellen Umfeld.
Das Meares-Irlen-Syndrom 43<br />
oder sogar unleserlich, da Teile von ihnen verschwinden. Eine Studentin beschrieb<br />
diesen „Auswaschungseffekt“ (vgl. Abbildung 5) wie folgt:<br />
„Jedes Wort hat eine helle, weiße Korona. Wenn ich mich auf eine Stelle<br />
konzentriere, breitet sich daß Weiß zwischen den Buchstaben aus und<br />
bringt sie zum Verschwinden“ (IRLEN 1997, S. 57).<br />
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Abbildung 5: Der Auswascheffekt (vgl. IRLEN 1997, S. 60) 29<br />
Da<strong>bei</strong> müssen Buchstaben nicht immer auf die gleiche Weise „entstellt“ werden,<br />
sondern können sich im Verlauf des Lesens sehr unterschiedlich zeigen. Für<br />
Menschen mit einer unzureichenden Hintergrundakkommodation ist es z.B. nicht<br />
ungewöhnlich, daß Punkte, Kommata und i-Punkte verschwinden. Darüber hinaus<br />
werden einige Buchstaben auswechselbar, da sie ihre Mitte oder einen Teil ihrer Linien<br />
verlieren. So kann z.B. die Unterscheidung der Buchstaben m, u, w, n und h schwierig<br />
werden. Buchstaben wie z.B. a, e, o und u können gleich aussehen. Tritt eine solche<br />
Problematik auf, muß ein Betroffener den Inhalt immer wieder lesen, was natürlich<br />
seine Lesegeschwindigkeit und damit auch seine Leistungsfähigkeit mindert.<br />
Der Hintergrund kann sich noch auf andere Weise verändern. Einige Betroffene<br />
berichten davon, daß Farben auftauchen und wie Feuerwerke aufblitzen. Diese<br />
Störung durch den Hintergrund kann nur schwer unbeachtet bleiben, wodurch das<br />
Lesen zu einer unangenehmen Aufgabe wird.<br />
29 Für diese und alle weiteren Abbildungen gilt, daß sie dem „normal sehenden“ Leser einen<br />
Eindruck von den Schwierigkeiten der Betroffenen vermitteln sollen. Die Abbildungen sind<br />
anhand von Beschreibungen Betroffener angefertigt worden.
Das Meares-Irlen-Syndrom 44<br />
Ein weiteres Problem, das auftreten kann, ist der Doppeleffekt 30 (vgl. Abbildung 6).<br />
Betroffene beschreiben, daß sie einen weißen Schein um jeden Buchstaben sehen,<br />
daß der Abstand zwischen den Zeilen hell würde und einen Neoneffekt erzeuge. Sie<br />
berichten von sich überlagernden Strahlenkränzen unterschiedlicher Farbe, die das<br />
Unterscheiden der Buchstaben erschwere. Es ist für sie praktisch unmöglich, mehr als<br />
ein paar Sekunden am Stück zu lesen. Versucht ein Betroffener trotzdem eine Zeitlang<br />
zu lesen, können körperliche Symptome wie starke Müdigkeit und unerträgliche Kopf-<br />
schmerzen die Folge sein.<br />
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Wir sehen geschriebenen Text alle auf die<br />
gleiche Art. Die Schrift ist dominanter als<br />
der Hintergrund. Die schwarze Schrift<br />
erscheint gleichmäßig schwarz und Linien<br />
sind gerade. Im Schriftbild gibt es keine<br />
Unruhe und auch keine Bewegungen. Der<br />
Hintergrund ist weiß und überstrahlt die<br />
schwarze Schrift nicht. Man muß sich nur<br />
richtig anstrengen, wenn man gut lesen will.<br />
Abbildung 6: Der Doppleffekt (vgl. SCHROTH 1997a, S. 53)<br />
5.3.3 Schlechte Druckauflösung<br />
Unter „schlechter Druckauflösung“ versteht man Schwierigkeiten, die zu einer ver-<br />
änderten Wahrnehmung von Buchstaben, Zahlen und Symbolen führen. Betroffene<br />
beschreiben das Phänomen, daß die Buchstaben auf der Seite tanzen, vibrieren,<br />
pulsieren, wackeln, sich verschieben, schimmern, sich bewegen oder verschwinden.<br />
Schwierigkeiten im Bereich der Druckauflösung sind abhängig von der Schriftgröße,<br />
dem Wortabstand, der Schriftart und dem Textumfang pro Seite. So kann es durchaus<br />
sein, daß ein Kind mit schlechter Druckauflösung zu Beginn der Schulzeit (im 1. und 2.<br />
Schuljahr) noch keine Probleme hat, da zu diesem Zeitpunkt noch mit einer großen<br />
Schrift gear<strong>bei</strong>tet wird und da nur wenig Text auf einer Seite steht.<br />
Dieses Phänomen kann alle Buchstaben bzw. Wörter auf einer Seite betreffen. Es ist<br />
aber auch denkbar, daß nicht alle betroffen sind. So können z.B. die zu lesenden<br />
30 In der Literatur sind auch die Bezeichnungen Heiligenschein- oder Haloeffekt zu finden.
Das Meares-Irlen-Syndrom 45<br />
Wörter oder Buchstaben durchaus stabil erscheinen. Der Leser wird jedoch durch die<br />
z.B. verzerrten Buchstaben in unmittelbarer Nachbarschaft abgelenkt.<br />
Als Folge einer schlechten Druckauflösung liest ein Betroffener in der Regel langsamer<br />
und mit mehr Fehlern. Eventuell läßt er auch ganze Wörter <strong>bei</strong>m Lesen aus.<br />
Eine Ausprägungsform kann z.B. der Fließeffekt (vgl. Abbildung 7) oder der Überlap-<br />
pungseffekt (vgl. Abbildung 8) sein. Ein Effekt, <strong>bei</strong> dem die Abstände zwischen den<br />
Wörtern ungleichmäßig und ungenügend sind, so daß die Wörter ineinanderfließen.<br />
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Wirsehen ge schrieben en Textalle aufdie gleiche<br />
Art.DieSchrift ist dominant erals derHin tergrund.<br />
DieschwarzeSchriftersch eintgleich mäßigschwarz<br />
undLinien sin dgerade. Im Schrif tb ildgibt esk<br />
eine Un ruheundauch keineBeweg ungen.Der<br />
Hintergrundist weiß und überstrahlt dieschwarze<br />
Schriftnicht. Man mußsichnurrichti ganstrengen,<br />
wenn mangutlesenwill.Wirsehenge schriebenen<br />
Textalle aufdiegleicheA rt.Die Schriftist dominanterals<br />
derHintergru nd.Die schwar zeSchrift<br />
erscheint gleich mäßigsch warz und Linien sind<br />
gerade.Im Schritbildgibt eskeineUn ruheund<br />
auchk eine Beweg ungen. DerHintergr undistweiß<br />
Abbildung 7: Der Fließeffekt (vgl. SCHROTH 1996a, S. 333)<br />
Wir sehen geschriebenen Text alle auf die gleiche Art.<br />
Wirsehen geschriebenen Texta lleuf a diegleicheArt.<br />
Die Schrift ist dominanter als der Hintergrund.<br />
DieSchrift odminanter ist alsder Hrg inte rund.<br />
Im Schriftbild gibt es keine Unruhe.<br />
Im Schift b ild giebt s keine U nruhe.<br />
Abbildung 8: Der Überlappungseffekt (vgl. SCHROTH 1996b, S. 42)<br />
Ein weiteres Auflösungsproblem besteht darin, daß sich die Buchstaben aus der Sicht<br />
der Betroffenen bewegen und nicht stillstehen. Einige Menschen mit Meares-Irlen-<br />
Syndrom berichten über Bewegungen von einer Seite zu anderen, von Auf- und Ab-<br />
bewegungen sowie kreisförmiger Bewegungen (Wirbeleffekt, vgl. Abbildung 9).
Das Meares-Irlen-Syndrom 46<br />
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Wir sehen geschriebenen Text alle auf die<br />
gleiche Art. Die Schrift ist dominanter als<br />
der Hintergrund. Die schwarze Schrift<br />
erscheint gleichmäßig schwarz und Linien<br />
sind gerade. Im Schriftbild gibt es keine<br />
Unruhe und auch keine Bewegungen. Der<br />
Hintergrund ist weiß und überstrahlt die<br />
schwarze Schrift nicht. Man muß sich nur<br />
richtig anstrengen, wenn man gut lesen will.<br />
Wir sehen geschriebenen Text alle auf die<br />
gleiche Art. Die Schrift ist dominanter als<br />
der Hintergrund. Die schwarze Schrift<br />
erscheint gleichmäßig schwarz und Linien<br />
sind gerade. Im Schriftbild gibt es keine<br />
Unruhe und auch keine Bewegungen. Der<br />
Hintergrund ist weiß und überstrahlt die<br />
schwarze Schrift nicht. Man muß sich nur<br />
richtig anstrengen, wenn man gut lesen will.<br />
Abbildung 9: Der Wirbeleffekt (vgl. SCHROTH 1997a, S. 53)<br />
Für andere Betroffene sieht es so aus, als ob die Buchstaben pulsieren. D.h. der Druck<br />
wird nicht mit gleicher Intensität wahrgenommen, die Buchstaben werden schwarz,<br />
grau und wieder schwarz.<br />
Mögliche weitere Effekte die auftreten können, sind der Schütteleffekt, der Unschärfe-/<br />
Verschwommenheitseffekt und der Schiffschaukel-/Schaukeleffekt (vgl. Abbildung 10<br />
bis 12).<br />
Abbildung 10: Schütteleffekt (IRLEN 1997, S. 67)
Das Meares-Irlen-Syndrom 47<br />
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Abbildung 11: Unschärfeeffekt (IRLEN 1997, S. 68)<br />
Abbildung 12: Schaukeleffekt (SCHROTH 1996b, S. 40)<br />
Abschließend sei darauf hingewiesen, daß die beschriebenen Effekte einer schlechten<br />
Druckauflösung nur selten isoliert auftreten, sondern häufig in Kombination vor-<br />
kommen.<br />
5.3.4 Eingeschränkte Erkennensspanne<br />
Unter „eingeschränkter Erkennensspanne“ versteht man, daß es für den Betroffenen<br />
schwierig ist, <strong>bei</strong>m Lesen Gruppen von Buchstaben, Zahlen, Noten oder Wörtern<br />
gleichzeitig zu erkennen. Einem Menschen mit eingeschränkter Erkennensspanne<br />
(auch als Tunnel-Lesen bzw. Tunneleffekt bezeich<strong>net</strong>) fehlt die Fähigkeit, von einer
Das Meares-Irlen-Syndrom 48<br />
Zeile zur anderen überzugehen, abzuschreiben, Korrektur zu lesen, einen Lesestoff zu<br />
überfliegen oder schnell zu lesen.<br />
Zwei Beispiele für die Beschreibung der Symptomatik durch Betroffene:<br />
„Ich kann nicht mehr als einen Druckbuchstaben auf einmal lesen. Der Rest<br />
der Seite ist nur eine Masse herumwuselnder schwarzer Armeisen. Es ist<br />
so langsam und ermüdend, daß ich aufgebe, sobald ich einen Absatz gelesen<br />
habe“ (IRLEN 1997, S. 70).<br />
„Wenn ich ein Wort anschaue, kann ich die ersten drei Buchstaben lesen.<br />
Ich habe das Gefühl, als sei mein Lesen ruckartig. Vorwärts - halt - vorwärts.<br />
Ich kann einfach nicht schneller machen. Ich kann selten einen Test<br />
fertigstellen oder etwas abschreiben, bevor es von der Tafel abgewischt<br />
wird“ (ebd.).<br />
5.3.5 Geringe Aufmerksamkeitsdauer<br />
Bei Aufgaben wie dem Lesen, Schreiben oder Ar<strong>bei</strong>ten am Computer fällt es<br />
Menschen mit Meares-Irlen-Syndrom häufig schwer, über einen längeren Zeitraum ihre<br />
Konzentration aufrechtzuerhalten. Sie stellen fest, daß sie sich anstrengen müssen,<br />
um zu verhindern, daß Wörter unlesbar werden. Sie machen deshalb häufiger Pausen<br />
oder befassen sich mit anderen Dingen, um in der Zwischenzeit ihre Fähigkeit zum<br />
Lesen wieder aufzubauen.<br />
Im Allgemeinen nehmen die meisten Menschen an, daß einer Person, die den<br />
Leselernprozeß abgeschlossen hat, Lesen an sich keine Mühe bereitet, daß es kein<br />
Problem sei, über einen längeren Zeitraum zu lesen, aufmerksam zu sein, beständig<br />
zu ar<strong>bei</strong>ten und den Lesestoff zu verstehen. Dieses trifft für Menschen mit Meares-<br />
Irlen-Syndrom nicht zu. Sie kostet es Kraft und Mühe, Wörter wahrzunehmen und zu<br />
verar<strong>bei</strong>ten. Ihre Probleme werden da<strong>bei</strong> mit zunehmender Lesedauer immer noch<br />
größer, so daß es ihnen schließlich nicht mehr möglich ist, weiter zu lesen.<br />
„Ich weiß, daß ich anders lese als andere Menschen. Ich muß immer<br />
wieder aufhören. Manchmal stehe ich auf und gehe umher; ein anderes<br />
Mal schaue ich einfach eine Zeitlang weg. Als ich in der Schule war,<br />
bestrafte mich der Lehrer jedesmal, wenn ich aufhörte, zu lesen“ (ein<br />
Betroffener in IRLEN 1997, S. 71).<br />
5.3.6 Begleitsymptome<br />
Neben den oben beschriebenen Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m Erkennen einer gedruckten<br />
Seite, wird das Meares-Irlen-Syndrom häufig von körperlichen Symptomen begleitet.<br />
Dazu gehören <strong>bei</strong>spielsweise Kopfschmerzen, Überanstrengung, brennende und<br />
tränende Augen, Schläfrigkeit oder Müdigkeit bereits nach kurzen Perioden des Lesens<br />
oder Schreibens. Betroffene, die an Überanstrengung leiden, berichten, daß sie, um<br />
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Das Meares-Irlen-Syndrom 49<br />
weiter lesen zu können, blinzeln, ihre Augen zusammenkneifen oder auch weit auf-<br />
reißen, den Kopf seitwärts drehen, ein Auge schließen oder den Abstand zwischen<br />
Auge und zu lesendem Text ständig verändern.<br />
Ein Betroffener beschrieb diesen Zusammenhang wie folgt:<br />
„Wenn ich einen Abschnitt gelesen habe, verschwinden die Wörter allmählich.<br />
Ich blinzele, und dann ist es eine Zeitlang wieder in Ordnung. Dann<br />
verschwinden die Wörter wieder. Zuerst werde ich müde, aber wenn ich<br />
versuche weiter zu lesen, bekomme ich Kopfschmerzen“ (IRLEN 1997, S.<br />
72).<br />
Aus den vorangegangenen Ausführungen zum Syndrom und speziell aus dem letzten<br />
Zitat eines Betroffenen, läßt sich bereits entnehmen, daß die Schwierigkeiten, die ein<br />
Mensch mit Meares-Irlen-Syndrom hat, <strong>bei</strong>m Lesen zunehmen. Das ist ein Phänomen,<br />
daß immer wieder <strong>bei</strong> Sehproblemen jeglicher Art beobachtet werden kann. Ist es dem<br />
Leser zu Beginn noch möglich seine Probleme zu kompensieren, so verschlechtert<br />
sich sein Sehen mit zunehmender Lesedauer zusehends.<br />
5.4 Auswirkungen auf das Lesen (vgl. IRLEN 1997, S. 85ff)<br />
Zu Beginn der weiteren Überlegungen sei zunächst darauf hingewiesen, daß das<br />
Meares-Irlen-Syndrom nicht zwangsweise zu Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m Lesen führen muß.<br />
Es gibt auch Menschen, die eigentlich als normale oder gute Leser beschrieben<br />
werden können und die das Meares-Irlen-Syndrom haben. Bei ihnen wirkt sich das<br />
Syndrom vielleicht nur in einem herabgesetzten Lesetempo aus. Eventuell haben sie<br />
auch Schwierigkeiten den gelesenen Text gleich <strong>bei</strong>m erstenmal zu verstehen und<br />
müssen daher jeden Text zweimal lesen.<br />
Aus den vorangegangenen Überlegungen sollte bereits deutlich geworden sein, daß<br />
Menschen mit Meares-Irlen-Syndrom schon <strong>bei</strong>m schnellen zuverlässigen Erkennen<br />
von Buchstaben und Wörtern Schwierigkeiten haben. Dadurch sind sie gezwungen auf<br />
eine andere Art zu lesen als Menschen ohne Meares-Irlen-Syndrom. Im Extremfall<br />
müssen sie unter großer Mühe jeden Buchstaben einzeln identifizieren und dann zu<br />
einem Wort zusammensetzten. Schließlich müssen sie das Gelesene ein zweites Mal<br />
lesen, um sicher zu gehen, daß sie den Inhalt auch richtig verstanden haben. Die<br />
große Mühe und Energie, die ihnen das Lesen abverlangt, macht es einleuchtend,<br />
warum diese Menschen häufiger Pausen <strong>bei</strong>m Lesen machen müssen.<br />
Ihre Probleme können sie auch nicht durch zusätzliche oder vermehrte Übung lindern.<br />
Ein verstärktes Lesetraining mit dem Ziel mehr Wörter als Ganzheit zu speichern, um<br />
so das Wiedererkennen zu erleichtern, ist <strong>bei</strong> Menschen mit Meares-Irlen-Syndrom<br />
nicht erfolgversprechend. Durch Ihre Sehprobleme kann ein und dasselbe Wort auf<br />
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Das Meares-Irlen-Syndrom 50<br />
unterschiedliche Arten „entstellt“ sein, so daß ein Wort nie dieselbe Gestalt hat und<br />
auch nicht mit gespeicherten Wortbildern verglichen werden kann.<br />
Bei betroffenen Menschen kann durchaus die Lesefähigkeit als solche und der Sicht-<br />
wortschatz angemessen ausgebildet sein; trotzdem können sie nur eine begrenzte<br />
Zeit, im allgemeinen fünfzehn bis zwanzig Minuten, ohne größere Problemen lesen<br />
(vgl. IRLEN 1997, S. 95). Dann verschlechtert sich ihre Lesequalität zusehends, da ihre<br />
Sehprobleme mit zunehmender Lesedauer stärker werden. Folglich kann <strong>bei</strong> betrof-<br />
fenen Menschen häufig beobachtet werden, daß sie mit zunehmender Lesedauer mehr<br />
Fehler machen.<br />
In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß betroffene Schüler auch Pro-<br />
bleme mit den von Schuljahr zu Schuljahr steigenden Anforderungen haben. Es wird in<br />
der Regel davon ausgegangen, daß Kinder mit zunehmendem Alter und zunehmender<br />
Leseerfahrung länger lesen können. Dementsprechend wird der Umfang des Lese-<br />
stoffes von Jahr zu Jahr gesteigert. Da aber die Sehprobleme von Menschen mit<br />
Meares-Irlen-Syndrom über Jahre konstant bleiben, können sie ihre „Lesedauer“ nicht<br />
steigern, wodurch sie sich vor immer größere Schwierigkeiten gestellt sehen.<br />
Als Folge des Meares-Irlen-Syndroms können eventuell nachstehend aufgeführte<br />
Fehler bzw. Probleme <strong>bei</strong>m Lesen beobachtet werden (vgl. IRLEN 1997, S. 72f):<br />
– Es werden Wörter oder Zeilen <strong>bei</strong>m Lesen ausgelassen.<br />
– Der Betroffene verliert häufig die Stelle, an der er gerade liest, oder er muß einen<br />
Finger, ein Lineal o.ä. benutzen, um nicht die Zeile oder die Stelle zu verlieren.<br />
– Ein Zeilenwechsel gelingt nicht, d.h. es wird nicht vom Ende der Zeile zum Anfang<br />
der nächsten gesprungen, sondern an den Anfang der so eben gelesenen, ohne<br />
das dieser Irrtum sofort auffällt/bewußt wird.<br />
– Beim Lesen werden Wörter aus der darüber oder darunter liegenden Zeile einge-<br />
fügt.<br />
– Betroffene haben häufig Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m Abschreiben von Informationen, z.B.<br />
von der Tafel.<br />
– Häufig kann auch beobachtet werden, daß sie den Kopf bewegen, wenn sie eine<br />
Zeile lesen.<br />
Das Meares-Irlen-Syndrom hat also Auswirkungen auf die Leseleistungen. Betroffene<br />
müssen zuviel Energie und Mühe für ihre Wahrnehmung verwenden, um die ständigen<br />
Verzerrungen oder den störenden, sich ständig verändernden Hintergrund zu bewälti-<br />
gen. Bei vielen geht das Lesen deshalb mit asthenopen Beschwerden einher. Die<br />
Folge ist dann meist eine geringe Lesemotivation. Was nachvollziehbar ist, denn wenn<br />
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Das Meares-Irlen-Syndrom 51<br />
ein Betroffener genau weiß, daß er nach eventuell fünfminütigem Lesen Kopfschmer-<br />
zen bekommt, dann wird er nicht freiwillig so lange lesen.<br />
Erleichterung verschaffen sich diese Menschen meist selbst, indem sie häufiger<br />
Pausen machen als normale Leser. Dafür kann es einigen schon genügen kurz von der<br />
Seite aufzuschauen. Andere benötigen hingegen längere Pausen, sie müssen auf-<br />
stehen und eine Zeitlang umhergehen, bevor sie weiter lesen können. Bei stark<br />
betroffenen Menschen läßt sich beobachten, daß mit zunehmender Lesedauer zum<br />
einen die Pausen immer länger werden und daß zum anderen die Zeitspanne des<br />
Lesens zwischen den Pausen immer kürzer wird. Wenn sich Kinder diese Pausen auch<br />
in der Schule verschaffen, d.h. z.B. aus dem Fenster schauen oder mit ihrem Tisch-<br />
nachbarn reden, dann werden sie oft fälschlicherweise als unaufmerksam, leicht<br />
ablenkbar und/oder unmotiviert beschrieben.<br />
Einflüsse der Umwelt und des Lesematerials (vgl. IRLEN 1997, S. 100ff)<br />
Die mit dem Meares-Irlen-Syndrom verbundenen Symptome können durch gewisse<br />
Umweltfaktoren noch verstärkt werden. Beispielsweise kann die Intensität und Art der<br />
Beleuchtung das Auftreten der Symptomatik beschleunigen. Als am schlimmsten in<br />
diesem Sinne wird von den meisten Betroffenen fluoreszierendes Licht empfunden.<br />
Also das Licht, was üblicherweise in jedem Klassenzimmer als Beleuchtung zu finden<br />
ist.<br />
Aber auch das Lesematerial kann sich auf die Symptome negativ auswirken. So<br />
können sich z.B. vom Meares-Irlen-Syndrom betroffene Menschen von modernen<br />
weißen Wandtafeln oder von weißem Hochglanzpapier geblendet fühlen. So sind die<br />
meisten Lehrbücher oder Zeitschriften schwieriger zu lesen als Taschenbücher, die<br />
meist auf ungebleichtem, nicht glänzendem Papier gedruckt sind. Ferner spielen die<br />
Anzahl der Wörter pro Seite, der Schrifttyp und die Buchstabengröße (der Schriftgrad)<br />
eine entscheidende Rolle.<br />
Manche Schüler haben bereits selbst herausgefunden, wie sie den Kontrast der Seite<br />
verringern können. Sie markieren eventuell den gesamten zu lesenden Text, wodurch<br />
der gesamte Hintergrund farbig wird. Andere verwenden ein sogenanntes Lese-<br />
fenster 31 oder falten das zu lesende Blatt, um die Menge des sichtbaren Textes zu ver-<br />
ringern.<br />
31 Ein Lesefenster ist ein kartonstarkes Papier (z.B. im Format DIN A 6), in das ein Fenster von 4<br />
cm Länge und einer dem Zeilenabstand ensprechenden Höhe geschnitten wird. Dieses wird <strong>bei</strong>m<br />
Lesen auf den Text gelegt, so daß immer nur der gerade zu lesende Abschnitt im Fenster zu<br />
sehen ist.<br />
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Das Meares-Irlen-Syndrom 52<br />
5.5 Auswirkungen auf das Schreiben (vgl. IRLEN 1997, S. 159ff)<br />
Das Meares-Irlen-Syndrom wirkt sich auch auf das Schreiben aus. So kann beobachtet<br />
werden, daß betroffene Schüler Schwierigkeiten haben, auf einer Zeile zu schreiben,<br />
sie geraten entweder unter oder über sie. Charakteristisch für die Handschrift mancher<br />
Schüler ist, daß die Buchstaben zu dicht aneinander oder zu weit auseinander<br />
gezogen werden. Auch die Größenverhältnisse und die Verbindungen der Buchstaben<br />
können nicht regelgerecht sein (vgl. Abbildung 13).<br />
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Abbildung 13: Zwei Beispiele für die Handschrift von Schülern mit Meares-<br />
Irlen-Syndrom (IRLEN 1997, S. 160ff)<br />
Das Abschreiben von der Wandtafel oder aus einem Buch ist eine schwierige Aufgabe.<br />
Schüler mit Meares-Irlen-Syndrom können häufig Informationen nicht abschreiben, da<br />
sie die Stelle, an der sie stehen geblieben waren, nicht wieder finden. Was damit<br />
zusammenhängt, daß sich das Erscheinungsbild des Textes bzw. der Tafelanschrift<br />
verändert hat, nachdem sie von ihrem Ar<strong>bei</strong>tsplatz wieder aufgeschaut haben.<br />
Oft haben Schüler mit Meares-Irlen-Syndrom Schwierigkeiten <strong>bei</strong> der Interpunktion. Die<br />
Regeln für die Zeichensetzung lernen sie isoliert vom Inhalt und können diese nicht<br />
durch eigene Leseerfahrungen bestätigen. Als Folge erscheint ihre Interpunktion wirr<br />
oder zufällig; in einigen Fällen fehlt sie ganz.<br />
Nicht selten leidet auch die Qualität des schriftlichen Ausdrucks. Schon <strong>bei</strong>m Ver-<br />
fassen eigener Texte fällt es den Betroffenen schwer zu lesen, während sie schreiben.<br />
Auf ein nochmaliges Durchlesen am Ende wird meist verzichtet, da dieses die<br />
Symptomatik, einschließlich der asthenopen Beschwerden, verstärkt. Damit geht ihnen
Das Meares-Irlen-Syndrom 53<br />
natürlich eine wichtige Möglichkeit verloren, um zum einen ihren Stil und Ausdruck zu<br />
kontrollieren und zum anderen sicherzustellen, daß ihre Ar<strong>bei</strong>t genau das ausdrückt,<br />
was sie sagen wollten.<br />
5.6 Zusammenfassung<br />
Zusammenfassend ist festzuhalten, daß es Menschen gibt, die aufgrund von Seh-<br />
problemen, genauer gesagt, aufgrund einer Störung der visuellen Sensorik, eine<br />
gedruckte Seite anders wahrnehmen als „normal“ lesende Menschen. Sie haben<br />
Schwierigkeiten mit dem starken Kontrast von schwarzer Schrift auf weißem Hinter-<br />
grund oder mit dem Druckbild. Im einzelnen können mehrere Symptome beobachtet<br />
werden, die in verschiedener Kombination das Syndrom ausmachen. Da<strong>bei</strong> sind z.B.<br />
folgende subjektive Wahrnehmungen denkbar:<br />
– Wörter die sich bewegen und eventuell sogar von der Seite zu fallen scheinen;<br />
– Wörter, die ineinanderfließen;<br />
– Buchstaben oder Wörter, die rotieren;<br />
– ein pulsierender Hintergrund;<br />
– aufblitzende Farben im Hintergrund;<br />
– ein Hintergrund, der als grell und unangenehm empfunden wird.<br />
Die visuellen Schwierigkeiten der Menschen mit Meares-Irlen-Syndrom nehmen in der<br />
Regel mit der Lesedauer zu und gehen oft mit asthenopen Beschwerden einher, wie<br />
z.B. Kopfschmerzen, brennende oder tränende Augen.<br />
Daneben sind eine Reihe von Leseschwierigkeiten mit der Symptomatik verbunden.<br />
Diese überschneiden sich an einigen Stellen mit den im ersten Kapitel beschriebenen<br />
Lesefehlern <strong>bei</strong> LRS. Beim Lesen kann z.B. folgendes besonders auffallen:<br />
– niedrige Lesegeschwindigkeit;<br />
– Auslassen von Worten oder Wortteilen;<br />
– Hinzufügen von Wörtern aus darüber oder darunter liegenden Zeilen<br />
– die Unfähigkeit, ausdauernd zu Lesen;<br />
– schnelles Ermüden <strong>bei</strong>m Lesen;<br />
– körperliche Symptome nach einer Weile des Lesens, wie Kopfschmerzen oder<br />
brennende Augen.<br />
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Die Irlen-Methode 54<br />
6. Die Irlen-Methode<br />
6.1 Vorgeschichte<br />
1981 wurde Helen IRLEN mit der Koordination eines Forschungsprojektes über Lernbe-<br />
hinderungen <strong>bei</strong> Erwachsenen betraut, das mit Mitteln der amerikanischen Regierung<br />
an der California State Universität in Long Beach eingerichtet wurde. Die Ar<strong>bei</strong>t mit<br />
Erwachsenen, die auch nach der Erlangung der Hochschulreife noch Lernschwierig-<br />
keiten hatten, erschien sinnvoller als mit Kindern. Zum einen konnte so ausgeschlos-<br />
sen werden, daß die Lernschwierigkeiten durch Probleme der Reife (Entwicklungsver-<br />
zögerungen) verursacht waren. Zum anderen konnten <strong>bei</strong> der ausgewählten Gruppe<br />
von Probanden Motivationsprobleme als Ursache ausgeschlossen werden. Ferner<br />
konnte man davon ausgehen, daß die Beschreibung der individuellen Schwierigkeiten<br />
und Probleme genauer bzw. präziser erfolgen würde, als <strong>bei</strong> Kindern.<br />
Zwischen 1981 und 1983 befragte H. IRLEN mehr als 1500 Erwachsene mit Lernpro-<br />
blemen. Die meisten von ihnen hatten bereits eine ganze Reihe von Therapien<br />
erfolglos hinter sich gebracht.<br />
Die Betroffenen beklagten sich darüber, daß ihnen das Lesen schwer fällt. Sie berich-<br />
teten, daß sie oft nicht mehr wußten, wo sie auf einer Seite stehengeblieben waren<br />
oder daß sie Dinge lasen, die gar nicht da standen. Das Lesen war für sie also im<br />
allgemeinen unangenehm und frustrierend, auch weil sie langsamer lasen und nicht so<br />
lange lesen konnten, wie andere. Darüber hinaus verursachte das Lesen <strong>bei</strong> einigen<br />
körperliche Schmerzen (z.B. Kopfschmerzen). Einige berichteten auch davon, daß sich<br />
die Buchseite plötzlich veränderte.<br />
Einige Aussagen von Betroffenen (IRLEN 1997, S. 41):<br />
„Lesen ist unangenehm. Ich werde unruhig und zappelig da<strong>bei</strong>.“<br />
„Ich schlafe <strong>bei</strong>m Lesen ein.“<br />
„Ich hasse das Lesen, weil ich etwas drei- bis viermal lesen muß, um es zu<br />
verstehen.“<br />
„Ganz egal was ich mache, ich lese langsamer als alle anderen. Wenn alle<br />
anderen ein Kapitel zu Ende gelesen haben, bin ich vielleicht erst auf der<br />
ersten oder zweiten Seite.“<br />
„Ich kann nicht lange auf eine Seite schauen. Ich muß das Buch schnell<br />
<strong>bei</strong>seite legen.“<br />
„Nach einer Weile lese ich einfach nur Wörter, die keinen Sinn ergeben.“<br />
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Die Irlen-Methode 55<br />
Insgesamt ließen sich folgende Gemeinsamkeiten <strong>bei</strong> ca. der Hälfte der Betroffenen<br />
feststellen (vgl. SCHROTH 1995a, S. 8):<br />
– Probleme <strong>bei</strong>m Lesen, die mit der Lesedauer zunehmen;<br />
– schnelle Ermüdung;<br />
– schlechtes Konzentrationsvermögen;<br />
– schlechtes Leseverständnis;<br />
– Schrift erscheint unruhig;<br />
– Buchstaben verblassen, tanzen.<br />
Aufgrund dieser Beschreibungen lag die Vermutung nahe, daß eine visuelle Störung<br />
<strong>bei</strong> diesen Menschen vorlag. Eine neuerliche Untersuchung der Betroffenen durch<br />
Opthalmologen (Augenärzte), Optometristen 32 , Neurologen, Lesespezialisten und<br />
Psychologen ergab aber keine Hinweise auf eine mögliche Therapie, die <strong>bei</strong> diesen<br />
Störungen angesetzt hätte. D.h. eine Besserung bezüglich der Leichtigkeit bzw.<br />
Effizienz, mit der jemand las, konnte mit den vorgeschlagenen Therapieansätzen nicht<br />
erbracht werden. H. IRLEN zog deshalb die Schlußfolgerung, daß sie es mit einem<br />
Syndrom zu tun hatte, daß bis dahin noch nicht von der Fachwelt erkannt worden war.<br />
Im Verlauf von sechs Monaten wandte sie nun erfolglos eine Reihe von verschiedenen<br />
Techniken an, um den Betroffenen zu helfen. Erst durch einen Zufall wurde während<br />
einer Unterrichtsstunde die Wirkung von Farbfolien auf die Schriftwahrnehmung<br />
entdeckt. Eine Studentin hatte eine durchsichtige rote Plastikfolie, die sie in einem<br />
früheren Sehtraining verwendet hatte. Eine andere Studentin legte die rote Folie auf<br />
eine Seite und war erstaunt, daß sie plötzlich die Buchstaben ihres Textes erkennen<br />
konnte, ohne daß diese auf und ab tanzten. Diese Verbesserung trat aber nicht <strong>bei</strong><br />
allen Betroffenen auf, d.h. alle anderen sahen den Text durch die rote Folie immer<br />
noch genauso wie ohne.<br />
Diese Entdeckung veranlaßte Frau IRLEN, sich viele verschiedene Farbfolien zu<br />
beschaffen, wie sie für Bühnenscheinwerfer benutzt werden. In der folgenden Zeit bat<br />
sie die Personen, die über Wahrnehmungsverzerrungen als Grund ihrer Leseprobleme<br />
berichtet hatten, die verschiedenen Farbfolien auszuprobieren. Insgesamt testeten 107<br />
Personen die farbigen Folien. Das Ergebnis war erstaunlich: für 81 erwiesen sich die<br />
Folien als hilfreich. Da<strong>bei</strong> zeigte sich, daß es für jede Person bestimmte Farben gab,<br />
die die Wahrnehmung einer gedruckten Seite erleichterten und solche, die sie beein-<br />
32 Ein Optometrist ist ein Fachmann für Optometrie, in der Regel sind das Augenoptiker. Im<br />
Vergleich zu deutschen Optometristen (Augenoptiker) verfügen Optometristen außerhalb des<br />
deutschen Sprachraumes häufig über größere Kenntnisse auf dem Gebiet der Pathologie und<br />
Pharmakologie. Bei pathologischen Ursachen von Sehproblemen verweist er jedoch immer an<br />
den Opthalmologen (Augenarzt).<br />
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Die Irlen-Methode 56<br />
trächtigten. Für jeden Probanden gab es eine Farbe, die am besten wirkte. Nachdem<br />
für alle die optimale Farbe herausgefunden war und sie mit dieser eine Zeit lang<br />
experimentiert hatten, berichteten die Probanden, daß sie nun besser und länger lesen<br />
konnten. Das Lesen mit der farbigen Folie strengte sie also nicht mehr so sehr an, wie<br />
ohne. Der gleiche Test wurde auch mit guten Lesern durchgeführt, der Effekt blieb<br />
jedoch aus. Im Anschluß daran wurde er mit Kindern durchgeführt, die Leseprobleme<br />
hatten. Und auch hier reagierte ein Teil positiv auf die Farbfolien.<br />
Es zeigte sich bald ein Problem der Folien. Mit ihrer Hilfe konnten zwar zum Teil dra-<br />
stische Verbesserungen der Leseleistungen erreicht werden, aber <strong>bei</strong> der Benutzung<br />
derselben Folien z.B. in Klassenar<strong>bei</strong>ten entstanden Nachteile durch deren Hand-<br />
habung. Das Wegnehmen der Folie <strong>bei</strong>m Wechsel von Lesen zu Schreiben auf dem<br />
gleichen Blatt erwies sich als zu umständlich.<br />
Folgerichtig wurde der nächste Schritt gemacht und die Farbe der Overlays (Folien) auf<br />
Brillengläser übertragen. Dieser Schritt war jedoch nicht sofort erfolgreich. Um die<br />
gleiche Verbesserung der Leseleistung zu erreichen, war ein differenzierteres System<br />
von Farbtönen in unterschiedlichen Sättigungsgraden erforderlich. In Zusammenar<strong>bei</strong>t<br />
mit einem Hersteller für optische Brillengläser wurden eine Reihe von farbigen Gläsern<br />
entwickelt, die den Anforderungen entsprachen. Zuletzt stellte sich heraus, daß die<br />
Betroffenen mit den farbigen Brillengläsern genauso gute oder sogar bessere Ergeb-<br />
nisse erreichten. Insgesamt waren die Anwendungsmöglichkeiten der Brillengläser<br />
vielseitiger als die der Folien. Die Studenten konnten nun direkt auf der Buchseite<br />
ar<strong>bei</strong>ten, Tests schreiben, die Wandtafel lesen, am Computer ar<strong>bei</strong>ten und länger <strong>bei</strong><br />
fluoreszierendem Licht lesen.<br />
Bei der Verbreitung der Methode spielte erneut der Zufall eine Rolle. Ein australischer<br />
Journalist wurde 1985 auf die Farbfilter aufmerksam. Er reiste daraufhin in die USA,<br />
um seine Tochter testen zu lassen. Der Erfolg begeisterte ihn so sehr, daß er einen<br />
Fernsehbericht produzierte, der noch im gleichen Jahr in Australien gesendet wurde.<br />
Die Sendung führte zu einer Welle von Nachfragen Betroffener und von Fachleuten<br />
und war schließlich Anlaß für die Gründung der ersten Irlen-Klinik in Sydney.<br />
6.2 Die Anwendung der Irlen-Methode<br />
Am Anfang jeder Behandlungs- und Fördermethode steht in der Regel eine genaue<br />
Diagnose der vorliegenden Probleme, so auch in diesem Fall. Mit Hilfe des soge-<br />
nannten Screenings soll festgestellt werden, ob das Lesen bzw. das Lernen tatsächlich<br />
durch das Meares-Irlen-Syndrom behindert wird. Da<strong>bei</strong> gilt es zunächst herauszu-<br />
finden, was genau passiert, wenn die Person liest, d.h. es soll möglichst genau<br />
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Die Irlen-Methode 57<br />
ermittelt werden, wie sich der Seheindruck einer Seite <strong>bei</strong>m Lesen verändert. Darüber<br />
hinaus soll die richtige Farbfolie zur Reduktion der spezifischen visuellen Probleme<br />
gefunden werden. Ferner geht es um die Entwicklung einer ersten Vorstellung, inwie-<br />
weit weitere Behandlungs- und Fördermaßnahmen nötig sind. Es soll herausgefunden<br />
werden, in welchen Bereichen mit der Irlen-Methode eine Besserung erreicht werden<br />
kann und welche Aspekte der vorliegenden Gesamtproblematik wahrscheinlich nicht<br />
gebessert werden können.<br />
Da es zur Zeit keine standardisierten Tests oder psychologische Untersuchungsreihen<br />
gibt, mit denen das Meares-Irlen-Syndrom identifiziert werden kann, ist die Diagnostik<br />
nicht ganz unproblematisch. Die subjektiven Beschreibungen der Symptomatik durch<br />
den Betroffenen selbst sind das wichtigste Diagnosemittel. So sind z.B. die mangeln-<br />
den Ausdrucksmöglichkeiten von Kindergartenkindern <strong>bei</strong> der Früherkennung des<br />
Syndroms hinderlich. Da ferner einige Schwierigkeiten, die Menschen mit Meares-Irlen-<br />
Syndrom haben, z.B. von der Buchstabengröße (dem Schriftgrad) und der Textmenge<br />
pro Seite abhängig sind, kann der Zeitpunkt, zu dem ein Betroffener „auffällig“ wird,<br />
individuell sehr verschieden sein. Denkbar wäre also, daß ein Kind im ersten und<br />
zweiten Schuljahr noch keine Probleme hat, diese aber am Anfang der dritten Klasse<br />
aufgrund des zunehmenden Leseumfangs auftreten. Schlußfolgernd ist festzuhalten,<br />
daß auch <strong>bei</strong> einem negativen Diagnoseergebnis (es liegt kein Meares-Irlen-Syndrom<br />
vor), zumindest <strong>bei</strong> jungen Kindern (etwa bis Ende der Grundschulzeit) das Meares-<br />
Irlen-Syndrom als Faktor von Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m Lesen nicht mit endgültiger Sicher-<br />
heit ausgeschlossen werden kann. Aus diesem Grund wird eine regelmäßige Über-<br />
prüfung von Kindern mit LRS oder auch anderen Lernstörungen empfohlen.<br />
Dem Screening, also der Diagnostik auf Meares-Irlen-Syndrom, geht ein genauer<br />
Sehtest <strong>bei</strong>m Augenarzt oder Optiker voraus. Hier soll zunächst festgestellt werden, ob<br />
eine Augenkrankheit vorliegt, die als Ursache für die visuellen Probleme in Betracht<br />
kommt. Darüber hinaus ist abzuklären, ob eine Einschränkung der Sehschärfe (des<br />
Visus) oder des binokularen (des <strong>bei</strong>däugigen) Sehens vorliegt. Schließlich sollen die<br />
Fähigkeit zum Fokussieren und die Blickfolgebewegungen überprüft werden. Es wird<br />
also danach gefragt, ob die Person auf unterschiedliche Objektentfernungen einstellen<br />
kann und ob sie mit dem Blick einem bewegten Objekt folgen kann.<br />
6.2.1 Screening auf Meares-Irlen-Syndrom<br />
An die augenärztliche bzw. augenoptische Untersuchung schließt sich das Screening<br />
auf das Meares-Irlen-Syndrom an, daß sich in drei Teile aufgliedert, die nacheinander<br />
durchgeführt werden.<br />
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Die Irlen-Methode 58<br />
Teil 1: Anamnese<br />
Am Anfang der Diagnose steht die Anamnese. Wo<strong>bei</strong> weniger die eigentliche Krank-<br />
heitsgeschichte im Vordergrund steht, sondern vielmehr Fragen zu Lesegewohnheiten,<br />
zu Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m Lesen usw.. Von besonderem Interesse sind Fragen nach der<br />
subjektiven Wahrnehmung <strong>bei</strong>m Lesen, zur bevorzugten Beleuchtung oder zur<br />
Reaktion auf optische Reize. Als Beispiel für eine solche Befragung kann der folgende<br />
Selbsttest (vgl. Abbildung 14) gelten.<br />
Lassen Sie <strong>bei</strong>m Lesen Wörter oder Zeilen aus ?<br />
Lesen Sie manche Zeilen doppelt ?<br />
Wissen Sie nicht mehr, wo Sie <strong>bei</strong>m Lesen sind ?<br />
Sind Sie <strong>bei</strong>m Lesen leicht ablenkbar ?<br />
Müssen Sie oft Pausen einlegen ?<br />
Finden Sie das Lesen anstrengender, je länger Sie lesen ?<br />
Bekommen Sie <strong>bei</strong>m Lesen Kopfschmerzen ?<br />
Werden Ihre Augen rot, und tränen sie <strong>bei</strong>m Lesen ?<br />
Ermüdet Sie das Lesen ?<br />
Blinzeln Sie, oder kneifen Sie die Augen zusammen ?<br />
Lesen Sie lieber <strong>bei</strong> schwachem Licht ?<br />
Lesen Sie gerne in geringem Abstand ?<br />
Benutzen Sie zum Lesen den Finger, oder markieren Sie auf<br />
andere Art ?<br />
Werden Sie <strong>bei</strong>m Lesen unruhig, aktiv oder nervös ?<br />
Abbildung 14: Selbsttest (IRLEN 1997, S. 16)<br />
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Ja Nein<br />
Darüber hinaus wird nach der Familiengeschichte gefragt. Denn Erfahrungen haben<br />
gezeigt, daß das Meares-Irlen-Syndrom in einer Familie häufiger anzutreffen ist, d.h.<br />
daß es möglicherweise erblich bedingt ist (vgl. IRLEN 1997, S. 175). Es ist also von<br />
Interesse, ob es weitere Familienmitglieder gibt oder gab, die ebenfalls Schwierigkeiten<br />
<strong>bei</strong>m Lesen haben, die eventuell langsam lesen oder die das Lesen anstrengt und<br />
ermüdet.<br />
Teil 2: Die Testaufgaben<br />
Um die Wahrnehmungsfähigkeit eines Menschen auch unter strukturierten Bedingun-<br />
gen überprüfen zu können, wurden von IRLEN einige Aufgaben zusammengestellt.<br />
Diese sind so konstruiert, daß sie die Symptome des Meares-Irlen-Syndrom sofort oder<br />
zumindest nach kurzer Zeit auslösen. Ferner sollen sie genauer Auskunft darüber<br />
erteilen, ob das Syndrom vorliegt und wenn ja, wie es sich äußert und mit welcher<br />
Intensität.
Die Irlen-Methode 59<br />
Bei der Bear<strong>bei</strong>tung der Testaufgaben geht es nicht darum, ob die Lösung richtig ist<br />
oder ob die Aufgabe überhaupt beendet werden konnte. Wichtig ist vielmehr, die Art<br />
der Schwierigkeiten zu identifizieren, die <strong>bei</strong> der Durchführung der Aufgaben entste-<br />
hen. Die nachfolgende Abbildung 15 soll einen Eindruck der Testaufgaben vermitteln.<br />
Abbildung 15: Bei dieser Aufgabe wird die Testperson aufgefordert, die weißen<br />
Flächen oben auf der mit B markierten Seite zu zählen. Dann<br />
werden sie gebeten, zu berichten, welche Schwierigkeiten sie<br />
da<strong>bei</strong> hatten. (IRLEN 1997, S. 180)<br />
Bei der Zusammenstellung der Testaufgaben wurde darauf geachtet, daß die zur<br />
Bear<strong>bei</strong>tung verlangten spezifischen Wahrnehmungsfähigkeiten von einem Kind gelei-<br />
stet werden können, das den Kindergarten verläßt. Es wurden also solche visuellen<br />
Leistungen ausgewählt, von denen aus entsprechenden Studien bekannt ist, daß sie<br />
sich nur noch wenig verändern bzw. entwickeln, wenn das Kind älter wird. D.h. die<br />
meisten Aufgaben sind so konstruiert, daß sie von siebenjährigen Kindern in der Regel<br />
ohne Schwierigkeiten gelöst werden können. Eine Abstufung in der Schwierigkeit der<br />
Testaufgaben erschien IRLEN nicht nötig, da die mit dem Meares-Irlen-Syndrom<br />
verbundenen Probleme sich mit zunehmendem Alter bzw. mit zunehmender Reife nicht<br />
verändern (vgl. IRLEN 1997, S. 179).<br />
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Die Irlen-Methode 60<br />
Teil 3: Die Folien<br />
Dieser Teil der Diagnostik wird nur dann durchgeführt, wenn die Ergebnisse aus den<br />
ersten <strong>bei</strong>den Teilen eindeutig darauf hinweisen, daß ein Meares-Irlen-Syndrom vorlie-<br />
gen könnte. Ziel ist es nun die richtige Farbe der Lesefolie zu ermitteln, d.h. jene<br />
farbige Folie, die am effektivsten die Leseleistung verbessert. Dazu werden neun<br />
verschiedene Farbtöne plus Neutral-Grau einzeln und dann in Kombination auf ein<br />
Textblatt gelegt. Wenn mit einer bestimmten Farbe oder einer Kombination eine ver-<br />
besserte Wahrnehmung erreicht wird, d.h. der Text ruhiger und stabiler erscheint, dann<br />
wird dieses Lesefolie bzw. die Kombination verord<strong>net</strong>.<br />
Die zwei Stufen der Farbkorrektion<br />
Zunächst bekommen die Personen die für sie passende farbige Folie oder Kombination<br />
von Folien mit nach Hause, um sie eine Zeitlang selbständig zu benutzen. Sie sollen<br />
ausprobieren, ob ihnen die Overlays wirklich helfen. Das <strong>bei</strong>nhaltet, daß die Personen<br />
beobachten, ob die positiven Veränderungen Kontinuität zeigen, egal wann sie lesen,<br />
unter welchen Umweltbedingungen (z.B. <strong>bei</strong> welcher Beleuchtung) und wie lange sie<br />
lesen. Diese erste Phase dauert mindestens vier Wochen. Wird in dieser Zeit die Folie<br />
bzw. die Kombination freiwillig benutzt und stellen sich mir ihr Verbesserungen ein,<br />
dann sind die Voraussetzungen für die nächste Phase gegeben. Die Verbesserungen<br />
müssen nicht immer objektiv meßbar sein, d.h. es muß in diesen vier Wochen nicht<br />
immer ein objektiver Zuwachs der Leseleistung beobachtbar sein, sondern es genügt,<br />
daß der Betroffene die Folien als subjektive Erleichterung <strong>bei</strong>m Lesen empfindet und<br />
sie daher immer freiwillig verwendet.<br />
Hat die erste Phase eine andauernde Verbesserung für den Nutzer der farbigen Folien<br />
ergeben, so ist das ein Anzeichen dafür, daß die Person auf die Korrektion mittels<br />
Farbe anspricht. Auf Wunsch kann nun als umfassendere Hilfe eine Brille mit entspre-<br />
chend eingefärbten Gläsern angepaßt werden. Aufgrund der Erfahrungen von IRLEN<br />
werden ca. 240 verschiedenfarbige Brillengläser verwendet. Für die Ermittlung der<br />
individuell passenden Irlen-Gläser, die meistens nicht exakt mit der vorher verwen-<br />
deten Folienfarbe übereinstimmen, dauert in der Regel ca. 40 Minuten. Der gesamte<br />
Zeitaufwand für Screening, für die Anpassung der Brillengläser und für eine Nach-<br />
kontrolle beträgt etwa eineinhalb bis zwei Sunden (vgl. SCHROTH 1995a, S. 11).<br />
Genauere Aussagen über das Screening, wie es von Irlen-Fachleuten durchgeführt<br />
wird, können an dieser Stelle nicht gemacht werden, da entsprechende Veröffent-<br />
lichungen bislang nicht vorliegen. Über die Diagnosesitzung, also über die genauen<br />
Fragen zur Anamnese und über die Testaufgaben, sowie über die Ermittlung der pas-<br />
senden Filterfarbe ist nur sehr wenig bekannt. Das mag daran liegen, daß die Methode<br />
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Die Irlen-Methode 61<br />
gesetzlich geschützt ist und nur an den Irlen-Zentren in den USA, Großbritannien und<br />
Australien gelehrt wird. Um die Irlen-Methode anwenden zu können und die entspre-<br />
chenden Irlen-Gläser verkaufen zu dürfen, muß man also eine entsprechende Berech-<br />
tigung (Lizenz) an einem solchen Zentrum erwerben (vgl. SCHROTH 1995a, S. 11).<br />
Festzuhalten bleibt, daß der Schwerpunkt der Diagnostik in der ausführlichen Befra-<br />
gung liegt. Von besonderem Interesse sind da<strong>bei</strong> die Antworten der Betroffenen, die<br />
vom Untersucher genau analysiert werden müssen, um entsprechende Rückschlüsse<br />
auf die vorliegende Problematik ziehen zu können. Der Betroffene selbst kann nämlich<br />
einen Vergleich zwischen dem, was er auf einer Textseite sieht, und dem, was ein<br />
normal Lesender sieht, nicht vollziehen. Wenn <strong>bei</strong>spielsweise die Buchstaben in<br />
seinem Buch hüpfen, dann tun sie das gleiche auch im Buch des Nachbarn oder der<br />
Nachbarin. Für ihn ist es also normal, daß Buchstaben hüpfen. Die Erfahrung, daß ein<br />
Text normalerweise stabil und ruhig erscheint, konnte er nie machen. Hat ein Betrof-<br />
fener die Farbe gefunden, die ihm hilft, bekommt er einen nie zuvor erlebten Eindruck<br />
von einer Textseite.<br />
Wird diesem Zusammenhang Aufmerksamkeit geschenkt, dann ist es keineswegs<br />
unangemessen, ein Kind, das in der Schule Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m Lesen hat, danach<br />
zu fragen, was es sieht bzw. was auf der Seite passiert, die es gerade liest, oder wie<br />
es sich <strong>bei</strong>m Lesen fühlt. Nur durch solche Fragen können Hinweise gewonnen<br />
werden, die Aufschluß darüber geben, ob <strong>bei</strong> einem Kind eine Beeinträchtigung der<br />
visuellen Sensorik vorliegt. Es selber merkt nicht, kann nicht merken, daß es anders<br />
wahrnimmt als seine Klassenkameraden und auch die üblichen Tests und Unter-<br />
suchungen <strong>bei</strong>m Augenarzt oder Optiker können die hier beschriebenen Probleme<br />
nicht aufdecken.<br />
6.2.2 Einige Hinweise zur praktischen Umsetzung der Methode<br />
Die im folgenden vorgestellte praktische Vorgehensweise zur Ermittlung der pas-<br />
senden Filterfarbe (vgl. Abbildung 17) basiert auf dem durch WILKINS 33 erweiterten<br />
Farbfoliensatz, der aus zwölf Folien, elf farbigen und einer neutral-grauen, besteht.<br />
Jeweils zwei komplette Foliensätze gehören zu einer Testmappe, die außerdem eine<br />
Testanleitung, einen Testbogen (Protokollbogen) und einige Hinweise zur Verwendung<br />
der Lesefolien enthält (vgl. OPTIC SERVICE WOLFENWEILER o.J.). Eine detaillierte<br />
Beschreibung der Testdurchführung findet sich <strong>bei</strong> SCHROTH (1995a, 1997a), einem<br />
Augenoptiker, der sich um die Verbreitung der Methode in Deutschland bemüht.<br />
33 Arnold WILKINS (Institut für Angewandte Psychologie in Cambridge/England) hat sich, angeregt<br />
durch die Ergebnisse von IRLEN, um eine empirische Überprüfung ihrer Erfahrungen bemüht (vgl.<br />
Kapitel 6.3).<br />
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Die Irlen-Methode 62<br />
Voraussetzung ist, wie bereits oben beschrieben, daß zunächst eine augenärztliche<br />
Untersuchung durchgeführt wird, <strong>bei</strong> der ausgeschlossen wird, daß eine Augenkrank-<br />
heit vorliegt. Anschließend folgt <strong>bei</strong>m Augenarzt oder <strong>bei</strong>m Augenoptiker eine genaue<br />
Sehschärfenmessung und eine Korrektur auch kleinster Fehlsichtigkeiten. Eventuell ist<br />
hier in zwei Schritten vorzugehen, d.h. zuerst wird rein refraktiv korrigiert 34 und erst im<br />
zweiten Schritt, <strong>bei</strong> Weiterbestehen von Problemen, eine binokulare Vollkorrektion 35<br />
durchgeführt. Erst wenn im Anschluß an diese Korrektionsmaßnahmen immer noch<br />
Schwierigkeiten bestehen sollten, ist als nächster Schritt die Ermittlung der individuell<br />
passenden Filterfarbe empfehlenswert (vgl. SCHROTH 1995a, S. 12).<br />
Der Prüfperson wird zu diesem Zweck ein Lesetext vorgelegt, der lange Zeilen mit<br />
einem relativ engen Zeilenabstand und schwarze Druckschrift auf weißem Hintergrund<br />
haben sollte. Entscheidend für die Untersuchung ist da<strong>bei</strong> das Druckbild des Textes<br />
und nicht sein Inhalt, daher kann ein Zufallstext gewählt werden 36 . Ferner ist darauf zu<br />
achten, daß während der gesamten Untersuchung/Testung Schattenbildung sowie<br />
Blendungen und Reflexe auf den Overlays vermieden werden.<br />
Im ersten Schritt wird die zu testende Person gebeten zu beschreiben wie sie den Text<br />
wahrnimmt - „Wie sehen Sie/siehst Du diesen Text?“. Bei Kindern sind oft die spon-<br />
tanen Antworten aufschlußreicher als solche auf vorgegebene Fragen wie z.B. nach<br />
Unschärfe oder Bewegungen im Text. Also nur, wenn das Kind keine spontanen<br />
Angaben zur Textwahrnehmung machen kann, sollte gezielter nach den Symptomen<br />
des Meares-Irlen-Syndrom (vgl. Kapitel 5) gefragt werden. Empfehlenswert ist es, die<br />
vom Kind verwendeten Begriffe für die weitere Testung zu benutzen.<br />
Danach wird immer eine Hälfte des Textes mit einem Overlay (einer Folie) abgedeckt<br />
und gefragt, welche Seite jetzt z.B. ruhiger zu erkennen ist. Da<strong>bei</strong> wird zunächst der<br />
Innenkreis auf dem Testbogen (vgl. Abbildung 16) in der angegebenen Reihenfolge<br />
(Zahl der jeweiligen Farbe) abgear<strong>bei</strong>tet. Wird durch eine Farbe die Wahrnehmung des<br />
Textes verbessert, so wird sie mit einem Plus markiert. Bei einer Verschlechterung wird<br />
entsprechend mit einem Minus notiert und wenn keine Veränderung eintritt eine „Null“.<br />
34<br />
Korrektion von z.B. Kurz- oder Übersichtigkeit<br />
35<br />
Korrektion einer Winkelfehlsichtigkeit<br />
36<br />
Eine geeig<strong>net</strong>e Textvorlage ist ebenfalls in der Testmappe enthalten. Dies „Leseprobe“ ist eine<br />
Aneinanderreihung von sinnhaften und unsinnhaften (Un-) Wörtern, um die Kontexterwartung<br />
auszuschalten (vgl. OPTIC SERVICE WOLFENWEILER).<br />
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Die Irlen-Methode 63<br />
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Abbildung 16: Kreis-Protokoll des Testbogens<br />
(vgl. Optic Service Wolfenweiler o.J.)<br />
Typischerweise läßt sich <strong>bei</strong> einem Menschen mit Meares-Irlen-Syndrom beobachten,<br />
daß er benachbarte oder eventuell auch gegenüberliegende Farben bevorzugt. Sollte<br />
er jedoch mit jeder Farbe ruhiger sehen, so ist meist Neutral-Grau die individuell<br />
richtige „Farbe“ für ihn.<br />
Im zweiten Schritt werden nur noch die mit „Plus“ gekennzeich<strong>net</strong>en Farben berück-<br />
sichtigt und entsprechend dem äußeren Kreis jeweils mit einer anderen Folie<br />
kombiniert, also übereinander auf den Text gelegt. Die Frage lautet wieder, welche<br />
Hälfte besser zu erkennen ist, und die Antworten werden wieder, wie oben beschrie-<br />
ben, auf dem Testbogen notiert.<br />
In einem dritten Schritt werden alle Folien bzw. alle Kombinationen, die mit einem<br />
„Plus“ gekennzeich<strong>net</strong> sind, miteinander verglichen. Dazu werden sie nacheinander<br />
Kante an Kante auf den Text gelegt, so daß nun direkt Farbe mit Farbe verglichen<br />
werden kann. Die jeweils bessere Farbe bzw. Kombination bleibt liegen und wird mit<br />
der nächsten verglichen. Zum Schluß kann nur eine Farbe oder eine Kombination des<br />
äußeren Testbogen-Kreises übrig bleiben. Sollte die Entscheidung zwischen einfacher<br />
und doppelter Farbintensität (Kombination von zwei gleichfarbigen Folien) schwer<br />
fallen, kann außerdem die Kombination zwischen der Farbe und Neutral-Grau getestet<br />
werden.
Die Irlen-Methode 64<br />
Die gesamte Testung mit den farbigen Overlays dauert ca. 10 Minuten. Eine Nach-<br />
kontrolle erfolgt nach vier bis sechs Wochen. Sollte die Lesefolie dann immer noch<br />
benutzt werden, kann davon ausgegangen werden, daß die Person auf die Farbkor-<br />
rektion anspricht und daß durch die Anpassung farbiger Brillengläser ein dauerhafter<br />
Korrektionserfolg erwartet werden kann. Die passende Brillenglasfarbe wird mit Hilfe<br />
des Colorimeters (vgl. Kapitel 6.3) ermittelt.<br />
Abschließend ein paar Bemerkungen zu den verwendeten Overlays: Sie weisen eine<br />
gleichmäßige Transmissionskurve auf, d.h. ihre Farbe ist unabhängig von den<br />
Beleuchtungsverhältnissen immer konstant. Üblicherweise werden sie im Format A4<br />
oder A5 verwendet. Beim Lesen müssen sie möglichst eben auf der Textunterlage<br />
liegen, um Unschärfe zu verhindern. Zur Reflexionsminderung sind die Oberflächen<br />
der Lesefolien mattiert, was sich außerdem zusätzlich positiv auf die Textwahr-<br />
nehmung auswirkt. Darüber hinaus sind zur Verringerung des Verletzungsrisikos die<br />
Ecken abgerundet.<br />
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• augenärztliche Abklärung<br />
• optometrische Versorgung (refraktive<br />
und binokulare Korrektion)<br />
• asthenopische Beschwerden<br />
• Leseprobleme<br />
• Meares-Irlen-Syndrom<br />
4 bis 6 Wochen regelmäßig und<br />
mit Besserung der<br />
Leseprobleme benutzt<br />
individuell das Overlay ermitteln<br />
Testung mit Colorimeter<br />
und Verordnung von<br />
farbigen Brillengläsern<br />
keine Beschwerden<br />
Unregelmäßig benutzt,<br />
wenig Verbesserung<br />
Ende<br />
Ende<br />
Abbildung 17: Schema der optometrischen Routine zur Farbkorrektion<br />
(Schroth 1995a, S. 15)
Die Irlen-Methode 65<br />
6.3 Die Colorimeter-Methode<br />
Die Colorimeter-Methode wurde von Arnold WILKINS auf Grundlage der Irlen-Methode<br />
ausgear<strong>bei</strong>tet. Zunächst war es sein Ziel, die Entdeckungen von IRLEN unter wieder-<br />
holbaren Versuchsbedingungen zu überprüfen. Zu diesem Zweck entwickelte er das<br />
Colorimeter 37 weiter. Da<strong>bei</strong> handelt es sich um ein Meßgerät, mit dem <strong>bei</strong> gleichblei-<br />
bender Helligkeitsempfindung sowohl der Farbton als auch die Farbsättigung stufenlos<br />
und unabhängig voneinander verändert werden kann. Jede Kombination aus Farbton<br />
und Sättigung kann zahlenmäßig beschrieben werden und ist exakt reproduzierbar. Im<br />
Laufe seiner Studien 38 stellte sich heraus, daß mit dem Colorimeter ein sehr wirksames<br />
und wenig zeitaufwendiges Verfahren zur Bestimmung von Farbfiltern entwickelt<br />
worden war (vgl. SCHROTH 1995a, S. 11f).<br />
Ein Vorteil des Colorimeters gegenüber der Irlen-Methode ist, daß nur etwa 20 Minuten<br />
für die Ermittlung der individuell richtigen Farbe und die Ergebnisüberprüfung mittels<br />
Probiergläser veranschlagt werden müssen. Zudem ist die Bandbreite verschieden-<br />
farbiger Gläser größer. Insgesamt kann aus 6.727 technisch realisierbaren Farbstufen<br />
ausgewählt werden.<br />
Nachteil der farbigen Gläser ist zum einen ihr relativ hoher Preis, da das Herstellungs-<br />
verfahren sehr aufwendig ist. Derzeit ist auch nur ein Hersteller aus England in der<br />
Lage, entsprechende Brillengläser anzufertigen. Zum anderen können sie die Er-<br />
kennbarkeit von Signalfarben einschränken, d.h. sie können sich negativ auf die<br />
Verkehrstauglichkeit ihres Trägers auswirken.<br />
Eine neuerliche Überprüfung bzw. eine Nachkontrolle kann <strong>bei</strong> einer Veränderung von<br />
Fehlsichtigkeiten notwendig sein. Zumindest ist sie zu empfehlen, so lange keine<br />
gesicherten Langzeituntersuchungen zum Zusammenhang von Farb- und refraktiver<br />
Korrektion vorliegen (vgl. SCHROTH 1995a, S. 15).<br />
Auf die Darstellung des Aufbaus und die Funktionsweise des Colorimeters 39 soll an<br />
dieser Stelle jedoch verzichtet werden, da sie zum einen für das Verständnis der noch<br />
folgenden Ausführungen zur Korrektion von Leseschwierigkeiten durch Farbfilter<br />
belanglos ist. Zum anderen entbehrt sie jeglicher Relevanz für die pädagogische<br />
Praxis, da die Methode nur von an dem Gerät ausgebildeten Fachleuten durchgeführt<br />
werden kann.<br />
37<br />
Das Colorimeter wurde bereits 1952 unter der Bezeichnung „Burnham Colorimeter“ erstmalig<br />
beschrieben (vgl. SCHROTH 1995a, S. 11).<br />
38<br />
Die Ergebnisse aus der Studie von Wilkins werden in Kapitel 8 aufgegriffen.<br />
39 Ein kurze und gut verständliche Darstellung ist <strong>bei</strong> SCHROTH (1995a, S. 11f) zu finden.<br />
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Die Irlen-Methode 66<br />
6.4 Die Rolle der Eltern<br />
Im Gegensatz zu anderen Methoden legt Frau IRLEN sehr viel Wert darauf, daß die<br />
Eltern während der ganz Sitzung anwesend sind. Ihrer Meinung nach gibt es eine<br />
Reihe guter Gründe, weshalb ein oder besser <strong>bei</strong>de Elternteile am Screening teil-<br />
nehmen sollten (vgl. IRLEN 1997, S. 176f).<br />
Erstens kann es für die Eltern sehr informativ sein. Da Erfahrungen vermuten lassen,<br />
daß das Meares-Irlen-Syndrom eventuell vererbbar 40 ist, können weitere Personen in<br />
der Familie davon betroffenen sein. Wenn die Eltern nun während des Screenings<br />
mehr über die Symptome erfahren und sich der Art der gestellten Fragen bewußt wer-<br />
den, können sie vielleicht Anzeichen für das Vorhandensein des Syndroms auch <strong>bei</strong><br />
anderen Familienmitgliedern eher erkennen und entsprechende Fachleute empfehlen.<br />
Zweitens lassen die Screener 41 die Eltern meist einige Aufgaben aus dem zweiten Teil<br />
selber ausprobieren. Erfahrungen zeigen, daß es nicht ungewöhnlich ist, auch <strong>bei</strong> min-<br />
destens einem Elternteil Anzeichen für das Meares-Irlen-Syndrom zu finden. In solchen<br />
Fällen erkennen die Eltern oft zum erstenmal, wie eine geschriebene Seite wirklich<br />
aussieht, wie sie ohne Schwierigkeiten gelesen werden kann. Dadurch daß sie selbst<br />
den Unterschied erfahren, können sie sich von der Wirksamkeit der Methode<br />
überzeugen. Sie merken vielleicht, daß auch ihnen die Lesefolien helfen könnten.<br />
Außerdem bekommen die Eltern ein besseres Verständnis von den Schwierigkeiten<br />
ihres Kindes und schenken seinen Aussagen mehr Glauben, wenn sie Zeuge des<br />
Behandlungsprozesses sind.<br />
Darüber hinaus fühlen sich die Kinder sicherer, unterstützt und sogar ermutigt, wenn<br />
auch die Eltern versuchen, einige Aufgaben zu lösen. Zeigen die Eltern da<strong>bei</strong> ähnliche<br />
Schwierigkeiten, fühlt sich das Kind erfahrungsgemäß nicht mehr allein als Opfer.<br />
Vielmehr haben Eltern und Kind jetzt etwas Gemeinsames und können sich darüber<br />
verständigen. Weil das Kind zudem merkt, daß es gar nicht so anders ist, kann es die<br />
Situation leichter ertragen.<br />
Zu guter Letzt ist IRLEN davon überzeugt, daß Eltern, die selbst Probleme haben,<br />
besser verstehen, was ihr Kind durchmacht. Das hilft ihnen, ihr Kind zu unterstützen<br />
und zu ermutigen, die farbigen Folien oder auch die farbigen Brillengläser zu benutzen.<br />
40 Die familiäre Häufung des Meares-Irlen-Syndroms haben ROBINSON, FOREMAN und DEAR (1996)<br />
untersucht. Bei den von ihnen untersuchten 751 Kindern mit Meares-Irlen-Syndrom wurden in<br />
84% der Fälle (628 Kinder) <strong>bei</strong> mindestens einem Elternteil ebenfalls Symptome des Meares-<br />
Irlen-Syndroms gefunden.<br />
41 Da für das Diagnoseverfahren der Begriff „Screening“ verwendet wurde, wird der Diagnostiker<br />
(Tester) entsprechend als „Screener“ bezeich<strong>net</strong>.<br />
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Die Irlen-Methode 67<br />
SCHROTH weist aber explizit darauf hin, daß man Eltern in jedem Fall nahebringen<br />
sollte, ihre Kinder nicht zur Nutzung der Lesefolien zu zwingen. Seine Erfahrungen<br />
haben gezeigt, daß die Farbfilter freiwillig benutzt werden, wenn sie wirklich eine<br />
Besserung bringen (vgl. SCHROT 1995a, S. 13).<br />
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Die Wirkungsweise der Irlen-Methode bzw. der Farbfilter 68<br />
7. Die Wirkungsweise der Irlen-Methode bzw. der Farbfilter<br />
In diesem Kapitel soll die Wirkungsweise der Farbfilter und damit auch der Irlen-<br />
Methode erläutert werden. Dazu ist es nötig, zunächst die Rolle der tonischen und der<br />
phasischen Kanäle der visuellen Sensorik <strong>bei</strong>m Lesen näher zu betrachten. Ihr anato-<br />
misches Korrelat finden die <strong>bei</strong>den Kanäle in den parvozellulären und magnozellulären<br />
Neuronenschichten des seitlichen Kniehöckers (Corpus geniculatum laterale) (vgl.<br />
Kapitel 2.2).<br />
7.1 Die Entdeckung der Kanäle der visuellen Sensorik<br />
ENROTH-CUGELL und ROBSON entdeckten 1966 zwei getrennte Klassen von Neuronen<br />
in der Netzhaut der Katze. Auf Grundlage dieser Entdeckung wurden in der Folgezeit<br />
zum einen die physiologischen und anatomischen Eigenschaften der <strong>bei</strong>den neuro-<br />
nalen Bahnen erforscht, die den zwei Klassen der retinalen Neuronen entsprechen.<br />
Zum anderen wurde versucht, Analoges im visuellen System des Menschen zu finden.<br />
CLELAND, DUBIN und LEVICK konnten 1971 die Ergebnisse von ENROTH-CUGELL und<br />
ROBSON bestätigen. Darüber hinaus gelang es ihnen, Aussagen zu den Eigenschaften<br />
der <strong>bei</strong>den Neuronen bzw. neuronalen Bahnen zu machen, die sie „sustained“<br />
(tonisch) und „transient“ (phasisch) nannten (vgl. Kapitel 7.1.1 und 7.1.2).<br />
Bei dem Versuch der Übertragung auf den Menschen zeigte sich das Problem, daß<br />
das visuelle System des Menschen aus anatomischer, physiologischer und psycho-<br />
physiologischer Sicht mit dem der Katze nur schwer zu vergleichen ist. Da jedoch eine<br />
Vergleichbarkeit zum visuellen System des Affen besteht, erschien es angemessen,<br />
dort nach entsprechenden Analogien für die tonischen und phasischen Kanäle zu<br />
suchen. Durch mehrere anatomische und physiologische Untersuchungen konnte<br />
nachgewiesen werden, daß die parvozellulären bzw. magnozellulären Neuronen 42 die<br />
gleichen Eigenschaften aufweisen wie die <strong>bei</strong>den neuronalen Kanäle der Katze. Da<strong>bei</strong><br />
entsprechen die parvozellulären Neuronen dem tonischen und die magnozellulären<br />
dem phasischen System (vgl. BREITMEYER 1992, S. 43ff).<br />
42 Diese sind vergleichbar mit den in Kapitel 2.2 beschriebenen gleichnamigen Neuronenschichten<br />
im seitlichen Kniehöcker <strong>bei</strong>m Menschen.<br />
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Die Wirkungsweise der Irlen-Methode bzw. der Farbfilter 69<br />
7.1.1 Die tonischen Kanäle<br />
Für die tonischen Kanäle wird auch der Begriff „sustained“ verwendet, der mit „stabili-<br />
sierend“ übersetzt werden kann. Ihre anatomische Entsprechung finden sie in den<br />
kleinzelligen bzw. parvozellulären Schichten des seitlichen Kniehöckers. Kennzeich-<br />
nend für diesen Kanal sind folgende Eigenschaften (vgl. BREITMEYER 1992, S. 44):<br />
– linear räumliche Lichtsummation im rezeptiven Feld,<br />
– tonische Reaktion auf gleichbleibenden Kontrast,<br />
– kleine und langsam leitende Fasern,<br />
– Bevorzugung von Reizen mit hoher Ortsfrequenz und langsamer Bewegung.<br />
7.1.2 Die phasischen Kanäle<br />
Das anatomische Korrelat der phasischen Kanäle sind die großzelligen, magnozellu-<br />
lären Schichten des seitlichen Kniehöckers. Der für „pahsisch“ synonym gebrauchte<br />
Begriff „transient“ bedeutet so viel wie „aufhebend“. Dieser Kanal ist charakterisiert<br />
durch:<br />
– das Nicht-Auftreten der linearen Lichtsummation sowie der tonischen Antwort auf<br />
gleichbleibenden Kontrast,<br />
– phasische Reaktion <strong>bei</strong> Anfang und Ende einer Reizdarbietung,<br />
– große und schnell leitende Fasern,<br />
– Bevorzugung von Reizen mit niedriger Ortsfrequenz und rascher Bewegung.<br />
7.2 Die Aufgabe der tonischen und phasischen Kanäle <strong>bei</strong>m Lesen<br />
Beim Lesen beruht das visuelle Verhalten auf sogenannten Fixations-Sakkadenreihen.<br />
D.h. ein Text wird <strong>bei</strong>m Lesen nicht Buchstabe für Buchstabe abgetastet, sondern in<br />
kleinen Blicksprüngen, sogenannten Sakkaden. Die Größe der Blicksprünge ist von der<br />
Leseerfahrung abhängig. Sie können z.B. von einem Wort zum nächsten führen. Im<br />
Idealfall überlagern sich die <strong>bei</strong>den Bildeindrücke vor und nach einem Blicksprung<br />
nicht. Für einen störungsfreien Abtastvorgang müssen daher zwei Prozesse permanent<br />
und zeitlich genau aufeinander abgestimmt ablaufen:<br />
a) Nach jedem Blicksprung, während der Fixation muß die Augenstellung solange sta-<br />
bil bleiben, bis das Wortbild erkannt ist. In dieser Phase ist der tonische Kanal aktiv.<br />
b) Während einer Sakkade, also zwischen zwei Fixationen muß die Weiterleitung von<br />
visuellen Informationen kurz unterbrochen werden, um die Überlagerung von<br />
Seheindrücken zu verhindern. Hierfür zeich<strong>net</strong> sich der phasische Kanal verant-<br />
wortlich.<br />
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Die Wirkungsweise der Irlen-Methode bzw. der Farbfilter 70<br />
Für eine effektive Aufnahme von visuellen Informationen <strong>bei</strong>m Lesen ist also ein<br />
zeitlich genau aufeinander abgestimmtes Zusammenspiel der <strong>bei</strong>den Kanäle wichtig.<br />
Dieses soll mit Hilfe der Abbildung 18 (a-d) veranschaulicht werden.<br />
a<br />
b<br />
c<br />
d<br />
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Fixation<br />
Sakkade<br />
tonische<br />
Bahnen<br />
(sustained)<br />
phasische<br />
Kanäle<br />
(transient)<br />
Resultat<br />
Abbildung 18: Modell der Ar<strong>bei</strong>tsweise der tonischen und phasischen Kanäle<br />
<strong>bei</strong>m Lesen (vgl. BREITMEYER 1992, S. 48)<br />
Beim Abtasten eine Textes wechseln sich Fixationen und Sakkaden ab 43 (a). Nach<br />
jeder Sakkade setzt die Aktivität der tonischen Kanäle erst mit einer kleinen Ver-<br />
zögerung ein. Diese Kanäle sind für die Stabilität des Seheindruckes verantwortlich.<br />
Aufgrund der Tatsache, daß sie vor allem auf feine Details, auf Farbe und auf feine<br />
Anforderungen an das räumliche Sehen reagieren, sind sie für die Verar<strong>bei</strong>tung des<br />
Musterinhaltes verantwortlich, also sozusagen für die Übermittlung von Zeichen (Buch-<br />
staben) an das Gehirn. Leider fällt die Aktivität dieser Kanäle nach Ende einer Fixation<br />
nur sehr langsam ab, was dazu führt, daß die tonische Aktivität eines früheren<br />
Fixationsintervalls in die folgende Fixation hinein reicht. Gäbe es also nur tonische<br />
Kanäle käme es zu der in Teil (b) der Abbildung 18 dargestellten Überschneidung von<br />
43 Bei erfahrenen Lesern beträgt die Dauer einer Fixation 200 bis 250ms. Die nachfolgende<br />
Sakkade hat eine Größe von zwei Winkelgrad, was ungefähr 6 bis 8 Zeichen (Buchstaben) entspricht,<br />
und dauert ca. 25ms (vgl. LOVEGROVE 1993, S. 36f).
Die Wirkungsweise der Irlen-Methode bzw. der Farbfilter 71<br />
Informationen. Damit diese Überlagerungen verhindert werden, setzt sofort nach jeder<br />
Sakkade die Aktivität der phasischen Kanäle ein (c). Diese Kanäle reagieren bevorzugt<br />
auf schnelle Bildverschiebungen im Auge, z.B. durch eine Sakkade. Zudem wirken sie<br />
hemmend auf die tonischen Kanäle, d.h. durch ihre Aktivierung wird der Informations-<br />
fluß in den tonischen Kanälen unterbrochen und gelöscht. Das Resultat eines genauen<br />
Zusammenspiels dieser <strong>bei</strong>den Kanäle ist also eine Reihe von zeitlich getrennten<br />
Einzelbildern tonischer Aktivität (d). Da<strong>bei</strong> enthält jedes Einzelbild nur die Muster-<br />
informationen (Buchstaben) der entsprechenden Fixation (vgl. BREITMEYER 1992, S.<br />
46ff; SCHROTH 1997b, S. 11f).<br />
7.3 Ein Defizit der phasischen Kanäle als Ursache von Lesestörungen<br />
Aus den vorangegangenen Überlegungen wird deutlich, daß eine Abnormalität einer<br />
der <strong>bei</strong>den Bahnen die Grundlage für visuelle Störungen <strong>bei</strong>m Lesen sein könnte. Psy-<br />
chophysische Untersuchungen 44 weisen darauf hin, daß <strong>bei</strong> ungefähr 70% aller Fälle<br />
von Lesestörungen ein Defizit der phasischen Kanäle besteht. Diese Untersuchungen,<br />
die unter anderem von LOVGROVE u.a. zusammengefaßt wurden, leisten nicht nur<br />
einen wichtigen empirischen Beitrag, sondern stellen auch frühere und gegenwärtige<br />
Auffassungen in Frage, wie z.B. die von BENTON oder VELLUTINO, die behaupten, daß<br />
Lesestörungen nicht durch visuelle Abnormalitäten entstehen (vgl. BREITMEYER 1992,<br />
S. 48).<br />
Ein Defizit in den phasischen Kanälen kann aus mehreren Gründen für die Entstehung<br />
einer Lesestörung bedeutsam sein. Zuallererst könnte ein solches Defizit zu einer<br />
mangelhaften sakkadischen Suppression 45 führen. In Verbindung mit der obigen<br />
schematischen Darstellung wird die Folge dieser Störung deutlich. Bei aufeinander-<br />
folgenden Fixationen käme es (zumindest teilweise) zu einer zeitlichen Überlagerung<br />
von Einzelbildern der tonischen Aktivität. Für das Lesen läge mit diesem Zustand also<br />
eine offensichtlich visuell begründete Beeinträchtigung vor.<br />
44 In den Untersuchungen wurden verschiedene visuelle Leistungen getestet, die in einem direkten<br />
Zusammenhang mit den phasischen und tonischen Kanälen stehen, wie z.B. die Beurteilung<br />
zeitlicher Reihenfolgen von kurzzeitig dargebotenen visuellen Stimuli oder das Erkennen von<br />
Flimmern und Kontrast (vgl. BREITMEYER 1992, S. 48; SCHROTH 1997a, S. 54).<br />
45 Unter Suppression ist hier Hemmung zu verstehen. Eine Defizit in den phasischen Kanälen<br />
würde also zur Folge haben, daß die in Teil c der Abbildung 18 dargestellte Hemmung, Unterbrechung<br />
bzw. Löschung der tonischen Aktivität nicht mehr regelgerecht funktionieren würde.<br />
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Die Wirkungsweise der Irlen-Methode bzw. der Farbfilter 72<br />
NORMAL VISION NORMAL IS ICONOCLASTIC VISION NORMAL IS ICONOCLASTIC VISION IS ICONOCLASTIC<br />
NORMAL VISION NORMAL IS ICONOCLASTIC VISION IS ICONOCLASTIC<br />
NORMAL VISION IS ICONOCLASTIC<br />
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(drei Fixationen)<br />
(zwei Fixationen)<br />
(eine Fixation)<br />
Abbildung 19: Die mögliche Folge einer sakkadischen Suppression, wenn<br />
<strong>bei</strong>m Lesen eines Satzes eine, zwei oder drei Fixationen<br />
nötig sind (LOVEGROVE 1993, S. 38) 46<br />
Eine zweite wichtige Aufgabe der phasischen Kanäle, die in diesem Zusammenhang<br />
erwähnt werden sollte, wurde 1974 von MARTIN beschrieben (vgl. BREITMEYER 1992, S.<br />
49). Demnach sind diese Kanäle nicht nur für die Hemmung bzw. Löschung der<br />
tonischen Aktivität verantwortlich, sondern sollen auch das Wahrnehmen von Bildver-<br />
schmierungen auf der Netzhaut verhindern, die während einer Sakkade auftreten.<br />
Ferner dienen sie dem Erhalt der visuellen Richtungskonstanz, die eine wichtige<br />
Voraussetzung der visuellen Lokalisierung ist, und der visuellen Stabilität trotz dauern-<br />
der Verschiebung der Netzhautbilder <strong>bei</strong>m visuellen Abtasten der Umwelt. Ein Defizit<br />
der phasischen Kanäle könnte demzufolge zu retinalen Bildverschmierungen, zur<br />
Verschlechterung der visuellen Lokalisierung und zur Instabilität der visuellen Umwelt<br />
führen. Diese Symptome konnten 1989 von STEIN, RIDDELL und FOWLER <strong>bei</strong> 60-70%<br />
der von ihnen untersuchten lesegestörten Kinder nachgewiesen werden. Interessan-<br />
terweise entspricht dieser Prozentsatz den Ergebnissen, die von LOVEGROVE u.a.<br />
zusammengefaßt wurden (siehe oben).<br />
Die Vermutung, daß eine Lesestörung durch ein Defizit der phasischen Kanäle<br />
begründet sein könnte, läßt sich durch weitere Untersuchungen untermauern. So<br />
konnten LIVINGSTONE, ROSEN, DRISLANE und GALABURDA in ihrer Studie zeigen, daß<br />
<strong>bei</strong> der Darbietung von sich schnell bewegenden Reizen mit geringem Kontrast, auf<br />
welche die magnozellulären (phasischen) Bahnen bevorzugt reagieren, Lesegestörte<br />
ein geringeres visuell evoziertes Kopfhautpotential haben als „normal“ lesende<br />
Versuchspersonen. Wurden hingegen langsam bewegte Reize mit hohem Kotrast<br />
dargeboten, auf die bevorzugt die parvozellulären (tonischen) Bahnen reagieren,<br />
unterschieden sich die <strong>bei</strong>den Versuchsgruppen nicht. Ferner konnte in der gleichen<br />
Untersuchung aufgrund von Autopsiebefunden nachgewiesen werden, daß die magno-<br />
46 Eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Überlappungseffekt des Meares-Irlen-Syndrom läßt sich nicht<br />
leugnen.
Die Wirkungsweise der Irlen-Methode bzw. der Farbfilter 73<br />
zellulären Schichten <strong>bei</strong> lesegestörten Menschen anatomisch desorganisiert sind und<br />
daß ihr Flächeninhalt kleiner und variabler im Vergleich zu Gehirnen „normaler“<br />
Menschen ist. Ähnliches traf aber nicht für die parvozellulären Schichten zu (vgl.<br />
BREITMEYER 1992, S.49; DUMMER-SMOCH 1995; S. 4ff).<br />
Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß die Ergebnisse der dargestellten<br />
Untersuchungen für ein Defizit der phasischen Kanäle, nicht der tonischen, als mög-<br />
liche Ursache von Lesestörungen sprechen.<br />
7.4 Die Wirkung von Farbe auf die phasischen Kanäle<br />
Zwar deuten die oben dargestellten Untersuchungsergebnisse darauf hin , daß die<br />
Ursache für den Zusammenhang zwischen visuellen Defiziten und Lesestörungen in<br />
einer anatomischen Abnormalität liegt, die nicht direkt behandelt werden kann. Trotz-<br />
dem sind Behandlungsmöglichkeiten denkbar, mit deren Hilfe die Defizite gemindert<br />
werden können. Eine wichtige Rolle da<strong>bei</strong> spielt die Eigenschaft der phasischen<br />
Kanäle, durch diffuse rote Beleuchtung in ihrer Aktivität gehemmt zu werden. In Unter-<br />
suchungen zum Metakontrast von Reizen, die gegen einen farbigen Hintergrund<br />
dargeboten wurden, wurde der Zusammenhang von farbiger Beleuchtung und<br />
Hemmung der phasischen Aktivität näher untersucht (vgl. BREITMEYER 1992, S. 49). Als<br />
Konsequenz aus den Untersuchungen läßt sich folgendes festhalten: Die Aktivität der<br />
phasischen Kanäle wird im Vergleich zu weißem oder zu mittelwelligem grünem Licht<br />
durch langwelliges rotes Licht gehemmt und durch kurzwelliges blaues Licht verstärkt.<br />
Diese Ergebnisse legen nahe, daß eine Behandlung visueller Probleme im Zu-<br />
sammenhang mit Lesestörungen durch farbige Gläser oder Folien möglich ist.<br />
Dementsprechend konnten WILLIAMS, LECLUYSE und FACHEUX zeigen, daß ein roter<br />
Hintergrund im Vergleich zu einem weißen das Lesetempo und auch das Lese-<br />
verständnis <strong>bei</strong> Lesegestörten herabsetzte, während hingegen ein blauer <strong>bei</strong>de<br />
Leistungen erhöhte (vgl. BREITMEYER 1992, S. 51).<br />
7.5 Weiterführende Überlegungen<br />
BREITMEYER (1992) weist darauf hin, daß die Defizite der phasischen, magnozellulären<br />
Kanäle auch auf höherem kortikalen Niveau vorkommen könnten. Beim Menschen<br />
scheint eine wichtige Empfangsstelle dieser Kanäle in der Nähe der posterioren<br />
Sprachzentren zu liegen, die <strong>bei</strong> der Verar<strong>bei</strong>tung von geschriebenem und gedrucktem<br />
Material eine wichtige Rolle spielen. Ferner könnten Verbindungen zu Gebieten beste-<br />
hen, die an der Regulierung der Aufmerksamkeit und der Augenbewegungen beteiligt<br />
sind. Sollte es solche Abnormalitäten auch in kortikalen Gebieten geben, die eine Ver-<br />
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Die Wirkungsweise der Irlen-Methode bzw. der Farbfilter 74<br />
bindung zu den phasischen Kanälen haben, so ist damit zu rechnen, daß Lesegestörte<br />
auch Defizite der Wahrnehmungsfunktionen aufweisen, die von der Aktivität in diesen<br />
Gebieten abhängen. In diesem Zusammenhang ist an die Untersuchungsergebnisse<br />
von BRANNAN und WILLIAMS sowie von FISCHER und WEBER zu denken, die nach-<br />
weisen, daß Lesegestörte in der Gliederung der räumlichen Aufmerksamkeit Unter-<br />
schiede gegenüber Kontrollpersonen aufweisen. STEIN u.a. konnten ferner zeigen, daß<br />
Lesegestörte an einer Aufmerksamkeitsstörung des linken Sehfeldes leiden. ADLER-<br />
GRINBERG und STARK berichten überdies von abnormalen Augenfolgebewegungen <strong>bei</strong><br />
leseschwachen Personen (vgl. BREITMEYER 1992, S. 51).<br />
7.6 Zusammenfassung und Bewertung<br />
Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß <strong>bei</strong>m Lesen zwei visuelle Kanäle<br />
zeitlich exakt zusammenar<strong>bei</strong>ten müssen, damit es zu keinen Überschneidungen von<br />
visuellen Informationen kommt. Ferner wurde gezeigt, daß ein Defizit in den pha-<br />
sischen Kanälen Lesestörungen hervorruft. Aufgrund von psychophysischen und<br />
anatomischen Untersuchungen kann davon ausgegangen werden, daß <strong>bei</strong> einem Teil<br />
von Menschen mit LRS ein Defizit in diesen Kanälen besteht. Die da<strong>bei</strong> gemachten<br />
Überlegungen zu Veränderungen in der subjektiven visuellen Wahrnehmung Betrof-<br />
fener legen den Schluß nahe, daß die Symptome des Meares-Irlen-Syndroms<br />
möglicherweise die Folge einer Störung bzw. eines Defizits in den magnozellulären<br />
Schichten des seitlichen Kniehöckers, also in den phasischen Kanälen sind.<br />
Des weiteren konnte nachgewiesen werden, welche Wirkung ein farbiger Hintergrund<br />
<strong>bei</strong>m Lesen hat. So mindern langwellige Farben (rot) die Aktivität der phasischen<br />
Kanäle, wodurch das Lesetempo und das Leseverständnis herabgesetzt wurden. Bei<br />
kurzwelligen Farben (blau) wurde hingegen die Aktivität der phasischen Kanäle gestei-<br />
gert, was zu einer Steigerung der Leseleistungen führte. Die von IRLEN verwendeten<br />
Farbfolien bzw. farbigen Brillengläser wirken also offensichtlich auf die Aktivität der<br />
phasischen Kanäle. Die Irlen-Methode stellt damit eine mögliche Behandlung für ein<br />
Defizit im Zusammenspiel der tonischen und phasischen Kanäle dar, d.h. sie nimmt<br />
direkt Einfluß auf Teilprozesse der visuellen Sensorik.<br />
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Empirische Studien zur Irlen-Methode 75<br />
8. Empirische Studien zur Irlen-Methode<br />
In diesem Kapitel soll anhand von Ergebnissen einiger ausgewählter empirischer<br />
Studien der Erfolg der Irlen-Methode näher betrachtet werden.<br />
Zunächst ist die Studie von WILKINS (1994) zu nennen, der einen möglichen Placebo-<br />
Effekt von farbigen Brillengläsern überprüfen wollte. An seiner Doppelblind-Studie 47<br />
nahmen anfangs 68 Kinder 48 teil, von denen jedoch 16 die Studie nicht beendeten.<br />
Da<strong>bei</strong> wurden nur Kinder in die Studie aufgenommen, die zuvor über einen Zeitraum<br />
von drei Wochen farbige Folien konsequent und mit Erfolg benutzt hatten. Ferner<br />
wurde durch eine augenärztliche bzw. augenoptische Voruntersuchung sichergestellt,<br />
daß keine Störung des <strong>bei</strong>däugigen Sehens vorlag. Ausgeschlossen wurden auch die<br />
Kinder, <strong>bei</strong> denen die Brillenkorrektion nicht mehr korrekt war oder sich in den letzten<br />
zwei Monaten geändert hatte. Von 45 Kindern lag zudem das Testergebnis eines stan-<br />
dardisierten Lesetests vor, des „Neale Analysis of Reading“ (Revised British Edition) 49 .<br />
Zu Beginn der Studie wurde mit Hilfe des Colorimeters die für jedes Kind individuell<br />
optimale Farbe für die Brillengläser ermittelt (Versuchsgläser). Die Wahl der Kontroll-<br />
gläser (Placebo) erfolgte unter dem Gesichtspunkt, daß die Farbe nur soweit verändert<br />
wurde, daß sie gerade nicht mehr in dem als optimal empfundenen Farbbereich lag,<br />
d.h. sie wichen nur geringfügig von den Versuchsgläsern ab. Den teilnehmenden<br />
Kindern wurde lediglich gesagt, daß zwei Gläserpaare zu vergleichen sind. Sie<br />
bekamen nun per Zufall ein Gläserpaar für einen Zeitraum von einem Monat zum<br />
Testen, wo<strong>bei</strong> sie aber nicht wußten, ob es sich da<strong>bei</strong> um die Versuchs- oder die<br />
Kontrollgläser handelte. In der dritten Woche wurde ihre Leseleistung mit der ersten<br />
Parallelform des genannten Tests überprüft.<br />
Nach dieser ersten Phase der Untersuchung schloß sich eine zweiwöchige Unter-<br />
brechung an, in der die Kinder keine Farbfilter verwendeten. Danach bekamen die<br />
Kinder, wieder für einen Zeitraum von einem Monat, das jeweils andere Paar Gläser.<br />
Auch diesmal wurde während der dritten Woche die Leseleistung überprüft, diesmal<br />
mit der zweiten Form des „Neale Analysis of Reading“.<br />
Während der gesamten Untersuchung hatten die Kinder den Auftrag, ein Tagebuch zu<br />
führen, in das sie eintrugen, wann sie die farbigen Brillengläser trugen und an welchen<br />
47 Es wird hier von einer Doppelblind-Studie gesprochen, da weder die Probanden (Kinder) selbst<br />
noch die Untersucher/Tester wußten, ob das Kind gerade die individuell passenden farbigen<br />
Brillengläser trug oder ob es sich da<strong>bei</strong> um „Placebo-Gläser“ handelte.<br />
48 Es nahmen 42 Jungen und 26 Mädchen teil, die zwischen 9;9 Jahren und 15;5 Jahren (durch-<br />
schnittlich 12;2 Jahren) alt waren.<br />
49 Dieser Test enthält zwei Parallelformen.<br />
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Empirische Studien zur Irlen-Methode 76<br />
Tagen sie Sehprobleme bzw. asthenope Beschwerden hatten. Von den 52 am Ende<br />
der Studie noch teilnehmenden Kinder hatten 36 ihre Aufzeichnungen komplett geführt.<br />
Die Auswertung ergab einen signifikanten Unterschied <strong>bei</strong> sieben Kindern. Bei allen<br />
sieben führte das Tragen der Versuchsgläser zu einer signifikanten Reduzierung der<br />
Sehprobleme und asthenopen Beschwerden.<br />
Am Ende der Untersuchung haben insgesamt 48 Kinder angegeben, daß sie eine oder<br />
<strong>bei</strong>de farbigen Gläserpaare als hilfreich empfunden haben. Wo<strong>bei</strong> 31 das erste Paar<br />
und 17 das zweite bevorzugten. Beim Vergleich der Kontrollgläser mit den Versuchs-<br />
gläsern ist interessant, daß 26 Kinder die Kontrollgläser bevorzugten.<br />
Bei der Auswertung des Lesetests waren bessere Testergebnisse in Bezug auf Lese-<br />
geschwindigkeit, -genauigkeit und -verständnis <strong>bei</strong>m Tragen der Versuchsgläser im<br />
Vergleich zu den Kontrollgläsern feststellbar. Die Unterschiede waren jedoch nicht<br />
signifikant. Beim Vergleich der Testergebnisse, die vor Beginn der Studie ohne<br />
Farbgläser erhoben wurden, mit denen, die mit farbigen Brillengläsern erreicht wurden,<br />
ergab sich ein signifikanter Unterschied <strong>bei</strong> der Lesegenauigkeit.<br />
Zusammenfassend stellt WILKINS fest, daß die farbigen Brillengläser helfen können,<br />
Sehprobleme und asthenope Beschwerden zu reduzieren. Er weist ferner darauf hin,<br />
daß aufgrund seiner Befunde nicht angenommen werden kann, daß die Wirkung der<br />
Farbfilter ausschließlich auf einem Placebo-Effekt basiert. Größere Farbunterschiede<br />
zwischen den Versuchs- und Kontrollgläsern hätten seiner Meinung nach wahrschein-<br />
lich zu eindeutigeren Ergebnissen geführt, die entsprechende Schlußfolgerungen<br />
ermöglicht hätten. Die größere Farbdifferenz wäre aber nicht mit der Methode der<br />
Doppelblind-Studie vereinbar gewesen.<br />
WHITING, ROBINSON und PARROTT (1994) haben die Langzeitwirkung der Irlen-Methode<br />
untersucht. Zu diesem Zweck führten sie eine Befragung von 114 Personen durch.<br />
Diese hatten zum einen an einer früheren Studie von WHITING und ROBINSON aus dem<br />
Jahr 1988 teilgenommen, zum anderen hatten sie die Farbfilter bereits über einen Zeit-<br />
raum von mindestens sechs Jahren benutzt. Ziel der Befragung war in <strong>bei</strong>den Fällen<br />
zu erfahren, in welchen Bereichen die Probanden die Farbfilter als eine Hilfe ansahen<br />
und wie sie die Verbesserung subjektiv bewerteten. Von Interesse waren da<strong>bei</strong> eine<br />
allgemeine Einschätzung und eine differenzierte Bewertung zu den Bereichen Lesen,<br />
Sprechen, Handschrift, visuelle Schwierigkeiten/Anomalien und Selbstvertrauen. Der<br />
lange Zeitraum von sechs Jahren erschien günstig, um mögliche Placebo-Effekte zu<br />
minimieren und gesichertere Ergebnisse zu bekommen. Der Vergleich mit der früheren<br />
Studie sollte Aufschluß darüber geben, ob sich die subjektive Einschätzung der Ver-<br />
besserungen durch die Benutzung der Farbfilter in einigen Bereichen geändert hat.<br />
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Empirische Studien zur Irlen-Methode 77<br />
Insgesamt konnte festgestellt werden, daß 94% der Befragten, die Farbfilter auch nach<br />
sechs Jahren als Hilfe empfunden haben. 66 (58%) waren der Meinung, daß sie im<br />
Ganzen eine deutliche Besserung durch die farbigen Brillengläser verspürten. 41<br />
(36%) sagten, daß ihnen die Farbfilter ein wenig halfen, während sie für 7 (6%) keinen<br />
Nutzen darstellten. Damit wurde das Ergebnis der Studie aus dem Jahre 1988<br />
bestätigt, <strong>bei</strong> der 93% diese als Hilfe empfunden hatten. Die Ergebnisse für die Einzel-<br />
bereiche können den folgenden Tabellen entnommen werden. In Tabelle 3 sind die<br />
Personen zusammengefaßt, die angegeben haben, daß sie eine Verbesserung, egal<br />
wie deutlich diese ist, durch die farbigen Gläser feststellen konnten. Sie enthält also<br />
alle Antworten, die von einigen oder von deutlichen Verbesserungen sprachen. In der<br />
zweiten Gegenüberstellung (vgl. Tabelle 4) wurden nur die Personen berücksichtigt,<br />
die von deutlichen Verbesserungen berichtet haben.<br />
Bereich 1988 1994 Differenz<br />
Gesamteinschätzung 93 % 94 % + 1 %<br />
Lesen<br />
Schwierigkeiten 91 % 90 % - 1 %<br />
Flüssigkeit 91 % 88 % - 3 %<br />
Verständnis 84 % 84 % ± 0 %<br />
Konzentration 85 % 88 % + 3 %<br />
Sprache (Lautsprache) 69 % 71 % + 2 %<br />
Handschrift 58 % 61 % + 3 %<br />
visuelle Schwierigkeiten/Anomalien<br />
Zeilen überspringen/auslassen 82 % 90 % + 8 %<br />
Verzerrungen von Buchstaben und Wörtern 81 % 92 % + 11 %<br />
Überanstrengung der Augen 84 % 78% - 4 %<br />
Müdigkeit (<strong>bei</strong>m Lesen) 56 % 68 % + 12 %<br />
Selbstvertrauen 68 % 77 % + 9 %<br />
Tabelle 3: Personen, die von Verbesserungen durch die Farbfilter berichten<br />
(vgl. WHITING/ROBINSON/PARROTT 1994, S. 16)<br />
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Empirische Studien zur Irlen-Methode 78<br />
Bereich 1988 1994 Differenz<br />
Gesamteinschätzung 57 % 58 % + 1 %<br />
Lesen<br />
Schwierigkeiten 38 % 48 % - 10 %<br />
Flüssigkeit 45 % 43 % - 2 %<br />
Verständnis 40 % 33 % - 7 %<br />
Konzentration 42 % 49 % + 7 %<br />
Sprache (Lautsprache) 35 % 22 % - 15 %<br />
Handschrift 29 % 25 % - 4 %<br />
visuelle Schwierigkeiten/Anomalien<br />
Zeilen überspringen/auslassen 34 % 50 % + 16 %<br />
Verzerrungen von Buchstaben und Wörtern 32 % 59 % + 27 %<br />
Überanstrengung der Augen 44 % 44 % ± 0 %<br />
Müdigkeit (<strong>bei</strong>m Lesen) 25 % 27 % + 2 %<br />
Selbstvertrauen 33 % 35 % + 2 %<br />
Tabelle 4: Personen, die von deutlichen Verbesserungen durch die Farbfilter<br />
berichten (vgl. WHITING/ROBINSON/PARROTT 1994, S. 17)<br />
Die deutlichsten Veränderungen in Tabelle 3 betreffen den Bereich der visuellen<br />
Schwierigkeiten, speziell die Verzerrung von Buchstaben und Wörtern (+ 11 %) und<br />
Müdigkeit <strong>bei</strong>m Lesen (+ 12 %), sowie das Selbstvertrauen (+ 9 %). Die Autoren be-<br />
gründen den Zuwachs mit der Reduzierung visueller Probleme, welche das Erkennen<br />
von Wörtern erleichtert und den Streß/die Anstrengung <strong>bei</strong>m Lesen verringert. Dadurch<br />
entsteht wiederum ein erhöhtes Vertrauen auf einen möglichen Erfolg <strong>bei</strong>m Lesen.<br />
Diese Veränderungen, die Verringerung des Stresses bzw. der Anstrengung und die<br />
Steigerung des Selbstvertrauens, können nicht mit einem Placebo-Effekt erklärt<br />
werden, sondern basieren auf einer tatsächlichen (positiven) Veränderung der visu-<br />
ellen Wahrnehmung.<br />
Die Differenzen <strong>bei</strong> der Anzahl der Personen, die eine deutliche Verbesserung durch<br />
die Farbfilter verspürten (vgl. Tabelle 4), werden von den Autoren auf die Tatsache<br />
zurückgeführt, daß sich die Beurteilungen der Befragten über den langen Zeitraum<br />
verändert hatten. So ist es wahrscheinlich, daß eine Veränderung, die nach kurzer Zeit<br />
(1988) als deutliche Verbesserung beurteilt wird, später (1994) nur noch als eine<br />
geringe angesehen wird, so z.B. im Bereich der Lautsprache (- 15 %). Genauso ist<br />
auch der umgekehrte Mechanismus möglich.<br />
Erst durch die Kombination <strong>bei</strong>der Tabellen zeigt sich, in welchen Bereichen es tat-<br />
sächlich zu einer Veränderung innerhalb der sechs Jahre gekommen war. So sind in<br />
der Tendenz und in der Stärke die Zuwächse im Bereich der visuellen Schwierigkeiten<br />
am deutlichsten. So geben von den Befragten 8 % mehr an, daß sich die Tendenz zum<br />
Überspringen von Zeilen gebessert hat, 11% mehr berichten von weniger Verzer-<br />
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Empirische Studien zur Irlen-Methode 79<br />
rungen der Buchstaben und Wörter <strong>bei</strong>m Lesen und 12 % mehr werden <strong>bei</strong>m Lesen<br />
nicht mehr so schnell müde. Die Tatsache, daß die Verbesserungen im Bereich der<br />
visuellen Wahrnehmungen nach sechs Jahren Erfahrung mit den Farbfiltern am<br />
häufigsten genannt werden, ist signifikant und kann nicht allein durch einen Placebo-<br />
Effekt erklärt werden.<br />
WHITING, ROBINSON und PARROTT weisen abschließend darauf hin, daß die Verbes-<br />
serung der visuellen Wahrnehmung nicht zwangsläufig auch zu einer Verbesserung<br />
der schriftsprachlichen Fähigkeiten führen muß. Da anzunehmen ist, daß die meisten<br />
der Befragten über die Jahre Ausweichstrategien entwickelt bzw. gelernt haben, fehlt<br />
ihnen zum einen die Übung im Lesen und zum anderen müssen diese Strategien erst<br />
abgebaut bzw. abgelegt werden.<br />
ROBINSON und CONWAY (1994) haben in ihrer Studie die Entwicklung der Lesefertigkeit<br />
über einen Zeitraum von vier Monaten beobachtet. Verglichen wurden da<strong>bei</strong> eine<br />
Versuchsgruppe mit 29 Kindern, <strong>bei</strong> denen Symptome des Meares-Irlen-Syndroms<br />
vorlagen, mit einer Kontrollgruppe von 31 Kindern. Von allen Kindern lagen augenärzt-<br />
liche Befunde vor, die nicht älter als ein Jahr waren und die keine Auffälligkeiten<br />
aufwiesen, d.h. auch eine vorhandene Brillenkorrektion war noch passend. Es wurde<br />
ferner darauf geachtet, daß die Gruppen eine Gleichverteilung bezüglich der sozialen<br />
Schicht, des Umfeldes (städtisch oder ländlich) und der Schulform (staatlich oder<br />
privat) aufwiesen und daß es keine nennenswerten Änderungen <strong>bei</strong> den Fördermaß-<br />
nahmen gab, die den Kindern angeboten wurden.<br />
Vor Beginn der Studie wurde mit jedem Kind ein Intelligenztest durchgeführt, der <strong>bei</strong><br />
allen einen durchschnittlichen IQ ergab. Ebenso wurde <strong>bei</strong> allen Kindern das erreichte<br />
Lesealter mit dem „Neale Analysis of Reading Ability“ 50 ermittelt. Das durchschnittliche<br />
Lesealter der Versuchsgruppe betrug 8,8 Jahre mit einer durchschnittlichen Differenz<br />
zum Lebensalter von 1,7 Jahren. In der Kontrollgruppe lag das Lesealter <strong>bei</strong> 9,4<br />
Jahren im Durchschnitt und die Differenz zum Lebensalter betrug durchschnittlich 1,9<br />
Jahre. Die Unterschiede zwischen den <strong>bei</strong>den Gruppen waren nicht signifikant.<br />
50 Dieser Lesetest verfügt über zwei Parallelformen, von denen die erste an dieser Stelle Verwendung<br />
fand. Ferner ermöglicht er eine Umrechnung der erreichten Rohwerte in Lesealter. Das<br />
Lesealter gibt einen Vergleichswert zur Norm an, d.h. erreicht ein getestetes Kind ein Lesealter<br />
von 8 Jahren, dann entspricht seine Leseleistung der eines durchschnittlichen Lesers von 8 Jahren.<br />
Die Angabe des Lesealters erfolgt hier nicht in Jahren und Monaten, sondern in Jahren bzw.<br />
Zehnteljahren.<br />
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Empirische Studien zur Irlen-Methode 80<br />
Die Probanden der Versuchsgruppe bekamen nun farbige Brillengläser angepaßt, die<br />
sie vier Wochen lang tragen sollten. Nach diesen vier Wochen wurde der Lesetest<br />
(zweite Form) wiederholt. Ferner wurden die Fehler analysiert, die von den Kinder <strong>bei</strong>m<br />
lauten Vorlesen gemachten wurden.<br />
Zusammenfassend kann als Ergebnis der Studie festgehalten werden, daß der<br />
Zuwachs der Lesegeschwindigkeit und des Leseverständnisses in der Versuchsgruppe<br />
signifikant höher war als in der Kontrollgruppe. Auch in der Lesegenauigkeit konnte<br />
zwar ein signifikanter Zuwachs in der Versuchsgruppe über den Zeitraum der Studie<br />
festgestellt werden, dieser war jedoch nicht signifikant unterschiedlich zu dem der<br />
Kontrollgruppe. Die Analyse der Fehler <strong>bei</strong>m lauten Vorlesen ergab eine signifikante<br />
Abnahme in der Anzahl der Pausen, <strong>bei</strong> der Ablehnung ein Wort zu lesen sowie <strong>bei</strong><br />
Graphemersetzungen und semantischen Ersetzungen (Substitutionen). Im Vergleich<br />
der <strong>bei</strong>den Gruppen war allerdings nur die Abnahme der Pausenzahl in der Versuchs-<br />
gruppe signifikant höher.<br />
Eine weitere Wichtige Studie stammt von ROBINSON und FOREMAN (Druck in Vorberei-<br />
tung) 51 . Ziel dieser Untersuchung war zum einen die Überprüfung eines möglichen<br />
Placebo-Effekts und zum anderen sollte die Entwicklung der Lesefertigkeiten in einem<br />
Zeitraum von 18 bis 20 Monaten beurteilt werden. Insgesamt nahmen 113 Ver-<br />
suchspersonen (Kinder mit Meares-Irlen-Syndrom) und 35 Kontrollpersonen (Kinder<br />
ohne Meares-Irlen-Syndrom) zu Beginn der Studie teil. Diese Anzahl verringerte sich<br />
aufgrund des Umzuges einiger Kinder im Laufe der Studie auf 88 in der Versuchs-<br />
gruppe und auf 28 in der Kontrollgruppe.<br />
Die Versuchsgruppe wurde noch einmal in drei Untergruppen geteilt. Die Versuchs-<br />
gruppe 1 erhielt in den ersten drei bis vier Monaten der Studie (erste Phase) ein<br />
Placebo, ähnlich wie <strong>bei</strong> der oben dargestellten Studie von WILKINS. Also die Grund-<br />
farbe ihrer Brillengläser entsprach zwar der als optimal getesteten Farbe, sie wich von<br />
dieser aber leicht ab, und zwar gerade soviel, daß sie nicht mehr in dem als optimal<br />
beschriebenen Bereich lag. Die Versuchsgruppe 2 bekam in der ersten Phase blaue<br />
Farbfilter. Grund dafür waren die theoretischen Überlegungen, daß die Farbe blau die<br />
Aktivität der phasischen Kanäle verstärkt und daher generell zu einer Verbesserung<br />
führen müßte (vgl. Kapitel 7). Die Versuchsgruppe 3 erhielt von Anfang an die als<br />
optimal getestete Farbe. Die Zusammensetzung der einzelnen Gruppen kann der<br />
Tabelle 5 entnommen werden.<br />
51 Ein Vorabexemplar wurde mir dankenswerter Weise von Herrn ROBINSON zur Verfügung gestellt.<br />
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Empirische Studien zur Irlen-Methode 81<br />
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durchschnittl.<br />
Lebensalter<br />
durchschnittl.<br />
Lesealter<br />
Jungen Mädchen<br />
Versuchsgruppe 1<br />
(Placebo)<br />
22 12 10,5 8,6<br />
Versuchsgruppe 2<br />
(blaue Gläser)<br />
24 17 10,6 8,8<br />
Versuchsgruppe 3<br />
(optimale Farbe)<br />
21 17 10,2 8,4<br />
Kontrollgruppe 19 15 10,1 7,9<br />
Tabelle 5: Zusammensetzung der Gruppen<br />
(vgl. ROBINSON/FOREMAN; Druck in Vorbereitung)<br />
Von allen Kinder lag ein augenärztlicher Befund vor, der nicht älter als zwölf Monate<br />
war und der keine Auffälligkeiten aufwies, d.h. auch die Brillenkorrektion bzw. Brillen-<br />
stärke hatte sich in diesem Zeitraum nicht geändert. Auf eine Gleichverteilung bezüg-<br />
lich der Schichtzugehörigkeit und des schulischen Umfeldes (ländlich oder städtisch)<br />
wurde geachtet. Alle an der Studie teilnehmenden Kinder wurden von ihren Lehrern als<br />
durchschnittlich intelligent bezeich<strong>net</strong>. Ferner wurde die Lesefertigkeit aller Kinder mit<br />
dem „Neale Analysis of Reading Ability“, Form 1 getestet und das entsprechende<br />
Lesealter ermittelt (die Durchschnittswerte des Lesealters sind für alle Gruppen in<br />
Tabelle 5 wiedergegeben).<br />
Allen Kindern aus den Versuchsgruppen wurde vor Beginn der Studie nur mitgeteilt,<br />
daß sie an einer Langzeitstudie zum Effekt von farbigen Filtern teilnehmen und daß<br />
von der zu jeder Phase der Studie verord<strong>net</strong>en Farbe erwartet wird, daß sie das Lesen<br />
erleichtert. Um den möglichen Placebo-Effekt zu überprüfen, wurden die Tester 52 nicht<br />
über den jeweiligen Stand bzw. die jeweilige Phase der Studie informiert. Sie wußten<br />
auch nicht zu welcher Gruppe das gerade von ihnen getestete Kind gehört.<br />
Der Verlaufsplan (vgl. Tabelle 6) der Studie sah vor, daß nach der ersten Phase eine<br />
Wiederholung der Tests zur Lesefertigkeit erfolgte, verwendet wurde da<strong>bei</strong> der „Neale<br />
Analysis of Reading Abilitiy“, Form 2. Mit Beginn der anschließenden zweiten Phasen<br />
bekamen die Kinder der Versuchsgruppe 1 (Placebo) und der Versuchsgruppe 2<br />
(blauer Filter) die vorher als optimal getesteten Farben. Ein längeres Tragen von nicht<br />
ganz „passenden“ farbigen Brillengläsern wollten die Autoren den Kindern aus<br />
ethischen Gründen nicht zumuten. Eine weitere Testung erfolgte 7 bis 8 Monate nach<br />
Studienbeginn, diesmal wieder mit der Form 1 des genannten Lesetests. Die abschlie-<br />
ßende Überprüfung erfolgte nach weiteren 11 bis 12 Monaten, also 18 bis 20 Monate<br />
nach Beginn der Studie.<br />
52 Unter Tester sind in diesem Fall die Personen zu verstehen, die mit den Kindern den Test zur<br />
Lesefertigkeit durchführten.
Empirische Studien zur Irlen-Methode 82<br />
Versuchsgruppe 1 Versuchsgruppe 2 Versuchsgruppe 3 Kontrollgruppe<br />
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Vor Beginn der Studie: „Neale Analysis of Reading Ability“, Form 1<br />
Placebo<br />
für 3-4 Monate<br />
blaue Farbfilter<br />
für 3-4 Monate<br />
optimale Farbfilter<br />
für 3-4 Monate<br />
keine Farbfilter<br />
für 3-4 Monate<br />
3-4 Monate nach Studienbeginn: „Neale Analysis of Reading Ability“, Form 2<br />
optimale Farbfilter<br />
für 3-4 Monate<br />
optimale Farbfilter<br />
für 3-4 Monate<br />
optimale Farbfilter<br />
für 3-4 Monate<br />
keine Farbfilter<br />
für 3-4 Monate<br />
7-8 Monate nach Studienbeginn: „Neale Analysis of Reading Ability“, Form 1<br />
optimale Farbfilter<br />
für 11-12 Monate<br />
optimale Farbfilter<br />
für 11-12 Monate<br />
optimale Farbfilter<br />
für 11-12 Monate<br />
keine Farbfilter<br />
für 11-12 Monate<br />
18-20 Monate nach Studienbeginn: „Neale Analysis of Reading Ability“, Form 2<br />
Tabelle 6: Verlaufsplan der Studie (vgl. ROBINSON/FOREMAN; Druck in Vorbereitung)<br />
Bei der Auswertung der Testergebnisse zur Lesegeschwindigkeit zeigt sich kein signifi-<br />
kanter Effekt für die Versuchsgruppen über den gesamten Untersuchungszeitraum. Ein<br />
signifikanter Unterschied in der Entwicklung der Lesegeschwindigkeit kann lediglich<br />
zwischen der Versuchsgruppe 1 (Placebo) und der Kontrollgruppe für die letzte Phase<br />
der Studie (achter bis zwanzigster Monat) festgestellt werden. Der Zuwachs der Lese-<br />
geschwindigkeit in den Versuchsgruppen 1 und 2 zum Zeitpunkt des Wechsels zur<br />
optimalen Farbe (vierter Monat) ist nur für die Placebo-Gruppe signifikant. Die<br />
Entwicklung der Lesegeschwindigkeit während der Studie ist für alle vier Gruppen in<br />
Abbildung 20 veranschaulicht.<br />
Lesealter<br />
11<br />
10<br />
9<br />
8<br />
7<br />
0 4 8 12 16 20 Monate<br />
Versuchsg. 1<br />
(Placebo)<br />
Versuchsg. 2<br />
(blauer Filter)<br />
Versuchsg. 3<br />
(optimale Farbe)<br />
Kontrollg.<br />
Abbildung 20: Die Entwicklung der Lesegeschwindigkeit über den Zeitraum der<br />
Studie (vgl. ROBINSON/FOREMAN; Druck in Vorbereitung)
Empirische Studien zur Irlen-Methode 83<br />
In der Lesegenauigkeit kann für alle Gruppen ein signifikanter Zuwachs über den<br />
gesamten Untersuchungszeitraum festgestellt werden. Er beträgt in den Versuchs-<br />
gruppen ungefähr zwei Jahre im Lesealter und für die Kontrollgruppe ziemlich genau 1<br />
Jahr. Zwar ist damit auch der Zuwachs in der Kontrollgruppe signifikant, in den<br />
Versuchsgruppen ist er aber deutlich höher. Zum Zeitpunkt des Wechsels der Farbe ist<br />
für die Placebo-Gruppe und die „blaue“ Gruppe eine verstärkte Zunahme der Lese-<br />
genauigkeit erkennbar, diese ist aber nicht signifikant.<br />
Lesealter<br />
11<br />
10<br />
9<br />
8<br />
7<br />
0 4 8 12 16 20 Monate<br />
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Versuchsg. 1<br />
(Placebo)<br />
Versuchsg. 2<br />
(blauer Filter)<br />
Versuchsg. 3<br />
(optimale Farbe)<br />
Kontrollg.<br />
Abbildung 21: Die Entwicklung der Lesegenauigkeit über den Zeitraum der Studie<br />
(vgl. ROBINSON/FOREMAN; Druck in Vorbereitung)<br />
Als dritter Bereich der Lesefertigkeit wird das Leseverständnis genauer betrachtet (vgl.<br />
Abbildung 22). In diesem Teilbereich zeigt sich ebenfalls eine signifikante Zunahme<br />
über den gesamten Beobachtungszeitraum, in den Versuchsgruppen von ca. drei<br />
Jahren und in der Kontrollgruppe wiederum von einem Jahr. Damit ist der Zuwachs im<br />
Leseverständnis der Versuchsgruppen nicht nur deutlich, sondern auch signifikant<br />
größer. Der verstärkte Zuwachs für die Versuchsgruppen 1 und 2 zum Zeitpunkt des<br />
Farbwechsels ist ebenfalls signifikant größer als <strong>bei</strong> der Kontrollgruppe.
Empirische Studien zur Irlen-Methode 84<br />
Leseverständnis<br />
13<br />
12<br />
11<br />
10<br />
9<br />
8<br />
7<br />
0 4 8 12 16 20 Monate<br />
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Versuchsg. 1<br />
(Placebo)<br />
Versuchsg. 2<br />
(blauer Filter)<br />
Versuchsg. 3<br />
(optimale Farbe)<br />
Kontrollg.<br />
Abbildung 22: Die Entwicklung des Leseverständnisses über den Zeitraum der Studie<br />
(vgl. ROBINSON/FOREMAN; Druck in Vorbereitung)<br />
Sicherlich ließen sich an dieser Stelle zahlreiche weitere empirische Studien darstellen,<br />
die den Erfolg der Irlen-Methode untersucht haben. ROBINSON und FOREMAN (Druck in<br />
Vorbereitung) haben die Untersuchungen zusammengefaßt, die sich mit den Auswir-<br />
kungen der Irlen-Methode auf das Lesen befaßt haben. Demnach haben sich bis heute<br />
48 englischsprachige Studien (ihre eigene nicht mitgerech<strong>net</strong>) der Erforschung dieses<br />
Zusammenhangs gewidmet. Positive Effekte auf die Lesefertigkeit durch die Be-<br />
nutzung von Farbfiltern, egal ob farbige Lesefolien oder Brillengläser, konnten von 42<br />
dieser Studien (87,5 %) aufgezeigt werden, nicht selten sogar mit signifikanten<br />
Zuwächsen in einigen Teilaspekten des Lesens, wie z.B. Lesegeschwindigkeit oder<br />
Leseverständnis. Eine der Studien, die nicht zu positiven Ergebnissen gekommen ist,<br />
wird aufgrund methodischer Mängel kritisiert, so sei <strong>bei</strong> ihr das Screening auf<br />
Symptome des Meares-Irlen-Syndroms nicht durchgeführt worden.<br />
Ferner haben einige Studien gezeigt, daß sich Sehprobleme und asthenope<br />
Beschwerden durch die Farbfilter verringern. Ebenfalls nicht zu vergessen sind die<br />
positiven Bewertungen durch die Benutzer der Farbfilter selbst. In Studien, die diesem<br />
Aspekt Rechnung getragen haben, zeigte sich, daß 82% bis 93% der Befragten<br />
positive Veränderungen durch die Farbfilter wahrgenommen haben. Dadurch daß<br />
unterschiedlich lange Zeiträume in die Untersuchungen eingingen 53 , ist anzunehmen,<br />
daß die subjektiv erlebten Verbesserungen durch die Nutzung der farbigen Brillen-<br />
gläser auch über längere Zeit vorhanden sind. Diese Ergebnisse sprechen zunächst<br />
53 Betrachtet wurden Zeiträume von einem Monat bis sechs Jahren, in denen die Farbfilter benutzt<br />
wurden.
Empirische Studien zur Irlen-Methode 85<br />
auch gegen einen möglichen Placebo-Effekt der Irlen-Methode. Einschränkend muß<br />
aber gesagt werden, daß dieser bis heute noch nicht ausreichend erforscht ist. So<br />
erwähnen ROBINSON und FOREMAN nur zwei Studien, die sich diesem möglichen<br />
Placebo-Effekt explizit angenommen haben.<br />
Einige wenige Studien haben sich bereits mit den Auswirkungen der farbigen Gläser<br />
auf Teilprozesse der visuellen Sensorik beschäftigt, wie auf die Akkommodation oder<br />
auf die Augenbewegungen. Zwar zeigen diese ebenfalls positive Ergebnisse, aufgrund<br />
der geringen Anzahl können diese aber noch nicht als gesichert gelten, was weitere<br />
Untersuchungen nötig macht.<br />
Kritisch angemerkt werden muß, daß derzeit noch keine Untersuchungen vorliegen,<br />
welche Rolle das soziale Umfeld <strong>bei</strong>m Tragen von Farbfiltern spielt. Es ist also z.B.<br />
offen, in welchen Zusammenhängen und wie das soziale Umfeld positiv oder bestär-<br />
kend auf die farbigen Brillengläser reagiert. Aus vereinzelten Rückmeldungen während<br />
einer Studie läßt sich vermuten, daß z.B. Einflüsse der Peer-Group dazu führen<br />
können, daß die farbigen Filter zwar zu Hause aber nicht in der Schule verwendet<br />
werden. In diesem Zusammenhang wäre interessant, ob sich in solchen Fällen<br />
ebenfalls positive Effekte einstellen. Ferner sollte überlegt werden, was sich an der<br />
schulischen Situation ändern müßte, damit diese Kinder die Farbfilter auch dort<br />
benutzen. Denn daß sie einen subjektiven Nutzen in ihnen sehen, wird aus der<br />
Tatsache deutlich, daß sie diese zu Hause verwenden.<br />
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Abschließende Diskussion 86<br />
9. Abschließende Diskussion<br />
Abschließend sollen in diesem Kapitel die vorangegangen Überlegungen zusammen-<br />
fassend diskutiert werden, wo<strong>bei</strong> verschiedene Aspekte beachtet werden. So erscheint<br />
eine Einordnung in die bestehende Diskussion um die Verursachung der Lese-<br />
Rechtschreibschwäche genauso bedeutsam, wie mögliche Konsequenzen für den<br />
pädagogischen Alltag. Nicht zuletzt soll ein Ausblick auf denkbare weiterführende<br />
Forschungsprojekte versucht werden.<br />
Es wurde gezeigt, daß Sehprobleme einen Einfluß auf das Lesen und auf andere<br />
Bereiche des schulischen Lernens haben können. Da<strong>bei</strong> sind es nicht immer die<br />
eigentlichen Sehstörungen, z.B. eine Hyperopie (Übersichtigkeit), die Probleme verur-<br />
sachen. Vielmehr machen die Anstrengungsprobleme, die sogenannten asthenopen<br />
Beschwerden, den Kindern Schwierigkeiten. Für einige von ihnen stellt die Mehrbe-<br />
lastung durch die zusätzliche Muskelar<strong>bei</strong>t zum Ausgleich der Fehlsichtigkeit ein<br />
enormes Hindernis dar, das ihnen das Vorankommen auf ihrem „Lernweg“ erschwert<br />
oder sogar unmöglich macht.<br />
Im Zusammenhang mit der Diskussion um eine mögliche Verursachung von LRS durch<br />
Sehprobleme wird immer wieder angeführt, daß lese-rechtschreibschwache Kinder<br />
nicht häufiger von Fehlsichtigkeiten betroffen sind als „normal“ lesende Kinder. Das ist<br />
zwar im Prinzip richtig, es wurde da<strong>bei</strong> jedoch unterlassen, zwischen primären und<br />
sekundären Sehfehlern zu unterscheiden, wie dies LIE (1993) vorgeschlagen hat.<br />
Demnach ist das Hauptaugenmerk in der Diskussion um einen möglichen bedingenden<br />
Zusammenhang zwischen Fehlsichtigkeiten und Leseproblemen nicht auf die primären,<br />
meßbaren Sehfehler zu legen, sondern auf die sekundären. Hinter diesen Über-<br />
legungen steht die Beobachtung, daß je nach persönlicher Situation eines Kindes<br />
primäre Sehfehler ausgeglichen werden können oder auch nicht. Im zweiten Fall, also<br />
wenn der Ausgleich nicht oder nur teilweise geleistet werden kann, kommt es zu<br />
sekundären Sehfehlern. Diese sind als Symptome der dargestellten Sehstörungen<br />
behandelt worden. Zu denken ist da<strong>bei</strong> an den Doppeleffekt und andere Schwierig-<br />
keiten <strong>bei</strong> der Textwahrnehmung. Es geht also um die Frage, inwieweit ein Kind durch<br />
eine vorhandene Fehlsichtigkeit oder durch eine Störung der visuellen Sensorik<br />
subjektiv belastet wird. Um jedoch eine Antwort auf diese Frage zu bekommen, hilft die<br />
Feststellung, daß ein primärer Sehfehler vorliegt nur bedingt. Viel wichtiger ist, das<br />
Kind zu beobachten, wie es sich <strong>bei</strong>m Lesen oder ähnlichen Tätigkeiten verhält.<br />
Genauso wichtig ist es, Aussagen des Kindes ernst zu nehmen. Wenn ein Kind sagt,<br />
es bekomme Kopfschmerzen <strong>bei</strong>m Lesen, sollte dieses nicht damit abgetan werden,<br />
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Abschließende Diskussion 87<br />
daß das Kind nur eine Ausrede sucht, um nicht lesen zu müssen, sondern es sollte<br />
dem nachgegangen werden.<br />
Ein weiterer Aspekt, auf den nochmals explizit hingewiesen werden soll, ist die Tat-<br />
sache, daß die meisten der hier beschrieben visuellen Sensorikstörungen „situations-<br />
abhängig“ sind. Damit ist gemeint, daß sie zum einen von der sogenannten<br />
„Tagesform“ des Kindes abhängen, zum anderen durch äußere Faktoren, wie z.B.<br />
Streß, beeinflußt werden. Letztlich spielt auch die Art und Dauer der Tätigkeit eine<br />
Rolle. Solange das Kind relativ entspannt ist und genügend „Kraftreserven“ hat, wird es<br />
sicherlich eine gewisse Zeitlang seine Probleme verbergen können. Je mehr es aller-<br />
dings ermüdet, desto deutlicher werden seine visuellen Schwierigkeiten. Ähnlich<br />
verhält es sich mit der Umwelt. Je mehr Druck von außen entsteht, je mehr sich das<br />
Kind bemüht etwas zur Zufriedenheit des Lehrers oder der Eltern richtig zu machen,<br />
desto weniger Aufmerksamkeit kann es auf sein Sehen legen, das ihn folglich sehr<br />
schnell „im Stich läßt“. Ferner spielt auch, wie bereits gesagt, die Art der Tätigkeit eine<br />
Rolle. Jede Tätigkeit in der Nähe, wie z.B. Lesen oder Basteln, stellt eine hohe Anfor-<br />
derung an das Sehen, die mit einer nicht zu unterschätzenden Muskelar<strong>bei</strong>t für die<br />
Akkommodation und die Konvergenz (motorische Fusion) einhergeht. Muß das Kind<br />
nun zusätzliche Energie auf diese Prozesse verwenden, um in der Nähe sehen zu<br />
können, dann ist es einsichtig, daß es schneller ermüdet.<br />
Darüber hinaus behindern die Sehstörungen nicht nur das Lesen oder Lernen, sondern<br />
wirken auch auf die Lernhaltung des Kindes zurück. Wenn ihm bekannt ist, daß es<br />
nach kurzer Zeit des Lesens visuelle Schwierigkeiten bekommt, oder sogar körperliche<br />
Symptome wie Kopfschmerzen folgen, dann wird es nicht freiwillig lesen. Das scheint<br />
verständlich, denn wer beschäftigt sich schon gerne mit etwas, von dem genau weiß,<br />
daß es nach kurzer Zeit z.B. zu Kopfschmerzen führt. Visuelle Sensorikstörungen be-<br />
hindern also nicht nur durch ihre Existenz, sondern auch durch ihren demotivierenden<br />
Charakter.<br />
Warum sollten Pädagogen diese Zusammenhänge kennen? Diese Frage kann mit<br />
unterschiedlichen Begründungen beantwortet werden. Zuallererst hilft ihnen das<br />
Wissen, entsprechende Anzeichen zu erkennen und folglich eine augenärztliche oder<br />
augenoptische Untersuchung zu empfehlen. Ferner ist es ihnen möglich, das Verhalten<br />
und die Leistung eines Schülers anders zu beurteilen. So trägt dieses Wissen zum<br />
Verständnis <strong>bei</strong>, warum ein Schüler <strong>bei</strong> Stillar<strong>bei</strong>ten unkonzentriert wirken kann. Es<br />
erklärt, warum z.B. ein Test oder eine Klassenar<strong>bei</strong>t zu Beginn noch „gut“ bzw.<br />
„ordentlich“ bear<strong>bei</strong>tet worden ist, zum Ende jedoch immer mehr Fehler aufweist.<br />
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Abschließende Diskussion 88<br />
Das entscheidende Argument ist jedoch, daß durch die Kenntnis um diese Zusam-<br />
menhänge unnötige Förderstunden vermieden werden. Damit ist nicht gemeint, daß<br />
ein Kind, das aufgrund eines Sehfehlers Schwierigkeiten <strong>bei</strong>m Erlernen der Schrift-<br />
sprache hatte, nach der Korrektion derselben keine Förderung mehr benötigt. Denn<br />
sicherlich haben sich im Laufe der Zeit, in der das eigentliche Problem, die Sehstörung,<br />
nicht erkannt wurde, auch Defizite im Bereich schriftsprachlicher Leistungen im<br />
Vergleich zu den Klassenkameraden eingestellt. Ist jedoch das eigentlich „Hindernis“<br />
beseitigt, dann wird die Förderung schneller zu Erfolgen führen und diese Lernerfolge<br />
werden zudem motivierend wirken. Um es noch einmal kurz zu sagen, die Korrektion<br />
eines Sehfehlers macht Förderung nicht unnötig, sie verschafft dem Kind jedoch eine<br />
Erleichterung, die Lernerfolge ermöglicht.<br />
Für die Zukunft wäre es demnach wünschenswert, daß sich das Wissen um die<br />
subjektiven und individuellen Schwierigkeiten, die bereits von kleinsten Störungen der<br />
visuellen Sensorik verursacht sein können, weiter verbreitet. Gleiches gilt für die<br />
Methoden der Prismen- und der Farbkorrektion, die in ihrer Durchführung bzw. Anwen-<br />
dung einfach sind und doch unmittelbar enorme Wirkung haben können. Um diese zu<br />
erreichen ist jedoch noch erhebliche Aufklärungs- und Überzeugungsar<strong>bei</strong>t nötig.<br />
Auf der einen Seite müssen erst die guten Erfahrungen und Erfolge mit den Methoden<br />
im Kreis der Fachleute bekannter werden, die sich mit der Förderung von lese-recht-<br />
schreibschwachen Kindern beschäftigen, wie z.B. <strong>bei</strong> Grund- und Förderschullehrern,<br />
Psychologen und Therapeuten. Dazu gehört sicherlich, daß sich Vertreter dieser<br />
Gruppe den Methoden annehmen, sie anwenden und ihre Erfahrungen einer breiteren<br />
Basis zur Diskussion stellen. Forschungsprojekte zum Erfolg der Irlen-Methode, wie sie<br />
bereites in Australien, den USA und Großbritannien durchgeführt worden sind, sollten<br />
unter Beteiligung der Gruppe von förderpädagogisch tätigen Fachleuten in Deutsch-<br />
land in Betracht gezogen werden. Gleiches gilt für die Prismenkorrektion, zu der bereits<br />
erste Forschungsergebnisse aus dem deutschsprachigen Raum vorliegen.<br />
Auf der anderen Seite sollten die Vertreter der Augenheilkunde, also Augenärzte und<br />
Augenoptiker, über das Syndrom der Lese-Rechtschreibschwäche aufgeklärt werden.<br />
Ferner ist es wünschenswert, daß die Erfahrungen mit der Korrektion von Sehfehlern<br />
<strong>bei</strong> betroffenen Kindern in dieser Gruppe diskutiert werden, daß <strong>bei</strong> aller Skepsis, die<br />
von einigen Vertretern aus diesem Bereich speziell der Prismenkorrektion entgegen-<br />
gebracht wird, die nachgewiesenen Erfolge zu einer breiteren Anwendung der Korrek-<br />
tionsmethoden <strong>bei</strong>tragen.<br />
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Abschließende Diskussion 89<br />
Auf jeden Fall erscheint es sinnvoll, auch im deutschen Sprachraum der Einfluß der<br />
Korrektion von Sehstörungen auf die LRS zu erforschen, wo<strong>bei</strong> die Beteiligung von<br />
Vertretern aller davon berührten Fachdisziplinen wünschenswert wäre. Es sollte sich<br />
da<strong>bei</strong> jedoch nicht nur auf die isolierte Betrachtung der Methoden konzentriert werden.<br />
Mögliche Zusammenhänge zwischen der Winkelfehlsichtigkeit und dem Meares-Irlen-<br />
Syndrom sollten in Betracht gezogen werden, so gibt es erste positive Erfahrungen aus<br />
Holland, <strong>bei</strong> denen zur Prismenkorrektion die optimale Farbe verord<strong>net</strong> wurde (vgl.<br />
SCHROTH 1997, S. 12). Erfahrungen von SCHROTH 54 zeigen, daß vor der Brillenan-<br />
passung durch eine Farbfolie das Lesen verbessert werden kann. Nach der Brillen-<br />
korrektion, oft mit einer Prismenbrille, ist eine Verbesserung durch Farbe nicht mehr<br />
erkennbar. Diese zwei scheinbar widersprüchlichen Beobachtungen legen nahe, daß<br />
<strong>bei</strong>de Methoden gleichwertig sind und/oder sich ergänzen können.<br />
Darüber hinaus sollte über Möglichkeiten nachgedacht werden, wie die Symptome der<br />
betroffenen Kinder eventuell durch eine Umgestaltung der schulischen Lernsituation<br />
gelindert werden können. So könnte z.B. der Einfluß der Beleuchtung im Klassenraum<br />
überprüft werden. Die üblichen Leuchtstoffröhren geben genau das häufig als unan-<br />
genehm empfundene fluoreszierende Licht ab. Weitere Maßnahmen, deren Erfolg zu<br />
überprüfen wäre, sind z.B. der Verzicht von Hochglanzpapier in Schulbüchern, die Ver-<br />
wendung verschiedenfarbiger Kopierpapiere oder die Wahl der Schriftart und -größe<br />
von Textvorlagen.<br />
Zuletzt sollte die neuropsychologische und neuroanatomische Forschung nicht ver-<br />
gessen werden. Sie steckt in diesem speziellen Bereich noch am Anfang ihrer<br />
Entwicklung, hat aber bereits erwähnenswerte Ergebnisse und Zusammenhänge<br />
aufgezeigt. Es sind jedoch weitere wichtige Bereiche offen, zu denen sie sicherlich<br />
entscheidende Beiträge liefern kann. So stellt sich aus dem Wissen um die <strong>bei</strong>den<br />
Kanäle in der visuellen Nervenbahn z.B. die Frage, ob es äquivalente Subsysteme in<br />
der auditiven Sensorik gibt, mit denen eventuell die häufig beobachteten auditiven<br />
und/oder phonologischen Diskriminierungsschwächen erklärt werden können. Denkbar<br />
wäre, daß der seitliche Kniehöcker auch eine entscheidende Rolle in der auditiven<br />
Sensorik spielt, da sich an dieser Stelle Sehbahn und Hörbahn kreuzen und <strong>bei</strong>de<br />
Nervenbahnen verschaltet werden. Wodurch wiederum ein gemeinsames Auftreten<br />
von auditiven und visuellen Problemen erklärbar werden könnte. Ferner sollte den<br />
Überlegungen weiter nachgegangen werden, die bereits in Kapitel 7.5 angedeutet<br />
wurden und die davon ausgehen, daß es Analoges zu den zwei sensorischen Kanälen<br />
auch auf höheren zentral-nervösen Ebenen geben könnte.<br />
54 Persönliche, schriftliche Mitteilung vom 23. Februar 1999.<br />
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Abschließende Diskussion 90<br />
Zum Abschluß noch ein paar persönliche Gedanken und Wünsche des Autors:<br />
Während eines Vortrags von Herrn SCHROTH 55 hatte ich die Gelegenheit die Wirkung<br />
der farbigen Lesefolien selbst auszuprobieren und konnte da<strong>bei</strong> mit Erstaunen<br />
feststellen, daß einige Farben tatsächlich zu einer besseren, schärferen Abbildung des<br />
Textes führten. Aus diesem Grund, aber auch aufgrund der theoretischen<br />
Überlegungen bin ich der Meinung, daß mit der Irlen-Methode eine Möglichkeit vorliegt,<br />
die Kindern mit einer Störung der visuellen Sensorik auf einfache, schnelle und zudem<br />
sehr erfolgreiche Weise helfen kann. Es ist also zu hoffen, daß die Methode in<br />
Deutschland bald bekannter wird. Durch die Anwendung der Irlen-Methode und der<br />
Prismenkorrektion kann mit Sicherheit einer gewissen Anzahl von Kindern, wie vielen<br />
wird die Zukunft zeigen, zu einem leichteren Lernen verholfen werden kann, wodurch<br />
ihnen eine Reihe frustrierender Mißerfolgserlebnisse ebenso wie der oft erfolglose<br />
Förderunterricht erspart bleiben.<br />
Sicherlich ist weitere Forschungsar<strong>bei</strong>t nötig, um sichere Aussagen über den Erfolg der<br />
Methoden bezüglich der Beeinflussung einer LRS oder sogar bezüglich einer Prophy-<br />
laxe machen zu können. Ferner sollte der Frage nachgegangen werden, welche Kinder<br />
von diesen Methoden profitieren können. In diesem Zusammenhang ist eventuell an<br />
eine Art „Erkennungsprogramm“, einen Katalog mit Symptomen, die eindeutige<br />
Hinweise auf das Vorliegen einer visuellen Problematik geben, oder sogar an einen<br />
Test zur Früherkennung zu denken. Dieser kann meiner Meinung nach nur durch eine<br />
Zusammenar<strong>bei</strong>t bzw. durch eine gemeinsame Forschung von Pädagogen, Psycho-<br />
logen, Therapeuten und Augenärzten oder Augenoptikern erreicht werden.<br />
Zum Schluß sein noch einmal darauf hingewiesen, daß wir Pädagogen - und ich<br />
schließe mich selbst ein - den Aussagen unserer Schüler mehr Aufmerksamkeit und<br />
Glauben entgegen bringen sollten, als das zur Zeit manchmal der Fall ist. Ich bin der<br />
Meinung, daß ein Kind, wenn es sagt, daß es <strong>bei</strong>m Lesen Kopfschmerzen bekommt,<br />
keine Ausrede dafür sucht, nicht lesen zu müssen. In einem solchen Fall würde ich<br />
immer erst einmal davon ausgehen, daß ein Problem vorliegt, dem nachzugehen ist.<br />
55 Zu dem Vortrag hatte im Juni 1998 die Wissenschaftliche Vereinigung für Augenoptik und<br />
Optometrie e.V. (Landesgruppe Ostwestfalen) eingeladen. An diesem Abend sprach Herr Schroth<br />
zum Thema „Neue Möglichkeiten der Korrektion von visuellen Problemen <strong>bei</strong> Lese- und<br />
Rechtschreibschwäche (LRS)“.<br />
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