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LITERATUR SPIEGEL 08 09 2018

Entspannen, sich genussvoll zurücklehnen, ein Buch aufschlagen: Bücher zu lesen schafft einen besonderen Moment der Entschleunigung. Diese positive Grundstimmung schwingt mit, wenn Leser den LITERATUR SPIEGEL zur Hand nehmen.

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Update für Shakespeare<br />

Neue Kriminalromane von Jo Nesbø und Pierre Lemaitre.<br />

Von Marcus Müntefering<br />

EINE NAMENLOSE schottische<br />

Großstadt Anfang der<br />

Siebzigerjahre. Massenarbeitslosigkeit,<br />

Umweltverschmutzung,<br />

Drogenkriminalität. Es<br />

herrscht Katerstimmung in Jo Nesbøs neuem<br />

Roman Macbeth. Oder besser gesagt<br />

»Get Carter«-Stimmung. Dieser Klassiker<br />

des britischen Gangsterkinos, kurzgeschlossen<br />

mit Frank Millers Graphic Novel Sin<br />

City, gab Nesbø die Bilder vor. Verfallene<br />

Fabriken, verdreckte Straßen, Schmuddelwetter<br />

– kein Ort für Edelmänner. Und so<br />

macht Nesbø aus Macbeth, dem zunächst<br />

königstreuen Krieger, den Anführer eines<br />

SWAT-Teams und aus dem Tragödienklas -<br />

siker einen knallharten Drogenthriller. Mit<br />

reichlich Action inklusive amphetamin -<br />

befeuertem finalem Shoot-out. Shakespeare<br />

meets »Scarface«.<br />

Nesbøs Roman ist der siebte in einer Reihe<br />

von Shakespeare-Neudichtungen, die von<br />

der britisch-amerikanischen Hogarth Press<br />

in Auftrag gegeben wurden. Zuletzt versuchte<br />

sich Edward St. Aubyn mit mäßigem Erfolg<br />

daran, King Lear in einen modernen<br />

Wirtschaftskrimi umzudeuten. Deutlich besser<br />

gelingt das Nesbø, dem Norweger, der<br />

mit den Thrillern um den so genialen wie<br />

suchtgefährdeten Polizisten Harry Hole<br />

Weltbestseller geschrieben hat.<br />

Shakespeares Handlungsgerüst hat Nesbø<br />

übernommen: Macbeth, getrieben von<br />

Ehrgeiz und einer ambitionierten Frau –<br />

Lady Macbeth als frühe Femme fatale –,<br />

wandelt sich vom treuen Gefolgsmann zum<br />

Königsmörder und Tyrannen, wähnt sich<br />

aufgrund einer Weissagung unverwundbar<br />

und findet schließlich doch den Tod.<br />

Die blutig erstrittene Macht bringt nicht<br />

die erhoffte Erlösung, Nesbø gönnt seinem<br />

Antihelden kaum mehr als einen Moment,<br />

die neue Position als Polizeichef zu genießen,<br />

allzu bald mischen sich Schuldgefühle<br />

und Furcht vor Verrat in den Triumph. Nach<br />

dem Selbstmord seiner Frau taumelt Macbeth<br />

seinem Untergang entgegen. Und am<br />

Ende steht die Erkenntnis universeller Kontingenz:<br />

»Vielleicht sind wir bloß losgelöste<br />

Sätze in einem ewigen chaotischen Geschwätz,<br />

bei dem alle reden und niemand<br />

zuhört.«<br />

Mehr als 600 Seiten braucht Nesbø für<br />

seine Version eines der kürzesten Shake -<br />

speare-Dramen. Was viel damit zu tun hat,<br />

dass im Original außer dem zentralen Killerpärchen<br />

kaum jemand ein echtes Profil<br />

aufweist. Ob Duncan, Banquo oder Macduff,<br />

sie alle bleiben bloße Funktionsträger.<br />

Nesbø hingegen gönnt vielen seiner Figuren<br />

eine Backstory, spinnt ein komplexes Geflecht<br />

aus Abhängigkeiten und Verrat, vermisst<br />

seine fiktive Stadt von der Gosse bis<br />

ins Rathaus. Und er hat sichtlich Spaß daran,<br />

seinen Helden ein Update zu verpassen:<br />

So wird aus den Hexen, die Macbeths Aufstieg<br />

prophezeien, ein Trio asiatischer Drogenköche<br />

und aus dem berühmten Wald<br />

von Birnam eine ausgemusterte Lokomotive.<br />

Statt in einer Burg residieren die Macbeths<br />

in einem Casinohotel.<br />

Nesbø hat seinen Roman als Parabel auf<br />

die zerstörende Kraft des Kapitalismus angelegt.<br />

Macbeth und seine Frau sind Getriebene<br />

– ein Waisenkind und eine ehemalige<br />

Nutte –, die mitspielen wollen im Konzert<br />

der Großen. Doch letztlich sind sie nur ahnungslose<br />

Marionetten, Erfüllungsgehilfen<br />

von Hecate, dem Drogenboss der Stadt,<br />

einem Puppenspieler, an dessen Schnüren<br />

Cops und Kriminelle, Politiker und Prostituierte<br />

ein bizarres Ballett des Todes tanzen.<br />

Die organisierte Kriminalität, Nesbø<br />

zeigt sie uns als Raubtierkapitalismus in seiner<br />

reinsten Form, ohne störende Neben -<br />

geräusche wie Betriebsräte, Gewerkschaften<br />

oder Compliance-Regeln. Für Idealisten ist<br />

kein Platz in dieser Welt. »Schön ist hässlich,<br />

hässlich schön«, unken die Hexen bei Shakespeare.<br />

Auch bei Nesbø steht die Welt auf<br />

dem Kopf: »Dass der Einzelne danach<br />

strebt, reich zu werden, macht die Gesellschaft<br />

reich«, sagt Hecate und sieht sich entsprechend<br />

als »Stütze der Gesellschaft«, moralisch<br />

im Recht, wenn er den Reformer<br />

Duncan töten lässt. Shakespeares Happy<br />

End, der finale Jubelruf »Die Zeit ist frei«,<br />

bei Nesbø stellt es sich als Illusion heraus.<br />

Die Figuren sind austauschbar, das Spiel<br />

bleibt dasselbe.<br />

Jo Nesbø: Macbeth – Blut wird mit Blut bezahlt.<br />

Aus dem Englischen von André Mumot.<br />

Penguin; 624 Seiten; 24 Euro. Erscheint<br />

am 27. August.<br />

Von Katharina Stegelmann<br />

VON ANFANG AN ist klar: Es<br />

geht um dieses eine »entscheidende,<br />

erschütternde, unerwartete<br />

Ereignis«, das das Leben<br />

»total aus der Bahn wirft«, und<br />

vor dem jeder Angst hat. Und bereits im<br />

fünften Satz taucht das Wort »Pumpgun«<br />

auf. Bald schaut eine Frau in die Mündung<br />

der Waffe. Sie wird von zwei Gangstern brutal<br />

zusammengeschlagen, nur schwer verletzt<br />

mit zertrümmertem Gesicht gelingt ihr<br />

die Flucht. Der französische Autor Pierre<br />

Lemaitre lässt in seinem Thriller Opfer das<br />

Blut spritzen.<br />

Im Mittelpunkt des psychologisch raffinierten<br />

Romans steht Kommissar Camille<br />

Verhoeven. Und die Frau, die bei dem Überfall<br />

beinah getötet wird, Anne Forestier, ist<br />

die Frau, die er liebt. Kommissar Verhoeven<br />

zieht die Ermittlungen an sich, was ihm nur<br />

gelingt, weil er seinem Vorgesetzten sein Verhältnis<br />

zum Opfer verschweigt. Anne hat die<br />

Verbrecher gesehen, sie kann sie identifizieren,<br />

daher muss sie – schwer verletzt und<br />

traumatisiert, wie sie ist – weiter um ihr Leben<br />

fürchten. Camille will sie schützen, um<br />

jeden Preis. Und während er ermittelt, entfaltet<br />

sich für den Leser eine Geschichte in<br />

der Geschichte in der Geschichte – wie Matroschkas,<br />

die man auseinandernimmt und<br />

aufreiht, offenbart sich eine Ebene nach der<br />

nächsten. Nur dass die russischen Püppchen<br />

nach innen hin immer kleiner werden, während<br />

in Lemaitres Konstruktion der Schrecken<br />

kontinuierlich wächst.<br />

Der Leser ist dabei die meiste Zeit auf<br />

dem gleichen Wissensstand wie Kommissar<br />

Verhoeven. Die kleinen Irritationen, die<br />

schon früh gesetzt werden, entpuppen sich<br />

erst im Nachhinein als Hinweise auf die<br />

eigentliche Katastrophe, auf die Erkenntnis,<br />

dass nichts, gar nichts, so ist, wie es scheint.<br />

Nicht umsonst verweist Lemaitre mit dem<br />

Zitat, das er seinem Buch vorangestellt hat,<br />

auf den Roman Die Fälschung der Welt aus<br />

dem Jahr 1955.<br />

Es wird die Geschichte eines Verbrechens<br />

erzählt, spannend und handwerklich<br />

geschickt. Gleichzeitig erfindet Lemaitre einen<br />

eigenwilligen Helden: Camille Verhoeven,<br />

Chef der Pariser Mordkommission, 50,<br />

Glatze, er sagt von sich selbst: »Ich habe die<br />

Größe eines Pudels, aber kosmische Sehnsüchte.«<br />

Tatsächlich ist er nur 1,45 Meter<br />

groß. Seine Körpergröße verhält sich umgekehrt<br />

proportional zu seinen Talenten. Zum<br />

Beispiel dem Zeichnen. Er hat unzählige<br />

Skizzen angefertigt, sie zeigen den »Alltag<br />

eines Kriminalpolizisten, wiedergegeben<br />

durch den Künstler, der er nie geworden ist«.<br />

Camille hat einen Blick für Situationen und<br />

Menschen; für gewöhnlich erkennt er mühe -<br />

los das Wesen einer Person.<br />

Doch nach dem Mord an seiner Ehefrau<br />

Irène musste er sich wegen einer schweren<br />

Depression in einer Klinik behandeln lassen.<br />

Dieser Umstand macht seine Beziehung zu<br />

Anne umso bedeutungsvoller: »Camille<br />

fragt sich, was ihm heute am stärksten wehtut,<br />

seine Sorge um Anne, der Anblick ihres<br />

Gesichts, ihre Schmerzen oder wie sich all<br />

sein Denken im Lauf der Tage und Wochen<br />

zunehmend auf sie ausrichtet. Es hat etwas<br />

Vulgäres, so von einer Frau zur nächsten zu<br />

wechseln, er fühlt sich etwas Gewöhnlichem<br />

unterworfen. Er hatte nie die Absicht, sein<br />

Leben neu zu beginnen, aber sein Leben<br />

beginnt gerade ganz von allein neu, fast gegen<br />

seinen Willen.«<br />

Irritierend schwach bleiben allerdings<br />

Annes Beweggründe. Und die Eingangs -<br />

szene wirkt fast abschreckend in ihrer blutigen<br />

Brutalität. Doch die Eleganz der Sprache,<br />

die Raffinesse des Aufbaus trösten über<br />

Ungereimtheiten hinweg. Vor allem die Figur<br />

von Kommissar Camille ist Lemaitre gelungen.<br />

Der Ermittler mit den kosmischen<br />

Sehnsüchten und dem zeichnerischen Talent<br />

hat das Zeug, zum Helden einer Reihe<br />

von Fällen zu werden.<br />

Pierre Lemaitre: Opfer.<br />

Aus dem Französischen von Tobias Scheffel.<br />

Tropen; 336 Seiten; 14,95 Euro.<br />

Erscheint am 30. August.

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