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LITERATUR SPIEGEL 08 09 2018

Entspannen, sich genussvoll zurücklehnen, ein Buch aufschlagen: Bücher zu lesen schafft einen besonderen Moment der Entschleunigung. Diese positive Grundstimmung schwingt mit, wenn Leser den LITERATUR SPIEGEL zur Hand nehmen.

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»Jud sauer!«<br />

Der Berliner Lyriker<br />

und Antisemitismusforscher<br />

Max Czollek fordert:<br />

Desintegriert euch!<br />

Von Tobias Becker<br />

D<br />

EUTSCHLAND STREITET seit Wochen<br />

über Rassismus, weil ein türkischstämmiger<br />

deutscher Fußballnationalspieler<br />

nicht mehr deutscher Nationalspieler sein<br />

will, weil Tausende andere Migranten und Migrantenkinder<br />

und Migrantenenkel unter dem<br />

Hashtag #MeTwo über Diskriminierungen berichten.<br />

Deutschland streitet über Integration, ob sie<br />

gelingt oder nicht, wie sie besser gelingen kann.<br />

In diese Stimmung hinein platzt nun Max<br />

Czollek, sein Buchtitel: Desintegriert euch!<br />

Czollek, 31, ist ein jüdischer Lyriker und<br />

Politikwissenschaftler, promoviert am Zentrum<br />

für Antisemitismusforschung der TU Berlin.<br />

2016 kuratierte er gemeinsam mit der Schriftstellerin<br />

Sasha Marianna Salzmann einen Kongress<br />

am Maxim Gorki Theater, bei dem sich<br />

Besucher eine Kippa aufsetzen konnten mit dem<br />

Claim »Werden Sie Teil des Problems!«. Herumliegende<br />

Postkarten verkündeten weiß auf schwarz:<br />

»Jud sauer!«, »Wir haben den Krieg gewonnen«,<br />

»Keine Juden mehr für Deutsche«.<br />

Desintegriert euch! ist das Buch zur damals angestoßenen<br />

Debatte, ein unsachliches Sachbuch,<br />

böse und wütend und oft ungerecht, eine Polemik,<br />

die viel Widerspruch erregen wird. Desintegriert<br />

euch! ist ein wichtiges Buch.<br />

Desintegration bedeutet für Czollek, aus der<br />

Rolle auszubrechen, die Juden in Deutschland<br />

seiner Meinung nach meist spielen: die Rolle<br />

des braven Opfers, das dabei hilft, »das Bild<br />

von den guten, geläuterten, normalen Deutschen<br />

zu stabilisieren«. Der jüdische Soziologe<br />

Y. Michal Bodemann hat das einmal Gedächtnistheater<br />

genannt, ein Begriff, den Czollek übernimmt.<br />

Das Gedächtnistheater, so seine These, spiele<br />

allen vor, dass die Deutschen keine Nazis mehr<br />

seien, während zeitgleich eine rechtspopulistische<br />

Partei ihr Unwesen im Bundestag treibt. Das Motto:<br />

Wir können keine Rassisten sein, wir haben<br />

den Holocaust doch so vorbildlich aufgearbeitet.<br />

Zu dieser Inszenierung gehört die Formel vom<br />

»jüdisch-christlichen« Abendland, die seit einigen<br />

Monaten so en vogue ist. Sie ermöglicht es, intolerant<br />

zu sein, aber tolerant zu wirken, denn eigentlich<br />

ist die Formel nur ein Synonym für: nicht muslimisch.<br />

Worin natürlich eine bittere Ironie liegt:<br />

Rechtspopulisten mögen heute die Juden, weil sie<br />

vermeintlich Verbündete gegen die Muslime sind.<br />

Im Gedächtnistheater laufen vor allem jüdische<br />

Künstler jederzeit Gefahr, das Gewissen der<br />

Mehrheitsgesellschaft zu entlasten, sie drohen zu<br />

Alibifiguren zu werden, sobald sie Erfolg haben:<br />

Schaut her, so offen ist diese Gesellschaft heute!<br />

Den Effekt kennt Czollek selbst, den Effekt<br />

kennen sicher auch all die jüdischen Kontingentflüchtlinge<br />

aus der ehemaligen Sowjetunion, die<br />

den deutschen Kulturbetrieb seit einigen Jahren<br />

bereichern: Sasha Marianna Salzmann, Olga<br />

Grjasnowa, Dmitrij Kapitelman, Lena Gorelik.<br />

Ebenso wie all die exilierten israelischen Künstler<br />

in Berlin: die Dramatikerin Sivan Ben Yishai, die<br />

Regisseurin Yael Ronen.<br />

Spree-Aviv nennen manche die deutsche<br />

Hauptstadt wegen der vielen Juden, die dort inzwischen<br />

leben, die Rede ist von über 30000 Menschen.<br />

Nicht wenige von ihnen stammen aus Fa-<br />

So einfach kommen die Deutschen nicht davon.«<br />

In den Neunzigern, schreibt er, hätten Ideen wie<br />

Leitkultur oder Heimat »auf dem Schrottplatz<br />

poli tischer Konzepte« geparkt. Dass sie nun wieder<br />

flottgemacht werden, empfindet er »als Erschütterung<br />

und Gefährdung meiner Lebensweise«.<br />

Czollek zieht eine Verbindung vom<br />

»schwarz-rot-goldenen Exzess der WM 2006« zu<br />

den Pegida-Aufmärschen und dem Einzug der<br />

AfD in den Bundestag. Die Deutschen, ätzt er,<br />

verhielten sich in der Mehrheit so, »als knüpften<br />

sie an die Geschichte der Nazitäter*innen an und<br />

nicht der Nazi opfer«.<br />

Nun ist es tatsächlich so, dass das lebendige<br />

jüdische Kulturleben in Berlin allzu leicht darüber<br />

hinwegtäuscht, dass Deutschland ein Problem mit<br />

Antisemitismus hat. Eine Studie der Technischen<br />

Universität Berlin belegte kürzlich, dass sich die<br />

Zahl antisemitischer Onlinekommentare zwischen<br />

2007 und <strong>2018</strong> nahezu verdreifacht hat. Und die<br />

Polizei meldete, dass sie in den ersten sechs Monaten<br />

dieses Jahres 401 antisemitische Straftaten erfasst<br />

habe, darunter 349 von Rechtsextremen.<br />

Aber liegt Czollek richtig, wenn er auch »die<br />

neue Heimatliebe« deutscher Politiker von SPD bis<br />

Grünen als »metapolitischen Sieg der Neuen Rechten«<br />

verbucht? Er übersieht dabei, dass die Hipster<br />

in Berlin, Hamburg, München schon Kaffee aus<br />

lokalen Röstereien schlürften, als es die AfD noch<br />

lange nicht gab. Deutschland ist ein Land mit Heimmilien,<br />

die gar nicht unmittelbar vom Holocaust<br />

betroffen waren.<br />

Czollek will sensibilisieren dafür, dass es keine<br />

homogene jüdische Gemeinschaft gibt in Deutschland,<br />

zumindest nicht mehr, dass es spätestens<br />

seit den Einwanderungsbewegungen der vergangenen<br />

Jahre und Jahrzehnte keine konstante jüdische<br />

Identität mehr gibt in diesem Land, nicht<br />

mal einen einheitlichen jüdischen Blick auf die<br />

Nazizeit: Juden aus der ehemaligen Sowjetunion<br />

sehen sich nicht unbedingt als Opfer, sie feiern,<br />

dass sie den Krieg gewonnen haben.<br />

Die Strategie der Desintegration bedeutet für<br />

Czollek, der Legende von der »Befreiung der<br />

Deutschen« entgegenzutreten. »Die Deutschen«,<br />

schreibt er, seien 1945 nicht befreit worden, sondern<br />

besiegt. Desintegration bedeutet, als Jude<br />

auch mal eine andere, eine aggressivere Haltung<br />

zu den Verbrechen »der Deutschen« einzunehmen:<br />

Ironie, Wut. Desintegration bedeutet, den »deutschen<br />

Blick« wieder für »die real existierenden<br />

Juden und Jüdinnen« in diesem Land zu öffnen:<br />

»Über die Juden weiß man als Deutsche*r eben<br />

vor allem, dass man sie umgebracht hat.«<br />

Czollek will nicht die Vergangenheit bewältigen,<br />

sondern die Gegenwart. Ihm geht es um<br />

Emanzipation, auch als Künstler. »Hinter uns liegen<br />

zwei Generationen Trauer, Trauma und Angst.<br />

Es hat etwas gebraucht, aber nun sind wir zurück.<br />

Hier ist Jud Sauer. Hier sind die Inglourious Poets.<br />

Illustration: Klaus Meinhardt für <strong>LITERATUR</strong> <strong>SPIEGEL</strong>

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