05.10.2021 Aufrufe

SPIEGEL START 01/2021

Das Magazin für Uni und Arbeit SPIEGEL START ist der Begleiter für Studierende auf ihrem Weg zum ersten Job und richtet sich an junge Leute unter 30 Jahre. Bei SPIEGEL START steht der Mensch im Mittelpunkt: Themen wie z.B. Partnerschaft und Familie, Arbeitswelt, das Erreichen individueller Ziele und Lebensträume stehen im Vordergrund. Die erste Ausgabe erscheint am 02.10.2021. Ab 2022 erscheint SPIEGEL START vier Mal im Jahr.

Das Magazin für Uni und Arbeit

SPIEGEL START ist der Begleiter für Studierende auf ihrem Weg zum ersten Job und richtet sich an junge Leute unter 30 Jahre.

Bei SPIEGEL START steht der Mensch im Mittelpunkt: Themen wie z.B. Partnerschaft und Familie, Arbeitswelt, das Erreichen individueller Ziele und Lebensträume stehen im Vordergrund.

Die erste Ausgabe erscheint am 02.10.2021. Ab 2022 erscheint SPIEGEL START vier Mal im Jahr.

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1|2021

Das Magazin für Studium und Berufseinstieg

JOBS MIT ZUKUNFT

Wo es noch Stellen gibt

DEUTSCHLAND 4.0

Was sich jetzt ändern muss

GRÜNES GOLD

Warum Pflanzen in sind

Lehren aus dem Lockdown

Wie uns die Pandemie verändert hat –

und was das für unsere Zukunftsplanung bedeutet


Das GLS Girokonto

Für deine nachhaltige Zukunft

Jetzt wechseln: GLSbank.de


HAUSMITTEILUNG

D

ie Coronapandemie hat verändert, wie wir studieren, arbeiten, leben. Drei Semester lang

befanden sich die Hochschulen in Deutschland quasi im Dauershutdown, für das Winter -

semester gibt es zumindest ein bisschen Hoffnung auf Normalität. Aber was bedeutet das eigent -

lich, Normalität? Wird bald alles wieder wie vor der Pandemie? Wollen wir das überhaupt?

Diesen Fragen widmen wir uns in der Titelgeschichte dieses Heftes. Marie-Charlotte Maas hat

mit Studierenden, Lehrenden und Expert:innen gesprochen und herausgefunden: Auch wenn

die Pandemie in erster Linie eine riesige Herausforderung war, haben wir doch einiges aus ihr

gelernt (Seite 10). Das kann uns auch dann noch helfen, wenn Corona irgendwann vorbei ist.

Die Laufbahnberaterin Vera Pilkuhn etwa erklärt im Interview mit Susan Djahangard, wie wir

uns die Pandemieerfahrungen beim Berufseinstieg zunutze machen können (Seite 14).

Auch sonst wagen wir mit diesem Heft einen Blick in die Zukunft: Katharina Hölter und

Florian Gontek erklären, wie sich der Arbeitsmarkt verändern wird und was das für deine Aus -

bildung und Jobsuche bedeutet (Seite 20). Sophie

Garbe und Okan Bellikli formulieren 18 Forderungen

an die neue Bundesregierung (Seite 36). Janne

Knödler und Anton Rainer suchen Antworten auf

die Frage, warum so wenige Frauen Unternehmen

gründen – und wie man das ändern kann (Seite 40).

Vor einem Jahr haben wir SPIEGEL START als

Onlineangebot des SPIEGEL gelauncht, um unsere

Leser:innen durchs Studium und in den ersten Job

zu begleiten. Dies ist nun die erste gedruckte

Ausgabe. Sie soll Antworten geben auf die großen

Fragen unserer Zeit – und auch auf ein paar kleine.

SPIEGEL START soll Lesestoff liefern für die Pause

zwischen zwei Seminaren oder Meetings, wir

wollen Gedanken anstoßen und vielleicht auch

Gespräche. Wir freuen uns, wenn du Seiten heraus -

reißt (die Übersicht über hormonfreie Verhütungs -

Protagonistin

Betty Lohmeyer

wurde an ihrer

Uni in Hamburg

fotografiert

mittel auf Seite 65 beispielsweise) – und wenn

du uns Feedback gibst, bei Instagram @spiegelstart

oder per E-Mail spiegel-start@spiegel.de.

Viel Spaß wünscht deine SPIEGEL-START-Redaktion

Foto: Bettina Theuerkauf / DER SPIEGEL

Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 3


INHALT

44 Wie sähe Deutschland aus, wenn nur vegane Landwirtschaft betrieben würde?

Es gäbe mehr Platz, Nutztiere lieferten kein Fleisch mehr, das Klima würde geschont,

das Land röche anders, und ein veganer Landwirt wie Daniel Hausmann wäre nicht länger

ein Exot. Ganz klar: Der Bauernverband ist entsetzt.

DER SPIEGEL GMBH & CO. KG

ABO-SERVICE

Tel.: +49 (0)40/3007-2700

Fax: +49 (0)40/3007-3070

Mail: aboservice@spiegel.de

VERLAG UND

REDAKTION

Ericusspitze 1,

20457 Hamburg

Mail: spiegel-start@spiegel.de

Online: spiegel.de/start

HERAUSGEBER

Rudolf Augstein (1923 – 2002)

CHEFREDAKTION

Steffen Klusmann (V. i. S. d. P.),

Dr. Melanie Amann,

Thorsten Dörting,

Clemens Höges

GESCHÄFTSFÜHRENDE

REDAKTEURIN

Dr. Susanne Weingarten

REDAKTIONSLEITUNG

Sophia Schirmer

CHEFIN VOM DIENST

Anke Jensen

MITARBEIT

Okan Bellikli, David Böcking, Simon Book,

Sofie Czilwik, Florian Diekmann,

Susan Djahangard, Helene Flachsenberg,

Sophie Garbe, Florian Gontek,

Katharina Hölter, Per Horstmann,

Henning Jauernig, Matthias Kaufmann,

Janne Knödler, Paula Josefine Küppers,

Nike Laurenz, Marie-Charlotte Maas,

Sebastian Maas, Bernhard Pötter, Anton Rainer,

Pia Saunders, Timm Seckel, Pia Seitler,

Christina Spitzmüller, Fabian Thomas,

Carolin Wahnbaeck, Lou Zucker

DOKUMENTATION

Susmita Arp, Viola Broecker, Ines Köster,

Rainer Lübbert, Friederike Röhreke

GESTALTUNG / TITELBILD

Alexandra Grünig

BILDREDAKTION

Claudia Apel, Lena Wöhler

SCHLUSSREDAKTION

Christian Albrecht, Lutz Diedrichs, Dörte

Karsten, Katharina Lüken, Sandra Waege

ORGANISATION

Corinna Engels, Heike Kalb, Kathrin Maas

PRODUKTION

Sonja Friedmann, Linda Grimmecke,

Ursula Overbeck

VERANTWORTLICH FÜR

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André Pätzold

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Sabine Schramm-Lühr

OBJEKTLEITUNG

Johannes Varvakis

DRUCK

appl druck GmbH & Co. KG, Wemding

SPIEGEL START wird auf

Recyclingpapier gedruckt.

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www.spiegelgruppe.de/spiegel-media

Mediaunterlagen und Tarife

Tel.: 0049 (0)40 3007-2493

VERTRIEB HOCHSCHULEN

CAMPUSdirekt DEUTSCHLAND GmbH,

Tel.: 0049 (0)921 78778 59-0

GESCHÄFTSFÜHRUNG

Thomas Hass (Vorsitzender), Stefan Ottlitz

4 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021

Titelfoto: Bettina Theuerkauf / DER SPIEGEL


INHALT

8 Was geht … in Studium und Berufseinstieg

10 Titel: Wie Corona die Uni verändert hat – und uns

14 Interview: Tipps für die Jobsuche nach Corona

16 Hausarbeit: Studierende über ihr Homeoffice

20 Digital und nachhaltig: Die Berufe der Zukunft

25 Mein erstes Jahr im Job: Die Projektmanagerin

26 Alles netto? So liest du deine Gehaltsabrechnung

28 15 Semester: Wie Pendeln das Studium erschwert

34 Was geht … in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft

36 Nach der Wahl: Das muss die Politik anpacken

40 Fehlstart-up: Warum es kaum Gründerinnen gibt

44 Veggie-Land: Wie sähe eine vegane Republik aus?

48 Fast neue Fashion: Secondhandmode im Trend

50 Interview: Wie ziehe ich mich nachhaltig an?

52 Und wer sorgt für sie? Pflegekräfte ohne Lobby

56 Kolumne: Die Kunst des grünen Liebens – ohne CO 2

60 Was geht … in Alltag und Beziehung

62 Schluck! Wieso die Pille heute so verpönt ist

65 Horm-ohne: Wie du sonst noch verhüten kannst

68 Endlich erwachsen: Modetipps für den ersten Job

70 Kein Tabu: Marie Nasemann über ihre Fehlgeburt

74 Sei mir grün: Warum wir Zimmerpflanzen lieben

78 Kolumne: Kochen ohne Kohle – Oh, Gnocchi!

Von SPIEGEL.de stammen folgende Texte: »Niemand in meinem Alter soll mich als Maßstab nehmen«, Seite 9 • Zwischen Petterson

und Küchentisch, Seite 16 • »Ich erlebe Weltpolitik hautnah«, Seite 25 • Irgendwo zwischen Hamburg und Lüneburg ging meine Motivation

verloren, Seite 28 • Willkommen auf dem digitalen Flohmarkt, Seite 48 • »Die Pflegekräfte sitzen am längeren Hebel«, Seite 52 • Das

Fliegen der anderen, Seite 56 • »Was, du nimmst noch die Pille?«, Seite 62 • »Es war kein Raum da für den Schock«, Seite 70 • Die grüne

Welle, Seite 74 • Gnocchi für 75 Cent, Seite 78. Aus dem SPIEGEL stammen: Ja, es gibt Gründerinnen, aber viel zu wenige, Seite 40 •

Wenn Deutschland ein Land der Veganer wäre, Seite 44.

Fotos: Thomas Victor / DER SPIEGEL, Sebastian Lock / DER SPIEGEL, Stefan Mosebach / DER SPIEGEL,

Patricia Kühfuss, Tamara Eckhardt / DER SPIEGEL

Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 5


WOHIN WILL ICH?

ILLUSTRATION ROSA AHLERS

6 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021


INTRO

Studium und

Berufseinstieg

Die Jahre an der Uni und die erste Zeit im Job sind etwas Besonderes. Wir entscheiden,

was uns im Leben wichtig ist – so wichtig, dass wir es studieren und damit unser Geld verdienen

wollen. Wir probieren aus, orientieren uns vielleicht um, stellen die Weichen dafür,

wie unsere Zukunft aussieht. Das erste Kapitel widmet sich dieser Zeit, in der noch alles möglich

scheint – und gleichzeitig große Entscheidungen anstehen. Es blickt zurück auf

drei Semester Pandemie und auf das, was wir daraus gelernt haben. Und es schaut nach vorn,

auf die Zeit nach Corona und den Arbeitsmarkt der Zukunft.

Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 7


WAS GEHT ... IN STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG

UNI À LA CARTE: FOLGE 1

Endlich wieder in die Mensa!

Robert Abedini, 26, studiert im 14. Fachsemester Jura in Hamburg

»Schweinemensa – so nennen wir Studierenden die Mensa Studierendenhaus

der Uni Hamburg. Woher der Spitzname kommt, weiß

niemand so genau. Mit dem Essen hat er aber nichts zu tun, das ist

nämlich meistens richtig gut. Heute gab es schwedische Köttbullar

mit Salzkartoffeln und Preiselbeeren für 2,60 Euro. Auch wenn

mir der Vergleich fehlt, weil ich in Hamburg aufgewachsen bin,

finde ich das Leben hier sonst sehr teuer. Ich bezahle 450 Eu ro

Miete für ein zwölf Quadratmeter großes WG-Zimmer. Ich hatte

Glück, meine WG liegt nur etwa 500 Meter von der Uni entfernt.

Während der Pandemie hat mir das leider nicht viel genutzt. Jetzt

bin ich aber wieder jeden Tag in der Bib – und in meinen Pausen

in der Mensa. Ich stecke mitten in den Vorbereitungen für mein

erstes Staatsexamen, da erleichtert sie mir den Alltag enorm.«

BUCHTIPP

Steinzeit in Teilzeit

Ist die 40-Stunden-Woche eine Errungenschaft, über die wir uns freuen sollten? Vor nicht mal

150 Jahren mussten viele Menschen schließlich noch 60 Stunden die Woche schuften. Sind unsere

Rufe nach Teilzeit also nur Jammern auf hohem Niveau? Der in Cambridge lebende Anthropologe

James Suzman wirft mit seinem Buch »Sie nannten es Arbeit« ein neues Licht auf die

Work-Life-Balance-Debatte. Denn tatsächlich haben unsere Vorfahr:innen jahrtausendelang

deutlich weniger gearbeitet, als wir es heute tun – die nomadisch lebenden Jagd- und Sammelkulturen

der Steinzeit etwa gerade mal 15 Stunden pro Woche. Der Grund: Sie arbeiteten nur so

viel, wie sie zum Überleben brauchten, und produzierten keinen Überschuss. Erst nach Gründung

der ersten Siedlungen mussten die Menschen plötzlich länger ran. Über die Jahrhunderte

steigerte sich das Pensum, um dann mit der industriellen Revolution zu explodieren.

Für seine spannenden (und manchmal leider etwas sperrig ins Deutsche

übersetzten) Untersuchungen begleitet Suzman die Ju’/Hoansi in Namibia, eine

der letzten noch existierenden Jagd- und Sammelkulturen, die von der industriellen

Landwirtschaft bedroht wird. An dem Kulturwandel, den die Ju’/Hoansi

in den vergangenen 30 Jahren durchgemacht haben, zeichnet Suzman nach,

wie wir aufhörten, für das Leben zu arbeiten – und begannen, für die Arbeit zu

leben. Wer Argumente für die nächste Vertragsverhandlung oder den Streit

mit dem Boomer-Onkel benötigt, wird hier fündig.

James Suzman: »Sie nannten es Arbeit«. C. H. Beck; 398 Seiten; 26,95 Euro.

8 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021

Fotos: Pia Seitler / DER SPIEGEL, Score by Aflo / plainpicture, TikTok Deutschland


STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG

STUDIE

FRAU MÜLLER,

DIE II.

Wer wird Lehrer:in – und warum?

Dieser Frage ist ein internationales

Forschungsteam an der Uni Tübingen

nachgegangen, mit überraschendem

Ergebnis. Die wichtigsten

Faktoren bei der Entscheidung für

ein Lehramtsstudium sind demnach

nämlich: die Eltern. Wünschen sie

sich, dass ihre Kinder Lehrer:innen

werden, erhöht das die Wahrscheinlichkeit

deutlich, dass sie es irgendwann

tatsächlich tun. Gleiches gilt,

wenn ein Elternteil als Lehrer:in

arbeitet oder gearbeitet hat.

Zu den Merkmalen, die ebenfalls

einen Einfluss auf die Entscheidung

haben, gehören das Bedürfnis nach

einem sicheren Arbeitsplatz – dem

Beamtenstatus sei Dank – und der

Wunsch, Kinder zu bekommen.

Was dagegen eine geringere Rolle

spielt, sind Entwicklungs- und Aufstiegsmöglichkeiten,

schreiben die

Wissenschaftler:innen. »Das könnte

auch damit zusammenhängen, dass

die Gehälter für Lehrkräfte in

Deutschland trotz geringer Aufstiegsmöglichkeiten

relativ hoch

eingeschätzt werden«, sagt Adam

Ayaita, einer der Autor:innen.

Die Studie trägt auch zur Ehrenrettung

von angehenden Lehrer:innen

bei. Zuweilen wird ihnen ja »nega -

tive selection« vorgeworfen, dass

sie also Lehrer:innen würden, weil

es für andere Berufsfelder nicht reiche.

»Wir haben keine starken Hinweise

gefunden, dass das bei Lehrer:innen

eine größere Rolle spielt

als in anderen Berufen«, sagt Ayaita.

PODCAST

Money, Money, Money

Du möchtest dein Geld sinnvoll anlegen, hast aber nur 50 Euro

pro Monat zur Verfügung – und keine Ahnung, wie Geldanlage

überhaupt funktioniert? Mit dem Podcast »Money Master«

lernst du es ohne großen Aufwand. In zwölf Folgen von etwa

20 bis 30 Minuten erklären die »Wirtschaftswoche«-Journalist:innen

Tina Zeinlinger und Matthias Rutkowski, wann sich eine

Riester-Rente lohnt, wofür die Abkürzung ETF steht und warum

die eigene Bank nicht immer am besten berät. Sie befragen

Fondsmanager:innen und Finanzexpert:innen, stellen verschiedene

Anlagemethoden vor und probieren einige selbst aus. Das

Beste: Die Tipps richten sich nicht an Menschen mit viel Geld,

sondern an Berufseinsteiger:innen. Verfügbar über wiwo.de

INTERVIEW

»Niemand in meinem

Alter soll mich

als Maßstab nehmen«

Wie sieht der Arbeitsalltag von

erfolgreichen Menschen wirklich

aus? Wir fragen Charles Bahr, 19,

der mit 14 Jahren seine erste

Agentur gegründet hat und jetzt

als Strategic Partner Manager bei

TikTok arbeitet.

SPIEGEL: Charles, wie beginnst du deinen Arbeitstag?

BAHR: Ich starte um 8.30 Uhr und arbeite erst einmal meine E-Mails ab.

Da wir ein global agierendes Unternehmen sind, kommen viele Nachrichten

nachts. Vor meinem Feierabend mache ich das noch einmal, damit ich auf null

bin. Dazwischen gucke ich nicht ins Postfach, um mich nicht ablenken zu lassen.

SPIEGEL: Wie priorisierst du deine Aufgaben?

BAH R: Tatsächlich ist mir das am Anfang schwergefallen. Ein Kollege hat

mir eine nützliche Tabelle an die Hand gegeben, demnach gibt es vier Formen

von Aufgaben:

• Unwichtig und trotzdem dringend – diese Aufgaben sollte man delegieren.

• Wichtig, aber nicht dringend – für diese Aufgaben sollte man sich einen

Zeitplan machen.

• Wichtig und dringend – diese Aufgaben werden sofort erledigt.

• Unwichtig und nicht dringend – die Aufgaben kann man streichen.

SPIEGEL: Wie gehst du mit Stress um? Hast du einen Tipp für andere?

BAHR: Mir hat es geholfen, eine E-Mail an mich selbst zu schreiben, wenn

mich mal etwas aufregt. Diese Mail packe ich dann in einen Ordner namens »Re:

Charles« und schaue alle drei Monate wieder rein. Das ist sehr heilsam, denn

meist stelle ich fest, dass sich die Aufregung gar nicht gelohnt hat.

SPIEGEL: Andere 19-Jährige haben außer Vorlesungen oder Berufsschule

und Arbeit wenig Termine – hättest du es gern weniger voll?

BAHR: Vermutlich ist mein Leben sogar entspannter als das einer Studentin

oder eines Studenten. Ich habe Wochenenden und Urlaubstage, an denen ich

komplett abschalten kann und nicht permanent Klausuren und Hausarbeiten im

Hinterkopf habe. Was ich noch loswerden möchte: Niemand in meinem Alter

soll mich als Maßstab nehmen. Ich habe einfach immer das getan, was mir Spaß

macht. Und ich habe sehr früh herausgefunden, was das ist.

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Studentin Lohmeyer:

»Ich wollte dafür

sorgen, dass wir

gesehen werden«


STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG

BACHELOR OF

CORONA

Die Pandemie hat Studierenden viel abverlangt – eine ganze Generation

wurde von der Politik ignoriert. Zugleich hat Corona gezeigt, dass Uni

auch anders geht. Den Hochschulbetrieb könnte das nachhaltig verändern.

TEXT MARIE-CHARLOTTE MAAS

FOTOS BETTINA THEUERKAUF, LISA NOTZKE, MARINA WEIGL

I

rgendwann verlor Betty Lohmeyer die Geduld. Im März,

als der lange Shutdownwinter sich langsam seinem Ende

näherte, nach zwölf Monaten im Homeoffice, hatte die

25-jährige Studentin die Nase voll. Von der Ungewissheit,

von den immer gleichen Vertröstungen durch Politik und Uni -

bürokratie, von dem Versprechen, dass es bestimmt bald zurück

in die Präsenzlehre gehe. »Ich hatte monatelang tagein, tagaus zu

Hause gesessen, virtuelle Vorlesungen besucht und allein für meine

Klausuren gelernt – anfangs noch mit dem Gefühl, einen Beitrag

für die Gemeinschaft zu leisten. Doch als dann nach und nach

viele wieder ins normale Leben zurückkehrten,

als immer mehr Ältere geimpft wurden und es

hieß, dass die Schulen zurück in den Präsenz -

unterricht sollten, während zugleich nicht ein

Wort über uns Studierende verloren wurde,

fühlte ich mich einfach nur noch abgehängt.«

Es war der Moment, so erzählt es Loh -

meyer heute, an dem ihre Geduld in Frustration

umschlug. Eine Frustration, die sich wenig später

als Antriebskraft erweisen sollte.

Lohmeyer hat im Herbst 2020 ihren Bachelor

in Wirtschaft und Politik abgeschlossen

und studiert jetzt den Master International Business and Sustain -

ability an der Uni Hamburg. Sie ist eine von knapp drei Millionen

Studierenden in Deutschland, die vor anderthalb Jahren aus der

Normalität ihres Hochschullebens geschleudert wurden – hinein

in einen sonderbaren Schwebezustand, in dem von ihnen erwartet

wurde, dass sie mit dem Lernen weitermachen, aber ohne das

akademische und soziale Gerüst des Unialltags. Welche Zumutung

das war und immer noch ist, welche Belastung für die Psyche

vieler Studierender, das schien für Politik und Gesellschaft nur

eine untergeordnete Rolle zu spielen. Eine Generation Studierender

ist in der Coronakrise schlicht vergessen worden.

»Als viele wieder

ins normale Leben

zurück kehrten,

fühlte ich mich

abgehängt.«

Betty Lohmeyer, Studentin

Als die Pandemie im März 2020 Deutschland erreichte,

wurden Hochschulen, Bibliotheken und Mensen geschlossen,

Campusse lagen verwaist. Auf der Tagesordnung standen in den

folgenden Monaten unzählige Stunden vor dem Laptop, Gruppen -

arbeiten über Zoom oder Microsoft Teams. Wenn zwischendurch

doch mal Treffen mit Kommiliton:innen möglich waren oder persönliche

Gespräche mit Lehrenden, wirkten sie wie Relikte aus

längst vergangenen Zeiten. Manch einer zog zurück ins Kinderzimmer,

viele verloren nicht nur die sozialen Kontakte, sondern

auch ihre Nebenjobs.

Anderthalb Jahre lang veränderte sich für

die Studierenden wenig. Im Wintersemester

soll nun endlich Normalität auf die Campusse

der Republik zurückkehren, so zumindest das

offizielle Versprechen. Die Hochschulen wollen

wieder mehr Präsenz wagen, die Mensen wieder

mehr Miteinander erlauben. Lange war

nicht überall klar, wie das funktionieren soll –

ob mit Abstand oder Maske, ob nur für Ge -

impfte, Genese und Getestete, und wer wird

das alles kontrollieren? Doch Studieren soll

möglichst wieder der soziale Prozess werden,

der es für viele vor der Pandemie war, darüber ist man sich einig.

Wird es also bald vorbei sein mit der Corona-Uni? Wird man irgendwann

alles vergessen, das Chaos, den Frust, die Einsamkeit?

Hört man sich um an den Hochschulen in Deutschland,

glauben daran nur wenige. Viele sind nach wie vor skeptisch, ob

die Rückkehr zur Präsenzlehre im Winter wirklich gelingt, zumal

wenn die Infektionszahlen steigen oder es eine neue Virusmutante

gibt. Und selbst wenn: Corona hat den Hochschulbetrieb verändert

– und die Studierenden. Nach anderthalb Jahren Pandemie gibt

es längst eine neue Normalität. Und so ist es an der Zeit für eine

Zwischenbilanz: Was wird bleiben von den Pandemieerfahrun-

Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 11


STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG

gen? Was sollte vielleicht sogar in die Post-Corona-

Zeit übernommen werden?

CORONA ALS ANTRIEBSKRAFT

Für Betty Lohmeyer aus Hamburg war Corona der

Schubs, den sie gebraucht hat, so sagt sie es. Denn sie

habe nicht nur von der Politik irgendwann die Nase

voll gehabt, sondern auch von sich selbst. »Ich wollte

nicht mehr nur schimpfen und klagen, ich wollte dafür

sorgen, dass wir Studierenden gesehen werden, dass

wir uns Gehör verschaffen und dass wir nicht mehr

übergangen werden.« Im Juni dieses Jahres trat Lohmeyer

der Partei Bündnis 90/Die Grünen bei. Schon

in der Vergangenheit habe sie häufiger mit dem Gedanken

gespielt, sich politisch zu engagieren, den Eintritt

in eine Partei jedoch immer wieder aufgeschoben,

sagt sie. Die Unsicherheit, welche die richtige für sie

ist, habe sie abgehalten. »Ich hatte immer gedacht, dass

man 100 Prozent mit allem einverstanden sein müsste,

was eine Partei befürwortet, um ihr anzugehören. Doch

die Pandemie hat mir gezeigt, dass man nicht zu lange

zögern sollte.« Bei den Grünen will Lohmeyer jetzt

unter anderem die Bildungspolitik mitgestalten, sich

für die Bedürfnisse von Studierenden einsetzen.

Das Erleben einer Krise und das Gefühl, abgehängt

zu sein, als Anschub für politisches Engagement

– dieser Zusammenhang sei nicht ungewöhnlich, sagt

Student Dichte:

»Für mich ist der

Onlineunterricht

ein Segen«

der Politikwissenschaftler und Jugendforscher Mathias

Albert. Vor allem bei denjenigen, die sich ohnehin

schon für Politik interessiert hätten, könnten einschneidende

Veränderungen im eigenen Leben der letzte

Funke sein, den es braucht, um nicht mehr länger nur

zuzugucken, sondern mitmischen zu wollen.

Wächst durch Corona etwa eine neue, politischere

Generation Studierender heran? Um das beurteilen

zu können, sei es noch zu früh, sagt Albert: »Inwieweit

das Engagement langfristiger Natur ist und sich vielleicht

sogar zu einer Art Bildungsprotest entwickelt,

muss sich in den kommenden Monaten erst noch zeigen.«

Fest steht aber, dass sich in der Pandemie landauf,

landab Initiativen gegründet haben, um die Anliegen

der Studierenden zu vertreten. Im sächsischen Mittweida

beispielsweise organisierten Studierende in Eigenregie

Impfungen mit AstraZeneca und errichteten

ein Testzentrum auf dem Campus, weil sie nicht länger

auf offizielle Angebote von Politik oder Hochschule

warten wollten. In Berlin schaffte es »Nicht nur Online«,

ein Zusammenschluss von Studierenden aller

Berliner Hochschulen, ihre Kommiliton:innen hinaus

auf die Straße zu bringen, zu Seminaren unter freiem

Himmel. Bundesweit schrieben Studierende offene

Briefe an die Politik.

Die Kritik der Betroffenen ähnelt sich: Man habe

monatelang zugunsten der Allgemeinheit verzichtet,

doch zurück bekäme man nichts, mehr noch, man spiele

in den Planungen der Regierung gar keine Rolle.

Aber die Aktionen zeigen auch, wie aus dem Gefühl,

vergessen zu werden, der Impuls entstehen kann, die

Dinge selbst in die Hand zu nehmen – so wie bei Betty

Lohmeyer: »Durch meine Tätigkeit in der Politik kann

ich etwas bewegen. Der Stillstand aus der Corona-Zeit

ist endlich vorbei.«

FLEXIBILITÄT ALS VORTEIL

Die Coronakrise, das ist keine Frage, hätte niemand

gebraucht. Aber manchmal steckt eben sogar in der

Katastrophe etwas Positives. Auch bei Daniel Dichte

und Kim Phuong Mol war das so. Die beiden kennen

sich nicht. Dichte wohnt in Hamburg, Mol mehr als 400

Kilometer entfernt in Köln. Dichte studiert Technische

Informatik, Mol Wirtschaftspädagogik. Beide haben jedoch

eine Gemeinsamkeit: Sie genießen die neue Flexibilität,

die Corona an die Hochschulen gebracht hat.

Kim Phuong Mol, 28 Jahre alt, ist nicht nur Studentin,

sondern auch Mutter von zwei Töchtern, zwei

und fünf Jahre alt. Zur Uni brauchte sie vor Corona

eine halbe Stunde, davor musste sie ihren Kindern

Frühstück machen, sie anziehen und die Große zur

Kita bringen. Oft sei sie schon abgehetzt in die Vor -

lesung gekommen, erzählt Mol. Hatte die Kleinere

schlecht geschlafen, war es auch um Mols Konzentration

nicht gut bestellt: »Bei der dritten Veranstaltung

am Tag habe ich gemerkt, dass es eigentlich sinnlos

war, mich noch reinzusetzen. Doch weil der Stoff prüfungsrelevant

war, hatte ich keine Wahl.« War eines

der Kinder krank und der Vater beruflich unterwegs,

musste Mol zu Hause bleiben – und sich darauf verlassen,

dass die Kommiliton:innen sie später mit Materialien

und Aufzeichnungen versorgten.

Als die Politik im März 2020 den ersten Shutdown

verhängte, änderte sich diese Situation grund -

legend. Wie alle anderen Studierenden lernte Mol von

zu Hause aus. »Es war anstrengend«, sagt sie, »keine

Frage. Wer sitzt schon gern wochenlang in den eigenen

vier Wänden fest?« Doch für Mol kristallisierten sich

12 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021


STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG

nach ein paar Wochen auch Vorteile heraus: »Plötzlich wurden

die Veranstaltungen aufgezeichnet, ich konnte selbst entscheiden,

wann und wo ich sie mir ansehe. Das war vor allem bei schwierigen

Fächern wie Makroökonomie ein enormer Gewinn, sogar meine

Noten sind besser geworden.«

Könnte Daniel Dichte hören, was Mol erzählt, er würde vermutlich

eifrig nicken. Dichte, 29 Jahre alt, hat kein Kind. Doch er

hat eine Freundin in Spanien, drei zeitintensive Nebenjobs – und

er hat ADHS, das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom. Wenn andere

gegen Abend müde werden, beginnt für Dichte die Zeit, in der er

am besten lernen kann: »Ab etwa 18 Uhr bin ich erfahrungsgemäß

am wachsten im Kopf.« Uni-Seminare fänden zu so später Stunde

an seiner Hochschule jedoch so gut wie nie statt. Dichte sagt: »Für

mich ist der Onlineunterricht ein Segen, weil ich nun selbst -

bestimmter lernen kann.« Zwar vermisse auch er den Kontakt zu

seinen Kommiliton:innen und die persönlichen Begegnungen mit

den Lehrenden, doch die positive Erfahrung habe für ihn über -

wogen. »Während des dritten Lockdowns wurde der Vater meiner

Freundin in Spanien sehr krank.« Er sei sofort nach Murcia gereist,

um der Familie beizustehen. Seine Vorlesungen, Seminare und

Gruppenarbeiten habe er von dort erledigt. »Hätte ich nicht online

studieren können, hätte ich nicht helfen können. Oder ich hätte

geholfen und dafür auf meine Scheine verzichten müssen.«

Kim Phuong Mol und Daniel Dichte hoffen, dass Onlinelehre

auch künftig Teil ihres Studiums bleiben wird – und damit sind

sie nicht allein. In einer im Wintersemester 2020/21 durchgeführten

Befragung des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE) unter

mehr als 27 000 Studierenden und über 650 Professor:innen

wünschte sich ein großer Teil, dass digitale Lehrelemente auch

nach der Pandemie gezielt eingebunden werden sollen, als Ergänzung

zur Präsenzlehre. Insbesondere Aufzeichnungen von Lehrveranstaltungen

finden Studierende demnach hilfreich.

Umfrageergebnisse wie diese überraschen Karin Bjerregaard

Schlüter nicht. Sie ist Digitalexpertin und organisiert aktuell im

Studiengang Leadership in digitaler Innovation an der Universität

der Künste Berlin die Weiterentwicklung der digitalen Lehre. »Corona

hat etwas beschleunigt, was schon längst überfällig war«,

sagt sie. »Im ersten Lockdown war es stressig, denn alle Lehrenden

– und auch die Studierenden – mussten sich neu organisieren und

erst einmal einarbeiten. Das war zeitraubend. Aber ich habe den

Eindruck, dass die meisten Studierenden mittlerweile viele Vorteile

in der Onlinelehre sehen.« Neben der Flexibilität, von der Mol

und Dichte schwärmen, nennt die Expertin weitere Beispiele. Die

Effizienz: »Gruppenarbeiten funktionieren digital viel besser, weil

schon die Aufteilung der Gruppen schneller geht. Niemand muss

warten, bis alle einen Platz gefunden haben.« Die Möglichkeiten:

»Das Studium wird internationaler, wenn man Lehrende aus aller

Welt für ein Seminar über Zoom zuschaltet oder Studierende per

Microsoft Teams an Veranstaltungen anderer europäischer Hochschulen

teilnehmen.«

Bjerregaard Schlüter ist überzeugt, dass sich in Zukunft eine

hybride Variante des Studiums durchsetzen wird. So werden Studierende

die Wahl haben, ob sie ihre Vorlesung lieber morgens

live im Hörsaal verfolgen wollen oder später zu Hause am Küchen -

tisch. Alles ins Internet verlagern, das möchte aber auch sie, ein

ausgewiesener Fan des Digitalen, nicht. Denn erstens hängt der

Erfolg von digitaler Lehre auch vom passenden Equipment und

einer ausreichend schnellen Internetverbindung ab – Dinge, die

längst nicht für alle Studierenden selbstverständlich sind. Und

zweitens: »Lernen ist immer eine Mischung aus Wissensvermittlung

und Emotion«, sagt Bjerregaard Schlüter. »Letzteres kann

man in der Onlinelehre nur sehr schwer rüberbringen.«

ACHTSAMKEIT ALS ERRUNGENSCHAFT

Dass Studieren mehr ist, als Vorlesungen zu absorbieren und Prüfungen

zu schreiben, das wurde in der Pandemie überdeutlich.

Betty Lohmeyer erzählt, dass sie sich häufig einsam gefühlt habe

– obwohl sie zunächst mit ihrem Freund und später auch mit dessen

HOCHSCHULEN IN DER

CORONAPANDEMIE

9. MÄRZ 2020

Die WHU – Otto Beisheim School of Management in Vallendar,

Rheinland-Pfalz, muss als erste deutsche Hochschule

wegen Corona vorübergehend ihren Campus schließen.

Ein Studierender hatte sich mit dem Virus infiziert.

MÄRZ 2020

Bund und Länder beschließen erste Maßnahmen zur

Eindämmung des Coronavirus. Bereits laufende Präsenzveranstaltungen

an den Hochschulen werden ausgesetzt,

der Beginn des Sommersemesters nach hinten verlegt.

2. APRIL 2020

Die Kultusministerkonferenz verschiebt den Vorlesungsbeginn

des Wintersemesters auf den 1. November, einheitlich

für Universitäten und Fachhochschulen.

15. APRIL 2020

Es gibt erste Erleichterungen bei den Coronamaßnahmen.

Neben Prüfungen dürfen auch bestimmte Praxisveranstaltungen

wieder vor Ort stattfinden, sofern Hygiene- und

Abstandsregeln eingehalten werden. Der Großteil der Kurse

wird aber weiterhin digital abgehalten.

8. MAI 2020

Der erste Teil der Überbrückungshilfe für Studierende

startet: Sie können sich nun bei der staatlichen Förderbank

KfW vorübergehend zinsfrei Geld leihen.

16. JUNI 2020

Wer wegen Corona in eine Notlage gekommen ist, kann

einen Zuschuss bei seinem Studierendenwerk beantragen –

der zweite Teil der Überbrückungshilfe. Es gibt heftige

Kritik: Die Hürden seien zu hoch, die Beträge zu gering.

16. DEZEMBER 2020

Es gelten wieder verschärfte Coronaregeln: Hochschulen

sind geschlossen, Präsenzlehre findet quasi nicht statt. So

bleibt es für die folgenden Monate.

3. MÄRZ 2021

In einem Beschlusspapier der Bund-Länder-Konferenz

werden Öffnungsschritte festgelegt – und Hochschulen

mit keinem Wort erwähnt. Studierende protestieren.

23. APRIL 2021

Die Bundesnotbremse tritt in Kraft. Ab einer Inzidenz

von 100 ist auch an Hochschulen nur noch Wechselunterricht

erlaubt, ab einem Wert von 165 nur noch Distanz -

unterricht. Länder und Hochschulen kritisieren die Regelungen

– und erwirken später Änderungen. So entfällt die

Pflicht zum Wechselunterricht, bestimmte Praxisver -

anstaltungen sind auch bei hoher Inzidenz weiter möglich.

MAI 2021

Angesichts sinkender Inzidenzwerte bereiten einige Hochschulen

erste Öffnungsschritte vor.

AUGUST – SEPTEMBER 2021

Im Wintersemester soll es wieder mehr Präsenzlehre

geben, kündigen Länder und Hochschulen an. Was genau

das bedeutet und wie es funktionieren soll, dazu gibt es

viele Diskussionen – und nicht immer klare Antworten.

Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 13


STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG

»Auch wenn man vor allem

auf dem Sofa lag,

hat man daraus etwas gelernt«

Warum man die Coronapandemie auf keinen Fall als Lücke

im Lebenslauf betrachten sollte, erklärt Vera Pilkuhn,

Laufbahnberaterin und Dozentin an der FH des Mittelstands in Köln.

INTERVIEW SUSAN DJAHANGARD

SPIEGEL: Frau Pilkuhn, Sie unterstützen junge Menschen

bei der Suche nach dem ersten Arbeitsplatz. In der

Pandemie wurden aber gerade Stellen für Einsteiger:in -

nen oft gestrichen. Können Sie da überhaupt helfen?

PILKUHN: In manchen Branchen ist es durch die Pandemie

sehr schwierig geworden, Stellen zu finden, das stimmt. Aber das

ist nicht das größte Problem. Die meisten, die zu mir kommen,

kämpfen damit, dass ihre Pläne dahin sind. Einige wollten zum

Beispiel Praktika im Ausland machen. Das ging nicht, und dann

standen sie plötzlich ohne Plan B da. Das ist eine enorme psychische

Belastung, gerade wenn man sowieso schon in einer Umbruchsituation

steckt, weil das Studium oder die Ausbildung zu

Ende geht und man ins Berufsleben startet. Da geht es dann darum,

einen neuen Plan zu entwickeln.

SPIEGEL: Wie geht man damit um, wenn man nicht

sofort auf einen solchen Plan B kommt? Man soll

schließlich keine Lücke im Lebenslauf haben, heißt es.

PILKUHN: Mich hat diese Lückendiskussion schon immer

gestört. Das Hauptziel ist doch nicht, permanent beschäftigt zu

sein. Man nimmt aus jeder Zeit etwas mit. Auch wenn man in

den ersten Monaten der Pandemie vor allem auf dem Sofa lag,

hat man daraus etwas gelernt: vielleicht nur, dass man nicht der

Typ ist, der besonders schnell mit ungewöhnlichen Situationen

umgehen kann. Aber auch das bringt einen weiter. Das Wichtigste

ist, dass man wohlwollend auf sich selbst blickt und sich nicht

noch mehr stresst. Vielleicht war die Pandemie auch eine richtig

gute Zeit, weil man so viel schlafen konnte wie nie zuvor – oder

nach dem Stress mit der Abschlussarbeit endlich diese eine neue

Serie schauen konnte.

SPIEGEL: Aber das kann man doch in einem

Bewerbungsgespräch so nicht sagen.

PILKUHN: Natürlich würde ich nicht empfehlen, vor allem

über gute Serien zu sprechen, wenn man sich bei einem

Arbeit geber vorstellt. Aber man kann plausibel vermitteln,

dass die Pandemie eine Herausforderung für uns alle war, und

zeigen, dass man damit selbstreflektiert umgeht. Ich glaube, da

hat uns diese Krise ganz erheblich vorangebracht: Weil sie eine

solche Aus nahmesituation war, haben wir uns alle besser kennengelernt.

Und in einem Team beispielsweise braucht man beides

– Menschen, die sehr schnell reagieren, und solche, die erst

mal nachdenken.

SPIEGEL: Gibt es weitere Punkte, die man in

den Shutdowns vielleicht gelernt hat und die man

in einem Bewerbungsgespräch nennen kann?

PILKUHN: Einige. Das, worüber wir gerade gesprochen

haben, fällt ja in den Bereich Resilienz: auf sich selbst aufpassen

zu können, zu wissen, was einem guttut und was nicht. Die Pandemie

war auch ein Crashkurs in Selbstorganisation und Selbstmotivation.

Alle mussten lernen, weiterzumachen – ohne Seminare

in der Uni vor Ort, ohne Fitnessstudio oder Lerngruppe.

Wenn man es da etwa geschafft hat, regelmäßig Sport zu machen

oder online Gitarre zu üben, ist das eine großartige Leistung! Das

kann man ruhig so erzählen. Und wir haben alle unsere Flexibilität

trainiert, das wurde ja schon vor Corona auf dem Arbeitsmarkt

immer wichtiger. Statt in der Uni oder der Berufsschule hat man

eben von zu Hause aus gelernt.

SPIEGEL: Sie haben gar nicht erwähnt, dass Corona

uns alle digitaler gemacht hat.

PILKUHN: Man kann natürlich auch betonen, mit welchen

Programmen man jetzt besonders sicher ist, klar. Aber die meisten

jungen Menschen konnten auch vorher schon gut digital arbeiten.

Ich glaube, da haben vor allem Ältere einen Sprung gemacht.

SPIEGEL: Das klang jetzt alles sehr positiv, aber wir

sprechen nun mal über eine weltweite Krise. Was,

wenn man gerade nicht selbstbewusst in Bewerbungsgespräche

gehen kann, weil man einfach verunsichert

ist nach diesen anderthalb Jahren?

PI LKUHN: Das Wort Selbstbewusstsein bedeutet ja, sich

über sich selbst bewusst zu sein. Es hilft also, sich vorher Fragen

zu stellen und die Antworten aufzuschreiben: Was kann ich richtig

gut? Und was will ich im Leben? Welche Werte sind für mich

wichtig? Was habe ich während der Pandemie gemacht? Und was

würde ich anders machen, wenn ich so eine Krise noch mal erlebe?

Diese Fragen kann man auch Freund:innen und in der Familie

stellen. Wenn man das für sich sortiert hat, kann man viel selbstbewusster

in ein Bewerbungsgespräch gehen.

SPIEGEL: Und wenn man gerade einfach keinen Job

findet?

PILKUHN: Dann sollte man unbedingt den Markt und die

eigene Branche analysieren, um herauszufinden, wo gesucht wird.

Dafür kann man Podcasts hören, oder man liest einfach sehr viele

Stellenanzeigen. Und ich empfehle, nach den positiven Beispielen

zu suchen: die eine Kommilitonin, die gerade eine Festanstellung

bekommen hat, oder der eine Freund, der aus dem Praktikum

übernommen wurde. Die gibt es ja weiterhin! Es wurden trotz

Corona viele neue Jobs vergeben und Menschen neu eingearbeitet.

Wenn man da jemanden kennt, kann man nachfragen: Wie hast

du das geschafft? Davon kann man sich etwas abschauen.

14 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021


STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG

Eltern in einem Haushalt lebte. »Hätte ich dieses Umfeld

nicht gehabt, ich wäre wohl verrückt geworden.«

Forscher:innen der Universität Hildesheim haben

bereits im Sommer 2020 bundesweit mehr als 2000

Studierende zu ihrem Studienalltag in der Pandemie

befragt. Fast alle beklagten den Wegfall des sozialen

Austauschs: 79 Prozent der Befragten vermissten das

Campusleben, 82 Prozent fehlte der direkte Kontakt

zu anderen. Bei einer Neuauflage der Befragung im

Sommer 2021 stiegen die Werte sogar noch leicht, auf

jeweils mehr als 84 Prozent. Zwei Studien der Organisation

für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

ergaben zudem, dass sich in vielen Ländern

junge Erwachsene besonders einsam fühlten – und infolgedessen

überdurchschnittlich oft an Depressionen

oder Angststörungen erkrankten.

Martin Adam sagt, er habe viele dieser Studien

gekannt, als er im vergangenen Sommersemester an

der TU Darmstadt die Masterveranstaltung »Wohlbefinden

verbessern mit Data Analytics« startete. Adam

hat in Wirtschaftsinformatik promoviert und habilitiert

nun im Fachgebiet Information Systems und Electronic

Services. Auf die Idee, sich mit den Themen Glücklichsein

und mentaler Gesundheit zu beschäftigen, sei

er durch die Vorlesungen der US-amerikanischen Psychologieprofessorin

Laurie Santos gekommen. Die hatte

mit ihrem Kurs über die »Wissenschaft des Wohl -

Studentin Mol,

Töchter:

»Sogar meine

Noten sind besser

geworden«

befindens« in den vergangenen Jahren mehrere Tausend

Studierende begeistert. In der Pandemie wurde

die Aufzeichnung des Kurses auf der ganzen Welt mehr

als eine Million Mal geklickt – und damit zum gefragtesten

Onlineangebot in der 300-jährigen Geschichte

der Yale University.

»Dass Angebote zur mentalen Gesundheit gefragt

sind, wusste ich: Das Thema liegt im Trend«, sagt

Adam. »Viele junge Menschen fragen sich, was sie

glücklich macht und was ihrem Leben einen Sinn verleiht

– gerade in Zeiten, in denen durch die Pandemie

der gewohnte Alltag und viele soziale Kontakte von

jetzt auf gleich weggebrochen sind.« Der 30-Jährige

rechnete dementsprechend mit Interesse vonseiten der

Studierenden – wie stark dieses sein würde, ahnte er

allerdings nicht. »40 Teilnehmende hätten mich schon

sehr gefreut, 80 wären ein enormer Erfolg gewesen«,

sagt er, »am Ende waren es fast 120.« Darunter seien

nicht nur angehende Wirtschaftsinformatiker:innen

gewesen, sondern auch Studierende aus Fächern wie

BWL, Pädagogik und Psychologie.

Auch an anderen Hochschulen gewinnt das Thema

Wohlbefinden offenbar an Bedeutung. Das Studierendenwerk

der Universität Heidelberg etwa eröffnete

im Februar dieses Jahres ein Referat gegen Einsamkeit.

Werden Hochschulen künftig also mehr sein als reine

Orte der Wissensvermittlung? Werden Lehrende die

psychische Gesundheit ihrer Studierenden ebenso im

Blick haben wie die Inhalte der nächsten Vorlesung?

Dozent Martin Adam kann sich gut vorstellen,

dass das Thema Wohlbefinden an Universitäten künftig

an Relevanz gewinnen wird. »Die psychische Gesundheit

der Studierenden ist durch die Pandemie

mehr in den Fokus gerückt«, sagt er. Und auch Betty

Lohmeyer hat das Gefühl, dass die einst floskelhafte

Frage »Wie geht es dir?« in den vergangenen Monaten

an Ernsthaftigkeit gewonnen hat. »Man interessiert

sich plötzlich mehr füreinander«, sagt sie. Dadurch sei

es leichter geworden, offen zu sagen, wenn es einem

mal nicht gut gehe. Eine Art neue Ehrlichkeit also. Die

will Lohmeyer sich bewahren – nicht zuletzt für ihre

Arbeit in der Politik.

Die Pandemie hat das Leben und den Alltag von

knapp drei Millionen Studierenden auf den Kopf gestellt.

Vieles, was in den vergangenen anderthalb Jahren

passiert ist, war gewöhnungsbedürftig, einiges anstrengend

und manches schlichtweg nicht zumutbar.

Doch nicht alles – das kann man rückblickend sagen –

war schlecht. Ob die Onlinelehre von jetzt an ein fester

Teil der Vorlesungsverzeichnisse sein wird, ob Studierende

künftig mehr gehört werden, auch weil sie sich

lauter zu Wort melden, ob an den Hochschulen bald

wirklich mehr aufeinander geachtet wird – all das wird

sich in den kommenden Semestern zeigen. Fest steht:

Corona hat einen Anstoß für Veränderungen gegeben,

die zum Teil längst überfällig waren. Fest steht auch:

Die Pandemie hat Studierenden gezeigt, zu welchen

Leistungen sie in einer Ausnahmesituation fähig sind.

Und das ist eine Erfahrung, die ihnen auch nach dem

Hochschulabschluss helfen wird.

SCHREIB UNS

Welche Erfahrungen hast du in der Pandemie

an der Uni gemacht? Was hat dich gestört

und belastet – und was lief gut? Schreib uns:

spiegel-start@spiegel.de

Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 15


STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG

ZWISCHEN

PETTERSON UND

KÜCHENTISCH

Drei Semester lang waren die Hochschulen dicht, zum Teil sitzen Studierende

immer noch im Homeoffice. Vier von ihnen zeigen,

wie sie auf beengtem Raum lernen – und erzählen, was sie hoffen lässt.

TEXT KATHARINA HÖLTER

FOTOS PHILIPP REISS

BADRIEH WANLI, 31, STUDIERT

DEUTSCH UND KUNST AUF

LEHRAMT AN DER HOCHSCHULE FÜR

BILDENDE KÜNSTE UND

AN DER UNIVERSITÄT HAMBURG.

»Ich habe zwei Kinder, mein Sohn ist fünf, meine Tochter drei.

Mein Freund arbeitet als selbstständiger Kameraassistent. Wenn

er zu einem Dreh muss, erfährt er das oft sehr spontan. Es gab

während des Shutdowns Tage, an denen er die Kinder betreuen

und ich mich ganz aufs Studium konzentrieren konnte, an anderen

musste ich wissenschaftliche Texte durcharbeiten und parallel ›Pettersson

und Findus‹ gucken. Wenn die Kinder herumrannten und

an mir hingen, war an Studieren nicht zu denken. Oft habe ich

abends und nachts gearbeitet, mich in mein Atelier zurückgezogen.

Aus dem Shutdown habe ich gelernt, dass meine Ressourcen

nicht unerschöpflich sind. Immer eine überdurchschnittliche

Studentin und gute Mutter zu sein, ging nicht mehr so einfach

parallel. Wenn ich an den Winter denke, habe ich Bauchschmerzen.

Im Moment gehen die Kinder in die Kita, aber sicherlich steht

uns wieder eine Schließung oder die ein oder andere Quarantäne

bevor. Jetzt immer leichtfertiger mit den Maßnahmen umzugehen,

zeigt, dass Kinder in unserer Gesellschaft und bei den politischen

Entscheidungen einen sehr geringen Stellenwert haben.«

16 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021


STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG

BEKHAN ZUBAJRAEV, 24, STUDIERT

MODEDESIGN AN DER AKADEMIE

FÜR MODE, DESIGN, KOMMUNIKATION

UND MANAGEMENT IN HAMBURG.

»Mein Studium hat einen großen Praxisanteil, wir haben

beispielsweise Näh- und Schnittunterricht. Beides aus der eigenen

Wohnung zu lernen, war echt eine Herausforderung. Aber unsere

Hochschule hat das prima organisiert! Die Dozierenden haben

drei, vier Kameras installiert, damit man ihre Arbeit aus jeder

Perspektive beobachten kann. Einige meiner Kommiliton:innen

arbeiteten nach vorheriger Anmeldung an den Nähmaschinen in

der Hochschule, ich habe mir eine eigene für zu Hause gekauft.

Im Shutdown habe ich gelernt, meine Zeit mehr wertzuschätzen

– und besser zu nutzen. Statt Bus und Bahn zur Uni zu fahren,

konnte ich Unterrichtsstoff vorbereiten und an eigenen Designs

weiterarbeiten, zum Beispiel an meinen Bauchtaschen aus altem

PVC-Boden. Mein Wintersemester verbringe ich in Amsterdam.

Dort absolviere ich ein sechsmonatiges Praktikum – zum Glück

in Präsenz. Es ist schön, das Erlernte in der realen Modebranche

anwenden zu können.«

Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 17


STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG

»Ich bin sehr froh, meine Instrumente als Ausgleich zu den

Onlinevorlesungen zu haben. Ich schaue nicht den ganzen Tag

auf einen Bildschirm, das ist ein großes Privileg. Bei uns fand auch

während des Shutdowns noch Präsenzunterricht statt: In Klavier

und Gesang wurde ich von jeweils einem Dozenten unterrichtet –

auf Abstand, mit einer großen Plastikscheibe zwischen uns.

Zum Ende des Sommers hatten wir immer mehr Kurse vor

Ort. Ich hoffe, das bleibt auch im Winter so. Mir ist klar geworden,

wie wichtig der direkte Austausch mit anderen Studierenden ist.

Allein zu Hause fällt es mir schwer, mich zu motivieren. Allerdings

habe ich mich auch weniger ablenken lassen, als keine Konzerte

und Festivals stattfanden. Das war gut und schlecht zugleich.«

ALENA BORG, 22, STUDIERT MUSIK

AN DER HOCHSCHULE FÜR

MUSIK UND THEATER IN HAMBURG.

18 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021


STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG

ARNDT STEINACKER, 31, STUDIERT

SOZIALE ARBEIT AN DER

HOCHSCHULE FÜR ANGEWANDTE

WISSENSCHAFTEN IN HAMBURG.

»Corona hat dazu geführt, dass viele ihren Alltagstrott hinterfragt

haben. Wie viel Raum sollen Studium und Arbeit wirklich

einnehmen? Ich betreibe ein eigenes Café, das trotz Shutdown

immer gut angenommen wurde. Meine Freundin Luisa und ich

haben unsere Prioritäten trotzdem verschoben – weg vom Lernund

Arbeitsstress. Seit vergangenem Jahr haben wir einen Hund,

im November werden wir Eltern. Uns hat Corona noch enger zusammengeschweißt.

Für das Wintersemester plant meine Hochschule

hybride Veranstaltungen, die sowohl vor Ort als auch online

verfolgt werden können. Das Modell ermöglicht uns Studierenden

mehr Flexibilität und eine freiere Lebensgestaltung, auch nach

Corona. Das kommt mir sehr entgegen.«

Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 19


STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG

JOBS MIT ZUKUNFT

Die Wirtschaft in Deutschland muss digitaler und grüner

werden, da sind sich die Fachleute einig. Was bedeutet das für diejenigen,

die jetzt ihre Ausbildung und Karriere planen?

Wir erklären, wo es Stellen gibt – und wer sie bekommt.

TEXT FLORIAN GONTEK UND KATHARINA HÖLTER

FOTOS SEBASTIAN LOCK UND MARINA WEIGL

Wenn Sarah Julia Kriesch von ihrer letzten Vertragsverhandlung

erzählt, klingt das ein bisschen nach Profi -

fußball. Um ein Talent wie Kriesch zu sich zu holen,

lockte der Arbeitgeber mit allerlei Prämien: unbefristete

Vertragslaufzeit; Stundenzahl nach Absprache flexibel

anpassbar; Weiterbildungsangebote während der

Arbeitszeit; Nachlass auf die hauseigenen Unternehmensaktien;

und ein Gehalt, das auch ohne Boni schon

bei mehr als 4500 Euro brutto pro Monat liegt.

Das alles dafür, dass Kriesch anderen dabei hilft,

digitaler zu werden. Die 34-Jährige arbeitet als IT-Beraterin

bei einer Consultingfirma in Nürnberg. Ihr Job

ist es, Unternehmen bei Cloud-Lösungen zu unterstützen,

also deren digitale Infrastruktur zu optimieren.

Und das Beste, wie Kriesch findet: An bis zu acht

Stunden in der Woche könne sie ihrer Leidenschaft

nachgehen, der Linux-Programmierung. Linux ist ein

alternatives Betriebssystem, etwa zu Windows oder

macOS, und eines der bekanntesten Open-Source-Projekte.

Die Arbeit daran habe mit ihrem Job zwar

eigentlich wenig zu tun, sagt Kriesch. Aber ihr Arbeitgeber

bezahle sie für etwas, das der Allgemeinheit

dient – und seine Mitarbeiterin glücklich macht. »An

einem Tag in der Woche kann ich mich frei entfalten,

meinen Interessen nachgehen, mich austauschen und

zugleich etwas für das Gemeinwohl tun – für mich ist

das gerade perfekt.«

Die Stelle passt zu Kriesch, Kriesch passt zu

ihrer Stelle. Ein Match. Doch viele andere Berufseinsteiger:innen

müssen dieses Match noch finden – in

einer Zeit, in der sich Wirtschaft und Gesellschaft verändern.

Fragt man Expert:innen, welche Trends den

Arbeitsmarkt der Zukunft bestimmen werden, fallen

immer wieder zwei Schlagwörter – Digitalisierung und

Dekarbonisierung. Was bedeutet: Es wird Menschen

wie Sarah Julia Kriesch brauchen, die digitale Programme

entwickeln und mit großen Datenmengen umgehen

können. Und solche, die dafür sorgen, dass sich

die CO 2 -Bilanz von Unternehmen, Kommunen und

Dienstleistungen verbessert.

Beides war eigentlich längst klar, doch die Krisen

und Katastrophen der vergangenen beiden Jahre haben

die Dringlichkeit der Veränderung offenbart: Die

Coronapandemie hat gezeigt, dass Deutschland dringend

digitaler werden muss. Wenn Menschen

zu Hause lernen und arbeiten

wollen, brauchen sie stabiles Internet

und verlässliche Software. Wenn Gesundheitsämter

Infektionsketten nachvollziehen

müssen, sind digitale Daten

wichtiger als ausgedrucktes Papier. Und

spätestens seit der Flutkatastrophe im

Sommer ist klar: Die Klimakrise ist in

Deutschland angekommen. Auch sie

verlangt nach einem Umdenken – und

nach neuen Jobs.

Doch was bedeutet das in der Praxis?

Wo werden Schulabgänger:innen,

Azubis und Studierende gebraucht? Wo finden sie

künftig Stellen? Und was müssen sie dafür können?

1. DIGITALISIERUNG

Dass Sarah Julia Kriesch einmal in der IT landen würde,

zeichnete sich früh ab. Sie sei schon in der Schule

technikinteressiert gewesen, habe regelmäßig bei

»Jugend forscht« mitgemacht, erzählt sie. Ihr sei auch

immer wichtig gewesen, mit ihrem Beruf eine Familie

ernähren zu können. Nach dem Schulabschluss machte

sie erst eine Ausbildung zur Fachinformatikerin, nach

vier Jahren im Job folgte das Informatikstudium an

der Technischen Hochschule Nürnberg.

Noch bevor Kriesch ihre Bachelorarbeit einreichte,

hatte sie ihren ersten Arbeitsvertrag unterschrieben,

bei einem Tech-Konzern in Böblingen. Und selbst als

sie schon nach fünf Monaten wieder einen Job suchte,

weil das Unternehmen wegen der Coronakrise

umstrukturieren musste und Kriesch der Unsicherheit

»Wir werden

Personal brauchen,

das ein digitales

Grundverständnis

mitbringt.«

Rainer Strack,

Boston Consulting Group

IT-Expertin Kriesch:

»An einem Tag in

der Woche kann ich

mich frei entfalten,

meinen Interessen

nachgehen und

zugleich etwas für

das Gemeinwohl

tun«

20 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021

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STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG

22 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021


STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG

DIGITALER BOOM

Studierende* in Deutschland in ausgewählten Informatikstudiengängen

150 000

100 000

50 000

0

WS

2010/2011

WS

13/14

WS

16/17

* jeweils nach erstem angegebenen Studienfach

S Quelle: Destatis

»Bestehende

Berufe entwickeln

sich in eine

grüne Richtung.«

Markus Janser,

Institut für Arbeitsmarktund

Berufsforschung

Klimaschutz -

manager Borscz:

»Ich wollte etwas

Positives zur Welt

beitragen, etwas

Sinnvolles tun.

Das mache ich jetzt

in meinem Job«

WS

19/20

Informatik

Wirtschaftsinformatik

Medieninformatik

Bioinformatik

Computerlinguistik

entgehen wollte, dauerte es keine zwei Wochen bis

zum neuen Vertrag, dem mit den vielen Prämien.

Auch in Zukunft wird Kriesch sich ihren Arbeitgeber

wohl frei aussuchen können. Fast täglich erhalte

sie über Xing oder LinkedIn neue Jobanfragen, erzählt

sie. Erst einmal sei sie aber glücklich: »Mir ist wichtig,

dass ich mich ständig weiterentwickeln kann«, sagt

sie, das sei in ihrem aktuellen Job der Fall.

Kriesch wird hofiert, weil sie eine

seltene Ausbildung hat – zu selten,

wenn es nach dem Bedarf am Arbeitsmarkt

geht. Eine Modellberechnung der

Unternehmensberatung Boston Consulting

Group (BCG) geht davon aus, dass

2030 allein in Deutschland etwa eine

Million IT-Fachkräfte fehlen könnten,

darunter beispielsweise Cyber-Security-

Analyst:innen oder Data-Scientists.

Dem Dekra-Arbeitsmarktreport zufolge

richtet sich schon jetzt jede zehnte Stellenanzeige

an IT-Fachkräfte. Sogar in

der Coronakrise ist die Branche gewachsen: Laut Pro -

gnosen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufs -

forschung (IAB) dürften 2021 rund 40 000 Stellen im

IT-Bereich dazukommen.

Zwar stieg in den vergangenen Jahren auch die

Zahl derer, die Informatik oder ein verwandtes Fach

studieren. Unter den Top 20 aller Studienabschlüsse

lag Informatik im Jahr 2019 trotzdem gerade mal auf

Platz 6, Wirtschaftsinformatik auf Platz 16. Betrachtet

man nur Frauen, tauchen beide Fächer gar nicht auf –

ein Problem bei einer so hohen Nachfrage nach Fachkräften.

Schon seit Jahren versuchen Politik, Verbände

und Unternehmen, MINT-Studienfächer attraktiver

zu machen, gerade für Frauen – bislang mit mäßigem

Erfolg. Aber, und das ist die gute Nachricht: Man muss

gar nicht unbedingt Informatik studiert haben, um von

dem Boom zu profitieren.

Aus Sicht von Rainer Strack, Senior Partner bei

BCG, könnten sogenannte Micro-Credentials die Lösung

sein. Das sind akademische Abschlüsse, die man

mit geringem zeitlichen Aufwand und oft online absolvieren

kann, etwa nach dem eigentlichen Studium

oder parallel zum Job. »Wir werden sogenannte Brückenbauer:innen

brauchen«, sagt Strack. »Damit

meine ich Personal in einem klassischen Beruf, das zusätzlich

ein digitales Grundverständnis mitbringt.«

Zum Beispiel könnten Mediziner:innen sich nach ihrem

Studium noch Kenntnisse in künstlicher Intelligenz

oder Big Data aneignen und diese dann in ihrem

Job anwenden. Karrierewege seien in der Vergangenheit

oft starr verlaufen, der Fachkräftemangel und die

Digitalisierung aber verlangten nach Flexibilität, nach

cross-ausgebildetem Personal, sagt Strack. Dafür spricht

auch eine neue Vorgabe für alle anerkannten Ausbildungsberufe:

Seit August dieses Jahres müssen vier

Punkte Teil jeder Ausbildung sein, neben Berufsbildung

und Sicherheit bei der Arbeit auch »Digitalisierte Arbeitswelt«

– und »Umweltschutz und Nachhaltigkeit«.

2. DEKARBONISIERUNG

Damit trägt die neue Ausbildungsvorgabe auch dem

zweiten Megatrend auf dem Arbeitsmarkt Rechnung,

dem Bedarf nach Dekarbonisierung. In anderen Worten:

Eine Welt, die gegen die Klimakrise kämpft,

braucht grüne Jobs.

Felix Borscz hat so einen grünen Job. Seit Anfang

des Jahres arbeitet der 27-Jährige als Klimaschutzmanager

bei der Stadt Gummersbach, knapp

eine Auto stunde von Köln entfernt. Den Beruf habe

er nicht gewählt, weil ihm an einer besonders steilen

Karriere gelegen war, sagt Borscz. Sein Antrieb: sich

mit seinen Fähigkeiten bestmöglich für die Gesellschaft

einbringen. »Ich wollte etwas Positives zur Welt

beitragen, etwas Sinnvolles tun. Das mache ich jetzt

in meinem Job.«

Auch Borscz hat sein Match gefunden. Als Klimaschutzmanager

entwickelt er für Gummersbach ein

städtisches Mobilitätskonzept, er kämpft um Budgets

für fahrradfreundliche Straßen und organisiert Pedelec-Trainings,

damit mehr Menschen mit dem E-Bike

zur Arbeit fahren. Man habe lange nach einer geeigneten

Person gesucht, heißt es von der Stadt, gute Bewerber:innen

seien selten. Borscz habe sie sofort überzeugt.

Und so trat er kurz nach seinem Masterabschluss in

Umweltingenieurwesen die Stelle in Gummersbach an.

Wie groß der Bedarf nach Know-how in Sachen

Nachhaltigkeit auf dem Arbeitsmarkt tatsächlich ist,

GUTE ZEITEN,

SCHLECHTE ZEITEN

Beschäftigte nach Branchen, Veränderung 2021

gegenüber 2020 in Tausend, Prognose

Öffentlicher Dienst,

Erziehung, Gesundheit

Gesamt

IT

+41

Bau +29

Land- und Forstwirtschaft,

Fischerei

+2

Grundstücks- und

Wohnungswesen +1

−93

−53

−4

−14

−33

S Quelle: IAB; Stand: März 2021

+66

Finanzwirtschaft

+190

Sonstige Dienstleister

Handel, Verkehr,

Gastgewerbe

Unternehmensdienstleister

Produzierendes Gewerbe

ohne Bau

Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 23


STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG

UMWELTEXPERT:INNEN GESUCHT!

Studierende* in Deutschland in ausgewählten Umweltstudiengängen

10 000

8000

6000

4000

2000

0

WS

2010/2011

WS

12/13

WS

14/15

WS

16/17

WS

18/19

WS

20/21

Umwelttechnik

Regenerative

Energien

Umweltschutz

Naturschutz

Geoökologie

* jeweils nach erstem angegebenen Studienfach; ab Wintersemester 2012/2013 bei den sehr jungen

Studiengängen Geoökologie und Regenerative Energien

S Quelle: Destatis

dazu gibt es deutlich weniger Statistiken als im IT-Bereich.

Aber es gibt Anhaltspunkte: Gummersbach etwa

ist nicht die einzige Kommune, die sich einen Experten

wie Borscz leistet. Laut Bundesumweltministerium

gibt es in Kreisen, Städten und Kommunen mittlerweile

mehr als 1000 solcher Stellen.

Auch Markus Janser hat gezeigt, dass es einen

Trend zu grünen Jobs gibt. Der Soziologe untersucht

am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung

(IAB), wie sich Umwelt- und Klimapolitik auf den Arbeitsmarkt

auswirken. Bereits 2018 hat er die Beschreibungen

von knapp 4000 Berufen auf dem Portal der

Bundesagentur für Arbeit ausgewertet. Das Ergebnis:

Zwischen 2012 und 2016 stieg die Anzahl von Berufen

mit einem oder mehreren grünen Inhalten, und zwar

um 14 Prozent. Bald werden neue Zahlen veröffentlicht,

und – so viel kann Janser schon jetzt sagen – der

Trend setzt sich fort. Neben der klassischen Ausbildung

zur Kfz-Mechatroniker:in gibt es inzwischen beispielsweise

auch eine zur »Kraftfahrzeugmechatroniker:in

für System- und Hochvolttechnik«, in anderen Worten:

für Elektroautos.

Ob es in der deutschen Hochschullandschaft eine

ähnliche Entwicklung hin zu mehr Grün gibt, dazu hat

das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) keine

aktuellen Zahlen. Fest steht: Es gibt Dutzende Studien -

gänge mit Nachhaltigkeitsschwerpunkt. Das Statistische

Bundesamt zum Beispiel führt Umweltschutz, Umwelttechnik,

Naturschutz, Geoökologie oder Regenerative

Energien. In manchen davon steigt die Zahl der Studie -

renden, in anderen geht sie zurück – einen eindeutigen

Trend gibt es nicht.

Doch ähnlich wie im IT-Bereich gilt: Man muss

nicht unbedingt einen grünen Studiengang oder eine

grüne Ausbildung absolviert haben, um danach einen

grünen Job zu machen. »Es entstehen nicht zwingend

neue Berufe«, sagt IAB-Forscher Janser, »vielmehr

entwickeln sich bestehende Berufe in eine grüne Richtung«

– mit zusätzlichen Kompetenzen.

Unter Borsczs Kommiliton:innen gibt es welche,

die nach dem Abschluss in die Verkehrsplanung gegangen

sind oder in die Baubranche, andere verkaufen

nachhaltige Mode. »Man kann in so vielen Bereichen

arbeiten«, sagt Borscz, »Angst, keinen Job zu finden,

hatte eigentlich niemand.« Er selbst habe sich bewusst

für den öffentlichen Dienst entschieden: »Man muss

zwar in Kauf nehmen, dass die Strukturen in der Verwaltung

nicht die flexibelsten sind. Dafür habe ich bei

der inhaltlichen Ausgestaltung meiner Tätigkeit relativ

viel Spielraum.« Sein Arbeitsvertrag ist unbefristet;

mit den 39 Wochenstunden, die im zugehörigen Tarifvertrag

stehen, sei er bislang immer gut hingekommen.

Auch das Gehalt sei in Ordnung: Borscz verdient

knapp 4000 Euro brutto im Monat.

Bis Ende des Jahres fördert das Bundesumweltministerium

die Posten von Klimaschutzmanager: -

innen wie Borscz mit 75 bis 100 Prozent der Personalkosten.

Doch auch wenn die Finanzierung auslaufe:

Sein Job werde in Zukunft keineswegs verschwinden,

sondern vielmehr noch wichtiger werden, sagt Borscz.

»Die Klimakrise wird nicht vorbeigehen, das ist leider

so.« Seine ehemalige Hochschule gibt ihm recht: Die

Berufsperspektiven für Umweltingenieur:innen seien

aktuell sehr gut und würden künftig noch besser, heißt

es auf der Website.

MICRO-CREDENTIALS

Was ist das? Micro-Credentials – auch Microdegrees oder

Nanodegrees genannt – sind Angebote von Hochschulen oder

privaten Bildungseinrichtungen, um Zusatzqualifikationen zu

erwerben. Man absolviert also kein vollständiges Studium,

sondern belegt kleine Studienabschnitte, die einen Teilaspekt

behandeln, etwa eine Programmiersprache. Besonders viele

Micro-Credentials gibt es im IT-Bereich, es entstehen derzeit

aber Kurse in allen Fachbereichen, meist digital, manchmal

auch in Präsenz.

Wozu? Micro-Credentials sollen lebenslanges Lernen und

Quereinstiege fördern. Sie richten sich aber auch an Schul -

absolvent:innen, die damit einen Einblick ins Studium gewinnen

können.

Welche Anbieter gibt es? Zu den renommiertesten Anbietern

zählen Udacity, Coursera und edX. Dahinter stecken Universitäten

wie Stanford, Harvard oder das Massachusetts

Institute of Technology (MIT). In Deutschland arbeiten zum

Beispiel die RWTH Aachen oder die LMU München mit.

Wie lange dauert das? Je nach Kurs in der Regel zwischen

25 und 180 Stunden.

Wie teuer ist das? Das hängt sehr von Dauer und Qualität

der Kurse ab, einige Angebote gibt es gratis, andere kosten

um die 1000 Euro.

Kann ich mir das auf ein Studium anrechnen lassen? Ja,

meist werden Micro-Credentials zumindest bei derselben

Hochschule anerkannt. Im Idealfall bekommt man auch Credit -

points – allerdings nicht besonders viele.

Gibt es einheitliche Standards? Noch nicht, die EU-Kommission

arbeitet aber an einer Liste von Qualitätsmerkmalen.

Worauf sollte man achten? Bevor man sich für ein Angebot

entscheidet, sollte man prüfen, ob dahinter eine öffentliche

oder eine anerkannte private Hochschule steckt. Das spricht

für gute inhaltliche Qualität, außerdem erkennen Arbeitgeber

die Kurse eher an.

24 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021


KOLUMNE: MEIN ERSTES JAHR IM JOB

»Ich erlebe

Weltpolitik

hautnah«

In jeder Ausgabe von SPIEGEL START

erzählen Berufsanfänger:innen von ihren

ersten Erfahrungen im Job. Nardine

Luca, 26, arbeitet als Projektmanagerin bei

der Münchner Sicherheitskonferenz.

N

ach dem Abitur wollte ich lernen, wie in anderen Ländern

Politik gemacht wird. Deshalb zog ich für mein

Studium nach Deutschland. Danach wollte ich eigentlich

in meine Heimat Ägypten zurückkehren und Poli -

tikerin werden. Doch ich blieb – und fand hier einen

Job, bei dem ich nicht nur zuschauen, sondern aktiv mitgestalten

kann.

Ich bin in Kairo geboren und aufgewachsen.

Dort habe ich eine deutsche Schule

besucht. Mein Vater arbeitet für eine deutsche

Firma und war überzeugt, dass mir die

Sprache nützen würde. Ich war in der zehnten

Klasse, als 2011 die ägyptische Revolution

begann, und fragte mich: Warum funktioniert

das mit der Demokratie in Ägypten

nicht – und wie machen es andere Länder?

Um das herauszufinden, beschloss ich, in

Deutschland Politikwissenschaft zu studieren.

An der Uni München machte ich einen

Bachelor in Politikwissenschaft und einen

deutsch-spanischen Doppelmaster in Internationalen

Beziehungen. Während dieser

Zeit änderten sich meine Pläne: Direkt nach

der Uni in die ägyptische Politik einzusteigen

schien mir nicht mehr allzu realistisch.

Außerdem hatte ich mich in Deutschland

gut eingelebt. Es kam mir sinnvoller vor,

erst einmal hier praktische Erfahrungen zu

sammeln.

Der Arbeitsmarkt für Politik-Absolvent:innen

war aber zunächst eine Enttäuschung.

Es ist ein Teufelskreis: Man muss Arbeitserfahrung haben,

um einen Job zu finden. Aber man muss einen Job finden, um Arbeitserfahrung

zu bekommen. Die wenigen interessanten Stellen

bei internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen

sind sehr begehrt – und erfordern oft finanzielle Aufopferung. Unbezahlte

Praktika werden in diesem Bereich leider häufig vorausgesetzt.

Innerhalb von drei Monaten verschickte ich 20 bis 25 Bewerbungen,

auch für Praktika oder Traineeships. Irgendwann stieß

ich auf eine Ausschreibung der Münchner Sicherheitskonferenz

Foto: Kuhlmann / MSC

AUFGEZEICHNET VON

HELENE FLACHSENBERG

für eine Projektassistenz. Als Münchnerin war mir die MSC natürlich

ein Begriff. Jedes Jahr, wenn die Hauptkonferenz stattfindet,

ist die Innenstadt abgesperrt und voller Polizist:innen, die dafür

sorgen, dass die Politiker:innen sich ungestört über Sicherheitspolitik

austauschen können. Viel mehr wusste ich damals allerdings

nicht.

Im Vorstellungsgespräch kam mir ein Zufall zugute. Wir sprachen

darüber, dass ich in Kairo aufgewachsen war. Eine Woche

später bekam ich einen Anruf von der MSC, ob ich schon im

nächsten Monat anfangen könne. Neben der Hauptkonferenz in

München veranstaltet die MSC regionale Core-Group-Meetings

zur Sicherheitspolitik einzelner Länder. Ein solches Meeting stand

kurz bevor – in Kairo. Und so wurde ich direkt ins kalte Wasser

geworfen.

Ich reiste als Projektassistentin nach Kairo, vor Ort übernahm

ich allerdings viel mehr Verantwortung als für diese Position üblich.

Schließlich beherrschte ich die Sprache – und ich kannte die Stadt,

das Land und die Kultur. Ich organisierte also Hotels und Transport,

suchte nach passenden Locations, durfte mich aber auch inhaltlich

einbringen. Beispielsweise schlug ich vor, wer sich als Moderator:in

eignen würde oder welche Teilnehmer:innen noch zu einem

Round Table eingeladen werden sollten. Das war zwar viel auf

einmal, aber es machte Spaß.

Nach dem Meeting bekam ich die ursprünglich anvisierte

Stelle als Projektassistentin bei der Hauptkonferenz in München.

Diese Stellen sind in der Regel befristet auf fünf bis sechs Monate.

In der Zeit um die Konferenz wächst das Team der MSC um 35

bis 50 Personen. Von diesen werden jedes Jahr einige ins Stammpersonal

übernommen. Ich war eine davon: Im Juni 2020 wurde

ich als Junior Projektmanagerin im Bereich Strategic Projects eingestellt.

Eine unbefristete Stelle, mitten in der Pandemie – darüber

freute ich mich sehr.

Von meinen Freund:innen aus der Uni fährt zwar niemand

Taxi, doch die Krise hat die Lage auf dem Arbeitsmarkt nicht unbedingt

verbessert. Auch das Gehalt war

im Vergleich zu anderen Junior-Stellen gut:

3200 Euro brutto, davon kann ich selbst in

München gut leben.

In meinem Job kümmere ich mich nun

um strategische Projekte. Das Ziel der MSC

ist es, eine Plattform für offenen Dialog bereitzustellen,

und dadurch Vertrauen zu

schaffen und zur friedlichen Lösung von globalen

Konflikten beizutragen. Ich helfe mit,

dieses Ziel zu verwirklichen. Zum Beispiel

organisiere ich Veranstaltungen wie Konzerte

oder Lesungen für die Münchner Bevölkerung

– damit wir nicht nur als die Veranstaltung

gesehen werden, für die ein Wochenende

lang die Innenstadt gesperrt wird.

Ich habe aber auch die Möglichkeit, mein

Wissen und meinen besonderen Fokus auf

Ägypten und Nordafrika einzubringen. Neulich

konnte ich unseren CEO davon überzeugen,

bei einer Podiumsdiskussion einer

afrikanischen Organisation teilzunehmen.

Ein Jahr nach meinem Arbeitsbeginn

wurde ich befördert, inzwischen bin ich Projektmanagerin,

ohne das »Junior«. Noch immer möchte ich irgendwann

nach Kairo zurück. Doch für den Moment ist mein Job

ideal: Ich erlebe Weltpoli tik hautnah.

Ich habe in Konferenzsälen mit Heiko Maas und Emmanuel

Macron gesessen, lerne unglaublich viel. Ich begreife, welche Akteur:innen

wichtig sind, mit wem man sprechen muss, damit Dinge

in Gang kommen. Und ich habe das Gefühl, in meiner Organisation

wirklich gehört zu werden und etwas zu bewirken. Das ist

beim ersten Job nicht selbstverständlich, denke ich – gerade als

Politikwissenschaftlerin.

Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 25


STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG

26 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021

Illustration: Lina Moreno


STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG

Gehaltsabrechnungen sind auf den ersten Blick schwer zu entziffern.

Doch wer sich nicht damit beschäftigt, verliert womöglich

unnötig Geld. Wir erklären, was hinter den vielen Abkürzungen steckt.

TEXT HENNING JAUERNIG

m Ende jedes Monats liegt sie im Briefkasten oder im

Firmenportal die Gehaltsabrechnung. Vielleicht überprüft

man kurz, ob das Gehalt mit dem übereinstimmt,

was im Arbeitsvertrag steht oder wirft einen Blick auf

die finale Auszahlung aufs Girokonto. Dann verschwindet der Zettel

im Ordner. Gerade für Berufseinsteiger:innen ist es aber wichtig,

sich die Abrechnung zumindest einmal im Jahr in Ruhe anzuschauen.

Schließlich geht unnötig Geld verloren, wenn bei der Berechnung

Fehler gemacht werden.

Doch was bedeuten die vielen Zahlen und Abkürzungen?

Das erklären wir hier anhand der Gehaltsabrechnung einer fikti -

ven Berufseinsteigerin: Marie. Sie ist 25 Jahre alt und arbeitet als

Bürokauffrau, von 2700 Euro brutto bleiben ihr etwas mehr als

1800 Euro netto.

1. Bruttobezüge

Marie verdient 2700 Euro brutto im Monat. Zusätzlich übernimmt

ihr Arbeitgeber die Kosten für ihr ÖPNV-Ticket in

Höhe von 25 Euro. Der Betrag wird zum Bruttogehalt addiert

und am Ende wieder vom Nettolohn abgezogen, weil der Arbeitgeber

die Zahlung dafür abwickelt (siehe Punkt 11). Da

das Ticket weniger als 44 Euro monatlich kostet, muss Marie

diesen sogenannten Sachbezug nicht versteuern.

2. Lohnsteuer

Von ihrem Bruttogehalt muss Marie 321 Euro Lohnsteuer zahlen

– es ist der größte Abzug, den die Berufseinsteigerin monatlich

verkraften muss. Als Single ist Marie der Lohnsteuerklasse

I zugeordnet. Die Höhe der Lohnsteuer hängt in

Deutschland außerdem von der Höhe des Einkommens ab:

Wer mehr verdient, muss auch mehr Steuern zahlen. Marie

zahlt bei einem Jahresbruttoeinkommen von 32400 Euro

rund 11,89 Prozent Lohnsteuer. 11,89 Prozent (Lohnsteuer) von

2700 Euro (Bruttoeinkommen) = 321 Euro

3. Kirchensteuer

Marie ist evangelisch, also muss sie Kirchensteuer zahlen. Die

Kirchen finanzieren mit diesem Geld etwa ihr Personal, den

Erhalt von Kirchen und karitative Zwecke wie Pflegedienste.

Die Höhe des Abzugs hängt zum einen vom Gehalt und zum

anderen vom Bundesland ab, in dem jemand arbeitet. Marie

arbeitet in Bayern: 8 Prozent (Kirchensteuer) von 321 Euro

(Lohnsteuer) = 25,68 Euro

4. Solidaritätszuschlag (Soli)

Zwischen 1991 und 2020 zahlten alle deutschen Arbeitnehmer:innen

einen Solidaritätszuschlag, Soli genannt. Er diente

als Zusatzabgabe, um die deutsche Einheit zu finanzieren.

Mit Beginn des neuen Jahres ist der Soli aber für die meisten

weggefallen – zumindest für die unteren 90 Prozent der Bevölkerung,

weitere 6,5 Prozent müssen ihn nur noch teilweise

zahlen. Lediglich auf sehr hohe Einkommen ist der Soli noch

unverändert fällig.

5. Steuerrechtliche Abzüge

Insgesamt belaufen sich Maries steuerrechtliche Abzüge da -

mit auf: 321 Euro (Lohnsteuer) + 25,68 Euro (Kirchensteuer)

= 346,68 Euro

6. Krankenversicherung (KV)

Die Krankenversicherung in Deutschland ist eine sogenannte

Pflichtversicherung, weil sie für alle Menschen gesetzlich vorgeschrieben

ist. Ab einer bestimmten Einkommensgrenze

kann man selbst entscheiden, ob man sich bei einer gesetz -

lichen oder einer privaten Krankenkasse versichert.

Marie ist gesetzlich versichert. Generell liegt der Beitragssatz

der Krankenversicherungen bei 14,6 Prozent, dazu

darf jede Krankenkasse einen individuellen Zusatzbeitrag verlangen.

Beide Beiträge – den gesetzlich festgesetzten und den

zusätzlichen – teilen sich Arbeitgeber:in und Arbeitnehmer:in

zu gleichen Anteilen. Maries Kasse erhebt einen Zusatzbeitrag

von 1,2 Prozent. Deshalb liegt der Gesamtbeitrag in ihrem

Fall bei 15,8 Prozent, sodass sie und ihr Arbeitgeber derzeit

jeweils 7,9 Prozent tragen. 7,9 Prozent (Krankenkassenbeitrag)

von 2700 Euro (Gehalt) = 213,30 Euro

7. Rentenversicherung (RV)

Deutsche Arbeitnehmer:innen sind verpflichtet, in die gesetzliche

Rentenversicherung einzuzahlen. Damit haben sie im

Alter einen Anspruch auf Rente. Marie zahlt dafür einen Beitrag

von 9,3 Prozent ihres Bruttolohns, ihr Arbeitgeber zahlt

den Betrag in gleicher Höhe. Sie teilen sich also die insgesamt

18,6 Prozent Rentenbeitragssatz zu gleichen Teilen. 9,3 Prozent

(Beitrag für die Rentenversicherung) von 2700 Euro (Gehalt)

= 251,10 Euro

8. Arbeitslosenversicherung (AV)

Damit Marie im Falle der Arbeitslosigkeit abgesichert ist und

Arbeitslosengeld beziehen kann, muss sie monatlich einen

Beitrag in Höhe von 1,2 Prozent für die Arbeitslosenversicherung

zahlen. Auch hier übernimmt ihr Arbeitgeber die andere

Hälfte der insgesamt 2,4 Prozent. 1,2 Prozent (Beitrag zur Arbeitslosenversicherung)

von 2700 Euro (Gehalt) = 32,40 Euro

9. Pflegeversicherung (PV)

Wer irgendwann einmal pflegebedürftig wird, braucht Hilfe.

Deshalb gibt es die Pflegeversicherung. Der Beitragssatz beträgt

derzeit grundsätzlich 3,05 Prozent. Allerdings gibt es

zusätzlich noch einen besonderen Beitragssatz für Kinderlose

in der Pflegeversicherung. Weil Marie keine Kinder hat, liegt

ihr Beitragssatz bei 3,55 Prozent. Auch diese Beiträge teilen

sich Marie und ihr Arbeitgeber. Von den 3,55 Prozent muss

Marie also 1,775 Prozent bezahlen. 1,775 Prozent (Beitrag zur

Pflegeversicherung) von 2700 Euro (Gehalt) = 47,93 Euro

10. Sozialversicherungsrechtliche Abzüge

(SV-rechtliche Abzüge)

Insgesamt belaufen sich Maries sozialversicherungsrechtliche

Abzüge damit auf: 213,30 Euro (Krankenversicherung) +

251,10 Euro (Rentenversicherung) + 32,40 Euro (Arbeitslosenversicherung)

+ 47,93 Euro (Pflegeversicherung) = 544,73 Euro

11. Auszahlungsbetrag

Damit bleibt Marie ein Nettoeinkommen von 1833,59 Euro.

Davon werden die Kosten für das ÖPNV-Ticket abgezogen

(siehe Punkt 1). Am Monatsende bekommt Marie also 1808,59

Euro auf ihr Konto überwiesen.

Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 27


STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG

Irgendwo zwischen Hamburg

und Lüneburg ging

meine Motivation verloren

Einfach im gewohnten Umfeld bleiben und nicht

in die Unistadt ziehen – schon lange vor der

Coronapandemie hielt ich das für eine hervorragende

Idee. Heute, 15 Semester später, weiß ich es besser.

TEXT PER HORSTMANN

I

ch war 21 und ein Jahr zuvor für einen Freiwilligendienst

nach Hamburg gezogen. Ich

mochte die Stadt, hatte dort gute Freunde

gefunden und wollte auch für mein Studium

bleiben. Das Problem: Mein Wunschstudiengang

– Kulturwissenschaften – wurde in

Hamburg nicht angeboten. Die nächste Uni,

an der ich mich einschreiben konnte, lag im 50 Kilometer

entfernten Lüneburg. Dahin kann man pendeln,

dachte ich, die Regionalbahn fährt jede Stunde.

Jetzt, 15 Semester später, denke ich anders.

So gut wie jeder Studiengang hat wohl Teilnehmende,

die nicht vor Ort wohnen. Manche finden keine

bezahlbare Wohnung in überrannten Hochschulstädten,

andere entscheiden sich bewusst, die Sicherheit

des Elternhauses nicht zu verlassen. Gerade in

der Coronapandemie, wo Wohnheime verwaist waren

und Vorlesungen online stattfanden, schien das Long-

Distance-Studium oft die beste Option zu sein – praktischer,

günstiger, weniger einsam.

Aber ist es auch ein Konzept für die Zeit nach

Corona? Sollten wir weiterhin leben, wo wir uns verwurzelt

fühlen, statt wieder den Sprung in die Unistadt

zu machen? Aus meiner persönlichen Erfahrung muss

ich leider sagen: nicht unbedingt. Gerade wenn man

nicht der zielstrebigste Student ist.

Meine Probleme mit dem Pendeln begannen

schon mit der Fahrt. 30 Minuten in der Regionalbahn

sind nicht viel, aber dazu kamen noch der Weg mit

der S-Bahn zum Hamburger Hauptbahnhof, in Lüneburg

ging es mit einem Shuttlebus weiter zum Campus.

Von meiner Wohnung in den Hörsaal brauchte ich

rund eineinhalb Stunden – und ich musste auch wieder

zurück.

Um den Pendelaufwand möglichst gering zu halten,

versuchte ich, meinen Stundenplan so zu gestalten,

dass ich nur zwei- bis dreimal die Woche in die Uni

fahren musste. Nur planten die Dozierenden ihre Veranstaltungen

leider nicht danach, ob möglichst viele

für mich interessante Sachen an einem Tag lagen. Die

Alternative: nur nach Terminen auswählen und nicht

nach Inhalten.

Ich hatte mein Fach vor allem deshalb ausgesucht,

weil es so vielseitig ist und viele Freiheiten in der Organisation

lässt. Jetzt aber belegte ich Kurse zum Teil

nur, weil sie zufällig vor oder nach einem Seminar

stattfanden, für das ich schon an der Uni war. Einige

Veranstaltungen kamen allein deshalb nicht infrage,

weil sie an einem Freitagmittag oder Montagmorgen

lagen. Was ich lernte, womit ich mich über Wochen

und Monate beschäftigte, wurde plötzlich maßgeblich

vom sehr pragmatischen Faktor Pendeln bestimmt.

28 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021

Foto: Helene Flachsenberg / DER SPIEGEL


STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG

»IRGENDWANN KONNTE

ICH MICH NICHT

MAL MEHR AUFRAFFEN,

ZU DEN SEMINAREN ZU

FAHREN.«

Das Pendeln als

Prüfung: Autor

Horstmann

am Bahnhof in

Hamburg

Natürlich hatte ich meine Entscheidung freiwillig

getroffen, und es gab gute Gründe, in Hamburg

zu bleiben. Hauptsächlich waren das die Menschen,

die ich in meinem ersten Jahr dort kennengelernt hat -

te und die heute noch zu meinen engsten Freunden

zählen.

Doch wenn ich abends in Hamburger Kneipen

saß, verpasste ich das Lüneburger Nachtleben. Die

Kontakte, die ich in der Uni knüpfte, beschränkten

sich auf die Pausen zwischen Veranstaltungen. Wenn

sich meine Kommiliton:innen am Montag gegenseitig

von WG-Partys erzählten, konnte ich nicht mitreden.

Das soziale Umfeld ist aber ein wichtiger Teil des

Studiums, wie etwa das Studierendensurvey der Universität

Konstanz zeigt. Zwischen 1982 und 2017 wurden

dafür Studierende an mehreren Hochschulen befragt.

Eines der Ergebnisse: Wer unzufrieden mit der

Anzahl der Kontakte zu Kommiliton:innen ist, bekommt

eher Probleme mit den Leistungsanforderungen

im Studium – und auch mit dessen Organisation. Laut

den Wissenschaftler:innen liegt das daran, dass der Austausch

über Inhalte und Struktur fehle.

Ich weiß genau, was sie damit meinen. Modulstrukturen

können verflucht kompliziert sein, Fristen

schnell vergessen werden. Gespräche mit anderen Studierenden

helfen, sich zurechtzufinden. Auch wenn

es manchmal nur beiläufige Fragen sind wie die, ob

man sich denn ebenfalls schon zur Prüfung angemeldet

habe – sie können Katastrophen verhindern.

Zum Glück hatte ich in der Einführungswoche einen

anderen Pendler kennengelernt. Wir trafen uns

regelmäßig am Hamburger Hauptbahnhof und fuhren

gemeinsam zur Uni. Nach kurzer Zeit kam noch eine

weitere Person hinzu, und wir wurden eine richtige

Gang: Wir lernten gemeinsam, gingen unter der Woche

zusammen in die Lüneburger Mensa und am Wochenende

in Hamburger Bars.

Doch irgendwann waren meine Pendlerfreunde

fertig mit dem Studium. Ich hatte mir herausgenommen,

auch mal eine Hausarbeit nicht zu schreiben,

wenn mich das Seminarthema nicht interessierte, und

hing deshalb etwas hinterher. Als ich schließlich kaum

noch jemanden an der Uni kannte, wurde ich immer

langsamer. Und einsamer. Ich hatte niemanden mehr,

mit dem ich Seminartexte oder Ideen für Hausarbeiten

besprechen konnte, ich führte keine Gespräche über

Uni-Themen, die mich motivierten und inspirierten.

Bloß in den Seminaren anwesend zu sein reichte nicht.

Irgendwann konnte ich mich nicht mal mehr aufraffen,

zu den Seminaren zu fahren. Wenn der Wecker

um acht Uhr klingelte und niemand am Hauptbahnhof

auf mich wartete, hatte ich immer häufiger das Gefühl,

dass es egal war, ob ich zur Uni fuhr oder nicht. Eine

Anwesenheitspflicht gab es in meinem Studiengang

nicht, jetzt fehlte auch noch die soziale Kontrolle. Also

blieb ich am Anfang ein paarmal und am Ende die

meiste Zeit liegen.

In meinem Studiengang waren beinahe alle Prüfungen

Hausarbeiten. Und die kann ich ja trotzdem

schreiben, sagte ich mir. Tatsächlich habe ich nur zwei

Hausarbeiten abgegeben, ohne regelmäßig im Seminar

gewesen zu sein. Bei allen anderen Arbeiten meldete

ich mich zwar zur Prüfung an, saß dann aber allein

vor Schriften zu negativer Dialektik oder Phänomenologie,

die ich schnell wieder zur Seite legte. Ich schob

die Prüfungen vor mir her, beschäftigte mich mit anderen

Dingen. Die Uni war ja in einer anderen Stadt

und ließ sich gut verdrängen.

Geändert hat sich das erst mit der Coronapandemie.

Sie hat das Studieren für mich einfacher gemacht.

Denn in den vergangenen Semestern war der

Weg zur Uni für alle ungefähr gleich weit: vom Bett

an den Schreibtisch. Es ist wirklich erstaunlich, wie

schnell ich plötzlich nicht nur wieder in den alten Themen

war, sondern auch neue Fragen und Gedankengänge

entwickelte. Ich hatte meinen Studiengang vor

Jahren ganz bewusst gewählt, ich brannte für die Inhalte,

und ich war gut darin. Aber irgendwo zwischen

Hamburg und Lüneburg war meine Motivation verloren

gegangen.

Inzwischen habe ich meine Bachelorarbeit abgegeben.

30 Seiten, in nur zwei Monaten hatte ich sie recherchiert

und geschrieben. Ich bekam sogar eine gute

Note dafür, aber das interessierte mich überhaupt nicht

– ich hatte es endlich geschafft. Und während ich allen

Studierenden wünsche, dass sie bald wieder in die Uni

dürfen, bin ich froh, dass ich nie wieder dorthin pendeln

muss.

Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 29



DON’T JUST JOIN A COMPANY.

JOIN THE GROUP.

Einen Arbeitsvertrag unterschreiben und karrieretechnisch durchstarten?

Kannst du überall. Was du nicht überall kannst: Teil einer starken Gruppe

werden, die an den großen Themen der Welt arbeitet. Das geht nur bei der

Group. Dafür suchen wir Talente aller Fachrichtungen, die in 2021 nicht nur

wachsen, sondern über sich hinauswachsen wollen. Ob du noch studierst,

frisch von der Uni kommst oder nach einer neuen Heraus forderung suchst:

Auf den Festeinstieg in der Group kannst du dich immer bewerben.

Entscheide selbst, welche Themen oder Branchen du vorantreiben und

welche Industrien oder Organisationen du kennenlernen möchtest.

Bist du bereit, mehr als nur einen Job anzufangen? Welcome to the Group.

Mehr unter: festeinstieg.bcg.de


WAS BETRIFFT MICH?

ILLUSTRATION ROSA AHLERS

32 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021


INTRO

Politik, Wirtschaft und

Gesellschaft

Die Bundestagswahl ist vorbei, die eigentliche Arbeit der nächsten Regierung beginnt.

Schließlich gilt es, Lösungen zu finden für die großen Herausforderungen unserer Zeit: Die

Digitalisierung muss endlich vorangetrieben werden, Deutschland braucht mehr

Chancengerechtigkeit, und die Klimakrise erfordert enormen gesellschaftlichen Wandel. Doch

was hat das alles mit uns zu tun? Um diese Frage geht es im zweiten Kapitel. Es trägt zusammen,

was Expert:innen von Politik und Wirtschaft fordern und was jede:r Einzelne tun kann.

Und es zeigt, dass es nicht immer einfache Antworten gibt – dass das aber auch in Ordnung ist.

Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 33


WAS GEHT ... IN POLITIK, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT

JOBMARKT

Corona-Tief überwunden

Nebenjobs wurden gekündigt, Ausbildungsverträge doch nicht

unterschrieben, Stellen gestrichen: Am Anfang der Corona -

pandemie erschien die Situation für junge Menschen auf dem

Arbeitsmarkt dramatisch.

Inzwischen hat sie sich aber wieder entspannt. Das zeigt

auch die Statistik zur Jugendarbeitslosigkeit: In den ersten Pandemiemonaten

stieg die Arbeitslosenquote bei unter den 25-

Jährigen stark an, auf 6,9 Prozent im August 2020. Seitdem ist

sie wieder gesunken, auf zuletzt 5,4 Prozent. Im Gegensatz zu

anderen Altersgruppen stellt die Bundesagentur für Arbeit keinen

Arbeitslosenquote bei Menschen unter 25 Jahren

und insgesamt, in Prozent

7

6

5

4

3

Jan

2020

IMMOBILIEN

Warum es immer schwerer wird,

das erste eigene Heim zu kaufen

D

ie

Beginn der Coronapandemie

Apr Juli Okt Jan

2021

S Quelle: Bundesagentur für Arbeit

Apr

Corona effekt mehr fest,

das heißt: Auch ohne

Pandemie wären aktuell

5,4 Prozent der unter

25-Jährigen arbeitslos.

Im Gegensatz zu anderen

EU-Ländern ist die

Jugendarbeitslosigkeit

in Deutschland übrigens

generell sehr niedrig.

In Griechenland

und Spanien etwa hatte

zuletzt mehr als

jede:r dritte 15- bis 24-

Jährige keinen Job.

Deutschen sind ein Volk der Mieter:innen – und der Träumer:innen.

Viele wünschen sich eine frei stehende Immobilie im Grünen oder, wenn

das zu teuer ist, wenigstens eine eigene Wohnung. Doch der Umzug in die

eigenen vier Wände wird gerade für junge Menschen immer schwerer. Im Jahr

1999 betrug die Wohneigentumsquote bei den 25- bis 34-Jährigen 23 Prozent –

im Jahr 2017 waren es nur noch 12 Prozent, wie eine Studie des Instituts der deutschen

Wirtschaft (IW) zeigt.

Zwar sind die Bauzinsen in den vergangenen Jahren auf ein historisch niedriges

Niveau gefallen, doch zumindest in Städten haben die Menschen nichts

davon. Denn dort sind die Kaufpreise stark gestiegen. Das bedeutet, dass Immobilienkäufer:innen

viel mehr Eigenkapital mitbringen müssen als früher. Expert:innen

empfehlen, mindestens 10 bis 20 Prozent des Kaufpreises aus eigenen Ersparnissen

zu zahlen, dazu alle Kaufnebenkosten für den Notar, die Maklerin

und die Grunderwerbsteuer. Bei einer Immobilie in der Stadt kommt da schnell

eine sechsstellige Summe zusammen.

Für junge Menschen ist es zunehmend schwer, solche Summen aus eigener

Kraft zusammenzusparen. Denn viele Jobs sind unsicherer als früher, befristete

Verträge häufen sich in vielen Branchen. Studien zeigen, dass das verfügbare Einkommen

der Millennials sinkt, verglichen mit dem Einkommen der vorherigen

Generation im selben Alter. Viele schaffen es deshalb nur noch ins Eigentum,

wenn sie geerbt haben. Doch weil die Lebenserwartung steigt, müssen Millennials

und die Folgegenerationen länger warten, bis sie ihre Eltern beerben. Dadurch

dürften künftige Immobilienkäufer:innen sogar noch älter werden.

Juli

5,6

5,4

ANLAGE

»NUR GELD IN KRYPTO

INVESTIEREN, AUF

DAS MAN VERZICHTEN

KANN«

Von Bitcoin über Ether bis Cardano:

Kaum ein Thema sorgt in der

Finanzbranche gerade für so viel

Aufsehen wie der Aufstieg der

Kryptowährungen. El Salvador verwendet

Bitcoin seit Kurzem als gesetzliches

Zahlungsmittel, als erstes

Land weltweit. In erster Linie ist

Krypto aber ein Weg, um Geld anzulegen

und – so zumindest die

Hoffnung – zu vermehren.

Krypto-Investments sind allerdings

ziemlich riskant: »Der Markt

ist extrem volatil«, sagt Margarethe

Honisch, Gründerin des Finanzblogs

Fortunalista. Wie bei allen

Risikoinvestments sei die Gewinnchance

hoch – das Verlustrisiko

aber auch. Allein zwischen Januar

und April dieses Jahres legte der

Bitcoin-Kurs um 20 000 Dollar zu,

drei Monate später war er wieder

um mehr als 20 000 Dollar gefallen.

Wer in Krypto investiert, muss also

wissen: Das gesamte Geld könnte

weg sein. Für den Weg zur sicheren

Altersvorsorge eignen sich Krypto-

Anlagen also nicht.

Wer dennoch Geld in Bitcoin

und Co. stecken möchte, müsse das

Prinzip dahinter verstehen, sagt

Honisch, und sich absichern: »Die

Recherche zur Sicherheit der An -

lage sollte mindestens so lange

dauern wie jene zur eigentlichen

Währung.« Investieren kann man

entweder über ein Krypto-Wallet,

also eine digitale Brieftasche, oder

über Broker-Apps. Inzwischen

bieten auch einige Banken Produkte

an. Honisch rät dazu, den Krypto-

Anteil im Portfolio auf fünf bis zehn

Prozent zu begrenzen: »Nur Geld

in Krypto investieren, auf das man

verzichten kann.« Den Rest solle

man auf Tages- und Festgeldkonten

sowie Aktien-ETFs aufteilen.

34 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021

Foto: Steinach / imago images


POLITIK, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT

MOBILITÄT

Die E-Schwalbe machen

Studierende der Technischen Universität Berlin (TU) haben einen

Bausatz entwickelt, mit dem Mopeds von Benzin- auf Elektro -

antrieb umgerüstet werden können – und das in wenigen Minuten.

Das Team um Maschinenbaustudent Carlo Schmid braucht nur

eine gute halbe Stunde, um ein Moped des Typs Schwalbe mit

einem E-Motor auszustatten. »Jeder, der es schafft, einen Ikea-

Schrank aufzubauen, sollte in der Lage sein, so ein Moped umzubauen«,

sagt Schmid in einem Video, das zeigt, wie er und sein

Kommilitone Paul Haacke dessen Schwalbe umrüsten.

Schmid leitet eine Projektwerkstatt an der TU Berlin, in der

Studierende lernen, die Elektro-Umrüstsätze zu bauen und dann

unter der Sitzbank der Mopeds zu montieren. Der Akku reicht für

eine Distanz von rund 50 Kilometern. Schmid zufolge lässt er sich

an jeder gewöhnlichen Steckdose aufladen – »man kann ihn abends

einfach mit in die Wohnung nehmen.«

Im Moment eignet sich der Umbausatz nur für zwei Simson-

Modelle, darunter die bekannte Schwalbe. Im SPIEGEL-Interview

erklärt Schmid aber, dass sich der Bausatz grundsätzlich auch für

andere Mopedmodelle anpassen ließe. Auch Pkw mit Verbrennungsmotor

könnten sich zu E-Autos umbauen lassen, allerdings

sei dies im Moment noch zu teuer und aufwendig. Das zu ändern

sei sein langfristiger Plan, sagt Erfinder Schmid: »Wir sind überzeugt,

dass sich unsere Lösung auf alle Fahrzeugklassen übertragen

lässt, auch auf Pkw.«

BUCHTIPP

Brücken bauen mit Louisa

Die Influencerin Louisa Dellert quatscht sich durch die Republik – so könnte man das Grundkonzept

ihres neuen Buches »Wir« zusammenfassen. Dellert beschäftigt sich darin mit Themen

wie Klimakrise oder Chancengleichheit. Um »Brücken zwischen unterschiedlichen Lebens -

realitäten« zu bauen, sucht sie das Gespräch mit Expert:innen und Betroffenen, darunter ein

Meeresbiologe, ein pakistanischer Geflüchteter und eine Frau, die mit Hartz IV aufgewachsen

ist. Die Begegnungen und Kurzinterviews wechseln sich ab mit Kapiteln, in

denen Dellert Zahlen und Fakten zu den Überthemen präsentiert. All das wäre

stärker, würde die Autorin es einfach für sich stehen lassen, statt immer wieder

in einen Ton der persönlichen Betroffenheit zu verfallen. So ist das Buch eher

ein Einblick in Louisa Dellerts Gedankenwelt – gepaart mit einem leicht verdaulichen

Überblick zu aktuellen Gesellschaftsfragen. Wer Tiefgründigeres sucht,

sollte lieber woanders schauen.

Louisa Dellert: »Wir. Weil nicht egal sein darf, was morgen ist«.

Verlag Komplett-Media; 224 Seiten; 18 Euro.

Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 35


POLITIK, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT

UPDATE FÜR DEUTSCHLAND

Nach 16 Jahren Angela Merkel braucht die Republik einen Neustart.

Damit junge Menschen auch in Zukunft gut hier leben können, muss sich

einiges ändern. Mehr Bafög, mehr Therapieplätze, mehr Klimaschutz:

Okan Bellikli und Sophie Garbe haben die 18 wichtigsten Forderungen an

die nächste Bundesregierung zusammengefasst.

ILLUSTRATIONEN STEFAN MOSEBACH

1. Mehr Bafög für mehr Menschen

Mit dem Bafög will der Staat jungen Menschen dabei helfen, ein

Studium zu finanzieren. Die Kriterien sind allerdings auch nach

der Reform von 2019 noch so, dass viele durchs Raster fallen. Die

Hochschulrektorenkonferenz, Studierendenvertreter:innen, Gewerkschaften

und Politiker:innen verschiedener Parteien fordern

deshalb schon lange eine erneute Reform.

Bafög erhält man nämlich meist nur, wenn das Einkommen

der Eltern einen bestimmten Betrag nicht überschreitet und man

selbst die Regelstudienzeit einhält. Außerdem: Selbst wenn Studierende

die Förderung bekommen, können sie davon nicht immer

leben. Wie teuer der jeweilige Studienort ist, wird beispielsweise

nicht berücksichtigt.

2. Mehr Mindestlohn für mehr Menschen

Aktuell liegt der gesetzliche Mindestlohn bei 9,60 Euro pro Stunde,

vom 1. Januar 2022 an bei 9,82 Euro. Beides reicht nicht, um

Altersarmut zu verhindern – laut Deutschem Gewerkschaftsbund

(DGB) sind dafür mindestens 12 Euro nötig. Azubis sind bisher

zudem vom Mindestlohn ausgenommen.

3. Schuldenbremse abschaffen

»Die Haushalte von Bund und Ländern sind grundsätzlich ohne

Einnahmen aus Krediten auszugleichen«, steht seit 2009 im

Grundgesetz – die sogenannte Schuldenbremse. Aktuell hat der

Staat sie ausgesetzt, um besser mit den wirtschaftlichen Folgen

36 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021


POLITIK, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT

der Coronapandemie fertigzuwerden. Von 2023 an soll sie nach

aktuellem Stand aber wieder gelten.

Einige Wirtschaftsexpert:innen kritisieren das, genauso wie

die Schuldenbremse ganz grundsätzlich. Wenn wir jetzt nicht

mehr Geld für die Zukunft ausgäben, werde das am Ende teurer.

Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung

(DIW), Marcel Fratzscher, etwa fordert Investitionen unter anderem

in Bildung, Infrastruktur und Klimaschutz.

4. Konkreten Klimaschutz umsetzen

Bereits 2030 könnte die globale Erwärmung die Schwelle von

1,5 Grad überschreiten, prognostiziert der Weltklimarat (IPCC).

Unseren Alltag würde das nachhaltig verändern: von extremen

Temperaturen im Sommer bis hin zur Verbreitung tropischer

Insektenarten in Deutschland.

Um die Situation nicht weiter zu verschlimmern, hat die

scheidende Bundesregierung verschärfte Klimaschutzziele verabschiedet:

Bis 2045 soll Deutschland die Treibhausgasneutralität

erreichen, in weniger als 25 Jahren also. Wie genau das passieren

soll, ist aber unklar. Wie können wir beim Ausbau erneuerbarer

Energien schneller werden, und wie hoch ist ein wirksamer CO 2 -

Preis? Konkrete Antworten auf solche Fragen fehlen bislang.

5. Den Wohnungsmarkt regulieren

In Städten wie München, Stuttgart oder Hamburg ist die Suche

nach einem bezahlbaren WG-Zimmer oder einer günstigen Wohnung

inzwischen eine Tortur. Es braucht Lösungen gegen explodierende

Mietpreise und knappen Wohnraum, sonst werden sich

immer weniger Menschen leisten können, in der Stadt zu leben.

Übrigens: Der Mangel an bezahlbarem Wohnraum erschwert jungen

Menschen auch eine Absicherung für die Zukunft. Für sie ist

es heute deutlich unwahrscheinlicher, sich ein Eigenheim leisten

zu können, als es das für ihre Eltern im selben Alter war.

6. Mehr Angebote für Psychotherapie und Beratung

Die Coronapandemie hat Jugendliche und junge Erwachsene psychisch

besonders belastet. Depressionen und Angststörungen nahmen

in dieser Altersgruppe überdurchschnittlich stark zu, wie Studien

der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und

Entwicklung (OECD) zeigen. Doch auf einen Therapieplatz wartet

man schon seit Jahren sehr lang. Das könnte besser organisiert

werden – etwa indem die Kostenerstattung von gesetzlichen Krankenversicherungen

für private Therapien vereinfacht wird.

7. Eine Bürgerversicherung einführen

Für eine sogenannte Bürgerversicherung, wie sie etwa SPD, Grüne

und Linke befürworten, gibt es verschiedene Konzepte. Ein zentraler

Bestandteil wäre die Abschaffung der privaten Krankenkassen

in ihrer heutigen Form zugunsten einer einheitlichen Lösung.

In die würden dann – anders als bisher – auch Selbstständige, Abgeordnete,

Beamt:innen und sehr gut verdienende Angestellte einzahlen.

Dadurch stünde mehr Geld zur Versorgung aller zur Verfügung.

Das Prinzip ließe sich auch auf die gesetzliche Rentenversicherung

übertragen. Dann müssten wir wohl auch nicht ständig

diskutieren, ob wir bis 70 oder noch länger arbeiten müssen.

8. Eine bundesweite Studi-Vertretung unterstützen

Hochschulpolitik ist größtenteils Ländersache, aber es gibt genug

Themen, die Hochschulen und Studierende in ganz Deutschland

betreffen: vom Bafög bis zum Wissenschaftszeitvertragsgesetz.

Um Studierenden eine gemeinsame Stimme gegenüber der Regierung

zu geben, brauchte es so etwas wie die Bundesvertretung

der Österreichischen Hochschüler:innenschaft (ÖH): eine gesetzliche

Vertretung aller Studierender.

9. Eine Ausbildungsgarantie auf den Weg bringen

Die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge geht seit

Jahren zurück, in der Coronakrise hat sie einen historischen Tiefstand

erreicht. Unter anderem die Bertelsmann Stiftung fordert

deshalb eine sogenannte Ausbildungsgarantie, wie es sie etwa in

Österreich schon gibt: Wer dort unter 25 ist und keine betriebliche

Lehrstelle findet, kann eine staatlich geförderte überbetriebliche

Ausbildung absolvieren.

10. Sachgrundlose Befristungen abschaffen

15,7 Prozent der Arbeitnehmer:innen zwischen 25 und 34 Jahren

hatten 2019 einen befristeten Arbeitsvertrag, mehr als doppelt so

viele wie im deutschlandweiten Durchschnitt. Je nach Branche

werden gerade Berufseinsteiger:innen zunächst nur befristet eingestellt

– und nicht immer gibt es dafür einen triftigen Grund.

Ein Gesetzentwurf von Noch-Arbeitsminister Hubertus Heil

(SPD) sah deshalb vor, dass solche sachgrundlosen Befristungen

nur noch bei höchstens 2,5 Prozent der Belegschaft erlaubt sind –

zumindest bei Arbeitgeber:innen, die mehr als 75 Menschen

beschäftigen. Solche Verträge sollten dann außerdem nur noch

einmal statt dreimal verlängert werden dürfen.

Aus alldem wurde nichts. Dabei hat die Coronapandemie überdeutlich

gemacht, welches Risiko mit Befristungen einhergeht. Ende

2020 sagte Heil etwa, »dass es bei jungen Beschäftigten nach der

Ausbildung überproportional Probleme gibt, weil der erste Job oft

nur befristet ist und es dann häufig nicht weitergeht, wenn die Befristung

in der Krise endet«. Und die Vorsitzende der Jugendorgani-

Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 37


POLITIK, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT

sation des Beamtenbundes (DBB) sagte Anfang 2021: »Viele junge

Menschen sind durch eine solche Vertragspraxis verunsichert und

stellen beispielsweise die Zukunfts- und Familienplanung hintenan.«

11. Kinderrechte im Grundgesetz verankern

Gutachten des Bundesfamilienministeriums kamen bereits 2017

zu dem Schluss, dass Kinder und Jugendliche in Deutschland nicht

ausreichend beteiligt werden. Um dem entgegenzuwirken, wollte

die Große Koalition Kinderrechte eigentlich im Grundgesetz verankern.

Expert:innen sehen darin den Vorteil, dass die rechtliche

Position von jungen Menschen unmittelbar gestärkt würde und

Behörden und Gerichte eher in der Pflicht wären, sie an Entscheidungen

zu beteiligen und zu berücksichtigen.

Für die entsprechende Änderung des Grundgesetzes braucht

es eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat. Doch

bisher scheiterte sie schon an den Verhandlungsgesprächen zwischen

Koalition und Opposition. Damit hinkt Deutschland anderen

europäischen Ländern wie Österreich und Finnland hinterher:

Dort sind die Rechte junger Menschen längst Teil der Verfassung.

12. Bei allen Gesetzentwürfen an Junge denken

»Wir werden gemeinsam mit den Jugendverbänden einen ›Jugend-

Check‹ entwickeln, um Maßnahmen auf ihre Vereinbarkeit mit

den Interessen der jungen Generation zu überprüfen«: Das stand

2013 im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD. Seit 2018

führt ein von der Bundesregierung finanziertes Kompetenz -

zentrum zwar Prüfungen durch, die Ergebnisse sind aber un -

verbindlich. Außerdem endet die Förderung für das Projekt nach

aktuellem Stand Ende 2022.

Im Wahlprogramm der SPD stand nun erneut: »Jugendverbände

und bestehende Beteiligungsstrukturen wie Jugendringe,

Kinder- und Jugendparlamente wollen wir dauerhaft und nachhaltig

finanzieren und jedes neue Gesetz einem Jugend-Check unterziehen.«

Zeit wäre es, denn: Es gibt deutlich mehr ältere als

jüngere Menschen in Deutschland. Daher denkt die Politik wohl

auch oft eher an sie, Stichwort »Rentnerrepublik«. In der Coronapandemie

etwa wurde die Lebenssituation von Schüler:innen,

Azubis und Studierenden nicht genügend beachtet.

13. Menschen ab 16 Jahren wählen lassen

Eine weitere Möglichkeit, um junge Menschen stärker zu beteiligen,

wäre: sie früher wählen zu lassen. Nicht erst seit Fridays for

Future interessieren sich auch viele Jugendliche für Politik, die

noch nicht 18 sind. Bei Kommunal- und Landtagswahlen dürfen

sie in einigen Bundesländern schon ab 16 wählen, etwa in Brandenburg

oder Bremen. Die Bundestagswahl fehlt noch, alle Anträge

und Gesetzentwürfe dazu wurden bislang abgelehnt.

14. Armut bekämpfen statt verwalten

Dem Mikrozensus des Statistischen Bundesamts zufolge ist jede:r

Vierte der 18- bis unter 25-Jährigen in Deutschland armutsgefährdet,

lebt also in einem Haushalt, dessen Einkommen weniger als

60 Prozent des mittleren Einkommens aller Privathaushalte beträgt.

Somit hat diese Altersgruppe im Vergleich mit anderen die

höchste Armutsgefährdungsquote. Nach Angaben des Armutsund

Reichtumsberichts der Bundesregierung galt 2018 selbst jede

zehnte Person zwischen 18 und 24 als armutsgefährdet, die Arbeit

hatte. Sozialverbände fordern deshalb schon lange unter anderem

mehr Mindestlohn, einen höheren Hartz-IV-Regelsatz sowie eine

sogenannte Kindergrundsicherung, also einen monatlichen Betrag,

der die menschenwürdige Existenz jedes Kindes garantieren soll.

15. Ein Recht auf Homeoffice einführen

Ein flexibler Arbeitsort – das ist gerade für Menschen praktisch,

die häufiger ihren Wohnort wechseln, eine Fernbeziehung führen,

kleine Kinder zu betreuen haben oder einfach gern unterwegs

sind. Aber trotz monatelanger Homeoffice-Pflicht in der Pandemie

wollen viele Arbeitgeber:innen ihren Beschäftigten diese Möglichkeit

nicht langfristig anbieten und keine flexibleren Arbeitsstrukturen

schaffen.

16. Hass im Netz bekämpfen

Junge Menschen sind häufiger online und dadurch auch besonders

oft mit den Schattenseiten des Internets konfrontiert: In einer

Umfrage der Forschungsagentur Pollytix gaben 70 Prozent der

befragten 18- bis 24-Jährigen an, mindestens einmal von Hass im

Netz betroffen gewesen zu sein. Jede dritte befragte Frau zwischen

18 und 34 erklärte zudem, dass sie in sozialen Medien bereits

sexuell belästigt worden sei, beispielsweise durch Dickpics.

Durch das Netzwerkdurchsetzungsgesetz sind Plattformen

wie Facebook und Instagram inzwischen zwar in der Pflicht, Beschwerdestellen

anzubieten und Hass-Posts etwa zu löschen oder

zu blocken. Rechtlich belangt werden die Urheber:innen solcher

Botschaften aber immer noch selten. Zudem erstatten viele Opfer

gar nicht erst Anzeige – weil sie sich der Möglichkeiten dafür

nicht bewusst sind oder die Hürden zu hoch erscheinen. Mehr

Ressourcen bei der Polizei, mehr Aufklärung darüber, wie man

sich gegen Online-Hass und -Belästigung wehrt, und mehr Anlaufstellen

für Betroffene könnten helfen.

17. Überall Mobilität schaffen, bezahlbar und flexibel

Nach 18 Uhr nicht mehr mit dem Bus nach Hause kommen? Für

Jugendliche auf dem Dorf keine Seltenheit. 90 Euro für ein Monatsticket?

In der Großstadt normal. Dabei wird schon lange über

bezahlbaren und enger getakteten Nahverkehr gesprochen. Und

über mehr Platz für Fahrräder in den Städten.

18. Deutschland ins 21. Jahrhundert digitalisieren

Während man in Schweden in einem Paddelboot auf einem abgelegenen

See noch 4-G-Empfang haben kann, gibt es in Deutschland

schon in manchen Innenstädten keine stabile Internetverbindung.

Corona hat noch einmal offengelegt, wie groß die Defizite

beim Thema Digitalisierung hierzulande sind: In Schulen, Universitäten

oder Behörden könnte digitales Arbeiten schon längst

selbstverständlich sein.

38 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021


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POLITIK, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT

JA, ES GIBT

GRÜNDERINNEN,

ABER VIEL ZU

WENIGE

Nur vier Prozent der Unternehmen in

Deutschland werden von Frauen

gegründet. Sind die aufwendigen

Förderprogramme der vergangenen

Jahre der falsche Weg?

TEXT JANNE KNÖDLER UND

ANTON RAINER

D

ass Katharina Kreitz eine Sonderrolle in

ihrer Branche einnehmen würde, wurde ihr

früh bewusst. Sie bekam es zu spüren in ihrem

ersten Praktikum, kurz vor dem Maschinenbaustudium.

»Ein Ingenieurskollege

fragte mich fast täglich, warum ich nicht etwas

mache, was Frauen besser können, Kindergärtnerin

oder Tierärztin vielleicht«, erinnert sich Kreitz. Sie

merkte es bei ihren Arbeitgeber:innen, bei BMW oder

Airbus, wo sie die einzige Ingenieurin in der gesamten

Abteilung blieb. Oder bei Kund:innen, die die 34-Jährige

mit Fragen löcherten, um ihr Fachwissen zu testen

– »die dachten, man hätte ihnen irgendeine Verkaufstrulla

geschickt«.

Und sie erfuhr es, als sie 2015 ihr eigenes Startup

gründete: Vectoflow, einen Hersteller von Strömungssonden.

Dessen Produkte werden in Formel-1-

Boliden oder Flugzeugen verbaut. Nur verkehrte sich

die Aufmerksamkeit ins Positive. »Auf einmal wurden

wir mit Preisen, Mentoren und Einladungen zu -

geschüttet«, sagt Kreitz. Nicht weil plötzlich alle

Welt aerodynamische Messtechniken sexy fand.

»Kein Mensch würde sich dafür interessieren,

wenn ich nicht eine Frau wäre.«

Also sitzt Kreitz jetzt auf Panels und in

Arbeitskreisen, kürzlich gewann sie sogar

den »Female Founder Award«, Vectoflow

errang den zweiten Platz beim Deutschen

Gründerpreis. Kreitz wird so oft zu Ver -

anstaltungen eingeladen, dass sich ihr Co-

Geschäftsführer mittlerweile etwas vernachlässigt

fühlt. Bei manchen Preisen bewerbe

sich das Unternehmen gar nicht mehr, sagt

Kreitz. Die Konkurrenz mit rein männlichen

Teams soll auch eine Chance haben.

Was nach einer komfortablen Situation

für eine junge Firma klingt, ist in Wahrheit ein

Armutszeugnis für Deutschland. Denn trotz aller

Förderprogramme und Beteuerungen von Regierung

wie Investor:innen wird die Start-up-Branche

noch immer von Männern dominiert.

Rund 16 Prozent aller deutschen Start-ups hatten

im vergangenen Jahr eine Frau im Gründungsteam,

eine im internationalen Vergleich erschreckend geringe

Zahl. Nur rund vier Prozent der Unternehmen werden

Start-up-Gründerin

Kreitz: »So viele

Gruppenfotos,

auf denen außer

mir keine Frau zu

sehen ist«

laut einer Studie ausschließlich von Frauen gegründet.

Vor allem Hightechfirmen wie Vectoflow sind in der

Regel reine Männerklubs.

Der Befund ist nicht neu und die deutsche Gründerszene

mittlerweile alt genug, um sich an ein ganzes

Jahrzehnt zu erinnern, in dem das Problem weit oben

auf der Agenda von Investor:innen, Politiker:innen

und Lobbyist:innen stand – zumindest rhetorisch.

»Frauen sind in den Führungspositionen von Start-ups

deutlich unterrepräsentiert«, tadelte 2013 der »Deutsche

Start-up Monitor«, ein damals erstmals erschie-

40 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021


POLITIK, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT

nener Gradmesser der Branche. Sieben Jahre später

hat sich an der Diagnose nichts verändert – nur die

Sprache ist dringlicher geworden: Dass die Gründerszene

noch immer eine Männerdomäne ist, sei »nicht

nur ungerecht, sondern etwas, das man sich als Volkswirtschaft

schlicht nicht leisten kann«.

Anfangs habe sie sich über die ganze Aufmerksamkeit,

die ihr zuteilwurde, noch gefreut, sagt

Kreitz. Wenn auf großen Konferenzen die wichtigen

Manager ihre Köpfe zusammensteckten, fragte

sie frech: »Sie wollen doch bestimmt, dass die

einzige Frau auf dieser Veranstaltung an Ihrem

Tisch sitzt?« Sofort begann das Stühlerücken.

»Es gibt so viele Gruppenfotos, auf denen außer

mir keine Frau zu sehen ist«, sagt sie.

Mittlerweile hat sie die Sonderrolle satt,

sie ärgert sich darüber, dass noch immer kein

Rezept dafür gefunden wurde, wie Frauen zum

Gründen bewogen werden können. Und dass

sich Jungunternehmerinnen in Selbstmitleid,

Twitter-Hashtags und oberflächlichem »Em -

powerment«-Feminismus verlieren, ohne dass sich

irgendeine Kennzahl nennenswert bewegt.

Manchmal, wenn bei Kreitz das Telefon läutet,

weil schon wieder irgendwo eine Diskussionsrunde

besetzt werden muss, denkt sie: »Boah, noch ein Frauen -

gipfel?«

Mit Panels und Debatten, die Erkenntnis hat sich

durchgesetzt, ist es nicht getan. Die Jahre der gegenseitigen

Bestärkung haben Sichtbarkeit gebracht und

ein paar Heldinnen groß gemacht. Mehr nicht.

Spricht man mit Vertreterinnen aus der Branche,

ist schnell klar, was sich ändern muss: Es braucht mehr

Geld, damit Frauen endlich Zugang zu Finanzierungen

bekommen, von denen Männer seit Jahren profitieren.

Es braucht Mentorinnen, die jungen Frauen schon in

Schulen und Universitäten Mut zum eigenen Start-up

machen. Und politischen Nachdruck.

Verena Hubertz hat sich entschieden, vom Chefsessel

in den Bundestag zu wechseln, um endlich an

den großen Rädern drehen zu können. Die 33-Jährige

hat mit der Koch-App Kitchen Stories eine der erfolgreichsten

deutschen Gründungsgeschichten der vergangenen

zehn Jahre geschrieben. Mehr als 22 Millionen

Mal wurde das Smartphone-Programm heruntergeladen,

der Apple-Chef Tim Cook schaute 2017 sogar

höchstpersönlich im Kreuzberger Büro der Co-Gründerin

vorbei – und zeigte am Herd sein Talent fürs

Pfannkuchenwenden. Kochen mit Cook, ein fast unwirklicher

Erfolg.

»Als wir mit Mitte zwanzig auf Investorensuche

gingen, wurden wir noch ausgelacht«, sagt Hubertz.

Die Männer im Anzug, die ihr gegenübersaßen, hätten

in ihrem Business-Pitch nur naive Frauen beim Kochen

gesehen, »ein doppelter Verniedlichungsfaktor«. Und

eine verpasste Chance. Im Jahr 2017 stieg schließlich

eine Tochterfirma von Bosch bei Kitchen Stories ein –

für einen zweistelligen Millionenbetrag.

Die Frauen, die nach ihr kommen, sollen es leichter

haben, findet Hubertz, und das gehe nur mit den

richtigen Rahmenbedingungen. Bei der diesjährigen

Bundestagswahl hat sie auf dem SPD-Ticket kandidiert,

um die Start-up-Szene mit einer ganzen Fülle von

Wohltaten zu überschütten. So möchte sie etwa ein

staatliches »Chancenkonto« in Höhe von 50 000 Euro

einführen, mit dem sich junge Unternehmerinnen »einmal

ausprobieren können«. Mutterschutz und Elternzeit

sollen endlich auch für Gründerinnen realisierbar

Investorin Onaran:

»Männer geben

nun mal lieber

Männern Geld«

werden – altersmäßig fallen Familienplanung und der

Start in die Selbstständigkeit oft zusammen.

Die vielen staatlichen Investitionsfonds, die von

Männern für Männer gebaut wurden, will Hubertz

neu aufstellen, mit einer fixen Frauenquote im Management.

»Wo der Staat eine starke Position hat, sollte

er vorangehen und eine Quote einführen«, sagt sie.

25 Prozent sollen es auf der Führungsebene sein, langfristig

müssten die Hälfte der Fondsmanager:innen

Frauen sein. Wenn sie diese Initiativen durchbringe,

glaubt Hubertz, könnte in ein paar Jahren jedes fünfte

Start-up von einer Frau geführt werden. »Eine Quote

ist dafür der erste Schritt.«

Als sich die SPD zuletzt derart um Deutschlands

Gründerinnen bemühte, war Sigmar Gabriel noch

Wirtschaftsminister – und verdammt stinkig darüber,

dass er bei einem Pressetermin in einem Berliner Gründerzentrum

nur Männer sah: »Ihr seid ja nur Kerle

hier!« Das war 2014. Die Initiative »Frauen GRÜN-

DEN«, die er gemeinsam mit der damaligen Familienministerin

Manuela Schwesig austüftelte, sollte das

ändern. Ungefähr 30 Millionen Euro war der Bundesregierung

das Anliegen damals wert. Bewirkt hat die

Initiative so gut wie nichts.

Wie sehr Unternehmerinnen um Kapital kämpfen

müssen, zeigt sich an den abgeschlossenen Finanzierungsrunden.

Frauen haben eine um 18 Prozent

geringere Aussicht auf Investorengelder als Männer

und gemischte Teams. Je größer die Summen, desto

schlechter die Chancen. Man kann das an Deutschlands

Einhörnern gut erkennen, so nennt man die seltenen

Fabelwesen unter den jungen Unternehmen, die

mit mehr als einer Milliarde Dollar bewertet sind.

Knapp über ein Dutzend solcher Firmen gibt es

hierzulande, etwa das Fernbusunternehmen Flix -

mobility, die Onlinebank N26 oder den Modehändler

Fotos: Dirk Bruniecki / DER SPIEGEL, Holger Talinski / laif, Franziska Gilli / DER SPIEGEL

Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 41


POLITIK, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT

About You. Ein von Frauen geführtes Einhorn sucht

man vergebens. Nur rund 5 Prozent der Gründerinnenteams

wurden mit mehr als einer Million Euro

finanziert. Bei den Männern sind es hingegen fast

28 Prozent. Es ist, als würde das Kapital einen großen

Bogen um die Frauen machen.

Ihnen bleibt oft keine andere Wahl, als ihre Startup-Ideen

aus eigenen Ersparnissen oder durch

Freund:innen, Familie und Bekannte zu finanzieren –

»Friends, Family, Fools« nennt Hubertz das scherzhaft.

»Männer geben nun mal lieber Männern Geld«,

sagt Tijen Onaran, da müsse man sich nichts vormachen.

Die 36-Jährige ist Gründerin von Global Digital

Women und glaubt, den Hauptgrund für die Dominanz

der Männer in der Start-up-Welt gefunden zu haben.

Nicht an der Qualifikation, der Risikobereitschaft oder

dem Selbstbewusstsein fehle es vielen Unternehmerinnen

– sondern schlicht und einfach am Kapital. »Ich

kenne so viele Gründerinnen, die mit tollen Ideen in

den Startlöchern stehen«, sagt Onaran. Sie legt deswegen

einen Investitionsfonds auf, der ausschließlich

Frauen zugutekommen soll, 50 Millionen Euro sind

angepeilt. Eine Gießkanne für den vernachlässigten

Teil der Branche.

Wer klassische Investor:innen fragt, was sie von

derartigen Quotenfinanzierungen halten, erntet im

besten Fall ein Lächeln. Viele Kapitalgeber:innen sehen

sich durchaus in der Lage, gute Unternehmen zu

erkennen, unabhängig davon, welchem Geschlecht seine

Gründer:innen angehören. Ein diverses Portfolio

sei heutzutage ein Bonus, kein Makel, sagt ein Investor.

Das Problem liege eher in den Geschäftsmodellen.

Tatsächlich sind Frauen gerade dort am seltensten

vertreten, wo zuletzt die größten Wachstumschancen

lagen: Gut ein Drittel der deutschen Start-ups tummelt

sich in der IT- und Kommunikationstechnologie, Frauenteams

machen dort nur knapp neun Prozent aus.

Allerdings sagen die Summen, die Investor:innen

in bestimmten Sektoren verteilen, nicht zwangsläufig

etwas über die Qualität der Unternehmen aus. Manchmal

zeigen sie auch nur, was bei Geldgeber:innen gerade

in Mode ist.

Gründer:innen, die von künstlicher Intelligenz

oder Virtual Reality schwadronierten, konnten

in den vergangenen Jahren kaum etwas

falsch machen. Bei Umwelt-, Ernährungs- und

Gesundheitsthemen waren die Kapitalgeber:innen

eher geizig. Ausgerechnet in den

Naturwissenschaften sind Frauen jedoch

überdurchschnittlich stark vertreten.

Vielleicht ist es einfach nötig, früher

anzusetzen. Bei Frauen wie Jolina Hukemann.

Die 17-Jährige aus Gütersloh ist seit

vier Jahren Alumna der »Start-up-Teens«,

einer Organisation, die junge Unternehmer:innen

stärken will – mit Events, Mentorenprogrammen,

»Challenges«.

Hukemann war 2017 das erste Mal auf

einem Treffen der Organisation, und ihre Augen

strahlen, wenn sie von der Atmosphäre erzählt:

Junge Leute mit tollen Ideen, erfahrene

Gründer:innen, die versprachen, Türen zu öffnen,

auch Peter Altmaier hielt eine Rede. 2019 belegte

die junge Unternehmerin beim bundesweiten Wett -

bewerb den zweiten Platz in ihrer Kategorie, da war

sie 14 Jahre alt.

Ihr Produkt: eine App namens Pipe IT, die

Schiedsrichter:innen mit Amateurfußballspieler:innen

Nachwuchsunternehmerin

Hukemann:

»Dass mich

jemand, den ich

aus dem Fernsehen

kenne, ernst

genommen hat?

Das war wild«

vernetzt. In Deutschland gebe es einen großen Schiedsrichtermangel,

sagt Hukemann, die selbst Spiele pfeift.

Im Lehrgang sei sie das einzige Mädchen gewesen,

»deswegen schreckt mich das auch an der Start-up-

Welt nicht ab«.

Während bei den Events der Start-up-Teens immerhin

40 Prozent Mädchen mitmachen, sind es beim

Mentoring nur noch 20 und beim Ideenwettbewerb

gerade einmal 15 Prozent. Die Trennung der Geschlechter

in der Start-up-Welt fängt früh an, fast, als

wäre »Gründer« für Jugendliche das, was »Feuerwehrmann«

für Kinder war: ein Traumjob für Jungs.

Dass ihr Gründergeist geweckt wurde, hat Hukemann

dem Privatfernsehen zu verdanken. Mit zwölf

Jahren wurde »Start-up!«, wie die »Höhle der Löwen«

eine Castingshow für Gründer:innen, ihre Lieblingssendung.

Von der Wohnzimmercouch aus schrieb sie

einen der Kandidaten auf Instagram an – sie habe eine

Idee, ob er sich die nicht mal anhören wolle? Er wollte.

»Dass mich jemand, den ich aus dem Fernsehen kenne,

ernst genommen hat? Das war wild«, sagt Hukemann.

Und vor allem besser als die Schule, wo alle dasselbe

lernten, »warum eigentlich«? Vor einem Jahr ist

die 17-Jährige auf ein Wirtschaftsgymnasium gewechselt.

Sie wolle Dinge lernen, die man später braucht,

sagt sie: Informatik statt Trigonometrie, Rhetorik statt

Gedichtanalyse, Gebrauchsenglisch statt Shakespeare.

Viele auf ihrer neuen Schule kämen ganz nebenbei

mit dem Unternehmertum in Berührung. Ausgerechnet

ein Gymnasium könnte so erreichen, was keine

Kampagne der Bundesregierung, kein Panel einer Stiftung,

keine Hashtag-Challenge auf Twitter geschafft

hat: ein Gegengewicht zum Boys’ Club. In Hukemanns

Klasse kommen auf 3 Jungs 14 Mädchen.

42 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021


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POLITIK, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT

WENN

DEUTSCHLAND

EIN LAND

DER VEGANER

WÄRE

Burger vom Acker, keine Gülle und kein Schlachten mehr:

ein Gedankenexperiment, das nach Utopie klingt.

Es ist machbar. Eine heile Welt wäre es trotzdem nicht.

TEXT BERNHARD PÖTTER

FOTOS THOMAS VICTOR

A

uf den ersten Blick betreibt Daniel Hausmann einen ganz

gewöhnlichen Hofladen. Im Erdgeschoss seines Bauernhauses

im sächsischen Breitenborn stehen Tische, an den

Wänden hängen Zettel und Plakate, in den Regalen lagern

Nudeln, Gemüse und Obst zum Verkauf. Der zweite Blick

offenbart: Die Milch ist aus Hafer, die Nudeln enthalten kein Ei,

und das Schmalz besteht aus Pflanzenfett. Auf den Zetteln an der

Pinnwand heißt es »Der Mensch isst aus Gewohnheit Tier« und

über einem Bild mit Hund und Ferkel: »Wen streicheln? Wen

essen?«

Der junge Bauer hat seinen veganen Hofladen ausgerechnet

im ehemaligen Kuhstall des Bauernhauses eingerichtet, das hier

seit etwa 1900 steht. Hausmanns Kohl, Pastinaken und Lauch liegen

auf dem alten Futtertrog an der Wand, die

Eisenringe in der rissigen Steinwand zeugen

von der Viehhaltung. »Ich bin mit Kühen aufgewachsen«,

sagt der 30-jährige Landwirt,

»aber es hat sich immer komisch angefühlt,

wenn die Kälber zum Schlachten abgeholt wurden.«

Deshalb gibt es auf Hausmanns Hof seit

neun Jahren keine Nutztiere mehr. Als er zur

Anja Bonzheim,

veganen Landwirtschaft wechselte, stellte er sogar

das Düngen mit Kuhdung ein. Aus der offe-

Öko-Agrarberaterin

nen Tür seines Ladens blickt er jetzt auf den

tierfreien Komposthaufen aus geschnittenem

Kleegras, daneben blühen die alten Apfelbäume

einer Streuobstwiese, begehbare Folientunnel

schützen Salatköpfe, Schnittlauch und Spinat

vor Kälte und Schnecken.

»Die extrem große Abwechslung bei Anbau und Fruchtfolge

»Wir haben dann

mehr Vielfalt in

der Natur und auf

dem Teller.«

reizt mich«, erzählt der junge Mann im Anorak. Hausmann arbeitet

mit etwa 50 Gemüsearten und Getreide auf 20 Hektar Land.

200 Kisten mit Gemüse liefert er jede Woche an seine Kund:innen

aus. Zwischen Leipzig und Chemnitz der einzige Landwirt zu sein,

der aus Überzeugung keine Tiere habe, mache ihn stolz, sagt er.

»Wir sind eine vegane Insel hier.«

EIN LAND MIT VIEL PLATZ

Was aber wäre, wenn aus dieser Insel Festland würde? Wenn ganz

Deutschland und nicht nur eine Minderheit vegan leben würde?

Wie würde eine solche Umstellung das Land, seine Landschaft

und seine Landwirtschaft verändern?

Nach einer Studie des Allensbach-Instituts bezeichnen sich

mittlerweile über 1,1 Millionen Menschen in Deutschland als Vega -

ner:innen. Die Produktion von Fleischersatzprodukten steigt steil

an, 2020 um mehr als 38 Prozent gegenüber dem Vorjahr, allerdings

auf sehr niedrigem Niveau. Bei vielen jungen Menschen vor

allem in den Städten ist veganes Leben längst zum Standard geworden.

Vegane Cafés und Restaurants sind so normal wie die

fleischlosen Ersatzprodukte im Wurstsortiment der Super märkte.

Schon eine Landwirtschaft, die flächendeckend deutlich weniger

Fleisch und Milchprodukte produzierte, würde eine riesige

Veränderung bedeuten. Dies ergab eine umfangreiche Studie weltweiter

Fachleute 2019. Würde die Landwirtschaft

so umgestellt, dass sie einen angemessenen

Beitrag zu den Pariser Klimazielen leistete,

müsste »der globale Verbrauch von Lebensmitteln

wie rotem Fleisch um über 50 Prozent sinken,

während sich der Konsum von Nüssen,

Obst, Gemüse und Hülsenfrüchten mehr als

verdoppeln müsste«. Vollständig vegetarisch

oder gar vegan würden die Bauern dann noch

lange nicht wirtschaften. Bis jetzt ist das je nach

Blickwinkel Utopie oder Dystopie.

»Wie ein völlig veganes Deutschland

aussehen könnte, darüber gibt es bei uns keine

Studien«, sagt Michael Welling vom Thünen-

Institut, dem Bundesforschungsinstitut für

Ländliche Räume, Wald und Fischerei. Auch

beim Max Rubner-Institut, der Forschungseinrichtung des Bundes

für Ernährung und Lebensmittel: Fehlanzeige. »Das liegt so weit

abseits des Realistischen und betrifft sehr wenige Menschen, deshalb

sind Untersuchungen schwierig«, so Welling. Weder Deutscher

Bauernverband noch Umweltbundesamt oder Weltklimarat

haben wissenschaftliche Projektionen, wie eine Versorgung

Deutschlands ganz ohne Fleisch, Milch, Käse, Joghurt, Quark und

Leder aussehen könnte.

Was sich allerdings sagen lässt: Ein veganes Deutschland

wäre ein Land mit viel Platz. Das ergibt ein solches Gedanken -

experiment nach vielen Gesprächen mit Landwirt:innen, For-

44 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021


Sächsischer Alternativlandwirt

Hausmann: »Die

extrem große Abwechslung

bei Anbau und

Fruchtfolge reizt mich«


POLITIK, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT

scher:innen, Expert:innen und Aktivist:innen. Es gäbe

deutlich weniger Nutztiere in diesem Deutschland,

kaum noch große Ställe; auf den Feldern würden statt

Mais und Weizen mehr Bohnen, Lupinen, Erbsen und

Sojapflanzen wachsen. Auf den Wiesen und Äckern

lebten mehr Tier- und Pflanzenarten, das Grundwasser

würde sich erholen, die deutschen Treibhausgasemissionen

sinken. Die Menschen trügen Schuhe aus Ananasblättern

und Synthetik und äßen Burger aus Fleischersatz.

Ab und zu würden sie Tabletten nehmen oder

angereicherte Lebensmittel essen, um ihre Nahrung

zu ergänzen. Aber im Großen und Ganzen lebten sie

gesünder als heute.

Deutschland in seiner veganen Variante sähe

auch anders aus. »Unter diesen Bedingungen benötigen

wir viel weniger Flächen, die bisher für den Anbau

von Futtermitteln belegt sind«, sagt Achim Spiller,

Agrarökonom an der Universität Göttingen. »Um eine

Kalorie aus Rindfleisch zu erhalten, müssen wir für

die Futtermittel der Tiere sieben Kalorien investieren,

die wir als Pflanzen auch direkt essen könnten. Bei

Schweinefleisch ist das Verhältnis immer noch eins zu

drei.« In der Landschaft stünden weniger Ställe, aber

mehr Treibhäuser für heimisches Obst und Gemüse,

vermutet Spiller. Wärme und Strom kämen aus Solaranlagen

und Windrädern, auf freien Flächen wüchsen

Energiepflanzen wie Raps für die Biogasanlagen.

Bisher wird etwa die Hälfte Deutschlands landwirtschaftlich

genutzt. Von den knapp 17 Millionen

Hektar sind rund 12 Millionen Ackerfläche und 5 Millionen

Grünland wie Weiden und Wiesen. Auf etwa

4,4 Millionen Hektar wächst derzeit Futter für Tiere –

26 Prozent der gesamten Agrarfläche. »Da die Versorgung

mit Proteinen aus Pflanzen wie Bohnen, Erbsen

und Lupinen aber deutlich effizienter ist als mit Fleisch

und Milch, würden bis zu zwei Millionen Hektar frei«,

sagt Urs Niggli, Vordenker des Ökolandbaus und bis

März 2020 Leiter des Forschungsinstituts für biologischen

Landbau in der Schweiz. Im veganen Deutschland

würde diese Fläche, immerhin so groß wie Rheinland-Pfalz,

genutzt: für mehr Naturschutzräume, mehr

Blühstreifen und Hecken für Insekten und Vögel. Weite

Moorflächen, auf denen keine Rinder weideten, würden

vernässt. An den Küsten stünden große Wassertanks,

in denen Algen für Lebensmittel gezüchtet würden.

»Nackte Böden, von denen der Wind die Ackerkrume

abträgt, würde es kaum noch geben«, glaubt

die Öko-Agrarberaterin Anja Bonzheim. »Wir haben

dann mehr Vielfalt in der Natur und auf dem Teller:

Wir essen neben Gemüse und Getreide auch mehr

Nüsse und Samen, mehr Bohnen, Amaranth und Buchweizen.«

Ein veganes Deutschland röche auch anders. Der

stechende Ammoniakgestank aus gedüngten Feldern

wäre verschwunden. Kleegras würde den tierischen

Dünger überflüssig machen. Die Überdosierung von

Stickstoff, derzeit ein großes Problem für Böden, Gewässer

und Wasserwerke, ginge massiv zurück. »An

den Stadträndern können riesige Kompostfarmen entstehen«,

sagt Christian Vagedes von der Veganen Gesellschaft

Deutschland. »Wir ersparen der Natur den

Wahnsinn von heute, dass wir jedes Jahr elf Millionen

Lastwagen mit Gülle irgendwohin kippen müssen.«

»Der Mist ist der heilige Christ, haben die Leute

früher gesagt«, sagt dagegen Kay Bohne in der warmen

Küche seines Dreiseithofs aus braunem Fachwerk im

sächsischen Stollsdorf. Bohne ist ein guter Bekannter

von Daniel Hausmann, beide sind Mitglieder im Bioverband

Gäa. Ihre Höfe trennen nur ein paar Hügel,

aber auch eine Weltanschauung: Während Hausmann

vegan ackert, nutzt der Bohne-Hof Tiere in traditioneller

bäuerlicher Ökolandwirtschaft.

Bohne kommt aus dem Nachbardorf, kaufte seinen

Hof nach der Wende und baute mit seiner Frau

Synke auf 20 Hektar Ackerland und 50 Hektar Wald

einen Biohof auf. Sie halten eine kleine Herde von

Biobauernpaar

Bohne mit Nutzpferden:

»Wir halten

und schlachten

Tiere, aber ich habe

mehr Verständnis

für einen Veganer

als für jemanden,

der Billigschnitzel

für 2,99 Euro kauft«

46 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021


etwa 15 Rindern, die oberhalb ihres Hofs stoisch im saftigen Kleegras

dem kalten Regen trotzt. Dazu kommen etwa 40 Hühner,

die sich auf der Weide gegenüber unter einen alten Anhänger ducken.

Und im Stall warten Umsi und Gunda, die beiden schwarzen

sächsischen Warmblüter, auf ihren Einsatz vor dem Pflug. Ohne

Nutztiere ginge auf Bohnes Hof nicht viel. Für die Bohnes ist vegane

Landwirtschaft eine interessante Idee, mehr nicht. »Zur

bäuer lichen Landwirtschaft gehören Ackerbau und Viehzucht«,

sagen sie. Doch wenn sie sechs Rinder im Jahr schlachten, dann

gehe ihr das schon nahe, sagt Synke Bohne. »Aber das gehört

dazu, sie hatten ja ein gutes Leben.«

Auf dem Tisch liegt die Preisliste für das Rindfleisch, das sie

im Hofladen verkaufen. Ein Kilogramm Lende für 46 Euro, Gulasch

für 16 Euro. »Wir sind keine Veganer, wir halten und schlachten

Tiere«, sagt Synke Bohne, »aber ich habe mehr Verständnis

für einen Veganer als für jemanden, der Billigschnitzel für

2,99 Euro kauft.«

KLIMAZIELE LEICHTER ERREICHEN

Tatsächlich habe die Bundesrepublik ungewöhnlich gute Bedingun -

gen, sich selbst vegan zu versorgen, sagt Agrarexperte Urs Niggli.

»Denn in Deutschland sind nur rund 30 Prozent der landwirtschaftlichen

Fläche Grünland«, also Wiesen und Weiden, die zu

karg, zu steil, zu nass oder zu abgelegen sind für den Anbau von

Obst, Gemüse oder Getreide. »Weltweit sind das aber 67 Prozent«,

zeigt der Experte anhand einer Statistik der

»Landwirten würde

ohne Tierhaltung

die Hälfte ihrer

Wertschöpfung

verloren gehen.«

Welternährungsorganisation FAO. In anderen

EU-Ländern sei die Bedeutung des Grünlands

ebenfalls viel größer als in Deutschland. Wenn

diese Flächen nicht mit Wiederkäuern wie Rindern,

Schafen oder Ziegen beweidet würden,

fielen sie für die Nahrungsproduktion aus.

Aber auch in einem veganen Deutschland

würde das Grünland nicht einfach sich selbst

überlassen. Ganze Regionen würden sonst mit

Büschen und später Bäumen zuwuchern. Das

aber bedeute eine Gefahr für Tier- und Pflanzenarten

aus der Kulturlandschaft, sagt Reinhild

Benning, Agrarexpertin bei der Deutschen

Umwelthilfe DUH. »Am meisten bedroht sind

Tiere und Pflanzen der agrarökologisch genutzten

Agrarlandschaft, etwa Kiebitz, Braunkehlchen, Uferschnepfe

oder Wiesen-Bocksbart sowie Kuckucks-Lichtnelke«, sagt sie. Eine

Landwirtschaft ohne Nutztiere sei für viele bedrohte Arten deshalb

kein Fortschritt. Dazu komme, dass gerade Wiesen und Weiden

große Mengen Kohlenstoff im Boden speichern.

Doch es gibt Lösungen. Kühe – allerdings in viel kleineren

Herden als heute – fressen ihre Weiden in Zukunft weiter ab und

düngen sie mit ihren Hinterlassenschaften, sodass Wildkräuter

und Insekten sich vermehren können. Schafe und Ziegen ziehen

über Deiche und Berghänge, um sie festzutreten. Außerdem erhalten

sie die Landschaft in ihrem Charakter – ähnlich wie die

Heidschnucken in der Lüneburger Heide. Die Herden werden »gemanagt«,

also per Geburtenkontrolle auf gleichem Stand gehalten.

Tote Tiere landen im Krematorium oder in der Biogasanlage.

Diese Rinder, Schafe und Ziegen wären praktisch Angestellte

der Bauern – oder besser der Allgemeinheit. Weil sich die aufwendige

Haltung von Tieren nicht mehr über den Verkauf von

Fleisch, Milch und Käse rentierte, müssten die Kosten als »Dienstleistungen

an der Natur« aus Staatsgeldern bezahlt werden, wie

es bereits jetzt teilweise in der »Gemeinsamen Agrarpolitik« der

EU geschieht. Die Zahlungen lägen deutlich höher als die heute

in Deutschland verteilten 6,7 Milliarden Euro pro Jahr – und sie

seien nicht so leicht bei den EU-Partnern durchzusetzen, die nicht

vegan leben wollen oder es wegen ihres vielen Grünlands gar

nicht können, sagt Urs Niggli.

Der Generalsekretär des Deutschen Bauernverbands, Bernhard

Krüsken, hält dieses Szenario für absurd: Um einen solchen

Bernhard Krüsken,

Generalsekretär des Deutschen

Bauernverbands

POLITIK, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT

»riesigen Streichelzoo mit angeschlossener Nutztierkompostierung«

zu finanzieren, müsste die öffentliche Hand »einige Tausend

Euro pro Hektar« aufwenden. Wie teuer ein solches System für

die Steuerzahler:innen wäre, lässt sich tatsächlich noch gar nicht

abschätzen.

Schweine dagegen wären im veganen Deutschland als Nutztiere

praktisch vollständig verschwunden. Auch Geflügel gäbe es

nur noch rund ums Haus, keinesfalls in großen Ställen. Das Sportfischen

wäre ausgetrocknet, weil niemand mehr Tieren Leid zufügen

möchte.

»Ein interessantes Gedankenspiel«, nennt Knut Ehlers, Landwirtschaftsexperte

beim Umweltbundesamt, die Vorstellung vom

veganen Deutschland. Für ihn gäbe es beim Verzicht auf Tierhaltung

große Vorteile bei Naturschutz und sauberer Luft. Auch würde

Deutschland seine Klimaziele leichter erreichen. Denn bislang

gestehen die Szenarien zur Klimaneutralität der Landwirtschaft

auch 2045 noch Emissionen zu, die bisher praktisch nicht zu vermeiden

sind – aus der Gülle, dem Verdauungstrakt der Rinder

und aus Moorböden, die zu Weiden geworden sind.

Ehlers warnt allerdings vor einem »Heile-Welt-Szenario«.

Denn auch vegane Landwirtschaft muss nicht ökologisch sein.

Der Anbau von Linsen, Hafer, Erbsen und Bohnen ließe sich in

industriellem Maßstab und mit Mineraldünger ertragreicher organisieren

als mit bäuerlichen Ökofamilienbetrieben. Der Druck

zu Rationalisierung könnte sogar steigen, wenn keine Tiere mehr

gehalten würden. In diesem Szenario würde

sich ohnehin eine völlig neue Agrarindustrie

etablieren. Marktführerin bei Sojaschnitzel und

veganer Teewurst könnte die ursprüngliche

Fleischfabrik Rügenwalder Mühle bleiben, die

schon 2020 mit veganen und vegetarischen Produkten

ähnlich viel Umsatz wie mit klassischen

Fleisch- und Wurstwaren machte. Auch das

Schlachtimperium Tönnies aus Rheda-Wiedenbrück

hat mit seinem Veggie-Geschäftsbereich

Vevia 4 You schon seit 2020 den Markt der Zukunft

jenseits der billigen Massenware aus Tierfleisch

entdeckt.

Aus Sicht des Bauernverbands wäre ein

veganes Deutschland ein ökonomisches und

ökologisches Desaster: »Den Landwirten würde

ohne Tierhaltung etwa die Hälfte ihrer Wertschöpfung und ihres

Einkommens verloren gehen«, sagt DBV-Generalsekretär Krüsken.

Ohne Tiere bliebe den Landwirt:innen nur der Erlös aus den

Feldfrüchten, daher brauchten sie deutlich größere Flächen für

das gleiche Einkommen. Die Wertschöpfung durch die Veredelung

veganer Produkte bliebe bei den Lebensmittelherstellern hängen.

Der wirtschaftliche Druck würde Höfe noch schneller sterben

lassen.

Krüsken warnt: Ohne den Kreislauf von Ackerbau mit tierischem

Dung müssten Betriebe mehr Mineraldünger einsetzen,

der mit hohem Energieaufwand hergestellt wird. Dazu sänke der

Verkehrswert von Grünlandgrundstücken, wenn keine Viehwirtschaft

mehr stattfände.

Zurück auf dem veganen Hof von Bauer Daniel Hausmann.

Der junge Landwirt gibt gern zu, dass er durchaus Tiere »benutzt«:

Am Bach hat er Weiden und Erlen gepflanzt, um den Erlenblattsauger

anzusiedeln. Der wiederum soll Marienkäfer anlocken, die

dann nebenan auf dem Feld die Blattläuse vom Gemüse fressen

sollen. »Und wenn der Fuchs auftaucht, haben die Nachbarn Angst

um ihre Hühner«, sagt Hausmann. »Ich freue mich, wenn er sich

bei mir ein paar Mäuse schnappt.« Und die Schnecken auf seinem

Salat? Die töte er natürlich nicht, sondern sammle sie in einen Eimer

und kippe sie dann weit entfernt in die Wiese.

»Das Leben ohne Tiere ist schon entspannter«, findet Hausmann.

Und: »Man hat viel mehr Freiheit. Anders als ein Stall voller

Kühe kommt mein Gemüse auch mal ein Wochenende ohne

mich aus.«

Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 47


POLITIK, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT

Willkommen auf dem

digitalen Flohmarkt

Fast-Fashion-Konzerne wie H&M und Zalando steigen in den

Handel mit Secondhandmode ein. Ist das ein Schritt zu

mehr Nachhaltigkeit – oder nur ein lukratives Geschäftsmodell?

Und was bringt der neue Trend den Kund:innen?

TEXT

CAROLIN WAHNBAECK

Auch gebraucht

noch fotogen:

Secondhandmode

der Otto-Tochter

About You

Z

alando hat seit Kurzem eine neue Kategorie

auf der Website. Etwas versteckt zwischen

Kleidern, Rabattbannern und Produktlinks

steht »Pre-owned« – als wäre das bei

Deutschlands aggressivstem Modehändler

das Normalste der Welt. Doch zwei Klicks weiter fällt

auf: Die Kleidung ist knittriger, das Bündchen manchmal

schiefer, die Mischung des Angebots wilder. Denn

Pre-owned ist nichts anderes als eine angesagtere Bezeichnung

für Secondhand. Und genau in dieses Geschäft

mit gebrauchter Kleidung ist der Modegigant

eingestiegen.

»Wir wollen die erste Anlaufstelle für Mode sein,

so wie Spotify für Musik – und da gehört Pre-owned

einfach dazu«, sagt eine Zalando-Sprecherin. Denn

immer mehr Kund:innen wollten auch gebrauchte Kleidung

kaufen und verkaufen, wüssten aber nicht, wo.

Diese Lücke wolle man schließen.

Mit dieser Entdeckung ist Zalando nicht allein:

Auch die H&M-Gruppe kauft und verkauft Secondhandmode

gleich über drei Kanäle: Über die Plattform

Sellpy, an der sie die Mehrheit hält; über den Onlinestore

der H&M-Marke Cos und über die konzerneigene

Rabattplattform Afound. Auch die Otto-Tochter

About You ist in das »Second Love«-Modegeschäft

eingestiegen. Und sogar der Ultrafast-Fashion-Anbieter

ASOS verkauft Vintage-Kleidung über seinen Onlinemarktplatz.

Warum tun die Firmen das? Verlegen sich die

Spezialist:innen der schnellen Wegwerfmode nun auf

Gebrauchtes? Und ist das gute PR für die klimabewussten

Kund:innen oder einfach nur ein Geschäft?

48 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021

Foto: ABOUT YOU


»Secondhandkonzepte bieten neue Umsatzmöglichkeiten, sonst

wäre das für Konzerne wie Zalando oder About You nicht relevant«,

sagt Christina Käßhöfer, die als Unternehmensberaterin

im Mode- und Einzelhandel und als Aufsichtsrätin für Gerry Weber

International arbeitet. Tatsächlich boomt das Secondhandgeschäft

vor allem in Europa und den USA, während der konventionelle

Modemarkt seit Jahren lahmt. 2019 wuchs der weltweite Markt

mit dem Wiederverkauf von Mode – kurz »Resale« – 25-mal

schneller als der konventionelle Mode-Einzelhandel, zeigt der Resale

Report 2020 des amerikanischen Secondhandhändlers Thred

Up, der sich auf Angaben des Handelsdatenanalysten Global Data

stützt.

Der Report zeigt auch: Selbst in der Coronakrise läuft das

Online-Secondhandgeschäft. Es legte demnach um 27 Prozent zu,

während der Mode-Einzelhandel um 23 Prozent schrumpfte. Zwar

ist das noch ein Wachstum aus der Nische: Der Secondhandmarkt

hatte 2019 ein Volumen von rund 28 Milliarden US-Dollar – während

Retail insgesamt bei 392 Milliarden Dollar lag. Doch in den

nächsten fünf Jahren werde sich der Secondhandmarkt auf 64 Milliarden

US-Dollar mehr als verdoppeln, prophezeien die Expert:innen.

Bis zum Ende des Jahrzehnts werde der »Resale«-Markt

sogar Fast Fashion überholt haben.

Der Boom geht einher mit einem Gesinnungswandel: Secondhand

wird salonfähig. Was früher als muffig galt, wird heute

in cleanen Onlineshops präsentiert. Gerade wer jung ist und nicht

im Geld schwimmt, kauft oft ohne Berührungsängste bereits getragene

Kleidung, mischt Altes mit Neuem, Vintage-Fundstücke

mit Fast-Fashion-Basics. Die Zielgruppe ist online-affin, zwischen

Anfang zwanzig und Mitte dreißig und findet auf den Secondhandportalen

schnell, was sie sucht – anstatt

sich durch schlecht sortierte Klamottenberge auf

dem Flohmarkt wühlen zu müssen. Aber auch

quer durch alle Bevölkerungsschichten legt der

Markt zu: Zwei Drittel der Frauen in Deutschland

haben angeblich bereits getragene Kleidung

gekauft, wie der »Ubup Secondhand Fashion

Report 2020« berichtet.

Von diesem wachsenden Markt wollen die

Modekonzerne nun ihr Stück abhaben. Bislang

dominieren in Deutschland spezialisierte Onlinehändler

wie Vinted, Momox oder Rebelle.

Vinted ist der Mutterkonzern von Secondhandplattformen

wie Kleider- oder Mamikreisel, die

seit dem Rebranding im Herbst 2020 nur noch

unter Vinted laufen. 2008 in Litauen gegründet,

hat Vinted inzwischen mehr als 45 Millionen registrierte Mitglieder

in Europa und den USA. Bei der letzten Finanzierungsrunde in

diesem Jahr sammelte Vinted weitere 250 Millionen Euro ein, der

Unternehmenswert stieg auf 3,5 Milliarden Euro.

Auch Momox, eigenen Angaben zufolge Deutschlands Recommerce-Marktführer,

steigerte 2020 seinen Umsatz um satte

25 Prozent im Vergleich zum Vorjahr – auf 312 Millionen Euro.

Und übererfüllte damit sein Umsatzziel. Die am stärksten wachsende

Kategorie »Fashion« schaffte trotz Coronakrise ein Plus

von 47 Prozent. Das Geschäft, früher unter der Tochtermarke

Ubup, läuft seit Januar unter Momox fashion.

Während Vinted und Momox mit mittelpreisigen Marken

die breite Masse anspielen, haben sich Onlinefirmen wie Rebelle

aus Hamburg oder Vestiaire Collective auf Luxus-Secondhand

spezialisiert. Denn mit Gebrauchtem von Gucci und anderen Edelmarken

lässt sich besonders viel Geld verdienen.

»Die Pandemie hat sowohl die Digitalisierung als auch das

Thema Nachhaltigkeit verstärkt – davon profitieren wir eindeutig«,

sagt Heiner Kroke, Geschäftsführer von Momox. Seit Jahren waren

dies Trends, doch in diesem Jahr kauften Konsument:innen

weltweit und auch in Deutschland sehr viel stärker online ein.

Und auch im Corona-Jahr hat die Sorge um den Planeten eher zugenommen,

was sich auch im aktuellen Kaufverhalten zeigt.

»Ob sich das

auf Dauer

rechnet, muss

sich zeigen.

Die Prozesse

im Secondhand -

geschäft sind

sehr aufwendig.«

POLITIK, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT

Während Vinted oder Momox reine Secondhandshops sind, wollen

die großen Modekonzerne an einem Ort neue und gebrauchte

Kleidung anbieten – und damit gleich mehrere Vorteile mitnehmen:

• Sie bedienen die wachsende junge Zielgruppe, die Altes und

Neues kombinieren will.

• Sie locken auch Vintage-Jäger auf ihre Website – und verleiten

sie vielleicht zum Neukauf, denn das ist und bleibt das

Hauptgeschäft.

• Sie verbessern ihr Image: Schließlich gilt Secondhand als

nachhaltig, weil es die Lebensdauer von Kleidung verlängert.

»Das Secondhandgeschäft lässt sich auch gut vermarkten«,

sagt Unternehmensberaterin Käßhöfer. »Kreislaufwirtschaft

betrifft die gesamte Fashion Industrie, ob Herstellermarken

oder Handel.«

Tatsächlich soll der Handel mit Gebrauchtem auf die Nachhaltigkeitsziele

der Konzerne einzahlen, die von Konsument:innen immer

vehementer eingefordert werden. Längst sind die Umweltprobleme

und sozialen Probleme entlang der textilen Lieferkette

bekannt. Doch noch immer werden weltweit mehr als 100 Milliarden

Kleidungsstücke pro Jahr produziert, die oft kaum getragen

werden, nach einer Saison wieder aus dem Kleiderschrank fliegen

und in den meisten Fällen auf dem Müll landen.

Auch deswegen wollen immer mehr Modekonzerne von ihrem

linearen Geschäftsmodell hin zu einem zirkulären, also Kreislaufmodell.

Zalando etwa will nach eigenen Angaben bis 2023

die Lebensdauer von 50 Millionen Kleidungsstücken verlängern.

H&M will den textilen Kreislauf schließen – der Handel mit Secondhandmode

über Sellpy oder Cos Resell ist

da nur ein Baustein neben Recycling, Reparatur

oder Vermietung.

Doch beide Konzerne sind von diesen Zielen

noch weit entfernt: Zalando hat derzeit rund

140 000 Secondhandprodukte auf seiner Preowned-Seite

– was auch daran liegen mag, dass

Zalando den Verkäufer:innen von Secondhandkleidung

kein Geld zahlt, sondern Zalando-Einkaufsgutscheine

ausstellt – oder Spendenbescheinigungen.

Ganz umstellen auf das Geschäft

mit Gebrauchtem wolle man auch langfristig

nicht: »Pre-owned stellt eine wichtige Ergänzung

zu unserem bisherigen Sortiment und

Services dar«, sagt eine Zalando-Sprecherin.

Man werde aber »vielfältig aufgestellt« bleiben.

About You bietet dagegen etwa 350 000 gebrauchte Stücke

an, und Sellpy Deutschland hat immerhin rund eine Million qualitätsgeprüfte

Artikel im Angebot. Auch wenn H&M und Zalando

weitere Nachhaltigkeitsinitiativen verfolgen, sind sie von einer

wahren Kreislaufwirtschaft noch weit entfernt. Aus dem H&M

Sustainability Performance Report geht hervor, dass nur 2,2 Prozent

des gesamten Sortiments bisher aus recyceltem Material besteht.

Da kann ein bisschen grüne Vermarktung dem Image nicht

schaden.

»Ob sich das auf Dauer rechnet, muss sich zeigen«, sagt Expertin

Käßhöfer. »Die Prozesse in dem Secondhandgeschäft von

Zalando oder Sellpy sind sehr aufwendig – jedes einzelne Teil

muss sortiert, geprüft und gewaschen werden.« Leichter hat es da

Kleiderkreisel – als Plattform, die Verkäufe von Kund:innen an

Kund:innen vermittelt. Doch auch diese Firma habe mal die Gebühren

erhöht, um die Profitabilität zu steigern, sich damit aber

bei den Kund:innen nicht durchsetzen können, sagt Käßhöfer.

Das Gold des Gebrauchtwarenmarkts scheint anderswo zu

liegen: »Die Vinted-Gruppe hat über 45 Millionen registrierte Mitglieder

– mit deren Userdaten lässt sich künftig viel Geld verdienen«,

sagt Käßhöfer. Über das Targeting – die gezielte Werbung

im Netz – also. Das hat dann allerdings mit Nachhaltigkeit nicht

mehr viel zu tun.

Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 49


POLITIK, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT

»Je billiger,

desto weniger

nachhaltig«

Philip Heldt, Modeexperte der

Verbraucherzentrale NRW,

über die Grenzen des Recyclings und

vernünftige Konsumstrategien

INTERVIEW SIMON BOOK

SPIEGEL: Herr Heldt, woher kommt der enorme

Secondhandboom, den wir gerade erleben?

H ELDT: Das hat viel mit einem gesteigerten Umweltbewusstsein

der Kund:innen zu tun. Das Thema Nachhaltigkeit wird

vielen immer wichtiger. Und es wird immer leichter, solche Mode

einzukaufen: Es gibt analoge und digitale Kleidertauschbörsen,

auch als Normalverdiener kann ich heute in Kleiderkammern gehen.

Natürlich hat das Internet das Ganze noch befeuert, da springen

nun die großen Marken auf.

SPIEGEL: Nachhaltige Mode von großen Konzernen –

geht das denn überhaupt?

H ELDT: Es gibt einige Bemühungen in der Industrie und

ein paar Siegel, die wirklich nachhaltige Mode kennzeichnen. Wir

halten da das »IVN Best« oder das »GOTS« für empfehlenswert.

Auch der »Grüne Knopf«, das Siegel der Bundesregierung, entwickelt

sich immer weiter. Generell gilt, dass es umso weniger nachhaltig

wird, je billiger die Kleidung ist. Einfach weil dann oft die

Ausgangsqualität der Stoffe schon so gering ist, dass sie sich kaum

wiederverwerten lassen.

SPIEGEL: Ist nachhaltige Fast-Fashion also eine Lüge?

HELDT: Nein. Dass Kleidung heute mehr Recyclinganteile

enthält oder Teile wiederverkauft werden, ist unstrittig. Aber die

Menge ist zu gering. Wenn es der Industrie ernst wäre, müsste sie

die Qualität ihrer Produkte hochschrauben, also etwa die der

Baumwollfasern. Da geht es vor allem ums Design. Auch bei der

Frage, wie gut Textilien reparierbar sind, ist noch viel Luft nach

oben. Da ist kaum Bewegung, und da muss man die Ambitionen

der großen Ketten stark hinterfragen.

SPIEGEL: Was können Kund:innen tun?

H ELDT: Schlechte von guten Neutextilien zu unterscheiden

ist relativ schwierig. Das ist von außen meist kaum sichtbar. Auch

bei den Werbeversprechen, wie viel wiederverwertet wird, sollte

man sich nicht auf die Industrie verlassen. Das ist alles viel zu

undurchsichtig. Es ist absehbar, dass mit neuen Textilien immer

eine höhere Marge gemacht wird als mit alten. Der Markt wird es

deshalb nicht richten. Wir brauchen dringend politische Vorgaben,

was in einer Welt mit begrenzten Ressourcen machbar ist. Ein

Gesetz also, wie es die EU in ihrer Textilrichtlinie plant. Darin soll

es Vorgaben geben zur Recyclingfähigkeit oder Reparierbarkeit

von Kleidung. Diese Ökodesign-Richtlinie wird aber noch Jahre

brauchen.

SPIEGEL: Und bis dahin?

HELDT: Da gilt es, den eigenen Konsum zu hinterfragen:

Wer wirklich die Umwelt unterstützen will, der findet in unserer

Überflussgesellschaft alle Textilien auch secondhand. Für die Natur

spielt es dabei keine Rolle, ob ich Secondhandbekleidung bei der

Diakonie, bei H&M oder im Secondhandladen im Viertel kaufe.

Wichtig ist, dass wir uns möglichst wenig neue Kleidung zulegen.

SPIEGEL: Also alles nur noch gebraucht?

HELDT: Es spricht nichts dagegen, auch mal etwas Neues

zu kaufen, gerade Basics wie Unterwäsche oder T-Shirts. Aber

insgesamt weniger zu kaufen ist das, was man tun sollte, ja. Deshalb

halte ich auch Tauschbörsen mit Freund:innen und Verwandten

für eine gute Idee. 20 bis 40 Prozent der Textilien, die wir haben,

benutzen wir so gut wie nie. Warum gibt man sich die nicht

untereinander weiter? Auch das professionelle Leihen ist eine gute

Möglichkeit, gerade wenn es um Stücke geht, die man nicht jeden

Tag braucht: ein Hochzeitskleid oder einen Skianzug. Aber auch

hier ist das Maß gefragt. Sich jede Woche einen neuen Pullover

zu borgen, um in einer Woche möglichst viele Farben zu tragen,

ist bestimmt nicht der richtige Weg.

50 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021

Foto: Britt Erlanson / Getty Images


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POLITIK, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT

»Die Pflegekräfte sitzen

am längeren Hebel«

Es werden dringend Arbeitskräfte in der Pflege gebraucht, aber die Bezahlung

ist überwiegend miserabel. Warum die Marktmechanismen in dieser Branche

versagen und die Beschäftigten sich so schwertun, ihre Macht endlich zu nutzen.

TEXT DAVID BÖCKING UND FLORIAN DIEKMANN

FOTOS PATRICIA KÜHFUSS

I

n seinen Beruf ist Philipp Leusbrock hineingewachsen. Schon

als Kind stand er morgens an der Haustür seines Elternhauses

im Münsterland und gab Schlüssel an Pflegekräfte aus. Leusbrocks

Mutter Christine hatte 1993 einen Pflegedienst gegründet.

Zwei Mitarbeiterinnen gab es anfangs, die ersten Teamsitzungen

fanden in der Küche statt.

Knapp 30 Jahre später ist Leusbrock Pflege ein etablier tes

Mittelstandsunternehmen mit rund 150 Mitarbeiter:innen. Philipp

Leusbrock ist, ebenso wie drei Geschwister, ins Familienunternehmen

eingestiegen. Als Geschäftsführer kümmert er sich um

die Gehälter – ein Thema, das ihm zurzeit häufiger in den

Nach richten begegnet. »Ich finde es schwierig, dass Pflege

immer als so zwielichtig und renditegeil dargestellt wird«, sagt

der 35-Jährige.

Die Pflege als Ausbeuterbranche: Dieses Bild wurde durch

Corona verstärkt. Während die Pandemie Kranken- und Altenpfleger:innen

an ihre Grenzen brachte, schien mancher Arbeit -

geber schon eine Tafel Schokolade für ausreichenden Dank zu

halten. Um die Finanzierung der Coronaprämie für Pfleger:innen

gab es unwürdiges Gezerre.

Auf ihren letzten Metern versuchte die schwarz-rote Koa li -

tion mit einer Reform die Bezahlung von rund 500 000 Pfleger: -

innen zu verbessern. Laut dem von Gesundheitsminister Jens

Spahn (CDU) verantworteten Gesetz erhalten ab 2022 nur noch

Einrichtungen Gelder aus der Pflegeversicherung, die nach Tarif

oder in entsprechender Höhe bezahlen. Doch warum muss die

Politik überhaupt für gute Löhne sorgen in einer Branche, die seit

Jahren wächst und dringend Personal sucht? »Pflegekräfte hätten

52 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021


ja durchaus die Marktmacht zu sagen: Ich will mehr verdienen«,

sagt Leusbrock. »Wenn ich das hier nicht kriege, gehe ich wo -

anders hin.«

So weit die Theorie. Dass die Realität bislang oft anders aussieht,

liegt auch daran, dass es »die Pflege« in Deutschland nicht

gibt. Die Branche ist zersplittert. Bei den Arbeitgeber:innen, für

die im komplizierten Entlohnungssystem der Pflegeversicherung

oft unterschiedliche Bedingungen gelten. Und auch bei den Arbeitnehmer:innen,

die sich bislang kaum für bessere Arbeits -

bedingungen organisieren.

Als gelernter Krankenpfleger weiß Philipp Leusbrock, wie

es ist, sich um einen Menschen zu kümmern – ihn etwa von Kopf

bis Fuß zu waschen. Als Geschäftsführer weiß er aber auch, ab

wann das unrentabel wird. »Eine Pflegeminute kostet uns etwa

einen Euro«, rechnet er vor. »Bei einer Ganzwaschung müssten

wir eigentlich in 21 Minuten wieder raus sein, um auf plus/minus

null zu kommen.« Grundlage dieser Kalkulation ist die Pflegeversicherung,

in der Leistungen nach Punktwerten abgerechnet werden.

Für eine Ganzwaschung bekommt Leusbrock Pflege derzeit

426 Punkte, was 21,08 Euro entspricht. Für das Zubereiten von

warmen Speisen gibt es 150 Punkte beziehungsweise 7,42 Euro.

Für einen Toilettengang und den Umgang mit anderen Ausscheidungen

dürfen 104 Punkte und 5,15 Euro berechnet werden.

Daneben finanziert auch

die Krankenversicherung Leistungen.

Zur Leistungsgruppe 1

zählen unter anderem Blutdruckmessen,

Injektionen oder

das Ausziehen von Kompres -

sionsstrümpfen. Maximal 11,26

Euro bekommt Leusbrock Pflege

dafür – un abhängig davon,

wie viele der Tätigkeiten eine

Pflegerin ausgeführt hat. So etwas

gebe es in keiner anderen

Branche, kritisiert Leusbrock.

»Du gehst ja auch nicht in die

Autowerkstatt und sagst: Ich

zahl nur den Reifenwechsel, dafür

machst du den Ölwechsel

noch mit.«

Durch das System der Pauschalen

lohnt sich vor allem die

Pflege von Menschen, bei denen

viele unterschiedliche Leistungen

abgerechnet werden können.

»Wir müssen ganz viele

Kunden querfinanzieren«, sagt

Leusbrock. Seine Firma hat sich

breit aufgestellt, betreibt auch

ein betreutes Wohnen und zwei

Wohngemeinschaften für Pflegebedürftige.

So kommt das Unternehmen

laut Leusbrock auf

eine Vorsteuerrendite von rund

sechs Prozent.

Doch nicht jeder Pflegedienstbetreibende

bringt auch

Leidenschaft für Zahlen mit.

Viele kommen aus der Praxis –

so wie Leusbrocks Mutter, die

ALLTAG DER PFLEGE Die Fotografin Patricia Kühfuss

doku mentiert in ihrer Bilderserie »Nicht müde werden«,

aus der wir hier eine Auswahl zeigen, die vielfältigen

Aufgaben des Pflegepersonals in deutschen Kranken -

häusern, aber auch die Erschöpfung, den Frust und die

kleinen Gesten der Menschlichkeit.

POLITIK, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT

den kaufmännischen Teil früh

an ihren Mann abgab. Mittelständler:innen

seien sehr wichtig

für den Pflegemarkt, aber

»betriebswirtschaftlich sicher

nicht alle brillant aufgestellt«,

sagt der Bremer Gesundheitsökonom

Heinz Rothgang. »Die Innovationsfreude ist nicht sehr

ausgeprägt.«

Es liegt jedoch nicht nur an fehlendem Unternehmergeist,

wenn bei manchen Anbietern mehr Geld ankommt. Viele Träger

verhandeln mit den Pflegekassen individuell darüber, mit wie viel

Euro die Punktwerte entgolten werden. Ein großer, alteingesessener

Träger wie die Caritas hat oft eine bessere Bezahlung aushandeln

können als kleinere Anbieter. So erhält der nächstgelegene

Caritas-Pflegedienst laut Daten des Fachportals Pflegelotse.de gut

fünf Euro mehr für eine Ganzwaschung als Leusbrock Pflege.

»Wenn die Bezahlung für alle Pflegekräfte gleich sein soll,

dann müssen Pflegeunternehmen auch gleich vergütet werden«,

sagt Philipp Leusbrock. Gesundheitsökonom Rothgang stimmt

ihm zu. »Ein Teil der Bundesländer unterscheidet bei ambulanten

Pflegeleistungen nach Trägerschaft«, sagt er. »Es ist natürlich ein

Unding, gleiche Tarife anzusetzen, dann aber für erbrachte Einzelleistungen

weiterhin unterschiedliche Sätze zu zahlen.«

»Der Sektor bietet stabile Einnahmen«

Wie groß die Gräben zwischen den Trägern sind, zeigte sich im

Februar. Da scheiterte der von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD)

unterstützte Versuch, einen allgemein verbindlichen Tarifvertrag

für die Altenpflege auszuhandeln, am Einspruch der Caritas.

Die kirchlichen Träger zahlen

überdurchschnittlich, handeln

ihre Gehälter aber ohne

Gewerkschaften aus. Ihr Veto begründeten

sie mit der Sorge, dass

ein Tarifvertrag auch Grundlage

für die eigenen Verhandlungen

mit den Pflegekassen werden

könnte. Anders ausgedrückt: Die

Kirchen fürchteten um ihren

Wettbewerbsvorteil.

Es ist nicht die einzige

Konfliktlinie in der Branche. So

versucht der Arbeitgeberverband

Pflege (AGVP) derzeit

vor Gericht, die Gewerkschaft

Ver.di in der Altenpflege für

»tarif unfähig« zu erklären. Pressemitteilungen

des AGVP tragen

Titel wie »Frau Baerbock

hat keine Ahnung!!!« oder

»Der Westen diktiert, der Osten

zahlt!« Die Löhne stiegen ja

auch ohne Tarifbindung, argumentiert

Geschäftsführerin Isabell

Halletz. »Wir brauchen kein

Instrument, das so hart eingreift,

wenn sich der Markt aufgrund

der knappen Personalressourcen

permanent selbst überholt.«

Man unterstütze die Arbeit der

Pflegekommission, die Mindestlöhne

festlegt. »Alles darüber

hinaus sollte dem Wettbewerb

über lassen bleiben und die Vielfalt

der Unternehmen fördern.«

Der AGVP vertritt nach

eigenen Angaben die umsatz -

stärksten Unternehmen der deutschen

Pflegewirtschaft. Dazu

gehört auch Branchen primus

Korian aus Frankreich. Offiziell

gibt der Verband seine Mitglieder

mit Verweis auf den Datenschutz

jedoch nicht preis. Das

Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 53


POLITIK, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT

könnte auch an den Finanziers liegen. »Seit 2017 beobachten wir

einen starken Anstieg von Finanzinvestoren in der Gesundheitsbranche«,

sagt Christoph Scheuplein, der an der Westfälischen

Hochschule Gelsenkirchen zum Thema forscht. »Die größten Übernahmen

gibt es dabei in der Pflege.«

Nach Erhebungen von Scheuplein sind derzeit mindestens

17 Pflegeketten in Deutschland in der Hand von Private-Equity-

Investor:innen. »Der Sektor ist stark reguliert, aber er bietet stabile

Einnahmen«, erklärt er. »Investoren zieht auch die Zersplitterung

der Branche an. Im Vordergrund steht nicht der Bau eigener Pflege -

heime, sondern es werden vor allem bestehende Unternehmen

zusammengelegt.«

Terra incognita für Gewerkschaften

Deutschlands zweitgrößte Pflegekette Alloheim wechselte bereits

mehrfach den Besitzer und gehört mittlerweile der Beteiligungsgesellschaft

Nordic Capital, deren Fonds vom Steuerparadies Jersey

aus gesteuert werden. Kein Einzelfall: Zwei Drittel der Ketten

mit Private-Equity-Investor:innen werden laut Scheuplein aus Offshore-Finanzplätzen

wie den Cayman Islands oder Guernsey

gesteuert. Dort sparen sie nicht nur Steuern, sondern sind auch

kaum Rechenschaft über ihre Einnahmen schuldig.

Angesichts der neuen Akteure wollen manche den Pflegemarkt

noch stärker regulieren als bisher. Renditen in der Pflege

sollten begrenzt werden, forderte die SPD-Fraktion vor zwei Jahren.

Den Mittelständler Leusbrock ärgert das. »Wann haben wir

darüber geredet, dass Ärzte zu viel verdienen?« Außerdem seien

ambulante Pflegedienste keine Ketten. »Das sind meistens Unternehmen,

die von Frauen wie meiner Mutter gegründet wurden.«

Tatsächlich sind Finanzinvestor:innen im ambulanten Bereich

kaum präsent. Mitarbeiter:innen von Ketten trifft Leusbrock dennoch

– wenn Altenheime bei gemeinsamen Arbeitsgruppensitzungen

regelmäßig von neuen Trägern vertreten werden.

Das Interesse an der Pflege als Geschäft steigt. Doch profitieren

davon auch die Pfleger:innen?

In einer Marktwirtschaft regeln der reinen Lehre zufolge

Angebot und Nachfrage den Preis. So betrachtet befinden sich

die Beschäftigten in der Altenpflege in einer vielversprechenden

Position: Seit Jahren stellt die Bundesagentur für Arbeit (BA)

einen flächendeckenden Fachkräftemangel fest. Für eine gute Pflege

benötigten allein die Altenheime 100 000 zusätzliche Arbeitskräfte,

hat Gesundheitsökonom Rothgang ermittelt. Die demografische

Entwicklung wird den Bedarf weiter steigen lassen. Tatsächlich

wirkt sich die hohe

Nachfrage in der Altenpflege

bereits aus: Die Löhne

sind in den vergangenen

Jahren überdurchschnittlich

stark gestiegen. Von 2012

bis 2019 legten die mittleren

Bruttoverdienste von Vollzeitbeschäftigten

um rund

28 Prozent zu, sowohl bei

Fach- als auch bei Hilfskräften.

Über alle Beschäftig ten

hinweg wuchsen in Deutschland

die Verdienste lediglich

um gut 18 Prozent.

Auf dieses überdurchschnittliche

Wachstum verweisen

Arbeitgeberverbände

wie der AGVP gern. In

absoluten Beträgen relativiert

sich der scheinbar

hohe Anstieg jedoch, weil

er von einem recht niedrigen

Niveau aus erfolgte.

Der Bruttomonatsverdienst

von Vollzeit-Pflegehelfer:innen etwa stieg in den sieben Jahren

um 464 Euro, beim Durchschnitt aller Beschäftigten dagegen um

525 Euro. Bei Fachkräften war der absolute Anstieg mit 659 Euro

zwar höher, doch selbst sie verdienen immer noch deutlich weniger

als durchschnittliche Arbeitnehmer:innen. Unterm Strich arbeitete

im Jahr 2019 in Westdeutschland noch ein Viertel der Beschäftigten

in der Altenpflege für Niedriglohn, in Ostdeutschland waren es sogar

40 Prozent. Der Markt regelt es offensichtlich nicht von allein.

Die Lohngefälle sind auch innerhalb der Pflegebranche hoch.

Krankenhäuser zahlen deutlich besser als Altenheime, deren Gehälter

wiederum erheblich über ambulanten Pflegediensten liegen.

Diese Hierarchie entspricht nicht von ungefähr der jeweiligen

Schlagkraft der Gewerkschaften. Nur elf Prozent aller Altenpflege -

kräfte sind überhaupt gewerkschaftlich organisiert, stellte der Poli -

tologe Wolfgang Schroeder 2017 in einer Studie im Auftrag der

gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung fest. Vier von fünf Befragten

wurden bislang noch nicht einmal von einer Gewerkschaft

kontaktiert. »Ich habe noch nie erlebt, dass unsere Pflegekräfte

von Gewerkschaften angesprochen wurden«, bestätigt Mana ger

Leusbrock. »Wir haben einen Organisationsgrad von null. Ich

finde das wirklich schade.«

Insbesondere die ambulante Altenpflege gleicht für Gewerkschaften

einer Terra incognita. Selbst Ver.di mit seinen zwei Millionen

Mitgliedern verhandelt zwar für die Pflegekräfte im öffentlichen

Dienst regelmäßig Tarifverträge, bekommt aber in der ambulanten

Pflege keinen Fuß in die Tür. »Ich will keinen Hehl daraus

machen, dass es unsere Kapazitäten schlicht übersteigt, überall

präsent zu sein«, sagt Ver.di-Vorständin Sylvia Bühler. »Es gibt

Tausende ambulante Dienste mit zum Teil ganz wenig Personal,

das fast die ganze Arbeitszeit in privaten Haushalten und auf der

Straße verbringt und nicht gemeinsam im Betrieb. Wie soll ich an

die rankommen?«

In den Altenheimen ist Ver.di ein bisschen präsenter. Die

Zahl der dortigen Mitglieder gibt die Gewerkschaft aber ebenso

wenig preis wie der AGVP die Namen der von ihm vertretenen

Unternehmen. Neben Intransparenz verbindet beide Seiten ausgeprägte

Abneigung. »Wir haben es nicht mit Sozialpartnern zu

tun, sondern mit Arbeitgeberverbänden, die Gewerkschaften bekämpfen

und Tarifverträge verhindern, statt sie abzuschließen«,

schimpft Bühler.

Für ihre Blockadehaltung genügt den Arbeitgeberverbänden

bislang der Hinweis, dass Ver.di nur eine kleine Minderheit vertritt.

Die Sammelgewerkschaft habe es schwer, konstatiert Gesundheits-

54 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021


POLITIK, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT

ökonom Rothgang. »Die Pflegekräfte

vermissen den Stallgeruch.«

Diesen Stallgeruch verspricht

der Bochumer Bund,

eine im vergangenen Jahr gegründete

Pflegegewerkschaft.

Ihr Name lehnt sich nicht zu -

fällig an die erfolgreiche Ärztegewerkschaft

Marburger Bund

an. »Ich war 25 Jahre bei der

ÖTV und dann bei Ver.di«, erzählt

Heide Schneider, eine der

beiden Vorsitzenden und seit

mehr als 30 Jahren als Pflegerin

tätig. »Aber deren Tarifabschlüsse

sind seit Jahren bescheiden

und gleichen kaum die Inflation

aus. Als sie wieder einmal einen

für mich sehr wichtigen Punkt

in den Verhandlungen für einen

anderen fallen gelassen haben,

habe ich gesagt: Jetzt reicht es.«

Nur dem Berufsstand verpflichtet,

will der Bochumer Bund

schlagkräftiger sein als Ver.di.

»Unser Tarifvertrag wird besser

sein als der des öffentlichen

Dienstes«, verspricht Schneider.

Bis dahin ist es allerdings

noch ein weiter Weg. Gerade

einmal knapp 1600 Mitglieder

zählt der Bochumer Bund

Schneider zufolge nach einem

Jahr, davon deutlich mehr aus

der Kranken- als aus der Altenpflege.

Um neue Mitglieder zu

werben, bleibe nur Mundpro -

paganda, sagt Schneider. Ein

Selbstläufer sei das nicht. »Es fehlt das Bewusstsein, dass man

selbst etwas durch Kampf verändern kann.«

Das hat viele Gründe. In der ambulanten Altenpflege arbeiten

fast nur Frauen – viele davon in Teilzeit, morgens und abends,

wenn die Pflegebedürftigen sie brauchen. Oftmals ist das ein

schlecht bezahlter, aber dennoch notwendiger Zuverdienst, den

die Pfleger:innen auf keinen Fall verlieren möchten. Sie fühlen

sich alles andere als mächtig.

Hinzu kommt, dass ein harter Arbeitskampf mit Streiks vielen

Pflegekräften moralisch und emotional unmöglich erscheint. Aus ihrer

Sicht würden sie die Bedürftigen im Stich lassen, zu denen sie

oft über Jahre ein enges Verhältnis aufgebaut haben. Von einem

»Moment der emotionalen Erpressung« spricht Gewerkschafterin

Schneider, den auch Arbeitgeber:innen gern ausnutzen. Ein Autowerk

kann man ohne schlechtes Gewissen zum Stillstand bringen –

aber nicht einen alten, hilflosen Menschen sich selbst überlassen.

Beruflichen Aufstieg erleichtern

Nicht zuletzt fehlt es in der Altenpflege schlicht am Kollektiv -

bewusstsein, das Belegschaften in der Industrie oft haben. Die ver -

schie denen Qualifikationsniveaus, die unterschiedlichen Träger, die

vielen Kleinbetriebe – all das trägt zur Vereinzelung bei. Zuletzt wurde

in Schleswig-Holstein und Niedersachsen gar die Auflösung von

Pflege kammern beschlossen. Diese waren erst vor wenigen Jahren

ge gründet worden. Doch die Pfleger:innen stimmten klar für die Auf -

lö sung – auch aus Protest gegen Zwangsmitgliedschaft und -beiträge.

»Sie haben in der Pflege überspitzt gesagt bald mehr Berufsverbände

als Mitglieder«, sagt Gesundheitsökonom Rothgang.

»Die Branche ist zersplittert, und niemand gönnt dem anderen etwas

– das ist fürchterlich.«

Dass sich in der Pflege

dennoch etwas tut, sollen Mitarbeiter:innen

spätestens am

1. September 2022 merken.

Von dem Datum an gelten laut

Spahns Gesetz Tariflöhne. Ein

Pflegedienst wie Leusbrock

soll sie genauso zahlen wie

Altenheime in der Hand großer

Ketten. Der Minister hofft,

dass die neuen Regeln der Anfang

für regelmäßige Lohnund

Tarifsteigerungen sind.

»Die Pflegekräfte sitzen am längeren

Hebel.«

Die Politik schubst die Pfleger:innen

also in Richtung von

Tarifverhandlungen, auf dass

sie künftig um ihre Bezahlung

kämpfen. Die Arbeitnehmer: -

innen aber schauen laut der Umfrage

von Politologe Schroeder

in eine andere Richtung: 87 Prozent

sagten, der Staat müsse

etwas an den Zuständen ändern,

der Arbeit geber oder Arbeitnehmervertretungen

wurden deutlich

seltener genannt.

Die Pflege wird eine Branche

mit erhöhtem Betreuungsbedarf

bleiben. Schon wegen

der Frage, nach welchen Tarifverträgen

sich künftig denn die

Bezahlung richten soll. Gewerkschafter:innen

fürchten, dass

Arbeitgeber:innen mit Kleinstgewerkschaften

Dumpingverträge

schließen könnten.

Unternehmer Leusbrock sagt, er habe keine Probleme mit

höheren Löhnen. Kürzlich hat er mit der Pflegekasse verhandelt

und kann jetzt ein deutlich erhöhtes Einstiegsgehalt von 3400

Euro zahlen – mehr als den Tariflohn. Die bessere Bezahlung wurde

bei der Refinanzierung berücksichtigt. Dennoch bleibe der Bereich

Pflege im Unternehmen insgesamt defizitär, sagt Leusbrock.

Von Gewinnen könne keine Rede sein.

Allein mit höherer Bezahlung werden die Probleme der Pflegebranche

ohnehin nicht zu lösen sein. Umfragen zeigen immer

wieder, dass Pfleger:innen besonders unter Arbeitsbelastung und

Personalmangel leiden. Auch deshalb plädieren Branchenvertreter:innen

dafür, den beruflichen Aufstieg zu erleichtern. »Bei der

Weiterbildung von ungelernten und teilqualifizierten Kräften gibt

es ein großes Potenzial«, sagt AGVP-Vertreterin Halletz. Ökonom

Rothgang kritisiert, dass Pflegekammern bislang nur Fachkräfte

als Mitglieder akzeptieren. »Da zeigt sich auch ein gewisser Dünkel

gegenüber Assistenzkräften.«

Den scheint Philipp Leusbrock nicht zu haben. »Wir haben

eine Pflegehilfskraft, die steckt jede Fachkraft in die Tasche«, erzählt

er. »Die verdient genauso viel.« Sein eigenes Gehalt liege

wiederum nicht allzu weit über dem der Mitarbeiter:innen. Das

habe er auch gemerkt, als es um einen Kredit für die Pflege-WG

des Unternehmens ging. »Da hat die NRW-Bank meine Geschwister

und mich geprüft und gesagt: Eigentlich verdient ihr ja zu

wenig für so ein Bauvorhaben.«

Das sei okay, sagt er. »Man entscheidet sich nicht dafür, weil

man damit mega viel Geld macht.« Sollten Pflegeunternehmen

nach den Tarifen aber auch noch die Renditen vorgeschrieben

werden, will er sich aus dem Beruf verabschieden, den er seit der

Kindheit kennt. »Dann würde ich das nicht mehr machen.«

Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 55


KOLUMNE: DIE KUNST DES GRÜNEN LIEBENS

Das Fliegen der anderen

Seitdem meine Freundin und ich wegen der Pandemie nicht mehr

verreisen, sparen wir uns jede Menge Streit über vermeintliche Klimasünden.

Was für eine Erleichterung!

TEXT FABIAN THOMAS

ILLUSTRATION MORITZ WIENERT

Fabian Thomas, 25, und Svenja Meese, 23, die in Wahrheit einen

anderen Nachnamen trägt, sind seit vier Jahren ein Paar. Sie studiert

Klimatologie an der ETH in Zürich, er Journalismus an der

Journalistenschule in München. Svenja will retten, was vom Klima

noch zu retten ist, Fabian würde ihr gern dabei helfen, doch er will

nicht auf so viel verzichten wie Svenja. Für SPIEGEL START schreiben

sie in »Die Kunst des grünen Liebens« im Wechsel darüber,

wie sie es trotzdem schaffen, sich zu lieben.

W

enn Svenja und ich den Sommerurlaub planen,

dann beginnt der Stress im Januar. Unsere Vorstellungen

sind ein bisschen so wie Cola und Mentos:

Jede für sich ist gut, aber wenn man sie mischt, entsteht

Chaos. Das Problem beginnt schon bei der

Anreise. Svenjas goldene Regel: Für Auslandsaufenthalte unter

zwei Monaten wird nicht geflogen. Ich finde, ab zwei Wochen Urlaub

ist alles okay, zahle ich doch – wie

ich Svenja gern vorhalte – die 7,81 Euro

CO -Ablasssteuer mit Vergnügen. Svenja

sagt dann: alles Fake.

²

Svenja ist mit Deutschland, Italien

und Frankreich grundsätzlich zufrieden.

Ich will, wenn ich schon mal in den Urlaub

fahre, auch gern etwas weiter weg.

Das war schon früher so, gilt aber erst

recht, wenn man nach zwei Jahren

mehr oder weniger durchgängigem Corona-Lockdown

irgendwann wieder unbeschwert

verreisen kann. Surfen in

Portugal wäre zum Beispiel eine Op tion

oder in Israel Falafel essen. Wandern

im Allgäu finde ich eher langweilig. Außerdem

bin ich ein Snob. Wenn ich

schon verreise, will ich etwas Komfort.

Ich meine, ich lebe 352 Tage im Jahr in einer stinkenden Studierenden-WG!

Ich finde es nicht zu viel verlangt, wenigstens zwei

Wochen im Jahr in einem schönen Airbnb aufwachen zu wollen.

Svenja sagt dann: zu teuer. Svenja will in die Natur, Kühe sehen,

im Zelt kuscheln. Ich könnte kotzen.

Es ist nicht so, dass ich es nie versucht hätte. 2017, für unseren

ersten gemeinsamen Urlaub, fuhren Svenja und ich an die Ardèche.

Kleiner Campingplatz, Geheimtipp von einer Kommilitonin. Geheimtipp

hieß in diesem Fall, dass das letzte Stück des Wegs keine

Straße mehr war, sondern eine hinterhältige, gemeine, steil abwärts

führende Schotterpiste. Alle zwei Minuten kam uns ein Renault

mit oberkörperfreien Franzosen entgegen. Die Straße war eng.

Die Schlucht zu unserer Rechten war tief.

Etwa jede Minute kratzten Felsbrocken an den Unterboden

meines Ford Fiesta, Baujahr 2005. Ich schaute jedes Mal angsterfüllt

auf den Tankanzeiger. Hoffentlich bleibt der Tank dicht, dachte

ich. Der Tank blieb dicht. Ich nicht: Am ersten Abend bekam

ich Magen-Darm, hockte nachts zwischen zwölf und sechs Uhr

auf dem Klo, das in unserem Geheimtipp-Campingplatz aus einem

Loch im Boden bestand, 20 Minuten bergauf von unserem Zelt

entfernt. Ich kotzte, diesmal wirklich.

Nach fünf Tagen »Urlaub« war ich völlig am Ende. Der Besitzer

des Campingplatzes hatte mir in Nacht vier um fünf Uhr

morgens beim Toilettengang zugehört. Durchfall war eine Untertreibung.

Als ich das Toilettenhaus verließ, schaute er mich mit

leeren Augen an. Ich muss ihm sehr leidgetan haben. Am nächsten

Tag beschlossen wir, früher nach Deutschland zurückzufahren.

Dort angekommen, bemerkte ich, dass wir dank französischer

Maut gut 500 Euro für fünf Nächte Scheißen ausgegeben hatten.

Nie wieder Campen (und nie wieder Frankreich), schwor ich

mir, also fuhren Svenja und ich im nächsten Jahr nach Lissabon.

Das heißt: Ich flog, und sie fuhr Bahn. Zu meiner Verteidigung

muss ich sagen, dass sie eine Woche früher da sein wollte, um in

der Algarve wandern zu gehen. Außerdem

war der Flug mit 110 Euro deutlich

günstiger als das Interrail-Ticket für 170

Euro zuzüglich Reservierungen.

Als ich sie nach der Rückreise –

für die ich drei Stunden und sie zwei

Tage brauchte – vom Bahnhof in Freiburg

abholte, war Svenja klebrig und

roch so, wie man nach zwei Tagen Zug

durch Portugal, Spanien und Frankreich

riecht. Aber ihre Augen zeugten von

moralischer Überlegenheit, das musste

ich ihr lassen, als ich sie abholte.

Manchmal glaube ich aber auch,

dass Svenja ihre CO ²

-Bilanz einfach

outsourct. Da war ihr Auslandsstudium

in Vancouver, 2018 bis 2019. Nein, sie

könne mich leider nicht an Weihnachten

besuchen, ließ sie mich wissen. Für zwei Wochen im Dezember

nach Deutschland fliegen? Das geht gar nicht! Wäre doch klimaschädlich

und übertrieben. Übrigens, Fabian, die Spanier hier an

der Uni sind sooo süß, Salva zum Beispiel. In Portland hätte er

mich fast geküsst. Also musste ich nach Vancouver fliegen, für

zwei Wochen nach Weihnachten, mit erstaunlich wenig Gegenrede

von Svenja. Den Flug habe natürlich ich gezahlt.

In der Air-France-Maschine von Paris nach Vancouver bekam

ich die Grippe. Svenja erwartete mich mit Sushi am Flughafen. Wir

küssten uns. Drei Tage später verschlief ich zum ersten Mal in meinem

postpubertären Leben Silvester. Ich frage mich manchmal, warum das

alles? Dann flog ich Anfang Januar 2019 über Grönland zurück nach

Deutschland. Das Eis schmilzt. Die Meeresspiegel steigen. Menschen

werden sterben, leiden, flüchten. Ich trank den Whiskey in der Boeing

777 aus, der Steward hatte ihn mit doppeltem Eis serviert. Ich schaute

»Crazy Rich Asians«. Ich weiß, dass Svenja recht hat. Aber küss bitte

nicht Salva, dachte ich. Und komm mich besuchen, an Ostern.

56 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021


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WIE LEBE ICH?

ILLUSTRATION ROSA AHLERS

58 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021


INTRO

Alltag und Beziehung

So viel zu tun, so wenig Zeit: Oft hetzen wir durch unseren Alltag, von A nach B,

von Aufgabe zu Aufgabe. Klar, wir gehen feiern, reisen, flirten, treffen Freund:innen; aber ein

bisschen treibt uns dabei auch die Angst, etwas zu verpassen, die »fear of missing out«.

Welches Lebensmodell uns wirklich glücklich machen könnte, ob als Single, Paar, Familie oder

große bunte Lebensgemeinschaft, an welchem Ort wir bleiben wollen, welchen Raum

wir der Liebe geben, welche Freizeitgestaltung uns erfüllt – um all das herauszufinden, brauchen

wir Zeit zum Innehalten, zum Nachdenken, Zeit dazu, uns selbst kennenzulernen und uns

über unsere Gefühle und Werte klar zu werden. Für all das soll im dritten Kapitel Raum sein.

Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 59


WAS GEHT ... IN ALLTAG UND BEZIEHUNG

INTERVIEW

Safer Sex im Internet

Immer mehr Sextoys lassen sich über Apps fernsteuern. So kann

man trotz Fernbeziehung oder Quarantäne miteinander Spaß haben.

Doch nicht immer sind »smarte« Toys auch »safe«. Thorsten

Urbanski, Sprecher des europäischen IT-Security-Herstellers ESET,

erklärt, wie sich Verbraucher:innen schützen können.

SPIEGEL: Herr Urbanski, Hacker:innen legen Computer -

systeme von Unis lahm und erbeuten Fotos von

Promis. Wenn die sich schon nicht schützen können,

wie sicher ist dann mein smarter Vibrator?

URBANSKI: Fast alle technischen Geräte, die sich mit dem

Internet verbinden, können von außen angegriffen werden – auch

Sextoys. Bekannt sind zum Beispiel Fälle, in denen fernsteuerbare

Keuschheitsgürtel gehackt wurden und die Tragenden erst nach

Zahlung eines Lösegelds wieder freikamen. Ein smarter Vibrator

ist ebenso angreifbar, aber natürlich leichter loszuwerden. Größer

sind die Gefahren für die Privatsphäre.

SPIEGEL: Wie viel weiß mein smartes Sextoy über mich?

URBANSKI: Eine ganze Menge. Manche Hersteller:innen

bieten zu ihren Toys Communitys an, in denen man Bilder, Vibrationsmuster

oder Nachrichten austauschen kann. Außerdem können

die Apps Standortdaten, Kontakte und Nutzungszeiten erfassen.

Aus solchen Informationen können Kriminelle viel über Vorlieben

herauslesen. Wenn möglich, sollte man sich deshalb nie mit

dem echten Namen oder der normalen E-Mail-Adresse anmelden.

SPIEGEL: Was können Verbraucher:innen noch tun, um

sich zu schützen?

URBANSKI: Vor dem Kauf sollte man eine Netzrecherche

machen: Gibt es bekannte Sicherheitslücken? Werden Updates

angeboten? Extrem billige Toys stellen oft ein Risiko für das ganze

Netzwerk dar: Manche werden mit Schadsoftware geliefert, die

andere Geräte infizieren kann. Am besten behandelt man neue

Toys wie Tinder-Dates – und lässt sie nur ins Gäste-WLAN.

STUDIE

Klimaschutz statt Kinderwunsch

Kann man angesichts der Klimakrise überhaupt noch Kinder bekommen? Immerhin sind sie

diejenigen, die am längsten mit den Folgen der Erderhitzung leben müssen. Unter dem Hashtag

#birthstrike erzählen Frauen wie die britische Sängerin Blythe Pepino schon seit Jahren davon,

dass sie aus Angst vor der drohenden Klimakatastrophe den eigenen Kinderwunsch aufgegeben

haben. Eine groß angelegte Umfrage unter jungen Menschen zeigt nun, wie verbreitet diese

Angst ist: Über die Hälfte der 16- bis 25-jährigen Befragten sieht demnach die Sicherheit ihrer

Familie durch den Klimawandel bedroht. Fast 40 Prozent sind unentschlossen, ob sie angesichts

drohender Umweltkatastrophen Kinder bekommen möchten. Forscher:innen der University of

Bath hatten 10 000 junge Menschen aus zehn Ländern befragt, darunter etwa Großbritannien

und Nigeria. Es sei die erste weltweite Untersuchung dazu, wie sich die Wahrnehmung von Klima -

politik auf die Gefühle und die Psyche junger Menschen auswirkt, schreiben die Autor:innen.

60 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021

Fotos: Ignatio Bravo / plainpicture, Anatol Kotte / Joyn, RoadJet


ALLTAG UND BEZIEHUNG

STREAMING

SEHR GUTER

SCHMUTZ

Einmal, als Emily gerade auf ihren

Roller steigen und losfahren will –

passiert etwas, das die ganze Serie

»jerks« völlig unvorbereitet noch

besser macht. Was genau passiert,

wird nicht verraten, denn dann

wäre das hier ein Spoiler und kein

Tipp, aber der Tipp ist: die neue,

vierte Staffel »jerks« schauen, sofort.

Zur Erinnerung: »jerks« dokumentiert

die Freundschaft der beiden

Schauspieler Christian Ulmen

und Fahri Yardım, wobei nicht

immer klar ist, was Realität ist und

was Fiktion. Außerdem wichtig:

Emily (die Partnerin von Christian),

Pheline (die von Fahri) und Collien

(Christians Ex). In der nun vierten

Staffel gibt es mehr Lügen und

mehr Abgründe als in den dreien

zuvor. Es gibt mehr Blut, mehr

Schweiß, mehr Speichel und mehr

Tränen. Ja, es ist wieder einmal

alles unnormal und übertrieben in

diesen zehn Folgen, und trotzdem

schaffen sie etwas Großes: Wir lernen,

in aller Klarheit, dass das Leben

immer noch beschissener werden

kann (spätestens in dieser einen

Szene, die hier nicht gespoilert

wird). Und dass es zugleich, nur ein

Haus weiter, nur einen Tag später,

das absolute Gegenteil sein kann.

Das Leben ist schmutzig, aber das

Leben ist auch verdammt gut. Und

es gibt keine andere Serie, die davon

so ehrlich erzählen kann.

Die vierte Staffel von »jerks« läuft

seit Ende August mit wöchentlich

zwei neuen Folgen auf Joyn PLUS+.

PODCAST

Wer war Daniel Küblböck?

Die Älteren erinnern sich vielleicht: Zwischen November 2002

und März 2003 tanzte die erste Staffel der Castingshow

»Deutschland sucht den Superstar« über die Fernsehbildschirme

– und mit ihr Daniel Küblböck. Der damals 17-Jährige durfte

Woche um Woche den Paradiesvogel geben, kombinierte

Lipgloss zum Schottenrock, stand offen zu seiner Bisexualität

und verfehlte mehr Töne, als er traf. Dafür wurde er vom Publikum

entweder geliebt oder gehasst, beides mit gleich großer

Inbrunst. Nach dem Casting-Rummel wurde es stiller um den

Sänger. Bis 2018 die Nachricht kam, dass Küblböck – inzwischen

als Frau unter dem Namen Lana Kaiser lebend – spurlos

von einem Kreuzfahrtschiff verschwunden sei. Was war da -

zwischen passiert? Das zeichnet der Podcast »Ein Mensch

verschwindet« einfühlsam und aufschlussreich nach. Die

Macher:innen lassen Freund:innen, Kolleg:innen und Fans von

Kaiser-Küblböck zu Wort kommen. Beim Hören lernt man nicht

nur eine Person kennen, die weitaus mehr war als eine

quietschende Nervensäge, sondern auch viel über das Showbusiness

– und den Umgang, den unsere Gesellschaft mit

Menschen pflegt, die nicht in bekannte Muster passen wollen.

Spannend auch für alle, die Anfang der Nullerjahre noch kein

Fernsehen geguckt haben! Verfügbar bei Podimo

REISEN

ZUG UM ZUG

D

resden, Wien und Nürnberg

waren in diesem Sommer

die Top-Reiseziele bei Flixbus

im deutschsprachigen Raum;

Amsterdam, Paris und Kopenhagen

lagen im restlichen Europa vorn.

Seitdem die Coronabeschränkungen

so weit aufgehoben wurden,

dass die Fernbusse wieder rollen

dürfen, haben die Anbieter ihren

Kampf um reiselustige, meist junge

Kund:innen auf diesem Wachstumsmarkt

neu aufgenommen.

Das Unternehmen Flixmobility, das mit seinen Flixbussen rund 95 Prozent

Marktanteil unter den Fernbuslinien hält, bekommt dabei frische Konkurrenz:

Das finanzstarke französische Mobility-Unternehmen BlaBlaCar drängt mit Macht

auf den deutschen Markt. Es wirbt damit, 15 000 Verbindungen im Angebot zu

haben – die meisten davon allerdings eher im Süden Europas. Auch das Kölner

Start-up Pinkbus hat die Coronakrise überstanden. Der Marktmini hat derzeit

nur Verbindungen zwischen Hamburg und Berlin zu bieten, kündigt aber weitere

Ziele an, etwa Frankfurt, Amsterdam und München. Auch der erst im vergangenen

Jahr gegründete Neuling Roadjet, der statt auf Kellerpreise lieber auf Komfort

setzt und mit Massagesesseln und High-Speed-Internet wirbt, hat bisher nur wenige

Verbindungen im Angebot.

Ein Preiskampf auf wichtigen Strecken zeichnet sich jetzt schon ab: Bei

einer Testbuchung der Strecke Hamburg–Berlin verlangten BlaBlaCar und Pinkbus

teilweise nur 3,99 Euro pro Fahrgast, Flixbus rief Preise ab 4,99 Euro auf –

und ein genauso günstiges Angebot für den schnelleren Flixtrain.

Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 61


ALLTAG UND BEZIEHUNG

Die Pille ist out. Trotzdem nehme ich sie – und habe häufig das Gefühl,

mich vor anderen Frauen rechtfertigen zu müssen.

Warum ist das so? Und was empfehlen Expertinnen?

TEXT LOU ZUCKER

ILLUSTRATIONEN RONJA FISCHER

62 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021


Die junge Hippieverkäuferin im Kunsthandwerkladen ist entgeistert:

»Was, es gibt noch Frauen, die die Pille nehmen?« Ich hatte

überlegt, eines ihrer handgefertigten Körperöle aus natür lichen,

regionalen Inhaltsstoffen für eine Freundin zum Geburtstag zu

kaufen. Dann hatte ich erfahren, dass es Johanniskraut be inhaltet,

und mich dagegen entschieden. Meine Freundin nimmt die Pille,

und Johanniskraut kann die Wirksamkeit mindern. »Ich nehme

auch die Pille«, sage ich und spüre Scham aufkommen.

Dann schäme ich mich dafür, dass ich

mich schäme. Ich ärgere mich, wie defensiv

mein Tonfall klingt. Mein Herz klopft unangenehm

schnell inmitten all der Entspannungsöle.

Die Verkäuferin lässt nicht locker: »Also,

da hast du mich aber geschockt. Ich kenne keine,

die noch die Pille nimmt. Das ist doch total out.«

Ich könnte ihr jetzt erklären, dass ich Endometriose

habe, eine schmerzhafte chronische

Krankheit, die etwa 10 bis 15 Prozent der Menschen

mit Uterus betrifft und die bei mir nur

mithilfe der Pille eingedämmt werden kann.

Das füge ich auch meist ganz schnell hinzu,

wenn ich Freundinnen erzähle, dass ich die Pille

nehme. Dass ich sie sogar »durchnehme«, also keine Pause mache

und dementsprechend auch keine Regelblutungen habe.

Meine Freundinnen sehen dann immer noch besorgt oder

erschüttert aus, aber sie scheinen ein wenig aufzuatmen: Immerhin

mache ich das mit der Pille nicht freiwillig, ich muss

sie nehmen, für meine Gesundheit. Damit habe ich anscheinend

einen legitimen, akzeptierten Grund. Unter die Besorgnis

in ihren Blicken mischt sich dann manchmal Mitleid.

Wie kommt es, dass ich so oft das Gefühl habe, mich vor

anderen Frauen dafür rechtfertigen zu müssen, dass ich die Pille

nehme? Gibt es nach der Flugscham jetzt eine Pillenscham, weil

so ein »Hormoncocktail« irgendwie nicht mit Yoga-Morgenroutinen,

grünen Smoothies und Meditations-Apps zu -

sammenpasst?

Ich bin mir der vielen möglichen Nebenwirkungen sehr

bewusst, ich habe selbst deshalb schon viermal das Präparat

gewechselt. Doch ist die gesellschaftliche Wahrnehmung der Pille

derzeit noch als gesunde Skepsis zu bezeichnen, oder ist sie schon

»Ich möchte in

dieser Welt frei

agieren und nicht

so extrem von

der Biologie in mir

bestimmt sein.«

Anna W., Pillennutzerin

ALLTAG UND BEZIEHUNG

in aktives Pillenshaming umgeschlagen? Und wie kam es dazu,

dass Frauen die Pille in den Sechzigerjahren als Schlüssel zu ihrer

sexuellen Befreiung feierten – und heute geradezu das Gegenteil

in ihr sehen?

Der Trend geht gegen die Pille. In den vergangenen Jahren

sind zahlreiche Bücher erschienen mit Titeln wie »Bye, bye Pille

– in vier Schritten zurück zur Balance«, »Freiheit von der Pille –

eine Unabhängigkeitserklärung« oder »Adé, goldener Pillen -

käfig!«. Auf Instagram hat der Hashtag #pilleabsetzen mehr als

7000 Beiträge. Deutschlandweit ist die Pille zwar immer noch das

am meisten genutzte Verhütungsmittel unter Erwachsenen, ihre

Bedeutung ist aber zwischen 2011 und 2018 um sechs Prozentpunkte

zurückgegangen. Das fand die Bundeszentrale für gesundheitliche

Aufklärung in einer Studie von 2019 heraus. Das Kondom

hat stark aufgeholt und ist inzwischen fast genauso beliebt. 48 Prozent

der Befragten waren der Meinung, dass hormonelle Verhütung

»negative Auswirkungen auf Körper und Seele« hat.

Besonders junge Frauen und Mädchen entscheiden sich immer

häufiger gegen die Pille. Im Jahr 2014 verhüteten noch 72 Prozent

der sexuell aktiven 14- bis 17-Jährigen mit der Pille. Im Jahr 2019

waren es nur noch 53 Prozent.

»Die Mädchen schämen sich oft«

Daniela Wunderlich kann das bestätigen. Sie ist medizinische Referentin

bei Pro Familia und arbeitet außerdem als niedergelassene

Gynäkologin in Wiesbaden. Die Einstellung zur Pille habe sich in

den vergangenen Jahren stark verändert, sagt sie. Gerade junge

Frauen erlebt sie in ihrer Praxis als neugierig und selbstbewusst,

sie wollten sich mehr mit ihrem Körper auseinandersetzen, hätten

Zyklus-Apps, interessierten sich für natürliche Familienplanung.

Darüber freut sich Wunderlich: »Ich finde es immer sinnvoll,

wenn man etwas hinterfragt. Ich begrüße es, dass die jungen Frauen

nicht über Jahre hinweg die Pille in sich hineinstopfen, ohne

darüber nachzudenken.« Zugleich erlebt sie, dass Frauen, für die

die Pille gut passt, sich im Freundeskreis immer wieder dafür rechtfertigen

müssen. Für viele stelle das eine Belastung

dar. »Typisch ist, wenn Mütter nach dem

Stillen wieder mit der Pille anfangen wollen.

Dann wird gesagt: ›Was, du nimmst immer

noch die Pille?‹, dabei hat sich die Frau damit

eigentlich wohlgefühlt.« Auch auf dem Schulhof

unter Freundinnen werde Druck aufgebaut:

»›Das soll man doch nicht mehr nehmen, das

sind doch Hormone‹ – dann schämen sich die

Mädchen oft.«

Diesen Druck kennt auch Anna W., mit

der ich für diesen Text gesprochen habe. Sie ist

Mitte dreißig, seit ihrem 15. Lebensjahr hat sie

die meiste Zeit mit der Pille verhütet. »Es wird

manchmal so aggressiv in den Raum geworfen:

›Die Pille ist das Schlimmste, was es gibt, ich würde mir das niemals

antun!‹ Das ist kein direkter Angriff, aber es baut Druck auf.« Oft

würde diese Einstellung mit feministischen Argumenten untermauert:

»Warum soll die Frau ihren Körper mit Hormonen

vollstopfen, und der Typ hat einfach seinen Spaß

und null Verantwortung?«

Anna W. kann dieses Argument gut nachvollziehen.

Sie hat deshalb selbst schon einmal die Pille abgesetzt. Sie

war damals 27, hatte die Pille zwölf Jahre lang genommen und

wollte ihren Körper, ihre sexuelle Lust einmal ohne diesen Einfluss

kennenlernen. Das Experiment dauerte keine zehn Monate. Den

Zyklus, den W. in dieser Zeit erlebte, beschreibt sie so: »Ich habe

gehört, wie mein Uterus mit mir spricht: ›Jetzt beginnt der Zyklus,

es ist deine Aufgabe, jetzt schwanger zu werden, du hast zwei

Wochen Zeit, um Männer kennenzulernen.‹ Ich hatte viel Energie,

ging auf Partys, fühlte mich sexy. Während des Eisprungs hatte

ich eine anstrengende Horniness, konnte mich nicht konzentrieren,

nicht schlafen. Danach sagte der Uterus: ›Jetzt kannst du sowieso

Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 63


ALLTAG UND BEZIEHUNG

nicht mehr schwanger werden, jetzt brauchst du auch das Haus

nicht mehr zu verlassen‹, und ich lag für den Rest des Zyklus nur

auf dem Sofa und fühlte mich schlecht.«

Nach einer Kondompanne während ihres Eisprungs fand sich

Anna W. in der Notaufnahme wieder, um sich die »Pille danach«

verschreiben zu lassen, und beschloss, sofort wieder mit der Pille

anzufangen. Auch dazu entschied sie sich aus einem feministischen

Motiv heraus: »Ich möchte als Mensch in dieser

Welt frei agieren und nicht mehr so extrem von der Biologie

in mir bestimmt sein. Es ist sehr einschränkend, wenn

ich zwei Wochen im Monat depressiv bin. Ich will nicht

mehr, dass dieses Organ mir sagt, dass ich schwanger werden

muss, wenn ich das selbst gar nicht will.«

Last der alleinigen Verantwortung

Anna W. kann also sowohl die Argumente für als auch gegen die

Pille nachvollziehen. »Ich habe das Gefühl, die Argumente sind

ausgewogen«, sagt sie über Gespräche mit anderen Frauen. »Ich

finde beide Argumente gleichwertig, und ich finde, dass niemand

da über die Entscheidung einer anderen urteilen sollte.

Wichtig ist, dass jede die Entscheidung informiert treffen kann.«

Das ist mitunter gar nicht so leicht. Gynäkologin Daniela

Wunderlich hat pro Patientin gerade mal eine Viertelstunde Zeit

für Beratung und Vorsorge. In dieser Zeit versucht sie, unter -

schiedliche Faktoren zu berücksichtigen, um das beste Verhütungsmittel

für die Patientin zu finden: In welcher Lebensphase befindet

sie sich, wie ist sie finanziell aufgestellt, raucht

»Jeder Körper

reagiert unterschiedlich.

Es gibt

nicht das eine

beste Verhütungsmittel

für alle.«

sie, gibt es einen festen männlichen Partner, ein

Thromboserisiko in der Familie?

Manchmal muss sie zusätzlich noch Mythen

über die Pille ausbügeln, die meist aus Internetforen

stammen. »Die Informationen, die

über die jungen Frauen hereinbrechen, brauchen

eine Einordnung«, sagt Wunderlich.

Sie nimmt bei ihren jungen Patientinnen

einen regelrechten Hype um die Ablehnung

von Hormonpräparaten wahr. Zugleich würden

sie relativ sorglos mit Zyklus-Apps umgehen,

ohne sich über die Sicherheit ihrer Daten Gedanken

zu machen – und manchmal dabei ungewollt

schwanger werden. »Es ist schick zu sagen,

Hormone will ich nicht mehr«, sagt die Gynäkologin. »Der

Trend geht in Richtung vegane, gluten freie Ernährung und Menstruationscups,

um die Umwelt zu schonen. Da passen Hormone

nicht dazu.«

Auch die Professorin Silke Satjukow sieht einen Zusammenhang

zwischen dem Trend zur Selbstoptimierung und dem an -

tagonistisch geführten Verhütungsdiskurs. Satjukow ist Historikerin

an der Universität Halle und hat die Geschichte der Ver -

hütung untersucht. Die Generation, die heute um die dreißig ist,

nennt sie die »Generation Sicherheit«. Sie sind diejenigen, die

in die zunehmende Globalisierung und Digitalisierung Anfang

der Neunzigerjahre hineingeboren wurden und deren Eltern

ihnen die Welt nicht mehr erklären konnten. Noch stärker treffe

dies auf Kinder zu, deren Eltern vor der Wende in der DDR gelebt

hätten. »Selbstoptimierung kann Sicherheit geben«, sagt Satjukow.

»Ich mache es richtig – du machst es falsch. Diese Generation ist

radikal in der Abwertung anderer, weil es ihnen Sicherheit gibt.«

Die Argumente für und gegen die Pille gibt es schon, seit sie

vor 60 Jahren in Westdeutschland auf den Markt kam, erklärt

Satjukow. Lange sei sie größtenteils als fortschrittlich wahrgenommen

worden, sie fiel zusammen mit der sexuellen

Revolution der 68er-Bewegung und bedeutete für Frauen

vor allem selbstbestimmte Sexualität und Mutterschaft. In

der Bundesrepublik sei sie auch ein Statement gegen das Esta -

blishment gewesen, so Satjukow: Junge, unverheiratete Frauen

hätten sich ihr Recht auf die Pille erst gegen große Widerstände

erkämpfen müssen. In der DDR, wo Frauen mit viel größerer

Jana Pfenning, Aktivistin

Selbstverständlichkeit berufstätig waren und Karriere machten,

sei das anders gewesen. Der Staat habe gehofft, mit der sogenannten

Wunschkindpille für Frauen die Planbarkeit und damit auch

die Geburtenrate zu erhöhen. In den Achtzigerjahren seien die

Argumente gegen die Pille stärker geworden, vor allem in der

aufkommenden Umweltbewegung. Heute fänden sie über Social

Media eine noch größere Reichweite als vorher.

Satjukow beobachtet, dass die Fronten in Freundes -

kreisen und sozialen Netzwerken zunehmend verhärten.

»Beide Seiten argumentieren mit Feminismus. Sie verkennen,

dass sie beide verlieren, wenn sie sich untereinander be -

kriegen. Wer gewinnt, sind diejenigen in den Machtpositionen.«

Damit meint sie: Gesetzgeber:innen, die Instanzen, die für Bildung

und Erziehung zuständig sind, die Minister:innen für

Familie, Soziales, Gesundheit und Arbeit auf Bundes- und Landesebene.

Sie sind es, die Satjukow in der Verantwortung sieht,

für Ver einbarkeit von Beruf und Familie zu sorgen, Forschung

an Verhütungsmitteln für den Mann voranzutreiben,

kurz: »Die Bedingungen zu schaffen, dass wir Kinder

selbstbestimmt in die Welt setzen und aufziehen können.

Kinder bekommen und behalten ist ein gesellschaftliches

Problem.«

Auch Rita Maglio und Jana Pfenning wollen sich nicht mit

Grabenkämpfen für oder gegen die Pille aufhalten. Sie haben die

Petition »Verhütung für alle besser machen!« gestartet, mit der

sie sichere, nebenwirkungsarme Verhütungsmittel für alle Geschlechter

fordern. Seitdem sie die Petition Anfang

Januar 2020 veröffentlicht haben, haben

mehr als 110 000 Menschen unterzeichnet.

»Die Idee entstand Anfang 2020 bei einem

Barabend«, erzählt Pfenning. Die 25-Jährige

arbeitete damals für eine Abgeordnete im

Europäischen Parlament, Rita Maglio, 24,

machte dort ein Praktikum. Kolleg:innen verschiedenster

Parteien gingen an dem Abend

zusammen aus, das Gespräch kam auf das Thema

Verhütung, und alle, Männer wie Frauen,

zeigten sich mit dem Status quo unzufrieden.

»Wenn Anhängerinnen aller demokratischen

Parteien dafür sind, dass es bessere Verhütungsmittel

geben muss, warum passiert dann

nichts?«, fragt Pfenning. Maglios Erklärung: Der Altersdurchschnitt

im Bundestag sei um die fünfzig, in dem Alter sei die Familienplanung

in den meisten Fällen schon abgeschlossen. In ihrer

eigenen Altersgruppe sei das Thema hingegen sehr präsent.

Viele Männer zeigten in den Kommentaren unter den Instagram-Posts

ihrer Initiative »Better Birth Control« großes Interesse

an männlichen Verhütungsmitteln. Ihre Freundinnen tauschten

sich viel untereinander aus, oft spielten dabei Ängste vor dem

Schwangerwerden, vor Nebenwirkungen und die Last der alleinigen

Verantwortung eine große Rolle, erzählt Pfenning.

»Unser Ansatz ist: Jeder Körper reagiert unterschiedlich,

jede und jeder muss frei für sich entscheiden können. Verhütung

ist individuell. Es gibt nicht das eine beste Verhütungsmittel

für alle.«

Maglio und Pfenning konnten schon die Unterstützung verschiedener

Politiker:innen gewinnen, wie beispielsweise Kevin

Kühnert (SPD) oder Ricarda Lang (Grüne). Ihre Initiative fordert

neben gleichberechtigter Verhütung, besserer Aufklärung und Forschung

an neuen Verhütungsmitteln auch eine hundertprozentige

Kostenübernahme.

An jenem Tag im Kunsthandwerkladen beschließe ich,

mich nicht dafür zu rechtfertigen, dass ich die Pille nehme. Ich

finde, ich habe ein Recht darauf, zu entscheiden, wie ich verhüte,

und dafür nicht verurteilt zu werden. Auch und erst recht nicht

von anderen Frauen. Und zwar egal, ob ich gesundheitliche Gründe

vorzuweisen habe oder ob ich ganz einfach nicht schwanger

werden will.

64 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021


ALLTAG UND BEZIEHUNG

Horm-ohne

Wer lieber hormonfrei verhüten möchte, hat viele Alternativen zur Pille.

Wir stellen fünf davon vor, Katharina Rohmert,

Ärztin und Beraterin bei Pro Familia, gibt Tipps.

TEXT HELENE FLACHSENBERG

ILLUSTRATIONEN RONJA FISCHER

Kondom

WIE FUNKTIONIERT DAS? Einfach das Kondom auf

den erigierten Penis abrollen – und zwar, bevor er in

Kontakt mit der Vagina kommt.

WAS SOLLTE MAN WISSEN? Das Kondom hat einen

großen Vorteil: »Es schützt, anders als die anderen

Verhütungsmittel, auch vor Geschlechtskrankheiten«,

sagt Expertin Katharina Rohmert.

WAS KOSTET DAS? Ab circa 20 Cent pro Stück.

WIE SICHER IST DAS? Ein korrekt verwendetes Kondom

ist sicher. Der sogenannte Pearl-Index liegt bei 2,

das bedeutet: Wenn 100 Frauen ein Jahr lang Kondome

benutzen und dabei keine Fehler machen, werden im

Schnitt zwei von ihnen trotzdem schwanger.

Kupferspirale, -kette, -perlenball

WIE FUNKTIONIERT DAS? Kupfer lähmt Spermien

und verringert ihre Lebensdauer, diesen Effekt nutzen

die Präparate. Spirale, Kette oder Ball werden von Frauenärzt:innen

direkt in die Gebärmutter eingesetzt. So

wird zudem verhindert, dass sich Eizellen festsetzen.

WAS SOLLTE MAN WISSEN? Welche Form sich für

wen eigne, könne man nicht pauschal sagen, sagt Rohmert.

Bei allen Modellen können stärkere Regelblutungen

und -schmerzen auftreten.

WAS KOSTET DAS? Spiralen kosten zwischen 120

und 200 Euro und halten drei bis fünf Jahre. Kupferketten

gibt es für 300 bis 350 Euro; den Kupferperlenball

für 350 bis 500 Euro. Beide halten fünf Jahre oder

länger.

WIE SICHER IST DAS? Sehr sicher (Pearl-Index von

0,1 bis 0,9). Allerdings sollte die Lage regelmäßig überprüft

werden.

Diaphragma

WIE FUNKTIONIERT DAS? Ein Diaphragma ist eine

weiche Kappe aus Silikon, die man vor dem Sex in die

Vagina einführt. Es legt sich über den Muttermund

und verhindert, dass Spermien in die Gebärmutter gelangen.

Es kann zwei Stunden bis unmittelbar vor dem

Sex eingesetzt werden.

WAS SOLLTE MAN WISSEN? Wer ein Diaphragma

verwendet, muss in der Lage sein, den Muttermund

zu ertasten. »Das setzt voraus, dass man keine Berührungsängste

hat«, sagt Rohmert.

WAS KOSTET DAS? Auf dem Markt gibt es zwei Modelle:

eines in Einheitsgröße für etwa 30 Euro, eines

in unterschiedlichen Größen für 50 bis 75 Euro. Beide

können ein bis zwei Jahre lang verwendet werden.

WIE SICHER IST DAS? Sicher – vorausgesetzt, es

sitzt richtig. Dann wird lediglich eine von 100 An -

wenderinnen schwanger.

Symptothermale Methode

WIE FUNKTIONIERT DAS? Durch das Beobachten

von Körpertemperatur, Gebärmutterhals- oder Zervixschleim

und gegebenenfalls Muttermund werden

die fruchtbaren Tage bestimmt.

WAS SOLLTE MAN WISSEN? Diese Methode erfordert

ein bisschen Arbeit. Frauen müssen lernen, die

Symptome ihres Zyklus richtig zu erkennen, und sich

angewöhnen, immer zum gleichen Zeitpunkt ihre Temperatur

zu messen. »Für bestimmte Berufsgruppen

kommt das gar nicht infrage, eine Flugbegleiterin zum

Beispiel«, sagt Rohmert.

WAS KOSTET DAS? Zum Temperaturmessen kann

ein herkömmliches Fieberthermometer verwendet

werden. Anleitungen zur Analyse von Schleim und

Muttermund gibt es als Buch oder im Internet. Zykluscomputer

erinnern an die Messung und speisen die

Ergebnisse direkt in eine App oder ein Computer -

programm, können allerdings mehrere Hundert Euro

kosten.

WIE SICHER IST DAS? Wer mit der Methode gut

zurechtkommt, kann damit sehr sicher verhüten (Pearl-

Index von 0,4 bei fehlerfreier Anwendung). Wichtige

Voraussetzung: Es werden wirklich mehrere Körperzeichen

kombiniert. »Alle anderen Varianten, zum

Beispiel per App Tage zu zählen, kann ich seriös nicht

empfehlen«, sagt Rohmert.

Sterilisation

WIE FUNKTIONIERT DAS? Durch zwei unterschiedliche

operative Eingriffe. Bei Männern werden beide

Samenleiter durchtrennt oder abgeklemmt, bei Frauen

werden die Eileiter verschlossen.

WAS SOLLTE MAN WISSEN? Diese Methoden sind

dauerhaft und in der Regel nicht mehr rückgängig zu

machen – bei Männern allerdings noch eher als bei

Frauen. »Ich frage deshalb immer zuerst, ob vielleicht

der Partner den Eingriff übernehmen könnte, wenn

eine Frau sich für eine Sterilisation interessiert«, sagt

Rohmert.

WAS KOSTET DAS? Bei Männern etwa 300 bis 400

Euro, bei Frauen 500 bis 1000 Euro.

WIE SICHER IST DAS? Sicherer geht es kaum (0,1

bis 0,2 Pearl-Index).

Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 65


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Leserbefragung – Teilnahmeschluss 31.12.2021

Eure Meinung ist uns wichtig.

Wir möchten wissen, was ihr über SPIEGEL START denkt. Dazu führen wir eine

Umfrage durch, an der ihr – nachdem ihr das Heft gelesen habt – mitmachen könnt.

So können wir unser Magazin für euch noch interessanter gestalten.

Als Dankeschön für eure Beteiligung* habt ihr am Ende der Befragung die Möglichkeit,

bei der Verlosung dieser 40 Preise dabei zu sein (Teilnahmeschluss 31.12.2021).

Und die Beantwortung wird nicht länger als 10 Minuten benötigen.

Nach dem Lesen des Heftes einfach

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oder den QR-Code scannen.

* Teilnahmebedingungen: Es handelt sich um ein Gewinnspiel der SPIEGEL-Verlag

Rudolf Augstein GmbH & Co. KG. Teilnahmeschluss ist der 31.12.2021. Unter allen

Teilnehmern werden die auf diesen beiden Seiten aufgeführten Preise verlost. Eine

Barauszahlung der Sachpreise ist nicht möglich. Es ist nur ein Gewinn pro Person

möglich. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Die Gewinner werden im Anschluss

der Befragung per E-Mail bis spätestens zum 14.1.2022 benachrichtigt.

Wir freuen uns, wenn ihr mitmacht!

Eure Redaktionsleitung

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Neustart für mich


ALLTAG UND BEZIEHUNG

Aussortiert

In der Vorlesung war die zerrissene Jeans okay, aber beim Praktikum

fühlst du dich darin unwohl? Mit dem Wechsel in die

Berufswelt verändert sich bei vielen auch der Inhalt des Kleiderschranks.

Wir helfen dir dabei, etwa Neues zu finden.

TEXT PIA SEITLER

Catharina, 27, Hamburg

»Ich bin ein großer Pinguin-Fan. Schon im Kinder -

garten war ich in der Pinguin-Gruppe, ich besitze

Pinguin-Bettwäsche und ein großes Pinguin-Stofftier

namens Charlie. Wenn ich den Pinguin-Pullover

trage, fühle ich mich wie zu Hause. Auf die Arbeit –

ich arbeite bei einer Zeitung – kann ich ihn

aber nicht anziehen. Da käme ich mir albern vor,

ich möchte ernst genommen werden.«

Antwort:

Auf diesem Pullover von Recolution (99 Euro)

aus Biobaumwolle sind zwar keine Pinguine.

Aber farblich passt du dich damit deinen Lieblingstieren

an – und musst dir nicht albern vorkommen.

Die Blockstreifen liegen im Trend!

Andrea, 28, Schwäbisch Gmünd

»Ich trage meine Mom-Jeans super gern, weil sie so bequem ist

und im Used-Look ein echter Hingucker. Gerade bewerbe ich

mich aber auf Jobs im Bereich Organisationsentwicklung und Trans -

formationsmanagement bei großen Unternehmen. Die Löcher

in der Jeans ent sprechen nicht dem Dresscode dort, weshalb ich

sie bald leider nur noch in meiner Freizeit anziehen kann.«

Antwort:

Bequem und hochgeschnitten ist auch diese Hose vom Hamburger

Modelabel Jan ’n June (circa 70 Euro im Sale). Damit wirst du

dich bestimmt gut ins neue Arbeitsumfeld einfügen. Und mit Hoodie

und Sneakern kombiniert, kannst du die Hose nach der Arbeit

problemlos anlassen.

68 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021

Fotos: privat (5)


ALLTAG UND BEZIEHUNG

Rebecca, 26, Köln

»Seit ich ins Berufsleben gestartet bin, kann ich

meine heißgeliebten Schuhe von Dr. Martens

leider nicht mehr jeden Tag tragen. Ich arbeite als

Beraterin bei einer großen Versicherung und

gehe eher im Stiftrock oder Kostüm zur Arbeit. Es

sollten also schicke Schuhe sein, die dazu passen.«

Antwort:

Wie wäre es mit diesen veganen Stiefeletten von

Matt & Nat (circa 100 Euro im Sale)? Durch

den halbhohen Blockabsatz sind sie schick genug

fürs Büro – und trotzdem bequemer als Pumps.

Erwin, 27, Berlin

»Das Hemd gehörte meinem Opa.

Ich finde, ich sehe darin ein bisschen

aus wie Tom Selleck. Und ich bin

ein großer Fan von Tom Selleck. Für

die Arbeit ist es aber leider zu alt:

Ich arbeite bei einem Tech-Unternehmen.«

Antwort:

Das helle Cordhemd des nachhaltigen

Labels Eyd aus Stuttgart (100 Euro)

kannst du offen mit einem T-Shirt

darunter tragen. In Kombination mit

einer dunklen Hose wird es bürotauglich.

Benedikt, 25, Hamburg

»Ich war in Patagonien in Südamerika, und das schwarze Long-Sleeve

erinnert mich an diesen Urlaub. Bei meiner Arbeit im Eventmanagement

kann ich beinahe alles tragen. Aber für besondere Abendveranstaltungen

hätte ich gern noch eine schlichte Alternative, die etwas schicker aussieht.«

Antwort:

Mit diesem Pullover aus Biobaumwolle von Armedangels (circa 70 Euro)

bist du bereit für Abendveranstaltungen und siehst dabei nicht

overdressed aus. Rollkragenpullover feiern gerade ein Comeback

und sehen auch zu einem Anzug gut aus.

Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 69


70 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021

Foto: privat


» Es war

kein Raum

da für den

Schock«

Marie Nasemann,

Model und Bestsellerautorin,

und ihr Mann Sebastian

Tigges machten ihre

Fehlgeburt öffentlich.

Hier erzählen sie,

wie unterschiedlich sie

trauerten, was das für

ihre Beziehung bedeutete –

und warum das jeden

etwas angeht.

INTERVIEW NIKE LAURENZ

Ehepaar Nasemann,

Tigges:

»Nach einigen

Monaten konnten

wir unseren Frieden

mit der Situation

machen«

ALLTAG UND BEZIEHUNG

I

n ihrer Berliner Maisonettewohnung setzen

wir uns ins Wohnzimmer, an den runden Tisch,

der schon häufiger auf Marie Nasemanns Instagramprofil

zu sehen war. Auf der Plattform

folgen ihr fast 200 000 Menschen, mehr als

2400 Posts gewähren Einblicke in ihr Leben. Auf der

karierten Tischdecke liegen ein paar Krümel, wahrscheinlich

vom Frühstück, Nasemann trägt Ringel -

socken, es gibt Kaffee. Sie und ihr Mann Sebastian

Tigges haben etwas erlebt, was in der Medizin als natürlich

gilt, was das Paar aber trotzdem völlig unvorbereitet

traf: eine Fehlgeburt. Als die beiden ein Jahr

zusammen waren, im Jahr 2018, wurde Marie Nasemann

schwanger – verlor das Ungeborene jedoch zwischen

der sechsten und achten Woche. Einige Zeit später

erzählte sie auf Instagram und ihrem Blog von diesem

Moment, dann auch in einer ihrer Podcast-Folgen.

SPIEGEL: Frau Nasemann, Herr Tigges, Sie

haben sich entschlossen, öffentlich über die

Fehlgeburt zu sprechen, die Sie beide vor

einiger Zeit erlebt haben. Haben Sie diese

Entscheidung je bereut?

NASEMANN: Nein. Nachdem ich auf Instagram

und meinem Blog darüber geschrieben hatte, dass ich

eine Fehlgeburt hatte und wie es uns damit ging, bekam

ich unzählige Nachrichten von Frauen, die schrieben,

dass ihnen dasselbe passiert sei – sie sich bisher

aber nicht getraut hätten, mit mehr Menschen als

ihrem Partner darüber zu sprechen. Viele schrieben,

sie hätten durch mich den Mut gefunden, sich

Freund:innen oder Familienangehörigen anzuvertrauen

oder professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Einige

waren überrascht, dass auch Männer leiden, dass

eine Fehlgeburt kein reines Frauenthema ist und auch

nichts, wonach der Alltag locker weitergeht.

TIGGES: Ich bereue das auch nicht. Ich stand

durch die Beiträge zwar plötzlich in der Öffentlichkeit,

aber darüber haben Marie und ich vorher sehr lange

gesprochen. Das Thema muss in der Gesellschaft gesehen

werden, es darf kein Tabuthema bleiben, was

es aus meiner Sicht noch ist.

Als eine Fehlgeburt gilt der Verlust eines höchstens

500 Gramm schweren Ungeborenen bis zur 24. Schwangerschaftswoche.

Geschätzt eine von zehn Schwangeren

hat eine Fehlgeburt – das Risiko ist am Anfang der

Schwangerschaft besonders hoch. Die Zahl erscheint

hoch, doch in den allermeisten Fällen passiert die Fehlgeburt

so früh, dass die Schwangerschaft selbst noch

gar nicht bemerkt wurde. In den anderen Fällen stellen

Expert:innen immer wieder fest, dass über diesen gewöhnlichen

Vorgang der Natur in der Gesellschaft nur

wenig gesprochen wird. Gründe dafür gibt es viele:

überforderte Freund:innen und Verwandte, die die

Trauer nicht verstehen, trauernde Paare, die nicht

wissen, wie sie den Verlust verarbeiten sollen – weil

die Komplikationen und die Schuldzuweisungen häufig

nah beieinanderliegen.

SPIEGEL: Wie haben Sie diesen Moment in

Ihrem Leben wahrgenommen?

TIGGES: Wir erfuhren es während einer Ultraschalluntersuchung.

Die Ärztin hat es uns gesagt und

uns dann sehr schnell fachlich aufgeklärt. Während

Marie und ich sprachlos waren, sprach die Ärztin schon

von den nächsten Schritten. Bei uns kamen nur Wortfetzen

an: »passiert sehr häufig«, »natürliche Fehl -

Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 71


ALLTAG UND BEZIEHUNG

MARIE NASEMANN UND

SEBASTIAN TIGGES

Sie, Jahrgang 1989, ist Model, Schauspielerin (unter anderem »Bella

Germania«) und Buchautorin (»Fairknallt – Mein grüner Kompromiss«).

Sie bezeichnet sich selbst als »Sinnfluencerin«, auf Instagram

und in ihrem Blog Fairknallt.de setzt sich Nasemann mit den Produktionsbedingungen

in der Textilbranche auseinander und bewirbt nachhaltige

Mode. Bekannt wurde sie durch ihre Teilnahme bei »Germany’s

Next Topmodel« im Jahr 2009.

Er, Jahrgang 1984, ist Anwalt und Gründer. Er stand nicht in der Öffentlichkeit

– bis Nasemann und Tigges ihren Podcast »Drei ist ’ne

Party« veröffentlichten. Darin sprechen die beiden über ihre Beziehung

und das Leben als Familie: Im vergangenen Jahr bekamen sie

einen Sohn.

geburt beschleunigen«, »klinische Ausschabung«. Es

drang nichts durch.

NASEMANN: Ich war sehr überrumpelt und

hatte nicht damit gerechnet, dass mich so ein Schicksal

treffen könnte. Ich fühlte mich jung, gesund, vital und

dachte, Fehlgeburten passieren eher bei Risikoschwangerschaften

oder bei Frauen ab 35. Die Ärztin gab mir

dann noch eine Packung Tabletten, die die natürliche

Fehlgeburt durch Wehen einleiten sollten. Kurz danach

standen wir wieder auf der Straße. Es war kein Raum

da für den Schock. Auf dem Ultraschallbild war nichts

mehr zu sehen, gleichzeitig bekam ich die Information,

dass da aber noch etwas in mir drin sei und dass das

schnell rausmüsse.

TIGGES: Die Ärztin hatte uns auch nicht gesagt,

dass Frauen in dieser Situation eine Hebamme zusteht,

die die natürliche Fehlgeburt begleitet. Eine Seelsorgenummer

bekamen wir auch nicht. Wir hatten das

Gefühl, dass wir allein zurechtkommen müssen.

SPIEGEL: Wie ging es für Sie nach dem

Termin bei der Frauenärztin weiter?

NASEMANN: Ich vertraute mich engen

Freund:innen und meiner Familie an. Ich wollte aber

gleichzeitig auch niemanden runterziehen und Freundinnen,

die selbst gerade mit der Familienplanung

angefangen hatten, keine Angst machen. Ich fühlte

mich sehr allein. Währenddessen zeigten die Tabletten

zur Herbeiführung der Wehen keine Wirkung. Nach

einer Woche bekam ich eine Ausschabung, unter Vollnarkose.

Bei einer Ausschabung wird die Schleimhaut der Gebärmutter

entfernt. Nach Fehlgeburten lässt sich so sicherstellen,

dass keine Gewebereste in der Gebärmutter

zurückbleiben. Die Schleimhaut kann sich nach dem

Eingriff wieder aufbauen und der natürliche Zyklus

wieder einsetzen. Eine Ausschabung gilt unter Me -

diziner:innen als Routineeingriff – viele Frauen empfinden

anders.

SPIEGEL: War Ihnen bewusst, dass eine

Fehlgeburt – gerade in den ersten

Schwangerschaftswochen – tatsächlich

sehr häufig passiert?

TIGGES: Klar, wir wussten schon: Das kann

passieren. Aber es war für uns sehr abstrakt. Wir dachten:

Eine Fehlgeburt zu haben ist so unwahrscheinlich,

wie eine seltene Krankheit zu bekommen. Man könnte

jetzt sagen: Es liegt an uns, dass wir uns nicht schon

beim po sitiven Schwangerschaftstest eingelesen haben,

uns mit einer möglichen Fehlgeburt auseinandergesetzt

haben.

NASEMANN: Aber wieso in etwas einlesen,

von dem man denkt, es sei extrem selten? Uns hat nie

jemand darauf angesprochen, auch unsere Frauenärztin

nicht. Wie häufig Fehlgeburten vorkommen, wurde

mir erst bewusst, als ich später googelte und unendlich

viele Foren fand, in denen Frauen anonym von ihren

Fehlgeburten erzählen. Auch deswegen wollte ich mit

meiner Geschichte an die Öffentlichkeit gehen, um

mich und andere von diesem vermeintlichen Stigma

zu befreien.

SPIEGEL: Von welchem Stigma sprechen

Sie?

NASEMANN: Eine Fehlgeburt wird gesellschaftlich

nicht als etwas Natürliches behandelt, das

zum Kinderkriegen genauso dazugehört wie eine

Schwangerschaft oder eine Geburt. Ich möchte, dass

lockerer darüber gesprochen wird. Und so traurig die

Erfahrung sein kann: Eine Frau, die eine Fehlgeburt

erlebt hat, ist kein Opfer, das nur noch mit Samthandschuhen

angefasst werden darf.

Ich wollte in dieser Situation Trost, klar, aber ich

wollte trotzdem weiterhin zum Kreis der werdenden

Eltern dazugehören. Die Fehlgeburt aber stand in vielen

Momenten wie ein großer Elefant im Raum, man

lavierte um das Thema herum, schwieg es tot. Erst

Monate später begriff ich, wie gut es mir tat, das Thema

in normale Gespräche miteinzubinden. Leider gehen

viele Menschen davon aus, dass eine Frau, die

eine Fehlgeburt erlebt hat, etwas falsch gemacht hat,

nicht gesund ist oder sich nicht an bestimmte »Schwangerschaftsregeln«

gehalten hat. Das ist fatal, hier fehlt

es an Aufklärungsarbeit.

SPIEGEL: Wie ging es Ihnen in den ersten

Wochen danach?

TIGGES: Wir erzählten nur den sehr wenigen

engen Freund:innen und Familienangehörigen, die

schon von der Schwangerschaft wussten, von der Fehlgeburt.

Die meisten nahmen Anteil, boten ihre Hilfe

an. Von einigen erfuhren wir, dass sie auch mal eine

Fehlgeburt erlebt hatten. Wir waren erstaunt, wie

viele Geschichten wir im Nachhinein zu dem Thema

hörten. Da merkten wir: Es hätte uns in der gemeinsamen

Verarbeitung sehr geholfen, wenn wir vorher

schon mit dem Thema in Berührung gekommen

wären.

NASEMANN: Ich empfand vieles, was Leute

im Nachgang zu mir sagten, als verletzend: »Das war

doch nur ein Zellhaufen«, »das war doch kein richtiges

Kind«, »beim nächsten Mal klappt’s schon«. Jemand

meinte, unsere Indienreise in den ersten Wochen der

Schwangerschaft sei vielleicht etwas sehr stressig gewesen.

Die Kiste in meinem Kopf, in der sich mein

schlechtes Gewissen befindet, öffnete sich kurz. Ich

habe sie aber gleich wieder bewusst geschlossen. Damit

wollte ich gar nicht erst anfangen.

Die Gründe für Fehlgeburten sind vielfältig, die Ursache

lässt sich häufig nicht klären. Risiko faktoren sind Fehlbildungen

des Embryos oder der Gebärmutter, Chromosomenauffälligkeiten,

hormonelle Störungen oder

Autoimmunerkrankungen. Forscher:innen vermuten

72 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021


ALLTAG UND BEZIEHUNG

außerdem seit längerer Zeit, dass auch die Qualität der Spermien

mitverantwortlich für eine Fehlgeburt sein kann.

SPIEGEL: Was hat diese Zeit mit Ihrer Beziehung

gemacht?

TIGGES: Wir haben dieses Erlebnis anfangs sehr unterschiedlich

verarbeitet, gingen auf unsere ganz eigene Weise mit

der Trauer um. Mich hatte die Fehlgeburt genau wie Marie sehr

getroffen. Ich ging aber, anders als sie, sehr schnell wieder arbeiten.

Während ich viel im Büro war, dort Ablenkung suchte, war Marie

viel allein zu Hause.

NASEMANN: Ich habe immer wieder gedacht: Ich weiß,

dass ich kein vollendetes Kind im Bauch gehabt hatte. Aber ich

trauerte um eine gemeinsame Idee, die wir als Paar hatten. Um

zerstörte Euphorie. Ich wollte Verständnis, Nähe und ganz viel

reden.

TIGGES: Wir redeten aber ziemlich wenig. Wir waren in

einer Krise, stritten uns über Monate hinweg.

NACH DER

NATUR

SPIEGEL: Machen Sie sich gegenseitig Vorwürfe: er, der

sich zu wenig gekümmert hat, sie, die ewig kein

anderes Thema kannte?

NASEMANN: Damals ja, jetzt nicht mehr. Wir haben nach

einigen Monaten verstanden, dass jeder Mensch ein solches Erlebnis

in seinem eigenen Tempo verarbeitet.

TIGGES: Ich mache ihr keine Vorwürfe, aber vielleicht

mir. Ich finde es heute schwach und albern von mir, dass ich mir

nicht einfach länger freigenommen habe, als ich merkte, wie sehr

Marie trauert. Sie lag weinend auf dem Sofa, ich ging ins Büro.

Ich wusste, man bekommt gesetzlich frei, wenn man einen nahen

Angehörigen bestattet. Aber wie ist es, wenn man aufgrund einer

Fehlgeburt trauert? Da gibt es keine Regelung. Die aber hätte

mir geholfen, mir das zu nehmen, was ich vielleicht gebraucht

hätte.

SPIEGEL: Wie haben Sie sich nach dieser

Grenzerfahrung wieder berappelt – als Paar?

NASEMANN: Nach einigen Monaten konnten wir unseren

Frieden mit der Situation machen. Dabei half uns eine kleine Abschiedszeremonie

an einem schönen See in der Natur. Ich habe

zwei Therapiestunden gemacht, um damit klarzukommen, dass

Freundinnen von mir Babys bekamen und schwanger waren, während

ich noch mit meinem Verlust beschäftigt war. Gleichzeitig

wollte ich es selbst schnell wieder versuchen.

TIGGES: Ich brauchte etwas mehr Zeit, bis ich wieder bereit

dazu war, einen neuen Anlauf zu starten. Warum das so war und

woher der Wandel dann kam, weiß ich nicht genau, aber die Zeit

war nötig, damit verheilen konnte, was mit uns und in unserer

Beziehung passiert war.

SPIEGEL: Inzwischen sind Sie Eltern. Welche Rolle

spielt die Fehlgeburt heute noch in Ihrem Alltag?

NASEMANN: Wenn ich in einem Film eine Fehlgeburt

sehe oder eine meiner Freundinnen eine hat, dann fühle ich sehr

stark mit, und ich merke, wie auch meine Trauer über meine Fehlgeburt

wieder hochkommt. Ich habe gelernt zu akzeptieren, dass

sie da ist und da sein darf. Und dass es zum Glücklichsein dazu -

gehört, auch mal traurig und melancholisch zu sein.

TIGGES: Wenn wir so darüber reden, dieses Interview führen,

dann merke ich schon, dass es nicht mehr viel braucht, und

ich fange an zu weinen. Nicht, weil ich an die Fehlgeburt an sich

denke, sondern daran, wie traurig diese Zeit für unsere Beziehung

war. Heute wüssten wir, wie wir besser damit umgehen könnten:

viel mehr reden, professionelle Hilfe dazuholen, sich Raum nehmen

und Platz lassen für die Trauer. Trotzdem hat uns die Fehl -

geburt reifen lassen. Wenn sie nicht passiert wäre, wären wir heute

vielleicht unbekümmerter, aber dafür wüssten wir nicht, was wir

als Paar zusammen durchstehen können.

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Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 73


ALLTAG UND BEZIEHUNG

DIE GRÜNE WELLE

Einst trutschig, heute hip: In Deutschlands Wohnzimmern blüht und gedeiht es

– und im Internet regnet es Herzchen für in Szene gesetzte

Zimmerpflanzen. Woher kommt die Sehnsucht nach mehr Natur zu Hause?

Und wie nachhaltig ist der Trend?

TEXT SOFIE CZILWIK UND CHRISTINA SPITZMÜLLER

FOTOS TAMARA ECKHARDT

Das Berliner

Geschäft »The Bota -

nical Room« bietet

ausgefallene Pflanzen,

die zugleich

als Designobjekte

fungieren können.

I

m Berliner Szenebezirk Kreuzberg, zwischen Bio-Supermarkt

und veganem Schuhladen, lässt Hanni Schermaul

um die Mittagszeit die Rollläden ihrer Boutique hoch. Im

Schaufenster werden keine Kleider oder Handtaschen ausgestellt,

sondern Pflanzen in allen möglichen Farben und Formen:

30 Jahre alte, dicke Kakteen und filigrane, langblättrige Grünpflanzen,

die an durchsichtigen Fäden am Fenster baumeln. Schermaul

bezeichnet ihren Pflanzenladen »The Botanical Room« als

Boutique, weil hier keine gewöhnlichen Gummibäume über die

Ladentheke wandern. Jede Pflanze ist ein Unikat, und jede findet

hier ihren passenden Topf.

Das einzige Kriterium für die Auswahl des Sortiments: Die

Pflanzen müssen Schermaul gefallen. »Wie eine lebendige Skulptur«

erfüllen Pflanzen Räume mit Leben, so empfindet sie es. Die

Pflanzen in ihrer Boutique sind Teil eines urbanen Lifestyles. Zum

modischen Kleidungsstil und der ausgefallenen Frisur kommt nun

das passende Grün. Und das Geschäft mit den Zimmerpflanzen

läuft gut: Allein in Deutschland wurden 2020 für 1,6 Milliarden

Euro Pflanzen verkauft. Jahrelang war das Niveau einigermaßen

stabil, aber vor allem in den vergangenen zwei Jahren sind die

Umsätze deutlich gestiegen. Auch der Marktanteil stieg im vergangenen

Jahr um sechs Prozent.

Patricia Rahemipour beobachtet den Trend zur Zimmerpflanze

schon länger. Sie ist Direktorin des Instituts für Museums -

forschung und kuratierte 2019 im Botanischen Garten in Berlin

eine Ausstellung: »Geliebt, gegossen, vergessen: Phänomen

Zimmerpflanze«. Wie erklärt sie sich den Hype? »Pflanzen sind

nicht nur schön, sie werden auch zum Designobjekt. Für mich war

das auffällig, als ich das erste Mal gesehen habe, dass es Blumentöpfe

gibt, die umgekehrt an der Decke montiert werden. Die

Zimmerpflanze wächst dann nicht nach oben, sondern nach unten

heraus.«

Bleibt die Pflanze da überhaupt noch Pflanze? Es gehe oft

nur noch darum, sagt Rahemipour, wie sie aussieht. »Das Bedürfnis

nach Individualisierung ist zurzeit groß, gleichzeitig machen

alle das Gleiche.« Sehe man bei seinem Freund eine besondere

Monstera-Variante, kaufe man sich selbst eine noch ausgefallenere

Variante. »Das ist dann auf der Ebene: mein Auto, mein Haus,

mein Schiff.« Oder eben: meine Altbauwohnung, mein Rennrad,

meine Zimmerpflanze. Auf Instagram, dem passenden Medium

74 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021


zur Selbstinszenierung, posieren auf Hunderttausenden

Kanälen Pflanzenfans auf der ganzen Welt mit

ihrem liebsten Grün. Je außergewöhnlicher die Pflanze,

desto mehr Likes, desto größer die Reichweite. Unter

Hashtags wie »Plantlover« oder »Plants of Instagram«

laden User:innen Millionen Fotos hoch. Sogenannte

Plantfluencer:innen stellen – oft in Kooperation mit

Unternehmen – die neuesten Must-haves vor: beispielsweise

Mini-Gewächshäuser, damit auch Pflanzen,

die es feucht mögen, bei trockener Heizungsluft überleben.

Der Onlinehype beeinflusst auch das Angebot

von Pflanzenläden und in den Pflanzenabteilungen

großer Baumärkte, beobachtet Hanni Schermaul. Hatte

sie früher noch Schwierigkeiten, Calatheen zu

bekommen oder Amaranten, veränderte sich das in

den letzten drei Jahren stark: »Ich merke, dass auch

die großen Pflanzencenter sich auf Instagram um -

schauen.«

STIL FÜR DIE BREITE MASSE

Die Zimmerpflanze als extravaganter Einrichtungs -

gegenstand. Seit wann ist die Pflanze überhaupt domestiziert?

Rahemipour sagt, dass die heutigen Zimmerpflanzen

früher ein Luxusgut gewesen seien. »Es

konnte sich ja niemand wirklich Pflanzen aus südlichen

Gefilden leisten.« Dazu brauchte man Gewächshäuser,

zum Teil sogar beheizt, und das entsprechende Wissen

zur Vermehrung und Pflege. Ganz ursprünglich, als

die Häuser noch nicht hell genug waren, stellten sich

die Bewohner:innen Kräuter vor die Tür, aber vor allem,

um unangenehme Gerüche zu übertünchen. Die

breitere Masse erreichten größere Pflanzen erst mit

beheiz baren Räumen und schließlich den Blumenfenstern,

auf denen auch Blumentöpfe Platz finden. »Die

Architektur hat sich gewandelt und zum Teil an die

neuen Bedürfnisse angepasst«, sagt Rahemipour.

Heute kommen die Pflanzen in deutschen Wohnzimmern

oft aus den Niederlanden. Acht Autostunden

von Berlin entfernt, in der Nähe von Den Haag, liegt

das Westland. Hier reiht sich Glasdach an Glasdach.

Die Region gilt in den Niederlanden als größtes Anbau -

gebiet für alles, was im Gewächshaus gedeiht. Hier

wachsen Tomaten, Paprika, aber auch Schnittblumen

und Zierpflanzen. Bei Esperit Plants, einer Großzüchterei

für Zimmerpflanzen, werden nach eigenen Angaben

jährlich bis zu 14 Millionen Pflanzen produziert

und in ganz Europa verkauft. Das Geschäftsmodell:

stilvolle Pflanzen für die breite Masse.

Yoram Westhoff kümmert sich um Marketing und

Verkauf der Jungpflanzen. Er führt in einen Raum, so

groß wie eine Sporthalle. Hier betritt man ein Stück

künstlichen Regenwald, 24 Grad, hohe Luftfeuchtigkeit

– ideale Bedingungen für Pflanzen wie Calatheen oder

Begonien, die ursprünglich aus Südamerika stammen.

Die »special plants« stehen hier, erklärt Yoram Westhoff

– Exemplare, von denen das Unternehmen nur

zwei oder drei pro Sorte hat. »Sie kommen aus der

ganzen Welt, gefunden haben wir sie im Internet. Diese

Pflanzen vermehren wir in unserem Labor oder

nehmen Ableger, wenn sie groß genug sind.« Sind genügend

Jungpflanzen herangezüchtet, gehen sie in den

Verkauf.

Die Niederlande zählen auf dem internationalen

Blumen- und Pflanzenmarkt zu den Big Playern. Die

industrielle Fertigung ist global vernetzt, für den Endkunden

aber wenig transparent. Möchten Verbraucher:innen

sich für eine ökologisch und gerecht produzierte

Pflanze entscheiden, ist das so gut wie unmöglich:

Für Zimmerpflanzen gibt nur wenige Biooder

Fairtrade-Siegel für die Kund:innen.

Was es gibt, sind Siegel, die den Unternehmen

anzeigen, ob in ihrer Wertschöpfungskette bestimmte

Standards eingehalten werden. Esperit Plants aus dem

Westland trägt zum Beispiel das niederländische MPS-

Siegel und hat sogar die zweitbeste Bewertung. Die

Ladenkund:innen bekommen davon aber nichts mit,

gibt Yoram Westhoff zu. Das Siegel sei nirgends auf

der Pflanze zu finden. »Die Nachhaltigkeits-Label interessieren

nur die Hersteller und Exporteure. Ohne

Siegel keine Abnehmer. Den Endkunden sind sie egal«,

so Westhoff.

Die Branche hält sich seiner Einschätzung nach

also an bestimmte Öko- und Fairness-Standards. Wer

gegen die Regeln verstößt, fliegt raus. Aber das heißt

noch lange nicht, dass Zimmerpflanzen auch nachhaltig

produziert werden. Denn die Standards sind nicht

unbedingt hoch. Beispiel: Torf. Er ist in der Regel in

Blumenerde enthalten und kommt vor allem in der

Aufzucht großflächig zum Einsatz. Dabei wird Torf

aus Mooren gewonnen. Beim Abbau werden diese

Ökosysteme mit vielen seltenen Tier- und Pflanzenarten

zerstört, moniert die Naturschutzorganisation

Auch bei Pflanzen

gibt es Moden und

Must-Haves:

Korbmaranten wie

diese sind auf

Instagram so populär

geworden, dass

sogar Baumärkte

sie anbieten.

Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 75


ALLTAG UND BEZIEHUNG

Im »Botanical

Room« gibt es zu

jedem verkauften

Exemplar einen

Steckbrief.

76 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021


ALLTAG UND BEZIEHUNG

Esperit, ein niederländischer

Zimmerpflanzen-Großzüchter,

achtet auf

Nachhaltigkeit –

die Endabneh -

mer:innen erfahren

davon aber nichts.

BUND. Vor allem aber speichert Torf Kohlenstoff, und beim Abbau

stößt er das klimaschädliche CO 2 aus.

Auch bei Esperit aus Holland wird Torf verwendet – er ist

fester Bestandteil der für das Unternehmen speziell angefertigten

Pflanzenerde. Sowohl in der EU als auch in Deutschland sucht

man vergebens nach Beschränkungen beim Torfverkauf. Aus der

Industrie ist er nicht wegzudenken, beim Privatgebrauch wird

an das Gewissen der Verbraucher appelliert. Aber: Wer eine

Zimmerpflanze kaufen will, muss davon ausgehen, dass Torf im

Topf ist.

PFLANZEN ALS STÜCK HEIMAT

Seit Ende 2019 soll ein EU-weiter »Pflanzenpass« mehr Klarheit

bringen – aber auch der macht den Weg der Pflanze nicht wirklich

nachvollziehbar. Vielmehr geht es um Importbestimmung zur

Vermeidung von Einschleppung von Schädlingen. Nur die letzte

Station der Aufzucht muss in dem Pass angegeben werden. Echte

Transparenz? Fehlanzeige.

Dem Hype tut das keinen Abbruch. Esperit bedient die steigende

Nachfrage nach trendigen Pflanzen. Auf der Suche nach

dem nächsten großen Verkaufsschlager ist kein Weg zu weit. »Wir

sind in Kontakt mit bestimmten Leuten, meistens aus Asien, Afrika

oder Südamerika«, erklärt Yoram Westhoff. »Sie suchen in ihren

Regionen nach neuen Pflanzen, die sie an uns verkaufen können.

Es sind sozusagen Pflanzenjäger, Plant-Hunters, weil sie immer

auf der Jagd nach Pflanzen sind.«

Aber auch auf der Farm in den Niederlanden werden neue

Trends produziert. Sobald eine Pflanze anders wächst, aus der

Masse heraussticht, eine andere Farbe annimmt, züchten die Gärtnerinnen

und Gärtner von Esperit Plants mehrere Jungpflanzen

aus dieser Abweichlerin. Das dauert in der Regel zwei bis fünf

Jahre.

Eine Investition, die sich lohne, meint Yoram Westhoff. Er

zeigt auf eine Ansammlung von hüfthohen Gewächsen mit riesigen

Foto: Christina Spitzmüller / DER SPIEGEL

grünen Blättern und einem schwarzen Stiel. Alocasia Black Sabrina

heißt die Neuschöpfung – Alocasias haben eigentlich einen grünen

Stiel. Eine aber wuchs mit einem schwarzen. »Das ist das Außergewöhnlichste,

was wir in den letzten Jahren gefunden haben.«

Ein Fehler der Natur, sagt er. »Aber ein schöner Fehler.« Die Alocasia

Black Sabrina wird mittlerweile hundertfach produziert und

verkauft.

Stehen die Pflanzen dann erst mal in den Wohnungen, muss

sich der Mensch kümmern. Gibt es neben ihrem Designwert auch

noch eine emotionale Mensch-Pflanzen-Verbindung? Rahemipour

glaubt, dass Pflanzen für viele ein Stück Heimat seien. »Es ist

etwas anderes, ob ich etwas Lebendiges oder einen geerbten

Schrank von Wohnung zu Wohnung umziehe. Ich habe zum Beispiel,

als ich vor vielen Jahren von zu Hause ausgezogen bin, einen

Pfennigbaum von meiner Mama geschenkt bekommen. Mittlerweile

gibt es diesen Pfennigbaum in Hunderten Setzlingen. Aber

der ursprüngliche Pfennigbaum ist ein ganz wichtiger Teil meines

Lebens, und der darf nicht sterben.«

In der Botanik gebe es ein interessantes Konzept, das sich

»plant blindness« nennt, so die Kulturwissenschaftlerin. Das könne

man sich so vorstellen wie das Salz im Essen. »Ist es drin, fällt es

nicht weiter auf, ist es aber nicht drin, fehlt es.« Bei Pflanzen sei

das genauso. Die Leute sind von Grün umgeben, und sie sehen,

dass das Ambiente stimmig ist. Aber sie verstehen nicht so richtig,

warum.

Die Zimmerpflanze als Lebensbegleiterin also, zu der Menschen

eine Beziehung aufbauen und ohne die eine Leerstelle bleibt.

Für Hanni Schermaul aus Berlin-Kreuzberg sind die stilvollen

Pflanzen in erster Linie ein Geschäft. Dass sie in gute Hände geraten,

ist ihr trotzdem wichtig, sagt sie. Jeder Kunde, jede Kundin

bekomme mit den gekauften Pflanzen einen Steckbrief, auf dem

steht, wie oft sie gegossen werden darf und wie viel Licht sie

braucht. Ein Raum ohne Pflanze, sagt Hanni Schermaul, sei kein

vollständig eingerichteter Raum.

Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 77


KOLUMNE: KOCHEN OHNE KOHLE

Gnocchi für

75 Cent

Am Ende des Geldes noch zu viel Monat

übrig? In unserer Kolumne zeigen

wir leckere Rezepte für knappe Budgets.

Dieses Mal gibt’s zwar eine Riesensauerei –

doch die lohnt sich.

TEXT UND FOTO SEBASTIAN MAAS

A

m Ende meines Studiums hatte ich vor allem eines gelernt:

die zweite Hälfte des Monats ohne Vitamine und

Mineralien auszukommen und mich lediglich von Kohlenhydraten

zu ernähren. Schnell zwei Pfandflaschen

hinter dem Sofa hervorgekramt und im Supermarkt

gegen 500 Gramm Pasta getauscht, fertig.

Auch wenn ich heute gern Berge von Gemüse

esse: Manchmal brauche ich eine gute

Ladung Kohlenhydrate, das schulde ich dem

Studierenden in mir. Gut also, dass in diesem

Gnocchi-Rezept mit Kartoffeln und

Mehl gleich zwei Sorten Carbs enthalten

sind. Dazu noch etwas Fett, Zeit – und eine

verdreckte Küche, die gern jemand anderes

sauber machen darf.

Traditionell würde man Gnocchi (ich

musste 34 werden, um zu begreifen, dass das

einfach »Nocken« auf Italienisch heißt) mit Butter

und Salbei servieren. Weil ich keinen Salbei mag

– und es beim Discounter um die Ecke keinen gab –,

habe ich das Rezept leicht abgewandelt: Zu den selbst gemachten

Gnocchi gibt es Datteltomaten, Rucola und Knoblauch. So

bleibt man farblich auch näher an der italienischen Flagge.

Was braucht man für vier Portionen?

‣ ein Kilogramm (mehlig kochende!) Kartoffeln,

‣ 250 Gramm Mehl, idealerweise Weizen oder Dinkel,

‣ ein Ei – wer es vegan halten will, nimmt 100 Gramm

Mehl mehr,

‣ zwei großzügige Esslöffel Butter oder Margarine,

‣ je eine große Prise Salz, Pfeffer und Muskatnuss.

Was gibt es heute dazu?

‣ 200 Gramm Kirschtomaten,

‣ zwei Handvoll Rucola,

‣ zwei Knoblauchzehen.

Was kostet das?

Wer wie ich beim Discounter einkauft, zahlt für das ganze Rezept

etwa 3 Euro, also 75 Cent pro Portion.

Wie lange dauert es?

Alles in allem etwa eine Stunde – wobei man die Hälfte der Zeit

damit verbringt, den Kartoffeln beim Kochen zuzusehen.

Wie geht das?

Die Kartoffeln in der Schale für 20 bis 25 Minuten in kochendem

Salzwasser garen. Nach der Garprobe (flutscht die Kartoffel vom

Messer?) gründlich abgießen und ohne Deckel zehn Minuten auf

dem ausgeschalteten Herd stehen lassen, damit die restliche Flüssigkeit

aus dem Topf und von den Kartoffeln verdampft. Dann

erst die Kartoffeln pellen und in eine Schale geben.

Küchenchefinnen und süddeutsche Hausmänner würden nun

eine Kartoffelpresse zur Hand nehmen. Da ich keine habe, muss

etwas herhalten, das man in so gut wie jeder U30-WG findet: der

Caipirinha-Stößel aus der Besteckschublade. Zur Not tut es auch

eine Gabel. Damit verdient man sich jetzt die Kohlehydrate, denn

die Kartoffeln müssen gestampft werden. So fein, wie es nur geht.

Hier profitiert, wer mehlig kochende Kartoffeln gekauft hat und

nicht vorwiegend festkochende wie gewisse SPIEGEL-Redakteure

(ich) – die matschen nämlich nur halb so gut. Wer Motivation

braucht, denkt an Ex-US-Präsidenten, wütend hält man länger

durch.

Sind die gegarten Kartoffeln Matsch? Gut. Dann kommt

Sauerei Nummer eins: das Mehl sowie Salz, Pfeffer, Muskatnuss

und das (optionale) Ei zu den Kartoffeln in die Schüssel geben

und alles mit den Händen zu einem möglichst glatten Teig verkneten.

Wenn er zu sehr an den Fingern klebt, noch mehr Mehl

dazugeben. Irgendwann fühlt sich das Ganze wie ein festes Kissen

an. Jetzt den Teig in vier Teile teilen.

Nun kommt Sauerei Nummer zwei: dazu die Arbeitsfläche

mit reichlich Mehl bestäuben und die Teigstücke zu etwa

fingerdicken Würsten ausrollen. Später werden die

Gnocchi im Wasser aufgehen, es lohnt sich daher,

wirklich dünne Rollen zu formen. Diese in zwei

bis drei Zentimeter breite Stücke schneiden

und mit einer Gabel leicht eindrücken.

Der benutzte Topf bekommt jetzt

seinen zweiten Einsatz: erneut Salzwasser

zum Kochen bringen und die Gnocchi für

wenige Minuten hineingeben. Am besten

in kleineren Portionen, je etwa ein Viertel

der Gnocchi auf einmal. Schließlich wollen

sie an die Wasseroberfläche, wenn sie gar

sind. Die fertigen Exemplare mit einer Schöpfkelle

oder einem Löffel herausfischen und kurz

auf einem Backblech lagern, bis der Rest fertig ist.

Nun könnte man die Gnocchi schon essen, sie haben

dann etwas von Kartoffelknödeln. Grandios werden sie

aber erst, wenn man eine Pfanne herausholt, eine obszöne Menge

Butter oder Margarine hineinwirft und die Nocken goldbraun anbrät.

Regelmäßig wenden, damit nichts anbrennt!

Während die Gnocchi in der Pfanne sind, die Kirschtomaten

schräg halbieren, den Rucola waschen, den Knoblauch in feine

Scheiben schneiden. Haben die Kartoffelfreunde die gewünschte

Bräunung erreicht, kommen für 30 Sekunden die eben vorbereiteten

Zutaten zu ihnen in die Pfanne. Zweimal durchschwenken

und sofort ab auf den Teller.

Mit dem Basisrezept lassen sich, abhängig von Budget und

Vorratsschrank, auch andere Varianten zaubern. Wer ein Date

hat und mächtig Eindruck schinden will, ersetzt Knoblauch und

Tomaten durch die fein geriebene Zeste einer unbehandelten Biozitrone

und gibt deren Zaft (hihi) kurz vor dem Servieren mit

etwas Parmesan zu den Gnocchi in die Pfanne. Das wirkt extrem

raffiniert – und man vermeidet den Drachenatem. Doch selbst

mit bescheidenem Basilikum oder gar getrockneten Kräutern der

Provence sind die gebratenen Gnocchi ein Hit.

TIPP

Wer allein lebt oder nicht so viel Hunger hat, kann den veganen

Teig ohne Probleme für ein paar Tage im Kühlschrank

lagern, ebenso die vorbereiteten Gnocchi. Idealerweise bestäubt

man sie dafür mit etwas Mehl oder Grieß, damit sie

nicht aneinanderkleben.

78 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021


JETZT ABSTIMMEN

BEIM IDEENWETTBEWERB 2021

GUTE IDEEN FÜR STARKE FAMILIEN!

Job, Kinder, Haushalt und dann noch die Corona- Pandemie – nicht alle Eltern können die

Belastungen tragen. Für den Social Design Award von SPIEGEL WISSEN werden deshalb Projekte

gesucht, die Familien stärken.

Aus zahlreichen Wettbewerbsbeiträgen hat eine Jury nun die besten ausgesucht. Und jetzt sind

Sie an der Reihe: Wählen Sie Ihren Lieblingsvorschlag aus der Shortlist, und stimmen Sie bis zum

11. Oktober auf www.spiegel.de/socialdesignaward ab.

Ab dem 02. November erfahren Sie auf SPIEGEL.de und in SPIEGEL WISSEN, welche Ideen

gewonnen haben.

Illustration: Chester Holme / DER SPIEGEL

In Kooperation mit


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