SPIEGEL START 01/2021
Das Magazin für Uni und Arbeit SPIEGEL START ist der Begleiter für Studierende auf ihrem Weg zum ersten Job und richtet sich an junge Leute unter 30 Jahre. Bei SPIEGEL START steht der Mensch im Mittelpunkt: Themen wie z.B. Partnerschaft und Familie, Arbeitswelt, das Erreichen individueller Ziele und Lebensträume stehen im Vordergrund. Die erste Ausgabe erscheint am 02.10.2021. Ab 2022 erscheint SPIEGEL START vier Mal im Jahr.
Das Magazin für Uni und Arbeit
SPIEGEL START ist der Begleiter für Studierende auf ihrem Weg zum ersten Job und richtet sich an junge Leute unter 30 Jahre.
Bei SPIEGEL START steht der Mensch im Mittelpunkt: Themen wie z.B. Partnerschaft und Familie, Arbeitswelt, das Erreichen individueller Ziele und Lebensträume stehen im Vordergrund.
Die erste Ausgabe erscheint am 02.10.2021. Ab 2022 erscheint SPIEGEL START vier Mal im Jahr.
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1|2021
Das Magazin für Studium und Berufseinstieg
JOBS MIT ZUKUNFT
Wo es noch Stellen gibt
DEUTSCHLAND 4.0
Was sich jetzt ändern muss
GRÜNES GOLD
Warum Pflanzen in sind
Lehren aus dem Lockdown
Wie uns die Pandemie verändert hat –
und was das für unsere Zukunftsplanung bedeutet
Das GLS Girokonto
Für deine nachhaltige Zukunft
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HAUSMITTEILUNG
D
ie Coronapandemie hat verändert, wie wir studieren, arbeiten, leben. Drei Semester lang
befanden sich die Hochschulen in Deutschland quasi im Dauershutdown, für das Winter -
semester gibt es zumindest ein bisschen Hoffnung auf Normalität. Aber was bedeutet das eigent -
lich, Normalität? Wird bald alles wieder wie vor der Pandemie? Wollen wir das überhaupt?
Diesen Fragen widmen wir uns in der Titelgeschichte dieses Heftes. Marie-Charlotte Maas hat
mit Studierenden, Lehrenden und Expert:innen gesprochen und herausgefunden: Auch wenn
die Pandemie in erster Linie eine riesige Herausforderung war, haben wir doch einiges aus ihr
gelernt (Seite 10). Das kann uns auch dann noch helfen, wenn Corona irgendwann vorbei ist.
Die Laufbahnberaterin Vera Pilkuhn etwa erklärt im Interview mit Susan Djahangard, wie wir
uns die Pandemieerfahrungen beim Berufseinstieg zunutze machen können (Seite 14).
Auch sonst wagen wir mit diesem Heft einen Blick in die Zukunft: Katharina Hölter und
Florian Gontek erklären, wie sich der Arbeitsmarkt verändern wird und was das für deine Aus -
bildung und Jobsuche bedeutet (Seite 20). Sophie
Garbe und Okan Bellikli formulieren 18 Forderungen
an die neue Bundesregierung (Seite 36). Janne
Knödler und Anton Rainer suchen Antworten auf
die Frage, warum so wenige Frauen Unternehmen
gründen – und wie man das ändern kann (Seite 40).
Vor einem Jahr haben wir SPIEGEL START als
Onlineangebot des SPIEGEL gelauncht, um unsere
Leser:innen durchs Studium und in den ersten Job
zu begleiten. Dies ist nun die erste gedruckte
Ausgabe. Sie soll Antworten geben auf die großen
Fragen unserer Zeit – und auch auf ein paar kleine.
SPIEGEL START soll Lesestoff liefern für die Pause
zwischen zwei Seminaren oder Meetings, wir
wollen Gedanken anstoßen und vielleicht auch
Gespräche. Wir freuen uns, wenn du Seiten heraus -
reißt (die Übersicht über hormonfreie Verhütungs -
Protagonistin
Betty Lohmeyer
wurde an ihrer
Uni in Hamburg
fotografiert
mittel auf Seite 65 beispielsweise) – und wenn
du uns Feedback gibst, bei Instagram @spiegelstart
oder per E-Mail spiegel-start@spiegel.de.
Viel Spaß wünscht deine SPIEGEL-START-Redaktion
Foto: Bettina Theuerkauf / DER SPIEGEL
Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 3
INHALT
44 Wie sähe Deutschland aus, wenn nur vegane Landwirtschaft betrieben würde?
Es gäbe mehr Platz, Nutztiere lieferten kein Fleisch mehr, das Klima würde geschont,
das Land röche anders, und ein veganer Landwirt wie Daniel Hausmann wäre nicht länger
ein Exot. Ganz klar: Der Bauernverband ist entsetzt.
DER SPIEGEL GMBH & CO. KG
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VERLAG UND
REDAKTION
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Online: spiegel.de/start
HERAUSGEBER
Rudolf Augstein (1923 – 2002)
CHEFREDAKTION
Steffen Klusmann (V. i. S. d. P.),
Dr. Melanie Amann,
Thorsten Dörting,
Clemens Höges
GESCHÄFTSFÜHRENDE
REDAKTEURIN
Dr. Susanne Weingarten
REDAKTIONSLEITUNG
Sophia Schirmer
CHEFIN VOM DIENST
Anke Jensen
MITARBEIT
Okan Bellikli, David Böcking, Simon Book,
Sofie Czilwik, Florian Diekmann,
Susan Djahangard, Helene Flachsenberg,
Sophie Garbe, Florian Gontek,
Katharina Hölter, Per Horstmann,
Henning Jauernig, Matthias Kaufmann,
Janne Knödler, Paula Josefine Küppers,
Nike Laurenz, Marie-Charlotte Maas,
Sebastian Maas, Bernhard Pötter, Anton Rainer,
Pia Saunders, Timm Seckel, Pia Seitler,
Christina Spitzmüller, Fabian Thomas,
Carolin Wahnbaeck, Lou Zucker
DOKUMENTATION
Susmita Arp, Viola Broecker, Ines Köster,
Rainer Lübbert, Friederike Röhreke
GESTALTUNG / TITELBILD
Alexandra Grünig
BILDREDAKTION
Claudia Apel, Lena Wöhler
SCHLUSSREDAKTION
Christian Albrecht, Lutz Diedrichs, Dörte
Karsten, Katharina Lüken, Sandra Waege
ORGANISATION
Corinna Engels, Heike Kalb, Kathrin Maas
PRODUKTION
Sonja Friedmann, Linda Grimmecke,
Ursula Overbeck
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GESCHÄFTSFÜHRUNG
Thomas Hass (Vorsitzender), Stefan Ottlitz
4 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
Titelfoto: Bettina Theuerkauf / DER SPIEGEL
INHALT
8 Was geht … in Studium und Berufseinstieg
10 Titel: Wie Corona die Uni verändert hat – und uns
14 Interview: Tipps für die Jobsuche nach Corona
16 Hausarbeit: Studierende über ihr Homeoffice
20 Digital und nachhaltig: Die Berufe der Zukunft
25 Mein erstes Jahr im Job: Die Projektmanagerin
26 Alles netto? So liest du deine Gehaltsabrechnung
28 15 Semester: Wie Pendeln das Studium erschwert
34 Was geht … in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
36 Nach der Wahl: Das muss die Politik anpacken
40 Fehlstart-up: Warum es kaum Gründerinnen gibt
44 Veggie-Land: Wie sähe eine vegane Republik aus?
48 Fast neue Fashion: Secondhandmode im Trend
50 Interview: Wie ziehe ich mich nachhaltig an?
52 Und wer sorgt für sie? Pflegekräfte ohne Lobby
56 Kolumne: Die Kunst des grünen Liebens – ohne CO 2
60 Was geht … in Alltag und Beziehung
62 Schluck! Wieso die Pille heute so verpönt ist
65 Horm-ohne: Wie du sonst noch verhüten kannst
68 Endlich erwachsen: Modetipps für den ersten Job
70 Kein Tabu: Marie Nasemann über ihre Fehlgeburt
74 Sei mir grün: Warum wir Zimmerpflanzen lieben
78 Kolumne: Kochen ohne Kohle – Oh, Gnocchi!
Von SPIEGEL.de stammen folgende Texte: »Niemand in meinem Alter soll mich als Maßstab nehmen«, Seite 9 • Zwischen Petterson
und Küchentisch, Seite 16 • »Ich erlebe Weltpolitik hautnah«, Seite 25 • Irgendwo zwischen Hamburg und Lüneburg ging meine Motivation
verloren, Seite 28 • Willkommen auf dem digitalen Flohmarkt, Seite 48 • »Die Pflegekräfte sitzen am längeren Hebel«, Seite 52 • Das
Fliegen der anderen, Seite 56 • »Was, du nimmst noch die Pille?«, Seite 62 • »Es war kein Raum da für den Schock«, Seite 70 • Die grüne
Welle, Seite 74 • Gnocchi für 75 Cent, Seite 78. Aus dem SPIEGEL stammen: Ja, es gibt Gründerinnen, aber viel zu wenige, Seite 40 •
Wenn Deutschland ein Land der Veganer wäre, Seite 44.
Fotos: Thomas Victor / DER SPIEGEL, Sebastian Lock / DER SPIEGEL, Stefan Mosebach / DER SPIEGEL,
Patricia Kühfuss, Tamara Eckhardt / DER SPIEGEL
Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 5
WOHIN WILL ICH?
ILLUSTRATION ROSA AHLERS
6 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
INTRO
Studium und
Berufseinstieg
Die Jahre an der Uni und die erste Zeit im Job sind etwas Besonderes. Wir entscheiden,
was uns im Leben wichtig ist – so wichtig, dass wir es studieren und damit unser Geld verdienen
wollen. Wir probieren aus, orientieren uns vielleicht um, stellen die Weichen dafür,
wie unsere Zukunft aussieht. Das erste Kapitel widmet sich dieser Zeit, in der noch alles möglich
scheint – und gleichzeitig große Entscheidungen anstehen. Es blickt zurück auf
drei Semester Pandemie und auf das, was wir daraus gelernt haben. Und es schaut nach vorn,
auf die Zeit nach Corona und den Arbeitsmarkt der Zukunft.
Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 7
WAS GEHT ... IN STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG
UNI À LA CARTE: FOLGE 1
Endlich wieder in die Mensa!
Robert Abedini, 26, studiert im 14. Fachsemester Jura in Hamburg
»Schweinemensa – so nennen wir Studierenden die Mensa Studierendenhaus
der Uni Hamburg. Woher der Spitzname kommt, weiß
niemand so genau. Mit dem Essen hat er aber nichts zu tun, das ist
nämlich meistens richtig gut. Heute gab es schwedische Köttbullar
mit Salzkartoffeln und Preiselbeeren für 2,60 Euro. Auch wenn
mir der Vergleich fehlt, weil ich in Hamburg aufgewachsen bin,
finde ich das Leben hier sonst sehr teuer. Ich bezahle 450 Eu ro
Miete für ein zwölf Quadratmeter großes WG-Zimmer. Ich hatte
Glück, meine WG liegt nur etwa 500 Meter von der Uni entfernt.
Während der Pandemie hat mir das leider nicht viel genutzt. Jetzt
bin ich aber wieder jeden Tag in der Bib – und in meinen Pausen
in der Mensa. Ich stecke mitten in den Vorbereitungen für mein
erstes Staatsexamen, da erleichtert sie mir den Alltag enorm.«
BUCHTIPP
Steinzeit in Teilzeit
Ist die 40-Stunden-Woche eine Errungenschaft, über die wir uns freuen sollten? Vor nicht mal
150 Jahren mussten viele Menschen schließlich noch 60 Stunden die Woche schuften. Sind unsere
Rufe nach Teilzeit also nur Jammern auf hohem Niveau? Der in Cambridge lebende Anthropologe
James Suzman wirft mit seinem Buch »Sie nannten es Arbeit« ein neues Licht auf die
Work-Life-Balance-Debatte. Denn tatsächlich haben unsere Vorfahr:innen jahrtausendelang
deutlich weniger gearbeitet, als wir es heute tun – die nomadisch lebenden Jagd- und Sammelkulturen
der Steinzeit etwa gerade mal 15 Stunden pro Woche. Der Grund: Sie arbeiteten nur so
viel, wie sie zum Überleben brauchten, und produzierten keinen Überschuss. Erst nach Gründung
der ersten Siedlungen mussten die Menschen plötzlich länger ran. Über die Jahrhunderte
steigerte sich das Pensum, um dann mit der industriellen Revolution zu explodieren.
Für seine spannenden (und manchmal leider etwas sperrig ins Deutsche
übersetzten) Untersuchungen begleitet Suzman die Ju’/Hoansi in Namibia, eine
der letzten noch existierenden Jagd- und Sammelkulturen, die von der industriellen
Landwirtschaft bedroht wird. An dem Kulturwandel, den die Ju’/Hoansi
in den vergangenen 30 Jahren durchgemacht haben, zeichnet Suzman nach,
wie wir aufhörten, für das Leben zu arbeiten – und begannen, für die Arbeit zu
leben. Wer Argumente für die nächste Vertragsverhandlung oder den Streit
mit dem Boomer-Onkel benötigt, wird hier fündig.
James Suzman: »Sie nannten es Arbeit«. C. H. Beck; 398 Seiten; 26,95 Euro.
8 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
Fotos: Pia Seitler / DER SPIEGEL, Score by Aflo / plainpicture, TikTok Deutschland
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG
STUDIE
FRAU MÜLLER,
DIE II.
Wer wird Lehrer:in – und warum?
Dieser Frage ist ein internationales
Forschungsteam an der Uni Tübingen
nachgegangen, mit überraschendem
Ergebnis. Die wichtigsten
Faktoren bei der Entscheidung für
ein Lehramtsstudium sind demnach
nämlich: die Eltern. Wünschen sie
sich, dass ihre Kinder Lehrer:innen
werden, erhöht das die Wahrscheinlichkeit
deutlich, dass sie es irgendwann
tatsächlich tun. Gleiches gilt,
wenn ein Elternteil als Lehrer:in
arbeitet oder gearbeitet hat.
Zu den Merkmalen, die ebenfalls
einen Einfluss auf die Entscheidung
haben, gehören das Bedürfnis nach
einem sicheren Arbeitsplatz – dem
Beamtenstatus sei Dank – und der
Wunsch, Kinder zu bekommen.
Was dagegen eine geringere Rolle
spielt, sind Entwicklungs- und Aufstiegsmöglichkeiten,
schreiben die
Wissenschaftler:innen. »Das könnte
auch damit zusammenhängen, dass
die Gehälter für Lehrkräfte in
Deutschland trotz geringer Aufstiegsmöglichkeiten
relativ hoch
eingeschätzt werden«, sagt Adam
Ayaita, einer der Autor:innen.
Die Studie trägt auch zur Ehrenrettung
von angehenden Lehrer:innen
bei. Zuweilen wird ihnen ja »nega -
tive selection« vorgeworfen, dass
sie also Lehrer:innen würden, weil
es für andere Berufsfelder nicht reiche.
»Wir haben keine starken Hinweise
gefunden, dass das bei Lehrer:innen
eine größere Rolle spielt
als in anderen Berufen«, sagt Ayaita.
PODCAST
Money, Money, Money
Du möchtest dein Geld sinnvoll anlegen, hast aber nur 50 Euro
pro Monat zur Verfügung – und keine Ahnung, wie Geldanlage
überhaupt funktioniert? Mit dem Podcast »Money Master«
lernst du es ohne großen Aufwand. In zwölf Folgen von etwa
20 bis 30 Minuten erklären die »Wirtschaftswoche«-Journalist:innen
Tina Zeinlinger und Matthias Rutkowski, wann sich eine
Riester-Rente lohnt, wofür die Abkürzung ETF steht und warum
die eigene Bank nicht immer am besten berät. Sie befragen
Fondsmanager:innen und Finanzexpert:innen, stellen verschiedene
Anlagemethoden vor und probieren einige selbst aus. Das
Beste: Die Tipps richten sich nicht an Menschen mit viel Geld,
sondern an Berufseinsteiger:innen. Verfügbar über wiwo.de
INTERVIEW
»Niemand in meinem
Alter soll mich
als Maßstab nehmen«
Wie sieht der Arbeitsalltag von
erfolgreichen Menschen wirklich
aus? Wir fragen Charles Bahr, 19,
der mit 14 Jahren seine erste
Agentur gegründet hat und jetzt
als Strategic Partner Manager bei
TikTok arbeitet.
SPIEGEL: Charles, wie beginnst du deinen Arbeitstag?
BAHR: Ich starte um 8.30 Uhr und arbeite erst einmal meine E-Mails ab.
Da wir ein global agierendes Unternehmen sind, kommen viele Nachrichten
nachts. Vor meinem Feierabend mache ich das noch einmal, damit ich auf null
bin. Dazwischen gucke ich nicht ins Postfach, um mich nicht ablenken zu lassen.
SPIEGEL: Wie priorisierst du deine Aufgaben?
BAH R: Tatsächlich ist mir das am Anfang schwergefallen. Ein Kollege hat
mir eine nützliche Tabelle an die Hand gegeben, demnach gibt es vier Formen
von Aufgaben:
• Unwichtig und trotzdem dringend – diese Aufgaben sollte man delegieren.
• Wichtig, aber nicht dringend – für diese Aufgaben sollte man sich einen
Zeitplan machen.
• Wichtig und dringend – diese Aufgaben werden sofort erledigt.
• Unwichtig und nicht dringend – die Aufgaben kann man streichen.
SPIEGEL: Wie gehst du mit Stress um? Hast du einen Tipp für andere?
BAHR: Mir hat es geholfen, eine E-Mail an mich selbst zu schreiben, wenn
mich mal etwas aufregt. Diese Mail packe ich dann in einen Ordner namens »Re:
Charles« und schaue alle drei Monate wieder rein. Das ist sehr heilsam, denn
meist stelle ich fest, dass sich die Aufregung gar nicht gelohnt hat.
SPIEGEL: Andere 19-Jährige haben außer Vorlesungen oder Berufsschule
und Arbeit wenig Termine – hättest du es gern weniger voll?
BAHR: Vermutlich ist mein Leben sogar entspannter als das einer Studentin
oder eines Studenten. Ich habe Wochenenden und Urlaubstage, an denen ich
komplett abschalten kann und nicht permanent Klausuren und Hausarbeiten im
Hinterkopf habe. Was ich noch loswerden möchte: Niemand in meinem Alter
soll mich als Maßstab nehmen. Ich habe einfach immer das getan, was mir Spaß
macht. Und ich habe sehr früh herausgefunden, was das ist.
Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 9
Studentin Lohmeyer:
»Ich wollte dafür
sorgen, dass wir
gesehen werden«
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG
BACHELOR OF
CORONA
Die Pandemie hat Studierenden viel abverlangt – eine ganze Generation
wurde von der Politik ignoriert. Zugleich hat Corona gezeigt, dass Uni
auch anders geht. Den Hochschulbetrieb könnte das nachhaltig verändern.
TEXT MARIE-CHARLOTTE MAAS
FOTOS BETTINA THEUERKAUF, LISA NOTZKE, MARINA WEIGL
I
rgendwann verlor Betty Lohmeyer die Geduld. Im März,
als der lange Shutdownwinter sich langsam seinem Ende
näherte, nach zwölf Monaten im Homeoffice, hatte die
25-jährige Studentin die Nase voll. Von der Ungewissheit,
von den immer gleichen Vertröstungen durch Politik und Uni -
bürokratie, von dem Versprechen, dass es bestimmt bald zurück
in die Präsenzlehre gehe. »Ich hatte monatelang tagein, tagaus zu
Hause gesessen, virtuelle Vorlesungen besucht und allein für meine
Klausuren gelernt – anfangs noch mit dem Gefühl, einen Beitrag
für die Gemeinschaft zu leisten. Doch als dann nach und nach
viele wieder ins normale Leben zurückkehrten,
als immer mehr Ältere geimpft wurden und es
hieß, dass die Schulen zurück in den Präsenz -
unterricht sollten, während zugleich nicht ein
Wort über uns Studierende verloren wurde,
fühlte ich mich einfach nur noch abgehängt.«
Es war der Moment, so erzählt es Loh -
meyer heute, an dem ihre Geduld in Frustration
umschlug. Eine Frustration, die sich wenig später
als Antriebskraft erweisen sollte.
Lohmeyer hat im Herbst 2020 ihren Bachelor
in Wirtschaft und Politik abgeschlossen
und studiert jetzt den Master International Business and Sustain -
ability an der Uni Hamburg. Sie ist eine von knapp drei Millionen
Studierenden in Deutschland, die vor anderthalb Jahren aus der
Normalität ihres Hochschullebens geschleudert wurden – hinein
in einen sonderbaren Schwebezustand, in dem von ihnen erwartet
wurde, dass sie mit dem Lernen weitermachen, aber ohne das
akademische und soziale Gerüst des Unialltags. Welche Zumutung
das war und immer noch ist, welche Belastung für die Psyche
vieler Studierender, das schien für Politik und Gesellschaft nur
eine untergeordnete Rolle zu spielen. Eine Generation Studierender
ist in der Coronakrise schlicht vergessen worden.
»Als viele wieder
ins normale Leben
zurück kehrten,
fühlte ich mich
abgehängt.«
Betty Lohmeyer, Studentin
Als die Pandemie im März 2020 Deutschland erreichte,
wurden Hochschulen, Bibliotheken und Mensen geschlossen,
Campusse lagen verwaist. Auf der Tagesordnung standen in den
folgenden Monaten unzählige Stunden vor dem Laptop, Gruppen -
arbeiten über Zoom oder Microsoft Teams. Wenn zwischendurch
doch mal Treffen mit Kommiliton:innen möglich waren oder persönliche
Gespräche mit Lehrenden, wirkten sie wie Relikte aus
längst vergangenen Zeiten. Manch einer zog zurück ins Kinderzimmer,
viele verloren nicht nur die sozialen Kontakte, sondern
auch ihre Nebenjobs.
Anderthalb Jahre lang veränderte sich für
die Studierenden wenig. Im Wintersemester
soll nun endlich Normalität auf die Campusse
der Republik zurückkehren, so zumindest das
offizielle Versprechen. Die Hochschulen wollen
wieder mehr Präsenz wagen, die Mensen wieder
mehr Miteinander erlauben. Lange war
nicht überall klar, wie das funktionieren soll –
ob mit Abstand oder Maske, ob nur für Ge -
impfte, Genese und Getestete, und wer wird
das alles kontrollieren? Doch Studieren soll
möglichst wieder der soziale Prozess werden,
der es für viele vor der Pandemie war, darüber ist man sich einig.
Wird es also bald vorbei sein mit der Corona-Uni? Wird man irgendwann
alles vergessen, das Chaos, den Frust, die Einsamkeit?
Hört man sich um an den Hochschulen in Deutschland,
glauben daran nur wenige. Viele sind nach wie vor skeptisch, ob
die Rückkehr zur Präsenzlehre im Winter wirklich gelingt, zumal
wenn die Infektionszahlen steigen oder es eine neue Virusmutante
gibt. Und selbst wenn: Corona hat den Hochschulbetrieb verändert
– und die Studierenden. Nach anderthalb Jahren Pandemie gibt
es längst eine neue Normalität. Und so ist es an der Zeit für eine
Zwischenbilanz: Was wird bleiben von den Pandemieerfahrun-
Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 11
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG
gen? Was sollte vielleicht sogar in die Post-Corona-
Zeit übernommen werden?
CORONA ALS ANTRIEBSKRAFT
Für Betty Lohmeyer aus Hamburg war Corona der
Schubs, den sie gebraucht hat, so sagt sie es. Denn sie
habe nicht nur von der Politik irgendwann die Nase
voll gehabt, sondern auch von sich selbst. »Ich wollte
nicht mehr nur schimpfen und klagen, ich wollte dafür
sorgen, dass wir Studierenden gesehen werden, dass
wir uns Gehör verschaffen und dass wir nicht mehr
übergangen werden.« Im Juni dieses Jahres trat Lohmeyer
der Partei Bündnis 90/Die Grünen bei. Schon
in der Vergangenheit habe sie häufiger mit dem Gedanken
gespielt, sich politisch zu engagieren, den Eintritt
in eine Partei jedoch immer wieder aufgeschoben,
sagt sie. Die Unsicherheit, welche die richtige für sie
ist, habe sie abgehalten. »Ich hatte immer gedacht, dass
man 100 Prozent mit allem einverstanden sein müsste,
was eine Partei befürwortet, um ihr anzugehören. Doch
die Pandemie hat mir gezeigt, dass man nicht zu lange
zögern sollte.« Bei den Grünen will Lohmeyer jetzt
unter anderem die Bildungspolitik mitgestalten, sich
für die Bedürfnisse von Studierenden einsetzen.
Das Erleben einer Krise und das Gefühl, abgehängt
zu sein, als Anschub für politisches Engagement
– dieser Zusammenhang sei nicht ungewöhnlich, sagt
Student Dichte:
»Für mich ist der
Onlineunterricht
ein Segen«
der Politikwissenschaftler und Jugendforscher Mathias
Albert. Vor allem bei denjenigen, die sich ohnehin
schon für Politik interessiert hätten, könnten einschneidende
Veränderungen im eigenen Leben der letzte
Funke sein, den es braucht, um nicht mehr länger nur
zuzugucken, sondern mitmischen zu wollen.
Wächst durch Corona etwa eine neue, politischere
Generation Studierender heran? Um das beurteilen
zu können, sei es noch zu früh, sagt Albert: »Inwieweit
das Engagement langfristiger Natur ist und sich vielleicht
sogar zu einer Art Bildungsprotest entwickelt,
muss sich in den kommenden Monaten erst noch zeigen.«
Fest steht aber, dass sich in der Pandemie landauf,
landab Initiativen gegründet haben, um die Anliegen
der Studierenden zu vertreten. Im sächsischen Mittweida
beispielsweise organisierten Studierende in Eigenregie
Impfungen mit AstraZeneca und errichteten
ein Testzentrum auf dem Campus, weil sie nicht länger
auf offizielle Angebote von Politik oder Hochschule
warten wollten. In Berlin schaffte es »Nicht nur Online«,
ein Zusammenschluss von Studierenden aller
Berliner Hochschulen, ihre Kommiliton:innen hinaus
auf die Straße zu bringen, zu Seminaren unter freiem
Himmel. Bundesweit schrieben Studierende offene
Briefe an die Politik.
Die Kritik der Betroffenen ähnelt sich: Man habe
monatelang zugunsten der Allgemeinheit verzichtet,
doch zurück bekäme man nichts, mehr noch, man spiele
in den Planungen der Regierung gar keine Rolle.
Aber die Aktionen zeigen auch, wie aus dem Gefühl,
vergessen zu werden, der Impuls entstehen kann, die
Dinge selbst in die Hand zu nehmen – so wie bei Betty
Lohmeyer: »Durch meine Tätigkeit in der Politik kann
ich etwas bewegen. Der Stillstand aus der Corona-Zeit
ist endlich vorbei.«
FLEXIBILITÄT ALS VORTEIL
Die Coronakrise, das ist keine Frage, hätte niemand
gebraucht. Aber manchmal steckt eben sogar in der
Katastrophe etwas Positives. Auch bei Daniel Dichte
und Kim Phuong Mol war das so. Die beiden kennen
sich nicht. Dichte wohnt in Hamburg, Mol mehr als 400
Kilometer entfernt in Köln. Dichte studiert Technische
Informatik, Mol Wirtschaftspädagogik. Beide haben jedoch
eine Gemeinsamkeit: Sie genießen die neue Flexibilität,
die Corona an die Hochschulen gebracht hat.
Kim Phuong Mol, 28 Jahre alt, ist nicht nur Studentin,
sondern auch Mutter von zwei Töchtern, zwei
und fünf Jahre alt. Zur Uni brauchte sie vor Corona
eine halbe Stunde, davor musste sie ihren Kindern
Frühstück machen, sie anziehen und die Große zur
Kita bringen. Oft sei sie schon abgehetzt in die Vor -
lesung gekommen, erzählt Mol. Hatte die Kleinere
schlecht geschlafen, war es auch um Mols Konzentration
nicht gut bestellt: »Bei der dritten Veranstaltung
am Tag habe ich gemerkt, dass es eigentlich sinnlos
war, mich noch reinzusetzen. Doch weil der Stoff prüfungsrelevant
war, hatte ich keine Wahl.« War eines
der Kinder krank und der Vater beruflich unterwegs,
musste Mol zu Hause bleiben – und sich darauf verlassen,
dass die Kommiliton:innen sie später mit Materialien
und Aufzeichnungen versorgten.
Als die Politik im März 2020 den ersten Shutdown
verhängte, änderte sich diese Situation grund -
legend. Wie alle anderen Studierenden lernte Mol von
zu Hause aus. »Es war anstrengend«, sagt sie, »keine
Frage. Wer sitzt schon gern wochenlang in den eigenen
vier Wänden fest?« Doch für Mol kristallisierten sich
12 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG
nach ein paar Wochen auch Vorteile heraus: »Plötzlich wurden
die Veranstaltungen aufgezeichnet, ich konnte selbst entscheiden,
wann und wo ich sie mir ansehe. Das war vor allem bei schwierigen
Fächern wie Makroökonomie ein enormer Gewinn, sogar meine
Noten sind besser geworden.«
Könnte Daniel Dichte hören, was Mol erzählt, er würde vermutlich
eifrig nicken. Dichte, 29 Jahre alt, hat kein Kind. Doch er
hat eine Freundin in Spanien, drei zeitintensive Nebenjobs – und
er hat ADHS, das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom. Wenn andere
gegen Abend müde werden, beginnt für Dichte die Zeit, in der er
am besten lernen kann: »Ab etwa 18 Uhr bin ich erfahrungsgemäß
am wachsten im Kopf.« Uni-Seminare fänden zu so später Stunde
an seiner Hochschule jedoch so gut wie nie statt. Dichte sagt: »Für
mich ist der Onlineunterricht ein Segen, weil ich nun selbst -
bestimmter lernen kann.« Zwar vermisse auch er den Kontakt zu
seinen Kommiliton:innen und die persönlichen Begegnungen mit
den Lehrenden, doch die positive Erfahrung habe für ihn über -
wogen. »Während des dritten Lockdowns wurde der Vater meiner
Freundin in Spanien sehr krank.« Er sei sofort nach Murcia gereist,
um der Familie beizustehen. Seine Vorlesungen, Seminare und
Gruppenarbeiten habe er von dort erledigt. »Hätte ich nicht online
studieren können, hätte ich nicht helfen können. Oder ich hätte
geholfen und dafür auf meine Scheine verzichten müssen.«
Kim Phuong Mol und Daniel Dichte hoffen, dass Onlinelehre
auch künftig Teil ihres Studiums bleiben wird – und damit sind
sie nicht allein. In einer im Wintersemester 2020/21 durchgeführten
Befragung des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE) unter
mehr als 27 000 Studierenden und über 650 Professor:innen
wünschte sich ein großer Teil, dass digitale Lehrelemente auch
nach der Pandemie gezielt eingebunden werden sollen, als Ergänzung
zur Präsenzlehre. Insbesondere Aufzeichnungen von Lehrveranstaltungen
finden Studierende demnach hilfreich.
Umfrageergebnisse wie diese überraschen Karin Bjerregaard
Schlüter nicht. Sie ist Digitalexpertin und organisiert aktuell im
Studiengang Leadership in digitaler Innovation an der Universität
der Künste Berlin die Weiterentwicklung der digitalen Lehre. »Corona
hat etwas beschleunigt, was schon längst überfällig war«,
sagt sie. »Im ersten Lockdown war es stressig, denn alle Lehrenden
– und auch die Studierenden – mussten sich neu organisieren und
erst einmal einarbeiten. Das war zeitraubend. Aber ich habe den
Eindruck, dass die meisten Studierenden mittlerweile viele Vorteile
in der Onlinelehre sehen.« Neben der Flexibilität, von der Mol
und Dichte schwärmen, nennt die Expertin weitere Beispiele. Die
Effizienz: »Gruppenarbeiten funktionieren digital viel besser, weil
schon die Aufteilung der Gruppen schneller geht. Niemand muss
warten, bis alle einen Platz gefunden haben.« Die Möglichkeiten:
»Das Studium wird internationaler, wenn man Lehrende aus aller
Welt für ein Seminar über Zoom zuschaltet oder Studierende per
Microsoft Teams an Veranstaltungen anderer europäischer Hochschulen
teilnehmen.«
Bjerregaard Schlüter ist überzeugt, dass sich in Zukunft eine
hybride Variante des Studiums durchsetzen wird. So werden Studierende
die Wahl haben, ob sie ihre Vorlesung lieber morgens
live im Hörsaal verfolgen wollen oder später zu Hause am Küchen -
tisch. Alles ins Internet verlagern, das möchte aber auch sie, ein
ausgewiesener Fan des Digitalen, nicht. Denn erstens hängt der
Erfolg von digitaler Lehre auch vom passenden Equipment und
einer ausreichend schnellen Internetverbindung ab – Dinge, die
längst nicht für alle Studierenden selbstverständlich sind. Und
zweitens: »Lernen ist immer eine Mischung aus Wissensvermittlung
und Emotion«, sagt Bjerregaard Schlüter. »Letzteres kann
man in der Onlinelehre nur sehr schwer rüberbringen.«
ACHTSAMKEIT ALS ERRUNGENSCHAFT
Dass Studieren mehr ist, als Vorlesungen zu absorbieren und Prüfungen
zu schreiben, das wurde in der Pandemie überdeutlich.
Betty Lohmeyer erzählt, dass sie sich häufig einsam gefühlt habe
– obwohl sie zunächst mit ihrem Freund und später auch mit dessen
HOCHSCHULEN IN DER
CORONAPANDEMIE
9. MÄRZ 2020
Die WHU – Otto Beisheim School of Management in Vallendar,
Rheinland-Pfalz, muss als erste deutsche Hochschule
wegen Corona vorübergehend ihren Campus schließen.
Ein Studierender hatte sich mit dem Virus infiziert.
MÄRZ 2020
Bund und Länder beschließen erste Maßnahmen zur
Eindämmung des Coronavirus. Bereits laufende Präsenzveranstaltungen
an den Hochschulen werden ausgesetzt,
der Beginn des Sommersemesters nach hinten verlegt.
2. APRIL 2020
Die Kultusministerkonferenz verschiebt den Vorlesungsbeginn
des Wintersemesters auf den 1. November, einheitlich
für Universitäten und Fachhochschulen.
15. APRIL 2020
Es gibt erste Erleichterungen bei den Coronamaßnahmen.
Neben Prüfungen dürfen auch bestimmte Praxisveranstaltungen
wieder vor Ort stattfinden, sofern Hygiene- und
Abstandsregeln eingehalten werden. Der Großteil der Kurse
wird aber weiterhin digital abgehalten.
8. MAI 2020
Der erste Teil der Überbrückungshilfe für Studierende
startet: Sie können sich nun bei der staatlichen Förderbank
KfW vorübergehend zinsfrei Geld leihen.
16. JUNI 2020
Wer wegen Corona in eine Notlage gekommen ist, kann
einen Zuschuss bei seinem Studierendenwerk beantragen –
der zweite Teil der Überbrückungshilfe. Es gibt heftige
Kritik: Die Hürden seien zu hoch, die Beträge zu gering.
16. DEZEMBER 2020
Es gelten wieder verschärfte Coronaregeln: Hochschulen
sind geschlossen, Präsenzlehre findet quasi nicht statt. So
bleibt es für die folgenden Monate.
3. MÄRZ 2021
In einem Beschlusspapier der Bund-Länder-Konferenz
werden Öffnungsschritte festgelegt – und Hochschulen
mit keinem Wort erwähnt. Studierende protestieren.
23. APRIL 2021
Die Bundesnotbremse tritt in Kraft. Ab einer Inzidenz
von 100 ist auch an Hochschulen nur noch Wechselunterricht
erlaubt, ab einem Wert von 165 nur noch Distanz -
unterricht. Länder und Hochschulen kritisieren die Regelungen
– und erwirken später Änderungen. So entfällt die
Pflicht zum Wechselunterricht, bestimmte Praxisver -
anstaltungen sind auch bei hoher Inzidenz weiter möglich.
MAI 2021
Angesichts sinkender Inzidenzwerte bereiten einige Hochschulen
erste Öffnungsschritte vor.
AUGUST – SEPTEMBER 2021
Im Wintersemester soll es wieder mehr Präsenzlehre
geben, kündigen Länder und Hochschulen an. Was genau
das bedeutet und wie es funktionieren soll, dazu gibt es
viele Diskussionen – und nicht immer klare Antworten.
Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 13
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG
»Auch wenn man vor allem
auf dem Sofa lag,
hat man daraus etwas gelernt«
Warum man die Coronapandemie auf keinen Fall als Lücke
im Lebenslauf betrachten sollte, erklärt Vera Pilkuhn,
Laufbahnberaterin und Dozentin an der FH des Mittelstands in Köln.
INTERVIEW SUSAN DJAHANGARD
SPIEGEL: Frau Pilkuhn, Sie unterstützen junge Menschen
bei der Suche nach dem ersten Arbeitsplatz. In der
Pandemie wurden aber gerade Stellen für Einsteiger:in -
nen oft gestrichen. Können Sie da überhaupt helfen?
PILKUHN: In manchen Branchen ist es durch die Pandemie
sehr schwierig geworden, Stellen zu finden, das stimmt. Aber das
ist nicht das größte Problem. Die meisten, die zu mir kommen,
kämpfen damit, dass ihre Pläne dahin sind. Einige wollten zum
Beispiel Praktika im Ausland machen. Das ging nicht, und dann
standen sie plötzlich ohne Plan B da. Das ist eine enorme psychische
Belastung, gerade wenn man sowieso schon in einer Umbruchsituation
steckt, weil das Studium oder die Ausbildung zu
Ende geht und man ins Berufsleben startet. Da geht es dann darum,
einen neuen Plan zu entwickeln.
SPIEGEL: Wie geht man damit um, wenn man nicht
sofort auf einen solchen Plan B kommt? Man soll
schließlich keine Lücke im Lebenslauf haben, heißt es.
PILKUHN: Mich hat diese Lückendiskussion schon immer
gestört. Das Hauptziel ist doch nicht, permanent beschäftigt zu
sein. Man nimmt aus jeder Zeit etwas mit. Auch wenn man in
den ersten Monaten der Pandemie vor allem auf dem Sofa lag,
hat man daraus etwas gelernt: vielleicht nur, dass man nicht der
Typ ist, der besonders schnell mit ungewöhnlichen Situationen
umgehen kann. Aber auch das bringt einen weiter. Das Wichtigste
ist, dass man wohlwollend auf sich selbst blickt und sich nicht
noch mehr stresst. Vielleicht war die Pandemie auch eine richtig
gute Zeit, weil man so viel schlafen konnte wie nie zuvor – oder
nach dem Stress mit der Abschlussarbeit endlich diese eine neue
Serie schauen konnte.
SPIEGEL: Aber das kann man doch in einem
Bewerbungsgespräch so nicht sagen.
PILKUHN: Natürlich würde ich nicht empfehlen, vor allem
über gute Serien zu sprechen, wenn man sich bei einem
Arbeit geber vorstellt. Aber man kann plausibel vermitteln,
dass die Pandemie eine Herausforderung für uns alle war, und
zeigen, dass man damit selbstreflektiert umgeht. Ich glaube, da
hat uns diese Krise ganz erheblich vorangebracht: Weil sie eine
solche Aus nahmesituation war, haben wir uns alle besser kennengelernt.
Und in einem Team beispielsweise braucht man beides
– Menschen, die sehr schnell reagieren, und solche, die erst
mal nachdenken.
SPIEGEL: Gibt es weitere Punkte, die man in
den Shutdowns vielleicht gelernt hat und die man
in einem Bewerbungsgespräch nennen kann?
PILKUHN: Einige. Das, worüber wir gerade gesprochen
haben, fällt ja in den Bereich Resilienz: auf sich selbst aufpassen
zu können, zu wissen, was einem guttut und was nicht. Die Pandemie
war auch ein Crashkurs in Selbstorganisation und Selbstmotivation.
Alle mussten lernen, weiterzumachen – ohne Seminare
in der Uni vor Ort, ohne Fitnessstudio oder Lerngruppe.
Wenn man es da etwa geschafft hat, regelmäßig Sport zu machen
oder online Gitarre zu üben, ist das eine großartige Leistung! Das
kann man ruhig so erzählen. Und wir haben alle unsere Flexibilität
trainiert, das wurde ja schon vor Corona auf dem Arbeitsmarkt
immer wichtiger. Statt in der Uni oder der Berufsschule hat man
eben von zu Hause aus gelernt.
SPIEGEL: Sie haben gar nicht erwähnt, dass Corona
uns alle digitaler gemacht hat.
PILKUHN: Man kann natürlich auch betonen, mit welchen
Programmen man jetzt besonders sicher ist, klar. Aber die meisten
jungen Menschen konnten auch vorher schon gut digital arbeiten.
Ich glaube, da haben vor allem Ältere einen Sprung gemacht.
SPIEGEL: Das klang jetzt alles sehr positiv, aber wir
sprechen nun mal über eine weltweite Krise. Was,
wenn man gerade nicht selbstbewusst in Bewerbungsgespräche
gehen kann, weil man einfach verunsichert
ist nach diesen anderthalb Jahren?
PI LKUHN: Das Wort Selbstbewusstsein bedeutet ja, sich
über sich selbst bewusst zu sein. Es hilft also, sich vorher Fragen
zu stellen und die Antworten aufzuschreiben: Was kann ich richtig
gut? Und was will ich im Leben? Welche Werte sind für mich
wichtig? Was habe ich während der Pandemie gemacht? Und was
würde ich anders machen, wenn ich so eine Krise noch mal erlebe?
Diese Fragen kann man auch Freund:innen und in der Familie
stellen. Wenn man das für sich sortiert hat, kann man viel selbstbewusster
in ein Bewerbungsgespräch gehen.
SPIEGEL: Und wenn man gerade einfach keinen Job
findet?
PILKUHN: Dann sollte man unbedingt den Markt und die
eigene Branche analysieren, um herauszufinden, wo gesucht wird.
Dafür kann man Podcasts hören, oder man liest einfach sehr viele
Stellenanzeigen. Und ich empfehle, nach den positiven Beispielen
zu suchen: die eine Kommilitonin, die gerade eine Festanstellung
bekommen hat, oder der eine Freund, der aus dem Praktikum
übernommen wurde. Die gibt es ja weiterhin! Es wurden trotz
Corona viele neue Jobs vergeben und Menschen neu eingearbeitet.
Wenn man da jemanden kennt, kann man nachfragen: Wie hast
du das geschafft? Davon kann man sich etwas abschauen.
14 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG
Eltern in einem Haushalt lebte. »Hätte ich dieses Umfeld
nicht gehabt, ich wäre wohl verrückt geworden.«
Forscher:innen der Universität Hildesheim haben
bereits im Sommer 2020 bundesweit mehr als 2000
Studierende zu ihrem Studienalltag in der Pandemie
befragt. Fast alle beklagten den Wegfall des sozialen
Austauschs: 79 Prozent der Befragten vermissten das
Campusleben, 82 Prozent fehlte der direkte Kontakt
zu anderen. Bei einer Neuauflage der Befragung im
Sommer 2021 stiegen die Werte sogar noch leicht, auf
jeweils mehr als 84 Prozent. Zwei Studien der Organisation
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
ergaben zudem, dass sich in vielen Ländern
junge Erwachsene besonders einsam fühlten – und infolgedessen
überdurchschnittlich oft an Depressionen
oder Angststörungen erkrankten.
Martin Adam sagt, er habe viele dieser Studien
gekannt, als er im vergangenen Sommersemester an
der TU Darmstadt die Masterveranstaltung »Wohlbefinden
verbessern mit Data Analytics« startete. Adam
hat in Wirtschaftsinformatik promoviert und habilitiert
nun im Fachgebiet Information Systems und Electronic
Services. Auf die Idee, sich mit den Themen Glücklichsein
und mentaler Gesundheit zu beschäftigen, sei
er durch die Vorlesungen der US-amerikanischen Psychologieprofessorin
Laurie Santos gekommen. Die hatte
mit ihrem Kurs über die »Wissenschaft des Wohl -
Studentin Mol,
Töchter:
»Sogar meine
Noten sind besser
geworden«
befindens« in den vergangenen Jahren mehrere Tausend
Studierende begeistert. In der Pandemie wurde
die Aufzeichnung des Kurses auf der ganzen Welt mehr
als eine Million Mal geklickt – und damit zum gefragtesten
Onlineangebot in der 300-jährigen Geschichte
der Yale University.
»Dass Angebote zur mentalen Gesundheit gefragt
sind, wusste ich: Das Thema liegt im Trend«, sagt
Adam. »Viele junge Menschen fragen sich, was sie
glücklich macht und was ihrem Leben einen Sinn verleiht
– gerade in Zeiten, in denen durch die Pandemie
der gewohnte Alltag und viele soziale Kontakte von
jetzt auf gleich weggebrochen sind.« Der 30-Jährige
rechnete dementsprechend mit Interesse vonseiten der
Studierenden – wie stark dieses sein würde, ahnte er
allerdings nicht. »40 Teilnehmende hätten mich schon
sehr gefreut, 80 wären ein enormer Erfolg gewesen«,
sagt er, »am Ende waren es fast 120.« Darunter seien
nicht nur angehende Wirtschaftsinformatiker:innen
gewesen, sondern auch Studierende aus Fächern wie
BWL, Pädagogik und Psychologie.
Auch an anderen Hochschulen gewinnt das Thema
Wohlbefinden offenbar an Bedeutung. Das Studierendenwerk
der Universität Heidelberg etwa eröffnete
im Februar dieses Jahres ein Referat gegen Einsamkeit.
Werden Hochschulen künftig also mehr sein als reine
Orte der Wissensvermittlung? Werden Lehrende die
psychische Gesundheit ihrer Studierenden ebenso im
Blick haben wie die Inhalte der nächsten Vorlesung?
Dozent Martin Adam kann sich gut vorstellen,
dass das Thema Wohlbefinden an Universitäten künftig
an Relevanz gewinnen wird. »Die psychische Gesundheit
der Studierenden ist durch die Pandemie
mehr in den Fokus gerückt«, sagt er. Und auch Betty
Lohmeyer hat das Gefühl, dass die einst floskelhafte
Frage »Wie geht es dir?« in den vergangenen Monaten
an Ernsthaftigkeit gewonnen hat. »Man interessiert
sich plötzlich mehr füreinander«, sagt sie. Dadurch sei
es leichter geworden, offen zu sagen, wenn es einem
mal nicht gut gehe. Eine Art neue Ehrlichkeit also. Die
will Lohmeyer sich bewahren – nicht zuletzt für ihre
Arbeit in der Politik.
Die Pandemie hat das Leben und den Alltag von
knapp drei Millionen Studierenden auf den Kopf gestellt.
Vieles, was in den vergangenen anderthalb Jahren
passiert ist, war gewöhnungsbedürftig, einiges anstrengend
und manches schlichtweg nicht zumutbar.
Doch nicht alles – das kann man rückblickend sagen –
war schlecht. Ob die Onlinelehre von jetzt an ein fester
Teil der Vorlesungsverzeichnisse sein wird, ob Studierende
künftig mehr gehört werden, auch weil sie sich
lauter zu Wort melden, ob an den Hochschulen bald
wirklich mehr aufeinander geachtet wird – all das wird
sich in den kommenden Semestern zeigen. Fest steht:
Corona hat einen Anstoß für Veränderungen gegeben,
die zum Teil längst überfällig waren. Fest steht auch:
Die Pandemie hat Studierenden gezeigt, zu welchen
Leistungen sie in einer Ausnahmesituation fähig sind.
Und das ist eine Erfahrung, die ihnen auch nach dem
Hochschulabschluss helfen wird.
SCHREIB UNS
Welche Erfahrungen hast du in der Pandemie
an der Uni gemacht? Was hat dich gestört
und belastet – und was lief gut? Schreib uns:
spiegel-start@spiegel.de
Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 15
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG
ZWISCHEN
PETTERSON UND
KÜCHENTISCH
Drei Semester lang waren die Hochschulen dicht, zum Teil sitzen Studierende
immer noch im Homeoffice. Vier von ihnen zeigen,
wie sie auf beengtem Raum lernen – und erzählen, was sie hoffen lässt.
TEXT KATHARINA HÖLTER
FOTOS PHILIPP REISS
BADRIEH WANLI, 31, STUDIERT
DEUTSCH UND KUNST AUF
LEHRAMT AN DER HOCHSCHULE FÜR
BILDENDE KÜNSTE UND
AN DER UNIVERSITÄT HAMBURG.
»Ich habe zwei Kinder, mein Sohn ist fünf, meine Tochter drei.
Mein Freund arbeitet als selbstständiger Kameraassistent. Wenn
er zu einem Dreh muss, erfährt er das oft sehr spontan. Es gab
während des Shutdowns Tage, an denen er die Kinder betreuen
und ich mich ganz aufs Studium konzentrieren konnte, an anderen
musste ich wissenschaftliche Texte durcharbeiten und parallel ›Pettersson
und Findus‹ gucken. Wenn die Kinder herumrannten und
an mir hingen, war an Studieren nicht zu denken. Oft habe ich
abends und nachts gearbeitet, mich in mein Atelier zurückgezogen.
Aus dem Shutdown habe ich gelernt, dass meine Ressourcen
nicht unerschöpflich sind. Immer eine überdurchschnittliche
Studentin und gute Mutter zu sein, ging nicht mehr so einfach
parallel. Wenn ich an den Winter denke, habe ich Bauchschmerzen.
Im Moment gehen die Kinder in die Kita, aber sicherlich steht
uns wieder eine Schließung oder die ein oder andere Quarantäne
bevor. Jetzt immer leichtfertiger mit den Maßnahmen umzugehen,
zeigt, dass Kinder in unserer Gesellschaft und bei den politischen
Entscheidungen einen sehr geringen Stellenwert haben.«
16 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG
BEKHAN ZUBAJRAEV, 24, STUDIERT
MODEDESIGN AN DER AKADEMIE
FÜR MODE, DESIGN, KOMMUNIKATION
UND MANAGEMENT IN HAMBURG.
»Mein Studium hat einen großen Praxisanteil, wir haben
beispielsweise Näh- und Schnittunterricht. Beides aus der eigenen
Wohnung zu lernen, war echt eine Herausforderung. Aber unsere
Hochschule hat das prima organisiert! Die Dozierenden haben
drei, vier Kameras installiert, damit man ihre Arbeit aus jeder
Perspektive beobachten kann. Einige meiner Kommiliton:innen
arbeiteten nach vorheriger Anmeldung an den Nähmaschinen in
der Hochschule, ich habe mir eine eigene für zu Hause gekauft.
Im Shutdown habe ich gelernt, meine Zeit mehr wertzuschätzen
– und besser zu nutzen. Statt Bus und Bahn zur Uni zu fahren,
konnte ich Unterrichtsstoff vorbereiten und an eigenen Designs
weiterarbeiten, zum Beispiel an meinen Bauchtaschen aus altem
PVC-Boden. Mein Wintersemester verbringe ich in Amsterdam.
Dort absolviere ich ein sechsmonatiges Praktikum – zum Glück
in Präsenz. Es ist schön, das Erlernte in der realen Modebranche
anwenden zu können.«
Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 17
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG
»Ich bin sehr froh, meine Instrumente als Ausgleich zu den
Onlinevorlesungen zu haben. Ich schaue nicht den ganzen Tag
auf einen Bildschirm, das ist ein großes Privileg. Bei uns fand auch
während des Shutdowns noch Präsenzunterricht statt: In Klavier
und Gesang wurde ich von jeweils einem Dozenten unterrichtet –
auf Abstand, mit einer großen Plastikscheibe zwischen uns.
Zum Ende des Sommers hatten wir immer mehr Kurse vor
Ort. Ich hoffe, das bleibt auch im Winter so. Mir ist klar geworden,
wie wichtig der direkte Austausch mit anderen Studierenden ist.
Allein zu Hause fällt es mir schwer, mich zu motivieren. Allerdings
habe ich mich auch weniger ablenken lassen, als keine Konzerte
und Festivals stattfanden. Das war gut und schlecht zugleich.«
ALENA BORG, 22, STUDIERT MUSIK
AN DER HOCHSCHULE FÜR
MUSIK UND THEATER IN HAMBURG.
18 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG
ARNDT STEINACKER, 31, STUDIERT
SOZIALE ARBEIT AN DER
HOCHSCHULE FÜR ANGEWANDTE
WISSENSCHAFTEN IN HAMBURG.
»Corona hat dazu geführt, dass viele ihren Alltagstrott hinterfragt
haben. Wie viel Raum sollen Studium und Arbeit wirklich
einnehmen? Ich betreibe ein eigenes Café, das trotz Shutdown
immer gut angenommen wurde. Meine Freundin Luisa und ich
haben unsere Prioritäten trotzdem verschoben – weg vom Lernund
Arbeitsstress. Seit vergangenem Jahr haben wir einen Hund,
im November werden wir Eltern. Uns hat Corona noch enger zusammengeschweißt.
Für das Wintersemester plant meine Hochschule
hybride Veranstaltungen, die sowohl vor Ort als auch online
verfolgt werden können. Das Modell ermöglicht uns Studierenden
mehr Flexibilität und eine freiere Lebensgestaltung, auch nach
Corona. Das kommt mir sehr entgegen.«
Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 19
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG
JOBS MIT ZUKUNFT
Die Wirtschaft in Deutschland muss digitaler und grüner
werden, da sind sich die Fachleute einig. Was bedeutet das für diejenigen,
die jetzt ihre Ausbildung und Karriere planen?
Wir erklären, wo es Stellen gibt – und wer sie bekommt.
TEXT FLORIAN GONTEK UND KATHARINA HÖLTER
FOTOS SEBASTIAN LOCK UND MARINA WEIGL
Wenn Sarah Julia Kriesch von ihrer letzten Vertragsverhandlung
erzählt, klingt das ein bisschen nach Profi -
fußball. Um ein Talent wie Kriesch zu sich zu holen,
lockte der Arbeitgeber mit allerlei Prämien: unbefristete
Vertragslaufzeit; Stundenzahl nach Absprache flexibel
anpassbar; Weiterbildungsangebote während der
Arbeitszeit; Nachlass auf die hauseigenen Unternehmensaktien;
und ein Gehalt, das auch ohne Boni schon
bei mehr als 4500 Euro brutto pro Monat liegt.
Das alles dafür, dass Kriesch anderen dabei hilft,
digitaler zu werden. Die 34-Jährige arbeitet als IT-Beraterin
bei einer Consultingfirma in Nürnberg. Ihr Job
ist es, Unternehmen bei Cloud-Lösungen zu unterstützen,
also deren digitale Infrastruktur zu optimieren.
Und das Beste, wie Kriesch findet: An bis zu acht
Stunden in der Woche könne sie ihrer Leidenschaft
nachgehen, der Linux-Programmierung. Linux ist ein
alternatives Betriebssystem, etwa zu Windows oder
macOS, und eines der bekanntesten Open-Source-Projekte.
Die Arbeit daran habe mit ihrem Job zwar
eigentlich wenig zu tun, sagt Kriesch. Aber ihr Arbeitgeber
bezahle sie für etwas, das der Allgemeinheit
dient – und seine Mitarbeiterin glücklich macht. »An
einem Tag in der Woche kann ich mich frei entfalten,
meinen Interessen nachgehen, mich austauschen und
zugleich etwas für das Gemeinwohl tun – für mich ist
das gerade perfekt.«
Die Stelle passt zu Kriesch, Kriesch passt zu
ihrer Stelle. Ein Match. Doch viele andere Berufseinsteiger:innen
müssen dieses Match noch finden – in
einer Zeit, in der sich Wirtschaft und Gesellschaft verändern.
Fragt man Expert:innen, welche Trends den
Arbeitsmarkt der Zukunft bestimmen werden, fallen
immer wieder zwei Schlagwörter – Digitalisierung und
Dekarbonisierung. Was bedeutet: Es wird Menschen
wie Sarah Julia Kriesch brauchen, die digitale Programme
entwickeln und mit großen Datenmengen umgehen
können. Und solche, die dafür sorgen, dass sich
die CO 2 -Bilanz von Unternehmen, Kommunen und
Dienstleistungen verbessert.
Beides war eigentlich längst klar, doch die Krisen
und Katastrophen der vergangenen beiden Jahre haben
die Dringlichkeit der Veränderung offenbart: Die
Coronapandemie hat gezeigt, dass Deutschland dringend
digitaler werden muss. Wenn Menschen
zu Hause lernen und arbeiten
wollen, brauchen sie stabiles Internet
und verlässliche Software. Wenn Gesundheitsämter
Infektionsketten nachvollziehen
müssen, sind digitale Daten
wichtiger als ausgedrucktes Papier. Und
spätestens seit der Flutkatastrophe im
Sommer ist klar: Die Klimakrise ist in
Deutschland angekommen. Auch sie
verlangt nach einem Umdenken – und
nach neuen Jobs.
Doch was bedeutet das in der Praxis?
Wo werden Schulabgänger:innen,
Azubis und Studierende gebraucht? Wo finden sie
künftig Stellen? Und was müssen sie dafür können?
1. DIGITALISIERUNG
Dass Sarah Julia Kriesch einmal in der IT landen würde,
zeichnete sich früh ab. Sie sei schon in der Schule
technikinteressiert gewesen, habe regelmäßig bei
»Jugend forscht« mitgemacht, erzählt sie. Ihr sei auch
immer wichtig gewesen, mit ihrem Beruf eine Familie
ernähren zu können. Nach dem Schulabschluss machte
sie erst eine Ausbildung zur Fachinformatikerin, nach
vier Jahren im Job folgte das Informatikstudium an
der Technischen Hochschule Nürnberg.
Noch bevor Kriesch ihre Bachelorarbeit einreichte,
hatte sie ihren ersten Arbeitsvertrag unterschrieben,
bei einem Tech-Konzern in Böblingen. Und selbst als
sie schon nach fünf Monaten wieder einen Job suchte,
weil das Unternehmen wegen der Coronakrise
umstrukturieren musste und Kriesch der Unsicherheit
»Wir werden
Personal brauchen,
das ein digitales
Grundverständnis
mitbringt.«
Rainer Strack,
Boston Consulting Group
IT-Expertin Kriesch:
»An einem Tag in
der Woche kann ich
mich frei entfalten,
meinen Interessen
nachgehen und
zugleich etwas für
das Gemeinwohl
tun«
20 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
DIGAS_B2B-Belegexemplare-SpiegelStart_2021_10_02
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG
22 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG
DIGITALER BOOM
Studierende* in Deutschland in ausgewählten Informatikstudiengängen
150 000
100 000
50 000
0
WS
2010/2011
WS
13/14
WS
16/17
* jeweils nach erstem angegebenen Studienfach
S Quelle: Destatis
»Bestehende
Berufe entwickeln
sich in eine
grüne Richtung.«
Markus Janser,
Institut für Arbeitsmarktund
Berufsforschung
Klimaschutz -
manager Borscz:
»Ich wollte etwas
Positives zur Welt
beitragen, etwas
Sinnvolles tun.
Das mache ich jetzt
in meinem Job«
WS
19/20
Informatik
Wirtschaftsinformatik
Medieninformatik
Bioinformatik
Computerlinguistik
entgehen wollte, dauerte es keine zwei Wochen bis
zum neuen Vertrag, dem mit den vielen Prämien.
Auch in Zukunft wird Kriesch sich ihren Arbeitgeber
wohl frei aussuchen können. Fast täglich erhalte
sie über Xing oder LinkedIn neue Jobanfragen, erzählt
sie. Erst einmal sei sie aber glücklich: »Mir ist wichtig,
dass ich mich ständig weiterentwickeln kann«, sagt
sie, das sei in ihrem aktuellen Job der Fall.
Kriesch wird hofiert, weil sie eine
seltene Ausbildung hat – zu selten,
wenn es nach dem Bedarf am Arbeitsmarkt
geht. Eine Modellberechnung der
Unternehmensberatung Boston Consulting
Group (BCG) geht davon aus, dass
2030 allein in Deutschland etwa eine
Million IT-Fachkräfte fehlen könnten,
darunter beispielsweise Cyber-Security-
Analyst:innen oder Data-Scientists.
Dem Dekra-Arbeitsmarktreport zufolge
richtet sich schon jetzt jede zehnte Stellenanzeige
an IT-Fachkräfte. Sogar in
der Coronakrise ist die Branche gewachsen: Laut Pro -
gnosen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufs -
forschung (IAB) dürften 2021 rund 40 000 Stellen im
IT-Bereich dazukommen.
Zwar stieg in den vergangenen Jahren auch die
Zahl derer, die Informatik oder ein verwandtes Fach
studieren. Unter den Top 20 aller Studienabschlüsse
lag Informatik im Jahr 2019 trotzdem gerade mal auf
Platz 6, Wirtschaftsinformatik auf Platz 16. Betrachtet
man nur Frauen, tauchen beide Fächer gar nicht auf –
ein Problem bei einer so hohen Nachfrage nach Fachkräften.
Schon seit Jahren versuchen Politik, Verbände
und Unternehmen, MINT-Studienfächer attraktiver
zu machen, gerade für Frauen – bislang mit mäßigem
Erfolg. Aber, und das ist die gute Nachricht: Man muss
gar nicht unbedingt Informatik studiert haben, um von
dem Boom zu profitieren.
Aus Sicht von Rainer Strack, Senior Partner bei
BCG, könnten sogenannte Micro-Credentials die Lösung
sein. Das sind akademische Abschlüsse, die man
mit geringem zeitlichen Aufwand und oft online absolvieren
kann, etwa nach dem eigentlichen Studium
oder parallel zum Job. »Wir werden sogenannte Brückenbauer:innen
brauchen«, sagt Strack. »Damit
meine ich Personal in einem klassischen Beruf, das zusätzlich
ein digitales Grundverständnis mitbringt.«
Zum Beispiel könnten Mediziner:innen sich nach ihrem
Studium noch Kenntnisse in künstlicher Intelligenz
oder Big Data aneignen und diese dann in ihrem
Job anwenden. Karrierewege seien in der Vergangenheit
oft starr verlaufen, der Fachkräftemangel und die
Digitalisierung aber verlangten nach Flexibilität, nach
cross-ausgebildetem Personal, sagt Strack. Dafür spricht
auch eine neue Vorgabe für alle anerkannten Ausbildungsberufe:
Seit August dieses Jahres müssen vier
Punkte Teil jeder Ausbildung sein, neben Berufsbildung
und Sicherheit bei der Arbeit auch »Digitalisierte Arbeitswelt«
– und »Umweltschutz und Nachhaltigkeit«.
2. DEKARBONISIERUNG
Damit trägt die neue Ausbildungsvorgabe auch dem
zweiten Megatrend auf dem Arbeitsmarkt Rechnung,
dem Bedarf nach Dekarbonisierung. In anderen Worten:
Eine Welt, die gegen die Klimakrise kämpft,
braucht grüne Jobs.
Felix Borscz hat so einen grünen Job. Seit Anfang
des Jahres arbeitet der 27-Jährige als Klimaschutzmanager
bei der Stadt Gummersbach, knapp
eine Auto stunde von Köln entfernt. Den Beruf habe
er nicht gewählt, weil ihm an einer besonders steilen
Karriere gelegen war, sagt Borscz. Sein Antrieb: sich
mit seinen Fähigkeiten bestmöglich für die Gesellschaft
einbringen. »Ich wollte etwas Positives zur Welt
beitragen, etwas Sinnvolles tun. Das mache ich jetzt
in meinem Job.«
Auch Borscz hat sein Match gefunden. Als Klimaschutzmanager
entwickelt er für Gummersbach ein
städtisches Mobilitätskonzept, er kämpft um Budgets
für fahrradfreundliche Straßen und organisiert Pedelec-Trainings,
damit mehr Menschen mit dem E-Bike
zur Arbeit fahren. Man habe lange nach einer geeigneten
Person gesucht, heißt es von der Stadt, gute Bewerber:innen
seien selten. Borscz habe sie sofort überzeugt.
Und so trat er kurz nach seinem Masterabschluss in
Umweltingenieurwesen die Stelle in Gummersbach an.
Wie groß der Bedarf nach Know-how in Sachen
Nachhaltigkeit auf dem Arbeitsmarkt tatsächlich ist,
GUTE ZEITEN,
SCHLECHTE ZEITEN
Beschäftigte nach Branchen, Veränderung 2021
gegenüber 2020 in Tausend, Prognose
Öffentlicher Dienst,
Erziehung, Gesundheit
Gesamt
IT
+41
Bau +29
Land- und Forstwirtschaft,
Fischerei
+2
Grundstücks- und
Wohnungswesen +1
−93
−53
−4
−14
−33
S Quelle: IAB; Stand: März 2021
+66
Finanzwirtschaft
+190
Sonstige Dienstleister
Handel, Verkehr,
Gastgewerbe
Unternehmensdienstleister
Produzierendes Gewerbe
ohne Bau
Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 23
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG
UMWELTEXPERT:INNEN GESUCHT!
Studierende* in Deutschland in ausgewählten Umweltstudiengängen
10 000
8000
6000
4000
2000
0
WS
2010/2011
WS
12/13
WS
14/15
WS
16/17
WS
18/19
WS
20/21
Umwelttechnik
Regenerative
Energien
Umweltschutz
Naturschutz
Geoökologie
* jeweils nach erstem angegebenen Studienfach; ab Wintersemester 2012/2013 bei den sehr jungen
Studiengängen Geoökologie und Regenerative Energien
S Quelle: Destatis
dazu gibt es deutlich weniger Statistiken als im IT-Bereich.
Aber es gibt Anhaltspunkte: Gummersbach etwa
ist nicht die einzige Kommune, die sich einen Experten
wie Borscz leistet. Laut Bundesumweltministerium
gibt es in Kreisen, Städten und Kommunen mittlerweile
mehr als 1000 solcher Stellen.
Auch Markus Janser hat gezeigt, dass es einen
Trend zu grünen Jobs gibt. Der Soziologe untersucht
am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
(IAB), wie sich Umwelt- und Klimapolitik auf den Arbeitsmarkt
auswirken. Bereits 2018 hat er die Beschreibungen
von knapp 4000 Berufen auf dem Portal der
Bundesagentur für Arbeit ausgewertet. Das Ergebnis:
Zwischen 2012 und 2016 stieg die Anzahl von Berufen
mit einem oder mehreren grünen Inhalten, und zwar
um 14 Prozent. Bald werden neue Zahlen veröffentlicht,
und – so viel kann Janser schon jetzt sagen – der
Trend setzt sich fort. Neben der klassischen Ausbildung
zur Kfz-Mechatroniker:in gibt es inzwischen beispielsweise
auch eine zur »Kraftfahrzeugmechatroniker:in
für System- und Hochvolttechnik«, in anderen Worten:
für Elektroautos.
Ob es in der deutschen Hochschullandschaft eine
ähnliche Entwicklung hin zu mehr Grün gibt, dazu hat
das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) keine
aktuellen Zahlen. Fest steht: Es gibt Dutzende Studien -
gänge mit Nachhaltigkeitsschwerpunkt. Das Statistische
Bundesamt zum Beispiel führt Umweltschutz, Umwelttechnik,
Naturschutz, Geoökologie oder Regenerative
Energien. In manchen davon steigt die Zahl der Studie -
renden, in anderen geht sie zurück – einen eindeutigen
Trend gibt es nicht.
Doch ähnlich wie im IT-Bereich gilt: Man muss
nicht unbedingt einen grünen Studiengang oder eine
grüne Ausbildung absolviert haben, um danach einen
grünen Job zu machen. »Es entstehen nicht zwingend
neue Berufe«, sagt IAB-Forscher Janser, »vielmehr
entwickeln sich bestehende Berufe in eine grüne Richtung«
– mit zusätzlichen Kompetenzen.
Unter Borsczs Kommiliton:innen gibt es welche,
die nach dem Abschluss in die Verkehrsplanung gegangen
sind oder in die Baubranche, andere verkaufen
nachhaltige Mode. »Man kann in so vielen Bereichen
arbeiten«, sagt Borscz, »Angst, keinen Job zu finden,
hatte eigentlich niemand.« Er selbst habe sich bewusst
für den öffentlichen Dienst entschieden: »Man muss
zwar in Kauf nehmen, dass die Strukturen in der Verwaltung
nicht die flexibelsten sind. Dafür habe ich bei
der inhaltlichen Ausgestaltung meiner Tätigkeit relativ
viel Spielraum.« Sein Arbeitsvertrag ist unbefristet;
mit den 39 Wochenstunden, die im zugehörigen Tarifvertrag
stehen, sei er bislang immer gut hingekommen.
Auch das Gehalt sei in Ordnung: Borscz verdient
knapp 4000 Euro brutto im Monat.
Bis Ende des Jahres fördert das Bundesumweltministerium
die Posten von Klimaschutzmanager: -
innen wie Borscz mit 75 bis 100 Prozent der Personalkosten.
Doch auch wenn die Finanzierung auslaufe:
Sein Job werde in Zukunft keineswegs verschwinden,
sondern vielmehr noch wichtiger werden, sagt Borscz.
»Die Klimakrise wird nicht vorbeigehen, das ist leider
so.« Seine ehemalige Hochschule gibt ihm recht: Die
Berufsperspektiven für Umweltingenieur:innen seien
aktuell sehr gut und würden künftig noch besser, heißt
es auf der Website.
MICRO-CREDENTIALS
Was ist das? Micro-Credentials – auch Microdegrees oder
Nanodegrees genannt – sind Angebote von Hochschulen oder
privaten Bildungseinrichtungen, um Zusatzqualifikationen zu
erwerben. Man absolviert also kein vollständiges Studium,
sondern belegt kleine Studienabschnitte, die einen Teilaspekt
behandeln, etwa eine Programmiersprache. Besonders viele
Micro-Credentials gibt es im IT-Bereich, es entstehen derzeit
aber Kurse in allen Fachbereichen, meist digital, manchmal
auch in Präsenz.
Wozu? Micro-Credentials sollen lebenslanges Lernen und
Quereinstiege fördern. Sie richten sich aber auch an Schul -
absolvent:innen, die damit einen Einblick ins Studium gewinnen
können.
Welche Anbieter gibt es? Zu den renommiertesten Anbietern
zählen Udacity, Coursera und edX. Dahinter stecken Universitäten
wie Stanford, Harvard oder das Massachusetts
Institute of Technology (MIT). In Deutschland arbeiten zum
Beispiel die RWTH Aachen oder die LMU München mit.
Wie lange dauert das? Je nach Kurs in der Regel zwischen
25 und 180 Stunden.
Wie teuer ist das? Das hängt sehr von Dauer und Qualität
der Kurse ab, einige Angebote gibt es gratis, andere kosten
um die 1000 Euro.
Kann ich mir das auf ein Studium anrechnen lassen? Ja,
meist werden Micro-Credentials zumindest bei derselben
Hochschule anerkannt. Im Idealfall bekommt man auch Credit -
points – allerdings nicht besonders viele.
Gibt es einheitliche Standards? Noch nicht, die EU-Kommission
arbeitet aber an einer Liste von Qualitätsmerkmalen.
Worauf sollte man achten? Bevor man sich für ein Angebot
entscheidet, sollte man prüfen, ob dahinter eine öffentliche
oder eine anerkannte private Hochschule steckt. Das spricht
für gute inhaltliche Qualität, außerdem erkennen Arbeitgeber
die Kurse eher an.
24 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
KOLUMNE: MEIN ERSTES JAHR IM JOB
»Ich erlebe
Weltpolitik
hautnah«
In jeder Ausgabe von SPIEGEL START
erzählen Berufsanfänger:innen von ihren
ersten Erfahrungen im Job. Nardine
Luca, 26, arbeitet als Projektmanagerin bei
der Münchner Sicherheitskonferenz.
N
ach dem Abitur wollte ich lernen, wie in anderen Ländern
Politik gemacht wird. Deshalb zog ich für mein
Studium nach Deutschland. Danach wollte ich eigentlich
in meine Heimat Ägypten zurückkehren und Poli -
tikerin werden. Doch ich blieb – und fand hier einen
Job, bei dem ich nicht nur zuschauen, sondern aktiv mitgestalten
kann.
Ich bin in Kairo geboren und aufgewachsen.
Dort habe ich eine deutsche Schule
besucht. Mein Vater arbeitet für eine deutsche
Firma und war überzeugt, dass mir die
Sprache nützen würde. Ich war in der zehnten
Klasse, als 2011 die ägyptische Revolution
begann, und fragte mich: Warum funktioniert
das mit der Demokratie in Ägypten
nicht – und wie machen es andere Länder?
Um das herauszufinden, beschloss ich, in
Deutschland Politikwissenschaft zu studieren.
An der Uni München machte ich einen
Bachelor in Politikwissenschaft und einen
deutsch-spanischen Doppelmaster in Internationalen
Beziehungen. Während dieser
Zeit änderten sich meine Pläne: Direkt nach
der Uni in die ägyptische Politik einzusteigen
schien mir nicht mehr allzu realistisch.
Außerdem hatte ich mich in Deutschland
gut eingelebt. Es kam mir sinnvoller vor,
erst einmal hier praktische Erfahrungen zu
sammeln.
Der Arbeitsmarkt für Politik-Absolvent:innen
war aber zunächst eine Enttäuschung.
Es ist ein Teufelskreis: Man muss Arbeitserfahrung haben,
um einen Job zu finden. Aber man muss einen Job finden, um Arbeitserfahrung
zu bekommen. Die wenigen interessanten Stellen
bei internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen
sind sehr begehrt – und erfordern oft finanzielle Aufopferung. Unbezahlte
Praktika werden in diesem Bereich leider häufig vorausgesetzt.
Innerhalb von drei Monaten verschickte ich 20 bis 25 Bewerbungen,
auch für Praktika oder Traineeships. Irgendwann stieß
ich auf eine Ausschreibung der Münchner Sicherheitskonferenz
Foto: Kuhlmann / MSC
AUFGEZEICHNET VON
HELENE FLACHSENBERG
für eine Projektassistenz. Als Münchnerin war mir die MSC natürlich
ein Begriff. Jedes Jahr, wenn die Hauptkonferenz stattfindet,
ist die Innenstadt abgesperrt und voller Polizist:innen, die dafür
sorgen, dass die Politiker:innen sich ungestört über Sicherheitspolitik
austauschen können. Viel mehr wusste ich damals allerdings
nicht.
Im Vorstellungsgespräch kam mir ein Zufall zugute. Wir sprachen
darüber, dass ich in Kairo aufgewachsen war. Eine Woche
später bekam ich einen Anruf von der MSC, ob ich schon im
nächsten Monat anfangen könne. Neben der Hauptkonferenz in
München veranstaltet die MSC regionale Core-Group-Meetings
zur Sicherheitspolitik einzelner Länder. Ein solches Meeting stand
kurz bevor – in Kairo. Und so wurde ich direkt ins kalte Wasser
geworfen.
Ich reiste als Projektassistentin nach Kairo, vor Ort übernahm
ich allerdings viel mehr Verantwortung als für diese Position üblich.
Schließlich beherrschte ich die Sprache – und ich kannte die Stadt,
das Land und die Kultur. Ich organisierte also Hotels und Transport,
suchte nach passenden Locations, durfte mich aber auch inhaltlich
einbringen. Beispielsweise schlug ich vor, wer sich als Moderator:in
eignen würde oder welche Teilnehmer:innen noch zu einem
Round Table eingeladen werden sollten. Das war zwar viel auf
einmal, aber es machte Spaß.
Nach dem Meeting bekam ich die ursprünglich anvisierte
Stelle als Projektassistentin bei der Hauptkonferenz in München.
Diese Stellen sind in der Regel befristet auf fünf bis sechs Monate.
In der Zeit um die Konferenz wächst das Team der MSC um 35
bis 50 Personen. Von diesen werden jedes Jahr einige ins Stammpersonal
übernommen. Ich war eine davon: Im Juni 2020 wurde
ich als Junior Projektmanagerin im Bereich Strategic Projects eingestellt.
Eine unbefristete Stelle, mitten in der Pandemie – darüber
freute ich mich sehr.
Von meinen Freund:innen aus der Uni fährt zwar niemand
Taxi, doch die Krise hat die Lage auf dem Arbeitsmarkt nicht unbedingt
verbessert. Auch das Gehalt war
im Vergleich zu anderen Junior-Stellen gut:
3200 Euro brutto, davon kann ich selbst in
München gut leben.
In meinem Job kümmere ich mich nun
um strategische Projekte. Das Ziel der MSC
ist es, eine Plattform für offenen Dialog bereitzustellen,
und dadurch Vertrauen zu
schaffen und zur friedlichen Lösung von globalen
Konflikten beizutragen. Ich helfe mit,
dieses Ziel zu verwirklichen. Zum Beispiel
organisiere ich Veranstaltungen wie Konzerte
oder Lesungen für die Münchner Bevölkerung
– damit wir nicht nur als die Veranstaltung
gesehen werden, für die ein Wochenende
lang die Innenstadt gesperrt wird.
Ich habe aber auch die Möglichkeit, mein
Wissen und meinen besonderen Fokus auf
Ägypten und Nordafrika einzubringen. Neulich
konnte ich unseren CEO davon überzeugen,
bei einer Podiumsdiskussion einer
afrikanischen Organisation teilzunehmen.
Ein Jahr nach meinem Arbeitsbeginn
wurde ich befördert, inzwischen bin ich Projektmanagerin,
ohne das »Junior«. Noch immer möchte ich irgendwann
nach Kairo zurück. Doch für den Moment ist mein Job
ideal: Ich erlebe Weltpoli tik hautnah.
Ich habe in Konferenzsälen mit Heiko Maas und Emmanuel
Macron gesessen, lerne unglaublich viel. Ich begreife, welche Akteur:innen
wichtig sind, mit wem man sprechen muss, damit Dinge
in Gang kommen. Und ich habe das Gefühl, in meiner Organisation
wirklich gehört zu werden und etwas zu bewirken. Das ist
beim ersten Job nicht selbstverständlich, denke ich – gerade als
Politikwissenschaftlerin.
Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 25
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG
26 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
Illustration: Lina Moreno
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG
Gehaltsabrechnungen sind auf den ersten Blick schwer zu entziffern.
Doch wer sich nicht damit beschäftigt, verliert womöglich
unnötig Geld. Wir erklären, was hinter den vielen Abkürzungen steckt.
TEXT HENNING JAUERNIG
m Ende jedes Monats liegt sie im Briefkasten oder im
Firmenportal die Gehaltsabrechnung. Vielleicht überprüft
man kurz, ob das Gehalt mit dem übereinstimmt,
was im Arbeitsvertrag steht oder wirft einen Blick auf
die finale Auszahlung aufs Girokonto. Dann verschwindet der Zettel
im Ordner. Gerade für Berufseinsteiger:innen ist es aber wichtig,
sich die Abrechnung zumindest einmal im Jahr in Ruhe anzuschauen.
Schließlich geht unnötig Geld verloren, wenn bei der Berechnung
Fehler gemacht werden.
Doch was bedeuten die vielen Zahlen und Abkürzungen?
Das erklären wir hier anhand der Gehaltsabrechnung einer fikti -
ven Berufseinsteigerin: Marie. Sie ist 25 Jahre alt und arbeitet als
Bürokauffrau, von 2700 Euro brutto bleiben ihr etwas mehr als
1800 Euro netto.
1. Bruttobezüge
Marie verdient 2700 Euro brutto im Monat. Zusätzlich übernimmt
ihr Arbeitgeber die Kosten für ihr ÖPNV-Ticket in
Höhe von 25 Euro. Der Betrag wird zum Bruttogehalt addiert
und am Ende wieder vom Nettolohn abgezogen, weil der Arbeitgeber
die Zahlung dafür abwickelt (siehe Punkt 11). Da
das Ticket weniger als 44 Euro monatlich kostet, muss Marie
diesen sogenannten Sachbezug nicht versteuern.
2. Lohnsteuer
Von ihrem Bruttogehalt muss Marie 321 Euro Lohnsteuer zahlen
– es ist der größte Abzug, den die Berufseinsteigerin monatlich
verkraften muss. Als Single ist Marie der Lohnsteuerklasse
I zugeordnet. Die Höhe der Lohnsteuer hängt in
Deutschland außerdem von der Höhe des Einkommens ab:
Wer mehr verdient, muss auch mehr Steuern zahlen. Marie
zahlt bei einem Jahresbruttoeinkommen von 32400 Euro
rund 11,89 Prozent Lohnsteuer. 11,89 Prozent (Lohnsteuer) von
2700 Euro (Bruttoeinkommen) = 321 Euro
3. Kirchensteuer
Marie ist evangelisch, also muss sie Kirchensteuer zahlen. Die
Kirchen finanzieren mit diesem Geld etwa ihr Personal, den
Erhalt von Kirchen und karitative Zwecke wie Pflegedienste.
Die Höhe des Abzugs hängt zum einen vom Gehalt und zum
anderen vom Bundesland ab, in dem jemand arbeitet. Marie
arbeitet in Bayern: 8 Prozent (Kirchensteuer) von 321 Euro
(Lohnsteuer) = 25,68 Euro
4. Solidaritätszuschlag (Soli)
Zwischen 1991 und 2020 zahlten alle deutschen Arbeitnehmer:innen
einen Solidaritätszuschlag, Soli genannt. Er diente
als Zusatzabgabe, um die deutsche Einheit zu finanzieren.
Mit Beginn des neuen Jahres ist der Soli aber für die meisten
weggefallen – zumindest für die unteren 90 Prozent der Bevölkerung,
weitere 6,5 Prozent müssen ihn nur noch teilweise
zahlen. Lediglich auf sehr hohe Einkommen ist der Soli noch
unverändert fällig.
5. Steuerrechtliche Abzüge
Insgesamt belaufen sich Maries steuerrechtliche Abzüge da -
mit auf: 321 Euro (Lohnsteuer) + 25,68 Euro (Kirchensteuer)
= 346,68 Euro
6. Krankenversicherung (KV)
Die Krankenversicherung in Deutschland ist eine sogenannte
Pflichtversicherung, weil sie für alle Menschen gesetzlich vorgeschrieben
ist. Ab einer bestimmten Einkommensgrenze
kann man selbst entscheiden, ob man sich bei einer gesetz -
lichen oder einer privaten Krankenkasse versichert.
Marie ist gesetzlich versichert. Generell liegt der Beitragssatz
der Krankenversicherungen bei 14,6 Prozent, dazu
darf jede Krankenkasse einen individuellen Zusatzbeitrag verlangen.
Beide Beiträge – den gesetzlich festgesetzten und den
zusätzlichen – teilen sich Arbeitgeber:in und Arbeitnehmer:in
zu gleichen Anteilen. Maries Kasse erhebt einen Zusatzbeitrag
von 1,2 Prozent. Deshalb liegt der Gesamtbeitrag in ihrem
Fall bei 15,8 Prozent, sodass sie und ihr Arbeitgeber derzeit
jeweils 7,9 Prozent tragen. 7,9 Prozent (Krankenkassenbeitrag)
von 2700 Euro (Gehalt) = 213,30 Euro
7. Rentenversicherung (RV)
Deutsche Arbeitnehmer:innen sind verpflichtet, in die gesetzliche
Rentenversicherung einzuzahlen. Damit haben sie im
Alter einen Anspruch auf Rente. Marie zahlt dafür einen Beitrag
von 9,3 Prozent ihres Bruttolohns, ihr Arbeitgeber zahlt
den Betrag in gleicher Höhe. Sie teilen sich also die insgesamt
18,6 Prozent Rentenbeitragssatz zu gleichen Teilen. 9,3 Prozent
(Beitrag für die Rentenversicherung) von 2700 Euro (Gehalt)
= 251,10 Euro
8. Arbeitslosenversicherung (AV)
Damit Marie im Falle der Arbeitslosigkeit abgesichert ist und
Arbeitslosengeld beziehen kann, muss sie monatlich einen
Beitrag in Höhe von 1,2 Prozent für die Arbeitslosenversicherung
zahlen. Auch hier übernimmt ihr Arbeitgeber die andere
Hälfte der insgesamt 2,4 Prozent. 1,2 Prozent (Beitrag zur Arbeitslosenversicherung)
von 2700 Euro (Gehalt) = 32,40 Euro
9. Pflegeversicherung (PV)
Wer irgendwann einmal pflegebedürftig wird, braucht Hilfe.
Deshalb gibt es die Pflegeversicherung. Der Beitragssatz beträgt
derzeit grundsätzlich 3,05 Prozent. Allerdings gibt es
zusätzlich noch einen besonderen Beitragssatz für Kinderlose
in der Pflegeversicherung. Weil Marie keine Kinder hat, liegt
ihr Beitragssatz bei 3,55 Prozent. Auch diese Beiträge teilen
sich Marie und ihr Arbeitgeber. Von den 3,55 Prozent muss
Marie also 1,775 Prozent bezahlen. 1,775 Prozent (Beitrag zur
Pflegeversicherung) von 2700 Euro (Gehalt) = 47,93 Euro
10. Sozialversicherungsrechtliche Abzüge
(SV-rechtliche Abzüge)
Insgesamt belaufen sich Maries sozialversicherungsrechtliche
Abzüge damit auf: 213,30 Euro (Krankenversicherung) +
251,10 Euro (Rentenversicherung) + 32,40 Euro (Arbeitslosenversicherung)
+ 47,93 Euro (Pflegeversicherung) = 544,73 Euro
11. Auszahlungsbetrag
Damit bleibt Marie ein Nettoeinkommen von 1833,59 Euro.
Davon werden die Kosten für das ÖPNV-Ticket abgezogen
(siehe Punkt 1). Am Monatsende bekommt Marie also 1808,59
Euro auf ihr Konto überwiesen.
Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 27
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG
Irgendwo zwischen Hamburg
und Lüneburg ging
meine Motivation verloren
Einfach im gewohnten Umfeld bleiben und nicht
in die Unistadt ziehen – schon lange vor der
Coronapandemie hielt ich das für eine hervorragende
Idee. Heute, 15 Semester später, weiß ich es besser.
TEXT PER HORSTMANN
I
ch war 21 und ein Jahr zuvor für einen Freiwilligendienst
nach Hamburg gezogen. Ich
mochte die Stadt, hatte dort gute Freunde
gefunden und wollte auch für mein Studium
bleiben. Das Problem: Mein Wunschstudiengang
– Kulturwissenschaften – wurde in
Hamburg nicht angeboten. Die nächste Uni,
an der ich mich einschreiben konnte, lag im 50 Kilometer
entfernten Lüneburg. Dahin kann man pendeln,
dachte ich, die Regionalbahn fährt jede Stunde.
Jetzt, 15 Semester später, denke ich anders.
So gut wie jeder Studiengang hat wohl Teilnehmende,
die nicht vor Ort wohnen. Manche finden keine
bezahlbare Wohnung in überrannten Hochschulstädten,
andere entscheiden sich bewusst, die Sicherheit
des Elternhauses nicht zu verlassen. Gerade in
der Coronapandemie, wo Wohnheime verwaist waren
und Vorlesungen online stattfanden, schien das Long-
Distance-Studium oft die beste Option zu sein – praktischer,
günstiger, weniger einsam.
Aber ist es auch ein Konzept für die Zeit nach
Corona? Sollten wir weiterhin leben, wo wir uns verwurzelt
fühlen, statt wieder den Sprung in die Unistadt
zu machen? Aus meiner persönlichen Erfahrung muss
ich leider sagen: nicht unbedingt. Gerade wenn man
nicht der zielstrebigste Student ist.
Meine Probleme mit dem Pendeln begannen
schon mit der Fahrt. 30 Minuten in der Regionalbahn
sind nicht viel, aber dazu kamen noch der Weg mit
der S-Bahn zum Hamburger Hauptbahnhof, in Lüneburg
ging es mit einem Shuttlebus weiter zum Campus.
Von meiner Wohnung in den Hörsaal brauchte ich
rund eineinhalb Stunden – und ich musste auch wieder
zurück.
Um den Pendelaufwand möglichst gering zu halten,
versuchte ich, meinen Stundenplan so zu gestalten,
dass ich nur zwei- bis dreimal die Woche in die Uni
fahren musste. Nur planten die Dozierenden ihre Veranstaltungen
leider nicht danach, ob möglichst viele
für mich interessante Sachen an einem Tag lagen. Die
Alternative: nur nach Terminen auswählen und nicht
nach Inhalten.
Ich hatte mein Fach vor allem deshalb ausgesucht,
weil es so vielseitig ist und viele Freiheiten in der Organisation
lässt. Jetzt aber belegte ich Kurse zum Teil
nur, weil sie zufällig vor oder nach einem Seminar
stattfanden, für das ich schon an der Uni war. Einige
Veranstaltungen kamen allein deshalb nicht infrage,
weil sie an einem Freitagmittag oder Montagmorgen
lagen. Was ich lernte, womit ich mich über Wochen
und Monate beschäftigte, wurde plötzlich maßgeblich
vom sehr pragmatischen Faktor Pendeln bestimmt.
28 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
Foto: Helene Flachsenberg / DER SPIEGEL
STUDIUM UND BERUFSEINSTIEG
»IRGENDWANN KONNTE
ICH MICH NICHT
MAL MEHR AUFRAFFEN,
ZU DEN SEMINAREN ZU
FAHREN.«
Das Pendeln als
Prüfung: Autor
Horstmann
am Bahnhof in
Hamburg
Natürlich hatte ich meine Entscheidung freiwillig
getroffen, und es gab gute Gründe, in Hamburg
zu bleiben. Hauptsächlich waren das die Menschen,
die ich in meinem ersten Jahr dort kennengelernt hat -
te und die heute noch zu meinen engsten Freunden
zählen.
Doch wenn ich abends in Hamburger Kneipen
saß, verpasste ich das Lüneburger Nachtleben. Die
Kontakte, die ich in der Uni knüpfte, beschränkten
sich auf die Pausen zwischen Veranstaltungen. Wenn
sich meine Kommiliton:innen am Montag gegenseitig
von WG-Partys erzählten, konnte ich nicht mitreden.
Das soziale Umfeld ist aber ein wichtiger Teil des
Studiums, wie etwa das Studierendensurvey der Universität
Konstanz zeigt. Zwischen 1982 und 2017 wurden
dafür Studierende an mehreren Hochschulen befragt.
Eines der Ergebnisse: Wer unzufrieden mit der
Anzahl der Kontakte zu Kommiliton:innen ist, bekommt
eher Probleme mit den Leistungsanforderungen
im Studium – und auch mit dessen Organisation. Laut
den Wissenschaftler:innen liegt das daran, dass der Austausch
über Inhalte und Struktur fehle.
Ich weiß genau, was sie damit meinen. Modulstrukturen
können verflucht kompliziert sein, Fristen
schnell vergessen werden. Gespräche mit anderen Studierenden
helfen, sich zurechtzufinden. Auch wenn
es manchmal nur beiläufige Fragen sind wie die, ob
man sich denn ebenfalls schon zur Prüfung angemeldet
habe – sie können Katastrophen verhindern.
Zum Glück hatte ich in der Einführungswoche einen
anderen Pendler kennengelernt. Wir trafen uns
regelmäßig am Hamburger Hauptbahnhof und fuhren
gemeinsam zur Uni. Nach kurzer Zeit kam noch eine
weitere Person hinzu, und wir wurden eine richtige
Gang: Wir lernten gemeinsam, gingen unter der Woche
zusammen in die Lüneburger Mensa und am Wochenende
in Hamburger Bars.
Doch irgendwann waren meine Pendlerfreunde
fertig mit dem Studium. Ich hatte mir herausgenommen,
auch mal eine Hausarbeit nicht zu schreiben,
wenn mich das Seminarthema nicht interessierte, und
hing deshalb etwas hinterher. Als ich schließlich kaum
noch jemanden an der Uni kannte, wurde ich immer
langsamer. Und einsamer. Ich hatte niemanden mehr,
mit dem ich Seminartexte oder Ideen für Hausarbeiten
besprechen konnte, ich führte keine Gespräche über
Uni-Themen, die mich motivierten und inspirierten.
Bloß in den Seminaren anwesend zu sein reichte nicht.
Irgendwann konnte ich mich nicht mal mehr aufraffen,
zu den Seminaren zu fahren. Wenn der Wecker
um acht Uhr klingelte und niemand am Hauptbahnhof
auf mich wartete, hatte ich immer häufiger das Gefühl,
dass es egal war, ob ich zur Uni fuhr oder nicht. Eine
Anwesenheitspflicht gab es in meinem Studiengang
nicht, jetzt fehlte auch noch die soziale Kontrolle. Also
blieb ich am Anfang ein paarmal und am Ende die
meiste Zeit liegen.
In meinem Studiengang waren beinahe alle Prüfungen
Hausarbeiten. Und die kann ich ja trotzdem
schreiben, sagte ich mir. Tatsächlich habe ich nur zwei
Hausarbeiten abgegeben, ohne regelmäßig im Seminar
gewesen zu sein. Bei allen anderen Arbeiten meldete
ich mich zwar zur Prüfung an, saß dann aber allein
vor Schriften zu negativer Dialektik oder Phänomenologie,
die ich schnell wieder zur Seite legte. Ich schob
die Prüfungen vor mir her, beschäftigte mich mit anderen
Dingen. Die Uni war ja in einer anderen Stadt
und ließ sich gut verdrängen.
Geändert hat sich das erst mit der Coronapandemie.
Sie hat das Studieren für mich einfacher gemacht.
Denn in den vergangenen Semestern war der
Weg zur Uni für alle ungefähr gleich weit: vom Bett
an den Schreibtisch. Es ist wirklich erstaunlich, wie
schnell ich plötzlich nicht nur wieder in den alten Themen
war, sondern auch neue Fragen und Gedankengänge
entwickelte. Ich hatte meinen Studiengang vor
Jahren ganz bewusst gewählt, ich brannte für die Inhalte,
und ich war gut darin. Aber irgendwo zwischen
Hamburg und Lüneburg war meine Motivation verloren
gegangen.
Inzwischen habe ich meine Bachelorarbeit abgegeben.
30 Seiten, in nur zwei Monaten hatte ich sie recherchiert
und geschrieben. Ich bekam sogar eine gute
Note dafür, aber das interessierte mich überhaupt nicht
– ich hatte es endlich geschafft. Und während ich allen
Studierenden wünsche, dass sie bald wieder in die Uni
dürfen, bin ich froh, dass ich nie wieder dorthin pendeln
muss.
Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 29
DON’T JUST JOIN A COMPANY.
JOIN THE GROUP.
Einen Arbeitsvertrag unterschreiben und karrieretechnisch durchstarten?
Kannst du überall. Was du nicht überall kannst: Teil einer starken Gruppe
werden, die an den großen Themen der Welt arbeitet. Das geht nur bei der
Group. Dafür suchen wir Talente aller Fachrichtungen, die in 2021 nicht nur
wachsen, sondern über sich hinauswachsen wollen. Ob du noch studierst,
frisch von der Uni kommst oder nach einer neuen Heraus forderung suchst:
Auf den Festeinstieg in der Group kannst du dich immer bewerben.
Entscheide selbst, welche Themen oder Branchen du vorantreiben und
welche Industrien oder Organisationen du kennenlernen möchtest.
Bist du bereit, mehr als nur einen Job anzufangen? Welcome to the Group.
Mehr unter: festeinstieg.bcg.de
WAS BETRIFFT MICH?
ILLUSTRATION ROSA AHLERS
32 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
INTRO
Politik, Wirtschaft und
Gesellschaft
Die Bundestagswahl ist vorbei, die eigentliche Arbeit der nächsten Regierung beginnt.
Schließlich gilt es, Lösungen zu finden für die großen Herausforderungen unserer Zeit: Die
Digitalisierung muss endlich vorangetrieben werden, Deutschland braucht mehr
Chancengerechtigkeit, und die Klimakrise erfordert enormen gesellschaftlichen Wandel. Doch
was hat das alles mit uns zu tun? Um diese Frage geht es im zweiten Kapitel. Es trägt zusammen,
was Expert:innen von Politik und Wirtschaft fordern und was jede:r Einzelne tun kann.
Und es zeigt, dass es nicht immer einfache Antworten gibt – dass das aber auch in Ordnung ist.
Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 33
WAS GEHT ... IN POLITIK, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT
JOBMARKT
Corona-Tief überwunden
Nebenjobs wurden gekündigt, Ausbildungsverträge doch nicht
unterschrieben, Stellen gestrichen: Am Anfang der Corona -
pandemie erschien die Situation für junge Menschen auf dem
Arbeitsmarkt dramatisch.
Inzwischen hat sie sich aber wieder entspannt. Das zeigt
auch die Statistik zur Jugendarbeitslosigkeit: In den ersten Pandemiemonaten
stieg die Arbeitslosenquote bei unter den 25-
Jährigen stark an, auf 6,9 Prozent im August 2020. Seitdem ist
sie wieder gesunken, auf zuletzt 5,4 Prozent. Im Gegensatz zu
anderen Altersgruppen stellt die Bundesagentur für Arbeit keinen
Arbeitslosenquote bei Menschen unter 25 Jahren
und insgesamt, in Prozent
7
6
5
4
3
Jan
2020
IMMOBILIEN
Warum es immer schwerer wird,
das erste eigene Heim zu kaufen
D
ie
Beginn der Coronapandemie
Apr Juli Okt Jan
2021
S Quelle: Bundesagentur für Arbeit
Apr
Corona effekt mehr fest,
das heißt: Auch ohne
Pandemie wären aktuell
5,4 Prozent der unter
25-Jährigen arbeitslos.
Im Gegensatz zu anderen
EU-Ländern ist die
Jugendarbeitslosigkeit
in Deutschland übrigens
generell sehr niedrig.
In Griechenland
und Spanien etwa hatte
zuletzt mehr als
jede:r dritte 15- bis 24-
Jährige keinen Job.
Deutschen sind ein Volk der Mieter:innen – und der Träumer:innen.
Viele wünschen sich eine frei stehende Immobilie im Grünen oder, wenn
das zu teuer ist, wenigstens eine eigene Wohnung. Doch der Umzug in die
eigenen vier Wände wird gerade für junge Menschen immer schwerer. Im Jahr
1999 betrug die Wohneigentumsquote bei den 25- bis 34-Jährigen 23 Prozent –
im Jahr 2017 waren es nur noch 12 Prozent, wie eine Studie des Instituts der deutschen
Wirtschaft (IW) zeigt.
Zwar sind die Bauzinsen in den vergangenen Jahren auf ein historisch niedriges
Niveau gefallen, doch zumindest in Städten haben die Menschen nichts
davon. Denn dort sind die Kaufpreise stark gestiegen. Das bedeutet, dass Immobilienkäufer:innen
viel mehr Eigenkapital mitbringen müssen als früher. Expert:innen
empfehlen, mindestens 10 bis 20 Prozent des Kaufpreises aus eigenen Ersparnissen
zu zahlen, dazu alle Kaufnebenkosten für den Notar, die Maklerin
und die Grunderwerbsteuer. Bei einer Immobilie in der Stadt kommt da schnell
eine sechsstellige Summe zusammen.
Für junge Menschen ist es zunehmend schwer, solche Summen aus eigener
Kraft zusammenzusparen. Denn viele Jobs sind unsicherer als früher, befristete
Verträge häufen sich in vielen Branchen. Studien zeigen, dass das verfügbare Einkommen
der Millennials sinkt, verglichen mit dem Einkommen der vorherigen
Generation im selben Alter. Viele schaffen es deshalb nur noch ins Eigentum,
wenn sie geerbt haben. Doch weil die Lebenserwartung steigt, müssen Millennials
und die Folgegenerationen länger warten, bis sie ihre Eltern beerben. Dadurch
dürften künftige Immobilienkäufer:innen sogar noch älter werden.
Juli
5,6
5,4
ANLAGE
»NUR GELD IN KRYPTO
INVESTIEREN, AUF
DAS MAN VERZICHTEN
KANN«
Von Bitcoin über Ether bis Cardano:
Kaum ein Thema sorgt in der
Finanzbranche gerade für so viel
Aufsehen wie der Aufstieg der
Kryptowährungen. El Salvador verwendet
Bitcoin seit Kurzem als gesetzliches
Zahlungsmittel, als erstes
Land weltweit. In erster Linie ist
Krypto aber ein Weg, um Geld anzulegen
und – so zumindest die
Hoffnung – zu vermehren.
Krypto-Investments sind allerdings
ziemlich riskant: »Der Markt
ist extrem volatil«, sagt Margarethe
Honisch, Gründerin des Finanzblogs
Fortunalista. Wie bei allen
Risikoinvestments sei die Gewinnchance
hoch – das Verlustrisiko
aber auch. Allein zwischen Januar
und April dieses Jahres legte der
Bitcoin-Kurs um 20 000 Dollar zu,
drei Monate später war er wieder
um mehr als 20 000 Dollar gefallen.
Wer in Krypto investiert, muss also
wissen: Das gesamte Geld könnte
weg sein. Für den Weg zur sicheren
Altersvorsorge eignen sich Krypto-
Anlagen also nicht.
Wer dennoch Geld in Bitcoin
und Co. stecken möchte, müsse das
Prinzip dahinter verstehen, sagt
Honisch, und sich absichern: »Die
Recherche zur Sicherheit der An -
lage sollte mindestens so lange
dauern wie jene zur eigentlichen
Währung.« Investieren kann man
entweder über ein Krypto-Wallet,
also eine digitale Brieftasche, oder
über Broker-Apps. Inzwischen
bieten auch einige Banken Produkte
an. Honisch rät dazu, den Krypto-
Anteil im Portfolio auf fünf bis zehn
Prozent zu begrenzen: »Nur Geld
in Krypto investieren, auf das man
verzichten kann.« Den Rest solle
man auf Tages- und Festgeldkonten
sowie Aktien-ETFs aufteilen.
34 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
Foto: Steinach / imago images
POLITIK, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT
MOBILITÄT
Die E-Schwalbe machen
Studierende der Technischen Universität Berlin (TU) haben einen
Bausatz entwickelt, mit dem Mopeds von Benzin- auf Elektro -
antrieb umgerüstet werden können – und das in wenigen Minuten.
Das Team um Maschinenbaustudent Carlo Schmid braucht nur
eine gute halbe Stunde, um ein Moped des Typs Schwalbe mit
einem E-Motor auszustatten. »Jeder, der es schafft, einen Ikea-
Schrank aufzubauen, sollte in der Lage sein, so ein Moped umzubauen«,
sagt Schmid in einem Video, das zeigt, wie er und sein
Kommilitone Paul Haacke dessen Schwalbe umrüsten.
Schmid leitet eine Projektwerkstatt an der TU Berlin, in der
Studierende lernen, die Elektro-Umrüstsätze zu bauen und dann
unter der Sitzbank der Mopeds zu montieren. Der Akku reicht für
eine Distanz von rund 50 Kilometern. Schmid zufolge lässt er sich
an jeder gewöhnlichen Steckdose aufladen – »man kann ihn abends
einfach mit in die Wohnung nehmen.«
Im Moment eignet sich der Umbausatz nur für zwei Simson-
Modelle, darunter die bekannte Schwalbe. Im SPIEGEL-Interview
erklärt Schmid aber, dass sich der Bausatz grundsätzlich auch für
andere Mopedmodelle anpassen ließe. Auch Pkw mit Verbrennungsmotor
könnten sich zu E-Autos umbauen lassen, allerdings
sei dies im Moment noch zu teuer und aufwendig. Das zu ändern
sei sein langfristiger Plan, sagt Erfinder Schmid: »Wir sind überzeugt,
dass sich unsere Lösung auf alle Fahrzeugklassen übertragen
lässt, auch auf Pkw.«
BUCHTIPP
Brücken bauen mit Louisa
Die Influencerin Louisa Dellert quatscht sich durch die Republik – so könnte man das Grundkonzept
ihres neuen Buches »Wir« zusammenfassen. Dellert beschäftigt sich darin mit Themen
wie Klimakrise oder Chancengleichheit. Um »Brücken zwischen unterschiedlichen Lebens -
realitäten« zu bauen, sucht sie das Gespräch mit Expert:innen und Betroffenen, darunter ein
Meeresbiologe, ein pakistanischer Geflüchteter und eine Frau, die mit Hartz IV aufgewachsen
ist. Die Begegnungen und Kurzinterviews wechseln sich ab mit Kapiteln, in
denen Dellert Zahlen und Fakten zu den Überthemen präsentiert. All das wäre
stärker, würde die Autorin es einfach für sich stehen lassen, statt immer wieder
in einen Ton der persönlichen Betroffenheit zu verfallen. So ist das Buch eher
ein Einblick in Louisa Dellerts Gedankenwelt – gepaart mit einem leicht verdaulichen
Überblick zu aktuellen Gesellschaftsfragen. Wer Tiefgründigeres sucht,
sollte lieber woanders schauen.
Louisa Dellert: »Wir. Weil nicht egal sein darf, was morgen ist«.
Verlag Komplett-Media; 224 Seiten; 18 Euro.
Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 35
POLITIK, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT
UPDATE FÜR DEUTSCHLAND
Nach 16 Jahren Angela Merkel braucht die Republik einen Neustart.
Damit junge Menschen auch in Zukunft gut hier leben können, muss sich
einiges ändern. Mehr Bafög, mehr Therapieplätze, mehr Klimaschutz:
Okan Bellikli und Sophie Garbe haben die 18 wichtigsten Forderungen an
die nächste Bundesregierung zusammengefasst.
ILLUSTRATIONEN STEFAN MOSEBACH
1. Mehr Bafög für mehr Menschen
Mit dem Bafög will der Staat jungen Menschen dabei helfen, ein
Studium zu finanzieren. Die Kriterien sind allerdings auch nach
der Reform von 2019 noch so, dass viele durchs Raster fallen. Die
Hochschulrektorenkonferenz, Studierendenvertreter:innen, Gewerkschaften
und Politiker:innen verschiedener Parteien fordern
deshalb schon lange eine erneute Reform.
Bafög erhält man nämlich meist nur, wenn das Einkommen
der Eltern einen bestimmten Betrag nicht überschreitet und man
selbst die Regelstudienzeit einhält. Außerdem: Selbst wenn Studierende
die Förderung bekommen, können sie davon nicht immer
leben. Wie teuer der jeweilige Studienort ist, wird beispielsweise
nicht berücksichtigt.
2. Mehr Mindestlohn für mehr Menschen
Aktuell liegt der gesetzliche Mindestlohn bei 9,60 Euro pro Stunde,
vom 1. Januar 2022 an bei 9,82 Euro. Beides reicht nicht, um
Altersarmut zu verhindern – laut Deutschem Gewerkschaftsbund
(DGB) sind dafür mindestens 12 Euro nötig. Azubis sind bisher
zudem vom Mindestlohn ausgenommen.
3. Schuldenbremse abschaffen
»Die Haushalte von Bund und Ländern sind grundsätzlich ohne
Einnahmen aus Krediten auszugleichen«, steht seit 2009 im
Grundgesetz – die sogenannte Schuldenbremse. Aktuell hat der
Staat sie ausgesetzt, um besser mit den wirtschaftlichen Folgen
36 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
POLITIK, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT
der Coronapandemie fertigzuwerden. Von 2023 an soll sie nach
aktuellem Stand aber wieder gelten.
Einige Wirtschaftsexpert:innen kritisieren das, genauso wie
die Schuldenbremse ganz grundsätzlich. Wenn wir jetzt nicht
mehr Geld für die Zukunft ausgäben, werde das am Ende teurer.
Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung
(DIW), Marcel Fratzscher, etwa fordert Investitionen unter anderem
in Bildung, Infrastruktur und Klimaschutz.
4. Konkreten Klimaschutz umsetzen
Bereits 2030 könnte die globale Erwärmung die Schwelle von
1,5 Grad überschreiten, prognostiziert der Weltklimarat (IPCC).
Unseren Alltag würde das nachhaltig verändern: von extremen
Temperaturen im Sommer bis hin zur Verbreitung tropischer
Insektenarten in Deutschland.
Um die Situation nicht weiter zu verschlimmern, hat die
scheidende Bundesregierung verschärfte Klimaschutzziele verabschiedet:
Bis 2045 soll Deutschland die Treibhausgasneutralität
erreichen, in weniger als 25 Jahren also. Wie genau das passieren
soll, ist aber unklar. Wie können wir beim Ausbau erneuerbarer
Energien schneller werden, und wie hoch ist ein wirksamer CO 2 -
Preis? Konkrete Antworten auf solche Fragen fehlen bislang.
5. Den Wohnungsmarkt regulieren
In Städten wie München, Stuttgart oder Hamburg ist die Suche
nach einem bezahlbaren WG-Zimmer oder einer günstigen Wohnung
inzwischen eine Tortur. Es braucht Lösungen gegen explodierende
Mietpreise und knappen Wohnraum, sonst werden sich
immer weniger Menschen leisten können, in der Stadt zu leben.
Übrigens: Der Mangel an bezahlbarem Wohnraum erschwert jungen
Menschen auch eine Absicherung für die Zukunft. Für sie ist
es heute deutlich unwahrscheinlicher, sich ein Eigenheim leisten
zu können, als es das für ihre Eltern im selben Alter war.
6. Mehr Angebote für Psychotherapie und Beratung
Die Coronapandemie hat Jugendliche und junge Erwachsene psychisch
besonders belastet. Depressionen und Angststörungen nahmen
in dieser Altersgruppe überdurchschnittlich stark zu, wie Studien
der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (OECD) zeigen. Doch auf einen Therapieplatz wartet
man schon seit Jahren sehr lang. Das könnte besser organisiert
werden – etwa indem die Kostenerstattung von gesetzlichen Krankenversicherungen
für private Therapien vereinfacht wird.
7. Eine Bürgerversicherung einführen
Für eine sogenannte Bürgerversicherung, wie sie etwa SPD, Grüne
und Linke befürworten, gibt es verschiedene Konzepte. Ein zentraler
Bestandteil wäre die Abschaffung der privaten Krankenkassen
in ihrer heutigen Form zugunsten einer einheitlichen Lösung.
In die würden dann – anders als bisher – auch Selbstständige, Abgeordnete,
Beamt:innen und sehr gut verdienende Angestellte einzahlen.
Dadurch stünde mehr Geld zur Versorgung aller zur Verfügung.
Das Prinzip ließe sich auch auf die gesetzliche Rentenversicherung
übertragen. Dann müssten wir wohl auch nicht ständig
diskutieren, ob wir bis 70 oder noch länger arbeiten müssen.
8. Eine bundesweite Studi-Vertretung unterstützen
Hochschulpolitik ist größtenteils Ländersache, aber es gibt genug
Themen, die Hochschulen und Studierende in ganz Deutschland
betreffen: vom Bafög bis zum Wissenschaftszeitvertragsgesetz.
Um Studierenden eine gemeinsame Stimme gegenüber der Regierung
zu geben, brauchte es so etwas wie die Bundesvertretung
der Österreichischen Hochschüler:innenschaft (ÖH): eine gesetzliche
Vertretung aller Studierender.
9. Eine Ausbildungsgarantie auf den Weg bringen
Die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge geht seit
Jahren zurück, in der Coronakrise hat sie einen historischen Tiefstand
erreicht. Unter anderem die Bertelsmann Stiftung fordert
deshalb eine sogenannte Ausbildungsgarantie, wie es sie etwa in
Österreich schon gibt: Wer dort unter 25 ist und keine betriebliche
Lehrstelle findet, kann eine staatlich geförderte überbetriebliche
Ausbildung absolvieren.
10. Sachgrundlose Befristungen abschaffen
15,7 Prozent der Arbeitnehmer:innen zwischen 25 und 34 Jahren
hatten 2019 einen befristeten Arbeitsvertrag, mehr als doppelt so
viele wie im deutschlandweiten Durchschnitt. Je nach Branche
werden gerade Berufseinsteiger:innen zunächst nur befristet eingestellt
– und nicht immer gibt es dafür einen triftigen Grund.
Ein Gesetzentwurf von Noch-Arbeitsminister Hubertus Heil
(SPD) sah deshalb vor, dass solche sachgrundlosen Befristungen
nur noch bei höchstens 2,5 Prozent der Belegschaft erlaubt sind –
zumindest bei Arbeitgeber:innen, die mehr als 75 Menschen
beschäftigen. Solche Verträge sollten dann außerdem nur noch
einmal statt dreimal verlängert werden dürfen.
Aus alldem wurde nichts. Dabei hat die Coronapandemie überdeutlich
gemacht, welches Risiko mit Befristungen einhergeht. Ende
2020 sagte Heil etwa, »dass es bei jungen Beschäftigten nach der
Ausbildung überproportional Probleme gibt, weil der erste Job oft
nur befristet ist und es dann häufig nicht weitergeht, wenn die Befristung
in der Krise endet«. Und die Vorsitzende der Jugendorgani-
Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 37
POLITIK, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT
sation des Beamtenbundes (DBB) sagte Anfang 2021: »Viele junge
Menschen sind durch eine solche Vertragspraxis verunsichert und
stellen beispielsweise die Zukunfts- und Familienplanung hintenan.«
11. Kinderrechte im Grundgesetz verankern
Gutachten des Bundesfamilienministeriums kamen bereits 2017
zu dem Schluss, dass Kinder und Jugendliche in Deutschland nicht
ausreichend beteiligt werden. Um dem entgegenzuwirken, wollte
die Große Koalition Kinderrechte eigentlich im Grundgesetz verankern.
Expert:innen sehen darin den Vorteil, dass die rechtliche
Position von jungen Menschen unmittelbar gestärkt würde und
Behörden und Gerichte eher in der Pflicht wären, sie an Entscheidungen
zu beteiligen und zu berücksichtigen.
Für die entsprechende Änderung des Grundgesetzes braucht
es eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat. Doch
bisher scheiterte sie schon an den Verhandlungsgesprächen zwischen
Koalition und Opposition. Damit hinkt Deutschland anderen
europäischen Ländern wie Österreich und Finnland hinterher:
Dort sind die Rechte junger Menschen längst Teil der Verfassung.
12. Bei allen Gesetzentwürfen an Junge denken
»Wir werden gemeinsam mit den Jugendverbänden einen ›Jugend-
Check‹ entwickeln, um Maßnahmen auf ihre Vereinbarkeit mit
den Interessen der jungen Generation zu überprüfen«: Das stand
2013 im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD. Seit 2018
führt ein von der Bundesregierung finanziertes Kompetenz -
zentrum zwar Prüfungen durch, die Ergebnisse sind aber un -
verbindlich. Außerdem endet die Förderung für das Projekt nach
aktuellem Stand Ende 2022.
Im Wahlprogramm der SPD stand nun erneut: »Jugendverbände
und bestehende Beteiligungsstrukturen wie Jugendringe,
Kinder- und Jugendparlamente wollen wir dauerhaft und nachhaltig
finanzieren und jedes neue Gesetz einem Jugend-Check unterziehen.«
Zeit wäre es, denn: Es gibt deutlich mehr ältere als
jüngere Menschen in Deutschland. Daher denkt die Politik wohl
auch oft eher an sie, Stichwort »Rentnerrepublik«. In der Coronapandemie
etwa wurde die Lebenssituation von Schüler:innen,
Azubis und Studierenden nicht genügend beachtet.
13. Menschen ab 16 Jahren wählen lassen
Eine weitere Möglichkeit, um junge Menschen stärker zu beteiligen,
wäre: sie früher wählen zu lassen. Nicht erst seit Fridays for
Future interessieren sich auch viele Jugendliche für Politik, die
noch nicht 18 sind. Bei Kommunal- und Landtagswahlen dürfen
sie in einigen Bundesländern schon ab 16 wählen, etwa in Brandenburg
oder Bremen. Die Bundestagswahl fehlt noch, alle Anträge
und Gesetzentwürfe dazu wurden bislang abgelehnt.
14. Armut bekämpfen statt verwalten
Dem Mikrozensus des Statistischen Bundesamts zufolge ist jede:r
Vierte der 18- bis unter 25-Jährigen in Deutschland armutsgefährdet,
lebt also in einem Haushalt, dessen Einkommen weniger als
60 Prozent des mittleren Einkommens aller Privathaushalte beträgt.
Somit hat diese Altersgruppe im Vergleich mit anderen die
höchste Armutsgefährdungsquote. Nach Angaben des Armutsund
Reichtumsberichts der Bundesregierung galt 2018 selbst jede
zehnte Person zwischen 18 und 24 als armutsgefährdet, die Arbeit
hatte. Sozialverbände fordern deshalb schon lange unter anderem
mehr Mindestlohn, einen höheren Hartz-IV-Regelsatz sowie eine
sogenannte Kindergrundsicherung, also einen monatlichen Betrag,
der die menschenwürdige Existenz jedes Kindes garantieren soll.
15. Ein Recht auf Homeoffice einführen
Ein flexibler Arbeitsort – das ist gerade für Menschen praktisch,
die häufiger ihren Wohnort wechseln, eine Fernbeziehung führen,
kleine Kinder zu betreuen haben oder einfach gern unterwegs
sind. Aber trotz monatelanger Homeoffice-Pflicht in der Pandemie
wollen viele Arbeitgeber:innen ihren Beschäftigten diese Möglichkeit
nicht langfristig anbieten und keine flexibleren Arbeitsstrukturen
schaffen.
16. Hass im Netz bekämpfen
Junge Menschen sind häufiger online und dadurch auch besonders
oft mit den Schattenseiten des Internets konfrontiert: In einer
Umfrage der Forschungsagentur Pollytix gaben 70 Prozent der
befragten 18- bis 24-Jährigen an, mindestens einmal von Hass im
Netz betroffen gewesen zu sein. Jede dritte befragte Frau zwischen
18 und 34 erklärte zudem, dass sie in sozialen Medien bereits
sexuell belästigt worden sei, beispielsweise durch Dickpics.
Durch das Netzwerkdurchsetzungsgesetz sind Plattformen
wie Facebook und Instagram inzwischen zwar in der Pflicht, Beschwerdestellen
anzubieten und Hass-Posts etwa zu löschen oder
zu blocken. Rechtlich belangt werden die Urheber:innen solcher
Botschaften aber immer noch selten. Zudem erstatten viele Opfer
gar nicht erst Anzeige – weil sie sich der Möglichkeiten dafür
nicht bewusst sind oder die Hürden zu hoch erscheinen. Mehr
Ressourcen bei der Polizei, mehr Aufklärung darüber, wie man
sich gegen Online-Hass und -Belästigung wehrt, und mehr Anlaufstellen
für Betroffene könnten helfen.
17. Überall Mobilität schaffen, bezahlbar und flexibel
Nach 18 Uhr nicht mehr mit dem Bus nach Hause kommen? Für
Jugendliche auf dem Dorf keine Seltenheit. 90 Euro für ein Monatsticket?
In der Großstadt normal. Dabei wird schon lange über
bezahlbaren und enger getakteten Nahverkehr gesprochen. Und
über mehr Platz für Fahrräder in den Städten.
18. Deutschland ins 21. Jahrhundert digitalisieren
Während man in Schweden in einem Paddelboot auf einem abgelegenen
See noch 4-G-Empfang haben kann, gibt es in Deutschland
schon in manchen Innenstädten keine stabile Internetverbindung.
Corona hat noch einmal offengelegt, wie groß die Defizite
beim Thema Digitalisierung hierzulande sind: In Schulen, Universitäten
oder Behörden könnte digitales Arbeiten schon längst
selbstverständlich sein.
38 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
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POLITIK, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT
JA, ES GIBT
GRÜNDERINNEN,
ABER VIEL ZU
WENIGE
Nur vier Prozent der Unternehmen in
Deutschland werden von Frauen
gegründet. Sind die aufwendigen
Förderprogramme der vergangenen
Jahre der falsche Weg?
TEXT JANNE KNÖDLER UND
ANTON RAINER
D
ass Katharina Kreitz eine Sonderrolle in
ihrer Branche einnehmen würde, wurde ihr
früh bewusst. Sie bekam es zu spüren in ihrem
ersten Praktikum, kurz vor dem Maschinenbaustudium.
»Ein Ingenieurskollege
fragte mich fast täglich, warum ich nicht etwas
mache, was Frauen besser können, Kindergärtnerin
oder Tierärztin vielleicht«, erinnert sich Kreitz. Sie
merkte es bei ihren Arbeitgeber:innen, bei BMW oder
Airbus, wo sie die einzige Ingenieurin in der gesamten
Abteilung blieb. Oder bei Kund:innen, die die 34-Jährige
mit Fragen löcherten, um ihr Fachwissen zu testen
– »die dachten, man hätte ihnen irgendeine Verkaufstrulla
geschickt«.
Und sie erfuhr es, als sie 2015 ihr eigenes Startup
gründete: Vectoflow, einen Hersteller von Strömungssonden.
Dessen Produkte werden in Formel-1-
Boliden oder Flugzeugen verbaut. Nur verkehrte sich
die Aufmerksamkeit ins Positive. »Auf einmal wurden
wir mit Preisen, Mentoren und Einladungen zu -
geschüttet«, sagt Kreitz. Nicht weil plötzlich alle
Welt aerodynamische Messtechniken sexy fand.
»Kein Mensch würde sich dafür interessieren,
wenn ich nicht eine Frau wäre.«
Also sitzt Kreitz jetzt auf Panels und in
Arbeitskreisen, kürzlich gewann sie sogar
den »Female Founder Award«, Vectoflow
errang den zweiten Platz beim Deutschen
Gründerpreis. Kreitz wird so oft zu Ver -
anstaltungen eingeladen, dass sich ihr Co-
Geschäftsführer mittlerweile etwas vernachlässigt
fühlt. Bei manchen Preisen bewerbe
sich das Unternehmen gar nicht mehr, sagt
Kreitz. Die Konkurrenz mit rein männlichen
Teams soll auch eine Chance haben.
Was nach einer komfortablen Situation
für eine junge Firma klingt, ist in Wahrheit ein
Armutszeugnis für Deutschland. Denn trotz aller
Förderprogramme und Beteuerungen von Regierung
wie Investor:innen wird die Start-up-Branche
noch immer von Männern dominiert.
Rund 16 Prozent aller deutschen Start-ups hatten
im vergangenen Jahr eine Frau im Gründungsteam,
eine im internationalen Vergleich erschreckend geringe
Zahl. Nur rund vier Prozent der Unternehmen werden
Start-up-Gründerin
Kreitz: »So viele
Gruppenfotos,
auf denen außer
mir keine Frau zu
sehen ist«
laut einer Studie ausschließlich von Frauen gegründet.
Vor allem Hightechfirmen wie Vectoflow sind in der
Regel reine Männerklubs.
Der Befund ist nicht neu und die deutsche Gründerszene
mittlerweile alt genug, um sich an ein ganzes
Jahrzehnt zu erinnern, in dem das Problem weit oben
auf der Agenda von Investor:innen, Politiker:innen
und Lobbyist:innen stand – zumindest rhetorisch.
»Frauen sind in den Führungspositionen von Start-ups
deutlich unterrepräsentiert«, tadelte 2013 der »Deutsche
Start-up Monitor«, ein damals erstmals erschie-
40 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
POLITIK, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT
nener Gradmesser der Branche. Sieben Jahre später
hat sich an der Diagnose nichts verändert – nur die
Sprache ist dringlicher geworden: Dass die Gründerszene
noch immer eine Männerdomäne ist, sei »nicht
nur ungerecht, sondern etwas, das man sich als Volkswirtschaft
schlicht nicht leisten kann«.
Anfangs habe sie sich über die ganze Aufmerksamkeit,
die ihr zuteilwurde, noch gefreut, sagt
Kreitz. Wenn auf großen Konferenzen die wichtigen
Manager ihre Köpfe zusammensteckten, fragte
sie frech: »Sie wollen doch bestimmt, dass die
einzige Frau auf dieser Veranstaltung an Ihrem
Tisch sitzt?« Sofort begann das Stühlerücken.
»Es gibt so viele Gruppenfotos, auf denen außer
mir keine Frau zu sehen ist«, sagt sie.
Mittlerweile hat sie die Sonderrolle satt,
sie ärgert sich darüber, dass noch immer kein
Rezept dafür gefunden wurde, wie Frauen zum
Gründen bewogen werden können. Und dass
sich Jungunternehmerinnen in Selbstmitleid,
Twitter-Hashtags und oberflächlichem »Em -
powerment«-Feminismus verlieren, ohne dass sich
irgendeine Kennzahl nennenswert bewegt.
Manchmal, wenn bei Kreitz das Telefon läutet,
weil schon wieder irgendwo eine Diskussionsrunde
besetzt werden muss, denkt sie: »Boah, noch ein Frauen -
gipfel?«
Mit Panels und Debatten, die Erkenntnis hat sich
durchgesetzt, ist es nicht getan. Die Jahre der gegenseitigen
Bestärkung haben Sichtbarkeit gebracht und
ein paar Heldinnen groß gemacht. Mehr nicht.
Spricht man mit Vertreterinnen aus der Branche,
ist schnell klar, was sich ändern muss: Es braucht mehr
Geld, damit Frauen endlich Zugang zu Finanzierungen
bekommen, von denen Männer seit Jahren profitieren.
Es braucht Mentorinnen, die jungen Frauen schon in
Schulen und Universitäten Mut zum eigenen Start-up
machen. Und politischen Nachdruck.
Verena Hubertz hat sich entschieden, vom Chefsessel
in den Bundestag zu wechseln, um endlich an
den großen Rädern drehen zu können. Die 33-Jährige
hat mit der Koch-App Kitchen Stories eine der erfolgreichsten
deutschen Gründungsgeschichten der vergangenen
zehn Jahre geschrieben. Mehr als 22 Millionen
Mal wurde das Smartphone-Programm heruntergeladen,
der Apple-Chef Tim Cook schaute 2017 sogar
höchstpersönlich im Kreuzberger Büro der Co-Gründerin
vorbei – und zeigte am Herd sein Talent fürs
Pfannkuchenwenden. Kochen mit Cook, ein fast unwirklicher
Erfolg.
»Als wir mit Mitte zwanzig auf Investorensuche
gingen, wurden wir noch ausgelacht«, sagt Hubertz.
Die Männer im Anzug, die ihr gegenübersaßen, hätten
in ihrem Business-Pitch nur naive Frauen beim Kochen
gesehen, »ein doppelter Verniedlichungsfaktor«. Und
eine verpasste Chance. Im Jahr 2017 stieg schließlich
eine Tochterfirma von Bosch bei Kitchen Stories ein –
für einen zweistelligen Millionenbetrag.
Die Frauen, die nach ihr kommen, sollen es leichter
haben, findet Hubertz, und das gehe nur mit den
richtigen Rahmenbedingungen. Bei der diesjährigen
Bundestagswahl hat sie auf dem SPD-Ticket kandidiert,
um die Start-up-Szene mit einer ganzen Fülle von
Wohltaten zu überschütten. So möchte sie etwa ein
staatliches »Chancenkonto« in Höhe von 50 000 Euro
einführen, mit dem sich junge Unternehmerinnen »einmal
ausprobieren können«. Mutterschutz und Elternzeit
sollen endlich auch für Gründerinnen realisierbar
Investorin Onaran:
»Männer geben
nun mal lieber
Männern Geld«
werden – altersmäßig fallen Familienplanung und der
Start in die Selbstständigkeit oft zusammen.
Die vielen staatlichen Investitionsfonds, die von
Männern für Männer gebaut wurden, will Hubertz
neu aufstellen, mit einer fixen Frauenquote im Management.
»Wo der Staat eine starke Position hat, sollte
er vorangehen und eine Quote einführen«, sagt sie.
25 Prozent sollen es auf der Führungsebene sein, langfristig
müssten die Hälfte der Fondsmanager:innen
Frauen sein. Wenn sie diese Initiativen durchbringe,
glaubt Hubertz, könnte in ein paar Jahren jedes fünfte
Start-up von einer Frau geführt werden. »Eine Quote
ist dafür der erste Schritt.«
Als sich die SPD zuletzt derart um Deutschlands
Gründerinnen bemühte, war Sigmar Gabriel noch
Wirtschaftsminister – und verdammt stinkig darüber,
dass er bei einem Pressetermin in einem Berliner Gründerzentrum
nur Männer sah: »Ihr seid ja nur Kerle
hier!« Das war 2014. Die Initiative »Frauen GRÜN-
DEN«, die er gemeinsam mit der damaligen Familienministerin
Manuela Schwesig austüftelte, sollte das
ändern. Ungefähr 30 Millionen Euro war der Bundesregierung
das Anliegen damals wert. Bewirkt hat die
Initiative so gut wie nichts.
Wie sehr Unternehmerinnen um Kapital kämpfen
müssen, zeigt sich an den abgeschlossenen Finanzierungsrunden.
Frauen haben eine um 18 Prozent
geringere Aussicht auf Investorengelder als Männer
und gemischte Teams. Je größer die Summen, desto
schlechter die Chancen. Man kann das an Deutschlands
Einhörnern gut erkennen, so nennt man die seltenen
Fabelwesen unter den jungen Unternehmen, die
mit mehr als einer Milliarde Dollar bewertet sind.
Knapp über ein Dutzend solcher Firmen gibt es
hierzulande, etwa das Fernbusunternehmen Flix -
mobility, die Onlinebank N26 oder den Modehändler
Fotos: Dirk Bruniecki / DER SPIEGEL, Holger Talinski / laif, Franziska Gilli / DER SPIEGEL
Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 41
POLITIK, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT
About You. Ein von Frauen geführtes Einhorn sucht
man vergebens. Nur rund 5 Prozent der Gründerinnenteams
wurden mit mehr als einer Million Euro
finanziert. Bei den Männern sind es hingegen fast
28 Prozent. Es ist, als würde das Kapital einen großen
Bogen um die Frauen machen.
Ihnen bleibt oft keine andere Wahl, als ihre Startup-Ideen
aus eigenen Ersparnissen oder durch
Freund:innen, Familie und Bekannte zu finanzieren –
»Friends, Family, Fools« nennt Hubertz das scherzhaft.
»Männer geben nun mal lieber Männern Geld«,
sagt Tijen Onaran, da müsse man sich nichts vormachen.
Die 36-Jährige ist Gründerin von Global Digital
Women und glaubt, den Hauptgrund für die Dominanz
der Männer in der Start-up-Welt gefunden zu haben.
Nicht an der Qualifikation, der Risikobereitschaft oder
dem Selbstbewusstsein fehle es vielen Unternehmerinnen
– sondern schlicht und einfach am Kapital. »Ich
kenne so viele Gründerinnen, die mit tollen Ideen in
den Startlöchern stehen«, sagt Onaran. Sie legt deswegen
einen Investitionsfonds auf, der ausschließlich
Frauen zugutekommen soll, 50 Millionen Euro sind
angepeilt. Eine Gießkanne für den vernachlässigten
Teil der Branche.
Wer klassische Investor:innen fragt, was sie von
derartigen Quotenfinanzierungen halten, erntet im
besten Fall ein Lächeln. Viele Kapitalgeber:innen sehen
sich durchaus in der Lage, gute Unternehmen zu
erkennen, unabhängig davon, welchem Geschlecht seine
Gründer:innen angehören. Ein diverses Portfolio
sei heutzutage ein Bonus, kein Makel, sagt ein Investor.
Das Problem liege eher in den Geschäftsmodellen.
Tatsächlich sind Frauen gerade dort am seltensten
vertreten, wo zuletzt die größten Wachstumschancen
lagen: Gut ein Drittel der deutschen Start-ups tummelt
sich in der IT- und Kommunikationstechnologie, Frauenteams
machen dort nur knapp neun Prozent aus.
Allerdings sagen die Summen, die Investor:innen
in bestimmten Sektoren verteilen, nicht zwangsläufig
etwas über die Qualität der Unternehmen aus. Manchmal
zeigen sie auch nur, was bei Geldgeber:innen gerade
in Mode ist.
Gründer:innen, die von künstlicher Intelligenz
oder Virtual Reality schwadronierten, konnten
in den vergangenen Jahren kaum etwas
falsch machen. Bei Umwelt-, Ernährungs- und
Gesundheitsthemen waren die Kapitalgeber:innen
eher geizig. Ausgerechnet in den
Naturwissenschaften sind Frauen jedoch
überdurchschnittlich stark vertreten.
Vielleicht ist es einfach nötig, früher
anzusetzen. Bei Frauen wie Jolina Hukemann.
Die 17-Jährige aus Gütersloh ist seit
vier Jahren Alumna der »Start-up-Teens«,
einer Organisation, die junge Unternehmer:innen
stärken will – mit Events, Mentorenprogrammen,
»Challenges«.
Hukemann war 2017 das erste Mal auf
einem Treffen der Organisation, und ihre Augen
strahlen, wenn sie von der Atmosphäre erzählt:
Junge Leute mit tollen Ideen, erfahrene
Gründer:innen, die versprachen, Türen zu öffnen,
auch Peter Altmaier hielt eine Rede. 2019 belegte
die junge Unternehmerin beim bundesweiten Wett -
bewerb den zweiten Platz in ihrer Kategorie, da war
sie 14 Jahre alt.
Ihr Produkt: eine App namens Pipe IT, die
Schiedsrichter:innen mit Amateurfußballspieler:innen
Nachwuchsunternehmerin
Hukemann:
»Dass mich
jemand, den ich
aus dem Fernsehen
kenne, ernst
genommen hat?
Das war wild«
vernetzt. In Deutschland gebe es einen großen Schiedsrichtermangel,
sagt Hukemann, die selbst Spiele pfeift.
Im Lehrgang sei sie das einzige Mädchen gewesen,
»deswegen schreckt mich das auch an der Start-up-
Welt nicht ab«.
Während bei den Events der Start-up-Teens immerhin
40 Prozent Mädchen mitmachen, sind es beim
Mentoring nur noch 20 und beim Ideenwettbewerb
gerade einmal 15 Prozent. Die Trennung der Geschlechter
in der Start-up-Welt fängt früh an, fast, als
wäre »Gründer« für Jugendliche das, was »Feuerwehrmann«
für Kinder war: ein Traumjob für Jungs.
Dass ihr Gründergeist geweckt wurde, hat Hukemann
dem Privatfernsehen zu verdanken. Mit zwölf
Jahren wurde »Start-up!«, wie die »Höhle der Löwen«
eine Castingshow für Gründer:innen, ihre Lieblingssendung.
Von der Wohnzimmercouch aus schrieb sie
einen der Kandidaten auf Instagram an – sie habe eine
Idee, ob er sich die nicht mal anhören wolle? Er wollte.
»Dass mich jemand, den ich aus dem Fernsehen kenne,
ernst genommen hat? Das war wild«, sagt Hukemann.
Und vor allem besser als die Schule, wo alle dasselbe
lernten, »warum eigentlich«? Vor einem Jahr ist
die 17-Jährige auf ein Wirtschaftsgymnasium gewechselt.
Sie wolle Dinge lernen, die man später braucht,
sagt sie: Informatik statt Trigonometrie, Rhetorik statt
Gedichtanalyse, Gebrauchsenglisch statt Shakespeare.
Viele auf ihrer neuen Schule kämen ganz nebenbei
mit dem Unternehmertum in Berührung. Ausgerechnet
ein Gymnasium könnte so erreichen, was keine
Kampagne der Bundesregierung, kein Panel einer Stiftung,
keine Hashtag-Challenge auf Twitter geschafft
hat: ein Gegengewicht zum Boys’ Club. In Hukemanns
Klasse kommen auf 3 Jungs 14 Mädchen.
42 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
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POLITIK, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT
WENN
DEUTSCHLAND
EIN LAND
DER VEGANER
WÄRE
Burger vom Acker, keine Gülle und kein Schlachten mehr:
ein Gedankenexperiment, das nach Utopie klingt.
Es ist machbar. Eine heile Welt wäre es trotzdem nicht.
TEXT BERNHARD PÖTTER
FOTOS THOMAS VICTOR
A
uf den ersten Blick betreibt Daniel Hausmann einen ganz
gewöhnlichen Hofladen. Im Erdgeschoss seines Bauernhauses
im sächsischen Breitenborn stehen Tische, an den
Wänden hängen Zettel und Plakate, in den Regalen lagern
Nudeln, Gemüse und Obst zum Verkauf. Der zweite Blick
offenbart: Die Milch ist aus Hafer, die Nudeln enthalten kein Ei,
und das Schmalz besteht aus Pflanzenfett. Auf den Zetteln an der
Pinnwand heißt es »Der Mensch isst aus Gewohnheit Tier« und
über einem Bild mit Hund und Ferkel: »Wen streicheln? Wen
essen?«
Der junge Bauer hat seinen veganen Hofladen ausgerechnet
im ehemaligen Kuhstall des Bauernhauses eingerichtet, das hier
seit etwa 1900 steht. Hausmanns Kohl, Pastinaken und Lauch liegen
auf dem alten Futtertrog an der Wand, die
Eisenringe in der rissigen Steinwand zeugen
von der Viehhaltung. »Ich bin mit Kühen aufgewachsen«,
sagt der 30-jährige Landwirt,
»aber es hat sich immer komisch angefühlt,
wenn die Kälber zum Schlachten abgeholt wurden.«
Deshalb gibt es auf Hausmanns Hof seit
neun Jahren keine Nutztiere mehr. Als er zur
Anja Bonzheim,
veganen Landwirtschaft wechselte, stellte er sogar
das Düngen mit Kuhdung ein. Aus der offe-
Öko-Agrarberaterin
nen Tür seines Ladens blickt er jetzt auf den
tierfreien Komposthaufen aus geschnittenem
Kleegras, daneben blühen die alten Apfelbäume
einer Streuobstwiese, begehbare Folientunnel
schützen Salatköpfe, Schnittlauch und Spinat
vor Kälte und Schnecken.
»Die extrem große Abwechslung bei Anbau und Fruchtfolge
»Wir haben dann
mehr Vielfalt in
der Natur und auf
dem Teller.«
reizt mich«, erzählt der junge Mann im Anorak. Hausmann arbeitet
mit etwa 50 Gemüsearten und Getreide auf 20 Hektar Land.
200 Kisten mit Gemüse liefert er jede Woche an seine Kund:innen
aus. Zwischen Leipzig und Chemnitz der einzige Landwirt zu sein,
der aus Überzeugung keine Tiere habe, mache ihn stolz, sagt er.
»Wir sind eine vegane Insel hier.«
EIN LAND MIT VIEL PLATZ
Was aber wäre, wenn aus dieser Insel Festland würde? Wenn ganz
Deutschland und nicht nur eine Minderheit vegan leben würde?
Wie würde eine solche Umstellung das Land, seine Landschaft
und seine Landwirtschaft verändern?
Nach einer Studie des Allensbach-Instituts bezeichnen sich
mittlerweile über 1,1 Millionen Menschen in Deutschland als Vega -
ner:innen. Die Produktion von Fleischersatzprodukten steigt steil
an, 2020 um mehr als 38 Prozent gegenüber dem Vorjahr, allerdings
auf sehr niedrigem Niveau. Bei vielen jungen Menschen vor
allem in den Städten ist veganes Leben längst zum Standard geworden.
Vegane Cafés und Restaurants sind so normal wie die
fleischlosen Ersatzprodukte im Wurstsortiment der Super märkte.
Schon eine Landwirtschaft, die flächendeckend deutlich weniger
Fleisch und Milchprodukte produzierte, würde eine riesige
Veränderung bedeuten. Dies ergab eine umfangreiche Studie weltweiter
Fachleute 2019. Würde die Landwirtschaft
so umgestellt, dass sie einen angemessenen
Beitrag zu den Pariser Klimazielen leistete,
müsste »der globale Verbrauch von Lebensmitteln
wie rotem Fleisch um über 50 Prozent sinken,
während sich der Konsum von Nüssen,
Obst, Gemüse und Hülsenfrüchten mehr als
verdoppeln müsste«. Vollständig vegetarisch
oder gar vegan würden die Bauern dann noch
lange nicht wirtschaften. Bis jetzt ist das je nach
Blickwinkel Utopie oder Dystopie.
»Wie ein völlig veganes Deutschland
aussehen könnte, darüber gibt es bei uns keine
Studien«, sagt Michael Welling vom Thünen-
Institut, dem Bundesforschungsinstitut für
Ländliche Räume, Wald und Fischerei. Auch
beim Max Rubner-Institut, der Forschungseinrichtung des Bundes
für Ernährung und Lebensmittel: Fehlanzeige. »Das liegt so weit
abseits des Realistischen und betrifft sehr wenige Menschen, deshalb
sind Untersuchungen schwierig«, so Welling. Weder Deutscher
Bauernverband noch Umweltbundesamt oder Weltklimarat
haben wissenschaftliche Projektionen, wie eine Versorgung
Deutschlands ganz ohne Fleisch, Milch, Käse, Joghurt, Quark und
Leder aussehen könnte.
Was sich allerdings sagen lässt: Ein veganes Deutschland
wäre ein Land mit viel Platz. Das ergibt ein solches Gedanken -
experiment nach vielen Gesprächen mit Landwirt:innen, For-
44 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
Sächsischer Alternativlandwirt
Hausmann: »Die
extrem große Abwechslung
bei Anbau und
Fruchtfolge reizt mich«
POLITIK, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT
scher:innen, Expert:innen und Aktivist:innen. Es gäbe
deutlich weniger Nutztiere in diesem Deutschland,
kaum noch große Ställe; auf den Feldern würden statt
Mais und Weizen mehr Bohnen, Lupinen, Erbsen und
Sojapflanzen wachsen. Auf den Wiesen und Äckern
lebten mehr Tier- und Pflanzenarten, das Grundwasser
würde sich erholen, die deutschen Treibhausgasemissionen
sinken. Die Menschen trügen Schuhe aus Ananasblättern
und Synthetik und äßen Burger aus Fleischersatz.
Ab und zu würden sie Tabletten nehmen oder
angereicherte Lebensmittel essen, um ihre Nahrung
zu ergänzen. Aber im Großen und Ganzen lebten sie
gesünder als heute.
Deutschland in seiner veganen Variante sähe
auch anders aus. »Unter diesen Bedingungen benötigen
wir viel weniger Flächen, die bisher für den Anbau
von Futtermitteln belegt sind«, sagt Achim Spiller,
Agrarökonom an der Universität Göttingen. »Um eine
Kalorie aus Rindfleisch zu erhalten, müssen wir für
die Futtermittel der Tiere sieben Kalorien investieren,
die wir als Pflanzen auch direkt essen könnten. Bei
Schweinefleisch ist das Verhältnis immer noch eins zu
drei.« In der Landschaft stünden weniger Ställe, aber
mehr Treibhäuser für heimisches Obst und Gemüse,
vermutet Spiller. Wärme und Strom kämen aus Solaranlagen
und Windrädern, auf freien Flächen wüchsen
Energiepflanzen wie Raps für die Biogasanlagen.
Bisher wird etwa die Hälfte Deutschlands landwirtschaftlich
genutzt. Von den knapp 17 Millionen
Hektar sind rund 12 Millionen Ackerfläche und 5 Millionen
Grünland wie Weiden und Wiesen. Auf etwa
4,4 Millionen Hektar wächst derzeit Futter für Tiere –
26 Prozent der gesamten Agrarfläche. »Da die Versorgung
mit Proteinen aus Pflanzen wie Bohnen, Erbsen
und Lupinen aber deutlich effizienter ist als mit Fleisch
und Milch, würden bis zu zwei Millionen Hektar frei«,
sagt Urs Niggli, Vordenker des Ökolandbaus und bis
März 2020 Leiter des Forschungsinstituts für biologischen
Landbau in der Schweiz. Im veganen Deutschland
würde diese Fläche, immerhin so groß wie Rheinland-Pfalz,
genutzt: für mehr Naturschutzräume, mehr
Blühstreifen und Hecken für Insekten und Vögel. Weite
Moorflächen, auf denen keine Rinder weideten, würden
vernässt. An den Küsten stünden große Wassertanks,
in denen Algen für Lebensmittel gezüchtet würden.
»Nackte Böden, von denen der Wind die Ackerkrume
abträgt, würde es kaum noch geben«, glaubt
die Öko-Agrarberaterin Anja Bonzheim. »Wir haben
dann mehr Vielfalt in der Natur und auf dem Teller:
Wir essen neben Gemüse und Getreide auch mehr
Nüsse und Samen, mehr Bohnen, Amaranth und Buchweizen.«
Ein veganes Deutschland röche auch anders. Der
stechende Ammoniakgestank aus gedüngten Feldern
wäre verschwunden. Kleegras würde den tierischen
Dünger überflüssig machen. Die Überdosierung von
Stickstoff, derzeit ein großes Problem für Böden, Gewässer
und Wasserwerke, ginge massiv zurück. »An
den Stadträndern können riesige Kompostfarmen entstehen«,
sagt Christian Vagedes von der Veganen Gesellschaft
Deutschland. »Wir ersparen der Natur den
Wahnsinn von heute, dass wir jedes Jahr elf Millionen
Lastwagen mit Gülle irgendwohin kippen müssen.«
»Der Mist ist der heilige Christ, haben die Leute
früher gesagt«, sagt dagegen Kay Bohne in der warmen
Küche seines Dreiseithofs aus braunem Fachwerk im
sächsischen Stollsdorf. Bohne ist ein guter Bekannter
von Daniel Hausmann, beide sind Mitglieder im Bioverband
Gäa. Ihre Höfe trennen nur ein paar Hügel,
aber auch eine Weltanschauung: Während Hausmann
vegan ackert, nutzt der Bohne-Hof Tiere in traditioneller
bäuerlicher Ökolandwirtschaft.
Bohne kommt aus dem Nachbardorf, kaufte seinen
Hof nach der Wende und baute mit seiner Frau
Synke auf 20 Hektar Ackerland und 50 Hektar Wald
einen Biohof auf. Sie halten eine kleine Herde von
Biobauernpaar
Bohne mit Nutzpferden:
»Wir halten
und schlachten
Tiere, aber ich habe
mehr Verständnis
für einen Veganer
als für jemanden,
der Billigschnitzel
für 2,99 Euro kauft«
46 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
etwa 15 Rindern, die oberhalb ihres Hofs stoisch im saftigen Kleegras
dem kalten Regen trotzt. Dazu kommen etwa 40 Hühner,
die sich auf der Weide gegenüber unter einen alten Anhänger ducken.
Und im Stall warten Umsi und Gunda, die beiden schwarzen
sächsischen Warmblüter, auf ihren Einsatz vor dem Pflug. Ohne
Nutztiere ginge auf Bohnes Hof nicht viel. Für die Bohnes ist vegane
Landwirtschaft eine interessante Idee, mehr nicht. »Zur
bäuer lichen Landwirtschaft gehören Ackerbau und Viehzucht«,
sagen sie. Doch wenn sie sechs Rinder im Jahr schlachten, dann
gehe ihr das schon nahe, sagt Synke Bohne. »Aber das gehört
dazu, sie hatten ja ein gutes Leben.«
Auf dem Tisch liegt die Preisliste für das Rindfleisch, das sie
im Hofladen verkaufen. Ein Kilogramm Lende für 46 Euro, Gulasch
für 16 Euro. »Wir sind keine Veganer, wir halten und schlachten
Tiere«, sagt Synke Bohne, »aber ich habe mehr Verständnis
für einen Veganer als für jemanden, der Billigschnitzel für
2,99 Euro kauft.«
KLIMAZIELE LEICHTER ERREICHEN
Tatsächlich habe die Bundesrepublik ungewöhnlich gute Bedingun -
gen, sich selbst vegan zu versorgen, sagt Agrarexperte Urs Niggli.
»Denn in Deutschland sind nur rund 30 Prozent der landwirtschaftlichen
Fläche Grünland«, also Wiesen und Weiden, die zu
karg, zu steil, zu nass oder zu abgelegen sind für den Anbau von
Obst, Gemüse oder Getreide. »Weltweit sind das aber 67 Prozent«,
zeigt der Experte anhand einer Statistik der
»Landwirten würde
ohne Tierhaltung
die Hälfte ihrer
Wertschöpfung
verloren gehen.«
Welternährungsorganisation FAO. In anderen
EU-Ländern sei die Bedeutung des Grünlands
ebenfalls viel größer als in Deutschland. Wenn
diese Flächen nicht mit Wiederkäuern wie Rindern,
Schafen oder Ziegen beweidet würden,
fielen sie für die Nahrungsproduktion aus.
Aber auch in einem veganen Deutschland
würde das Grünland nicht einfach sich selbst
überlassen. Ganze Regionen würden sonst mit
Büschen und später Bäumen zuwuchern. Das
aber bedeute eine Gefahr für Tier- und Pflanzenarten
aus der Kulturlandschaft, sagt Reinhild
Benning, Agrarexpertin bei der Deutschen
Umwelthilfe DUH. »Am meisten bedroht sind
Tiere und Pflanzen der agrarökologisch genutzten
Agrarlandschaft, etwa Kiebitz, Braunkehlchen, Uferschnepfe
oder Wiesen-Bocksbart sowie Kuckucks-Lichtnelke«, sagt sie. Eine
Landwirtschaft ohne Nutztiere sei für viele bedrohte Arten deshalb
kein Fortschritt. Dazu komme, dass gerade Wiesen und Weiden
große Mengen Kohlenstoff im Boden speichern.
Doch es gibt Lösungen. Kühe – allerdings in viel kleineren
Herden als heute – fressen ihre Weiden in Zukunft weiter ab und
düngen sie mit ihren Hinterlassenschaften, sodass Wildkräuter
und Insekten sich vermehren können. Schafe und Ziegen ziehen
über Deiche und Berghänge, um sie festzutreten. Außerdem erhalten
sie die Landschaft in ihrem Charakter – ähnlich wie die
Heidschnucken in der Lüneburger Heide. Die Herden werden »gemanagt«,
also per Geburtenkontrolle auf gleichem Stand gehalten.
Tote Tiere landen im Krematorium oder in der Biogasanlage.
Diese Rinder, Schafe und Ziegen wären praktisch Angestellte
der Bauern – oder besser der Allgemeinheit. Weil sich die aufwendige
Haltung von Tieren nicht mehr über den Verkauf von
Fleisch, Milch und Käse rentierte, müssten die Kosten als »Dienstleistungen
an der Natur« aus Staatsgeldern bezahlt werden, wie
es bereits jetzt teilweise in der »Gemeinsamen Agrarpolitik« der
EU geschieht. Die Zahlungen lägen deutlich höher als die heute
in Deutschland verteilten 6,7 Milliarden Euro pro Jahr – und sie
seien nicht so leicht bei den EU-Partnern durchzusetzen, die nicht
vegan leben wollen oder es wegen ihres vielen Grünlands gar
nicht können, sagt Urs Niggli.
Der Generalsekretär des Deutschen Bauernverbands, Bernhard
Krüsken, hält dieses Szenario für absurd: Um einen solchen
Bernhard Krüsken,
Generalsekretär des Deutschen
Bauernverbands
POLITIK, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT
»riesigen Streichelzoo mit angeschlossener Nutztierkompostierung«
zu finanzieren, müsste die öffentliche Hand »einige Tausend
Euro pro Hektar« aufwenden. Wie teuer ein solches System für
die Steuerzahler:innen wäre, lässt sich tatsächlich noch gar nicht
abschätzen.
Schweine dagegen wären im veganen Deutschland als Nutztiere
praktisch vollständig verschwunden. Auch Geflügel gäbe es
nur noch rund ums Haus, keinesfalls in großen Ställen. Das Sportfischen
wäre ausgetrocknet, weil niemand mehr Tieren Leid zufügen
möchte.
»Ein interessantes Gedankenspiel«, nennt Knut Ehlers, Landwirtschaftsexperte
beim Umweltbundesamt, die Vorstellung vom
veganen Deutschland. Für ihn gäbe es beim Verzicht auf Tierhaltung
große Vorteile bei Naturschutz und sauberer Luft. Auch würde
Deutschland seine Klimaziele leichter erreichen. Denn bislang
gestehen die Szenarien zur Klimaneutralität der Landwirtschaft
auch 2045 noch Emissionen zu, die bisher praktisch nicht zu vermeiden
sind – aus der Gülle, dem Verdauungstrakt der Rinder
und aus Moorböden, die zu Weiden geworden sind.
Ehlers warnt allerdings vor einem »Heile-Welt-Szenario«.
Denn auch vegane Landwirtschaft muss nicht ökologisch sein.
Der Anbau von Linsen, Hafer, Erbsen und Bohnen ließe sich in
industriellem Maßstab und mit Mineraldünger ertragreicher organisieren
als mit bäuerlichen Ökofamilienbetrieben. Der Druck
zu Rationalisierung könnte sogar steigen, wenn keine Tiere mehr
gehalten würden. In diesem Szenario würde
sich ohnehin eine völlig neue Agrarindustrie
etablieren. Marktführerin bei Sojaschnitzel und
veganer Teewurst könnte die ursprüngliche
Fleischfabrik Rügenwalder Mühle bleiben, die
schon 2020 mit veganen und vegetarischen Produkten
ähnlich viel Umsatz wie mit klassischen
Fleisch- und Wurstwaren machte. Auch das
Schlachtimperium Tönnies aus Rheda-Wiedenbrück
hat mit seinem Veggie-Geschäftsbereich
Vevia 4 You schon seit 2020 den Markt der Zukunft
jenseits der billigen Massenware aus Tierfleisch
entdeckt.
Aus Sicht des Bauernverbands wäre ein
veganes Deutschland ein ökonomisches und
ökologisches Desaster: »Den Landwirten würde
ohne Tierhaltung etwa die Hälfte ihrer Wertschöpfung und ihres
Einkommens verloren gehen«, sagt DBV-Generalsekretär Krüsken.
Ohne Tiere bliebe den Landwirt:innen nur der Erlös aus den
Feldfrüchten, daher brauchten sie deutlich größere Flächen für
das gleiche Einkommen. Die Wertschöpfung durch die Veredelung
veganer Produkte bliebe bei den Lebensmittelherstellern hängen.
Der wirtschaftliche Druck würde Höfe noch schneller sterben
lassen.
Krüsken warnt: Ohne den Kreislauf von Ackerbau mit tierischem
Dung müssten Betriebe mehr Mineraldünger einsetzen,
der mit hohem Energieaufwand hergestellt wird. Dazu sänke der
Verkehrswert von Grünlandgrundstücken, wenn keine Viehwirtschaft
mehr stattfände.
Zurück auf dem veganen Hof von Bauer Daniel Hausmann.
Der junge Landwirt gibt gern zu, dass er durchaus Tiere »benutzt«:
Am Bach hat er Weiden und Erlen gepflanzt, um den Erlenblattsauger
anzusiedeln. Der wiederum soll Marienkäfer anlocken, die
dann nebenan auf dem Feld die Blattläuse vom Gemüse fressen
sollen. »Und wenn der Fuchs auftaucht, haben die Nachbarn Angst
um ihre Hühner«, sagt Hausmann. »Ich freue mich, wenn er sich
bei mir ein paar Mäuse schnappt.« Und die Schnecken auf seinem
Salat? Die töte er natürlich nicht, sondern sammle sie in einen Eimer
und kippe sie dann weit entfernt in die Wiese.
»Das Leben ohne Tiere ist schon entspannter«, findet Hausmann.
Und: »Man hat viel mehr Freiheit. Anders als ein Stall voller
Kühe kommt mein Gemüse auch mal ein Wochenende ohne
mich aus.«
Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 47
POLITIK, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT
Willkommen auf dem
digitalen Flohmarkt
Fast-Fashion-Konzerne wie H&M und Zalando steigen in den
Handel mit Secondhandmode ein. Ist das ein Schritt zu
mehr Nachhaltigkeit – oder nur ein lukratives Geschäftsmodell?
Und was bringt der neue Trend den Kund:innen?
TEXT
CAROLIN WAHNBAECK
Auch gebraucht
noch fotogen:
Secondhandmode
der Otto-Tochter
About You
Z
alando hat seit Kurzem eine neue Kategorie
auf der Website. Etwas versteckt zwischen
Kleidern, Rabattbannern und Produktlinks
steht »Pre-owned« – als wäre das bei
Deutschlands aggressivstem Modehändler
das Normalste der Welt. Doch zwei Klicks weiter fällt
auf: Die Kleidung ist knittriger, das Bündchen manchmal
schiefer, die Mischung des Angebots wilder. Denn
Pre-owned ist nichts anderes als eine angesagtere Bezeichnung
für Secondhand. Und genau in dieses Geschäft
mit gebrauchter Kleidung ist der Modegigant
eingestiegen.
»Wir wollen die erste Anlaufstelle für Mode sein,
so wie Spotify für Musik – und da gehört Pre-owned
einfach dazu«, sagt eine Zalando-Sprecherin. Denn
immer mehr Kund:innen wollten auch gebrauchte Kleidung
kaufen und verkaufen, wüssten aber nicht, wo.
Diese Lücke wolle man schließen.
Mit dieser Entdeckung ist Zalando nicht allein:
Auch die H&M-Gruppe kauft und verkauft Secondhandmode
gleich über drei Kanäle: Über die Plattform
Sellpy, an der sie die Mehrheit hält; über den Onlinestore
der H&M-Marke Cos und über die konzerneigene
Rabattplattform Afound. Auch die Otto-Tochter
About You ist in das »Second Love«-Modegeschäft
eingestiegen. Und sogar der Ultrafast-Fashion-Anbieter
ASOS verkauft Vintage-Kleidung über seinen Onlinemarktplatz.
Warum tun die Firmen das? Verlegen sich die
Spezialist:innen der schnellen Wegwerfmode nun auf
Gebrauchtes? Und ist das gute PR für die klimabewussten
Kund:innen oder einfach nur ein Geschäft?
48 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
Foto: ABOUT YOU
»Secondhandkonzepte bieten neue Umsatzmöglichkeiten, sonst
wäre das für Konzerne wie Zalando oder About You nicht relevant«,
sagt Christina Käßhöfer, die als Unternehmensberaterin
im Mode- und Einzelhandel und als Aufsichtsrätin für Gerry Weber
International arbeitet. Tatsächlich boomt das Secondhandgeschäft
vor allem in Europa und den USA, während der konventionelle
Modemarkt seit Jahren lahmt. 2019 wuchs der weltweite Markt
mit dem Wiederverkauf von Mode – kurz »Resale« – 25-mal
schneller als der konventionelle Mode-Einzelhandel, zeigt der Resale
Report 2020 des amerikanischen Secondhandhändlers Thred
Up, der sich auf Angaben des Handelsdatenanalysten Global Data
stützt.
Der Report zeigt auch: Selbst in der Coronakrise läuft das
Online-Secondhandgeschäft. Es legte demnach um 27 Prozent zu,
während der Mode-Einzelhandel um 23 Prozent schrumpfte. Zwar
ist das noch ein Wachstum aus der Nische: Der Secondhandmarkt
hatte 2019 ein Volumen von rund 28 Milliarden US-Dollar – während
Retail insgesamt bei 392 Milliarden Dollar lag. Doch in den
nächsten fünf Jahren werde sich der Secondhandmarkt auf 64 Milliarden
US-Dollar mehr als verdoppeln, prophezeien die Expert:innen.
Bis zum Ende des Jahrzehnts werde der »Resale«-Markt
sogar Fast Fashion überholt haben.
Der Boom geht einher mit einem Gesinnungswandel: Secondhand
wird salonfähig. Was früher als muffig galt, wird heute
in cleanen Onlineshops präsentiert. Gerade wer jung ist und nicht
im Geld schwimmt, kauft oft ohne Berührungsängste bereits getragene
Kleidung, mischt Altes mit Neuem, Vintage-Fundstücke
mit Fast-Fashion-Basics. Die Zielgruppe ist online-affin, zwischen
Anfang zwanzig und Mitte dreißig und findet auf den Secondhandportalen
schnell, was sie sucht – anstatt
sich durch schlecht sortierte Klamottenberge auf
dem Flohmarkt wühlen zu müssen. Aber auch
quer durch alle Bevölkerungsschichten legt der
Markt zu: Zwei Drittel der Frauen in Deutschland
haben angeblich bereits getragene Kleidung
gekauft, wie der »Ubup Secondhand Fashion
Report 2020« berichtet.
Von diesem wachsenden Markt wollen die
Modekonzerne nun ihr Stück abhaben. Bislang
dominieren in Deutschland spezialisierte Onlinehändler
wie Vinted, Momox oder Rebelle.
Vinted ist der Mutterkonzern von Secondhandplattformen
wie Kleider- oder Mamikreisel, die
seit dem Rebranding im Herbst 2020 nur noch
unter Vinted laufen. 2008 in Litauen gegründet,
hat Vinted inzwischen mehr als 45 Millionen registrierte Mitglieder
in Europa und den USA. Bei der letzten Finanzierungsrunde in
diesem Jahr sammelte Vinted weitere 250 Millionen Euro ein, der
Unternehmenswert stieg auf 3,5 Milliarden Euro.
Auch Momox, eigenen Angaben zufolge Deutschlands Recommerce-Marktführer,
steigerte 2020 seinen Umsatz um satte
25 Prozent im Vergleich zum Vorjahr – auf 312 Millionen Euro.
Und übererfüllte damit sein Umsatzziel. Die am stärksten wachsende
Kategorie »Fashion« schaffte trotz Coronakrise ein Plus
von 47 Prozent. Das Geschäft, früher unter der Tochtermarke
Ubup, läuft seit Januar unter Momox fashion.
Während Vinted und Momox mit mittelpreisigen Marken
die breite Masse anspielen, haben sich Onlinefirmen wie Rebelle
aus Hamburg oder Vestiaire Collective auf Luxus-Secondhand
spezialisiert. Denn mit Gebrauchtem von Gucci und anderen Edelmarken
lässt sich besonders viel Geld verdienen.
»Die Pandemie hat sowohl die Digitalisierung als auch das
Thema Nachhaltigkeit verstärkt – davon profitieren wir eindeutig«,
sagt Heiner Kroke, Geschäftsführer von Momox. Seit Jahren waren
dies Trends, doch in diesem Jahr kauften Konsument:innen
weltweit und auch in Deutschland sehr viel stärker online ein.
Und auch im Corona-Jahr hat die Sorge um den Planeten eher zugenommen,
was sich auch im aktuellen Kaufverhalten zeigt.
»Ob sich das
auf Dauer
rechnet, muss
sich zeigen.
Die Prozesse
im Secondhand -
geschäft sind
sehr aufwendig.«
POLITIK, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT
Während Vinted oder Momox reine Secondhandshops sind, wollen
die großen Modekonzerne an einem Ort neue und gebrauchte
Kleidung anbieten – und damit gleich mehrere Vorteile mitnehmen:
• Sie bedienen die wachsende junge Zielgruppe, die Altes und
Neues kombinieren will.
• Sie locken auch Vintage-Jäger auf ihre Website – und verleiten
sie vielleicht zum Neukauf, denn das ist und bleibt das
Hauptgeschäft.
• Sie verbessern ihr Image: Schließlich gilt Secondhand als
nachhaltig, weil es die Lebensdauer von Kleidung verlängert.
»Das Secondhandgeschäft lässt sich auch gut vermarkten«,
sagt Unternehmensberaterin Käßhöfer. »Kreislaufwirtschaft
betrifft die gesamte Fashion Industrie, ob Herstellermarken
oder Handel.«
Tatsächlich soll der Handel mit Gebrauchtem auf die Nachhaltigkeitsziele
der Konzerne einzahlen, die von Konsument:innen immer
vehementer eingefordert werden. Längst sind die Umweltprobleme
und sozialen Probleme entlang der textilen Lieferkette
bekannt. Doch noch immer werden weltweit mehr als 100 Milliarden
Kleidungsstücke pro Jahr produziert, die oft kaum getragen
werden, nach einer Saison wieder aus dem Kleiderschrank fliegen
und in den meisten Fällen auf dem Müll landen.
Auch deswegen wollen immer mehr Modekonzerne von ihrem
linearen Geschäftsmodell hin zu einem zirkulären, also Kreislaufmodell.
Zalando etwa will nach eigenen Angaben bis 2023
die Lebensdauer von 50 Millionen Kleidungsstücken verlängern.
H&M will den textilen Kreislauf schließen – der Handel mit Secondhandmode
über Sellpy oder Cos Resell ist
da nur ein Baustein neben Recycling, Reparatur
oder Vermietung.
Doch beide Konzerne sind von diesen Zielen
noch weit entfernt: Zalando hat derzeit rund
140 000 Secondhandprodukte auf seiner Preowned-Seite
– was auch daran liegen mag, dass
Zalando den Verkäufer:innen von Secondhandkleidung
kein Geld zahlt, sondern Zalando-Einkaufsgutscheine
ausstellt – oder Spendenbescheinigungen.
Ganz umstellen auf das Geschäft
mit Gebrauchtem wolle man auch langfristig
nicht: »Pre-owned stellt eine wichtige Ergänzung
zu unserem bisherigen Sortiment und
Services dar«, sagt eine Zalando-Sprecherin.
Man werde aber »vielfältig aufgestellt« bleiben.
About You bietet dagegen etwa 350 000 gebrauchte Stücke
an, und Sellpy Deutschland hat immerhin rund eine Million qualitätsgeprüfte
Artikel im Angebot. Auch wenn H&M und Zalando
weitere Nachhaltigkeitsinitiativen verfolgen, sind sie von einer
wahren Kreislaufwirtschaft noch weit entfernt. Aus dem H&M
Sustainability Performance Report geht hervor, dass nur 2,2 Prozent
des gesamten Sortiments bisher aus recyceltem Material besteht.
Da kann ein bisschen grüne Vermarktung dem Image nicht
schaden.
»Ob sich das auf Dauer rechnet, muss sich zeigen«, sagt Expertin
Käßhöfer. »Die Prozesse in dem Secondhandgeschäft von
Zalando oder Sellpy sind sehr aufwendig – jedes einzelne Teil
muss sortiert, geprüft und gewaschen werden.« Leichter hat es da
Kleiderkreisel – als Plattform, die Verkäufe von Kund:innen an
Kund:innen vermittelt. Doch auch diese Firma habe mal die Gebühren
erhöht, um die Profitabilität zu steigern, sich damit aber
bei den Kund:innen nicht durchsetzen können, sagt Käßhöfer.
Das Gold des Gebrauchtwarenmarkts scheint anderswo zu
liegen: »Die Vinted-Gruppe hat über 45 Millionen registrierte Mitglieder
– mit deren Userdaten lässt sich künftig viel Geld verdienen«,
sagt Käßhöfer. Über das Targeting – die gezielte Werbung
im Netz – also. Das hat dann allerdings mit Nachhaltigkeit nicht
mehr viel zu tun.
Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 49
POLITIK, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT
»Je billiger,
desto weniger
nachhaltig«
Philip Heldt, Modeexperte der
Verbraucherzentrale NRW,
über die Grenzen des Recyclings und
vernünftige Konsumstrategien
INTERVIEW SIMON BOOK
SPIEGEL: Herr Heldt, woher kommt der enorme
Secondhandboom, den wir gerade erleben?
H ELDT: Das hat viel mit einem gesteigerten Umweltbewusstsein
der Kund:innen zu tun. Das Thema Nachhaltigkeit wird
vielen immer wichtiger. Und es wird immer leichter, solche Mode
einzukaufen: Es gibt analoge und digitale Kleidertauschbörsen,
auch als Normalverdiener kann ich heute in Kleiderkammern gehen.
Natürlich hat das Internet das Ganze noch befeuert, da springen
nun die großen Marken auf.
SPIEGEL: Nachhaltige Mode von großen Konzernen –
geht das denn überhaupt?
H ELDT: Es gibt einige Bemühungen in der Industrie und
ein paar Siegel, die wirklich nachhaltige Mode kennzeichnen. Wir
halten da das »IVN Best« oder das »GOTS« für empfehlenswert.
Auch der »Grüne Knopf«, das Siegel der Bundesregierung, entwickelt
sich immer weiter. Generell gilt, dass es umso weniger nachhaltig
wird, je billiger die Kleidung ist. Einfach weil dann oft die
Ausgangsqualität der Stoffe schon so gering ist, dass sie sich kaum
wiederverwerten lassen.
SPIEGEL: Ist nachhaltige Fast-Fashion also eine Lüge?
HELDT: Nein. Dass Kleidung heute mehr Recyclinganteile
enthält oder Teile wiederverkauft werden, ist unstrittig. Aber die
Menge ist zu gering. Wenn es der Industrie ernst wäre, müsste sie
die Qualität ihrer Produkte hochschrauben, also etwa die der
Baumwollfasern. Da geht es vor allem ums Design. Auch bei der
Frage, wie gut Textilien reparierbar sind, ist noch viel Luft nach
oben. Da ist kaum Bewegung, und da muss man die Ambitionen
der großen Ketten stark hinterfragen.
SPIEGEL: Was können Kund:innen tun?
H ELDT: Schlechte von guten Neutextilien zu unterscheiden
ist relativ schwierig. Das ist von außen meist kaum sichtbar. Auch
bei den Werbeversprechen, wie viel wiederverwertet wird, sollte
man sich nicht auf die Industrie verlassen. Das ist alles viel zu
undurchsichtig. Es ist absehbar, dass mit neuen Textilien immer
eine höhere Marge gemacht wird als mit alten. Der Markt wird es
deshalb nicht richten. Wir brauchen dringend politische Vorgaben,
was in einer Welt mit begrenzten Ressourcen machbar ist. Ein
Gesetz also, wie es die EU in ihrer Textilrichtlinie plant. Darin soll
es Vorgaben geben zur Recyclingfähigkeit oder Reparierbarkeit
von Kleidung. Diese Ökodesign-Richtlinie wird aber noch Jahre
brauchen.
SPIEGEL: Und bis dahin?
HELDT: Da gilt es, den eigenen Konsum zu hinterfragen:
Wer wirklich die Umwelt unterstützen will, der findet in unserer
Überflussgesellschaft alle Textilien auch secondhand. Für die Natur
spielt es dabei keine Rolle, ob ich Secondhandbekleidung bei der
Diakonie, bei H&M oder im Secondhandladen im Viertel kaufe.
Wichtig ist, dass wir uns möglichst wenig neue Kleidung zulegen.
SPIEGEL: Also alles nur noch gebraucht?
HELDT: Es spricht nichts dagegen, auch mal etwas Neues
zu kaufen, gerade Basics wie Unterwäsche oder T-Shirts. Aber
insgesamt weniger zu kaufen ist das, was man tun sollte, ja. Deshalb
halte ich auch Tauschbörsen mit Freund:innen und Verwandten
für eine gute Idee. 20 bis 40 Prozent der Textilien, die wir haben,
benutzen wir so gut wie nie. Warum gibt man sich die nicht
untereinander weiter? Auch das professionelle Leihen ist eine gute
Möglichkeit, gerade wenn es um Stücke geht, die man nicht jeden
Tag braucht: ein Hochzeitskleid oder einen Skianzug. Aber auch
hier ist das Maß gefragt. Sich jede Woche einen neuen Pullover
zu borgen, um in einer Woche möglichst viele Farben zu tragen,
ist bestimmt nicht der richtige Weg.
50 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
Foto: Britt Erlanson / Getty Images
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POLITIK, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT
»Die Pflegekräfte sitzen
am längeren Hebel«
Es werden dringend Arbeitskräfte in der Pflege gebraucht, aber die Bezahlung
ist überwiegend miserabel. Warum die Marktmechanismen in dieser Branche
versagen und die Beschäftigten sich so schwertun, ihre Macht endlich zu nutzen.
TEXT DAVID BÖCKING UND FLORIAN DIEKMANN
FOTOS PATRICIA KÜHFUSS
I
n seinen Beruf ist Philipp Leusbrock hineingewachsen. Schon
als Kind stand er morgens an der Haustür seines Elternhauses
im Münsterland und gab Schlüssel an Pflegekräfte aus. Leusbrocks
Mutter Christine hatte 1993 einen Pflegedienst gegründet.
Zwei Mitarbeiterinnen gab es anfangs, die ersten Teamsitzungen
fanden in der Küche statt.
Knapp 30 Jahre später ist Leusbrock Pflege ein etablier tes
Mittelstandsunternehmen mit rund 150 Mitarbeiter:innen. Philipp
Leusbrock ist, ebenso wie drei Geschwister, ins Familienunternehmen
eingestiegen. Als Geschäftsführer kümmert er sich um
die Gehälter – ein Thema, das ihm zurzeit häufiger in den
Nach richten begegnet. »Ich finde es schwierig, dass Pflege
immer als so zwielichtig und renditegeil dargestellt wird«, sagt
der 35-Jährige.
Die Pflege als Ausbeuterbranche: Dieses Bild wurde durch
Corona verstärkt. Während die Pandemie Kranken- und Altenpfleger:innen
an ihre Grenzen brachte, schien mancher Arbeit -
geber schon eine Tafel Schokolade für ausreichenden Dank zu
halten. Um die Finanzierung der Coronaprämie für Pfleger:innen
gab es unwürdiges Gezerre.
Auf ihren letzten Metern versuchte die schwarz-rote Koa li -
tion mit einer Reform die Bezahlung von rund 500 000 Pfleger: -
innen zu verbessern. Laut dem von Gesundheitsminister Jens
Spahn (CDU) verantworteten Gesetz erhalten ab 2022 nur noch
Einrichtungen Gelder aus der Pflegeversicherung, die nach Tarif
oder in entsprechender Höhe bezahlen. Doch warum muss die
Politik überhaupt für gute Löhne sorgen in einer Branche, die seit
Jahren wächst und dringend Personal sucht? »Pflegekräfte hätten
52 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
ja durchaus die Marktmacht zu sagen: Ich will mehr verdienen«,
sagt Leusbrock. »Wenn ich das hier nicht kriege, gehe ich wo -
anders hin.«
So weit die Theorie. Dass die Realität bislang oft anders aussieht,
liegt auch daran, dass es »die Pflege« in Deutschland nicht
gibt. Die Branche ist zersplittert. Bei den Arbeitgeber:innen, für
die im komplizierten Entlohnungssystem der Pflegeversicherung
oft unterschiedliche Bedingungen gelten. Und auch bei den Arbeitnehmer:innen,
die sich bislang kaum für bessere Arbeits -
bedingungen organisieren.
Als gelernter Krankenpfleger weiß Philipp Leusbrock, wie
es ist, sich um einen Menschen zu kümmern – ihn etwa von Kopf
bis Fuß zu waschen. Als Geschäftsführer weiß er aber auch, ab
wann das unrentabel wird. »Eine Pflegeminute kostet uns etwa
einen Euro«, rechnet er vor. »Bei einer Ganzwaschung müssten
wir eigentlich in 21 Minuten wieder raus sein, um auf plus/minus
null zu kommen.« Grundlage dieser Kalkulation ist die Pflegeversicherung,
in der Leistungen nach Punktwerten abgerechnet werden.
Für eine Ganzwaschung bekommt Leusbrock Pflege derzeit
426 Punkte, was 21,08 Euro entspricht. Für das Zubereiten von
warmen Speisen gibt es 150 Punkte beziehungsweise 7,42 Euro.
Für einen Toilettengang und den Umgang mit anderen Ausscheidungen
dürfen 104 Punkte und 5,15 Euro berechnet werden.
Daneben finanziert auch
die Krankenversicherung Leistungen.
Zur Leistungsgruppe 1
zählen unter anderem Blutdruckmessen,
Injektionen oder
das Ausziehen von Kompres -
sionsstrümpfen. Maximal 11,26
Euro bekommt Leusbrock Pflege
dafür – un abhängig davon,
wie viele der Tätigkeiten eine
Pflegerin ausgeführt hat. So etwas
gebe es in keiner anderen
Branche, kritisiert Leusbrock.
»Du gehst ja auch nicht in die
Autowerkstatt und sagst: Ich
zahl nur den Reifenwechsel, dafür
machst du den Ölwechsel
noch mit.«
Durch das System der Pauschalen
lohnt sich vor allem die
Pflege von Menschen, bei denen
viele unterschiedliche Leistungen
abgerechnet werden können.
»Wir müssen ganz viele
Kunden querfinanzieren«, sagt
Leusbrock. Seine Firma hat sich
breit aufgestellt, betreibt auch
ein betreutes Wohnen und zwei
Wohngemeinschaften für Pflegebedürftige.
So kommt das Unternehmen
laut Leusbrock auf
eine Vorsteuerrendite von rund
sechs Prozent.
Doch nicht jeder Pflegedienstbetreibende
bringt auch
Leidenschaft für Zahlen mit.
Viele kommen aus der Praxis –
so wie Leusbrocks Mutter, die
ALLTAG DER PFLEGE Die Fotografin Patricia Kühfuss
doku mentiert in ihrer Bilderserie »Nicht müde werden«,
aus der wir hier eine Auswahl zeigen, die vielfältigen
Aufgaben des Pflegepersonals in deutschen Kranken -
häusern, aber auch die Erschöpfung, den Frust und die
kleinen Gesten der Menschlichkeit.
POLITIK, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT
den kaufmännischen Teil früh
an ihren Mann abgab. Mittelständler:innen
seien sehr wichtig
für den Pflegemarkt, aber
»betriebswirtschaftlich sicher
nicht alle brillant aufgestellt«,
sagt der Bremer Gesundheitsökonom
Heinz Rothgang. »Die Innovationsfreude ist nicht sehr
ausgeprägt.«
Es liegt jedoch nicht nur an fehlendem Unternehmergeist,
wenn bei manchen Anbietern mehr Geld ankommt. Viele Träger
verhandeln mit den Pflegekassen individuell darüber, mit wie viel
Euro die Punktwerte entgolten werden. Ein großer, alteingesessener
Träger wie die Caritas hat oft eine bessere Bezahlung aushandeln
können als kleinere Anbieter. So erhält der nächstgelegene
Caritas-Pflegedienst laut Daten des Fachportals Pflegelotse.de gut
fünf Euro mehr für eine Ganzwaschung als Leusbrock Pflege.
»Wenn die Bezahlung für alle Pflegekräfte gleich sein soll,
dann müssen Pflegeunternehmen auch gleich vergütet werden«,
sagt Philipp Leusbrock. Gesundheitsökonom Rothgang stimmt
ihm zu. »Ein Teil der Bundesländer unterscheidet bei ambulanten
Pflegeleistungen nach Trägerschaft«, sagt er. »Es ist natürlich ein
Unding, gleiche Tarife anzusetzen, dann aber für erbrachte Einzelleistungen
weiterhin unterschiedliche Sätze zu zahlen.«
»Der Sektor bietet stabile Einnahmen«
Wie groß die Gräben zwischen den Trägern sind, zeigte sich im
Februar. Da scheiterte der von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD)
unterstützte Versuch, einen allgemein verbindlichen Tarifvertrag
für die Altenpflege auszuhandeln, am Einspruch der Caritas.
Die kirchlichen Träger zahlen
überdurchschnittlich, handeln
ihre Gehälter aber ohne
Gewerkschaften aus. Ihr Veto begründeten
sie mit der Sorge, dass
ein Tarifvertrag auch Grundlage
für die eigenen Verhandlungen
mit den Pflegekassen werden
könnte. Anders ausgedrückt: Die
Kirchen fürchteten um ihren
Wettbewerbsvorteil.
Es ist nicht die einzige
Konfliktlinie in der Branche. So
versucht der Arbeitgeberverband
Pflege (AGVP) derzeit
vor Gericht, die Gewerkschaft
Ver.di in der Altenpflege für
»tarif unfähig« zu erklären. Pressemitteilungen
des AGVP tragen
Titel wie »Frau Baerbock
hat keine Ahnung!!!« oder
»Der Westen diktiert, der Osten
zahlt!« Die Löhne stiegen ja
auch ohne Tarifbindung, argumentiert
Geschäftsführerin Isabell
Halletz. »Wir brauchen kein
Instrument, das so hart eingreift,
wenn sich der Markt aufgrund
der knappen Personalressourcen
permanent selbst überholt.«
Man unterstütze die Arbeit der
Pflegekommission, die Mindestlöhne
festlegt. »Alles darüber
hinaus sollte dem Wettbewerb
über lassen bleiben und die Vielfalt
der Unternehmen fördern.«
Der AGVP vertritt nach
eigenen Angaben die umsatz -
stärksten Unternehmen der deutschen
Pflegewirtschaft. Dazu
gehört auch Branchen primus
Korian aus Frankreich. Offiziell
gibt der Verband seine Mitglieder
mit Verweis auf den Datenschutz
jedoch nicht preis. Das
Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 53
POLITIK, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT
könnte auch an den Finanziers liegen. »Seit 2017 beobachten wir
einen starken Anstieg von Finanzinvestoren in der Gesundheitsbranche«,
sagt Christoph Scheuplein, der an der Westfälischen
Hochschule Gelsenkirchen zum Thema forscht. »Die größten Übernahmen
gibt es dabei in der Pflege.«
Nach Erhebungen von Scheuplein sind derzeit mindestens
17 Pflegeketten in Deutschland in der Hand von Private-Equity-
Investor:innen. »Der Sektor ist stark reguliert, aber er bietet stabile
Einnahmen«, erklärt er. »Investoren zieht auch die Zersplitterung
der Branche an. Im Vordergrund steht nicht der Bau eigener Pflege -
heime, sondern es werden vor allem bestehende Unternehmen
zusammengelegt.«
Terra incognita für Gewerkschaften
Deutschlands zweitgrößte Pflegekette Alloheim wechselte bereits
mehrfach den Besitzer und gehört mittlerweile der Beteiligungsgesellschaft
Nordic Capital, deren Fonds vom Steuerparadies Jersey
aus gesteuert werden. Kein Einzelfall: Zwei Drittel der Ketten
mit Private-Equity-Investor:innen werden laut Scheuplein aus Offshore-Finanzplätzen
wie den Cayman Islands oder Guernsey
gesteuert. Dort sparen sie nicht nur Steuern, sondern sind auch
kaum Rechenschaft über ihre Einnahmen schuldig.
Angesichts der neuen Akteure wollen manche den Pflegemarkt
noch stärker regulieren als bisher. Renditen in der Pflege
sollten begrenzt werden, forderte die SPD-Fraktion vor zwei Jahren.
Den Mittelständler Leusbrock ärgert das. »Wann haben wir
darüber geredet, dass Ärzte zu viel verdienen?« Außerdem seien
ambulante Pflegedienste keine Ketten. »Das sind meistens Unternehmen,
die von Frauen wie meiner Mutter gegründet wurden.«
Tatsächlich sind Finanzinvestor:innen im ambulanten Bereich
kaum präsent. Mitarbeiter:innen von Ketten trifft Leusbrock dennoch
– wenn Altenheime bei gemeinsamen Arbeitsgruppensitzungen
regelmäßig von neuen Trägern vertreten werden.
Das Interesse an der Pflege als Geschäft steigt. Doch profitieren
davon auch die Pfleger:innen?
In einer Marktwirtschaft regeln der reinen Lehre zufolge
Angebot und Nachfrage den Preis. So betrachtet befinden sich
die Beschäftigten in der Altenpflege in einer vielversprechenden
Position: Seit Jahren stellt die Bundesagentur für Arbeit (BA)
einen flächendeckenden Fachkräftemangel fest. Für eine gute Pflege
benötigten allein die Altenheime 100 000 zusätzliche Arbeitskräfte,
hat Gesundheitsökonom Rothgang ermittelt. Die demografische
Entwicklung wird den Bedarf weiter steigen lassen. Tatsächlich
wirkt sich die hohe
Nachfrage in der Altenpflege
bereits aus: Die Löhne
sind in den vergangenen
Jahren überdurchschnittlich
stark gestiegen. Von 2012
bis 2019 legten die mittleren
Bruttoverdienste von Vollzeitbeschäftigten
um rund
28 Prozent zu, sowohl bei
Fach- als auch bei Hilfskräften.
Über alle Beschäftig ten
hinweg wuchsen in Deutschland
die Verdienste lediglich
um gut 18 Prozent.
Auf dieses überdurchschnittliche
Wachstum verweisen
Arbeitgeberverbände
wie der AGVP gern. In
absoluten Beträgen relativiert
sich der scheinbar
hohe Anstieg jedoch, weil
er von einem recht niedrigen
Niveau aus erfolgte.
Der Bruttomonatsverdienst
von Vollzeit-Pflegehelfer:innen etwa stieg in den sieben Jahren
um 464 Euro, beim Durchschnitt aller Beschäftigten dagegen um
525 Euro. Bei Fachkräften war der absolute Anstieg mit 659 Euro
zwar höher, doch selbst sie verdienen immer noch deutlich weniger
als durchschnittliche Arbeitnehmer:innen. Unterm Strich arbeitete
im Jahr 2019 in Westdeutschland noch ein Viertel der Beschäftigten
in der Altenpflege für Niedriglohn, in Ostdeutschland waren es sogar
40 Prozent. Der Markt regelt es offensichtlich nicht von allein.
Die Lohngefälle sind auch innerhalb der Pflegebranche hoch.
Krankenhäuser zahlen deutlich besser als Altenheime, deren Gehälter
wiederum erheblich über ambulanten Pflegediensten liegen.
Diese Hierarchie entspricht nicht von ungefähr der jeweiligen
Schlagkraft der Gewerkschaften. Nur elf Prozent aller Altenpflege -
kräfte sind überhaupt gewerkschaftlich organisiert, stellte der Poli -
tologe Wolfgang Schroeder 2017 in einer Studie im Auftrag der
gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung fest. Vier von fünf Befragten
wurden bislang noch nicht einmal von einer Gewerkschaft
kontaktiert. »Ich habe noch nie erlebt, dass unsere Pflegekräfte
von Gewerkschaften angesprochen wurden«, bestätigt Mana ger
Leusbrock. »Wir haben einen Organisationsgrad von null. Ich
finde das wirklich schade.«
Insbesondere die ambulante Altenpflege gleicht für Gewerkschaften
einer Terra incognita. Selbst Ver.di mit seinen zwei Millionen
Mitgliedern verhandelt zwar für die Pflegekräfte im öffentlichen
Dienst regelmäßig Tarifverträge, bekommt aber in der ambulanten
Pflege keinen Fuß in die Tür. »Ich will keinen Hehl daraus
machen, dass es unsere Kapazitäten schlicht übersteigt, überall
präsent zu sein«, sagt Ver.di-Vorständin Sylvia Bühler. »Es gibt
Tausende ambulante Dienste mit zum Teil ganz wenig Personal,
das fast die ganze Arbeitszeit in privaten Haushalten und auf der
Straße verbringt und nicht gemeinsam im Betrieb. Wie soll ich an
die rankommen?«
In den Altenheimen ist Ver.di ein bisschen präsenter. Die
Zahl der dortigen Mitglieder gibt die Gewerkschaft aber ebenso
wenig preis wie der AGVP die Namen der von ihm vertretenen
Unternehmen. Neben Intransparenz verbindet beide Seiten ausgeprägte
Abneigung. »Wir haben es nicht mit Sozialpartnern zu
tun, sondern mit Arbeitgeberverbänden, die Gewerkschaften bekämpfen
und Tarifverträge verhindern, statt sie abzuschließen«,
schimpft Bühler.
Für ihre Blockadehaltung genügt den Arbeitgeberverbänden
bislang der Hinweis, dass Ver.di nur eine kleine Minderheit vertritt.
Die Sammelgewerkschaft habe es schwer, konstatiert Gesundheits-
54 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
POLITIK, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT
ökonom Rothgang. »Die Pflegekräfte
vermissen den Stallgeruch.«
Diesen Stallgeruch verspricht
der Bochumer Bund,
eine im vergangenen Jahr gegründete
Pflegegewerkschaft.
Ihr Name lehnt sich nicht zu -
fällig an die erfolgreiche Ärztegewerkschaft
Marburger Bund
an. »Ich war 25 Jahre bei der
ÖTV und dann bei Ver.di«, erzählt
Heide Schneider, eine der
beiden Vorsitzenden und seit
mehr als 30 Jahren als Pflegerin
tätig. »Aber deren Tarifabschlüsse
sind seit Jahren bescheiden
und gleichen kaum die Inflation
aus. Als sie wieder einmal einen
für mich sehr wichtigen Punkt
in den Verhandlungen für einen
anderen fallen gelassen haben,
habe ich gesagt: Jetzt reicht es.«
Nur dem Berufsstand verpflichtet,
will der Bochumer Bund
schlagkräftiger sein als Ver.di.
»Unser Tarifvertrag wird besser
sein als der des öffentlichen
Dienstes«, verspricht Schneider.
Bis dahin ist es allerdings
noch ein weiter Weg. Gerade
einmal knapp 1600 Mitglieder
zählt der Bochumer Bund
Schneider zufolge nach einem
Jahr, davon deutlich mehr aus
der Kranken- als aus der Altenpflege.
Um neue Mitglieder zu
werben, bleibe nur Mundpro -
paganda, sagt Schneider. Ein
Selbstläufer sei das nicht. »Es fehlt das Bewusstsein, dass man
selbst etwas durch Kampf verändern kann.«
Das hat viele Gründe. In der ambulanten Altenpflege arbeiten
fast nur Frauen – viele davon in Teilzeit, morgens und abends,
wenn die Pflegebedürftigen sie brauchen. Oftmals ist das ein
schlecht bezahlter, aber dennoch notwendiger Zuverdienst, den
die Pfleger:innen auf keinen Fall verlieren möchten. Sie fühlen
sich alles andere als mächtig.
Hinzu kommt, dass ein harter Arbeitskampf mit Streiks vielen
Pflegekräften moralisch und emotional unmöglich erscheint. Aus ihrer
Sicht würden sie die Bedürftigen im Stich lassen, zu denen sie
oft über Jahre ein enges Verhältnis aufgebaut haben. Von einem
»Moment der emotionalen Erpressung« spricht Gewerkschafterin
Schneider, den auch Arbeitgeber:innen gern ausnutzen. Ein Autowerk
kann man ohne schlechtes Gewissen zum Stillstand bringen –
aber nicht einen alten, hilflosen Menschen sich selbst überlassen.
Beruflichen Aufstieg erleichtern
Nicht zuletzt fehlt es in der Altenpflege schlicht am Kollektiv -
bewusstsein, das Belegschaften in der Industrie oft haben. Die ver -
schie denen Qualifikationsniveaus, die unterschiedlichen Träger, die
vielen Kleinbetriebe – all das trägt zur Vereinzelung bei. Zuletzt wurde
in Schleswig-Holstein und Niedersachsen gar die Auflösung von
Pflege kammern beschlossen. Diese waren erst vor wenigen Jahren
ge gründet worden. Doch die Pfleger:innen stimmten klar für die Auf -
lö sung – auch aus Protest gegen Zwangsmitgliedschaft und -beiträge.
»Sie haben in der Pflege überspitzt gesagt bald mehr Berufsverbände
als Mitglieder«, sagt Gesundheitsökonom Rothgang.
»Die Branche ist zersplittert, und niemand gönnt dem anderen etwas
– das ist fürchterlich.«
Dass sich in der Pflege
dennoch etwas tut, sollen Mitarbeiter:innen
spätestens am
1. September 2022 merken.
Von dem Datum an gelten laut
Spahns Gesetz Tariflöhne. Ein
Pflegedienst wie Leusbrock
soll sie genauso zahlen wie
Altenheime in der Hand großer
Ketten. Der Minister hofft,
dass die neuen Regeln der Anfang
für regelmäßige Lohnund
Tarifsteigerungen sind.
»Die Pflegekräfte sitzen am längeren
Hebel.«
Die Politik schubst die Pfleger:innen
also in Richtung von
Tarifverhandlungen, auf dass
sie künftig um ihre Bezahlung
kämpfen. Die Arbeitnehmer: -
innen aber schauen laut der Umfrage
von Politologe Schroeder
in eine andere Richtung: 87 Prozent
sagten, der Staat müsse
etwas an den Zuständen ändern,
der Arbeit geber oder Arbeitnehmervertretungen
wurden deutlich
seltener genannt.
Die Pflege wird eine Branche
mit erhöhtem Betreuungsbedarf
bleiben. Schon wegen
der Frage, nach welchen Tarifverträgen
sich künftig denn die
Bezahlung richten soll. Gewerkschafter:innen
fürchten, dass
Arbeitgeber:innen mit Kleinstgewerkschaften
Dumpingverträge
schließen könnten.
Unternehmer Leusbrock sagt, er habe keine Probleme mit
höheren Löhnen. Kürzlich hat er mit der Pflegekasse verhandelt
und kann jetzt ein deutlich erhöhtes Einstiegsgehalt von 3400
Euro zahlen – mehr als den Tariflohn. Die bessere Bezahlung wurde
bei der Refinanzierung berücksichtigt. Dennoch bleibe der Bereich
Pflege im Unternehmen insgesamt defizitär, sagt Leusbrock.
Von Gewinnen könne keine Rede sein.
Allein mit höherer Bezahlung werden die Probleme der Pflegebranche
ohnehin nicht zu lösen sein. Umfragen zeigen immer
wieder, dass Pfleger:innen besonders unter Arbeitsbelastung und
Personalmangel leiden. Auch deshalb plädieren Branchenvertreter:innen
dafür, den beruflichen Aufstieg zu erleichtern. »Bei der
Weiterbildung von ungelernten und teilqualifizierten Kräften gibt
es ein großes Potenzial«, sagt AGVP-Vertreterin Halletz. Ökonom
Rothgang kritisiert, dass Pflegekammern bislang nur Fachkräfte
als Mitglieder akzeptieren. »Da zeigt sich auch ein gewisser Dünkel
gegenüber Assistenzkräften.«
Den scheint Philipp Leusbrock nicht zu haben. »Wir haben
eine Pflegehilfskraft, die steckt jede Fachkraft in die Tasche«, erzählt
er. »Die verdient genauso viel.« Sein eigenes Gehalt liege
wiederum nicht allzu weit über dem der Mitarbeiter:innen. Das
habe er auch gemerkt, als es um einen Kredit für die Pflege-WG
des Unternehmens ging. »Da hat die NRW-Bank meine Geschwister
und mich geprüft und gesagt: Eigentlich verdient ihr ja zu
wenig für so ein Bauvorhaben.«
Das sei okay, sagt er. »Man entscheidet sich nicht dafür, weil
man damit mega viel Geld macht.« Sollten Pflegeunternehmen
nach den Tarifen aber auch noch die Renditen vorgeschrieben
werden, will er sich aus dem Beruf verabschieden, den er seit der
Kindheit kennt. »Dann würde ich das nicht mehr machen.«
Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 55
KOLUMNE: DIE KUNST DES GRÜNEN LIEBENS
Das Fliegen der anderen
Seitdem meine Freundin und ich wegen der Pandemie nicht mehr
verreisen, sparen wir uns jede Menge Streit über vermeintliche Klimasünden.
Was für eine Erleichterung!
TEXT FABIAN THOMAS
ILLUSTRATION MORITZ WIENERT
Fabian Thomas, 25, und Svenja Meese, 23, die in Wahrheit einen
anderen Nachnamen trägt, sind seit vier Jahren ein Paar. Sie studiert
Klimatologie an der ETH in Zürich, er Journalismus an der
Journalistenschule in München. Svenja will retten, was vom Klima
noch zu retten ist, Fabian würde ihr gern dabei helfen, doch er will
nicht auf so viel verzichten wie Svenja. Für SPIEGEL START schreiben
sie in »Die Kunst des grünen Liebens« im Wechsel darüber,
wie sie es trotzdem schaffen, sich zu lieben.
W
enn Svenja und ich den Sommerurlaub planen,
dann beginnt der Stress im Januar. Unsere Vorstellungen
sind ein bisschen so wie Cola und Mentos:
Jede für sich ist gut, aber wenn man sie mischt, entsteht
Chaos. Das Problem beginnt schon bei der
Anreise. Svenjas goldene Regel: Für Auslandsaufenthalte unter
zwei Monaten wird nicht geflogen. Ich finde, ab zwei Wochen Urlaub
ist alles okay, zahle ich doch – wie
ich Svenja gern vorhalte – die 7,81 Euro
CO -Ablasssteuer mit Vergnügen. Svenja
sagt dann: alles Fake.
²
Svenja ist mit Deutschland, Italien
und Frankreich grundsätzlich zufrieden.
Ich will, wenn ich schon mal in den Urlaub
fahre, auch gern etwas weiter weg.
Das war schon früher so, gilt aber erst
recht, wenn man nach zwei Jahren
mehr oder weniger durchgängigem Corona-Lockdown
irgendwann wieder unbeschwert
verreisen kann. Surfen in
Portugal wäre zum Beispiel eine Op tion
oder in Israel Falafel essen. Wandern
im Allgäu finde ich eher langweilig. Außerdem
bin ich ein Snob. Wenn ich
schon verreise, will ich etwas Komfort.
Ich meine, ich lebe 352 Tage im Jahr in einer stinkenden Studierenden-WG!
Ich finde es nicht zu viel verlangt, wenigstens zwei
Wochen im Jahr in einem schönen Airbnb aufwachen zu wollen.
Svenja sagt dann: zu teuer. Svenja will in die Natur, Kühe sehen,
im Zelt kuscheln. Ich könnte kotzen.
Es ist nicht so, dass ich es nie versucht hätte. 2017, für unseren
ersten gemeinsamen Urlaub, fuhren Svenja und ich an die Ardèche.
Kleiner Campingplatz, Geheimtipp von einer Kommilitonin. Geheimtipp
hieß in diesem Fall, dass das letzte Stück des Wegs keine
Straße mehr war, sondern eine hinterhältige, gemeine, steil abwärts
führende Schotterpiste. Alle zwei Minuten kam uns ein Renault
mit oberkörperfreien Franzosen entgegen. Die Straße war eng.
Die Schlucht zu unserer Rechten war tief.
Etwa jede Minute kratzten Felsbrocken an den Unterboden
meines Ford Fiesta, Baujahr 2005. Ich schaute jedes Mal angsterfüllt
auf den Tankanzeiger. Hoffentlich bleibt der Tank dicht, dachte
ich. Der Tank blieb dicht. Ich nicht: Am ersten Abend bekam
ich Magen-Darm, hockte nachts zwischen zwölf und sechs Uhr
auf dem Klo, das in unserem Geheimtipp-Campingplatz aus einem
Loch im Boden bestand, 20 Minuten bergauf von unserem Zelt
entfernt. Ich kotzte, diesmal wirklich.
Nach fünf Tagen »Urlaub« war ich völlig am Ende. Der Besitzer
des Campingplatzes hatte mir in Nacht vier um fünf Uhr
morgens beim Toilettengang zugehört. Durchfall war eine Untertreibung.
Als ich das Toilettenhaus verließ, schaute er mich mit
leeren Augen an. Ich muss ihm sehr leidgetan haben. Am nächsten
Tag beschlossen wir, früher nach Deutschland zurückzufahren.
Dort angekommen, bemerkte ich, dass wir dank französischer
Maut gut 500 Euro für fünf Nächte Scheißen ausgegeben hatten.
Nie wieder Campen (und nie wieder Frankreich), schwor ich
mir, also fuhren Svenja und ich im nächsten Jahr nach Lissabon.
Das heißt: Ich flog, und sie fuhr Bahn. Zu meiner Verteidigung
muss ich sagen, dass sie eine Woche früher da sein wollte, um in
der Algarve wandern zu gehen. Außerdem
war der Flug mit 110 Euro deutlich
günstiger als das Interrail-Ticket für 170
Euro zuzüglich Reservierungen.
Als ich sie nach der Rückreise –
für die ich drei Stunden und sie zwei
Tage brauchte – vom Bahnhof in Freiburg
abholte, war Svenja klebrig und
roch so, wie man nach zwei Tagen Zug
durch Portugal, Spanien und Frankreich
riecht. Aber ihre Augen zeugten von
moralischer Überlegenheit, das musste
ich ihr lassen, als ich sie abholte.
Manchmal glaube ich aber auch,
dass Svenja ihre CO ²
-Bilanz einfach
outsourct. Da war ihr Auslandsstudium
in Vancouver, 2018 bis 2019. Nein, sie
könne mich leider nicht an Weihnachten
besuchen, ließ sie mich wissen. Für zwei Wochen im Dezember
nach Deutschland fliegen? Das geht gar nicht! Wäre doch klimaschädlich
und übertrieben. Übrigens, Fabian, die Spanier hier an
der Uni sind sooo süß, Salva zum Beispiel. In Portland hätte er
mich fast geküsst. Also musste ich nach Vancouver fliegen, für
zwei Wochen nach Weihnachten, mit erstaunlich wenig Gegenrede
von Svenja. Den Flug habe natürlich ich gezahlt.
In der Air-France-Maschine von Paris nach Vancouver bekam
ich die Grippe. Svenja erwartete mich mit Sushi am Flughafen. Wir
küssten uns. Drei Tage später verschlief ich zum ersten Mal in meinem
postpubertären Leben Silvester. Ich frage mich manchmal, warum das
alles? Dann flog ich Anfang Januar 2019 über Grönland zurück nach
Deutschland. Das Eis schmilzt. Die Meeresspiegel steigen. Menschen
werden sterben, leiden, flüchten. Ich trank den Whiskey in der Boeing
777 aus, der Steward hatte ihn mit doppeltem Eis serviert. Ich schaute
»Crazy Rich Asians«. Ich weiß, dass Svenja recht hat. Aber küss bitte
nicht Salva, dachte ich. Und komm mich besuchen, an Ostern.
56 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
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WIE LEBE ICH?
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58 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
INTRO
Alltag und Beziehung
So viel zu tun, so wenig Zeit: Oft hetzen wir durch unseren Alltag, von A nach B,
von Aufgabe zu Aufgabe. Klar, wir gehen feiern, reisen, flirten, treffen Freund:innen; aber ein
bisschen treibt uns dabei auch die Angst, etwas zu verpassen, die »fear of missing out«.
Welches Lebensmodell uns wirklich glücklich machen könnte, ob als Single, Paar, Familie oder
große bunte Lebensgemeinschaft, an welchem Ort wir bleiben wollen, welchen Raum
wir der Liebe geben, welche Freizeitgestaltung uns erfüllt – um all das herauszufinden, brauchen
wir Zeit zum Innehalten, zum Nachdenken, Zeit dazu, uns selbst kennenzulernen und uns
über unsere Gefühle und Werte klar zu werden. Für all das soll im dritten Kapitel Raum sein.
Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 59
WAS GEHT ... IN ALLTAG UND BEZIEHUNG
INTERVIEW
Safer Sex im Internet
Immer mehr Sextoys lassen sich über Apps fernsteuern. So kann
man trotz Fernbeziehung oder Quarantäne miteinander Spaß haben.
Doch nicht immer sind »smarte« Toys auch »safe«. Thorsten
Urbanski, Sprecher des europäischen IT-Security-Herstellers ESET,
erklärt, wie sich Verbraucher:innen schützen können.
SPIEGEL: Herr Urbanski, Hacker:innen legen Computer -
systeme von Unis lahm und erbeuten Fotos von
Promis. Wenn die sich schon nicht schützen können,
wie sicher ist dann mein smarter Vibrator?
URBANSKI: Fast alle technischen Geräte, die sich mit dem
Internet verbinden, können von außen angegriffen werden – auch
Sextoys. Bekannt sind zum Beispiel Fälle, in denen fernsteuerbare
Keuschheitsgürtel gehackt wurden und die Tragenden erst nach
Zahlung eines Lösegelds wieder freikamen. Ein smarter Vibrator
ist ebenso angreifbar, aber natürlich leichter loszuwerden. Größer
sind die Gefahren für die Privatsphäre.
SPIEGEL: Wie viel weiß mein smartes Sextoy über mich?
URBANSKI: Eine ganze Menge. Manche Hersteller:innen
bieten zu ihren Toys Communitys an, in denen man Bilder, Vibrationsmuster
oder Nachrichten austauschen kann. Außerdem können
die Apps Standortdaten, Kontakte und Nutzungszeiten erfassen.
Aus solchen Informationen können Kriminelle viel über Vorlieben
herauslesen. Wenn möglich, sollte man sich deshalb nie mit
dem echten Namen oder der normalen E-Mail-Adresse anmelden.
SPIEGEL: Was können Verbraucher:innen noch tun, um
sich zu schützen?
URBANSKI: Vor dem Kauf sollte man eine Netzrecherche
machen: Gibt es bekannte Sicherheitslücken? Werden Updates
angeboten? Extrem billige Toys stellen oft ein Risiko für das ganze
Netzwerk dar: Manche werden mit Schadsoftware geliefert, die
andere Geräte infizieren kann. Am besten behandelt man neue
Toys wie Tinder-Dates – und lässt sie nur ins Gäste-WLAN.
STUDIE
Klimaschutz statt Kinderwunsch
Kann man angesichts der Klimakrise überhaupt noch Kinder bekommen? Immerhin sind sie
diejenigen, die am längsten mit den Folgen der Erderhitzung leben müssen. Unter dem Hashtag
#birthstrike erzählen Frauen wie die britische Sängerin Blythe Pepino schon seit Jahren davon,
dass sie aus Angst vor der drohenden Klimakatastrophe den eigenen Kinderwunsch aufgegeben
haben. Eine groß angelegte Umfrage unter jungen Menschen zeigt nun, wie verbreitet diese
Angst ist: Über die Hälfte der 16- bis 25-jährigen Befragten sieht demnach die Sicherheit ihrer
Familie durch den Klimawandel bedroht. Fast 40 Prozent sind unentschlossen, ob sie angesichts
drohender Umweltkatastrophen Kinder bekommen möchten. Forscher:innen der University of
Bath hatten 10 000 junge Menschen aus zehn Ländern befragt, darunter etwa Großbritannien
und Nigeria. Es sei die erste weltweite Untersuchung dazu, wie sich die Wahrnehmung von Klima -
politik auf die Gefühle und die Psyche junger Menschen auswirkt, schreiben die Autor:innen.
60 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
Fotos: Ignatio Bravo / plainpicture, Anatol Kotte / Joyn, RoadJet
ALLTAG UND BEZIEHUNG
STREAMING
SEHR GUTER
SCHMUTZ
Einmal, als Emily gerade auf ihren
Roller steigen und losfahren will –
passiert etwas, das die ganze Serie
»jerks« völlig unvorbereitet noch
besser macht. Was genau passiert,
wird nicht verraten, denn dann
wäre das hier ein Spoiler und kein
Tipp, aber der Tipp ist: die neue,
vierte Staffel »jerks« schauen, sofort.
Zur Erinnerung: »jerks« dokumentiert
die Freundschaft der beiden
Schauspieler Christian Ulmen
und Fahri Yardım, wobei nicht
immer klar ist, was Realität ist und
was Fiktion. Außerdem wichtig:
Emily (die Partnerin von Christian),
Pheline (die von Fahri) und Collien
(Christians Ex). In der nun vierten
Staffel gibt es mehr Lügen und
mehr Abgründe als in den dreien
zuvor. Es gibt mehr Blut, mehr
Schweiß, mehr Speichel und mehr
Tränen. Ja, es ist wieder einmal
alles unnormal und übertrieben in
diesen zehn Folgen, und trotzdem
schaffen sie etwas Großes: Wir lernen,
in aller Klarheit, dass das Leben
immer noch beschissener werden
kann (spätestens in dieser einen
Szene, die hier nicht gespoilert
wird). Und dass es zugleich, nur ein
Haus weiter, nur einen Tag später,
das absolute Gegenteil sein kann.
Das Leben ist schmutzig, aber das
Leben ist auch verdammt gut. Und
es gibt keine andere Serie, die davon
so ehrlich erzählen kann.
Die vierte Staffel von »jerks« läuft
seit Ende August mit wöchentlich
zwei neuen Folgen auf Joyn PLUS+.
PODCAST
Wer war Daniel Küblböck?
Die Älteren erinnern sich vielleicht: Zwischen November 2002
und März 2003 tanzte die erste Staffel der Castingshow
»Deutschland sucht den Superstar« über die Fernsehbildschirme
– und mit ihr Daniel Küblböck. Der damals 17-Jährige durfte
Woche um Woche den Paradiesvogel geben, kombinierte
Lipgloss zum Schottenrock, stand offen zu seiner Bisexualität
und verfehlte mehr Töne, als er traf. Dafür wurde er vom Publikum
entweder geliebt oder gehasst, beides mit gleich großer
Inbrunst. Nach dem Casting-Rummel wurde es stiller um den
Sänger. Bis 2018 die Nachricht kam, dass Küblböck – inzwischen
als Frau unter dem Namen Lana Kaiser lebend – spurlos
von einem Kreuzfahrtschiff verschwunden sei. Was war da -
zwischen passiert? Das zeichnet der Podcast »Ein Mensch
verschwindet« einfühlsam und aufschlussreich nach. Die
Macher:innen lassen Freund:innen, Kolleg:innen und Fans von
Kaiser-Küblböck zu Wort kommen. Beim Hören lernt man nicht
nur eine Person kennen, die weitaus mehr war als eine
quietschende Nervensäge, sondern auch viel über das Showbusiness
– und den Umgang, den unsere Gesellschaft mit
Menschen pflegt, die nicht in bekannte Muster passen wollen.
Spannend auch für alle, die Anfang der Nullerjahre noch kein
Fernsehen geguckt haben! Verfügbar bei Podimo
REISEN
ZUG UM ZUG
D
resden, Wien und Nürnberg
waren in diesem Sommer
die Top-Reiseziele bei Flixbus
im deutschsprachigen Raum;
Amsterdam, Paris und Kopenhagen
lagen im restlichen Europa vorn.
Seitdem die Coronabeschränkungen
so weit aufgehoben wurden,
dass die Fernbusse wieder rollen
dürfen, haben die Anbieter ihren
Kampf um reiselustige, meist junge
Kund:innen auf diesem Wachstumsmarkt
neu aufgenommen.
Das Unternehmen Flixmobility, das mit seinen Flixbussen rund 95 Prozent
Marktanteil unter den Fernbuslinien hält, bekommt dabei frische Konkurrenz:
Das finanzstarke französische Mobility-Unternehmen BlaBlaCar drängt mit Macht
auf den deutschen Markt. Es wirbt damit, 15 000 Verbindungen im Angebot zu
haben – die meisten davon allerdings eher im Süden Europas. Auch das Kölner
Start-up Pinkbus hat die Coronakrise überstanden. Der Marktmini hat derzeit
nur Verbindungen zwischen Hamburg und Berlin zu bieten, kündigt aber weitere
Ziele an, etwa Frankfurt, Amsterdam und München. Auch der erst im vergangenen
Jahr gegründete Neuling Roadjet, der statt auf Kellerpreise lieber auf Komfort
setzt und mit Massagesesseln und High-Speed-Internet wirbt, hat bisher nur wenige
Verbindungen im Angebot.
Ein Preiskampf auf wichtigen Strecken zeichnet sich jetzt schon ab: Bei
einer Testbuchung der Strecke Hamburg–Berlin verlangten BlaBlaCar und Pinkbus
teilweise nur 3,99 Euro pro Fahrgast, Flixbus rief Preise ab 4,99 Euro auf –
und ein genauso günstiges Angebot für den schnelleren Flixtrain.
Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 61
ALLTAG UND BEZIEHUNG
Die Pille ist out. Trotzdem nehme ich sie – und habe häufig das Gefühl,
mich vor anderen Frauen rechtfertigen zu müssen.
Warum ist das so? Und was empfehlen Expertinnen?
TEXT LOU ZUCKER
ILLUSTRATIONEN RONJA FISCHER
62 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
Die junge Hippieverkäuferin im Kunsthandwerkladen ist entgeistert:
»Was, es gibt noch Frauen, die die Pille nehmen?« Ich hatte
überlegt, eines ihrer handgefertigten Körperöle aus natür lichen,
regionalen Inhaltsstoffen für eine Freundin zum Geburtstag zu
kaufen. Dann hatte ich erfahren, dass es Johanniskraut be inhaltet,
und mich dagegen entschieden. Meine Freundin nimmt die Pille,
und Johanniskraut kann die Wirksamkeit mindern. »Ich nehme
auch die Pille«, sage ich und spüre Scham aufkommen.
Dann schäme ich mich dafür, dass ich
mich schäme. Ich ärgere mich, wie defensiv
mein Tonfall klingt. Mein Herz klopft unangenehm
schnell inmitten all der Entspannungsöle.
Die Verkäuferin lässt nicht locker: »Also,
da hast du mich aber geschockt. Ich kenne keine,
die noch die Pille nimmt. Das ist doch total out.«
Ich könnte ihr jetzt erklären, dass ich Endometriose
habe, eine schmerzhafte chronische
Krankheit, die etwa 10 bis 15 Prozent der Menschen
mit Uterus betrifft und die bei mir nur
mithilfe der Pille eingedämmt werden kann.
Das füge ich auch meist ganz schnell hinzu,
wenn ich Freundinnen erzähle, dass ich die Pille
nehme. Dass ich sie sogar »durchnehme«, also keine Pause mache
und dementsprechend auch keine Regelblutungen habe.
Meine Freundinnen sehen dann immer noch besorgt oder
erschüttert aus, aber sie scheinen ein wenig aufzuatmen: Immerhin
mache ich das mit der Pille nicht freiwillig, ich muss
sie nehmen, für meine Gesundheit. Damit habe ich anscheinend
einen legitimen, akzeptierten Grund. Unter die Besorgnis
in ihren Blicken mischt sich dann manchmal Mitleid.
Wie kommt es, dass ich so oft das Gefühl habe, mich vor
anderen Frauen dafür rechtfertigen zu müssen, dass ich die Pille
nehme? Gibt es nach der Flugscham jetzt eine Pillenscham, weil
so ein »Hormoncocktail« irgendwie nicht mit Yoga-Morgenroutinen,
grünen Smoothies und Meditations-Apps zu -
sammenpasst?
Ich bin mir der vielen möglichen Nebenwirkungen sehr
bewusst, ich habe selbst deshalb schon viermal das Präparat
gewechselt. Doch ist die gesellschaftliche Wahrnehmung der Pille
derzeit noch als gesunde Skepsis zu bezeichnen, oder ist sie schon
»Ich möchte in
dieser Welt frei
agieren und nicht
so extrem von
der Biologie in mir
bestimmt sein.«
Anna W., Pillennutzerin
ALLTAG UND BEZIEHUNG
in aktives Pillenshaming umgeschlagen? Und wie kam es dazu,
dass Frauen die Pille in den Sechzigerjahren als Schlüssel zu ihrer
sexuellen Befreiung feierten – und heute geradezu das Gegenteil
in ihr sehen?
Der Trend geht gegen die Pille. In den vergangenen Jahren
sind zahlreiche Bücher erschienen mit Titeln wie »Bye, bye Pille
– in vier Schritten zurück zur Balance«, »Freiheit von der Pille –
eine Unabhängigkeitserklärung« oder »Adé, goldener Pillen -
käfig!«. Auf Instagram hat der Hashtag #pilleabsetzen mehr als
7000 Beiträge. Deutschlandweit ist die Pille zwar immer noch das
am meisten genutzte Verhütungsmittel unter Erwachsenen, ihre
Bedeutung ist aber zwischen 2011 und 2018 um sechs Prozentpunkte
zurückgegangen. Das fand die Bundeszentrale für gesundheitliche
Aufklärung in einer Studie von 2019 heraus. Das Kondom
hat stark aufgeholt und ist inzwischen fast genauso beliebt. 48 Prozent
der Befragten waren der Meinung, dass hormonelle Verhütung
»negative Auswirkungen auf Körper und Seele« hat.
Besonders junge Frauen und Mädchen entscheiden sich immer
häufiger gegen die Pille. Im Jahr 2014 verhüteten noch 72 Prozent
der sexuell aktiven 14- bis 17-Jährigen mit der Pille. Im Jahr 2019
waren es nur noch 53 Prozent.
»Die Mädchen schämen sich oft«
Daniela Wunderlich kann das bestätigen. Sie ist medizinische Referentin
bei Pro Familia und arbeitet außerdem als niedergelassene
Gynäkologin in Wiesbaden. Die Einstellung zur Pille habe sich in
den vergangenen Jahren stark verändert, sagt sie. Gerade junge
Frauen erlebt sie in ihrer Praxis als neugierig und selbstbewusst,
sie wollten sich mehr mit ihrem Körper auseinandersetzen, hätten
Zyklus-Apps, interessierten sich für natürliche Familienplanung.
Darüber freut sich Wunderlich: »Ich finde es immer sinnvoll,
wenn man etwas hinterfragt. Ich begrüße es, dass die jungen Frauen
nicht über Jahre hinweg die Pille in sich hineinstopfen, ohne
darüber nachzudenken.« Zugleich erlebt sie, dass Frauen, für die
die Pille gut passt, sich im Freundeskreis immer wieder dafür rechtfertigen
müssen. Für viele stelle das eine Belastung
dar. »Typisch ist, wenn Mütter nach dem
Stillen wieder mit der Pille anfangen wollen.
Dann wird gesagt: ›Was, du nimmst immer
noch die Pille?‹, dabei hat sich die Frau damit
eigentlich wohlgefühlt.« Auch auf dem Schulhof
unter Freundinnen werde Druck aufgebaut:
»›Das soll man doch nicht mehr nehmen, das
sind doch Hormone‹ – dann schämen sich die
Mädchen oft.«
Diesen Druck kennt auch Anna W., mit
der ich für diesen Text gesprochen habe. Sie ist
Mitte dreißig, seit ihrem 15. Lebensjahr hat sie
die meiste Zeit mit der Pille verhütet. »Es wird
manchmal so aggressiv in den Raum geworfen:
›Die Pille ist das Schlimmste, was es gibt, ich würde mir das niemals
antun!‹ Das ist kein direkter Angriff, aber es baut Druck auf.« Oft
würde diese Einstellung mit feministischen Argumenten untermauert:
»Warum soll die Frau ihren Körper mit Hormonen
vollstopfen, und der Typ hat einfach seinen Spaß
und null Verantwortung?«
Anna W. kann dieses Argument gut nachvollziehen.
Sie hat deshalb selbst schon einmal die Pille abgesetzt. Sie
war damals 27, hatte die Pille zwölf Jahre lang genommen und
wollte ihren Körper, ihre sexuelle Lust einmal ohne diesen Einfluss
kennenlernen. Das Experiment dauerte keine zehn Monate. Den
Zyklus, den W. in dieser Zeit erlebte, beschreibt sie so: »Ich habe
gehört, wie mein Uterus mit mir spricht: ›Jetzt beginnt der Zyklus,
es ist deine Aufgabe, jetzt schwanger zu werden, du hast zwei
Wochen Zeit, um Männer kennenzulernen.‹ Ich hatte viel Energie,
ging auf Partys, fühlte mich sexy. Während des Eisprungs hatte
ich eine anstrengende Horniness, konnte mich nicht konzentrieren,
nicht schlafen. Danach sagte der Uterus: ›Jetzt kannst du sowieso
Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 63
ALLTAG UND BEZIEHUNG
nicht mehr schwanger werden, jetzt brauchst du auch das Haus
nicht mehr zu verlassen‹, und ich lag für den Rest des Zyklus nur
auf dem Sofa und fühlte mich schlecht.«
Nach einer Kondompanne während ihres Eisprungs fand sich
Anna W. in der Notaufnahme wieder, um sich die »Pille danach«
verschreiben zu lassen, und beschloss, sofort wieder mit der Pille
anzufangen. Auch dazu entschied sie sich aus einem feministischen
Motiv heraus: »Ich möchte als Mensch in dieser
Welt frei agieren und nicht mehr so extrem von der Biologie
in mir bestimmt sein. Es ist sehr einschränkend, wenn
ich zwei Wochen im Monat depressiv bin. Ich will nicht
mehr, dass dieses Organ mir sagt, dass ich schwanger werden
muss, wenn ich das selbst gar nicht will.«
Last der alleinigen Verantwortung
Anna W. kann also sowohl die Argumente für als auch gegen die
Pille nachvollziehen. »Ich habe das Gefühl, die Argumente sind
ausgewogen«, sagt sie über Gespräche mit anderen Frauen. »Ich
finde beide Argumente gleichwertig, und ich finde, dass niemand
da über die Entscheidung einer anderen urteilen sollte.
Wichtig ist, dass jede die Entscheidung informiert treffen kann.«
Das ist mitunter gar nicht so leicht. Gynäkologin Daniela
Wunderlich hat pro Patientin gerade mal eine Viertelstunde Zeit
für Beratung und Vorsorge. In dieser Zeit versucht sie, unter -
schiedliche Faktoren zu berücksichtigen, um das beste Verhütungsmittel
für die Patientin zu finden: In welcher Lebensphase befindet
sie sich, wie ist sie finanziell aufgestellt, raucht
»Jeder Körper
reagiert unterschiedlich.
Es gibt
nicht das eine
beste Verhütungsmittel
für alle.«
sie, gibt es einen festen männlichen Partner, ein
Thromboserisiko in der Familie?
Manchmal muss sie zusätzlich noch Mythen
über die Pille ausbügeln, die meist aus Internetforen
stammen. »Die Informationen, die
über die jungen Frauen hereinbrechen, brauchen
eine Einordnung«, sagt Wunderlich.
Sie nimmt bei ihren jungen Patientinnen
einen regelrechten Hype um die Ablehnung
von Hormonpräparaten wahr. Zugleich würden
sie relativ sorglos mit Zyklus-Apps umgehen,
ohne sich über die Sicherheit ihrer Daten Gedanken
zu machen – und manchmal dabei ungewollt
schwanger werden. »Es ist schick zu sagen,
Hormone will ich nicht mehr«, sagt die Gynäkologin. »Der
Trend geht in Richtung vegane, gluten freie Ernährung und Menstruationscups,
um die Umwelt zu schonen. Da passen Hormone
nicht dazu.«
Auch die Professorin Silke Satjukow sieht einen Zusammenhang
zwischen dem Trend zur Selbstoptimierung und dem an -
tagonistisch geführten Verhütungsdiskurs. Satjukow ist Historikerin
an der Universität Halle und hat die Geschichte der Ver -
hütung untersucht. Die Generation, die heute um die dreißig ist,
nennt sie die »Generation Sicherheit«. Sie sind diejenigen, die
in die zunehmende Globalisierung und Digitalisierung Anfang
der Neunzigerjahre hineingeboren wurden und deren Eltern
ihnen die Welt nicht mehr erklären konnten. Noch stärker treffe
dies auf Kinder zu, deren Eltern vor der Wende in der DDR gelebt
hätten. »Selbstoptimierung kann Sicherheit geben«, sagt Satjukow.
»Ich mache es richtig – du machst es falsch. Diese Generation ist
radikal in der Abwertung anderer, weil es ihnen Sicherheit gibt.«
Die Argumente für und gegen die Pille gibt es schon, seit sie
vor 60 Jahren in Westdeutschland auf den Markt kam, erklärt
Satjukow. Lange sei sie größtenteils als fortschrittlich wahrgenommen
worden, sie fiel zusammen mit der sexuellen
Revolution der 68er-Bewegung und bedeutete für Frauen
vor allem selbstbestimmte Sexualität und Mutterschaft. In
der Bundesrepublik sei sie auch ein Statement gegen das Esta -
blishment gewesen, so Satjukow: Junge, unverheiratete Frauen
hätten sich ihr Recht auf die Pille erst gegen große Widerstände
erkämpfen müssen. In der DDR, wo Frauen mit viel größerer
Jana Pfenning, Aktivistin
Selbstverständlichkeit berufstätig waren und Karriere machten,
sei das anders gewesen. Der Staat habe gehofft, mit der sogenannten
Wunschkindpille für Frauen die Planbarkeit und damit auch
die Geburtenrate zu erhöhen. In den Achtzigerjahren seien die
Argumente gegen die Pille stärker geworden, vor allem in der
aufkommenden Umweltbewegung. Heute fänden sie über Social
Media eine noch größere Reichweite als vorher.
Satjukow beobachtet, dass die Fronten in Freundes -
kreisen und sozialen Netzwerken zunehmend verhärten.
»Beide Seiten argumentieren mit Feminismus. Sie verkennen,
dass sie beide verlieren, wenn sie sich untereinander be -
kriegen. Wer gewinnt, sind diejenigen in den Machtpositionen.«
Damit meint sie: Gesetzgeber:innen, die Instanzen, die für Bildung
und Erziehung zuständig sind, die Minister:innen für
Familie, Soziales, Gesundheit und Arbeit auf Bundes- und Landesebene.
Sie sind es, die Satjukow in der Verantwortung sieht,
für Ver einbarkeit von Beruf und Familie zu sorgen, Forschung
an Verhütungsmitteln für den Mann voranzutreiben,
kurz: »Die Bedingungen zu schaffen, dass wir Kinder
selbstbestimmt in die Welt setzen und aufziehen können.
Kinder bekommen und behalten ist ein gesellschaftliches
Problem.«
Auch Rita Maglio und Jana Pfenning wollen sich nicht mit
Grabenkämpfen für oder gegen die Pille aufhalten. Sie haben die
Petition »Verhütung für alle besser machen!« gestartet, mit der
sie sichere, nebenwirkungsarme Verhütungsmittel für alle Geschlechter
fordern. Seitdem sie die Petition Anfang
Januar 2020 veröffentlicht haben, haben
mehr als 110 000 Menschen unterzeichnet.
»Die Idee entstand Anfang 2020 bei einem
Barabend«, erzählt Pfenning. Die 25-Jährige
arbeitete damals für eine Abgeordnete im
Europäischen Parlament, Rita Maglio, 24,
machte dort ein Praktikum. Kolleg:innen verschiedenster
Parteien gingen an dem Abend
zusammen aus, das Gespräch kam auf das Thema
Verhütung, und alle, Männer wie Frauen,
zeigten sich mit dem Status quo unzufrieden.
»Wenn Anhängerinnen aller demokratischen
Parteien dafür sind, dass es bessere Verhütungsmittel
geben muss, warum passiert dann
nichts?«, fragt Pfenning. Maglios Erklärung: Der Altersdurchschnitt
im Bundestag sei um die fünfzig, in dem Alter sei die Familienplanung
in den meisten Fällen schon abgeschlossen. In ihrer
eigenen Altersgruppe sei das Thema hingegen sehr präsent.
Viele Männer zeigten in den Kommentaren unter den Instagram-Posts
ihrer Initiative »Better Birth Control« großes Interesse
an männlichen Verhütungsmitteln. Ihre Freundinnen tauschten
sich viel untereinander aus, oft spielten dabei Ängste vor dem
Schwangerwerden, vor Nebenwirkungen und die Last der alleinigen
Verantwortung eine große Rolle, erzählt Pfenning.
»Unser Ansatz ist: Jeder Körper reagiert unterschiedlich,
jede und jeder muss frei für sich entscheiden können. Verhütung
ist individuell. Es gibt nicht das eine beste Verhütungsmittel
für alle.«
Maglio und Pfenning konnten schon die Unterstützung verschiedener
Politiker:innen gewinnen, wie beispielsweise Kevin
Kühnert (SPD) oder Ricarda Lang (Grüne). Ihre Initiative fordert
neben gleichberechtigter Verhütung, besserer Aufklärung und Forschung
an neuen Verhütungsmitteln auch eine hundertprozentige
Kostenübernahme.
An jenem Tag im Kunsthandwerkladen beschließe ich,
mich nicht dafür zu rechtfertigen, dass ich die Pille nehme. Ich
finde, ich habe ein Recht darauf, zu entscheiden, wie ich verhüte,
und dafür nicht verurteilt zu werden. Auch und erst recht nicht
von anderen Frauen. Und zwar egal, ob ich gesundheitliche Gründe
vorzuweisen habe oder ob ich ganz einfach nicht schwanger
werden will.
64 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
ALLTAG UND BEZIEHUNG
Horm-ohne
Wer lieber hormonfrei verhüten möchte, hat viele Alternativen zur Pille.
Wir stellen fünf davon vor, Katharina Rohmert,
Ärztin und Beraterin bei Pro Familia, gibt Tipps.
TEXT HELENE FLACHSENBERG
ILLUSTRATIONEN RONJA FISCHER
Kondom
WIE FUNKTIONIERT DAS? Einfach das Kondom auf
den erigierten Penis abrollen – und zwar, bevor er in
Kontakt mit der Vagina kommt.
WAS SOLLTE MAN WISSEN? Das Kondom hat einen
großen Vorteil: »Es schützt, anders als die anderen
Verhütungsmittel, auch vor Geschlechtskrankheiten«,
sagt Expertin Katharina Rohmert.
WAS KOSTET DAS? Ab circa 20 Cent pro Stück.
WIE SICHER IST DAS? Ein korrekt verwendetes Kondom
ist sicher. Der sogenannte Pearl-Index liegt bei 2,
das bedeutet: Wenn 100 Frauen ein Jahr lang Kondome
benutzen und dabei keine Fehler machen, werden im
Schnitt zwei von ihnen trotzdem schwanger.
Kupferspirale, -kette, -perlenball
WIE FUNKTIONIERT DAS? Kupfer lähmt Spermien
und verringert ihre Lebensdauer, diesen Effekt nutzen
die Präparate. Spirale, Kette oder Ball werden von Frauenärzt:innen
direkt in die Gebärmutter eingesetzt. So
wird zudem verhindert, dass sich Eizellen festsetzen.
WAS SOLLTE MAN WISSEN? Welche Form sich für
wen eigne, könne man nicht pauschal sagen, sagt Rohmert.
Bei allen Modellen können stärkere Regelblutungen
und -schmerzen auftreten.
WAS KOSTET DAS? Spiralen kosten zwischen 120
und 200 Euro und halten drei bis fünf Jahre. Kupferketten
gibt es für 300 bis 350 Euro; den Kupferperlenball
für 350 bis 500 Euro. Beide halten fünf Jahre oder
länger.
WIE SICHER IST DAS? Sehr sicher (Pearl-Index von
0,1 bis 0,9). Allerdings sollte die Lage regelmäßig überprüft
werden.
Diaphragma
WIE FUNKTIONIERT DAS? Ein Diaphragma ist eine
weiche Kappe aus Silikon, die man vor dem Sex in die
Vagina einführt. Es legt sich über den Muttermund
und verhindert, dass Spermien in die Gebärmutter gelangen.
Es kann zwei Stunden bis unmittelbar vor dem
Sex eingesetzt werden.
WAS SOLLTE MAN WISSEN? Wer ein Diaphragma
verwendet, muss in der Lage sein, den Muttermund
zu ertasten. »Das setzt voraus, dass man keine Berührungsängste
hat«, sagt Rohmert.
WAS KOSTET DAS? Auf dem Markt gibt es zwei Modelle:
eines in Einheitsgröße für etwa 30 Euro, eines
in unterschiedlichen Größen für 50 bis 75 Euro. Beide
können ein bis zwei Jahre lang verwendet werden.
WIE SICHER IST DAS? Sicher – vorausgesetzt, es
sitzt richtig. Dann wird lediglich eine von 100 An -
wenderinnen schwanger.
Symptothermale Methode
WIE FUNKTIONIERT DAS? Durch das Beobachten
von Körpertemperatur, Gebärmutterhals- oder Zervixschleim
und gegebenenfalls Muttermund werden
die fruchtbaren Tage bestimmt.
WAS SOLLTE MAN WISSEN? Diese Methode erfordert
ein bisschen Arbeit. Frauen müssen lernen, die
Symptome ihres Zyklus richtig zu erkennen, und sich
angewöhnen, immer zum gleichen Zeitpunkt ihre Temperatur
zu messen. »Für bestimmte Berufsgruppen
kommt das gar nicht infrage, eine Flugbegleiterin zum
Beispiel«, sagt Rohmert.
WAS KOSTET DAS? Zum Temperaturmessen kann
ein herkömmliches Fieberthermometer verwendet
werden. Anleitungen zur Analyse von Schleim und
Muttermund gibt es als Buch oder im Internet. Zykluscomputer
erinnern an die Messung und speisen die
Ergebnisse direkt in eine App oder ein Computer -
programm, können allerdings mehrere Hundert Euro
kosten.
WIE SICHER IST DAS? Wer mit der Methode gut
zurechtkommt, kann damit sehr sicher verhüten (Pearl-
Index von 0,4 bei fehlerfreier Anwendung). Wichtige
Voraussetzung: Es werden wirklich mehrere Körperzeichen
kombiniert. »Alle anderen Varianten, zum
Beispiel per App Tage zu zählen, kann ich seriös nicht
empfehlen«, sagt Rohmert.
Sterilisation
WIE FUNKTIONIERT DAS? Durch zwei unterschiedliche
operative Eingriffe. Bei Männern werden beide
Samenleiter durchtrennt oder abgeklemmt, bei Frauen
werden die Eileiter verschlossen.
WAS SOLLTE MAN WISSEN? Diese Methoden sind
dauerhaft und in der Regel nicht mehr rückgängig zu
machen – bei Männern allerdings noch eher als bei
Frauen. »Ich frage deshalb immer zuerst, ob vielleicht
der Partner den Eingriff übernehmen könnte, wenn
eine Frau sich für eine Sterilisation interessiert«, sagt
Rohmert.
WAS KOSTET DAS? Bei Männern etwa 300 bis 400
Euro, bei Frauen 500 bis 1000 Euro.
WIE SICHER IST DAS? Sicherer geht es kaum (0,1
bis 0,2 Pearl-Index).
Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 65
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Neustart für mich
ALLTAG UND BEZIEHUNG
Aussortiert
In der Vorlesung war die zerrissene Jeans okay, aber beim Praktikum
fühlst du dich darin unwohl? Mit dem Wechsel in die
Berufswelt verändert sich bei vielen auch der Inhalt des Kleiderschranks.
Wir helfen dir dabei, etwa Neues zu finden.
TEXT PIA SEITLER
Catharina, 27, Hamburg
»Ich bin ein großer Pinguin-Fan. Schon im Kinder -
garten war ich in der Pinguin-Gruppe, ich besitze
Pinguin-Bettwäsche und ein großes Pinguin-Stofftier
namens Charlie. Wenn ich den Pinguin-Pullover
trage, fühle ich mich wie zu Hause. Auf die Arbeit –
ich arbeite bei einer Zeitung – kann ich ihn
aber nicht anziehen. Da käme ich mir albern vor,
ich möchte ernst genommen werden.«
Antwort:
Auf diesem Pullover von Recolution (99 Euro)
aus Biobaumwolle sind zwar keine Pinguine.
Aber farblich passt du dich damit deinen Lieblingstieren
an – und musst dir nicht albern vorkommen.
Die Blockstreifen liegen im Trend!
Andrea, 28, Schwäbisch Gmünd
»Ich trage meine Mom-Jeans super gern, weil sie so bequem ist
und im Used-Look ein echter Hingucker. Gerade bewerbe ich
mich aber auf Jobs im Bereich Organisationsentwicklung und Trans -
formationsmanagement bei großen Unternehmen. Die Löcher
in der Jeans ent sprechen nicht dem Dresscode dort, weshalb ich
sie bald leider nur noch in meiner Freizeit anziehen kann.«
Antwort:
Bequem und hochgeschnitten ist auch diese Hose vom Hamburger
Modelabel Jan ’n June (circa 70 Euro im Sale). Damit wirst du
dich bestimmt gut ins neue Arbeitsumfeld einfügen. Und mit Hoodie
und Sneakern kombiniert, kannst du die Hose nach der Arbeit
problemlos anlassen.
68 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
Fotos: privat (5)
ALLTAG UND BEZIEHUNG
Rebecca, 26, Köln
»Seit ich ins Berufsleben gestartet bin, kann ich
meine heißgeliebten Schuhe von Dr. Martens
leider nicht mehr jeden Tag tragen. Ich arbeite als
Beraterin bei einer großen Versicherung und
gehe eher im Stiftrock oder Kostüm zur Arbeit. Es
sollten also schicke Schuhe sein, die dazu passen.«
Antwort:
Wie wäre es mit diesen veganen Stiefeletten von
Matt & Nat (circa 100 Euro im Sale)? Durch
den halbhohen Blockabsatz sind sie schick genug
fürs Büro – und trotzdem bequemer als Pumps.
Erwin, 27, Berlin
»Das Hemd gehörte meinem Opa.
Ich finde, ich sehe darin ein bisschen
aus wie Tom Selleck. Und ich bin
ein großer Fan von Tom Selleck. Für
die Arbeit ist es aber leider zu alt:
Ich arbeite bei einem Tech-Unternehmen.«
Antwort:
Das helle Cordhemd des nachhaltigen
Labels Eyd aus Stuttgart (100 Euro)
kannst du offen mit einem T-Shirt
darunter tragen. In Kombination mit
einer dunklen Hose wird es bürotauglich.
Benedikt, 25, Hamburg
»Ich war in Patagonien in Südamerika, und das schwarze Long-Sleeve
erinnert mich an diesen Urlaub. Bei meiner Arbeit im Eventmanagement
kann ich beinahe alles tragen. Aber für besondere Abendveranstaltungen
hätte ich gern noch eine schlichte Alternative, die etwas schicker aussieht.«
Antwort:
Mit diesem Pullover aus Biobaumwolle von Armedangels (circa 70 Euro)
bist du bereit für Abendveranstaltungen und siehst dabei nicht
overdressed aus. Rollkragenpullover feiern gerade ein Comeback
und sehen auch zu einem Anzug gut aus.
Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 69
70 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
Foto: privat
» Es war
kein Raum
da für den
Schock«
Marie Nasemann,
Model und Bestsellerautorin,
und ihr Mann Sebastian
Tigges machten ihre
Fehlgeburt öffentlich.
Hier erzählen sie,
wie unterschiedlich sie
trauerten, was das für
ihre Beziehung bedeutete –
und warum das jeden
etwas angeht.
INTERVIEW NIKE LAURENZ
Ehepaar Nasemann,
Tigges:
»Nach einigen
Monaten konnten
wir unseren Frieden
mit der Situation
machen«
ALLTAG UND BEZIEHUNG
I
n ihrer Berliner Maisonettewohnung setzen
wir uns ins Wohnzimmer, an den runden Tisch,
der schon häufiger auf Marie Nasemanns Instagramprofil
zu sehen war. Auf der Plattform
folgen ihr fast 200 000 Menschen, mehr als
2400 Posts gewähren Einblicke in ihr Leben. Auf der
karierten Tischdecke liegen ein paar Krümel, wahrscheinlich
vom Frühstück, Nasemann trägt Ringel -
socken, es gibt Kaffee. Sie und ihr Mann Sebastian
Tigges haben etwas erlebt, was in der Medizin als natürlich
gilt, was das Paar aber trotzdem völlig unvorbereitet
traf: eine Fehlgeburt. Als die beiden ein Jahr
zusammen waren, im Jahr 2018, wurde Marie Nasemann
schwanger – verlor das Ungeborene jedoch zwischen
der sechsten und achten Woche. Einige Zeit später
erzählte sie auf Instagram und ihrem Blog von diesem
Moment, dann auch in einer ihrer Podcast-Folgen.
SPIEGEL: Frau Nasemann, Herr Tigges, Sie
haben sich entschlossen, öffentlich über die
Fehlgeburt zu sprechen, die Sie beide vor
einiger Zeit erlebt haben. Haben Sie diese
Entscheidung je bereut?
NASEMANN: Nein. Nachdem ich auf Instagram
und meinem Blog darüber geschrieben hatte, dass ich
eine Fehlgeburt hatte und wie es uns damit ging, bekam
ich unzählige Nachrichten von Frauen, die schrieben,
dass ihnen dasselbe passiert sei – sie sich bisher
aber nicht getraut hätten, mit mehr Menschen als
ihrem Partner darüber zu sprechen. Viele schrieben,
sie hätten durch mich den Mut gefunden, sich
Freund:innen oder Familienangehörigen anzuvertrauen
oder professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Einige
waren überrascht, dass auch Männer leiden, dass
eine Fehlgeburt kein reines Frauenthema ist und auch
nichts, wonach der Alltag locker weitergeht.
TIGGES: Ich bereue das auch nicht. Ich stand
durch die Beiträge zwar plötzlich in der Öffentlichkeit,
aber darüber haben Marie und ich vorher sehr lange
gesprochen. Das Thema muss in der Gesellschaft gesehen
werden, es darf kein Tabuthema bleiben, was
es aus meiner Sicht noch ist.
Als eine Fehlgeburt gilt der Verlust eines höchstens
500 Gramm schweren Ungeborenen bis zur 24. Schwangerschaftswoche.
Geschätzt eine von zehn Schwangeren
hat eine Fehlgeburt – das Risiko ist am Anfang der
Schwangerschaft besonders hoch. Die Zahl erscheint
hoch, doch in den allermeisten Fällen passiert die Fehlgeburt
so früh, dass die Schwangerschaft selbst noch
gar nicht bemerkt wurde. In den anderen Fällen stellen
Expert:innen immer wieder fest, dass über diesen gewöhnlichen
Vorgang der Natur in der Gesellschaft nur
wenig gesprochen wird. Gründe dafür gibt es viele:
überforderte Freund:innen und Verwandte, die die
Trauer nicht verstehen, trauernde Paare, die nicht
wissen, wie sie den Verlust verarbeiten sollen – weil
die Komplikationen und die Schuldzuweisungen häufig
nah beieinanderliegen.
SPIEGEL: Wie haben Sie diesen Moment in
Ihrem Leben wahrgenommen?
TIGGES: Wir erfuhren es während einer Ultraschalluntersuchung.
Die Ärztin hat es uns gesagt und
uns dann sehr schnell fachlich aufgeklärt. Während
Marie und ich sprachlos waren, sprach die Ärztin schon
von den nächsten Schritten. Bei uns kamen nur Wortfetzen
an: »passiert sehr häufig«, »natürliche Fehl -
Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 71
ALLTAG UND BEZIEHUNG
MARIE NASEMANN UND
SEBASTIAN TIGGES
Sie, Jahrgang 1989, ist Model, Schauspielerin (unter anderem »Bella
Germania«) und Buchautorin (»Fairknallt – Mein grüner Kompromiss«).
Sie bezeichnet sich selbst als »Sinnfluencerin«, auf Instagram
und in ihrem Blog Fairknallt.de setzt sich Nasemann mit den Produktionsbedingungen
in der Textilbranche auseinander und bewirbt nachhaltige
Mode. Bekannt wurde sie durch ihre Teilnahme bei »Germany’s
Next Topmodel« im Jahr 2009.
Er, Jahrgang 1984, ist Anwalt und Gründer. Er stand nicht in der Öffentlichkeit
– bis Nasemann und Tigges ihren Podcast »Drei ist ’ne
Party« veröffentlichten. Darin sprechen die beiden über ihre Beziehung
und das Leben als Familie: Im vergangenen Jahr bekamen sie
einen Sohn.
geburt beschleunigen«, »klinische Ausschabung«. Es
drang nichts durch.
NASEMANN: Ich war sehr überrumpelt und
hatte nicht damit gerechnet, dass mich so ein Schicksal
treffen könnte. Ich fühlte mich jung, gesund, vital und
dachte, Fehlgeburten passieren eher bei Risikoschwangerschaften
oder bei Frauen ab 35. Die Ärztin gab mir
dann noch eine Packung Tabletten, die die natürliche
Fehlgeburt durch Wehen einleiten sollten. Kurz danach
standen wir wieder auf der Straße. Es war kein Raum
da für den Schock. Auf dem Ultraschallbild war nichts
mehr zu sehen, gleichzeitig bekam ich die Information,
dass da aber noch etwas in mir drin sei und dass das
schnell rausmüsse.
TIGGES: Die Ärztin hatte uns auch nicht gesagt,
dass Frauen in dieser Situation eine Hebamme zusteht,
die die natürliche Fehlgeburt begleitet. Eine Seelsorgenummer
bekamen wir auch nicht. Wir hatten das
Gefühl, dass wir allein zurechtkommen müssen.
SPIEGEL: Wie ging es für Sie nach dem
Termin bei der Frauenärztin weiter?
NASEMANN: Ich vertraute mich engen
Freund:innen und meiner Familie an. Ich wollte aber
gleichzeitig auch niemanden runterziehen und Freundinnen,
die selbst gerade mit der Familienplanung
angefangen hatten, keine Angst machen. Ich fühlte
mich sehr allein. Währenddessen zeigten die Tabletten
zur Herbeiführung der Wehen keine Wirkung. Nach
einer Woche bekam ich eine Ausschabung, unter Vollnarkose.
Bei einer Ausschabung wird die Schleimhaut der Gebärmutter
entfernt. Nach Fehlgeburten lässt sich so sicherstellen,
dass keine Gewebereste in der Gebärmutter
zurückbleiben. Die Schleimhaut kann sich nach dem
Eingriff wieder aufbauen und der natürliche Zyklus
wieder einsetzen. Eine Ausschabung gilt unter Me -
diziner:innen als Routineeingriff – viele Frauen empfinden
anders.
SPIEGEL: War Ihnen bewusst, dass eine
Fehlgeburt – gerade in den ersten
Schwangerschaftswochen – tatsächlich
sehr häufig passiert?
TIGGES: Klar, wir wussten schon: Das kann
passieren. Aber es war für uns sehr abstrakt. Wir dachten:
Eine Fehlgeburt zu haben ist so unwahrscheinlich,
wie eine seltene Krankheit zu bekommen. Man könnte
jetzt sagen: Es liegt an uns, dass wir uns nicht schon
beim po sitiven Schwangerschaftstest eingelesen haben,
uns mit einer möglichen Fehlgeburt auseinandergesetzt
haben.
NASEMANN: Aber wieso in etwas einlesen,
von dem man denkt, es sei extrem selten? Uns hat nie
jemand darauf angesprochen, auch unsere Frauenärztin
nicht. Wie häufig Fehlgeburten vorkommen, wurde
mir erst bewusst, als ich später googelte und unendlich
viele Foren fand, in denen Frauen anonym von ihren
Fehlgeburten erzählen. Auch deswegen wollte ich mit
meiner Geschichte an die Öffentlichkeit gehen, um
mich und andere von diesem vermeintlichen Stigma
zu befreien.
SPIEGEL: Von welchem Stigma sprechen
Sie?
NASEMANN: Eine Fehlgeburt wird gesellschaftlich
nicht als etwas Natürliches behandelt, das
zum Kinderkriegen genauso dazugehört wie eine
Schwangerschaft oder eine Geburt. Ich möchte, dass
lockerer darüber gesprochen wird. Und so traurig die
Erfahrung sein kann: Eine Frau, die eine Fehlgeburt
erlebt hat, ist kein Opfer, das nur noch mit Samthandschuhen
angefasst werden darf.
Ich wollte in dieser Situation Trost, klar, aber ich
wollte trotzdem weiterhin zum Kreis der werdenden
Eltern dazugehören. Die Fehlgeburt aber stand in vielen
Momenten wie ein großer Elefant im Raum, man
lavierte um das Thema herum, schwieg es tot. Erst
Monate später begriff ich, wie gut es mir tat, das Thema
in normale Gespräche miteinzubinden. Leider gehen
viele Menschen davon aus, dass eine Frau, die
eine Fehlgeburt erlebt hat, etwas falsch gemacht hat,
nicht gesund ist oder sich nicht an bestimmte »Schwangerschaftsregeln«
gehalten hat. Das ist fatal, hier fehlt
es an Aufklärungsarbeit.
SPIEGEL: Wie ging es Ihnen in den ersten
Wochen danach?
TIGGES: Wir erzählten nur den sehr wenigen
engen Freund:innen und Familienangehörigen, die
schon von der Schwangerschaft wussten, von der Fehlgeburt.
Die meisten nahmen Anteil, boten ihre Hilfe
an. Von einigen erfuhren wir, dass sie auch mal eine
Fehlgeburt erlebt hatten. Wir waren erstaunt, wie
viele Geschichten wir im Nachhinein zu dem Thema
hörten. Da merkten wir: Es hätte uns in der gemeinsamen
Verarbeitung sehr geholfen, wenn wir vorher
schon mit dem Thema in Berührung gekommen
wären.
NASEMANN: Ich empfand vieles, was Leute
im Nachgang zu mir sagten, als verletzend: »Das war
doch nur ein Zellhaufen«, »das war doch kein richtiges
Kind«, »beim nächsten Mal klappt’s schon«. Jemand
meinte, unsere Indienreise in den ersten Wochen der
Schwangerschaft sei vielleicht etwas sehr stressig gewesen.
Die Kiste in meinem Kopf, in der sich mein
schlechtes Gewissen befindet, öffnete sich kurz. Ich
habe sie aber gleich wieder bewusst geschlossen. Damit
wollte ich gar nicht erst anfangen.
Die Gründe für Fehlgeburten sind vielfältig, die Ursache
lässt sich häufig nicht klären. Risiko faktoren sind Fehlbildungen
des Embryos oder der Gebärmutter, Chromosomenauffälligkeiten,
hormonelle Störungen oder
Autoimmunerkrankungen. Forscher:innen vermuten
72 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
ALLTAG UND BEZIEHUNG
außerdem seit längerer Zeit, dass auch die Qualität der Spermien
mitverantwortlich für eine Fehlgeburt sein kann.
SPIEGEL: Was hat diese Zeit mit Ihrer Beziehung
gemacht?
TIGGES: Wir haben dieses Erlebnis anfangs sehr unterschiedlich
verarbeitet, gingen auf unsere ganz eigene Weise mit
der Trauer um. Mich hatte die Fehlgeburt genau wie Marie sehr
getroffen. Ich ging aber, anders als sie, sehr schnell wieder arbeiten.
Während ich viel im Büro war, dort Ablenkung suchte, war Marie
viel allein zu Hause.
NASEMANN: Ich habe immer wieder gedacht: Ich weiß,
dass ich kein vollendetes Kind im Bauch gehabt hatte. Aber ich
trauerte um eine gemeinsame Idee, die wir als Paar hatten. Um
zerstörte Euphorie. Ich wollte Verständnis, Nähe und ganz viel
reden.
TIGGES: Wir redeten aber ziemlich wenig. Wir waren in
einer Krise, stritten uns über Monate hinweg.
NACH DER
NATUR
SPIEGEL: Machen Sie sich gegenseitig Vorwürfe: er, der
sich zu wenig gekümmert hat, sie, die ewig kein
anderes Thema kannte?
NASEMANN: Damals ja, jetzt nicht mehr. Wir haben nach
einigen Monaten verstanden, dass jeder Mensch ein solches Erlebnis
in seinem eigenen Tempo verarbeitet.
TIGGES: Ich mache ihr keine Vorwürfe, aber vielleicht
mir. Ich finde es heute schwach und albern von mir, dass ich mir
nicht einfach länger freigenommen habe, als ich merkte, wie sehr
Marie trauert. Sie lag weinend auf dem Sofa, ich ging ins Büro.
Ich wusste, man bekommt gesetzlich frei, wenn man einen nahen
Angehörigen bestattet. Aber wie ist es, wenn man aufgrund einer
Fehlgeburt trauert? Da gibt es keine Regelung. Die aber hätte
mir geholfen, mir das zu nehmen, was ich vielleicht gebraucht
hätte.
SPIEGEL: Wie haben Sie sich nach dieser
Grenzerfahrung wieder berappelt – als Paar?
NASEMANN: Nach einigen Monaten konnten wir unseren
Frieden mit der Situation machen. Dabei half uns eine kleine Abschiedszeremonie
an einem schönen See in der Natur. Ich habe
zwei Therapiestunden gemacht, um damit klarzukommen, dass
Freundinnen von mir Babys bekamen und schwanger waren, während
ich noch mit meinem Verlust beschäftigt war. Gleichzeitig
wollte ich es selbst schnell wieder versuchen.
TIGGES: Ich brauchte etwas mehr Zeit, bis ich wieder bereit
dazu war, einen neuen Anlauf zu starten. Warum das so war und
woher der Wandel dann kam, weiß ich nicht genau, aber die Zeit
war nötig, damit verheilen konnte, was mit uns und in unserer
Beziehung passiert war.
SPIEGEL: Inzwischen sind Sie Eltern. Welche Rolle
spielt die Fehlgeburt heute noch in Ihrem Alltag?
NASEMANN: Wenn ich in einem Film eine Fehlgeburt
sehe oder eine meiner Freundinnen eine hat, dann fühle ich sehr
stark mit, und ich merke, wie auch meine Trauer über meine Fehlgeburt
wieder hochkommt. Ich habe gelernt zu akzeptieren, dass
sie da ist und da sein darf. Und dass es zum Glücklichsein dazu -
gehört, auch mal traurig und melancholisch zu sein.
TIGGES: Wenn wir so darüber reden, dieses Interview führen,
dann merke ich schon, dass es nicht mehr viel braucht, und
ich fange an zu weinen. Nicht, weil ich an die Fehlgeburt an sich
denke, sondern daran, wie traurig diese Zeit für unsere Beziehung
war. Heute wüssten wir, wie wir besser damit umgehen könnten:
viel mehr reden, professionelle Hilfe dazuholen, sich Raum nehmen
und Platz lassen für die Trauer. Trotzdem hat uns die Fehl -
geburt reifen lassen. Wenn sie nicht passiert wäre, wären wir heute
vielleicht unbekümmerter, aber dafür wüssten wir nicht, was wir
als Paar zusammen durchstehen können.
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Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 73
ALLTAG UND BEZIEHUNG
DIE GRÜNE WELLE
Einst trutschig, heute hip: In Deutschlands Wohnzimmern blüht und gedeiht es
– und im Internet regnet es Herzchen für in Szene gesetzte
Zimmerpflanzen. Woher kommt die Sehnsucht nach mehr Natur zu Hause?
Und wie nachhaltig ist der Trend?
TEXT SOFIE CZILWIK UND CHRISTINA SPITZMÜLLER
FOTOS TAMARA ECKHARDT
Das Berliner
Geschäft »The Bota -
nical Room« bietet
ausgefallene Pflanzen,
die zugleich
als Designobjekte
fungieren können.
I
m Berliner Szenebezirk Kreuzberg, zwischen Bio-Supermarkt
und veganem Schuhladen, lässt Hanni Schermaul
um die Mittagszeit die Rollläden ihrer Boutique hoch. Im
Schaufenster werden keine Kleider oder Handtaschen ausgestellt,
sondern Pflanzen in allen möglichen Farben und Formen:
30 Jahre alte, dicke Kakteen und filigrane, langblättrige Grünpflanzen,
die an durchsichtigen Fäden am Fenster baumeln. Schermaul
bezeichnet ihren Pflanzenladen »The Botanical Room« als
Boutique, weil hier keine gewöhnlichen Gummibäume über die
Ladentheke wandern. Jede Pflanze ist ein Unikat, und jede findet
hier ihren passenden Topf.
Das einzige Kriterium für die Auswahl des Sortiments: Die
Pflanzen müssen Schermaul gefallen. »Wie eine lebendige Skulptur«
erfüllen Pflanzen Räume mit Leben, so empfindet sie es. Die
Pflanzen in ihrer Boutique sind Teil eines urbanen Lifestyles. Zum
modischen Kleidungsstil und der ausgefallenen Frisur kommt nun
das passende Grün. Und das Geschäft mit den Zimmerpflanzen
läuft gut: Allein in Deutschland wurden 2020 für 1,6 Milliarden
Euro Pflanzen verkauft. Jahrelang war das Niveau einigermaßen
stabil, aber vor allem in den vergangenen zwei Jahren sind die
Umsätze deutlich gestiegen. Auch der Marktanteil stieg im vergangenen
Jahr um sechs Prozent.
Patricia Rahemipour beobachtet den Trend zur Zimmerpflanze
schon länger. Sie ist Direktorin des Instituts für Museums -
forschung und kuratierte 2019 im Botanischen Garten in Berlin
eine Ausstellung: »Geliebt, gegossen, vergessen: Phänomen
Zimmerpflanze«. Wie erklärt sie sich den Hype? »Pflanzen sind
nicht nur schön, sie werden auch zum Designobjekt. Für mich war
das auffällig, als ich das erste Mal gesehen habe, dass es Blumentöpfe
gibt, die umgekehrt an der Decke montiert werden. Die
Zimmerpflanze wächst dann nicht nach oben, sondern nach unten
heraus.«
Bleibt die Pflanze da überhaupt noch Pflanze? Es gehe oft
nur noch darum, sagt Rahemipour, wie sie aussieht. »Das Bedürfnis
nach Individualisierung ist zurzeit groß, gleichzeitig machen
alle das Gleiche.« Sehe man bei seinem Freund eine besondere
Monstera-Variante, kaufe man sich selbst eine noch ausgefallenere
Variante. »Das ist dann auf der Ebene: mein Auto, mein Haus,
mein Schiff.« Oder eben: meine Altbauwohnung, mein Rennrad,
meine Zimmerpflanze. Auf Instagram, dem passenden Medium
74 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
zur Selbstinszenierung, posieren auf Hunderttausenden
Kanälen Pflanzenfans auf der ganzen Welt mit
ihrem liebsten Grün. Je außergewöhnlicher die Pflanze,
desto mehr Likes, desto größer die Reichweite. Unter
Hashtags wie »Plantlover« oder »Plants of Instagram«
laden User:innen Millionen Fotos hoch. Sogenannte
Plantfluencer:innen stellen – oft in Kooperation mit
Unternehmen – die neuesten Must-haves vor: beispielsweise
Mini-Gewächshäuser, damit auch Pflanzen,
die es feucht mögen, bei trockener Heizungsluft überleben.
Der Onlinehype beeinflusst auch das Angebot
von Pflanzenläden und in den Pflanzenabteilungen
großer Baumärkte, beobachtet Hanni Schermaul. Hatte
sie früher noch Schwierigkeiten, Calatheen zu
bekommen oder Amaranten, veränderte sich das in
den letzten drei Jahren stark: »Ich merke, dass auch
die großen Pflanzencenter sich auf Instagram um -
schauen.«
STIL FÜR DIE BREITE MASSE
Die Zimmerpflanze als extravaganter Einrichtungs -
gegenstand. Seit wann ist die Pflanze überhaupt domestiziert?
Rahemipour sagt, dass die heutigen Zimmerpflanzen
früher ein Luxusgut gewesen seien. »Es
konnte sich ja niemand wirklich Pflanzen aus südlichen
Gefilden leisten.« Dazu brauchte man Gewächshäuser,
zum Teil sogar beheizt, und das entsprechende Wissen
zur Vermehrung und Pflege. Ganz ursprünglich, als
die Häuser noch nicht hell genug waren, stellten sich
die Bewohner:innen Kräuter vor die Tür, aber vor allem,
um unangenehme Gerüche zu übertünchen. Die
breitere Masse erreichten größere Pflanzen erst mit
beheiz baren Räumen und schließlich den Blumenfenstern,
auf denen auch Blumentöpfe Platz finden. »Die
Architektur hat sich gewandelt und zum Teil an die
neuen Bedürfnisse angepasst«, sagt Rahemipour.
Heute kommen die Pflanzen in deutschen Wohnzimmern
oft aus den Niederlanden. Acht Autostunden
von Berlin entfernt, in der Nähe von Den Haag, liegt
das Westland. Hier reiht sich Glasdach an Glasdach.
Die Region gilt in den Niederlanden als größtes Anbau -
gebiet für alles, was im Gewächshaus gedeiht. Hier
wachsen Tomaten, Paprika, aber auch Schnittblumen
und Zierpflanzen. Bei Esperit Plants, einer Großzüchterei
für Zimmerpflanzen, werden nach eigenen Angaben
jährlich bis zu 14 Millionen Pflanzen produziert
und in ganz Europa verkauft. Das Geschäftsmodell:
stilvolle Pflanzen für die breite Masse.
Yoram Westhoff kümmert sich um Marketing und
Verkauf der Jungpflanzen. Er führt in einen Raum, so
groß wie eine Sporthalle. Hier betritt man ein Stück
künstlichen Regenwald, 24 Grad, hohe Luftfeuchtigkeit
– ideale Bedingungen für Pflanzen wie Calatheen oder
Begonien, die ursprünglich aus Südamerika stammen.
Die »special plants« stehen hier, erklärt Yoram Westhoff
– Exemplare, von denen das Unternehmen nur
zwei oder drei pro Sorte hat. »Sie kommen aus der
ganzen Welt, gefunden haben wir sie im Internet. Diese
Pflanzen vermehren wir in unserem Labor oder
nehmen Ableger, wenn sie groß genug sind.« Sind genügend
Jungpflanzen herangezüchtet, gehen sie in den
Verkauf.
Die Niederlande zählen auf dem internationalen
Blumen- und Pflanzenmarkt zu den Big Playern. Die
industrielle Fertigung ist global vernetzt, für den Endkunden
aber wenig transparent. Möchten Verbraucher:innen
sich für eine ökologisch und gerecht produzierte
Pflanze entscheiden, ist das so gut wie unmöglich:
Für Zimmerpflanzen gibt nur wenige Biooder
Fairtrade-Siegel für die Kund:innen.
Was es gibt, sind Siegel, die den Unternehmen
anzeigen, ob in ihrer Wertschöpfungskette bestimmte
Standards eingehalten werden. Esperit Plants aus dem
Westland trägt zum Beispiel das niederländische MPS-
Siegel und hat sogar die zweitbeste Bewertung. Die
Ladenkund:innen bekommen davon aber nichts mit,
gibt Yoram Westhoff zu. Das Siegel sei nirgends auf
der Pflanze zu finden. »Die Nachhaltigkeits-Label interessieren
nur die Hersteller und Exporteure. Ohne
Siegel keine Abnehmer. Den Endkunden sind sie egal«,
so Westhoff.
Die Branche hält sich seiner Einschätzung nach
also an bestimmte Öko- und Fairness-Standards. Wer
gegen die Regeln verstößt, fliegt raus. Aber das heißt
noch lange nicht, dass Zimmerpflanzen auch nachhaltig
produziert werden. Denn die Standards sind nicht
unbedingt hoch. Beispiel: Torf. Er ist in der Regel in
Blumenerde enthalten und kommt vor allem in der
Aufzucht großflächig zum Einsatz. Dabei wird Torf
aus Mooren gewonnen. Beim Abbau werden diese
Ökosysteme mit vielen seltenen Tier- und Pflanzenarten
zerstört, moniert die Naturschutzorganisation
Auch bei Pflanzen
gibt es Moden und
Must-Haves:
Korbmaranten wie
diese sind auf
Instagram so populär
geworden, dass
sogar Baumärkte
sie anbieten.
Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 75
ALLTAG UND BEZIEHUNG
Im »Botanical
Room« gibt es zu
jedem verkauften
Exemplar einen
Steckbrief.
76 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
ALLTAG UND BEZIEHUNG
Esperit, ein niederländischer
Zimmerpflanzen-Großzüchter,
achtet auf
Nachhaltigkeit –
die Endabneh -
mer:innen erfahren
davon aber nichts.
BUND. Vor allem aber speichert Torf Kohlenstoff, und beim Abbau
stößt er das klimaschädliche CO 2 aus.
Auch bei Esperit aus Holland wird Torf verwendet – er ist
fester Bestandteil der für das Unternehmen speziell angefertigten
Pflanzenerde. Sowohl in der EU als auch in Deutschland sucht
man vergebens nach Beschränkungen beim Torfverkauf. Aus der
Industrie ist er nicht wegzudenken, beim Privatgebrauch wird
an das Gewissen der Verbraucher appelliert. Aber: Wer eine
Zimmerpflanze kaufen will, muss davon ausgehen, dass Torf im
Topf ist.
PFLANZEN ALS STÜCK HEIMAT
Seit Ende 2019 soll ein EU-weiter »Pflanzenpass« mehr Klarheit
bringen – aber auch der macht den Weg der Pflanze nicht wirklich
nachvollziehbar. Vielmehr geht es um Importbestimmung zur
Vermeidung von Einschleppung von Schädlingen. Nur die letzte
Station der Aufzucht muss in dem Pass angegeben werden. Echte
Transparenz? Fehlanzeige.
Dem Hype tut das keinen Abbruch. Esperit bedient die steigende
Nachfrage nach trendigen Pflanzen. Auf der Suche nach
dem nächsten großen Verkaufsschlager ist kein Weg zu weit. »Wir
sind in Kontakt mit bestimmten Leuten, meistens aus Asien, Afrika
oder Südamerika«, erklärt Yoram Westhoff. »Sie suchen in ihren
Regionen nach neuen Pflanzen, die sie an uns verkaufen können.
Es sind sozusagen Pflanzenjäger, Plant-Hunters, weil sie immer
auf der Jagd nach Pflanzen sind.«
Aber auch auf der Farm in den Niederlanden werden neue
Trends produziert. Sobald eine Pflanze anders wächst, aus der
Masse heraussticht, eine andere Farbe annimmt, züchten die Gärtnerinnen
und Gärtner von Esperit Plants mehrere Jungpflanzen
aus dieser Abweichlerin. Das dauert in der Regel zwei bis fünf
Jahre.
Eine Investition, die sich lohne, meint Yoram Westhoff. Er
zeigt auf eine Ansammlung von hüfthohen Gewächsen mit riesigen
Foto: Christina Spitzmüller / DER SPIEGEL
grünen Blättern und einem schwarzen Stiel. Alocasia Black Sabrina
heißt die Neuschöpfung – Alocasias haben eigentlich einen grünen
Stiel. Eine aber wuchs mit einem schwarzen. »Das ist das Außergewöhnlichste,
was wir in den letzten Jahren gefunden haben.«
Ein Fehler der Natur, sagt er. »Aber ein schöner Fehler.« Die Alocasia
Black Sabrina wird mittlerweile hundertfach produziert und
verkauft.
Stehen die Pflanzen dann erst mal in den Wohnungen, muss
sich der Mensch kümmern. Gibt es neben ihrem Designwert auch
noch eine emotionale Mensch-Pflanzen-Verbindung? Rahemipour
glaubt, dass Pflanzen für viele ein Stück Heimat seien. »Es ist
etwas anderes, ob ich etwas Lebendiges oder einen geerbten
Schrank von Wohnung zu Wohnung umziehe. Ich habe zum Beispiel,
als ich vor vielen Jahren von zu Hause ausgezogen bin, einen
Pfennigbaum von meiner Mama geschenkt bekommen. Mittlerweile
gibt es diesen Pfennigbaum in Hunderten Setzlingen. Aber
der ursprüngliche Pfennigbaum ist ein ganz wichtiger Teil meines
Lebens, und der darf nicht sterben.«
In der Botanik gebe es ein interessantes Konzept, das sich
»plant blindness« nennt, so die Kulturwissenschaftlerin. Das könne
man sich so vorstellen wie das Salz im Essen. »Ist es drin, fällt es
nicht weiter auf, ist es aber nicht drin, fehlt es.« Bei Pflanzen sei
das genauso. Die Leute sind von Grün umgeben, und sie sehen,
dass das Ambiente stimmig ist. Aber sie verstehen nicht so richtig,
warum.
Die Zimmerpflanze als Lebensbegleiterin also, zu der Menschen
eine Beziehung aufbauen und ohne die eine Leerstelle bleibt.
Für Hanni Schermaul aus Berlin-Kreuzberg sind die stilvollen
Pflanzen in erster Linie ein Geschäft. Dass sie in gute Hände geraten,
ist ihr trotzdem wichtig, sagt sie. Jeder Kunde, jede Kundin
bekomme mit den gekauften Pflanzen einen Steckbrief, auf dem
steht, wie oft sie gegossen werden darf und wie viel Licht sie
braucht. Ein Raum ohne Pflanze, sagt Hanni Schermaul, sei kein
vollständig eingerichteter Raum.
Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 77
KOLUMNE: KOCHEN OHNE KOHLE
Gnocchi für
75 Cent
Am Ende des Geldes noch zu viel Monat
übrig? In unserer Kolumne zeigen
wir leckere Rezepte für knappe Budgets.
Dieses Mal gibt’s zwar eine Riesensauerei –
doch die lohnt sich.
TEXT UND FOTO SEBASTIAN MAAS
A
m Ende meines Studiums hatte ich vor allem eines gelernt:
die zweite Hälfte des Monats ohne Vitamine und
Mineralien auszukommen und mich lediglich von Kohlenhydraten
zu ernähren. Schnell zwei Pfandflaschen
hinter dem Sofa hervorgekramt und im Supermarkt
gegen 500 Gramm Pasta getauscht, fertig.
Auch wenn ich heute gern Berge von Gemüse
esse: Manchmal brauche ich eine gute
Ladung Kohlenhydrate, das schulde ich dem
Studierenden in mir. Gut also, dass in diesem
Gnocchi-Rezept mit Kartoffeln und
Mehl gleich zwei Sorten Carbs enthalten
sind. Dazu noch etwas Fett, Zeit – und eine
verdreckte Küche, die gern jemand anderes
sauber machen darf.
Traditionell würde man Gnocchi (ich
musste 34 werden, um zu begreifen, dass das
einfach »Nocken« auf Italienisch heißt) mit Butter
und Salbei servieren. Weil ich keinen Salbei mag
– und es beim Discounter um die Ecke keinen gab –,
habe ich das Rezept leicht abgewandelt: Zu den selbst gemachten
Gnocchi gibt es Datteltomaten, Rucola und Knoblauch. So
bleibt man farblich auch näher an der italienischen Flagge.
Was braucht man für vier Portionen?
‣ ein Kilogramm (mehlig kochende!) Kartoffeln,
‣ 250 Gramm Mehl, idealerweise Weizen oder Dinkel,
‣ ein Ei – wer es vegan halten will, nimmt 100 Gramm
Mehl mehr,
‣ zwei großzügige Esslöffel Butter oder Margarine,
‣ je eine große Prise Salz, Pfeffer und Muskatnuss.
Was gibt es heute dazu?
‣ 200 Gramm Kirschtomaten,
‣ zwei Handvoll Rucola,
‣ zwei Knoblauchzehen.
Was kostet das?
Wer wie ich beim Discounter einkauft, zahlt für das ganze Rezept
etwa 3 Euro, also 75 Cent pro Portion.
Wie lange dauert es?
Alles in allem etwa eine Stunde – wobei man die Hälfte der Zeit
damit verbringt, den Kartoffeln beim Kochen zuzusehen.
Wie geht das?
Die Kartoffeln in der Schale für 20 bis 25 Minuten in kochendem
Salzwasser garen. Nach der Garprobe (flutscht die Kartoffel vom
Messer?) gründlich abgießen und ohne Deckel zehn Minuten auf
dem ausgeschalteten Herd stehen lassen, damit die restliche Flüssigkeit
aus dem Topf und von den Kartoffeln verdampft. Dann
erst die Kartoffeln pellen und in eine Schale geben.
Küchenchefinnen und süddeutsche Hausmänner würden nun
eine Kartoffelpresse zur Hand nehmen. Da ich keine habe, muss
etwas herhalten, das man in so gut wie jeder U30-WG findet: der
Caipirinha-Stößel aus der Besteckschublade. Zur Not tut es auch
eine Gabel. Damit verdient man sich jetzt die Kohlehydrate, denn
die Kartoffeln müssen gestampft werden. So fein, wie es nur geht.
Hier profitiert, wer mehlig kochende Kartoffeln gekauft hat und
nicht vorwiegend festkochende wie gewisse SPIEGEL-Redakteure
(ich) – die matschen nämlich nur halb so gut. Wer Motivation
braucht, denkt an Ex-US-Präsidenten, wütend hält man länger
durch.
Sind die gegarten Kartoffeln Matsch? Gut. Dann kommt
Sauerei Nummer eins: das Mehl sowie Salz, Pfeffer, Muskatnuss
und das (optionale) Ei zu den Kartoffeln in die Schüssel geben
und alles mit den Händen zu einem möglichst glatten Teig verkneten.
Wenn er zu sehr an den Fingern klebt, noch mehr Mehl
dazugeben. Irgendwann fühlt sich das Ganze wie ein festes Kissen
an. Jetzt den Teig in vier Teile teilen.
Nun kommt Sauerei Nummer zwei: dazu die Arbeitsfläche
mit reichlich Mehl bestäuben und die Teigstücke zu etwa
fingerdicken Würsten ausrollen. Später werden die
Gnocchi im Wasser aufgehen, es lohnt sich daher,
wirklich dünne Rollen zu formen. Diese in zwei
bis drei Zentimeter breite Stücke schneiden
und mit einer Gabel leicht eindrücken.
Der benutzte Topf bekommt jetzt
seinen zweiten Einsatz: erneut Salzwasser
zum Kochen bringen und die Gnocchi für
wenige Minuten hineingeben. Am besten
in kleineren Portionen, je etwa ein Viertel
der Gnocchi auf einmal. Schließlich wollen
sie an die Wasseroberfläche, wenn sie gar
sind. Die fertigen Exemplare mit einer Schöpfkelle
oder einem Löffel herausfischen und kurz
auf einem Backblech lagern, bis der Rest fertig ist.
Nun könnte man die Gnocchi schon essen, sie haben
dann etwas von Kartoffelknödeln. Grandios werden sie
aber erst, wenn man eine Pfanne herausholt, eine obszöne Menge
Butter oder Margarine hineinwirft und die Nocken goldbraun anbrät.
Regelmäßig wenden, damit nichts anbrennt!
Während die Gnocchi in der Pfanne sind, die Kirschtomaten
schräg halbieren, den Rucola waschen, den Knoblauch in feine
Scheiben schneiden. Haben die Kartoffelfreunde die gewünschte
Bräunung erreicht, kommen für 30 Sekunden die eben vorbereiteten
Zutaten zu ihnen in die Pfanne. Zweimal durchschwenken
und sofort ab auf den Teller.
Mit dem Basisrezept lassen sich, abhängig von Budget und
Vorratsschrank, auch andere Varianten zaubern. Wer ein Date
hat und mächtig Eindruck schinden will, ersetzt Knoblauch und
Tomaten durch die fein geriebene Zeste einer unbehandelten Biozitrone
und gibt deren Zaft (hihi) kurz vor dem Servieren mit
etwas Parmesan zu den Gnocchi in die Pfanne. Das wirkt extrem
raffiniert – und man vermeidet den Drachenatem. Doch selbst
mit bescheidenem Basilikum oder gar getrockneten Kräutern der
Provence sind die gebratenen Gnocchi ein Hit.
TIPP
Wer allein lebt oder nicht so viel Hunger hat, kann den veganen
Teig ohne Probleme für ein paar Tage im Kühlschrank
lagern, ebenso die vorbereiteten Gnocchi. Idealerweise bestäubt
man sie dafür mit etwas Mehl oder Grieß, damit sie
nicht aneinanderkleben.
78 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
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BEIM IDEENWETTBEWERB 2021
GUTE IDEEN FÜR STARKE FAMILIEN!
Job, Kinder, Haushalt und dann noch die Corona- Pandemie – nicht alle Eltern können die
Belastungen tragen. Für den Social Design Award von SPIEGEL WISSEN werden deshalb Projekte
gesucht, die Familien stärken.
Aus zahlreichen Wettbewerbsbeiträgen hat eine Jury nun die besten ausgesucht. Und jetzt sind
Sie an der Reihe: Wählen Sie Ihren Lieblingsvorschlag aus der Shortlist, und stimmen Sie bis zum
11. Oktober auf www.spiegel.de/socialdesignaward ab.
Ab dem 02. November erfahren Sie auf SPIEGEL.de und in SPIEGEL WISSEN, welche Ideen
gewonnen haben.
Illustration: Chester Holme / DER SPIEGEL
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