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Beispielexemplar Okt 2018

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Abgefahren<br />

Wir hatten eine gute erfolgreiche<br />

Besprechung hinter uns. Nach einer<br />

abschließenden Tasse Kaffee beglei­tete ich<br />

meinen Besuch noch zur Tür. Er verfrachtete<br />

seinen Aktenkoffer auf den Rücksitz seines<br />

Fahrzeugs. Und kurz da­nach war er winkend<br />

abgefahren. Im glei­chen Augenblick sah ich<br />

sein Smartphone vom Autodach rutschen und<br />

in großem Bogen im Straßenrand landen. Er<br />

hatte es beim Verstauen seines übrigen<br />

Gepäcks aus der Hand aufs Autodach gelegt.<br />

Leider war mein Besucher bereits abgefahren<br />

und direkt auf die Autobahn gelangt.<br />

Nicht lange nachdem ich sein Handy<br />

auf­gehoben hatte und wieder in mein Büro<br />

zurückgekehrt war, rief mich der<br />

Un­glücksrabe von der nächsten Raststätte<br />

aus an. Seine Hoffnung war groß, sein Handy<br />

vielleicht bei mir liegen gelassen zu haben. Er<br />

schilderte aufgeregt, er wisse nicht welcher<br />

Termin bei welchem seiner<br />

Kunden als nächstes anstand. Das alles hatte<br />

er seinem elektronischen Notizbuch<br />

anvertraut und ohne seinen technischen<br />

Helfer war er relativ hilflos. Umso größer war<br />

die Freude darüber, dass ich seine<br />

"elektronische Sekretärin" gefunden hatte. So<br />

konnte er bei der nächsten Ausfahrt wenden<br />

und noch einmal zu mir zurück­fahren. Das<br />

Problem war auf einfache und schnelle Art<br />

gelöst.<br />

Als ich noch auf den Pechvogel - oder war er<br />

jetzt ein Glückspilz? - wartete, kam mir ein<br />

möglicher Vergleich mit anderen<br />

Le­benssituationen und diesem gerade<br />

Erleb­ten in den Sinn. Sind nicht viele von uns<br />

abgefahren und wissen doch nicht wohin?<br />

Albert Einstein soll es gewesen sein, der<br />

gesagt hat, "Wer kein Ziel vor Augen hat, für<br />

den ist jeder Weg der richtige." Abge­fahren,<br />

nur weg von hier. Manchmal den­ke ich auch<br />

so. Ein negatives Erlebnis im Beruf, ein<br />

unangenehmes Gespräch mit Mitarbeitern<br />

oder Kollegen, ein tref­fender Rüffel durch<br />

den Chef - alle diese Vorkommnisse lassen<br />

mich so denken: bloß weg von hier. Erst<br />

ein­mal Distanz gewinnen. Abgefahren, das<br />

Problem hinter mich lassen, je schneller desto<br />

besser. Obwohl sich an dem eigentlichen<br />

Grund meiner "Flucht" nichts ändert. Abstand<br />

ge­winnen durch immer mehr Kilometer, ist<br />

keine echte Lösung, aber sie beru­higt. Das ist<br />

die eine Variante abzu­fahren. "weg" von<br />

etwas, das mich quält, bedrückt und betroffen<br />

ge­macht hat.<br />

Die zweite Variante ist eher ein "Hin" oder<br />

"Auf". Der oder die ist vollkom­men<br />

abgefahren auf etwas Einmali­ges,<br />

Besonderes. So können Men­schen auf Musik<br />

abfahren. Oder sie fahren auf bestimmte<br />

Trends und Entwicklungen ab. Die<br />

Computerbran­che kennt solche treuen<br />

Kunden. Es sind die, die auf jede Neuerung<br />

einer bestimmten Marke abfahren. Es ist Kult<br />

darauf abzufahren, die Nachfrage nach<br />

Sinnhaftigkeit oder Notwendig­keit geht im<br />

verklärten Besitzerrausch unter. Wer einmal<br />

auf diese Weise abgefahren ist, wird resistent<br />

allen Vorbehalten und Zweifeln gegenüber.<br />

Derart Abgefahrene sind durch Verstand und<br />

Vernunft nicht mehr zu stoppen. Rein ins<br />

Auto und losfahren. Hier erweist sich die<br />

heute viel zitier­te Pseudoweisheit "Der Weg<br />

ist das Ziel", als kurzsichtig, unseriös und<br />

unbrauchbar.<br />

Meinem Besucher hat es nicht gehol­fen auf<br />

dem Weg zu sein, er musste sein Ziel kennen.<br />

Die aktive Hand­lung, das Abfahren weg von<br />

einem Standort, hin zu einem neuen Ziel ist<br />

Mittel zum Zweck. Menschen die im Zustand<br />

des Abfahrens bleiben, kom­men nie an. Sie<br />

sind vergleichbar mit der Sage des<br />

"Fliegenden Hollän­ders". In dieser<br />

Geschichte darf er nicht anhalten, er muss<br />

immer wei­terfahren. Vielleicht ist das eines<br />

unserer gesellschaftlichen Grundprob­leme<br />

im 21. Jahrhundert. Viele sind unterwegs, sind<br />

abgefahren, kommen jedoch nie an. Eine<br />

Gesellschaft die immer häufiger und immer<br />

schneller unterwegs ist, aber nirgendwo mehr<br />

Halt findet. Ein Motor der nur eine Richtung<br />

kennt, nach vorn, immer weiter. Eine<br />

Maschine, die abgefahren ist und nunmehr<br />

den Weg sucht, kein Halten und keinen Halt<br />

mehr kennt.<br />

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