Beispielexemplar Okt 2018
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Abgefahren<br />
Wir hatten eine gute erfolgreiche<br />
Besprechung hinter uns. Nach einer<br />
abschließenden Tasse Kaffee begleitete ich<br />
meinen Besuch noch zur Tür. Er verfrachtete<br />
seinen Aktenkoffer auf den Rücksitz seines<br />
Fahrzeugs. Und kurz danach war er winkend<br />
abgefahren. Im gleichen Augenblick sah ich<br />
sein Smartphone vom Autodach rutschen und<br />
in großem Bogen im Straßenrand landen. Er<br />
hatte es beim Verstauen seines übrigen<br />
Gepäcks aus der Hand aufs Autodach gelegt.<br />
Leider war mein Besucher bereits abgefahren<br />
und direkt auf die Autobahn gelangt.<br />
Nicht lange nachdem ich sein Handy<br />
aufgehoben hatte und wieder in mein Büro<br />
zurückgekehrt war, rief mich der<br />
Unglücksrabe von der nächsten Raststätte<br />
aus an. Seine Hoffnung war groß, sein Handy<br />
vielleicht bei mir liegen gelassen zu haben. Er<br />
schilderte aufgeregt, er wisse nicht welcher<br />
Termin bei welchem seiner<br />
Kunden als nächstes anstand. Das alles hatte<br />
er seinem elektronischen Notizbuch<br />
anvertraut und ohne seinen technischen<br />
Helfer war er relativ hilflos. Umso größer war<br />
die Freude darüber, dass ich seine<br />
"elektronische Sekretärin" gefunden hatte. So<br />
konnte er bei der nächsten Ausfahrt wenden<br />
und noch einmal zu mir zurückfahren. Das<br />
Problem war auf einfache und schnelle Art<br />
gelöst.<br />
Als ich noch auf den Pechvogel - oder war er<br />
jetzt ein Glückspilz? - wartete, kam mir ein<br />
möglicher Vergleich mit anderen<br />
Lebenssituationen und diesem gerade<br />
Erlebten in den Sinn. Sind nicht viele von uns<br />
abgefahren und wissen doch nicht wohin?<br />
Albert Einstein soll es gewesen sein, der<br />
gesagt hat, "Wer kein Ziel vor Augen hat, für<br />
den ist jeder Weg der richtige." Abgefahren,<br />
nur weg von hier. Manchmal denke ich auch<br />
so. Ein negatives Erlebnis im Beruf, ein<br />
unangenehmes Gespräch mit Mitarbeitern<br />
oder Kollegen, ein treffender Rüffel durch<br />
den Chef - alle diese Vorkommnisse lassen<br />
mich so denken: bloß weg von hier. Erst<br />
einmal Distanz gewinnen. Abgefahren, das<br />
Problem hinter mich lassen, je schneller desto<br />
besser. Obwohl sich an dem eigentlichen<br />
Grund meiner "Flucht" nichts ändert. Abstand<br />
gewinnen durch immer mehr Kilometer, ist<br />
keine echte Lösung, aber sie beruhigt. Das ist<br />
die eine Variante abzufahren. "weg" von<br />
etwas, das mich quält, bedrückt und betroffen<br />
gemacht hat.<br />
Die zweite Variante ist eher ein "Hin" oder<br />
"Auf". Der oder die ist vollkommen<br />
abgefahren auf etwas Einmaliges,<br />
Besonderes. So können Menschen auf Musik<br />
abfahren. Oder sie fahren auf bestimmte<br />
Trends und Entwicklungen ab. Die<br />
Computerbranche kennt solche treuen<br />
Kunden. Es sind die, die auf jede Neuerung<br />
einer bestimmten Marke abfahren. Es ist Kult<br />
darauf abzufahren, die Nachfrage nach<br />
Sinnhaftigkeit oder Notwendigkeit geht im<br />
verklärten Besitzerrausch unter. Wer einmal<br />
auf diese Weise abgefahren ist, wird resistent<br />
allen Vorbehalten und Zweifeln gegenüber.<br />
Derart Abgefahrene sind durch Verstand und<br />
Vernunft nicht mehr zu stoppen. Rein ins<br />
Auto und losfahren. Hier erweist sich die<br />
heute viel zitierte Pseudoweisheit "Der Weg<br />
ist das Ziel", als kurzsichtig, unseriös und<br />
unbrauchbar.<br />
Meinem Besucher hat es nicht geholfen auf<br />
dem Weg zu sein, er musste sein Ziel kennen.<br />
Die aktive Handlung, das Abfahren weg von<br />
einem Standort, hin zu einem neuen Ziel ist<br />
Mittel zum Zweck. Menschen die im Zustand<br />
des Abfahrens bleiben, kommen nie an. Sie<br />
sind vergleichbar mit der Sage des<br />
"Fliegenden Holländers". In dieser<br />
Geschichte darf er nicht anhalten, er muss<br />
immer weiterfahren. Vielleicht ist das eines<br />
unserer gesellschaftlichen Grundprobleme<br />
im 21. Jahrhundert. Viele sind unterwegs, sind<br />
abgefahren, kommen jedoch nie an. Eine<br />
Gesellschaft die immer häufiger und immer<br />
schneller unterwegs ist, aber nirgendwo mehr<br />
Halt findet. Ein Motor der nur eine Richtung<br />
kennt, nach vorn, immer weiter. Eine<br />
Maschine, die abgefahren ist und nunmehr<br />
den Weg sucht, kein Halten und keinen Halt<br />
mehr kennt.<br />
8