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Takte_2_18

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[t]akte<br />

Was ist Urtext?<br />

Fragen an Jonathan Del Mar<br />

Der Engländer Jonathan Del Mar (* 1951) ist Dirigent und<br />

Musikwissenschaftler. Mit der Herausgabe der neun<br />

Symphonien Ludwig van Beethovens im Bärenreiter-<br />

Verlag (1996–2000) hat er für Furore gesorgt. Zahlreiche<br />

bedeutende Dirigenten verwenden diese Edition seitdem.<br />

Anschließend hat Del Mar viele weitere Werke Beethovens<br />

in Urtext-Ausgaben für Bärenreiter erarbeitet:<br />

Konzerte, Cellowerke, Streichquartette, Klaviersonaten,<br />

außerdem das Cellokonzert und die 7., 8. und 9. Symphonie<br />

von Antonín Dvořák sowie das Cellokonzert von Edward<br />

Elgar. Im Interview beschreibt er, was er unter „Urtext“<br />

versteht.<br />

Wofür braucht man eine Urtext-Ausgabe?<br />

Nun, wollen Sie die Noten spielen, die der Komponist<br />

komponiert hat, oder zufällige und falsche Noten, die<br />

irgendwann in eine Ausgabe hineingerutscht sind?<br />

Ist der Urtext nicht ganz einfach im Manuskript des Komponisten<br />

zu finden?<br />

Nein, so einfach ist das nicht. Oft denkt ein Komponist<br />

weiter, er ändert seine Meinung, aber das Manuskript<br />

ist schon beim Drucker. Was also muss er tun? Er fragt<br />

den Verleger nach einem Korrekturabzug und schreibt<br />

die letzten Änderungen hinein. Wenn wir dann den<br />

Erstdruck anschauen, steht dort etwas ganz anderes<br />

als im Manuskript, was ziemlich sicher auf die letzten<br />

Änderungen im Korrekturabzug hinweist.<br />

Aber natürlich kann man auch im Manuskript noch<br />

vieles entdecken. Oft verwenden Herausgeber für ihre<br />

Ausgaben schlechte Kopien, auf denen ein Pünktchen<br />

oder ein Loch wie ein Staccatozeichen aussehen. Genauso<br />

kann es passieren, dass man den Ausdruck eines<br />

Mikrofilms untersucht und eine Note sieht wie ein F<br />

aus, ist aber im Manuskript zweifelsfrei ein G. Niemand<br />

kann sagen, wie das geschehen kann, aber es geschieht!<br />

Das bedeutet, dass sich Herausgeber, die sich der Mühe<br />

unterziehen, das Autograph zu untersuchen, immer<br />

noch Entdeckungen machen können.<br />

Was also bedeutet Urtext für Sie?<br />

Eine Ausgabe, die sorgfältig und erschöpfend alle Quellen<br />

untersucht, um nach bestem Wissen und Gewissen<br />

der Absicht des Komponisten so nahe wie möglich zu<br />

kommen.<br />

1.Pos (where three staves are used) between the<br />

other two; while in IV 331-431, E follows A,X,C’ in<br />

placing Trs above 3.4.Cors.<br />

V<br />

First Edition of vocal score, in oblong format,<br />

also published in August <strong>18</strong>26 by Schott (Plate<br />

No.2539) and taken from C, though some extra vocal<br />

slurs „Urtext“ were added. It contains a piano arrange-<br />

Oft verwendet und doch vielen unklar.<br />

ist ein schillernder Begriff, unter dem ment viel of Unterschiedliches<br />

verstanden wird. Der Beethovenjust<br />

the finale as accompaniment to the<br />

voices.<br />

Herausgeber Jonathan Del Mar erläutert, nach<br />

Was bedeutet „Quellen“?<br />

Alles, an dem der Komponist seinen Anteil hatte.<br />

Also nicht allein sein Manuskript, sondern auch eine<br />

Abschrift durch einen Kopisten mit Korrekturen des<br />

Komponisten, ebenso Erstdrucke, an denen er Änderungen<br />

vorgenommen hat, Briefe an den Verleger, in<br />

denen Fragen des Werks diskutiert wurden, einfach<br />

alles, was Bedeutung für eine Edition hat. Manchmal<br />

sogar noch mehr: Nehmen Sie zum Beispiel hand-<br />

P<br />

welchen Prinzipien er vorgeht.<br />

Twenty-six instrumental parts, published by Schott<br />

at the same time as E and V, but with plate number<br />

2321; taken (like E) from C, but then grossly edited,<br />

schriftliche Stimmen, die der Komponist independently für eine of E. In P hosts of dynamics, slurs<br />

Aufführung verwendet hat und für die and er staccato Änderungen marks are added where none are even<br />

diktiert hat. Die Musiker tragen sie sich implied; ein, und for dann example, in the double fugue (IV 655)<br />

werden diese Stimmen als Vorlage every . of the ‘Seid umschlungen’ motif is furnished<br />

with staccato Striche.<br />

für die Erstausgabe verwendet. Wenn<br />

die handschriftlichen Stimmen dann The 2.Fl part is at first written as if a doubling part,<br />

vernichtet werden, haben wir nur ‘changing’ to Picc at IV 331 (but back to Flute at 595<br />

noch den Erstdruck. Diese gedruckten instead of 441!), but from 851 the left-hand page<br />

Stimmen sind eine bedeutende Quelle, contains the 2.Fl part, Picc being printed on the right.<br />

weil sie auf authentische Korrektu-ren des Komponisten in den Proben and choral voices together in the same copy and<br />

also includes four vocal parts, containing solo<br />

zurückgehen.<br />

dividing into two staves where necessary. Treble<br />

and bass clefs are used. The heading is simply:<br />

Warum muss es immer wieder neue “SOPRANO. [ALTO., etc.] par L.v.Beethoven.” The<br />

Editionen geben?<br />

plate number 2321 is written in the same bold, positive<br />

style as E, with serifs.<br />

Am deutlichsten ist dies, wenn ein<br />

verloren geglaubtes Autograph wie-Thder auftaucht. Dies war besonders must have had a game combining the two parts<br />

Vorlage for vocal P was CP, but the editors<br />

bei Werken von Mozart, Beethoven, into one for each voice. In addition slurs have been<br />

Schubert und Mendelssohn der Fall,<br />

die im Krieg aus Berlin an sichere Orte 20<br />

ausgelagert wurden. Danach konnte<br />

sich unglücklicherweise niemand<br />

daran erinnern, wo sie waren. So galten<br />

sie als verschollen, bis sie 1977 in<br />

Polen auftauchten. Vorher sind viele<br />

Editionen veröffentlicht worden, die<br />

danach alle revidiert werden mussten.<br />

Auch Auktionshäuser tragen dazu bei,<br />

dass wir nicht vergessen, denn einige<br />

Manuskripte sind in Privatbesitz, so<br />

dass Forscher nicht an sie herankommen.<br />

Oft kommen solche Dokumente<br />

zur Versteigerung, und wir haben<br />

kurz die Gelegenheit, einen Blick<br />

hineinzuwerfen. Noch mehr Glück haben wir, wenn<br />

eine öffentliche Institution das Autograph erwirbt, so<br />

dass es für Wissenschaftler zugänglich wird und für<br />

die nächste Edition verwendet werden darf.<br />

Ein weiterer Grund, warum alte Ausgaben, sogar<br />

Urtext-Editionen, von neuen ersetzt werden, ist – man<br />

muss es sagen –, dass nicht jeder Herausgeber seine Aufgabe<br />

so gut erledigt wie ein anderer. Er macht Fehler,<br />

trifft dumme Entscheidungen, die jeder Musiker sofort<br />

als falsch erkennt, er übersieht offensichtliche Dinge<br />

und entscheidet, dass eine Quelle keine Relevanz hat,<br />

obwohl ein anderer Forscher sie für sehr wichtig hält.<br />

So belegt ein Herausgeber die Fehlerhaftigkeit einer<br />

alten Ausgabe und beweist, dass seine Lösungen die<br />

des Vorgängers ersetzen muss.<br />

Nicht nur am Schreibtisch und in der<br />

Bibliothek: Beethoven-Herausgeber<br />

Jonathan Del Mar in Japan<br />

Was haben Musikerinnen und Musiker von Urtext-Ausgaben?<br />

Das hängt davon ab, um welche Ausgabe es geht. Manche<br />

sind so schlecht gemacht, mit so geringem Verstand<br />

lar to that of P.<br />

The term ‘authentic sources’ is used to denote those<br />

over which Beethoven had some degree of control,<br />

i.e. A,AP,X,PX,B,C,CP(Pos),D,DC,F. Though this<br />

definition would seem to exclude D’s Finale, we<br />

include it since it descends from lost PX; but it is so<br />

deficient in matters of detail such as slurs, stacc.<br />

and dynamics that ‘in all authentic sources’ has in<br />

some cases been allowed to stand even if the detail<br />

of IV being discussed is not present in D. Though<br />

Beethoven undoubtedly saw E (and had a correction<br />

slip published to it), he cannot be said to have<br />

had a hand in its text; nor similarly P,V.<br />

The ‘stemma’ showing the inter-relationships of<br />

these sources is naturally a complicated one, viz:<br />

PX*<br />

(&K*)<br />

F*<br />

D* DP* DC*<br />

(I-III)<br />

D (IV)<br />

A*<br />

C/X*<br />

B*<br />

(&L*)<br />

CP<br />

(vocal)<br />

E V<br />

C/C’*<br />

für die Musik und ihre Tradition, dass sie schädlich<br />

sind. Sogar die frühere Ausgabe war besser! Sie mag<br />

Fehler enthalten, aber die kann man verbessern. Wenn<br />

einem Musiker aber ein fehlgeleiteter Forscher erklärt,<br />

dass ein A in der Erstausgabe „offensichtlich“ ein G<br />

sein müsse, dann wird er von der (augenscheinlichen)<br />

Autorität des Herausgebers eingeschüchtert sein und G<br />

spielen, auch wenn der Komponist wirklich A meinte,<br />

so unerwartet es dem Herausgeber auch vorkommt.<br />

Wenn man Glück hat, verfügt eine Ausgabe über<br />

einen Kritischen Bericht. Manche haben so etwas<br />

nicht, und man muss dann dem „unfehlbaren“ Verstand<br />

vertrauen, auch bei Druckfehlern. Das fordert<br />

einen Vertrauensvorschuss, der oft unbegründet und<br />

unberechtigt ist.<br />

Ein Nutzer sollte also, bevor er sein Geld ausgibt,<br />

erwarten dürfen, dass er einen Kritischen Bericht bekommt,<br />

in dem ihm die editorischen Entscheidungen<br />

erläutert werden. Auch wenn es einen gibt, ist nicht<br />

klar zu sagen, ob eine Edition gut oder schlecht ist.<br />

Die einzige Möglichkeit wäre es, andere Musiker zu<br />

fragen, ob sie Erfahrungen mit Ausgaben dieses Komponisten<br />

bei diesem Verlag haben, und ob sie plausibel<br />

erscheinen. Sonst bleibt nur, sich zu informieren, ob<br />

ein Herausgeber die Quellen sorgfältig geprüft hat, ob<br />

er seine Hausaufgaben mit Verantwortungsbewusstsein<br />

gemacht hat und ob er einen exakten Notentext<br />

erarbeitet hat, der alte Fehler beseitigt. Mit Glück kann<br />

man so etwas finden. Und zum Schluss: Die Ausgabe<br />

sollte klar auf gutem und robustem Papier gedruckt<br />

sein, auf dem man Eintragungen machen und wieder<br />

wegradieren kann, ohne Löcher zu riskieren.<br />

P<br />

(vocal)<br />

P<br />

(instrumental)<br />

Quellen zur IX. Symphonie Beethovens: Stemma der Abhängigkeiten<br />

Nachrichten<br />

2I20<strong>18</strong><br />

Der Dirigent Gerd Albrecht (1935–2014), der in<br />

seiner langen und erfolgreichen Karriere an<br />

zahlreichen Stationen wirkte – Mainz, Lübeck,<br />

Kassel, Deutsche Oper Berlin, Tonhalle-Orchester<br />

Zürich, Hamburgische Staatsoper, Tschechische<br />

Philharmonie, Dänisches Radiosinfonieorchester<br />

– und darüber hinaus<br />

viele große Orchester<br />

leitete, war ein überaus<br />

begabter Musikvermittler<br />

noch bevor dieses<br />

Wort in Mode kam.<br />

Er war der Überzeugung,<br />

dass die Menschen<br />

zeitgenössische Musik<br />

besser verstehen, wenn<br />

sie anschaulich vermittelt<br />

wird. Deshalb entwickelte<br />

er Gesprächskonzerte,<br />

um jeweils ein<br />

zeitgenössisches Werke<br />

mit Hilfe einzelner Orchesterstellen<br />

klingend zu erklären. In Zusammenarbeit<br />

mit dem Sender Freies Berlin und dem<br />

Deutschen Symphonie-Orchester Berlin entstand<br />

die Fernsehreihe „Wege zur Neuen Musik“. Als<br />

Konzertreihe wurde sie mit dem Rundfunk Sinfonieorchester<br />

Berlin neu aufgelegt. Im Gespräch<br />

mit Gerd Albrecht erzählen große Komponistenpersönlichkeiten<br />

von ihrem Schaffensprozess<br />

und ihren musikalischen Anliegen. Sechs dieser<br />

Gesprächskonzerte sind nun in einer Edition<br />

vereint. Auf den sechs DVDs werden Werke von<br />

Krzystof Penderecki, Hans Werner Henze, György<br />

Ligeti, Mauricio Kagel, Isang Yun und Jörg Widmann<br />

vorgestellt. Außer den Mitschnitten der<br />

Konzerte enthält die Box auch ein Buch mit Essays<br />

renommierter Journalisten.<br />

Die DVD-Kassette kann zum Preis von 79 Euro<br />

bei dem von Gerd Albrecht gegründeten Klingenden<br />

Museum Berlin bestellt werden (www.<br />

klingendes-museum-berlin.de).<br />

]<br />

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