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Heimatbuch Reichelsheim 1992 OCR verlinkt

Reichelsheim in der goldenen Wetterau Historische Betrachtungen von Hagen Behrens Herausgeber: Magistrat der Stadt Reichelsheim Bearbeitung: Hagen Behrens Umschlaggestaltung: Jean Bourdin Gesamtherstellung: Friedrich Bischoff Druckerei GmbH, Frankfurt/Main Erschienen 1992

Reichelsheim in der goldenen Wetterau
Historische Betrachtungen von Hagen Behrens
Herausgeber: Magistrat der Stadt Reichelsheim
Bearbeitung: Hagen Behrens
Umschlaggestaltung: Jean Bourdin
Gesamtherstellung: Friedrich Bischoff Druckerei GmbH, Frankfurt/Main
Erschienen 1992

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<strong>Reichelsheim</strong><br />

in der goldenen Wetterau<br />

Betrachtungen zu der Geschichte<br />

und den Geschichten<br />

einer Ackerbürgerstadt<br />

Hagen Behrens<br />

<strong>1992</strong>


„Der Magistrat der Stadt <strong>Reichelsheim</strong> dankt der Landbank I-lorlofftal, <strong>Reichelsheim</strong>, die die Herausgabe dieses<br />

Buches finanziell unterstützt hat.“<br />

Herausgeber: Magistrat der Stadt <strong>Reichelsheim</strong><br />

Bearbeitung: Hagen Behrens<br />

Umschlaggestaltung: Jean Bourdin<br />

Gesamtherstellung: Friedrich Bischoff Druckerei GmbH, Frankfurt/Main


Zum Geleit<br />

„Was Du ererbt von Deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen.“ Dieses Zitat aus Goethes Faust hat uns vor fünflahren<br />

beflügelt, die Geschichte aller sechs Stadtteile von <strong>Reichelsheim</strong> aufzuarbeiten und diese an die nachfolgenden Generationen,<br />

aufbereitet in Buchform, weiterzugebcn. Zuerst einmal mußten sämtliche vorhandenen Archivunterlagen<br />

gesichtet und geordnet werden, was in dreijähriger, intensiver Arbeit Herr Gerhard Hofmann besorgte. Die Grundlage<br />

war also geschaffen, unser Vorhaben in die Tat umzusetzen.<br />

Mit einer Neuauflage des Büchleins „Der Hexenmeister von <strong>Reichelsheim</strong>“ und der Herausgabe des Bildbandes<br />

„Bilder erzählen aus vergangenen Tagen“ wagten wir den Anfang, die Geschichte unserer Stadt jedem zugänglich zu<br />

machen. Das große Interesse und die Anerkennung, die die Bücher fanden, ermutigten uns, weiterzumachen. Den<br />

Stoff hatten wir;jetzt galt es, einen qualifizierten Autor für die Bearbeitung der reichhaltigen Archivunterlagen und das<br />

Verfassen der Geschichtsbände zu finden. Glücklicherweise konnte unser Stadtverordnetenvorsteher, Herr Hagen<br />

Behrens für diese schwierige Aufgabe gewonnen werden, der nach dem Band „Heuchelheim, Einblicke in die Geschichte“,<br />

mit diesem Buch nun seine zweite Arbeit vorlegt.<br />

Es ist wahrscheinlich das erste Mal, daß die Geschichte des Ortes <strong>Reichelsheim</strong> so intensiv und systematisch bearbeitet<br />

wurde. Außer Einzelbeiträgen in Jubiläumsschriften und dem <strong>Heimatbuch</strong> von Keller lagen keine umfassenden<br />

Ausarbeitungen vor. Demzufolge mußte der Verfasser sämtliche verfügbaren Archivunterlagen einsehen und auswerten.<br />

Hagen Behrens hat bewußt aufcine lückenlose Gesamtdarstcllung der Geschichte verzichtet. Dies würde den Ral'ı~<br />

men des Buches sprengen. Er hat die Themen so ausgewählt, daß sie einen guten Einblick in das Werden unseres<br />

Heimatortes geben. Es wird ein Bild über <strong>Reichelsheim</strong> gezeichnet, das wir bisher nicht kannten, ein Bild der sozialen<br />

und politischen Probleme in den zurückliegenden Jahrhunderten.<br />

Mein herzlicher Dank gilt dem Verfasser, Hagen Behrens, der ein Jahr lang seine komplett zur Verfügung stehende<br />

Freizeit einschließlich Urlaubszeit in das Werden dieses Buches investiert hat. Die Staatsarchive in Darmstadt und<br />

Wiesbaden mußten durchforstet, viele Arehivalien, Urkunden und Pläne studiert werden, um die Ausführungen und<br />

Bewertungen, die dieses Buch prägen, mit Fakten zu belegen. So hoffe ich, daß auch dieser Geschichtsband, ebenso wie<br />

die drei zuvor genannten Veröffentlichungen, ein lebhaftes und vielfältiges Echo auslösen und dem heimatgeschichtlich<br />

Interessierten viele neue Erkenntnisse über unser <strong>Reichelsheim</strong> vermitteln wird.<br />

<strong>Reichelsheim</strong>, im November <strong>1992</strong><br />

Gerd Wagner<br />

Bürgermeister<br />

3


_.¬..„_._ _ ., _ .»__ _ _--D- -- - ----A -- H_--_----- ' \


Vorwort<br />

Wie vielleicht manchem bekannt, haben sich schon mehrere <strong>Reichelsheim</strong>er Bürger in den vergangenen Jahrzehnten<br />

mit der Geschichte dieses „Marktfleckens im Nassauer Land“ beschäftigt. Es seien hier nur die Namen Adam Spamer<br />

(1930), Albert Nohl, Heinrich Keller (1935) oder Werner Coburger (1985) genannt. Sie alle beginnen mit der Beschreibung<br />

des Außenbildes dieser Ortschaft im Zentrum der Wetterau. Adam Spamer z. B. beginnt seinen kurzen Abriß zur<br />

Geschichte <strong>Reichelsheim</strong>s in der Festschrift zum 85jährigen Jubiläum des Gesangvereins „Liederkranz“ im Jahre 1930<br />

wie folgt:<br />

„Kommt man mit der Bahn von Friedberg über die Höhe von Beienheim und richtet den Blick ostwärts, so bleibt das<br />

Auge unwiderstehlich an einem Bilde urwüchsigen Mittelalters haften. Aus dem Kranz der lichtgrünen Fluren und der<br />

zahlreichen Wetterauer Dörfer mit ihren leuchtend roten Ziegeldächern und dunklen Obsthainen, hebt sich das Stadtbild<br />

<strong>Reichelsheim</strong>s deutlich heraus, vor allem die die Hausdächer überragende mächtige Kirche mit ihrem quadratischen<br />

Turme, dem noch eine achteckige Pyramide aufgesetzt ist und der mittelalterliche runde Wachtturm mit dem<br />

Storehenneste. Ein wirklich imposantes Panorama, das durch die weiter östlich gelegenen dunklen waldgekrönten<br />

Bergkuppen des Vogelsberges einen malerischen Abschluß finden.“<br />

Heute wirken diese Zeilen von Adam Spamer etwas fremd, vor allem wohl deswegen, weil sich <strong>Reichelsheim</strong> seit<br />

1945 insbesondere in seinem Außenbereich, also in dem Bereich außerhalb des alten, von Mauern umgebenden Stadtkernes<br />

mehr verändert hat als in den 400 bis .500 Jahren zuvor. Neue Baugebiete, das Verschwinden eines großen Teils<br />

der Streuobstwiesen rund um den engen Wohnbereich der Menschen, neue Straßen, der Braunkohletagebau sowie<br />

dessen Rekultivierung und die zuvor schon eingeleitete und immer weitergeführte Drainierung der Wiesen und Felder<br />

haben ein anderes <strong>Reichelsheim</strong> entstehen lassen.<br />

Doch welch schönen Anblick muß <strong>Reichelsheim</strong> vor mehreren Jahrhunderten herannahenden Besuchern, Handelsreisenden,<br />

wandernden Handwerkern oder heimkehrenden Ortsbürgern geboten haben, als die Stadtmauer den<br />

Wohnbereich noch fest umschloß?! Wie schön, ja vielleicht sogar romantisch muß es in der Sommerzeit ausgesehen haben,<br />

wenn die Getreidefelder - vom leichten Süd-West-Wind bewegt - goldgelb das Sonnenlicht reflektierten? Den<br />

Menschen früherer Zeit mag sich ein Bild gezeichnet haben, das man mit den Begriffen „Schutz“, „Sicherheit“ und<br />

„Geborgenheit“ benennen könnte.<br />

Der Außenanblick ist heute anders, wenn man von Beienheim, Weckesheim oder Heuchelheim her kommt. Nur<br />

schwer kann man das von Spamer gezeichnete Bild nachempfinden, denn selbst der Kirchturm wirkt durch die Bebau--<br />

ung im Außenbereich nicht mehr derart „überragend und mächtig“.<br />

Und doch: Wer durch <strong>Reichelsheim</strong> spazierengeht, wer seine Phantasie mit einiger Faktenkenntnis bei diesem Spaziergang<br />

verknüpft, der wird eine Gemeinde erkennen, die nicht nur vom Heute, sondern an allen Ecken und Enden<br />

auch vom Gestern, von der Vergangenheit zu berichten weiß: z. B. das Rathaus und die Wehrkirche, die Stadtmauern<br />

und die hochragenden Wehrtürme an den markanten Außenstellen des Ortsgebietes. Wie groß die Bedeutung dieser<br />

Wehranlage war, ob und wie sie auf das Bewußtsein der Menschen in diesem „Flecken“ prägend gewirkt haben mag,<br />

das läßt sie nur vermuten bzw. das überläßt sie der Phantasie des neugierigen Spaziergängers.<br />

5


War <strong>Reichelsheim</strong> eine „Handels-Stadt“ ? War es ein wichtiger Ort für die Wetterau? Was bedeutete es für die damaligen<br />

<strong>Reichelsheim</strong>er, daß ihr „Flecken“ nicht nur die Stadtrechte sondern auch die „Marktfreiheit“ von Leopold II.,<br />

dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, erhalten hatte? Welche Wirkungen hatte andererseits<br />

die Tatsache, daß <strong>Reichelsheim</strong> über Jahrhunderte eine Exklave des Grafen- bzw. Herzogtums Nassau war? Führte<br />

diese Abgeschlossenheit des Ortes zu einem besonderen „Wir-Gefühl“, zu einem Gefühl, „anders“ zu sein als die Menschen<br />

in den umliegenden Dörfern?<br />

Andere Fragen stellen sich dem aufmerksamen Spaziergänger: War der „Marktplatz“, die heutige Bingenheimer<br />

Straße, wirklich ein Marktplatz? Was verrät in diesem Zusammenhang die am Historischen Rathaus angebrachte<br />

„Nassauische Elle“?<br />

<strong>Reichelsheim</strong> - eine Handelsstadt? Wenn „Ja“: Warum gibt es rund um den Marktplatz keine mächtig-prächtigen<br />

Kaufmanns- bzw. Patrizierhäuser? Warum stehen vielmehr rund um diesen zentralen Bereich des Ortes landwirtschaftliche<br />

Anwesen? Wenn der Spaziergänger schon davon gehört hat, daß vor hundert und mehr Jahren von den ca. 220<br />

Haushaltungen über 40% angaben, von der Landwirtschaft zu leben, so wird er sich die Frage stellen, ob <strong>Reichelsheim</strong><br />

eine „Acker-Bürger-Stadt“ gewesen sein mag. . ?<br />

Und er wird sich schließlich auch fragen: Und was ist <strong>Reichelsheim</strong> heute? Ist sie noch eine Stadt der Bauern? Arbeiten<br />

die Menschen, die hier leben, auch in <strong>Reichelsheim</strong>? Ist <strong>Reichelsheim</strong> eigentlich noch das <strong>Reichelsheim</strong>, von dem<br />

die alten Mitbürgerinnen und Mitbürger sprechen? Oder ist es durch die große Zahl der Flüchtlinge und Vertriebenen,<br />

die nach dem letzten Krieg hier aufgenommen wurden, oder durch die „Großstadtflüchtlinge“, die sich vor allem seit<br />

Ende der 60er Jahre aus dem Rhein-Main-Gebiet in diesem Wetterauer Ort ein Haus bauten oder kauften, etwa zu<br />

einer reinen Wohngemeinde geworden?<br />

Fragen - viele Fragen!<br />

Fragen an die eigene Heimat, an den Ort, in dem wir leben, der Vorfahren und uns selbst geprägt hat und der heute<br />

unsere Kinder prägt bzw. noch prägen wird, weil er unser Lebens- und Erfahrungsumfeld war und ist bzw. sein wird. Es<br />

sind alles Fragen, die sich auch der Schreiber dieses Buches stellte und um deren Beantwortung er sich bemühte. Nicht<br />

alle Fragen, die derjeweilige Leser an <strong>Reichelsheim</strong> haben mag, werden eine Beantwortung finden, dies vor allem deswegen,<br />

weil jeder, der in <strong>Reichelsheim</strong> wohnt, der sich an diesem Ort interessiert zeigt, ganz persönliche Fragen entwikkelt<br />

hat. Aber vielleicht treffen manche Fragestellungen der Leser mit den Antworten dieses Buches zusammen, d. h.<br />

vielleicht werden viele individuelle Fragen nach dem Lesen der folgenden Kapitel beantwortet sein.<br />

Ich brauche abschließend nicht weiter zu erwähnen, daß dieses Buch nicht vorrangig die Bibliotheken von Historikern<br />

füllen soll. Für Wissenschaftler ist es, wie die oberen Ausführungen deutlich machen sollen, nicht geschrieben,<br />

sondern für Menschen, die neben ihrer Alltagsarbeit wenig Zeit haben, die sich trotzdem aber mit ihrem Heimatort auseinandersetzen<br />

wollen. Deswegen wurde auch eine leichte Lesbarkeit angestrebt.<br />

Ohne die Vorarbeiten und ohne die Unterstützung vieler wäre ich nicht in der Lage gewesen, dieses Buch neben<br />

all meinen anderen Verpflichtungen in relativ kurzer Zeit zu schreiben. Die vorhandenen Ausarbeitungen über die<br />

Geschichte des Ortes, die ich am Anfang erwähnte, waren selbstverständlich eine Hilfe.<br />

6


Bedanken möchte ich mich bei der Archäologin des Wetteraukreises, Frau Dr. Vera Rupp, die mir trotz ihrer vielen<br />

Aufgaben „außer der Reihe“ Material über die Vor- und Frühgeschichte von <strong>Reichelsheim</strong> zusammenstellte. In diesem<br />

Zusammenhang möchte ich auch Herrn Michael Keller als „hilfreichen Geist“ nennen, den Leiter des Wetteraumuseums,<br />

der mir und Herrn Bürgermeister Wagner dabei behilflich war, die aus <strong>Reichelsheim</strong> stammenden Fundstükke<br />

einzusehen und für dieses Buch durch Herrn Helmut Haag ablichten zu lassen.<br />

Eine sehr große Hilfe, die größte Hilfe, stellte für mich die Kirchenchronik, das Kirchenbuch der evangelischen Gemeinde<br />

dar, die mir dankenswerterweise Pfarrer Enke zur Einsichtnahme zur Verfügung stellte. Ohne die zeitgebundcnen<br />

Berichte der vielen Pfarrer wäre manch ein Kapitel recht „trocken“ geworden.<br />

Bedanken möchte ich mich bei Frau Ilse Erdmann, Frau Hilda Rohde und Herrn Werner Coburger, die meine „Wissensgeber“<br />

betreffend der Lebens- und Jahresbräuche im früheren <strong>Reichelsheim</strong> waren und die mir zudem noch über<br />

manche Ecke in und um <strong>Reichelsheim</strong> Wissens- und Beschrcibcnswertes mitteilten.<br />

Ein Dankeschön möchte ich auch Herrn Wenisch von der Stadtverwaltung sagen, der vieleorganisatorische Arbeiten<br />

für mich erledigt hat.<br />

Besonderen Dank sage ich dem Magistrat der Stadt <strong>Reichelsheim</strong>, an erster Stelle Herrn BürgermeisterWagner, für<br />

den Auftrag, dieses Buch zu erarbeiten. Die kreative Begleitung und die aktive Unterstützung, die ich durch Herrn<br />

G. Wagner während der Anfertigungszeit erfuhr, waren Voraussetzung für das abschließende Ergebnis meiner Bemühungen.<br />

Was ist in einem Vorwort noch zu sagen? Wovor muß ich den Leser vielleicht sogar warnen ?<br />

Keine Ortschronik kann alles erfassen und wiedergeben - immer wird etwas fehlen, was doch wichtig ist. Manch einer<br />

der Abschnitte, vor allem jene, die von mehreren Mitbürgerinnen und Mitbürgern aus eigener Lebenserfahrung nachvollzogen<br />

werden können. werden möglicherweise auf Widerspruch stoßen. Darüber bin ich mir bewußt - dieses Wissen<br />

sollte mich aber nicht davon abhalten, den Versuch zu machen, eine recht ausführliche, wenn auch keine lückenlose<br />

Chronik zu fertigen. Vielleicht traut sich in I0 oder 20.lahren wiederein Bürger/eine Bürgerin an die „Vergangenheitsbcwältigung“<br />

unserer kleinen Stadt, der oder die dann all die Anregungen, die zu diesem Buch gegeben werden. positiv<br />

berücksichtigen kann.<br />

Für mich selbst hat sich das Schreiben dieses Buches gelohnt: Der Ort ist mir heute viel näher als zuvor.<br />

<strong>Reichelsheim</strong>/Wetterau, Oktober <strong>1992</strong><br />

Hagen Behrens<br />

7


_....„_._ _ .. _ .»__ _ _--D- -- - -Ma -- e_--_----- ' \


Inhalt<br />

Zum Geleit (Bürgermeister G_Wagner) _ _ _ _ _ 3<br />

Vorwort _ . _ _ _ _ . _ _ . _ _ _ _ . _ _ _ . _ _ _ 5<br />

Inhaltsverzeichnis . _ _ . _ _ _ _ _ _ _ _ . _ _ _ _ 9<br />

l. Geschichtliche Betrachtungen<br />

1. a) Vorgeschichte _ . . . _ . . _ . _ _ _ . _ _ 11<br />

b) Die Zeit nach Christi Geburt . . . . . _ _ 14<br />

c) Von den Römern zu den Franken _ _ _ _ _ 18<br />

2. a) Die Franken - die Namensgeber von<br />

<strong>Reichelsheim</strong> _ _ . . _ _ _ . . . _ . _ _ _ 21<br />

b) Das Mittelalter . _ . . . _ _ _ . . _ . _ _ 25<br />

c) Die Kirche -für <strong>Reichelsheim</strong> das Symbol<br />

einer neuen Epoche . . . _ . _ _ _ _ _ _ _ 30<br />

3. Die Reformation - ein Wegweiser<br />

für <strong>Reichelsheim</strong> und die <strong>Reichelsheim</strong>er _ _ 35<br />

4. Das 17. Jahrhundert<br />

a) Der Dreißigjährige Krieg _ . _ _ . . _ _ _ 41<br />

b) Der„FREIHEITSBRIEF“<br />

der „Stadt <strong>Reichelsheim</strong>“ _ _ _ _ _ _ . _ _ 44<br />

c) FEUER! - der Brand von 1665 . . . _ _ _ 49<br />

d) Hexenwahn in <strong>Reichelsheim</strong> . _ _ _ . _ _ 51<br />

e) <strong>Reichelsheim</strong> - die Stadt der Jahrmärkte _ 60<br />

f) Handwerker und Zünfte in <strong>Reichelsheim</strong> _ 68<br />

5. <strong>Reichelsheim</strong> um 1700<br />

a) Das Erscheinungsbild der Stadt . . _ . _ _ 70<br />

b) Was das Alltagsleben in und um<br />

<strong>Reichelsheim</strong> prägte _ _ . . . . . . _ _ _ 75<br />

6. Vom „Nassauern“ . _ . _ _ _ _ _ . . . . _ _ 81<br />

7. Das 18. Jahrhundert<br />

a) Eine wichtige Zwischenepochc _ _ . _ _ _ 86<br />

b) Die kurze Herrschaft<br />

des Fürsten v. Schwarzburg _ _ _ _ . _ _ _ 88<br />

c) Der Sieben_jährige Krieg und seine<br />

Auswirkungen . _ _ _ . . . _ _ _ . _ . _ _ 89<br />

d) Neue Rechnungsführung über<br />

Einnahmen/Ausgaben . . . . _ . _ _ . _ _ 93<br />

e) Veränderungen im Erscheinungsbild von<br />

Ort und Gemarkung . . _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ 95<br />

8. Das 19. Jahrhundert<br />

a) Nassaus Aufstieg durch Napoleon _ _ _ _ _ 98<br />

b) Vom Untertan zum politischen Bürger _ _ 108<br />

c) Das Ende der„lnsellage“ von <strong>Reichelsheim</strong> 119<br />

d) Aufdem Wegeins 20. Jahrhundert _ _ _ _ 124<br />

9. Das 20. Jahrhundert<br />

a) Die Ruhe vor dem Sturm _ _ _ _ _ _ . _ _ 133<br />

b) Der erste große Krieg _ _ . . _ _ . . . _ _ 136<br />

c) Eine ungeliebte Zwischenstation:<br />

Die Weimarer Republik _ . _ _ _ _ _ . _ _ 142<br />

d) Die Zeit der Verblenduııg: Das ,_3. Reich“ 156<br />

e) Der2. Weltkrieg . _ _ _ _ . . _ _ . . _ _ 162<br />

f) Bruch mit der Vergangenheit und aktiver<br />

Neubeginn _ _ _ _ _ _ _ . _ . _ . . _ _ _ _ 167<br />

|0. 1972: Ende der Selbständigkeit- Beginn der<br />

„Gesamtstadt <strong>Reichelsheim</strong>/Wetterau“ _ _ _ 174<br />

ll. Wichtiges und Interessantes<br />

1. Aus dem Alltagsleben der <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

a) Der Hausbau _ . . . _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ 175<br />

b) Das Obst - ein wichtiger Vitaminspender<br />

fürjung und alt . _ . . . . . . . _ _ _ _ _ 180<br />

9


Lehrer Keller berichtet in seiner<br />

„Heimatchronik“ aus dem Jahre 1935:<br />

a) Von den <strong>Reichelsheim</strong>er Vereinen _ _ _<br />

b) <strong>Reichelsheim</strong> und seine Schulen -<br />

eine wechselvolle Geschichte _ _ _ _ _ _<br />

c) Geschichte der <strong>Reichelsheim</strong>er Post _ _<br />

3 Sitten und Gebräuche in <strong>Reichelsheim</strong> _ _<br />

a) Der.lahresablauf _ _ _ _ _ _ _ _ _ _<br />

b) Der Lebenslauf. _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _<br />

c) Kirchliche Vorschriften zu den Feiern<br />

des Lcbenslaufes _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _<br />

d) „Der Mäusekuchen“ -eine <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

Besonderheit____..________..<br />

Von Petschau und anderswo nach <strong>Reichelsheim</strong><br />

-ein Wegin eine neue Heimat. _ _ _ _ _ _ _ _<br />

Hymnen und Gedichte an die Heimatstadt<br />

<strong>Reichelsheim</strong>._.___.__.._..<br />

Abschließende Frage: Was heißt das eigentlich:<br />

„<strong>Reichelsheim</strong>er Stehkragenbaucr“? _ _ _ _ _<br />

_<br />

183<br />

188<br />

190<br />

193<br />

194<br />

198<br />

201<br />

203<br />

206<br />

207<br />

209<br />

Anhang:<br />

Flur- und Gcwann-Namen aus dem Schatzungsbuch<br />

von1734bzw.1721<br />

Literaturverzeichnis _ _ _


I. Geschichtliche Betrachtungen<br />

1. a) Vorgeschichte<br />

Wo fruchtbarer Boden urıd gemäßigtes Klima, wo zudem<br />

Wasser in ausreichendem Maße vorhanden ist, da<br />

haben sich seit Urzeiten Menschen niedergelassen, haben<br />

sich einen Unterschlupferrichtet, haben Früchte der<br />

Natur gesammelt, das Wild gejagt bzw. sich eine Hütte<br />

oder ein Haus gebaut, den Boden bearbeitet und Haustiere<br />

gehalten, Handwerke entwickelt und Kulturgüter<br />

geschaffen.<br />

Bodenbeschaffenheit, Klima und geographische Lage<br />

haben die Wetterau seit alters her zu einem begehrten<br />

Siedlungsgebiet der Menschen werden lassen. Deswegen<br />

wundert es nicht, daß sich auch in dem Gemarksgebict<br />

von <strong>Reichelsheim</strong>, diesem „Flecken im Herzen der Wetterau“,<br />

immer wieder Zeugnisse der Vergangenheit auffanden.<br />

Auch wenn um und in <strong>Reichelsheim</strong> nicht so intensiv<br />

nach Funden gesucht wurde wie in anderen Gemeinden<br />

der Region, so haben wir doch genügend Zeugnisse aus<br />

jenen alten Zeiten. Wir wissen, daß hier in <strong>Reichelsheim</strong><br />

schon in der Jungsteinzeit Menschen siedelten, denn an<br />

mehreren Stellen wurden Steinwerkzeuge gefunden. ln<br />

den Ortschaften rurıd um <strong>Reichelsheim</strong> hat es zudem<br />

viele Keramikfunde gegeben, die davon Mitteilung machen,<br />

daß hier schon vor 7000 Jahren Anfänge einer<br />

Landwirtschaft zu finden sind und damit auch die Anfänge<br />

der bewußten Umweltveränderung durch Menschenhand,<br />

seien dies Rodungen oder einfache Drainierungen<br />

gewesen. Diese Maßnahmen nahmen über Jahrhunderte<br />

und Jahrtausende zu und machten aus dem ursprünglichen<br />

Wald- und Wiesengebiet der Wetterau das, was wir<br />

heute kennen: eine äußerst intensiv genutzte und deswegen<br />

„ausgeräumte“ Ackerlandschaft_<br />

Die gefundenen Keramikscherben, die dem ungeübten<br />

Laienblick nicht sofort verraten, wie harmonisch die<br />

Gefäße einst geformt waren, teilen uns aber vor allem<br />

Bild der Ste1`naxr,<br />

die in der Reicf/1el.s/2ciım~'r Sac'/


„Zur Besiedlungsstruktur innerhalb der Landschaft<br />

läßt sich aus heutiger Sicht nur sagen, daß man im Abstand<br />

von zwei bis drei Kilometer voneinander Gehöfte<br />

oder kleinere Ansiedlungen rechnen darf, die aber wohl<br />

keinen Dorfcharakter hatten.“<br />

Ist man von der Aussage über die „Siedlungsdichte“<br />

der Wetterau überzeugt, so stellt man bei einem Blick<br />

auf die Landkarte des heutigen Wetteraukreises fest, daß<br />

eben dieser Abstand von zwei bis drei Kilometern zwischen<br />

den einzelnen Dorfkernen besteht- ein möglicher<br />

Hinweis darauf, daß die Siedlungsflecken immer wieder<br />

überbaut wurden, daß also selten alte Ansiedlungen<br />

„aufgelassen“ (= verlassen) und statt dessen neue Fluren<br />

zur Besiedlung ausgesucht wurden.<br />

In der frühen Bronzezeit, also vor ca. dreieinhalb bis<br />

viertausend Jahren, bildeten neben dem Bodenbau die<br />

Viehhaltung bzw. -nutzung (Rinder zu 50%, Schafe/<br />

Ziegen bzw. Schweine zu je ca 20%; s. hierzu Pinsker,<br />

S. 165) die Grundlage der wirtschaftlichen Existenz der<br />

frühen Menschen in der Wetterau.<br />

Daneben mußten aber auch andere Tätigkeiten beherrscht<br />

worden sein, denn Funde aus jener Zeit, z. B.<br />

Webgewichte und Spinnwirtel (= Schwunggewichte),<br />

Weisen auf Textilherstellung und -verarbeitung hin bzw.<br />

Siebgefäße auf die Verarbeitung von Molkereiprodukten<br />

oder Reib- und Mahlsteine auf die Fertigkeit zur<br />

Getreideverarbeitung_<br />

Aber auch Schmuck und Waffen fanden sich ausjener<br />

historisch dunklen Zeit. Eine Bronzenadel, an der Horloff<br />

gefunden, ging leider im letzten Krieg im Landesmuseum<br />

in Darmstadt verloren.<br />

Fundierte Beweise für die Ansiedlung von Menschen<br />

in <strong>Reichelsheim</strong> gibt es aber aus der „Jüngeren Bronzezeit“,<br />

die 2800 bis 3200 Jahre zurückliegt (also 12. bis<br />

8. Jahrhundert vor Christi Geburt). Urnenfelder an ver-<br />

Messer, gefunden in eirıern Reíchelsheim.er<br />

Brandgrab („Jüngere Bmnzezeit/ Urnenfelderzeit“,<br />

1200-750 v. Chr.) / Foro: H. Haag<br />

schiedenen Stellen bestätigen eine lang andauernde Besiedlung<br />

der .<strong>Reichelsheim</strong>er Gemarkung zu jener Zeit.<br />

Bei Drainagearbeiten im Jahre 1881, westlich vom alten<br />

Ortskern, etwa 200 Schritt weit vom Friedhof entfernt,<br />

stieß man auf Spuren von Gräbern. Es wurden<br />

auch Urnen (80 bis 90 cm hoch, mit Deckel) mit „Asche<br />

und menschlichen Knochenteilen“ bei Ausgrabungen in<br />

den Jahren 1909, 1910, 1927 und 1933 gefunden, und<br />

zwar im damaligen Hofe des Karl Horack (Im alten Dorf,<br />

nördlich der Stadtmauer: früher hieß dieser Bereich<br />

„Auf dem alten Dorf“) sowie auf der Gänsweide (östlich<br />

des alten Ortskernes, im Bereich des heutigen Kindergartens<br />

und des alten Sportfeldes). Im Wetterauer Museum<br />

sind noch einige dieser Fundstücke aufbewahrt. Sie<br />

zeigen den hohen kunsthandwerklichen Standard während<br />

der Bronzezeit.<br />

Ob die Gegenstände auch hier in <strong>Reichelsheim</strong> hergestellt<br />

wurden, das weiß man nicht, weil bisher weder hier<br />

noch in der ganzen Wetterau Reste von Brennöfen gefunden<br />

wurden_ Wurden sie nicht hier in <strong>Reichelsheim</strong><br />

oder der Wetterau hergestellt, so beweist dies wiederum,<br />

daß zu jener Zeit schon ein reger Handelsverkehr stattgefunden<br />

haben muß.<br />

12


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fr<br />

'ta<br />

Bretonen enthalten noch heute wesentliche Kennzeichen<br />

der keltischen Sprachgruppc)_<br />

Die Kelten waren ein reges Handelsvolk: Sie tauschtenz.<br />

B. den beliebten Bernstein der Ostsee mit Keramiken<br />

aus Norditalicn, das Kupfer aus Britannien mit dem<br />

Salz der Atlantikküste oder der ınitteleuropäisclıcn Salincn.<br />

Sie waren es erwicscnermaßen_ die in der Bad Nauheimcr<br />

(`ıcmarkung als erste Menschen Salz sicdetcn.<br />

Reste der Siedcöfcn konnten dies beweisen.<br />

/lrı-fczrmg und Nmfcin. ge/iizrtııfwz in Beim:/m`ı~21<br />

(__./Üf'1gcfire Brr›H2ífi'2fciI/ Urnc*fı_/i'/c.l('ı"_:1cil<br />

1200-750 v. (_`/zr. ) / Foto I I. Haag<br />

,_'.<br />

Vor den aus deın Norden vordringeııden Germanen<br />

lebten auch in der Wetterau die Kelten. die ,_Erhabcnen“,<br />

die „Tapferen“. wie die Griechen und die Römer<br />

die Angehörigen dieser Volksgruppe chrfurclıtsvoll<br />

nannten.<br />

Staatenbildend_ wie die Griechen und die Römer oder<br />

später die germanischen Franken, waren die Kelten wenig:<br />

Nur in Notzciten gab es Zusaınmensehlüssc in Stammesform,<br />

was den nach Norden vordringenden römischen<br />

Legionen sehr zum Vorteil gcreichte_<br />

Zu ihrer Glanzzcit - 200 bis 100 vor Christi Geburt -<br />

beherrschten die keltischen Stämme mit ihrer Kultur nahezu<br />

ganz West-, Mittel- und Südosteuropa: Vom Atlantik<br />

bis nach Kleinasien, von Britannien bis nach Norditalien<br />

und Spanien reichte ihr Einflußgcbiet (die eigentlichen<br />

Muttersprachen der Schotten, Waliser, Iren oder<br />

'l`r›ngc_/Zıß, gc'_/imd('ı1 als l:`iı::r'l.m`ı`r'/< in /\'


1. b) Die Zeit nach Christi Geburt<br />

Die Zeit nach Christi Geburt, also die sogenannte Zeitenwende,<br />

ist besicdlungsgeschichtlich unklar: „In der<br />

Forschung wird. _ _ seit längerem die Frage diskutiert, inwieweit<br />

auch die Wetterau in den Jahren um Christi Geburt<br />

und in den folgenden Jahrzehnten germanischc Besiedlung<br />

getragen hat. Wenn dabei besonders an clıattische<br />

Stammessplitter gedacht worden ist, so war das zwar<br />

anhand des spärlichen und spröden Fundmaterials nicht<br />

sicher zu belegen. iın Hinblick auf die spätere Entwicklung<br />

des 2. und 3. Jahrhunderts n. (flır. _jedoch durchaus<br />

vorstellbar (B. Steidl, „Frühkaiserzcitlichc germanischc<br />

Besiedlung in der Wetterau“, in: _,Wcttcrauer Geschichtsblätter“_<br />

Bd. 40, S. 2l7f.)_<br />

Kelten, Germanen (hier besonders die Chatten, die<br />

uns Hessen später ihren Namen gaben, sowie die Alamannen)<br />

und dann die Völker des riesigen römischen<br />

Imperiums trafen hier in der Wetterau zusammen, also<br />

die unterschicdlichsten Kulturen, die unterschiedlichsten<br />

Interessen, Menschen mit unterschiedlichsten Anlagen,<br />

welche diese Region und die Menschen dieser Region<br />

in späteren Generationen prägen sollten.<br />

Besonders kraß und intensiv war das Zusammentreffen<br />

dieser drei genannten Kulturkreise in der Wetterau,<br />

weil der am Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. durch Kaiser<br />

Domitian befohlene Limesbau diese Gegend durchschnitt,<br />

und die damals natürlichen Wanderungen der<br />

Stämme und Völker wesentlich erschwerte: Der LIMES<br />

stellte statt dessen die Kulturräume in Konfrontation zueinander.<br />

Die ersten Versuche der Römer unter Drusus - einem<br />

Stiefsohn des berühmten Kaisers Augustus- im Jahre 10<br />

v. Chr. das rechtsrheinische Gebiet von Mainz aus zu erobern<br />

und dauerhaft zu besetzen, scheiterte. Die Niederlage<br />

der Römer 9 n. Chr. gegen die verbündeten germanischen<br />

Stämme im nördlichen Teil der Mittelgebirge<br />

(„SchIacht im Teutoburger Wa1d“) zwang sie, sich vorübergehend<br />

aus der Wetterau wieder zurückzuziehen.<br />

Ob die Legionen Roms bis dahin auch auf Widerstand<br />

der hier lebenden Menschen gestoßen waren, das ist<br />

nicht bekannt. Aber es ist nicht davon auszugehen, ist<br />

doch unter den Wissenschaftlern heute die Überzeugung<br />

verbreitet, daß dieses Stück fruchtbaren Bodens nordöstlich<br />

der römischen Bastionen Mainz, Höchst und Nida<br />

(= heute: Frankfurt-Heddernheim) zu jener Zeit nur<br />

recht dünn besiedelt war. Die Angriffe der Legionen<br />

führten verständlicherweise eher dazu, daß sich die germanischc<br />

Bevölkerung aus Angst vor Gefangenschaft<br />

und Sklaverei nach Norden hin verzog, meist auch in den<br />

waldreichen Vogelsberg, als in aussichtsloser Lage ihren<br />

Hof verteidigen zu wollen.<br />

Daß die Chatten und die anderen germanischen Stämme<br />

über die Anwesenheit der römischen Eroberer in unserer<br />

Heimatregion nicht erfreut waren, zeigen ihre kriegerischen<br />

Aktionen in den Folgejahrzehnten („Chattenkriege“)_<br />

Sie waren schließlich Anlaß für Kaiser Domitian,<br />

den Befehl zum Bau einer viele hundert Kilometer<br />

langen Grenzbefestigung zu erteilen, den Befehl zum<br />

Bau des LIMES: von Koblenz über den südlichen Taunus<br />

und dann an dessen Osthang nördlich in die Wetterau<br />

bis in die Gegend des heutigen Arnsburg und schließlich<br />

am westlichen Rand des Vogelsberges entlang südlich<br />

dem Main, dem Neckar und schließlich der Donau<br />

zu.<br />

Verlauf des Limes in Oberhessen<br />

14


` Obergermanien um 100 `<br />

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Kastell, vermutet<br />

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Wie sehr <strong>Reichelsheim</strong> von dieser Grenzziehung betroffen<br />

war, kann sich jeder vorstellen, der den hiesigen<br />

Verlauf des Limes betrachtet: Die Kastelle von Echzell<br />

und Florstadt lagen in unmittelbarer Nähe, ja sie und zugleich<br />

das ganze Gebiet von Nordwest nach Südwest waren<br />

von hier hervorragend sichtbar, vor allem von dem<br />

unmittelbar an der Gemarkungsgrenze zu <strong>Reichelsheim</strong><br />

gelegenen Loehberg (auch Luh-, Loh- oder Lugberg genannt),<br />

dieser kleinen Basaltkuppe nahe der „Bingenheimer<br />

Mühle“, rechts der Straße von <strong>Reichelsheim</strong> in<br />

Richtung Bingenheimer Kreuz. Hier stand auch logischerweise<br />

ein römisches Kleinkastcll, ein Steinbau von<br />

etwa 400 qm. „Die Höhe diente als Richtpunkt zum Abstecken<br />

der Grenzlinie“ (s. „Die Römer in Hessen“,<br />

Hrgb. Dietwulf Baatz und Fritz-Rudolf Hermann,<br />

S. 408). Das Gemarktıngsgebiet des heutigen <strong>Reichelsheim</strong><br />

war damals also unmittelbares Grenzland, gelegen<br />

im nördlichen Zipfel' des riesigen „Imperium Romanum“,<br />

des römischen Weltreiches.<br />

Es darf allerdings nicht angenommen werden, daß dieser<br />

Grenzwall völlig undurchlässig war. „Passierstellen“,<br />

vor allem bei den gut befestigten Kastellen, erlaubten<br />

einen „Kleinen Grenzverkehr“. Sie führten aber auch<br />

dazu, daß sich mancherorts beidseitig dieses Sehutzwalles<br />

Ansiedlungen bildeten: Manche Fuhre Getreide mag<br />

in das römische Gebiet gefahren, manche „wertvollen<br />

Gebrauchsgüter“, wie Keramiken und Eisengerät, aber<br />

auch Tuchwaren und Schmuck, mögen in das unbesetzte<br />

germanische Gebiet zurückgetauscht worden sein. Der<br />

eine oder andere junge Chatte, Cherusker oder Suebe<br />

wird in Richtung Süden bei Eehzell, Florstadt oder Altenstadt<br />

das Palisadentor des Limes durehschritten ha»<br />

16<br />

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ben, um sich gegen gute Münze und verführerische Versprechungen<br />

den „glorreichen“ römischen Legionen anzuschließen.__<br />

Spc'itrr`›`mist:/ze Keramiken, Sr:/'a'i_s'_s'el und Kanne -<br />

ge_fia'1_den in Reic/2eI.s'heim<br />

(4. Ja/ırhanderrn. Chr. ) /Foto H. Haag<br />

Innerhalb des römischen Herrschaftsgebictes, also<br />

auch in der Wetterau, wurde zudem eine rege Siedlungspolitik<br />

betrieben: Die Veteranen des Heeres erhielten<br />

als eine Art „Pension“ zum Abschied oft Land nahe des<br />

Limes übereignet_ Sie ließen sich nieder, bauten sich eine<br />

„Villa rustica“, also ein landwirtschaftliches Anwesen,<br />

bearbeiteten Wald, Wiesen und Felder (oder ließen sie<br />

bearbeiten ~ Sklavenarbeit war in jener Zeit die Regel)<br />

und versorgten damit sich und durch Abgaben oder<br />

Überschüsse die Legionen in den Kastellen oder die Zivilisten<br />

in den Städten des Imperium Romanum.<br />

Daß die Felder und Wiesen des heutigen <strong>Reichelsheim</strong><br />

auch zur Ernährung der römischen Heerseharen beitrugen,<br />

das ist sicher. Allerdings gibt aus jener Zeit keine<br />

konkreten Funde. Wie schon an anderer Stelle ausgeführt:<br />

Durch die intensive landwirtschaftliche Nutzung<br />

der Felder über Jahrhunderte, _ja Jahrtausende hinweg<br />

wurde vieles zerstört, wurde vieles dem heutigen Bestreben<br />

nach Bewahrung der Zeugnisse der Vergangenheit<br />

entzogen _<br />

Doch vergessen wir nicht: Am südlichen Rand der Wetterau<br />

lagen die bedeutenden römischen Siedlungen Nida<br />

und Höchst; nicht viel weiter lag Mainz, die imposante Metropole<br />

der Römer in Germania. Aber auch die vielen Kastelle<br />

entlang de_s Limes über den Taunus, allen voran die<br />

(als Rekonstruktion wieder zu bestaunende) Saalburg,<br />

mußten aus der fruchtbaren Ebene zwischen Taunus und<br />

Vogelsberg beliefert werden. I)ic Wetterau ınit ihren ertragreiehen<br />

Wiesen und Felder war damit äußerst wichtig<br />

für die römische Politik zur Sicherung des Nordens des<br />

Weltreiches: Die vielen Römcrstraßen_ die noch heute<br />

schnurgeradc unser Kreisgcbiet durchschneiden, verraten<br />

dies _jcdem interessierten Betrachter.<br />

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1. c) Von den Römern zu den Franken<br />

Woher die Bezeichnung „Römerberg“ in <strong>Reichelsheim</strong><br />

kommt, darüber gibt es verschiedene Geschichten<br />

bzw. Deutungen. Manch einer bringt es gerne mit der<br />

Tatsache zusammen, daß auf der Erhebung des Römerberges<br />

das Rathaus steht, in welchem verwaltet, in welchem<br />

in gewissem Umfang Orts- und Marktrecht beschlossen<br />

und gesprochen wurde. Den Namen hätten die<br />

<strong>Reichelsheim</strong>er von dem Rathaus im 40 Kilometer entfernten<br />

Frankfurtam Main, genannt der „Römer“, übernommen.<br />

Das mag sein, wenn auch die Frankfurter<br />

selbst - aber auch <strong>Reichelsheim</strong>er - solche eine Möglichkeit<br />

ausschließen. Wenn sie zuträfe, so fragen sich<br />

viele, warum haben andere Orte aus dem Rhein-Main-<br />

Gebiet ihr Rathaus nicht auch „Römer“ genannt?<br />

Schön wäre es natürlich, wir könnten die Bezeichnung<br />

für diese höchste Erhebung innerhalb des Altortes <strong>Reichelsheim</strong>,<br />

von der man aus, denkt man sich alle Häuser<br />

weg, die Horloffaue weit überblicken kann, mit historischen<br />

Funden belegen, also mit Zeugnissen aus der römischen<br />

Herrschaftszeit. Militärs, so weiß man allgemein,<br />

suchen sich für Sieherungsposten gerne vergleichbare<br />

geologische Erhebungen (s. auch auf` der anderen Seite<br />

der Horloffaue den Luh- oder Lochbcrg).<br />

Wenn man zudem bedenkt, daß die Echzeller Kirche<br />

direkt auf römischen Bauten erstellt wurde und die Häuser<br />

der Römer wohl als „Steinbruch“ für das christliche<br />

Gotteshaus genutzt wurden - warum sollte Vergleichbares<br />

nicht auch bei unserem Siedlungsflecken Fakt gewesen<br />

sein. . '?<br />

Zwar wird auf der Höhe des Römerberges eher eine<br />

„VILLA RUSTICA“ gelegen sein als eine militärische<br />

Wachanlage. „Für den Bau einer Hofanlage bevorzugten<br />

die Römer die Hanglage an einer sonnigen Talseite,<br />

möglichst über einem Wasserlauf gelegen. Zusätzliche<br />

Brunnen stellten die Wasserversorgung sicher. Damit<br />

stand eine höher gelegene trockene Zone für den Ackerbau<br />

und eine feuchte Talzone für Weideland zur Verfügung.<br />

_ _ Die meisten Siedlungsplätze lagen nach aktueller<br />

Kartierung an einem Osthang.“ So schreibt Vera<br />

Rupp, die Archäologin des Wetteraukreises, in ihrem<br />

jüngst erschienenen Aufsatz: „Römische Landwirtschaft<br />

in der Wetterau“ („Wcttcrauer Geschichtsblätter“,<br />

Bd.4(), 1991, S.25l). Frau Dr. Rupp beschreibt dabei<br />

zwar nicht den Sicdlungsstandort <strong>Reichelsheim</strong> zur Zeit<br />

der Besetzung der Wetterau durch die römischen Legionen<br />

- aber alles scheint darauf zu passen: Der Römerberg<br />

hat Osthanglage, an seinem Fuß fließt die Horloff<br />

1.<br />

durch ein fruchtbares Weideland; wasserreiche Brunnen<br />

gab es in frühere Zeit auch, und höher gelegene, also<br />

„trockene“ Ackerflächen waren genügend vorhanden.<br />

Doch konkrete Funde haben wir nieht. Was wir haben,<br />

ist eine Bemerkung des Schriftstellers Georg Schäfer,<br />

der in seinem 1898 verfaßten Heimatroman „Der wilden<br />

Frauen Gestühl“ schrieb:<br />

„Unmittelbar hinter der <strong>Reichelsheim</strong>er Kirche zieht<br />

sich ein Häuserkomplex hinab, der den Namen Römerberg<br />

führt. Wenn die Einwohner dort einen Keller graben,<br />

einen Brunnen ausschachten oder ein Fundament<br />

ausheben, fördern sie kostbare goldene Armringe, Nadeln<br />

mit Edelsteinen besetzt, Goldmünzen und seltene<br />

Urnen, alles von unschätzbarem Werthe zu Tage.“ G.<br />

Schäfer machte in einer Fußnote (s. S. 2()()f.) den gezielten<br />

Hinweis: „Historisch“, um die Aussage über das<br />

Beschriebene wirklich glaubhaft erscheinen zu lassen.<br />

Wie dem auch sei: <strong>Reichelsheim</strong>s Gemarkungsgebiet<br />

lag seit der Zeitenwende für über 250 Jahre in unmittelbarem<br />

Grenzgebiet des römischen Imperiums zu den<br />

Siedlungsgebieten verschiedener germanischer Stämme.<br />

Aus der Chronik von Echzell („l2()0 Jahre Echzell“)<br />

wissen wir, daß das dortige Kastell, das ca l()()(l Mann be-<br />

|8


herbergte (davon 500 Reiter), mehrfach (zumindest<br />

zweimal) zerstört wurde, einmal in der 2. Hälfte des<br />

2. Jahrhunderts, wahrscheinlich in Zusammenhang mit<br />

germanischen Angriffen, und einmal im Jahre 233 während<br />

eines Alamanneneinfalls.<br />

Die Angriffe, so wissen wir heute, richteten sich auch<br />

gegen die Kastelle Oberflorstadt und Altenstadt. Das<br />

Klcinkastell auf dem Lochbcrg bei unserem Ort wird<br />

gewiß rıicht verschont geblieben sein - und damit auch<br />

nicht die Menschen mit ihrem Hab und Gut, die in dem<br />

damaligen Gebiet von <strong>Reichelsheim</strong> ihre Siedlungsstelle<br />

hatten.<br />

Die Römer konnten die drängenden Chatten und Alamannen<br />

jeweils zurückdrängen - doch für unsere Region<br />

kündeten die Angriffe einen historischen Wandel an:<br />

nämlich den Rückzug der römischen Legionen und in deren<br />

Folge auch den der römischen Siedler aus der<br />

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Weckesheim) freigab, ein besonderes Indiz für die längere<br />

Siedlungszeit der Alamannen in der Gemarkung des<br />

heutigen <strong>Reichelsheim</strong>.<br />

Da Friedhöfe in jener Zeit meist außerhalb des Siedlungsbereiches<br />

lagen, kann darauf geschlossen werden,<br />

daß iın Bereich des heutigen Ortskernes und/oder im Bereich<br />

des Ortsteiles „lm alten Dorf“ vielleicht vor ca.<br />

I600 Jahren Alamannen ihre Heimat hatten.<br />

Fihe/ aus Brt›ftz_e um! (fürtelsrhmtl/e aus Eisen,<br />

ge/:`t.mden in einem Mfittfrtergrrtlı in Reiche/_s'/rein:<br />

(4. .lahrhmtc/ert) / Foto H. Hau_t,f<br />

Gefäße aus einem Mahrtergrab bei Reit;'helshet`m<br />

(4. Jahrhundert) / Foto H. Haag<br />

Hartdge/ertigtes (Iejafß aus dem 4. _/ahrht.-mdert,<br />

geftmden in Re1`c'helsheim / Foto H. Hr.tag<br />

Die Alamannen, die kein festes Staats- und Verwaltungsgefüge<br />

kannten, hatten auf dem Glauberg den Sitz<br />

eines ihrer Kleinkönige. Aber sie waren zu locker organisiert,<br />

und so kam auch das Ende ihrer Siedlungszeit in<br />

der Wetterau nach der Niederlage gegen die Franken.<br />

Von jenen wurden sie schließlich in das Gebiet südlich<br />

der Neckarmündung verdrängt.<br />

In Folge begann die prägende Zeit der aus dem Westen<br />

vordrängenden Franken, beherrscht von dem Geschlecht<br />

der l\/lerowinger und später der Karolinger. Mit<br />

ihnen, mit den Franken, trat <strong>Reichelsheim</strong> auch an das<br />

Licht der urkundlichen Existenz. Sie waren demnach die<br />

„historischen Urväter“ des heutigen <strong>Reichelsheim</strong>, zumindest<br />

aber die, die diesem Ort den Namen geben.<br />

20


2. a) Die Franken - die Namensgeber von <strong>Reichelsheim</strong><br />

In den Jahren 496/497 n. Chr. besiegte der Frankenkönig<br />

Chlodwig die Alamannen bei Zülpich (heute Kreis<br />

Euskirchen in Nordrhein-Westfalen). 506 n. Chr. wird<br />

der letzte Widerstand der Alamannen bei Straßburg<br />

gebrochen.<br />

Die Frankenkönige aus dem Adelshaus der Merowinger<br />

wollten nicht nur Siedlungsgebiet für ihre Volksscharen,<br />

wie dies bei den anderen germanischen Stämmen<br />

oder Stammesverbänden meist der Fall war; die Frankenkönige<br />

wollten herrschen, wollten ihr Herrschaftsgebiet<br />

ausdehnen. Und sie waren erfolgreich, weil sie<br />

eine funktionierende Verwaltung aufbauten, z. B. durch<br />

einen von ihnen abhängigen Amts- bzw. Verdienstadel,<br />

den sie geschickt einzusetzen wußten. Sie waren aber<br />

auch deswegen erfolgreich, weil sie sich einen starken, in<br />

Verwaltungsfragen kompetenten, weil durch das alte<br />

Römische Reich geprägten Verbündeten suchten: die<br />

christliche Kirche, die sehon damals recht straff vom<br />

Bischof von Rom, dem Papst, geführt wurde.<br />

Ein Jahr nach seinem Sieg über die Alamannen läßt<br />

sich Chlodwig in Reims (im heutigen Frankreich gelegen)<br />

von dem dortigen Bischof taufen. Dieser Vorgang<br />

war kein privates Ereignis - diese sakrale Handlung<br />

machte das Christentum zur fränkischen Staatsreligion!<br />

Die Taufe Chlodwigs wurde für das Reich der Franken<br />

und zugleich für die römische Kirche zum Grundstein<br />

eines großen historischen Erfolges.<br />

Die Ausbreitung des Christentums ging somit einher<br />

mit der Ausbreitung des Frankenreiches. So kam auch<br />

der christliche Glauben schon im 6. Jahrhundert in die<br />

Wetterau. Die fränkischen Könige gaben die eroberten<br />

Gebiete treuen und verdienstvollen Anhängern auf Lebenszeit<br />

„zu Lehen“ oder sie verschenkten große Flächen<br />

an Klöster und Kirchen, welche diese wiederum an<br />

Repräsentanten des alten germanischen Adels oder an<br />

treue fränkische „milites“ (Reiter bzw. Ritter), welche<br />

der Kirche durch besondere Ergebenheit aufgefallen waren,<br />

auf Lebenszeit zu Lehen. Damit gewannen Kirche<br />

und Klöster diese Vertreter der weltlichen Macht endgültig<br />

für den Glauben des Bischofs von Rom, demnach<br />

für das Christentum. Weltlicher Adel und kirchliche<br />

Führer wirkten also im Verbund: Damit konnte am sichersten<br />

der alte Glauben und das Streben nach alter germanischer<br />

Stammesherrschaft überwunden werden.<br />

Bald hatten sich die Franken weit nach Hessen und<br />

Thüringen (das heutige Osthessen war damals Teil Thüringens)<br />

ausgebreitet. Systematisch betrieben sie den<br />

Landesausbau. „Man siedelte meist am Fuß der randlichen<br />

Hügel, über einem Wasserlauf gelegen“ (Vera<br />

Rupp „Spätantike und Frühmittelalter in der Wetterau -<br />

Eine Einführung“, in: „Wetterauer Geschichtsblätter“,<br />

Bd. 40. S. 290). Weiter schreibt Vera Rupp in ihrer wissenschaftlichen<br />

Abhandlung: „Viele fränkische Höfe<br />

liegen offenbar unter heutigen Ortskernen und werden<br />

somit nur in Ausnahmefällen entdeckt.. . In der Wetterau<br />

sind bisher nur wenige Spuren fränkischer Siedlungen<br />

zutage gekommen. Jedoch weisen Ortsnamen mit Endungen<br />

wie -weil oder -heim auf frühfränkische Siedlungsgründungen<br />

hin - z. B. Dortelweil, Petterweil oder<br />

<strong>Reichelsheim</strong>; bei letztgenanntem Ort fand man einen<br />

frühmittelalterlichen Friedhof.“<br />

Auch in der Chronik unserer Naehbargemeinde Echzell<br />

wird schon auf <strong>Reichelsheim</strong> als eine frühmittelalterliche,<br />

also zunächst alamannische, dann fränkische Siedlung<br />

hingewiesen: „Unter den benachbarten Königshöfen<br />

in den Gemarkungen Berstadt, Bingenheim, Dauernhcim<br />

und <strong>Reichelsheim</strong> können die frühmittelalterlichen<br />

Funde besser als die jüngeren Schrifturkunden die<br />

alamannische und seit dem 6. Jahrhundert die fränkische<br />

Nachfolge des weithin agrarisch genutzten, bislang römi-<br />

21


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Beispiel einer ()rtsgri'incliing in kar0li`rigı`_s'ch.er Zeit,<br />

hier Würzburg (entn. : E. Lehmann, „Za den<br />

baulicher: Anfängen, der detitscheri Stadt“, S. 225)<br />

schen Dekumatenlandes (_- „ Zehntlandes“, also altrömischf_*K<br />

es olonialgebiet " f 'F in ' Deutschland) _ be zeugen“ * (W.<br />

Jorns_ „ Zur Früh g fesch` _* ic h te von Echzell“ in: „l200Jahre<br />

E<br />

LI.<br />

chzell , S. 22).<br />

Wann <strong>Reichelsheim</strong> genau gegründet wurde?<br />

Besser: Wann <strong>Reichelsheim</strong> _ zu einer fränkischen Siedlung<br />

erhoben un<br />

d darauf seinen ` Namen erhielt?<br />

`<br />

Hier bleiben Fragezeichen!<br />

Wir wissen ledigrlic h , daß es wahrscheinlich _ im 6 . und<br />

7. Jahrhundert fester Bestandteil des Frankenreiches<br />

wurde.W`ie ob en schon angefuhrt, " pflegten die Franken<br />

22<br />

Siedlungen die Endung „-weil“ oder„-h eım“ ' anzuhangen.<br />

Diese fügte<br />

n sie ` entweder Namen von Sache n<br />

_<br />

oder von Personen an:<br />

„Stein-heim“ oder „Holz-heim“<br />

Eš _ __...--.\ bzw.: „Heuchel-heim“ (nach „huch'l io“, der Spötter)<br />

\ „Weckes-heim“ (nach „Weggo“, der Schathirte)<br />

Reichels-heim (nach „Richolf , im Mittelalter<br />

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ein bel' iebter Mannername, *` in ` der Bedeutung.<br />

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„Der treu zum Reich steht“).<br />

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Wahrscheinlich wurde einem verdienten Franken unsere<br />

Ansiedlung zur Verwaltung und Nutzung gegeben.<br />

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Da Historiker wie W. Jorns (s. o.) vom Bestehen eines<br />

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„fränkischen Königshofes“ in <strong>Reichelsheim</strong> ausgehen<br />

(entweder im Bereich des Ortsbereiches „Im alten Dorf“<br />

dessen Flurbezeichnung bis in das 18. Jahrhundert vielsagend<br />

„Auf dem alten Dorf“ lautete) oder im Bereich des<br />

Römerberges - oder vielleicht auch beides'?), so haben<br />

wir durch diese Bezeichnung die Aussage darüber, daß<br />

einem „Richolf“ vom König der Franken dieser Siedlungsflecken<br />

zu Lehen gegeben worden war, nicht von<br />

der Kirche oder von einem Kloster. Da sich ab dem<br />

8. Jahrhundert aus dem fränkischen Verdienstadel der<br />

Geburtsadel entwickelte - die Könige wurden wegen der<br />

zunehmenden Größe ihres Reiches immer abhängiger von<br />

der militärischen Adelsschicht, also den Rittern und den<br />

Grafen -, wurde der Name des ursprünglich Beschenkten<br />

häufig zum Kern des heute noch existenten Ortsnamens.<br />

Daß die Rö mer ihre ' Siedlungsplatze ` " meist _ an „ e' ınem<br />

Osthang“ errichteten, „an einer sonnigen Talseite, möglichst<br />

über e' inem Wasserlauf ' ` gelegen“ (s _ Vera' Rupp in<br />

ihrem schon genannten Aufsatz „Römische Landwirtschaft<br />

in d er Wetterau“ in ` „ Wetterauer Gesich' ichtsblät-<br />

ter“,Bd.40,S.25l),d' as' wurde schon ¬ im ` vorherigen ` Ka-<br />

dargestellt. Daß die Alamannen sich in der Regel al-<br />

pitel<br />

te römische Siedlungspl"<br />

atze aussuchten, auch das wurde


schon gesagt. Und von den Franken haben wir historisch<br />

belegte Siedluiigsbcispiele. die genau auf <strong>Reichelsheim</strong><br />

zu übertragen sind und die die historische Siedlungsabfolge<br />

von den Römern zu den Alamannen zu den Franken<br />

zu beweisen scheinen. ln seinem Aufsatz „Zu den<br />

baulichen Anfängen der deutschen Stadt“ gibt er u. a.<br />

eine Plaiiskizze von Würzburg aus der karolingischen<br />

Zeit, der Zeit, in der auch <strong>Reichelsheim</strong> als Teil des<br />

Herrscliaftsbereichs der Franken „historisch“, also urkundlich,<br />

das Licht der Welt erblickte (s. nebenstehende<br />

Skizze).<br />

<strong>Reichelsheim</strong> ~ als „Richolfcsheim“ ~ gehörte als südlicher<br />

Zipfel mit den umliegenden Orten zu dem Gau<br />

„Wetereiba“, also der Wetterau, das die Frankenkönige<br />

schon recht früh dem Bonifatius-Klostei' Fulda gcsclienkt<br />

hatten. Vor allem die Dörfer Berstadt, Echzell,<br />

Dauernhcim, Heuchelheim und <strong>Reichelsheim</strong> gehörten<br />

zu der „Fuldischen Mark“. Die Grafen und Fürsten zu<br />

Nassau, welche von 1416 Besitzantcile an <strong>Reichelsheim</strong><br />

durch Tausch erwarben, mußten bis zum Ende des 18.<br />

Jahrhunderts, also bis zur Auflösung der kirchlichen Fürstentümer<br />

durch den Einfluß Napoleons, jeweils bei ihrem<br />

Regierungsantritt die Verlängerung des Lehens des<br />

halben Ortes <strong>Reichelsheim</strong> erbitten - was ihnen auch jeweils<br />

gewährt wurde, nachdem sie sich l423 die dem Bistum<br />

Fulda gehörende Hälfte unseres Ortes als „Erblehen“<br />

crkauft hatten (s. hierzu in folgenden Kapiteln die<br />

entsprechenden Urkunden und Textausführungen).<br />

Durch die Vergabe der Orte in der „Mark“ durch das<br />

besitzende Kloster Fulda an Grafen und Ritter der Region<br />

als „Lehen“ ergab sich die Notwendigkeit von Vertragsabschlüssen.<br />

Solche waren auch notwendig, wenn<br />

Ritter und Grafen der Gegend im Streit miteinander lagen.<br />

Zur Klärung der Streitfälle wurden angesehene<br />

Zeugen unter den Staiideskollegen gesucht. Diese Zeugen<br />

wurden in den Verträgen und Akten dann mit dem<br />

Zusatz, aus welchem Ort sie herstammten, benannt.<br />

Damit tauchen für die Zeit von 750 bis 900 n. Chr., in<br />

der sich - wie ausgeführt - im Frankenrcich aus dem<br />

Amts- bzw. Verdienstadel der Geburtsadel entwickelte,<br />

oft erstmals die Namen der timlicgenden Ortschaften<br />

auf. Denn durch die Veränderungen im Standesrccht<br />

kam es nun darauf an, den einst vom König oder von<br />

einem Kloster erhaltenen Besitz auch für die nach folgenden<br />

Generationen unstreitig abzusichern.<br />

Wenn ein Ort „Glück“ hatte, daß ein solches altes<br />

Schriftstück, das seinen Namen auffülirte, erhalten geblieben<br />

ist, so feierte er bereits seinen I200. (ieburtstag<br />

oder seinen llll. Geburtstag oder was auch immer.<br />

Wenn ein Ort nicht dieses „arcliivarisclie Glück“ hatte,<br />

so tauchte sein Naınc erst viel später auf, vielleicht in der<br />

Zeit des Raubrittei'tuirıs (wie dies z. B. bei Heuchelheim<br />

der Fall war) - und feiert deswegen in unseren .Iahren<br />

erst sein 750. Wiegenfest! <strong>Reichelsheim</strong>, dieser beschaulich<br />

an der Horlol`f gelegene Ort, der schon vor den Franken<br />

für viele Mcnschengeiierationen unterschiedliclistei'<br />

Volkszugehörigkeit Heimat war - dieses Reichelslıeim<br />

findet - nach Meinung der Forscher - seine erste urkundliche<br />

Erwähnung 8l7 ii. Chr. Konkret: Vor ll75 .Iahren<br />

tauchte der Name „Rieholfesheim“ erstmals in einer<br />

Urkunde auf.<br />

Es gibt zwar auch abweichende Angaben zur ersten urkundlichen<br />

Nennung unseres Ortes; so geben manche<br />

Ouellenforscher andere Jahreszahlen an: 718, 847 oder<br />

gar 852. _ _<br />

Das Hessische Staatsarchiv Marburg teilte I967 dem<br />

Magistrat der Stadt <strong>Reichelsheim</strong> folgendes mit: „Ein<br />

ansehnlicher Teil der ehemals sehr reichen Überlieferung<br />

der Reichsabtei Fulda ist im Laufe der Jahrhunderte<br />

seit der Reformation in Verlust geraten.“<br />

23


Da also viele Urkunden heute nicht mehr<br />

existent sind, soll es bei 817 gemäß der schriftlichen<br />

Aufzeichnungen des <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

Pfarrers Friedrich Frankenfeld bleiben, der<br />

sich 1849, also vor ca. 150 Jahren als erster die<br />

Mühe machte, die alten Unterlagen über <strong>Reichelsheim</strong><br />

zu durchleuchten, um Licht in die<br />

Vergangenheit seines Amtsortes zu bringen.<br />

Er schrieb (s. S. 87 der Pfarrchronik):<br />

„Reiche1sheim, früher Richolfesheim und<br />

Richolfheim genannt, soll im Jahre 817, wo<br />

Kaiser Ludwig der Fromme 187 Mansen<br />

(1 Manse umfaßte 30 Morgen Ackerland oder<br />

1 Hube. Das Wort kommt von ,manere` und<br />

entspricht dem deutschen ,heim` = Hofstclle,<br />

Siedlungsstelle) in Bingen heim und „Echecila“<br />

im Gau „Wettereiba“ (= Wetterau) gegen andere<br />

Güter aii die Abtei Fulda vertauschte,<br />

auch unterjenen 187 Mansen mitbegriffen gcwesen<br />

und also auch unter die Abtei Fulda gekommen<br />

sein.“<br />

Pfarrer Fran kenfeld schrieb weiter:<br />

„Gewiß ist es, daß es eine geraume Zeit<br />

dem Abt von Fulda gehörte und daß der Abt<br />

Hatto von Fulda im Jahre 852 „ad portam monasteru<br />

fuldensis“ oder zur Unterstützung der<br />

Armen viele Güter unter anderm auch in<br />

,Echecila“ und in ,Richolfesheim“ verschenkte...“<br />

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2. b) Das Mittelalter<br />

Die Herren von Münzenberg, das mächtigste Rittergeschlecht<br />

in der Wetterau, wurden als erste mit einer Hälfte<br />

des Ortes <strong>Reichelsheim</strong> belehnt, also mit dem Anspruch<br />

auf Abgaben der Arbeitserträge der hier lebenden<br />

Menschen. Dies war im Jahre 852, das Jahr. das<br />

manche Ouellenforscher als das eigentliche „Geburtsjahr“<br />

von <strong>Reichelsheim</strong> betrachten. Die Münzenberger<br />

hatten zu jener Zeit einen mächtigen Einfluß. Viele Orte<br />

gaben sie niedergestellteren Rittern („milites“) zu Lehen.<br />

also zum Nutzen und zugleich zur Verwaltung, und<br />

dies auf Lebenszeit.<br />

Das Kloster Fulda versorgte somit nur noch eine Hälfte<br />

des Orts, bzw. bekam nur noch aus einer Hälfte direkt<br />

Einkünfte. Über die andere Hälfte, die sie als Lehen vergeben<br />

hatte, erhielt sie erst wieder Verfügungsreeht -<br />

und damit aus ihr meist auch Geld - nach dem Tode dessen.<br />

der es zu Lehen bekommen hatte. Denn „frei“ waren<br />

die Bewohner des Ortes <strong>Reichelsheim</strong> nicht. Sie waren<br />

hörig und blieben es, mit Einschränkungen, bis in das<br />

19. Jahrhundert hinein!<br />

Mit dem Verfall des Hauses Münzenberg - die männliche<br />

Linie starb mit dem Tode von Ulrich ll. im Jahre<br />

1255 aus - begann der Aufstieg der Herren von Falkenstein.<br />

Der damalige Herr von Falkenstein, verheiratet<br />

mit einer Schwester von Ulrich II., dem erwähnten Herren<br />

zu Münzenberg. übernahm das Lehen mit Genehmigung<br />

des amtierenden Bischofs von Fulda. Philipp von<br />

Falkenstein der Ältere wurde am 8. Februar 1303 mit<br />

dem Burglehen zu Bingenheim belehnt, oder anders ausgedrückt:<br />

In jenem Jahr verpfändete der Abt Heinrich<br />

von Fulda die Fuldische Mark mit dem zentralen Sitz<br />

Bingenheim an Philipp den Älteren von Falkenstein.<br />

Da die Zeiten unruhig waren - das Raubrittertum trieb<br />

sein Unwesen in allen Teilen Deutschlands - und dabei<br />

manche Orte geplündert wurden (der injener Zeit lebenııflı<br />

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(Aus: „Betrler, Gaımer und Prrı/efcıı“'. )<br />

de Dichter Walther von der Vogelweide sprach in einem<br />

seiner bekanntesten Gedichte auch von „Schlim men Zeiten“),<br />

wurde von dem geistlichen und weltlichen Adel<br />

öfters versucht. die durch Raub, Brandschatzung und<br />

Krieg entstandenen Mindereinnahmen durch Verpfändungen<br />

ganzer Orte oder Marken auszugleichen. Manches<br />

Mal wurden sogar ganze Ortschaften verkauft, was<br />

einen Besitzerwechsel zur Folge hatte. In solchen Fällen<br />

wurden in einer Urkunde die „Unterthanen“ aus ihrem<br />

_<br />

25


Gehorsam gegenüber dem bisherigen Besitzer entlassen<br />

und zugleich verpflichtet, den neuen Herrschaften zu<br />

huldigen und in Zukunft treu und ergeben zu dienen. . .<br />

Noch ein weiterer Grund, und zwar ein sehr wichtiger<br />

Grund sei hier für die vielen Besitzerwechsel der Herrschaften<br />

in der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts erwähnt:<br />

Es war die große Pest!<br />

Allein in Deutschland raffte sie zwischen 1348 und<br />

1352 schätzungsweise 30% der Bevölkerung hinweg!<br />

Manche Orte waren fürchterlich betroffen, manch andere,<br />

vor allem die ländlichen, weniger. Wie diese Pest in<br />

<strong>Reichelsheim</strong> gewütet hat, das wissen wir aus keiner<br />

Quelle. Nur eines weiß die Geschichtswissenschaft:<br />

K e i n Dorf, kein „Flecken“ blieb in Deutschland verschont!<br />

Schrecklich muß es gewesen sein: Der Tod als der tägliche<br />

Gesell in den Gassen des heimischen Ortes. _ .<br />

Schrecklich muß es auch gewesen sein, weil Menschen<br />

aus anderen Orten, vor allem aus den engen Städten, die<br />

auf der Suche nach einem sicheren Unterschlupf waren,<br />

herumvagabundierten, völlig entwurzelt, nur von Bettelei<br />

und -wenn nichts anderes half- von Diebstahl lebten.<br />

Die Mächtigen jener Zeit reagierten und richteten in<br />

nahezu jedem Ort ein eigenes Gericht ein, bestehend aus<br />

gewählten Schöffen, den angesehenen Mitbürgern des<br />

jeweiligen Ortes. So auch für <strong>Reichelsheim</strong>: 1354, zwei<br />

Jahre nach Abklingen der Pest, wird <strong>Reichelsheim</strong> erstmals<br />

in den Urkunden als „Dorf und Gericht <strong>Reichelsheim</strong>“<br />

genannt. Dieses Schöffengericht mußte mindestens<br />

dreimal im Jahr zusammentreten, um dreimal im<br />

Jahr als ruhender Pol das Ortsschicksal mitzubestimmen.<br />

Für <strong>Reichelsheim</strong> gab es ca. 100 Jahre nach der Besitznahme<br />

durch die Falkensteiner den entscheidenden<br />

Wechsel für die zukünftige Entwicklung. Auch hier war<br />

das Aussterben der männlichen Linie der Auslöser: 1416<br />

tauschte Graf Philipp I. von Nassau-Weilburg „gegen<br />

Hingabe seines Anteiles am Gericht Gambach die Hälfte<br />

des Dorfes und Gerichts <strong>Reichelsheim</strong>“ von dem Erzbischof<br />

Werner von Trier (der der letzte Sproß aus dem<br />

Hause Falkenstein war).<br />

Die Grafen von Nassau waren ein aufstrebendes<br />

Adelshaus in jener Zeit, das sich - ausgehend von kleinen<br />

Besitzungen im Unterlahngebiet - im 11. Jahrhundert<br />

durch zielbewußte Erwerbspolitik im Raum des<br />

Taunus und des Westerwaldes zwischen Main, Mittelrhein,<br />

Sieg und Wetterau ausgeweitet hatte. Ihren Machthöhepunkt<br />

hatten sie im 13. Jahrhundert in der Zeit der<br />

Staufer-Kaiser. Durch den 1255 vorgenommenen Teilungsvertrag<br />

kam es zu einer Nord-Süd-Teilung der<br />

Grafschaft: Die sog. Walram-Linie erhielt die Besitzungen<br />

um Wiesbaden, Idstein und Weilburg, wozu dann<br />

später auch die Besitzungen in der Wetterau gehörten.<br />

Auch nach der Teilung versuchten die Grafen von<br />

Nassau-Weilburg ihre Macht zu stärken, im 14. Jahrhundert<br />

vor allem auch dadurch, daß sie, die Konkurrenten<br />

der Macht im Rhein-Main-Gebiet zu den Landgrafen<br />

von Hessen-Darmstadt, bestrebt waren, einen ihrer Familienangehörigen<br />

zum regierenden Bischof des Erzbistums<br />

Mainz wählen zu lassen. Sie gewannen dadurch<br />

zwar nicht nur Freunde, vor allem nicht hier in der Wetterau,<br />

deren Ritter und Grafen Angst vor einer mainzisch-nassauischen<br />

Übermacht hatten und ihre Selbständigkeit-<br />

auch die in ihren Raubzügen ! -in Gefahr sahen.<br />

Die Wetterauer Ritterschaft nahm z. T. Partei zugunsten<br />

des hessischen Landgrafen, was in dem langjährigen hessisch-mainzischen<br />

Krieg zu Plünderungen vieler Orte in<br />

unserer Region führte.<br />

Wie geschickt die Grafen von Nassau in jener Zeit ihre<br />

Machtpolitik betrieben, macht die Tatsache deutlich,<br />

daß es ihnen genau in jener Zeit gelang, vom Kaiser des<br />

26


„Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“ den<br />

Titel „Landvogt der Wetterau“ zu erhalten.<br />

Mit einem neuen „Landfrieden“ wollte König Ruprecht<br />

1405 die Wetterau befrieden, nachdem er, unterstützt<br />

von dem „Landvogt der Wetterau“ einen umfassenden<br />

Strafzug gegen aufmüpfige Ritterburgen (z. B.<br />

Lindheim, Hüttengesäß, Karben) durchgeführt hatte.<br />

Doch cler Friede kehrte erst später ein, nachdem die Besitzverhältnisse<br />

in der Wetterau neu geordnet waren.<br />

Der oben erwähnte Tausch, durch den der Graf Philipp<br />

I. 1416 in den Besitz der halben Gemarkung von <strong>Reichelsheim</strong><br />

kam, lag in der Politik des Hauses Nassau begründet,<br />

hier in der fruchtbaren Wetterau nicht nur kurzzeitig<br />

gültige Titel, sondern vererbbaren Besitz zu kontrollieren.<br />

Dies wird darin deutlich, daß wenige Jahre<br />

später, 1420, der Abt Johannes von Fulda die andere<br />

Hälfte unseres Ortes zusammen mit anderen Besitzungen<br />

in der „Fuldischen Mark“ für 18000 Gulden an das<br />

Haus Nassau verpfändete. 1423 wurde diese Pfändung in<br />

einen Erbkauf umgewandelt, was zwar den Preis nachträglich<br />

auf23 500 Gulden erhöhte, was aber den Nassauern<br />

garantierte, auch für zukünftige Generationen diese<br />

Besitzungen als Lehen beanspruchen zu können - ohne<br />

bei jedem Generationswechsel in der Regentschaft des<br />

Hauses Nassau Angst vor Verlust dieser „Kornkammer<br />

der Nassauischen Herrschaft“ haben zu müssen.<br />

Zusammen mit dem Landgrafen von Hessen-Darmstadt,<br />

der über die andere Hälfte der „Fuldischen Mark“<br />

verfügte, bestimmten von nun ab die Nassauer die Geschicke<br />

dieser Region. Sie, die „Grafen von Nassau und<br />

Saarbrücken“, wie sie sich seit dem Erbe der Grafschaft<br />

Saarbrücken im Jahre 1381 offiziell nannten, waren zunächst<br />

auch die stolzen Herren der für diese Gegend<br />

wichtigen „Wasserburg“ in Bingenheim, die Sitz der<br />

Verwaltung und des Gerichtes der gesamt Fuldischen<br />

Mark war. Vielleicht durch die Tatsache, daß sie Bingenheim<br />

und Echzell sowie andere Orte dieser Gegend nicht<br />

allein besaßen, sondern diese wie gesagt mit dem ungeliebten<br />

Landgraf von Hessen-Darmstadt teilen mußten,<br />

mag dazu geführt haben, daß sie statt Bingenheim, das<br />

immerhin eine schloßartige Burg sein Eigen nennen<br />

konnte, <strong>Reichelsheim</strong> befestigen ließen, und diesem<br />

„Flecken“, der wie dargestellt erst seit 1354 über ein eigenes<br />

Schöffengericht verfügte, schließlich die Stadtrechte<br />

besorgten.<br />

Für Bingenheim wäre letzteres gewiß viel leichter<br />

beim Kaiser zu erreichen gewesen, denn schließlich hatte<br />

Kaiser Karl IV. bereits 1357 dem damaligen Abt Heinrich<br />

von Fulda „das Recht verliehen, vor seiner Burg<br />

Bingenheim eine Stadt aufzurichten, zu befestigen und<br />

einen Wochenmarkt durchzuführen. Dieses Privileg<br />

konnte jedoch nicht verwirklicht werden“, schreibt Rudolf<br />

Kießling in „l200 Jahre Echzell“ (s. S. 89), „da die<br />

erforderlichen Voraussetzungen nicht gegeben waren“.<br />

Die Grafen von Nassau und Saarbrücken begannen für<br />

ihren neuen Besitz, den „Flecken <strong>Reichelsheim</strong>“, allerdings<br />

sehr schnell die erforderlichen Voraussetzungen<br />

zur Erlangung der Stadtrechte zu schaffen:<br />

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Kaum im nassauischen Besitz, wurde fast das ganze<br />

Gemarkungsgebiet von <strong>Reichelsheim</strong> von einer „Landwehr“<br />

umgrenzt. also von einem aufgeschütteten Wall,<br />

der beidseitig von einem Graben (z. T. mit Wasser gefüllt)<br />

begleitet war.<br />

Auf dem Wall war (gemäß einer alten germanischen<br />

Sitte) eine dichte Hecke aus „gebückten Hainbuchen-<br />

Sträuchern“ („gebückt“ bedeutet, daß die Äste immer<br />

wieder nach unten mit den anderen verflochten wurden,<br />

so daß dadurch im Laufe der Zeit eine nahezu undurchdringliche<br />

Pflanzcnwand entstand). Der Wall mit gefluteten<br />

Gräben und Hecke war nur an wenigen Stellen geöffnet.<br />

Ein Passieren dieser Öffnungen konnte im Falle<br />

von Gefahr durch Einziehen der Stege über den Gräben<br />

wesentlich erschwert werden.<br />

Nur am Ortenberg (Weidgraben), dessen feuchte Wiesen<br />

die Grenze zu Weckesheim und Heuchelheim darstellte<br />

(der heutige Weid- oder Ortenberggraben wurde<br />

erst später gezogen und bildet seither die Gemarkungsgrenze<br />

- s. hierzu: „Heuchelheim - Einblicke in die<br />

Geschichte“, S. 96 f.) sowie am damals bestehenden<br />

„Schiedbach“ zu Leidhecken hin gab es keine Landwehr;<br />

die am Ortenberg gelegenen Wiesen waren zujener Zeit<br />

noch von den Bauern der drei Orte gemeinsam genutzter<br />

Weidegrund.<br />

Wenig später, also noch im 15. Jahrhundert, wurde<br />

den <strong>Reichelsheim</strong>er Bürgern der Befehl zur Errichtung<br />

einer gemauerten Befestigung mit Wehrtürmen rund um<br />

den Flecken erteilt. Welch eine Arbeit wurde den Bauern<br />

und Handwerkern hier aufgebürdet! Die noch stehenden<br />

drei Türme und die Reste der Mauer am Friedhof/<br />

Haingasse bzw. am „Hexenturm“ / Turmgasse lassen<br />

ein wenig von dem Schweiß erahnen, der damals geflossen<br />

sein muß.<br />

<strong>Reichelsheim</strong> erhielt in diesem 15. Jahrhundert das<br />

Aussehen, das es bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts,<br />

also über die Zeitdauer von 400 Jahren, fast unverändert<br />

behalten sollte.<br />

Doch um <strong>Reichelsheim</strong> in seiner Bedeutung zu stärken,<br />

um sein An- und Aussehen zu verbessern, mußte an<br />

zentralem Platze dieses Ortes noch eine größere Kirche<br />

errichtet werden. Und so geschah es.<br />

Karte von <strong>Reichelsheim</strong> mit Umgebung<br />

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28


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2. c) Die Kirche -für <strong>Reichelsheim</strong> das Symbol einer neuen Epoche<br />

Sollte der Bau der Landwehr rund um das Gemarkungsgebiet<br />

sowie die Ummauerung den Wohnbereich<br />

nach außen hin „erstarkt“ aussehen lassen, so wurde<br />

durch den Abschluß des Baus der Kirche im Jahre 1485<br />

auch nach innen hin ein deutliches Zeichen gesetzt.<br />

Doch schon 60 Jahre vor der angenommenen Fertigstellung<br />

der Kirche zeigte sich ein bedeutender Wandel,<br />

auf den eine Urkunde aufmerksam macht: Gilbracht Lebe<br />

(Löw) von Steinfurt, Besitzer und Lehensnehmer<br />

mehrerer Hubcn (Hufen = Anwesen) in <strong>Reichelsheim</strong><br />

und ausgestattet mit gewissen Einflußrechten auch über<br />

diesen Ort (die Herren von Steinfurt waren zu jener Zeit<br />

unter der Wetterauer Ritterschaft eine einflußreiche Familie)<br />

wirkten hier wahrscheinlich in diesen entscheidenden<br />

Jahren als Verwalter der Nassauer.<br />

Gilbracht läßt in der Urkunde vom 20. Dezember 1439<br />

folgendes festschreiben:<br />

„Ich, Gilbracht Lebe von Steynfurt bekerıne vor mich<br />

und meyn erben, in diesem brieffe, daz ich geluhen han<br />

und gegeben der kirchcn zu Richelßheyn zu ewigen tagen<br />

den gyerß czehcnden (= den Großen Zelınten) in Blafelder<br />

gericht und termenye geleigen (= in Blofelder Gemarkung<br />

gelegen) mit wißcn eyns abtcs von Folde umb<br />

Gottes und umb unser lieben Frauwen wiln und han angeseyhen<br />

notorffligkeyt eyns pferners zu Richelßheyn,<br />

daß hey sich gebruchen sal zu ewigen tagen, als vor geschriben<br />

stet; des zu eyme waren geczugniß so han ich<br />

Gilbracht Lebe meyn ingcsigel unden an disen briff gehangen.“<br />

(Entnommen: Helmut Schütz, „Ein Blick ins<br />

<strong>Reichelsheim</strong>er Pfarrarchiv“, in: „500 Jahre Kirche <strong>Reichelsheim</strong>“,<br />

S. 83).<br />

Vieles sagt diese Urkunde aus:<br />

- Die Schenkung konnte nur mit Genehmigung des<br />

Abtes von Fulda geschehen;<br />

- Die Schenkung bezieht sich auf Acker, die in der Blofelder<br />

Gemarkung liegen. Die Blofelder Bauern<br />

mußten für diese Acker den „Großen Zehnten“, also<br />

den zehnten Teil des dort Geernteten, an den <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

Pfarrer abgeben;<br />

- Die <strong>Reichelsheim</strong>er konnten sich damit einen „eigenen“<br />

Pfarrer leisten;<br />

- Die <strong>Reichelsheim</strong>er Kirche erhielt damit Eigenständigkeit,<br />

war somit nicht weiterhin „Tochterkirche“<br />

einer anderen Kirche (Echzell);<br />

- Die Selbständigkeit <strong>Reichelsheim</strong>s von anderen Gemeinden<br />

war damit für die Offentlichleit der ganzen<br />

Region Tatsache.<br />

(Anmerkung: Nach späteren Aufzeichnungen hatte der<br />

<strong>Reichelsheim</strong>er Pfarrer „in 3 Felder und in gewissen ,Distrieten“<br />

mit dem Pfarrer zu Dauernheim den Fruchtzehnten<br />

dergestalt zu erheben, daß der <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

Pfarrer 2/3 und der Pfarrer zu Dauernheim il/3 bezog. -<br />

Vergl. hierzu Kirchenchronik, S. 146).<br />

Über die Ordnung des Kirchwesens bis zu diesem Zeitpunkt<br />

schrieb Pfarrer Frankenfeld vor ca. 150 Jahren in<br />

der Pfarrchronik (s. S. 90 f.):<br />

„Über die Entstehung der heutigen Kirche und Pfarrei<br />

konnten von mir keine Urkunden vorgefunden werden.<br />

Den Namen Pfarreien oder Pastoreien führten im 14.<br />

Jahrhundert gewöhnlich die Mutterkirehen, mit welchen<br />

mehrere Filialen in näherer oder entfernterer Verbindung<br />

standen.. . An der Mutterkirche waren meist außer<br />

dem Pfarrherrn oder Pastor noch Amterpfarrer, Plebane<br />

genannt, oft auch Caplane angestellt. Filialorte, welche<br />

später eigene Kirchen oder Capellen gründeten, erhielten<br />

alsdann eigene Plebane oder Caplane (welchen letzteren<br />

gewöhnlich das Schulamt mit übertragen wurde),<br />

ohne daß dadurch der Filialnexus (nexus= Verbindung)<br />

30


f<br />

und Abhängigkeit der Tochterkirche von der Mutterkirche<br />

gänzlich aufgegeben wurde.<br />

In der sogenannten Fuldaer Mark befanden sich drei<br />

Mutterkirchen oder Pastoreien, nämlich zu Echzell, zu<br />

Dauernhcim und zu Berstadt, welche sämtlich früher<br />

zum Kloster Fulda gehörten. Zur Pfarrei Echzell, welche<br />

eine Pfarrkirche mit einem Pastor und einem Pleben besaß,<br />

gehörten 1. und 2. die Capellen Bisses und Gettenau,<br />

3. die mit einem Pleben versehene Kirche zu <strong>Reichelsheim</strong>,<br />

bezüglich der Senden (= kirchliche Gerichte<br />

und Visitationen, welche zur ,Erforschung des kirchlichen,<br />

religiösen und sittlichen Zustandes der Gemeinde<br />

von den Bischöfen und Arehidiaconen oder auch Pastoren<br />

durchgeführt wurden“), 4. die Capelle zu Bingenheim,<br />

5. die Kirche zu Grundschwalheim mit einem eigenen<br />

Pleben.“<br />

<strong>Reichelsheim</strong> gehörte also im H_ochmittelalter kirchlich<br />

zu Echzell. Dies bestätigt auch eine Quelle aus dem<br />

Jahre 1030, die in dem Buch „1200 Echzell“ von Waldemar<br />

.Küther (s. S. 73) erwähnt wird.<br />

Mit der Schenkung des „Großen Zehnten“ durch Gilbracht<br />

Lebe von Steinfurt im Jahre 1439 war <strong>Reichelsheim</strong><br />

Sitz einer eigenständigen Kirche geworden, also<br />

dem Stand einer „Filialkirche“ entwachsen. Die „Erforschung<br />

des kirchlichen, religiösen und sittlichen Zustandes<br />

der Gemeinde“ ging nunmehr nur noch den <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

Pfarrer und den ihm übergeordneten Bischof<br />

etwas an. Visitationen gab es in <strong>Reichelsheim</strong> jährlich<br />

mindestens einmal.. _<br />

Wie die frühere <strong>Reichelsheim</strong>er Kapelle ausgesehen<br />

haben mag, das wissen wir nicht. Wir wissen nur, daß sie<br />

dort stand, wo auch die heutige Kirche ihren Platz hat,<br />

nämlich auf der Höhe des Römerberges, dort, wovon<br />

man den besten Ein- und Überblick über das Ortsgeschehen<br />

hatte und hat.<br />

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Zeichnung der <strong>Reichelsheim</strong>er Kirche<br />

von C. Bronner, um 1890<br />

(entn. : R. Adamy, Kunstdenkmäler<br />

im Großherzogtum Hessen, 1895)<br />

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Karl Heinz Doll, ein Hanauer Architekt, machte in<br />

seiner „Anmerkung zur Baugeschichte der ev. Pfarrkirche<br />

<strong>Reichelsheim</strong> (Wetterau)“ (s. Festschrift von 1985<br />

„500 Jahre Kirche <strong>Reichelsheim</strong>“, s. S.61ff.) folgende<br />

Ausführungen:<br />

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31


„Nach einer frühen, vermuteten Kirch aus dem 9.<br />

Jahrhundert ist anzunehmen, daß als Vorgängerkirche<br />

der jetzigen eine romanische Kirche, kleineren Ausmaßes,<br />

bestanden haben muß. Im Zuge der Außenisolierung<br />

des Fundamentmauerwerks fanden sich in dem<br />

Ausschachtungsgraben keine Mauerteile in der Erde.<br />

Ein Hinweisjedoch dürfte eine Mauerwerkfuge im Westfundament<br />

des nördlichen Seitenschiffes sein, die sich etwa<br />

1,20 m von der nördlichen Turmwand nach Norden<br />

hin zeigt. Sie deutet darauf hin, daß sich hier die Nordwestecke<br />

einer kleineren, schmaleren Kirche abzeichnet..<br />

Wann mit dem Neubau der Kirche begonnen wurde,<br />

ist nicht exakt festzustellen:<br />

„Die Erweiterung der Kirchengebäude haben verschiedene<br />

Gründe. Vorwicgend ist es das Wachstum der<br />

Gemeinde. Dann ist die Gestaltung des Gottesdienstes,<br />

die Liturgie, Grund für die Vergrößerung, besonders des<br />

Chores. Auch politische, bzw. landesherrschaftliche Zugehörigkeiten<br />

und Gebietserweiterungen können eine<br />

Rolle spielen.. _ Es ist denkbar, daß mit der Übernahme<br />

<strong>Reichelsheim</strong>s 1416 und 1423 an Philipp I. von Nassau-<br />

Weilburg der Beginn des Um- und Erweiterungsbaues<br />

der St. Laurentiuskirche begann. Es ist jedoch möglich,<br />

daß ein früherer Baubeginn im 14. Jhdt. angenommen<br />

werden kann“ (K. H. Doll, a. a. O., S. 63 f.).<br />

Möglicherweise wurde wirklich bereits im 14. Jahrhundert<br />

mit dem Neubau einer Kirche in <strong>Reichelsheim</strong><br />

begonnen. Daß es in jenem Jahrhundert Veränderungen<br />

in und vielleicht auch außerhalb der Kirchen-Kapelle gegeben<br />

hat, ist daraus abzulesen, daß in alten Urkunden<br />

aus dem Jahre 1336 eine Altarstiftung für <strong>Reichelsheim</strong><br />

erwähnt wird. Ein Jahr später bestätigt der Mainzer Bischof<br />

Heinrich einen neuen Altar in der Tochterkirche zu<br />

<strong>Reichelsheim</strong>. Da oft nach großen Seuchen von den<br />

Überlebenden der Beschluß zu kirchenbaulichen Maßnahmen<br />

getroffen wurde, ist allgemein bekannt. Deswegen<br />

ist nicht auszuschließen, daß bald nach der „Großen<br />

Pest“, die zwischen 1348 und 1352 in ganz Europa tobte,<br />

mit der Planung einer neuen Kirche, einer prächtigeren<br />

Kirche begonnen worden ist. Leider fehlen in den Archiven<br />

hierzu Bestätigungen.<br />

Vielleicht war es dies alles zusammen, was den Grafen<br />

Philipp I. von Nassau auf <strong>Reichelsheim</strong> aufmerksam<br />

machte, was in ihm den Gedanken aufkommen ließ:<br />

„Aus diesem Flecken in der fruchtbaren Wetterau läßt<br />

sich etwas machenl“ und sich deswegen hier - wie man<br />

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Ev. Kirche im Längsschn.itt<br />

(„500 J. R'hm“, S. 61)<br />

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heute sagt - „einbrachte“. Der Bau der Landwehr um die<br />

Gemarkung, die Befestigung des „Fleekens“ <strong>Reichelsheim</strong><br />

durch Mauern und Türme scheinen diese Vermutung<br />

zu bestätigen.<br />

Der Bauplan der Kirche, wie er dann als dreistufige<br />

spätgotische Basilika mit Kreuzgewölbe realisiert wurde,<br />

zeigt aufjeden Fall die Einheitlichkeit des Gesamtkonzeptes<br />

der Nassauer für die spätere „Stadt“ <strong>Reichelsheim</strong>:<br />

- Die Landwehr um die Gesamtgemarkung als Schutz<br />

der zu <strong>Reichelsheim</strong> gehörenden Acker und Wiesen<br />

-- Die Mauern und Türme rund um das Wohngebiet als<br />

Schutz für die hier lebenden Menschen mit ihrem<br />

Hab und Gut<br />

- Der Kirchhof, von einer steinernen Mauer umfaßt<br />

und zusätzlich gesichert von einem Turm, der an der<br />

Südostseitc der Kirche gestanden haben soll (wie Dr.<br />

Rudolf Adamy in seinem Werk „Kunstdenkmäler im<br />

Großherzogthum Hessen“ vor ca. 100 Jahren beschrieb<br />

- dort S. 252), möglicherweise ursprünglich<br />

gedacht als Zufluchtbercich für Mensch und Vieh in<br />

Kriegszeiten (wie sonst die Schutzbereiche einer<br />

Burg)<br />

- Die Kirche selbst, die nicht nur Kirche, also Gotteshaus<br />

war, sondern zugleich Wachturm war sowie<br />

Fruchtspeicher (3 Speicher), der den Grafen von<br />

Nassau zur Lagerung der Naturalabgaben der <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

diente, die in Notzciten allerdings auch<br />

als Sehutzraum hätten dienen können.<br />

Am Ende des 15. Jahrhunderts erschien <strong>Reichelsheim</strong><br />

völlig verändert: Es war kein unscheinbarer „Flecken“<br />

mehr, der mehr oder minder frei in der Landschaft lag,<br />

unmittelbar nur durch einen aufgeschütteten und mit<br />

Hainbuchcn beptlanzten Wall und einen davor liegenden<br />

Graben geschützt.<br />

Um 1500 n. Chr. erkannte jeder, der auf Reichelsheiın<br />

zuwanderte oder zuritt: „Ich nähere mich einem Ort, der<br />

Sicherheit, der Zuflucht verspricht! Ich nähere mich<br />

wohl einer Stadt l“<br />

Denn wie sagte der Eisenacher Stadtschreiber zu _jencr<br />

Zeit?<br />

„Was muren umb sich hat..<br />

das heist eyn burgk adcr<br />

(= oder) eyn stat“<br />

(Zitat entnommen: Heinz Stoob<br />

im Vorwort zu „Altständisches Bürgertum“,<br />

3. Band, S. XI).<br />

Fruchtspeicher in der er/angel. Kirche<br />

(Foto G. Wagner)<br />

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Querschnitt und Erdgeschoßgrundriß<br />

der evangeh`.s'c†hen Ktrche <strong>Reichelsheim</strong><br />

(entn. : „500 Jahre Kirche <strong>Reichelsheim</strong> “, S. 62) 9<br />

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3. Die Reformation-ein Wegweiserf"R'hlh'<br />

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<strong>Reichelsheim</strong>er<br />

Nachdem <strong>Reichelsheim</strong> durch Landwehr, Mauern und<br />

Türme befestigt worden sowie die neue Kirche hervorgehobener<br />

Mittelpunkt des Ortes geworden war, nachdem<br />

<strong>Reichelsheim</strong> mit einem Schöffengericht, bestehend aus<br />

den „ehrenvollen Männern der Gemeinde“, versehen<br />

war, da hätte alles seinen ruhigen historischen Gang nehmen<br />

können: Festgefügt stand <strong>Reichelsheim</strong> in der<br />

Landschaft der Wetterau - und festgefügt, so wollten es<br />

die Mächtigen der damaligen Zeit, dem ausgehenden<br />

Mittelalter, sollte auch das Leben innerhalb der Mauern<br />

sein:<br />

„Die geistliche und die weltliche Macht streben danach,<br />

daß die Pfarrgemeinde andere der Kirche nicht unterworfene<br />

menschliche Zusammenschlüsse völlig verdrängte.<br />

lm Kirchenspiel wurde die geistige und sittliche<br />

Aufsicht über die ansässige Bevölkerung ausgeübt. Der<br />

Mensch gehörte seiner Pfarrgemeinde an: Hier empfing<br />

er als Neugeborener die Taufe, das heißt, er wurde aus<br />

einem Naturwesen in ein gesellschaftliches und sittliches<br />

verwandelt. Hier ging er zur Kirche und lausehte Gebeten<br />

und Lehren, indem er dem Gottesdienst beiwohnte.<br />

Hier beichtete und heiratete er; ebenso empfing er dort<br />

die letzte Ölung. Auch nach dem Tode verließ er die Gemeinde<br />

nicht, denn nur innerhalb ihrer Grenzen (Mauern)<br />

durfte er bestattet werden“ (A. Gurjewitsch „Mittelalterliche<br />

Volkskunst“, S. 126 f.).<br />

Wer <strong>Reichelsheim</strong> kennt, der glaubt, Gurjewitsch habe<br />

sich auf diesen Ort bezogen. Dies nicht nur, weil über<br />

Jahrhunderte hinweg der heutige Kirchplatz der „Totenhof“<br />

der Gemeinde war (nur Selbstmörder, Verbrecher<br />

und „Hexen“ fanden außerhalb der Mauern ihre letzte<br />

„Ruhestätte“), sondernvor allem, wenn man weiterliest:<br />

„Die Pfarrkirchen waren Mittelpunkt nicht nur des religiösen<br />

Lebens; in ihnen spielte sich zu eifitëm beträchtlichen<br />

Maß auch das soziale Leben ab.“ Auch konnten<br />

„ihre Räume der Aufbewahrung von Getreide dienen“<br />

(s. S. 127).<br />

Wenn man weiter nachliest und dadurch erfährt, daß<br />

die Mitglieder einer Gemeinde nur mit dem eigenen<br />

Pfarrer geistlichen Umgang haben durften. so wird klar,<br />

daß die Menschen unter einer strengen Aufsicht lebten.<br />

Da die Beichte im Mittelalter bis in die frühe Neuzeit hinein<br />

z. T. öffentlich war, also im Beisein aller Gemeindemitglieder,<br />

so wurde die gemeinschaftlich geübte Aufsicht<br />

auch wirkungsvoll.<br />

Wie eng über die Jahrhunderte hinweg bis vor 60 Jahren<br />

die Bindung zwischen weltlicher und kirchlicher Gemeinde<br />

in <strong>Reichelsheim</strong> war, wird darin deutlich, daß die<br />

Mitglieder des Schöffengeriehtes mit ihren _jeweils 2 Bürgermeistern<br />

oder später des Gemeinderates und des Bürgermeisters<br />

in der Regel identisch waren ınit dem Kirchenvorstand.<br />

Erst in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts<br />

legte der amtierende Bürgermeister Veith sein Amt<br />

als Kirchenvorsteher nieder mit der Begründung, der politische<br />

Vorgesetzte auf Kreisebene (Kreisleiter) wollte<br />

nicht, daß er im Kirchenvorstand verbleibe (s. Pfarrchronik,<br />

S. 598).<br />

Damit war das eigentliche Haupt der Gemeinde über<br />

Jahrhunderte hinweg oft der Pfarrer - er war für seine<br />

Gemeinde der anerkannte Lenker des Glaubenslebens<br />

und damit des sittlichen und gesellschaftlichen Lebens.<br />

Wer sich einmal auf die Stufen des Kirchplatzes stellt,<br />

der hat eine freie Einsicht in die Kirchgasse bis zum erhaltenen<br />

Stadttor und zugleich in die Bingenheimer Straße<br />

(früher Markt- bzw. Hauptstraße) zum nördlichen,<br />

heute nicht mehr erhaltenen Stadttor. das heißt, er hat<br />

einen Überblick auf die alten „Ausfallstraßen“ des Ortes.<br />

Von dieser Stelle aus sah der Pfarrer seine „Schäfchen“<br />

zu sich kommen: Die „Reichen“ (Landwirte) von<br />

der Hauptstraße, dem Römerberg, der Untergasse (heu-<br />

35


te: Florstädter Straße). Neugasse - die „Armen“ (Handwerker,<br />

Hirten, Tagelöhner) aus der Haingasse, der<br />

Turmgasse usw.<br />

Oft zählte er die Kirchenbesucher, hielt die Zahl von<br />

ihnen in der Chronik fest, sie und die Höhe der Kollekte<br />

meist mit den Zahlen des Vorjahres vergleichend.<br />

Der Pfarrer war also Institution! Er begleitete die<br />

Menschen seiner Gemeinde durch das Leben, dies auch<br />

deswegen, weil zu seinen eigentlichen Aufgaben als Pfarrer<br />

ebenso das Amt des Schulinspektors gehörte (bis zum<br />

Ende des letzten Jahrhunderts unterstand die Schulaufsicht<br />

der Geistlichkeitl). Er war auch derjenige, der zu allen<br />

Festtagen, den geistlichen und den weltlichen, neben<br />

Predigten die Festrede hielt.<br />

Unter all diesen Voraussetzungen wird vielleicht deutlich,<br />

wie entscheidend es für ein Dorf, einen Marktflekken<br />

oder eine kleine Stadt war, für welche Konfession<br />

sich im 16. Jahrhundert nach der Reformation der herrschende<br />

Fürst oder Grafentschied. Zum Verständnis der<br />

Geschichte muß bewußt sein: Nicht der einzelne<br />

Mensch, nicht die Kirchengemeinde entschied in jenen<br />

Jahrhunderten, welcher Glaube der sei, dem man sich<br />

zuwenden wollte - dies allein entschied die den Ort regierende<br />

Herrschaft: für <strong>Reichelsheim</strong> die Grafen von<br />

Nassau.<br />

Am 31. Oktober 1517 schlug der damalige Mönch<br />

Martin Luther an die Tür der Schloßkirche in Wittenberg<br />

ein Blatt mit 95 Thesen, über deren Inhalt er mit anderen<br />

Theologen und Gläubigen zu diskutieren wünschte. Er<br />

tat, was damals viele andere taten: er nutzte den zentralen<br />

Ort der Stadt, eben die Kirche, um seine Anliegen<br />

„zu veröffentlichen“. Er ahnte gewiß in jenem Moment<br />

nicht, daß diese Thesen über den inneren Zustand der<br />

christlichen Kirche derart Weltgeschichte machen würden.<br />

Doch die Zeiten waren allgemein im Umbruch. Die<br />

Menschen in den Städten hatten zu einem neuen Selbstbewußtsein<br />

gefunden, angeführt durch die erstarkten<br />

Handwerkerzünfte. Die Bauern auf dem Lande waren es<br />

zugleich leid, immer neue Abgaben und immer weitere<br />

Hand- und Spanndienste den adligen Herren leisten zu<br />

müssen; sie wollten es auch nicht mehr akzeptieren, daß<br />

die Herrschaften in ihrer Jagdleidenschaft immer wieder<br />

die Frucht auf den Feldern zerstörten. Unruhen waren<br />

die Folgen; auch in der Wetterau kriselte es.<br />

Zugleich war die Nachricht durch Stadt und Land gezogen,<br />

daß es eine „Neue Welt“ gäbe, reich an Gold und<br />

Edelsteinen, aber auch reich an fremdartigen Menschen<br />

und Tieren.<br />

Der frisch erfundene Buchdruck durch Johannes<br />

Gutenberg im Jahre 1450 im nahe gelegenen Mainz ließ<br />

die Menschen neugierig auf Geschriebenes werden. War<br />

Gedrucktes bisher Grundlage des Wissens von wenigen,<br />

und damit zugleich die Grundlage der Herrschaft von<br />

wenigen, so war solches Wissen nun durch die verhältnismäßig<br />

geringen Druckkosten auch erreichbar für das<br />

Bürgertum.<br />

Luthers Lehren bzw. seine Ansichten verbreiteten sich<br />

wie ein Lauffeuer. Gedruckte Flugblätter, von Hand zu<br />

Hand weitergereicht, trugen zu einer ungeahnten Verbreitung<br />

bei.<br />

Als Luther 1521 vor dem Reichstag in Worms der Forderung<br />

des Kaisers Karl V. nach Widerruf seiner Lehren<br />

widerstand und somit in den Augen seiner Anhänger den<br />

Herren der Welt unerschrocken und mutig die Stirn bot,<br />

da kam bei vielen Zeitgenossen der Wille, die als lästig<br />

empfundenen „Ketten der Unfreiheit“ abzuschütteln:<br />

Die Bauernkriege, angeschürt auch von einzelnen Rittern,<br />

die hofften, ihre alte Macht und Herrlichkeit wiedererlangen<br />

zu können, verbreiteten Angst und Schrecken<br />

36


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in Hessen und anderswo. Der herrschende Adel verbündete<br />

sich und schlug zurück, um - wie ihre Sprecher sagten<br />

- die alte, die „gottgewollte“ Ordnung wiederherzustellen.<br />

Landgraf Philipp von Hessen („Der Großmütige“)<br />

„wütete gierig und grausam wie ein Schweinsrüde“,<br />

schrieb ein Zeitzeuge (s. Hessen-Chronik, S. 120).<br />

Die Reformation wurde keine Revolution des weltlich-sozialen<br />

Standeslebens. Sie führtejedoch zum Bruch<br />

innerhalb der christlichen Kirche, sie führte zu einer konfessionellen<br />

Teilung Deutschlands. Die Einheitlichkeit<br />

des Glaubens der Menschen im Heiligen Römischen<br />

Reich Deutscher Nation war dahin - nicht jedoch die<br />

Einheitlichkeit des Glaubens der Menschen in jeder einzelnen<br />

Gemeinde. Dafür sorgten wciterhin die Fürsten.<br />

Für <strong>Reichelsheim</strong> begann die Reformation 1532 zu<br />

einem offiziellen Ereignis zu werden, als der letzte katholische<br />

Pfarrer, Georg Lenick, mit Erlaubnis des Abtes<br />

Johannes von Fulda, die Gemeinde an Jakob Stein -<br />

auch Jakob Stephan oder Joeobus Stephani genannt -<br />

übergab. Dies konnte nur geschehen, weil Graf Philipp<br />

III. von Nassau-Weilburg bereits Jahre zuvor, nämlich<br />

1526, den Schritt zur Lehre Martin Luthers getan hatte.<br />

Von Weilburg aus wurde nun die Reformation in der<br />

Grafschaft Nassau-Weilburg vorangetrieben.<br />

1532 übergab, wie schon ausgeführt, Pfarrer Leniek<br />

„der noch von dem Abt von Fulda nach <strong>Reichelsheim</strong><br />

präsentiert worden war, mit Genehmigung eben dieses<br />

Abtes seine Pfarrei Jakob Stein gegen Entrichtung von<br />

36 Gulden und 6 Achtel Korn“ (s. Pfarrer Frankenfeld in<br />

der Kirchenchronik).<br />

Leniek wechselte in eine andere Gemeinde - er wollte<br />

wohl seinem alten Glauben treu bleiben.<br />

Urkunden und Schriftstücke aus dem Jahre 1632<br />

(Entn.: „500 Jahre Kirche <strong>Reichelsheim</strong> “, S. 85)<br />

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In der Festschrift „500 Jahre Kirche <strong>Reichelsheim</strong>“<br />

wird Bezug auf zwei Urkunden genommen, die den Vorgang<br />

der Reformation bestätigten; sie seien hier in Kopie<br />

wiedergegeben:<br />

In dem einen Schriftstück schrieb G. Lenick, daß er<br />

die Pfarrei zu <strong>Reichelsheim</strong> an Jakob Stein gegen bestimmtes<br />

Entgelt übergibt; das Jakob Stephani, Pfarrer<br />

zu <strong>Reichelsheim</strong>, am 18. Juni 1532 investiert, also in sein<br />

Amt eingeführt worden sei.<br />

Die <strong>Reichelsheim</strong>er Gemeinde war nun vorerst „lutherisch“.<br />

Durch die Streitigkeiten zwischen den Grafen<br />

von Nassau-Weilburg bzw. Nassau-Dillenburg und des<br />

„Wetterauer Grafenvereins“ einerseits und dem Landgrafen<br />

von Hessen andererseits kam es schon bald in<br />

einer Art „2. Reformation“ zu der Hinwendung zum Calvinismus,<br />

also zur evangelisch-reformierten Kirche.<br />

Landgraf Philipp von Hessen hatte ohne Zustimmung<br />

von Kaiser und Klerus 1527 die Marburger Universität<br />

gegründet. Sie sollte den neuen „lutherischen“ Pfarrstand<br />

ausbilden. Schnell wurde die Hochschule bekannt,<br />

besonders durch das 1529 clort durchgeführte Streitgespräch<br />

zwisehen den zwei Reformatoren Luther und<br />

Zwingli (der vor allem im süddeutschen Raum Anhänger<br />

gefunden hatte) unter Leitung des hessischen Landgrafen.<br />

1584 gründete Graf Johann VI. von Nassau-Dillenburg<br />

in Konkurrenz dazu die „Hohe Schule Herborn“.<br />

Der „Wetterauer Grafenverein“ wurde Mitträger dieser<br />

Akademie, die nicht nur calvinistische, also evangelischreformierte<br />

Geistliche ausbilden sollte. Auch Lehrer,<br />

Ärzte und Beamte (Juristen) sollten hier ihr berufliches<br />

Rüstzeug vermittelt bekommen. Da es den Trägern dieser<br />

Hohen Schule gelang, berühmte Gelehrte zu gewinnen,<br />

reichte ihr Ruf bald weit über die regionalen Grenzen<br />

von Mittel- und Oberhessen hinaus.<br />

Um die Finanzierung dieser Hohen Schule, die nach<br />

heutigem Sprachgebrauch eine Art „Kaderschmiede“<br />

der calvinistisehen Glaubensauslegung sein sollte (so wie<br />

die Universität Marburg eine solche der evangelisch-lutherischen<br />

Richtung), abzusichern, mußten alle Gemeinden<br />

der unterstützenden Grafschaften einen Beitrag leisten.<br />

<strong>Reichelsheim</strong> hatte 2000 Gulden zu bezahlen, eine<br />

Summe, die sie bei wohlhabenden Kaufleuten aufnehmen<br />

mußte. Dafür erhielt <strong>Reichelsheim</strong> das Recht,<br />

jeweils zwei Studienplätze mit zwei Stipendiaten zu belegen<br />

- das gelehrte Wissen sollte so in jede noch so kleine<br />

Gemeinde kommen.<br />

Die Reformation brachte weitere bedeutende Anderungen<br />

mit sich für unseren Ort: Es wurde sehr schnell<br />

eine „Lateinsehule“ errichtet, ein Zeichen für das Bewußtsein,<br />

daß es mehr bedarf als der Beherrschung des<br />

kleinen und großen ABC, will man selber nach Luthers<br />

Wort die Bibel studieren können.<br />

Interessant ist, daß auch sehr bald eine Mädchenschule<br />

zu der schon lange bestehenden Knabenschule eingerichtet<br />

wurde. Pfarrer Frankenfeld schrieb dazu in der<br />

schon oft erwähnten Kirchenchronik: „Über die Zeit,<br />

wann an die hiesige Schule ein eigener Mädchenlehrer<br />

angestellt worden ist, läßt sich nichts Bestimmtes sagen.<br />

Wahrscheinlich aber scheint es, daß im Jahre 1609, wo<br />

eine Wohnung für den Schulmeister eingekauft wurde,<br />

die zugleich zu einer Wohnung für den Mädchenlehrer<br />

und einem Lehrzimmer für die Mädchen eingerichtet<br />

werden sollte, zuerst ein solcher Mädchenlehrer herkam.“<br />

Wesentlich für die Veränderungen in <strong>Reichelsheim</strong><br />

seit der Einführung der neuen Glaubensgestaltung waren<br />

der erste evangelische Pfarrer Jakob Stephani und<br />

sein noch bedeutenderer Sohn Laurentius. Wichtig war<br />

vor allem, daß dieser erste Pfarrer der neuen christlichen<br />

38


Glaubensinterpretation lange in <strong>Reichelsheim</strong> seinen<br />

Dienst versah - über 50 Jahre. Die Gläubigen seiner Gemeinde<br />

ehrten ihn durch ein Gemälde (Auferstehung<br />

Christi), das früher in der Kirche aufgehängt war und folgende<br />

Unterschrift trug: „Dis Epistaphium ist zu Ehren<br />

Weiland dem wohl ehrwürdigen Hochgelarten Herrn<br />

Jakob Stephani seligen seines Alters 83, seines Predigtamtes<br />

55 Jahr, ersten Predigern dises Ortes aufgerichtet<br />

worden im Jahr 1584.“ Laurentius Stephani, gleichnamig<br />

zu dem Schutzheiligen der <strong>Reichelsheim</strong>er Kirche, studierte<br />

auf Wunsch seines Vaters in Wittenberg. Hier legte<br />

er auch sein theologisches Examen ab. Das Zeugnis<br />

darüber trägt auch die Unterschrift des engen und berühmten<br />

Mitstreiters von Martin Luther, nämlich Philipp<br />

Melanehthon.<br />

Laurentius Stephani war vorgesehen, ja sogar schon<br />

vorab berufen, die Nachfolge seines Vaters im Amt des<br />

<strong>Reichelsheim</strong>er Pfarrers anzutreten. Doch weil ihn Graf<br />

Albrecht von Nassau-Weilburg bat, bei ihm als Ratgeber<br />

zu bleiben, verzichtete er 1566 auf die vorgesehene Investitur<br />

in seinem Heimatort <strong>Reichelsheim</strong>. Laurentius<br />

Stephani war bald als Superintendent zuständig für die<br />

Aufsicht aller Kirchen in der Grafschaft. Und in dieser<br />

Funktion wirkte er sehr segensreich für <strong>Reichelsheim</strong>.<br />

Auch seine Söhne, der spätere Superintendent Gottfried<br />

sowie der Pfarrer Martin Stephani aus Grävenwiesbach<br />

halfen, die Kirchgemeinde <strong>Reichelsheim</strong> weiter zu entwickeln.<br />

War die Errichtung der Latein- und auch der<br />

Mädchenschule ein Werk des Laurentius, so war die 1621<br />

erfolgte Anschaffung eines akzeptablen Schulhauses ein<br />

Werk von Gottfried Stephani, der den notwendigen<br />

Tausch von Gebäuden möglich machte.<br />

Im Jahre 1622, also nur ein Jahr später, erhielt <strong>Reichelsheim</strong><br />

ein neues Pfarrhaus. Pfarrer Frankenfeld<br />

suchte vor ca. 150 Jahren dazu folgendes Wissenswerte<br />

aus den alten Akten der Pfarrei: „Im Jahre 1622 wird von<br />

Michael Heinrich von Hunstadt im Kirchspiel Gräwenwiesbach<br />

ein Pfarrhaus für <strong>Reichelsheim</strong> gekauft von<br />

dem Kastenmeister Philipp Bausch im Beisein des Pfarrers<br />

Martin Stephani zu Gräwenwiesbach für 240 Gulden<br />

nebst 13 Gulden 14 Kreuzer Unkosten.“<br />

Der Kirchenrechner von <strong>Reichelsheim</strong> kaufte also in<br />

Hunstadt durch Vermittlung des dortigen Pfarrers Martin<br />

Stephani das Gebälk eines bestehenden Hauses, das<br />

hier in <strong>Reichelsheim</strong> als Pfarrhaus wieder aufgeschlagen<br />

wurde. (Übrigens: Dieses Haus verrichtete nahezu 300<br />

Jahre seinen Dienst; erst 1912 wurde es „auf Abriß“ versteigert<br />

und durch einen Neubau an gleicher Stelle ersetzt.<br />

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Foto des alten Pfarrhauses (Aufnahme vor 1910<br />

Original im Besitz der Familie Rohde)<br />

Was sonst noch zu berichten ist aus jener Zeit an Dingen<br />

und Vorkommnissen, die die Menschen bedrückten<br />

oder die ihr Leben beeinflußten ? Die alten Auseinander-<br />

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39


setzungen zwischen den Landgrafen von Hessen und den<br />

Grafen von Nassau uın die Vorherrschaft in der Fuldischen<br />

Mark wurden schließlich 1570 endgültig beigelegt,<br />

indem Nassau seine vor ungefähr 150 Jahren vom Kloster<br />

Fulda erworbenen Anteile - mit ausdrücklicher Ausnahme<br />

des „Ortes und Gerichtes <strong>Reichelsheim</strong>“ - an Landgraf<br />

Ludwig IV. von Hessen-Marburg für 121000 Gulden<br />

verkaufte.<br />

Damit war <strong>Reichelsheim</strong> aus der ehemaligen Fuldischen<br />

Mark ausgeschieden. Zugleich war es damit ein<br />

eigenes Amt, vor allem aber war es damit zu einer wahren<br />

Exklave der Grafschaft Nassau geworden: Keine der<br />

angrenzenden Gemeinden gehörte zur Herrschaft der<br />

Grafen von Nassau. Symbol des neuen Status” von <strong>Reichelsheim</strong><br />

ist der Bau des Rathauses unmitttelbar beider<br />

dominierenden Kirche, vor allem aber direkt an dem<br />

Marktplatz des durch Mauern bewährten Fleckens in der<br />

Wetterau. Dieser Rathausbau zeigte für <strong>Reichelsheim</strong> in<br />

die Zukunft.<br />

Der Aufstieg, den <strong>Reichelsheim</strong> in den folgenden 100<br />

bis 150 Jahren nahm, lag in dem Interesse der Nassauer<br />

Grafen an dieser für sie wichtigen „Kornkammer“, sei<br />

es aus Gründen der Sicherung von Nahrungsmitteln,<br />

sei es aus der Überlegung heraus, ein wertvolles Pfand<br />

zu haben, falls Finanzschwierigkeiten auftreten sollten...<br />

Doch auch anderes bewegte die Menschen, traf sie vor<br />

allem mehr: Wie in den Jahrhunderten zuvor, so wüteten<br />

auch im 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts die Pest<br />

und das Fleckfieber in und um <strong>Reichelsheim</strong>:<br />

- Von August 1582 bis Februar 1583 raffte die Pest in<br />

<strong>Reichelsheim</strong> 54 Menschen hinweg, meist - wie die<br />

Chronik berichtet -junge Leute.<br />

- 1613, in der Zeit vom 14. Juli bis Ende November,<br />

starben sogar 127 Menschen an der damals unerklärlichen<br />

Seuche.<br />

- Und 1627 starben zwischen dem 28. Mai und dem<br />

2. Februar des folgenden Jahres gar 187 Menschen!<br />

Welch eine Trauer mag durch den kleinen Ort, in<br />

dem es damals ungefähr 150 Haushaltungen gegeben<br />

haben kann, gegangen sein. . ?<br />

Doch nicht allein die Pest führte in jener Zeit zu Trauer,<br />

zu Schmerz und Verzweiflung. Vergessen wir nicht:<br />

Seit 1618 tobte in Deutschland Krieg, der erst 1648, nach<br />

30 Jahren, ein Ende fand. Es war der bis dahin blutigste<br />

Krieg Europas.<br />

40


4. Das 17. Jahrhundert<br />

a) Der Dreißigjährige Krieg<br />

Eigentlich hätte das 17. Jahrhundert ein Jahrhundert<br />

der Blüte werden können: In den Städten blühten zunächst<br />

Handwerke und Handel und brachten den adligen<br />

Herrschaften manchen Gulden, den sie zum Bau repräsentativer<br />

Schlösser oder zur Förderung der Künste sowie<br />

der Wissenschaften einsetzten.<br />

Der neue evangelische Glaube vor allem ließ die Menschen<br />

aktiv werden, wurde doch von ihm ein eifriges Tätigsein<br />

gefordert und im wirtschaftlichen Erfolg sogar ein<br />

„Hinweis der Gnade Gottes“ gesehen.<br />

Doch vieles, was die Handwerker, die Händler und<br />

Bauern durch Fleiß erarbeiteten, wurde durch den langen<br />

Krieg zerstört. Machtgier, nicht Glaubenseifer war<br />

meist die Antriebsfeder des Krieges! „Welches Bündnis<br />

mit wem wird MIR, dem Fürsten oder Grafen XY, den<br />

größten Vorteil bringen '?“ Der Glaube war zweitrangig -<br />

er wurde auch gewechselt, wenn es „opportun“ erschien<br />

(so wie z. B. dem Grafen Johann Ludwig von Nassau-<br />

Hadamar, einem Vertreter des weitverbreiteten Nassauer<br />

Hauses, der dafür auch nach dem Kriege vom Kaiser<br />

„wegen besonderer Verdienste und Treue“ in den erblichen<br />

Reichsfürstenstand erhoben wurde).<br />

Doch nicht die kleinen Grafen oder Fürsten waren die<br />

eigentlichen Auslöser dieses Krieges:<br />

- Der Kaiser des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher<br />

Nation“ strebte nach religiöser und politischer<br />

Einheit; sein Reich sollte ein starker Zentralstaat werden<br />

(Vorbilder waren Frankreich und Spanien); er<br />

reizte damit allerdings die Reichsstände (Adel, Geistlichkeit<br />

und Freie Reichsstädte) zum Widerstand, da<br />

sie bei einem kaiserlichen Erfolg wohl ihre Selbständigkeit<br />

eingebüßt hätten;<br />

- Das damalige Herrscherhaus des „Heiligen Römischen<br />

Reiches Deutscher Nation“, die österreichischen<br />

Habsburger, die mit dem spanischen Königshaus<br />

verbunden waren, kämpften mit Frankreich um<br />

die Vorherrschaft in der „Neuen We1t“;<br />

- Das erstarkte Schweden suchte unter ihrem ehrgeizigen<br />

König Gustav II. Adolf die Ostsee zu einem<br />

„Schwedischen Meer“ zu machen, was allerdings nur<br />

durch große Gebietsgewinne in Norddeutschland<br />

(Mecklenburg und vor allem Pommern) hätte erreicht<br />

werden können.<br />

Kaum hatte der Krieg begonnen, tobten sich die Heerseharen<br />

der verschiedensten lnteressenparteien auch<br />

hier in der Wetterau aus! Da dieser Landsknechtkrieg<br />

nach dem Prinzip „Der Krieg ernährt den Krieg“ geführt<br />

wurde, suchten sich die Generäle und Oberste der Kaiser<br />

und Könige für ihre Heere fruchtbare Gebiete aus. Ob<br />

spanisch oder braunschwei gisch, ob kroatisch oder französisch,<br />

ob bayrisch oder schwedisch, ob katholisch oder<br />

protestantisch: Die Wetterau. eine Kornkammer im<br />

Herzen Deutschlands, mußte leiden, mußte immer wieder<br />

Opfer bringen:<br />

- 1620 hausten die spanischen Truppen, Verbündete<br />

des katholischen Kaisers, rund um Friedberg und<br />

plünderten nach Herzenslust die Dörfer der Region;<br />

- 1621/22 lagerten zwischen Friedberg, Butzbach, Bingenheim<br />

und Assenheim die katholischen Bayern;<br />

- lm Sommer 1622 tauchten die Protestanten unter<br />

Christian von Braunschweig auf (von seinen Truppen<br />

hieß es in verschiedenen Kirehenbüchern dieser Gegend:<br />

„Sic hausten so übel, dergleichen der Türk niemals<br />

getan !“).<br />

Bei solchen Aktionen war die um die <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

Gemarkung gezogene Landwehr kein wirkliches Hindernis;<br />

auch die Mauer um den Ort gewährte den dahinter<br />

lebenden Menschen keinen wirkungsvollen Schutz.<br />

Da die Grafen von Nassau-Weilburg sich nicht in ihrem<br />

Glauben wandelten und sie sich zudem schließlich<br />

41


dem protestantischen Bündnis unter Führung des Schweden-Königs<br />

anschlossen, wurden sie - nach der Niederlage<br />

des protestantischen Bündnisses bei Nördlingen ~<br />

schließlich 1637 ihres Besitzes durch das Reichskammergericht<br />

für verlustig erklärt. Die <strong>Reichelsheim</strong>er mußten<br />

vorübergehend einer neuen Herrschaft, die besser „paktiert“<br />

hatte, den Untertaneneid schwören - ohne dadurch<br />

größere Sicherheit vor Raub, Plünderung und<br />

Schändung erwarten zu können.<br />

Denn es ging weiter:<br />

- 1634 waren die kaiserlichen Truppen (katholisch)<br />

wieder in unserer Region und zogen plündernd von<br />

Ort zu Ort;<br />

- 1640 „ist <strong>Reichelsheim</strong> von den Weimarischen Völkern<br />

(protestantisch) ganz und gar ausgeplündert<br />

worden, 2 Tage lang. Die Familien flüchteten nach<br />

Bingenheim und anderen Orten und blieben dort an 9<br />

Wochen, weil nach dieser Plünderung die katholischen<br />

Armeen kamen und in dieser Gegend zubrachten.<br />

Der Fürst vorı Bregenz lag 14 Tage in diesem<br />

Flecken und richtete ihn übel zu. Auch die Kirche litt<br />

bei dieser Plünderung“ (s. Kirchenbuch, S. 97).<br />

Die Menschen mußten immer und immer wieder von<br />

vorne anfangen: Die Geißel des Krieges war entsetzlich!<br />

Doch wie schon im letzten Kapitel angedeutet: neben<br />

dem Krieg brachte immer wieder die Pest Verderbnis<br />

und Leid!<br />

Nach der schon im letzten Kapitel erwähnten Pest von<br />

1627 wütete in der Wetterau auch in den Jahren 1632 und<br />

1635 diese Seuche. Wen wundert es auch: Die Menschen<br />

suchten damals notgedrungen überall dort Schutz, wo<br />

Mauern Sicherheit verspraehen - doch selten reichten<br />

Platz und Nahrung aus! Elendig vegetierten sie dahin,<br />

aßen alles, auch wenn es schon verderben war. In der<br />

großen Hungersnot nach der Pest von 1635 „trieb der<br />

Hunger die Leut so hart, daß sie Schind-Aas wegfraßen.<br />

. . Hund und Katzen sind ihnen Leckerbissen gewesen.<br />

Durch diesen Hunger verschmachteten viel Leute<br />

dermaßen, daß nichts als Haut und Bein (= Knochen) an<br />

ihnen. Die Haut hing ihnen am Leib wie ein Sack, daß<br />

einem grauete sie anzusehen“, beschrieb der Pfarrer<br />

eines betroffenen Ortes die Lage der Menschen in seinem<br />

Kirehenbuch (s. „Hessenchronik“, S. 146).<br />

1648 war der Krieg zu Ende. Der „Westfälische Friede“<br />

von Osnabrück wurde stolz verkündet. Die Mächtigen<br />

der Welt hatten ihre Interessen gegenseitig neu abgesteckt.<br />

- Doch Deutschland lag am Boden, im Süden, im<br />

Norden, überall.<br />

`<br />

Was blieb den Menschen:<br />

Sie feierten auf Anordnung Dankgottesdienste!<br />

In der <strong>Reichelsheim</strong>er Kirchchronik lautet der entsprechende<br />

Abschnitt (s. S. 98): „Den 23. Sonntag nach<br />

Trinitatis ist eine Danksagungspredikt wegen des Westfälischen<br />

Friedens gehalten worden. Auch ist die Kirche<br />

wieder mit Schlössern an den Türen verwahrt worden.<br />

1650 wurde in allen Nassauischen Ländern wegen des abgeschlossenen<br />

Friedensvertrages ein Gebet gesprochen,<br />

worin unter anderm die Bitte vorkommt: ,Zerschmette-<br />

BGB<br />

re den Kopf derer, die uns feind sind .<br />

Brotverteilung an Arme -<br />

Maßnahme der Stadtbevölkerung,<br />

um Bettler und Vagabundierende<br />

vor den Stadtmauern halten zu können (1628)<br />

(Entn.: „ Bettler, Gauner und Proleten“, Abb. 44)<br />

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4. b) Der „FREIHEITSBRIEF“ der „Stadt <strong>Reichelsheim</strong>“<br />

In dem handschriftlich gefertigten „<strong>Heimatbuch</strong> der<br />

Stadt <strong>Reichelsheim</strong>“, das der frühere Lehrer Heinrich<br />

Keller 1935 abschloß und dem damaligen Bürgermeister<br />

unserer Stadt widmete, findet sich auf Seite 44 eine Kopie<br />

eines von ihm gefertigten Zeitungsartikels unter dem<br />

Titel: „Interessantes aus dem Freiheitsbrief vom J.<br />

1665.“<br />

Dieser Zeitungsartikel, dessen Erscheinungsdatum<br />

und -ort nicht angegeben wurde, sei hier (leicht gekürzt)<br />

wiedergegeben:<br />

„lm Jahre 1665 wandten sich die Einwohner des Flekkens<br />

<strong>Reichelsheim</strong> in der Wetterau an den derzeitigen<br />

Besitzer des Städtchens, ,Graf Friedrich zu Nassau,<br />

Saarbrücken und Saarwerden, Herr zu Lahr, Wiesbaden<br />

und Idstein“. mit der Bitte, ihnen die große Gnade zu erweisen<br />

und sie der beschwerlichen ›Dienst-, Fuhr- und<br />

Leibeigenschaft und anderer Bürden gnädiglich zu entheben<br />

und gegen Hinterlegung einer Summe Geldes bei<br />

ihren hergebrachten uralten Privilegien, Freiheiten und<br />

Stadtrechte zu lassen, was maßen sich nicht allein alte<br />

Documenta fünden, sondern auch die Ältesten unter ihnen<br />

bezeugen würden, daß ihre Vorfahren und Einwohner<br />

zu besagtem <strong>Reichelsheim</strong> von altersher als freie<br />

Bürger und undienstbare Unterthanen bei den vorigen<br />

Hoehgräflichen Nassauisch-Saarbrückischen Herrschaften<br />

wären gehalten und Stadtrechte gegönnet< worden.<br />

Während ›böser Kriegszeiten< (= 30jähr. Krieg) hatten<br />

sich einige Fremde, ›Leibeigene


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Beglaubigte A bschrift des Freiheitsbriefes<br />

des Jahres 1665 durch Graf Carl August (1724)<br />

(Archiv der Stadt <strong>Reichelsheim</strong>)<br />

45


die Einwohner angehalten, Tore und Mauern zu reparieren,<br />

die Landwehren aufzurichten, die Tore zudem mit<br />

Gittern und Wächtern - ›sonderlich zu gefährlichen<br />

Kriegszeiten< - zu besetzen. Der, welcher in den Flecken<br />

zuziehen will, soll gegen Erlegung eines gewissen Stücks<br />

Geldes der Leibeigenschaft ledig sein; dagegen soll ein<br />

›Mann oder Weibsperson von <strong>Reichelsheim</strong>, die in eines<br />

unser zugehörigen Dörfer ziehen würde, die Befreiung<br />

verlieren und Uns mit Leibeigenschaft wiederum zugethan<br />

sein


terthanen“: dem Ort wurde wieder „Stadtrecht“ gegönnt<br />

Wie aus dem Zeitungsartikel Heinrich Kellers zu ersehen,<br />

gab Graf Friedrich dem Ersuchen nicht uneigennützig<br />

nach. Er suchte auch einen Weg, <strong>Reichelsheim</strong> wirtschaftlich<br />

zu helfen, wobei er allerdings seinen eigenen<br />

Vorteil nicht aus dem Auge ließ: Er ließ sich die Urkunde<br />

nicht nur durch 2000 Gulden „vergolden“, er befreite<br />

sich zugleich von der eigenen herrschaftlichcn Pflicht, für<br />

die Sicherheit der Stadt zu sorgen; das mußten nun die<br />

<strong>Reichelsheim</strong>er Ortsbürger aufeigene Kosten erledigen!<br />

Die <strong>Reichelsheim</strong>er brauchten zwar keine weiten<br />

Fahrten mehr zugunsten der Herrschaft, aber auf eigene<br />

Kosten zu leisten, doch wenn sie Gesellen, Dienstpersonal<br />

oder andere Hilfen eirıstellten, so rn ußtc an den Grafen<br />

„Dienstgeld“ gezahlt werden.<br />

Wie Kellers Bericht vcrdeutlichte, ınußten all die, die<br />

neu nach <strong>Reichelsheim</strong> ziehen wollten, ein „Einzugsgeld“<br />

an den Grafen bezahlen. Sollte die Hoffnung des<br />

Grafen Wirklichkeit werden und <strong>Reichelsheim</strong> zu einem<br />

Anziehungspunkt für viele Menschen aus der Umgebung<br />

werden, so sollte es auch sein Gewinn sein: Einzugsgeld<br />

sollten sie ihm bezahlen und dann auch noch ihre Arbeitgeber<br />

Dienstgeld.<br />

Daß die <strong>Reichelsheim</strong>er natürlich Steuern zahlen<br />

mußten, das wird ihnen auch noch in diesem „Freyheits<br />

Brief“ in Erinnerung gerufen:<br />

„Dcsgleichen sollen auch Unsern Bürgern und Einwohnern<br />

zu <strong>Reichelsheim</strong> dasjenige, was sie Jahres Uns<br />

oder der Herrschaft an Steuer- oder Reichsschatzungen<br />

auch sonsten nach Besag und Ausweis der Kcllereirechnung<br />

an Konten zu erledigen schuldig sind, ohnweigerlich<br />

zu erıtrichten.“<br />

Auch wenn <strong>Reichelsheim</strong> natürlich nicht mit Friedberg<br />

oder Frankfurt, diesen „Freien Reichsstädten“, die<br />

Anstc ht von der Horloffbrur ke zum Hrxentutm<br />

(Aufnahme um 192 5)


nur dem Kaiser unterworfen waren, vergleichbar war:<br />

gegenüber den anderen Flecken in der Wetterau hatte<br />

<strong>Reichelsheim</strong> durch diesen Freiheitsbrief, durch die Verleihung<br />

der Stadtrechte eine etwas hervorgehobene Stellung.<br />

Doch „frei von Pflichten“ war kein <strong>Reichelsheim</strong>er:<br />

jeder Ortsbürger wurde zu den verschiedensten Diensten<br />

eingesetzt. Befolgte er nicht, wann wo er zu was eingeteilt<br />

war, so wurde er rigoros zur Kasse gebeten.<br />

Jeder männliche Ortsbürger (=Besitzer von Grund<br />

und Boden innerhalb der Stadtmauern, allerdings<br />

nicht die Pfarrer, die Lehrer oder die Amtmänner,<br />

da sie dem Landesherrn direkt unterstanden) hatte<br />

lohnfrei Dienst zu leisten z. B. beim Wegebau, beim<br />

Bachreinigen, bei dem Bau und der Erhaltung von<br />

Landwehr und Stadtmauer mit den Türmen, bei den<br />

Tag- und Nachtwachen im Ort und außerhalb desselben.<br />

. .<br />

48


4. c) Feuer<br />

Eine kleine Stadt, umgeben von einer Mauer: die Gassen<br />

bis auf die Hauptstraße schmal, die Fachwerkhäuser<br />

dicht an dicht gedrängt, dazwischen die hölzernen Scheunen<br />

und Ställe, fast alle Gebäude mit Stroh gedeckt - die<br />

Scheunen zudem reich angefüllt mit frisch eingebrachtem<br />

Heu:<br />

Es ist Sommer, der 28.Juni 1665. Seit Sonnenaufgang<br />

ist Leben in den Ställen und auf den Straßen: Das Vieh<br />

will früh versorgt sein!<br />

Um 7 Uhr in der Frühe läuten die 3 Glocken der Kirche<br />

Sturm: „Feuerl“ schreien die Menschen entsetzt!<br />

„Feuerl“<br />

Sie rennen auf die Straße, laufen zum Rathaus, die<br />

meisten von ihnen haben bereits ihren Ledereimer in der<br />

Hand! „Feuer in der Untergassel“ - „Feuer in der Haingasse<br />

1“ - „Feuer am Amtshausl“<br />

Ob Bauer oder Sattler, Maurer oder Bierbrauer, ob<br />

Zimmermann oder Schmied, ob Schuhmacher oder Glaser,<br />

ob Herr oder Knecht, objung oder alt : jeder läßt sein<br />

Werkzeug fallen, um zu helfen!<br />

Schnell bildet sich von den nahe gelegenen Brunnen<br />

eine Menschenkette zu den Brandstellen. Vor allem von<br />

der Weed her, dem Feuerlöschteich am nördlichen Rande<br />

der Marktstraße (heute Bingenheimer Straße), wird<br />

Eimer für Eimer Wasser gereicht. Erschreckte Menschen<br />

aus den Nachbarorten Heuchelheim und Dorn-Assenheim<br />

kommen zu Hilfe und verstärken die Einheimischen<br />

bei ihren verzweifelten Versuchen, dem prasselnden<br />

Feuer in seiner Gier Einhalt zu gebieten!<br />

Nach 1'/2 Stunden züngeln nur noch einzelne Flammen<br />

in verkohlten Balken und Brettern. Erschöpft und zum<br />

Teil völlig niedergeschlagen sitzen die Menschen aus<br />

dem Südteil des Ortes herum, so als wüßten sie nichts<br />

mehr von ihrer Umwelt.<br />

68 Gebäude waren den Flammen zum Opfer gefallen!<br />

Zum Glück, so konnte bald festgestellt werden, traf es<br />

nur wenige der besser gebauten Wohnhäuser. Die Kirchenchronik<br />

weiß zu berichten:<br />

„Den 28. .luni 1665 ist morgens um 7 Uhr eine gewaltige<br />

Feuerbrunst entstanden, welche in 1 1/2 Stunden 68<br />

Gebäude in Brand setzte, davon sind I8 Scheuern und alle<br />

dabei gestandenen Ställe samt 3 Wohnhäuser ganz in<br />

Asche gelegt worden, die anderen Gebäude sind auch<br />

beschädigt; aber doch durch Gottes und benachbarter<br />

Hülfe gerettet worden. . .<br />

Bei diesem Brandc ist die Pfarrscheuer samml allen<br />

Ställen eingeäschert worden. Und ist die ganze Seite bishin<br />

an die Oberpforte und Backhaus abgebrannt und nur<br />

allein die Häuser, die auf die Gasse gesehen. sind stehen<br />

geblieben, wiewohl auch alle von dem Brand sind berührt<br />

wordcn. Das Pfarrhaus hat auch angefangen zu<br />

brennen, ist aber mit Gottes Hülfe erhalten worden.“<br />

Wer heute durch den alten Ortskern geht, der sollte<br />

sich folgendes vorstellen: Die Bereiche Neugasse, Florstädter<br />

Straße, Untere Haingasse, Sandgasse, Kirchgasse,<br />

d. h. fast alle Straßen und Gassen des gesamten Südteiles<br />

des Ortes, waren betroffen gewesen! Ein Straßenzug<br />

wurde nach dem Brand völlig erneuert und hat daher<br />

seinen Namen: die Neugasse.<br />

Was war Ursache des Brandes?<br />

Pfarrer Hyronimus Frech, der damals der Gemeinde<br />

verstand und über den im kommenden Kapitel noch zu<br />

berichten sein wird, notierte:<br />

„Der Brand ist ausgegangen in einer Scheuer, welche<br />

nebst dem Hause verkauft war und 1/4 Jahr lang leerstand“<br />

(s. Kirchenchronik, S. 107).<br />

Sollte die Ursache Rache oder Verzweiflung gewesen<br />

sein? Oder hat sich Heu etwa selbst entzündet?<br />

Pfarrer Frech teilt andere Vermutungen mit: „Alle<br />

Thüren, Ställe und Scheuern waren verschlossen. Nie-<br />

49


mand weiß, wie der Brand entstanden ist, obwohl vermuthet<br />

wird, er sei von bösen Leuten (= Hexen. Zauberern)<br />

angelegt. worden.“<br />

Nach der Holfnung, die der Freiheitsbrief in der Bürgerschaft<br />

geweckt hattc, kam wenige Woclıcn später dieser<br />

Schock! l)och jetzt galt es wirklich. zu handeln. Und<br />

wenn wir den Berichten der Pfarrer trauen können, so<br />

wurde wirklich schnell li-land angelegt:<br />

„Schon den 21. August wurde ein neuer Stall auf dem<br />

Pfarrlıof errichtet. 1666 wurde eine neue Plarrscheuer<br />

gebaut“, teilt Pfarrer Frech mit.<br />

(Übrigens: Diese ınittlcrwcile 326 .lahrc alte Pfarrscheuer<br />

kann heute an anderem Orte noch betrachtet<br />

werden: sie steht seit Anfang dieses Jahrhunderts an der<br />

Straße „Röınerberg“. im Garten der Familie Rohde.)<br />

Gab es Koıısequeıızcıı aus diesem Brand ?<br />

Wer durch die Neugasse geht, der sieht zu den übrigen<br />

Straßen einen wesentlichen Unterschied: Die Straße ist<br />

breit, sie läßt nicht so leicht zu, daß iın Falle eines<br />

Brandes die Funken von einer Straßenseite zur anderen<br />

überfliegen können.<br />

Eine weitere Konsequenz: Am Martinigericht deslahres<br />

1687, das am 19. Oktober jenes Jahres vor dem Rathaus<br />

abgehalten wurde, wurde allen anwesenden Ortsbürgern<br />

bekanntgegeben, daß Wohnhäuser nicht länger<br />

ınit Stroh gedeckt werden dürften; „Bey straf“ sollten in<br />

Zukunft nur noch gebrannte Ziegel Verwendung finden.<br />

(Diese Verordnung, die später auch auf die Wirtschaftsgebäude<br />

ausgeweitet wurde, ınußte mehrfach erneuert<br />

werden. weil - wahrscheinlich - manch ein <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

Strohdeckung aus Kostengründen weiterhin bevorzugte.)<br />

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Pfarrscheune aus dem Jahre 1666,<br />

erbaut nach dem großen Brand,<br />

heute am Römerberg stehend<br />

(Foto G. Wagner)<br />

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4. d) Hexenwahn in <strong>Reichelsheim</strong> '<br />

Viel Ungeklärtes hatte sich in den Jahren und Jahrzehnten<br />

seit Anfang des 17. Jahrhunderts ergeben, viel<br />

Leid war über die Menschen hereingebrochen, unerklärliches<br />

Leid.<br />

Warum halfen die Gebete nicht, warum half es nicht,<br />

der Kirche oder armen Mitmenschen zu spenden? Warum<br />

Krieg, Pest, Plünderei, Schändung, Brände, Hungersnot?<br />

„Das Bewußtsein des Zusammenhangs von menschlicher<br />

Schuld und göttlicher Strafe war stark ausgebildet.<br />

Aus ihm wuchs die ganze Überzeugung, daß durch innere<br />

Umkehr das äußere Elend sich wenden werde:<br />

›Wir sind führwahr geschlagen<br />

mit harter, scharfer Rut,<br />

und dennoch muß man fragen:<br />

Wer ist., der Buße tut?<br />

Ach laß dich doch erwecken,<br />

wach auf, wach auf du harte Welt,<br />

ch daß der harte Schrecken<br />

dich schnell und plötzlich überfällt.<<br />

(P. Gerhardt, deutscher Dichter/<br />

ev. Pfarrer, 1607- 1676)<br />

Solch zeitgenössische Reaktion erinnert daran, daß es<br />

ein kirchliches Zeitalter war, eine noch in starken religiösen<br />

Bindungen lebende Generation... Der Prozeß der<br />

Glaubensspaltung und neuzeitlichen Kirchenbildungscit<br />

1525... durfte 1648 im wesentlichen als abgeschlossen<br />

gelten... Als Ergebnis des langen Streits, aber auch der<br />

erzieherischen Tätigkeit der Obrigkeiten, hatte sich ein<br />

geschärftes konfessionelles Bewußtsein entwickelt, ein<br />

von Abwehrbereitschaft, Haß, l\/Iißtrauen, Verbitterung<br />

und Verkennung diktiertes Verhältnis. .. zueinander“<br />

(Bruno Gebhardt, „Handbuch der Deutschen Geschichte“,<br />

Bd. 2, S. 197 f.).<br />

Wie lautete doch jene Bitte im Gebet, das in allen Kirchen<br />

der Grafschaft Nassau nach dem Ende des Dreißigjährigen<br />

Krieges gesprochen wurde, also auch hier in<br />

<strong>Reichelsheim</strong>:<br />

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„ Reic†hel.s'heimer Hexenturrrı “ in der Turfnga.s'.s*e.<br />

Nach Überlıefifrımg sollen in ihm die wegen<br />

Hcxcrci tmc! Zaub(*reı` Afzgekfagten wéi/1renc.! der<br />

Prozcfßdauer festgehalten worden sein<br />

51


„Zersehmettert den Kopf derer, die uns feind sind 1“<br />

ln der Kirchenchronik berichtet Pfarrer Frankenfeld<br />

1849 aufgrund der alten Papiere im Kirchenarchiv über<br />

das, was in <strong>Reichelsheim</strong> ab 1658 geschah. Lehrer Heinrich<br />

Keller, hier vor ca. 6()Jahren tätig. nahm diesen Bericht<br />

der Chronik zum Anlaß, um einen Zeitungsartikel<br />

darüber zu schreiben, um -wie er ausdrücklich anmerkte<br />

- „uns und unseren kommenden Generationen ein Bild<br />

jener bösen Tage zu vermitteln (s. S.41 f. seines „<strong>Heimatbuch</strong>es“).<br />

l)er erste Teil dieses Artikels sei hier wiedergegeben<br />

:<br />

„Hexenprozesse in <strong>Reichelsheim</strong><br />

l)er durch den 3()jälırigen Krieg auf die Spitze getriebene<br />

Hexenwahn hat auch in dem Städtchen Reichelsheinı<br />

i. d. Wetterau seine Opfer gefordert, und zwar im<br />

Jahr 1658. Mehrere Kostenrechnungen weisen die durch<br />

die Untersuchung gegen verschiedene Personen entstandenen<br />

Gerichtskosten nach. Den Anlaß zu den hiesigen<br />

Hexenprozessen gaben Anschuldigungen, die von einigen<br />

Bingenheimer Frauen zu Protokoll gegeben wurden.<br />

Darüber ist folgendes zu lesen: › _ .. weil in Bingenheim<br />

etliche Zauheriıınen auf die hiesigen Leute ,bekannten`,<br />

als hat nach kommuniziertem Bingenheimer Protokoll<br />

Ihre Hochgräfliche Gnadcn, GrafJohann von Idstein als<br />

Hochgräflicher Vormund, allhier auch etliche Zauberer<br />

und Zauberinnen einziehen lassen. Zuvor aber, ehe man<br />

von dem Einziehen solcher Leute etwas gewußt, sondern<br />

allein davon äußerlich geredet, ist Pankratius Schornstein,<br />

Kirchenbaumeister und Senior, ohne Zweifel aus<br />

Trieb seines bösen Gewissens heimlich hinweggegangen,<br />

bald aber darauf sind folgende Personen eingezogen und<br />

in den ,Brandgärten` und ,Feuergräben“ verbrannt worden:<br />

- Pankratius Sehornsteins Ehefrau Katharine<br />

- Joh. Eberh. Bäckers Ehefrau Else<br />

- Joh. Spielmanns Ehefrau Katharine<br />

- Hans Schmalzen Frau Veronika<br />

- Joh. Emrich und Max Diels Frau Katharine.<<br />

Max Diel brachte sich im Gefängnis nach ausgestandener<br />

Tortur (= Folter) und getanem Bekenntnis um. Lips<br />

Finger ließ sich die Nacht an einem Seil aus dem Gefängnis<br />

und lief fort. Lips Finger Tochter Katharine und Joh.<br />

Spielmanns Tochter Katharine, beide erst 16 Jahre alt,<br />

wurden geköpft und begraben bei dem hintersten Kirchhof<br />

und begraben bei der Mauer auswendig, in Joh.<br />

Weitzens Garten. Joh. Ebert Bubers Tochter, 11 Jahre<br />

alt, ist, weil sie fortwährend leugnete, entlassen, aber im<br />

Jahre 1665 wieder nach Weilburg zitiert worden, wo sie<br />

dann nach getanem Bekenntnis den 14. März gerichtet<br />

und begraben wurde.“<br />

U<br />

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Eine Batıersfrau wird gehängt,<br />

die nach dem Urteil des Ketzergerichtes<br />

von bösen Geistern besessen ist<br />

(Entn. : „Hexenwann“, S. 57)<br />

ll<br />

52


Im Kirehenbuch kommentierte der (wie gesagt 1849)»<br />

berichtende Pfarrer Frankenfeld dieses Geschehen mit<br />

zwei Worten, hinter die er jeweils ein Ausrufezeichen<br />

setzte:<br />

„Schändlichl Schändlich 1“<br />

Dem damals amtierenden Pfarrer Frech (von 1639 bis<br />

1673 hier in <strong>Reichelsheim</strong> tätig) wurde „vorgeworfen<br />

und verwiesen, daß er in der Privatbeichte etliche befragt<br />

habe, ob sie nicht Zauberei getrieben hätten, und wenn<br />

sie nicht mit JA geantwortet, sie nicht zum Abendmahl<br />

zugelassen hätte“ (s. Kirchenchronik, S. 100).<br />

In einem im Darmstädter Staatsarchiv vorhandenen<br />

„<strong>Reichelsheim</strong>er Gerichtsprotokoll“ aus dem Jahre 1672<br />

wird ausdrücklich verdeutlicht, daß die Vernehmung der<br />

Margarethe, Tochter des Johann Meuber('?), durch den<br />

Amtskeller Johann Nicolauß Wilhelmi und sämtliche<br />

Gerichtsschöffen die Aufgabe habe, sie daran zu erinnern,<br />

„dasjenige, was sie vorhin vorm Kirchen-Convent<br />

erwähnt, nochmals auszusagen“. Der erwähnte Pfarrer<br />

Frech amtierte bis 1673 in <strong>Reichelsheim</strong>.<br />

Die in einem früheren Kapitel beschriebene Macht des<br />

Pfarrers über seine Gemeinde wird hier verdeutlicht!<br />

(vergl. hierzu auch den Anfang des Kapitels über „Die<br />

Reformation“). Wer durch Entscheidung des Geistlichen<br />

nicht zum heiligen Abendmahl zugelassen war, der war<br />

aus der Gemeinde der Christen, und das hieß damals:<br />

aus der Gemeinschaft der Menschen, bzw. aus der Gemeinschaft<br />

der gottgewollten Geschöpfe, verstoßen -<br />

und der war damit in gewisser Weise „Un-Mensch“ oder<br />

„Anti-Mensch“.<br />

Um zu verdeutlichen, welche Bedeutung die Kirchen,<br />

die Gotteshäuser, für die Menschen jener Zeit hatten, sei<br />

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der Text eines mittelalterlichen Kirchenliedes abgedruckt:<br />

„Ehrfurchtgebietend ist dieser Ort. Hier ist das Haus<br />

Gottes, die Pforte des Himmels: Vorhof Gottes genannt.<br />

Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr der Heerseharen:<br />

Meine Seele verlangt und sehnt sich nach den Vorhöfen<br />

des Herrn. Beständig frohlocken die Engelscharen,<br />

diesen Ort bezeugen sie als heilig, in dem sie sagen:<br />

Ehrfurchgcbietend ist dieser Ort _ .<br />

„Zersehmettert den Kopf derer, die uns feind sind 1“<br />

So hatte Pfarrer Frech wenige Jahre zuvor, aus Anlaß<br />

des Endes des „Dreißigjährigen Krieges“, von der Kanzel<br />

der <strong>Reichelsheim</strong>er Kirche gepredigt: Wer verdächtigt<br />

war, mit dem Feind aller Christen, dem Teufel, im<br />

Bunde zu stehen, dem wurde das Abendmahl verweigert,<br />

der wurde aus dem Hause Gottes verdrängt, dieser<br />

„Pforte des Himmcls“; der wurde statt dessen vor dem<br />

Kirchen konvent oder in der Privatbeichte „befragt“, der<br />

wurde zum Geständrıis gezwungen!<br />

Zeigle der oder die Befragte sich niclıt geständig, so<br />

wurde „die peinliche Befragung“ angeordnet, also die<br />

Folter!<br />

Der Gedanke, daß eine Angeklagte - und meistens<br />

waren es ja Frauen - einmal freigesprochen werden<br />

könnte. warden Hexenriehtern, wie der damals berühmte<br />

Pater Spee in seinem Hauptwerk „Cautio Criminalis“<br />

ausführte, völlig fremd: „Entweder gesteht die Angeklagte<br />

auf der Folter, und dann ist sie schuldig, weil<br />

sie bekannt hat, oder sie gesteht nicht, dann ist sie ebenfalls<br />

schuldig, weil sie furchtbare Folterqualen ausgehalten<br />

hat, die kein Mensch ohne des Teufels Hilfe überstehen<br />

kann. Sie hat also den sogenannten Schweigezauber<br />

geübt und sich dadurch als Hexe erwiesen“ (entnommen:<br />

K. Baschwitz, „Hexen und Hexenprozesse“,<br />

S.236).<br />

Warum wird „Joh. Eberts Bubers Tochter, ll Jahre<br />

alt“ wohl schließlich gestanden haben? Die Erinnerung<br />

an das vor Jahren Erduldete, die Erkenntnis, daß einmal<br />

Verdächtigte nichtmehr ruhig schlafen gelassen werden,<br />

vielleicht auch das Verhalten des fanatisch-dogmatischen<br />

Pfarrers Frech ihres Heimatortes <strong>Reichelsheim</strong><br />

ihr, die mittlerweile das Konfirmationsalter überschritten<br />

hatte, gegenüber? All das mag dazu beigetragen haben,<br />

daß sie „gestand“, mit dem Satan im Bunde zu sein,<br />

bzw. daß sie keine Kraft mehr aufbringen konnte oder<br />

wollte, erneut den unmenschlichen Qualen der Folter zu<br />

widerstehen.<br />

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Zwei Hexen werden gefoltert (Holzschnitt, I6. Jh. )<br />

(Entn.: „Hexenwahn“, S. 108)<br />

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Konkrete Akten über die Hexenprozesse in <strong>Reichelsheim</strong><br />

finden sich nur noch sehr gering. Viele sind wohl im<br />

2. Weltkrieg beim Angriff auf das Hessische Staatsarchiv<br />

Darmstadt vernichtet worden. Lange galt der Bericht des<br />

Pfarrers Frankenfeld im Kirehenbuch als der einzig<br />

54


„brauchbare“ Beleg zum Beweis des furchtbaren Geschehens<br />

im 17. Jahrhundert.<br />

Als 1987/88 der Magistrat daranging, den „Hexenmeister<br />

von <strong>Reichelsheim</strong>“ neu aufzulegen, bemühte sich<br />

der damalige Archivar der Stadt, Herr Gerhard Hofmann,<br />

um unzweideutige Belege. Schließlich stieß er bei<br />

seinen Nachforschungen auf die Zeitschrift „Alt-Nassau“,<br />

Jahrgang 1905, die im „lnstitut für geschichtliche<br />

Landeskunde der Rheinlande“ in Bonn archiviert ist.<br />

Ausführlich und auf Originalquellen stützend, setzt sich<br />

darin ein Historiker mit den Hexenprozessen in <strong>Reichelsheim</strong><br />

auseinander.<br />

Um auch zu verdeutlichen, wie die Anklagen gegen<br />

die <strong>Reichelsheim</strong>er Hexen lauteten, sei hier aus diesem<br />

Artikel zitiert:<br />

„Da waren nun zunächst Max Diel und sein Weib im<br />

Verzeichnis aufgeführt, die schon mehr als zwanzig Jah re<br />

für Erzzauberer gehalten und von den Kindern auf der<br />

Straße dafür verschrien wurden. Ihre Händel- und Zanksucht<br />

hatte sie schon mehr als zehnmal vor Amt geführt,<br />

woraus deutlich zu entnehmen war, daß sie dem Teufel<br />

ergeben seien... Der als fünften der genannten Frau gehe<br />

zwar der böse Ruf noch ab, doch sei von ihr auch<br />

nichts Gutes zu vermuten, da sowohl ihre Stiefmutter wie<br />

ihre Schwester in Bingenheim als Hexe verbrannt worden<br />

seien.<br />

Des Bäckers Frau als sechste wurde allerdings für eine<br />

Hexe gehalten, denn vor zwei Jahren sei ein allgemeines<br />

Kindergeschwätz im Umlauf gewesen, daß ihr fünfjähriges<br />

Töchterchen sich gerühmt habe, es könne Mäuse machen...<br />

Auch Joh. Ludwigs Witwe werde für gut gehalten, nur<br />

gewähre sie öfters alten Weibern, so verdächtig, Aufenthalt<br />

in ihrem Hause...<br />

Über Johann Michels Frau, als der elften, sei nichts<br />

Schlechtes verbreitet, doch halte man sie für eine Hexe,<br />

weil sie mit dem Segensprechen umzugehen wisse. ._<br />

Eine der schlimmsten sollte aber die unter 14 aufgezählte<br />

Müllerin gewesen sein. Nicht nur waren ihre verstorbenen<br />

Eltern jederzeit für Erzhexen gehalten worden,<br />

sondern auch von ihrem ältesten Töchterchen sei<br />

vor zwei Jahren das Gerede gegangen, daß sie einem<br />

fremden Mägdlein das Mäusemachen habe lehren<br />

wollen. Dann aber habe 1653 die Müllerin durch den<br />

Ochsenhirt ›Hexenbeine< von den auf der Bingenheimer<br />

Gerichtstätte, dem Lohbusch, verbrannten Hexen holen<br />

lassen, um sie auf der Weide als Mittel gegen Viehkrankheiten<br />

zu vergraben: ݟber welches Holen der<br />

Ochsenhirt, ein Wallone, vom Teufel übel traktieret,<br />

blau und schwarz über den Rücken geschlagen worden<br />

und doeh niemanden gesehen, bis er die zurückbehaltene,<br />

uff der Weide vergrabene Bein uff mein<br />

(des Kellers) und des Pfarrers Anraten wiederum dahin,<br />

woher er sie geholet, getragen. Wobei er dann abermals<br />

sehr zerschlagen, auch von einer Stimme in französischer<br />

Sprach angeredet worden, was er damit tun<br />

wolle< . _<br />

In dem Artikel der Zeitschrift „Alt-Nassau" heißt es<br />

dann über den Prozeßfortgang:<br />

„Man betraute damit den Weilburger Rat Martin<br />

Chun und hatte auch keinen Fehlgriff getan; denn dieser<br />

berichtet am 27. Februar 1658 sehr selbstgefällig aus <strong>Reichelsheim</strong>:<br />

Er habe mit den drei Kindern bei der Untersuehung<br />

den Anfang gemacht, und der liebe Gott habe<br />

seine Gnade gegeben, daß alle Eingezogenen ihre Sünden<br />

teils gutwillig, teils durch Anwendung der Folter, das<br />

jüngste Kind infolge von Rutenschlägen, bekannt hätten.<br />

. .<br />

55


#3. ,. j __<br />

ßıııitmuıı lıı ürlılnlılpıim.<br />

Das Amtshaus zu. Reich.eIshetfrn, Fl0rsta`dter Straße,<br />

in dem die Hexenprozesse stattgefunden haben sollen<br />

(erbaut 1500, abgerissen 1910/11; Foto um 1890)<br />

Es sei nicht zu beschreiben, was für grausame Taten<br />

noch verborgen seien; es sei ganz unzweifelhaft, daß er<br />

den dritten Teil noch nicht wisse, und wenn man die Leute<br />

(mit Hülfe des Scharfrichters) ein ganzes Jahr examiniere,<br />

so komme immer wieder etwas Neues dabei heraus.<br />

.<br />

Wie sehr die krankhafte Verfolgungswut der Verantwortlichen<br />

ging, das zeigen die den Opfern meist während<br />

der Folter durch Suggestivfragen erzwungenen Geständnisse.<br />

Hier einige Beispiele:<br />

„Eine Frau wußte Kuchen zu backen, durch deren Genuß<br />

die Kühe die Milch verloren; eine andere verstand<br />

es, durch Melken am Rauchfang oder an Beilstielen den<br />

Nachbarskühen die Milch zu entziehen. . . Schaudererre-<br />

gend ist die Kunst einer anderen, Hexensalbe zu bereiten.<br />

Dazu müsse des Nachts ein Kind ausgegraben, ihm<br />

das Gehirn aus dem Köpfchen und das Mark aus den<br />

Beinchen geklopft und beides nebst zwei Fingerchen von<br />

jeder Hand oder zwei Zehen von jedem Fuße mit Säufett,<br />

Krötenschmeiß und anderen Zutaten in einer Pfanne<br />

gekocht werden. . _<br />

Über die Peinigungen des ältesten der drei Kinder<br />

schreibt Chun: ›Weil dieses Mägdlein, ein sehr versehlagen<br />

Mensch, bis zum vierten oder fünften Vernehmen<br />

bald in diesem, bald in jenem variierte und<br />

uns vexierte, ist ihm endlich nach vielem Bedrohen ein<br />

Schraubstock auf die Daumen gesetzt worden, doch<br />

ohne völlige Zerbrechung derselben, da es dann alles<br />

erzählte. Dabei hat sich ein sehr jämmerlicher Umstand<br />

ereignet, indem es gewinselt und über und über<br />

gestampft und geschrien, daß es fast nicht reden können.<br />

Der böse Feind habe ihr im Turm, dahin es zum<br />

Schrecken geführet worden, verboten zu bekennen;<br />

nun habe er ihr unter dem Rock gesessen und sie gepetzet,<br />

weshalb sie so gewinselt und gehüpfet.< - Des<br />

Mädchen Mutter, die 50jährige Müllerin, war erstaunt<br />

über die gegen sie erhobenen Anklagen; sie müsse,<br />

wenn das wahr sei, einen unwissenden Geist haben.<br />

›Als man ihr aber die Daumen- und Fußschrauben aufgesetzt


Ein paar Jahre später beantragte ein <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

Einwohner die Wiederaufnahme des Verfahrens, weil<br />

ihm zwei Ochsen in kurzer Zeit verendet waren. Gefragt,<br />

wen er denn in Verdacht habe, äußerte er, das Hexenmädchen<br />

sei ja noch da, durch sie werde schon alles an<br />

den Tag kommen. ~ Seinem Wunsche scheint man dann<br />

auch nachgekommen zu sein.“<br />

Wir haben keine historischen Aussagen darüber, weraußer<br />

dem fanatischen Bingenheimer Amtmann Caspari,<br />

Vertreter der Herrschaft des Landgrafen Christian<br />

von Hessen-Bingenheim -zu den ursprünglichen Anzeigern<br />

und damit Anstiftern des Hexenwahns in <strong>Reichelsheim</strong><br />

zu nennen war. Aus Ouellen anderer Städte und<br />

Gemeinden wissen wir allerdings, daß der „Anzeiger“<br />

mit einem Drittel des Besitzes der „überführten und geständigen“<br />

Person belohnt wurde. . .l Die meisten „Anzeigen“,<br />

die zu neuen Verhaftungführten, stammten allerdings<br />

meist von denen, die gerade gefoltert wurden,<br />

denn sie wurden stets nach „Mithexen“ und „Mitzauberern“<br />

befragt. Aus der Hoffnung heraus. von den unsäglichen<br />

Schmerzen befreit zu werden, wurde. wie die oben<br />

angeführten Auszüge aus <strong>Reichelsheim</strong>er Gerichtsprotokollen<br />

beweisen, der Mund geöffnet, wurde der „Geist<br />

wissend“ gemacht, wurden Namen, irgendwelche Namen<br />

genannt oder bestätigt. Aufgrund der wiedergegebenen<br />

Berichte muß festgestellt werden, daß auch Mitbürgerinnen<br />

und Mitbürger aus Neid oder Habsucht jemanden<br />

„anschwärzten“.<br />

Läßt es sich heute erahnen, wie das Verhältnis der Mitmenschen<br />

untereinander im kleinen, mauerumgrenzten<br />

<strong>Reichelsheim</strong> war?<br />

Der berühmteste Gegner der damaligen Hexenverfolgung,<br />

der bereits genannte Pater Spee, schrieb in seinem<br />

schon zitierten Buch „Cautio Criminalis“ (2. Auflage<br />

1632):<br />

„Du mußt aber wissen, daß bei uns Deutschen der<br />

Aberglaube, die Mißgunst, Verleumdung, Ehrabschneiderei,<br />

heimlicher Klatsch. Schmähsucht und arglistiges<br />

Verdächtigen unglaublich tiefeingewurzelt sind, was weder<br />

von der Obrigkeit nach Gebühr bestraft wird, noch<br />

von der Kanzel. wie es nötig wäre, widerlegt wird. Und<br />

eben daher entsteht der erste Verdacht der Hcxerei, daher<br />

kommt es, daß alle Strafen Gottes von Zaubcreien<br />

und Hexen herrülırcn sollen. da lıabcn Gott uııd Natur<br />

nichtmehr zu gelten, sondern alles müssen die In lexen getan<br />

haben.“<br />

Schließlich und endlich starben 58 Meııschen aus <strong>Reichelsheim</strong>,<br />

fast alles Frauen, verurteilt als 1-lexen, als<br />

„Anti-Christen": Meist „aus Gnade" erst getötet durch<br />

den Strang des Henkers, wurdcıı sie außerhalb des Stadtmatıern<br />

- in den Brandgärtcn“ - verbrannt und die verbliebene<br />

Asche „in weitem Bogen verstreut“. Nur wenige<br />

gerichtete Körper wurden naclı der Strangulierung<br />

oder Enthauptung außerhalb der Stadtmatıern iıı die Erde<br />

gelegt. (Da ein weltliches Gericht die Verhandlungen<br />

führte und die Urteile sprach, gab es in der Regel keine<br />

lebendigen Verbrennungen in <strong>Reichelsheim</strong>. wie dies bei<br />

Verurtcilungcn durch kirchliche Gerichte nıeist der Fall<br />

war, weil die Kirche kein Blut vcrgießen durfte.) Keine<br />

der getöteten Personen wurde in geweihten Boden gelegt.<br />

also auf dem christlichen Friedhof bcerdigt.<br />

Die letzten Anklagefälle iıı <strong>Reichelsheim</strong> sind tıns aus<br />

den .lahren 1672 (s. das Protokoll zu Anfang dieses Kapitels)<br />

und 1678 bekannt. Über jenen letzt bekannten Fall<br />

berichtete wiedertım das Kirehenbuch (s. S. 112):<br />

„Den 29. Mai wurde Jonann Hörten Hausfrau Margarethe<br />

vor den Convent (der Kirche) geladen, weil hinterbracht<br />

wurde, sie sei auf Walpurgis (= I. Mai) morgens<br />

früh ungesprochen hinaus in die Lehmkaute gegangen<br />

tınd habe dortselbst etwas Böses und Zauberisches ge-<br />

57


trieben, weil eben den 1. Mai und folgende hernach viel<br />

Stück Vieh plötzlich gestorben seien. Daher denn gemuthmaßet,<br />

es sei von bösen Leuten etwas Böses dem<br />

Vieh angerichtet worden. Sie antwortete, sie sei ungesprochen<br />

uııd allein in die Lehmkaute gegangen und hätte<br />

dort 3 Hand voll von einem Kraut abgeschnitten, welches<br />

gut sei für das plötzliche Absterben der Schweine.“<br />

Wie die Prozesse gegen die zwei bczichtigten Frauen endeten,<br />

ergibt sich aus den vorhandenen Gerichtsprotokollen<br />

nicht.<br />

doch dessen in Holz geschnitzte Inschrift heute noch im<br />

Hof des Wetterauer Museums nachlesbar ist: „l654 X<br />

Hans Geis erbaut und zimmert dieses selber X Anno X<br />

Ach Gott sei dieses Jahr mein Helfer X“. Ob Hans Geis<br />

wirklich, wie in dem Buch erzählt, wegen Hexerei angeklagt<br />

und gefoltert worden war, sich aber durch Flucht<br />

deın Vollzug der Verurteilung entziehen konnte - das alles<br />

ist aktenmäßig nicht verbürgt. - Lesenswert ist auch<br />

das Nachwort von G. Hofmann.)<br />

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Hexe, die an/'einem Pentagramm kniet,<br />

verzaubert eine Kuh, so daß diese keine Milch mehr gibt'<br />

(Entn. _' „ Hexen wahrt S. 63)<br />

(Abschließende Anmerkung:<br />

Alle Menschen, die hier wohnen, sollten sich das kleine<br />

Büchlein von Karl Becker „Hans Geis, der Hexenmeister<br />

von <strong>Reichelsheim</strong>“ durchlesen, der sich hier ein<br />

Haus aus eigener Kraft baute, das zwar vor einigen Jahrzehnten<br />

wegen Baufälligkeit abgerissen werden mußte:<br />

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-- _ -_ __ „_-„ .«.~ -- _ " ' »...-


In jenen Jahren der inneren Zerrissenheit der Menschen,<br />

der tiefen Verunsicherung, der Antwortlosigkeit<br />

auf all das, was den Menschen zustieß bzw. seit Beginn<br />

des Jahrhunderts zugestoßen war, begann neben den<br />

Versuchen, Unglück und Krankheit im Wirken des Teufels<br />

und seiner menschlichen Helfer, der Hexen und Hexenmeister,<br />

zu sehen, auch das Bemühen, die ersten Erkenntnisse<br />

der neuen Naturwissenschaften in herrschaftliche<br />

Verordnungen umzusetzen. Sie zeigen uns in besonderem<br />

Maße das Hin- und Hergerissensein zwischen<br />

Verstand und Aberglauben.<br />

Im <strong>Reichelsheim</strong>er Kirehenbuch hielt Pfarrer Frankenfeld<br />

eine dieser Verordnungen fest. Zusammen mit<br />

einer Einleitung können wir lesen (s. S. 107/108):<br />

„Merkwürdig ist noch eine Verordnung von diesem<br />

Jahr (1666) wegen einreißender Krankheit, nachdem in<br />

Erfahrung gebracht werden war, daß in der Nachbarschaft<br />

hitzige Krankheiten und auch die Pest ausgebrochen<br />

sei. Die wesentlichen Punkte sind:<br />

›l. Soll, um den Zorn Gottes zu besänftigen, der Gottesdienst<br />

regelmäßig gehalten werden an Sonn- und<br />

Werktagen. Dabei soll auf die Zeitereignisse in der<br />

Predigt Rücksicht genommen und die gegen die unfleißigen<br />

Kirchgänger auf der Kirchen-Censur verfahren<br />

werden;<br />

2. sollen alle Tänze, Kirchweihen, Märkte usw. eine<br />

Zeit lang gänzlich aufhören;<br />

3. sollen alle Bürger für Reinliehkeit in den Häusern<br />

wie auf den Straßen sorgen, Kloaken und Winkel<br />

fegen, für Abfluß des Wassers sorgen und totes<br />

Vieh bei Seite schaffen:<br />

sollen alle mäßig sein im Essen und Trinken, alles<br />

Steinobst meiden - zu Markt gebracht soll es aufgeschnitten<br />

werden (wahrscheinlich der Würmer wegen):<br />

feinen Wein trinken und Fleisch von gesundem<br />

Vieh essen:<br />

soll jeder zu Hause bleiben; wo er aber auf andere<br />

Orte und Dörfer gehe, sich vorher Erlaubniß holen,<br />

solche Orte jedoch, wo die Krankheit herrschet,<br />

ganz vermeiden bei Strafe einer 2-ınonatigen Landesverweisung;<br />

gleiche Strafe soll die treffen, welche Fremde oder<br />

Verwandte von solchen Orten bei sich aufnehmen;<br />

sollen die Beamten Ärzte und Balbären (= Rasierer,<br />

Friseure, Heilkundige) bestellen, die zu den<br />

Kranken gehen und diese sollen, wann sie unverrnögende<br />

Kranke behandeln, aus der Gemeindekasse<br />

bezahlt werden;<br />

sollen die Kranken sich einhalten, ihre Häuser bezeichnet<br />

werden und besondere Leute als Wärter<br />

bestellt werden, die nur allein zu denselben gehen<br />

dürfen;<br />

sollen die Todten bei Nacht und im Stillen hinaus<br />

gefahren, auch recht tief begraben werden, wenn<br />

sie von der Krankheit befallen waren:<br />

sollen Bettung nicht im Orte aufgelüftet, Weißzeug<br />

der Kranken nicht in den gemeinen Bächen ausgewaschen<br />

werden;<br />

sollen die Leute aus benachbarten Orten gegen billige<br />

Belohnung den Leuten an den inficierten Orten<br />

die Frucht schneiden und aufhäufen;<br />

soll man sich die Heilmittel bei Zeiten und zur Vorsorge<br />

anschaffen _


4. e) <strong>Reichelsheim</strong> - die Stadt der Jahrmärkte<br />

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Kaiserliehe Urkunde vom 7. April 1668 iiber die Verleihung des Rechts, jiihrlich 3 Märkte abzuhalten<br />

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ß ffflıw Handschriftliche Abschrift des „ Extraktus “<br />

der Urkunde des Jahres 1494 uber die Verleihung<br />

des Rechts, jeden Dienstag einen<br />

„freyen offenen Markt“ abzuhalten


Märkte hatten die <strong>Reichelsheim</strong>er Ortsbürger und<br />

ihre Angehörigen sowie Bediensteten, das Gesinde,<br />

schon vor diesem wichtigen Jahr, als ihnen Kaiser Leopold<br />

das Recht zusprach, in jedem Jahr 3 Märkte abzuhalten,<br />

erlebt.<br />

Märkte, das waren die „Kaufhäuser der früheren<br />

Zeit“, vor allem die Jahrmärkte, denn hier konnte man<br />

sich mit nahezu allen Dingen des täglichen Lebens versorgen,<br />

die das örtliche Gewerbe nicht oder nicht so billig<br />

oder nicht in der gewünschten Art anzubieten in der Lage<br />

war.<br />

Die Grafen von Nassau, die seit Anfang des 15. Jahrhunderts<br />

das Herrschaftsrecht über unseren Ort hatten<br />

(eine Hälfte besaßen sie durch Tausch, die andere Hälfte<br />

hatten sie seit 1423 vom Abt von Fulda als „Erblehen“ erworben),<br />

hatten <strong>Reichelsheim</strong> in jener Zeit recht gut gefördert,<br />

wie in dem Kapitel „Mittelalter“ beschrieben<br />

wurde. Sie schufen durch die Errichtung der Landwehr<br />

rund um das Gemarkungsgebiet (um 1380), den Bau der<br />

mit Wehrtürmen gesicherten Mauer rund um den Ort<br />

(gegen 1420), den Bau der Kirche (1485), die Einrichtung<br />

eines eigenen Schöffengerichtes und den Bau eines<br />

Rathauses (1570), das im Erdgeschoßbereich Markthallenform<br />

erhielt, jene Voraussetzungen, die notwendig<br />

waren, um die Stadtrechte für einen „Flecken“ erlangen,<br />

um vor allem aber den Ort zu dem Sitz von jährlich wiederkehrenden<br />

Märkten, den Jahr-Märkten, erheben zu<br />

können.<br />

<strong>Reichelsheim</strong> hatte nachweislich seit 1494 einen<br />

Markt, allerdings nur einen Wochenmarkt. In einem<br />

„Extraktus (Auszug) eines alten Documenti, den Flekken<br />

<strong>Reichelsheim</strong> belangend de ao. 1.494“ (= aus dem<br />

Jahre 1494) heißt es (leicht sprachlich verändert und gekürzt):<br />

„Wir wollen auch, daß am Dienstag jeglicher Woche<br />

ein freier offener Markt abgehalten werden soll. .. Wir<br />

wollen auch, daß in eben diesem genannten Dorf-Flekken<br />

die Friedberger trockenen Maß, dessen Elle, Münze<br />

und Gewicht gelten soll.“<br />

Damit hatte <strong>Reichelsheim</strong> also jeden Dienstag einen<br />

genehmigten Wochenmarkt, einen „freien offenen<br />

Markt“. Da <strong>Reichelsheim</strong> eine Nassauische Exklave<br />

war, wurden die Hohl-, Längen- und Gewichtsmaße sowie<br />

die Münzwertigkeit der nahe gelegenen „Freien<br />

Reichsstadt Friedberg“ vorgeschrieben. Somit hoffte<br />

man wohl, bei den Kauf- bzw. Verkaufslustigen der<br />

Nachbarorte mehr Interesse und zugleich Vertrauen<br />

wecken zu können.<br />

Mit dem offiziell genehmigten „freien offenen Markt“<br />

hatte <strong>Reichelsheim</strong> mit manch anderem größeren Ort<br />

der Region an Bedeutung gleichgezogen. Doch es sollte<br />

mehr werden nach Meinung der <strong>Reichelsheim</strong>er und ihrer<br />

Herren, der Grafen von Nassau. Aber wegen der<br />

„großen Politik“, die die Welt und auch das kleine <strong>Reichelsheim</strong><br />

im 16. und 17. Jahrhundert in Atem hielt und<br />

die in der Reformation, den Religionskriegen und dem<br />

Dreißigjährigen Krieg ihren Ausdruck fanden, wurde<br />

daraus vorerst - soweit die noch vorhandenen Akten etwas<br />

aussagen - nichts.<br />

Nachdem das Wüten und Morden des langen Krieges<br />

jedoch vorbei war, nachdem gut 11/2 Jahrzehnte später<br />

andererseits die Flammen erneut Unglück über diesen<br />

Ort inmitten der Wetterau gebracht hatten, erinnerten<br />

sich die Verantwortlichen derjungen Stadt <strong>Reichelsheim</strong><br />

Die Herkunftsorte der gewerblichen<br />

und handelstreibenden Besucher<br />

62


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37 O<br />

336<br />

516<br />

Zahlen bedeuten Orte (in Klammern die Anzahl<br />

der Anbieter aus dem jeweiligen Ort):<br />

1 = Friedberg (66),: 2 = Butzbach (55),: 3 =<br />

Grünberg (46),' 4 = Nidda (31),'5 = Schotten (19) ;<br />

6 = Lich (18); 7 = Eic/telsdorf(15); 8 = Laubach<br />

(14),: 9 = Hungen (13); 10 = Freienseen(1l);11=<br />

Kohden b. Nidda (11),' 12 = Weilburg (7),- 13 =<br />

Staden (7); 14 = Dauernhcim (7); 15 = Oberursel<br />

(6),: 16 = Hanau (4); 17 = Rainrod (4); 18 =<br />

Reichenbach/Sachsen (4) ; 19 = ()ber-/Unterschmitten<br />

(4); 20 = Heuchelheim/Wett. (4); 21 =<br />

Kirchgons (3); 22 = Ulfa (3); 23 = Frankfurt/M.<br />

(2); 24 = Bommersheim (2); 25 = Kestrich (2); 26<br />

= Langd (2); 27 = Ortenberg (2);28 = Gießen (2);<br />

29 = Mttnzenberg (2); 30 = Bingenheim (2); 31 =<br />

Echzell (2); 32 = Groß-Felda (2); 33 = Windecken<br />

(2); 34 = Bad Nauheim (2); 35 = Stammheim (2);<br />

36 = Lindheim (2); 37 llbenstadt (2).<br />

Hinzu kamen noch 25 Orte, die allerdings nur<br />

jeweils' einen einzigen Anbieter in <strong>Reichelsheim</strong><br />

aufgeboten hatten.<br />

(Grafik: L. Beier)<br />

63


an die Idee, in <strong>Reichelsheim</strong> zu verschiedenen Jahreszeiten<br />

große Märkte, sogenannte „Jahrmärkte“, abzuhalten.<br />

Da die Verleihung der Marktrechte dieser Art ein Privileg<br />

des Kaisers war, bedurfte es vor allem der Unterstützung<br />

dcr adligen Herrschaft.<br />

Gerhard Steinl, ein ehemaliger Mitbürger aus dem<br />

Stadtteil Weckesheim, hat sich in jüngster Zeit in einem<br />

fundierten Artikel mit diesem Vorgang beschäftigt. Er<br />

schreibt aufgrund der Aktenlage, die er vor allem dem<br />

Hessischen Staatsarchiv in Darmstadt und dem Archiv<br />

der Stadt <strong>Reichelsheim</strong> entnehmen konnte (s. Hessische<br />

Familienkunde, Bd. 21, Heft 1, <strong>1992</strong>, April <strong>1992</strong>,<br />

Spalte 17):<br />

„Die Gemeinde richtet ein Gesuch an den Grafen,<br />

beim Kaiser uın 3 Jahrmärkte zu bitten, damit der Ort<br />

sich zusätzliche Einkünfte verschaffen kann. Der nassauische<br />

Agent am Hof in Wien, l\/lelehior Vigelius, gibt<br />

Nachricht. daß ein kaiscrliches Marktprivileg nicht zu erlangen<br />

sei. bevor nicht Konsens der umliegenden Nachbarn<br />

eingeholt wäre. Graf Friedrich berichtet nach<br />

Wien, daß den Bürgern in <strong>Reichelsheim</strong> nach dem Brand<br />

nurnoch wenig Gebäude tınd fahrende Habe übrig blieben.<br />

Kaiser Leopold fordcrt den Landgrafen Wilhelm<br />

Christoph zu Hessen-Bingenheim, den Grafen Wilhelm<br />

zu Solms-Greifenstein und die Freie Reichsstadt Friedberg<br />

auf, binnen zwei Monaten der kaiserlichen Hofkanzlei<br />

mitzuteilen, ob sie Bedenken gegen die <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

Jahrmärkte hätten. Bei der Vergabe von Privilegien<br />

hatte der Kaiser schließlich ausgewogene politischwirtschaftliche<br />

Verhältnisse bei allen Beteiligten im Auge<br />

zu behalten.<br />

Der Landgraf Wilhelm Christoph zu Hessen unterstützt<br />

das Gesuch und verspricht, jegliche Hilfe zu leisten“,<br />

schreibt Steinl in seinem Aufsatz weiter. „Die<br />

Friedberger erklären, ›das Geforderte in Zeiten einzuliefern


<strong>Reichelsheim</strong>s für alle Zeiten jährlich drei Jahrmärkte<br />

mit allen dazu gehörenden Rechten und Freiheiten.<br />

Die Jahrmärkte fallen<br />

1. auf Sonntag vor St. Peter Stuhlfeier (= 22. Februar),<br />

2. auf St. Johannis Baptista-Tag (24. Juni) und<br />

3. auf Sonntag vor St. Michaelis (29. September).“<br />

Positiv ist zu werten, daß Graf Friedrich den <strong>Reichelsheim</strong>ern<br />

zusicherte, auf die Standgelder der Händler und<br />

Handwerker beim ersten Markt zu verzichten. Schließlich<br />

sollte <strong>Reichelsheim</strong>ja die Mittel der Jahrmärkte vorrangig<br />

zum Wiederaufbau nach den Brandschäden von<br />

1665 einsetzen.<br />

Wie heißt es doch wörtlich ab der 6. Zeile des 2. Absatzes<br />

der Kaiserlichen Urkunde: „... was gestalten sein<br />

Flecken <strong>Reichelsheim</strong> durch entstandene Feuersbrunst<br />

in grossen schaden und verderbnus dergestalt gesetzt<br />

worden, daß wenig an Gebäu (-den) und fahrnus (Arbeitsgerät)<br />

der Unterthanen übergeblieben seye. _<br />

Die „Jahr-Märckt mit ihren Wahren, Kauffmannschaften,<br />

Haab und Gütern“ /s. Zeile 17./2. Absatz) sollten<br />

„zu autkommung (= wirtschaftlichen Stärkung) gedachten<br />

Fleckens und der verderbten Unterthanen“<br />

(s. Zeile 7) dienen.<br />

Das kaiserliche Diplom über die Genehmigung der<br />

Jahrmärkte ließ allerdings auf sich warten. Grund war<br />

hierfür: Nicht nur <strong>Reichelsheim</strong> und Gra†` Friedrich von<br />

Nassau und Saarbrücken mußten eine Urkunde in Händen<br />

haben: Alle Städte und Gemeinden sowie hochgestellte<br />

Personen der näheren und weiteren Umgebung<br />

mußten eine Abschrift erhalten, um von dem Beschluß<br />

Kaiser Leopolds zugunsten von <strong>Reichelsheim</strong> Kenntnis<br />

zu haben.<br />

Am St. Johannis-Baptista-Tag war es dann doch soweit!<br />

G. Steidl schreibt darüber (s. Spalte 18):<br />

„Am 24. Juni 1668 wird der Weilburger Kammerschreiber<br />

Conrad Haidemann feierlich unter Begleitung<br />

des Ausschusses durch das Obertor (beim heutigen<br />

Schuhhaus „Neun“) bis vor das Rathaus geholt, wo der<br />

<strong>Reichelsheim</strong>er Gerichtssehreiber Johann Fauerbach<br />

den Umstehenden den Inhalt des Marktdiploms vorliest.<br />

Die Anbieter erfahren, daß bei diesem Markt weder Abgaben<br />

von Wein und Bier, noch Standgeld erhoben werden.<br />

Die zahlreich anwesenden Krämer und Händler begeben<br />

sich in das Rathaus und lassen sich einschreiben.<br />

Das kaiserliche Diplom wird den Bürgermeistern und<br />

Schöffen übergeben, die es in der Gerichtslade verwahren.<br />

Über 400 Krämer aus 68 Ortschaften und Städten<br />

(Friedberg, Butzbach, Grünberg, Nidda) erscheinen.<br />

Daß der Markt vorwiegend der Bedarfsdeekung an Gebrauehsgütern<br />

dient, geht aus folgender Aufstellung hervor:<br />

Stoffherstellung, Stoffverarbeitung:<br />

131 Krämer<br />

LederherstelIung,-verarbeitung,-handel: 98 Krämer<br />

Metallwaren, -verarbeitung:<br />

56 Krämer<br />

versch. Gewerbe:<br />

36 Krämer<br />

Holzverarbeitung:<br />

21 Krämer<br />

Backwaren, Spezereien, Getränke<br />

60 Krämer“<br />

Wer die aufgeschlüsselte Berufsliste derjenigen sich<br />

einmal anschaut, die zu diesem 1. Markt nach <strong>Reichelsheim</strong><br />

kamen, der erfährt, daß unter den Anbietern z. B.<br />

65 Schuhmacher<br />

26 Bäcker<br />

14 Töpfer<br />

12 Nagelschmiede waren.<br />

Der Leser der vom Marktschreiber sorgfältig geführten<br />

Liste erfährt weiter, daß<br />

10 Wollweber 8 Sattler<br />

9 Sockenstricker 7 Haubenschneider<br />

8 Hutmacher 6 Waffenschmiede von Beruf waren.<br />

65


_<br />

Weiß- und Rotgerber, Schreiner, Drechsler, Schlosser,<br />

Huf-, Kupfer- und andere Schmiede, Holz-, Eisen-,<br />

Leintuch- bzw. Leinwandkrämer waren ebenso anwesend,<br />

wie Färber, Riemenschneider, Seifensieder, Papier-,<br />

Fell- und Roßhändler, Honigkuchenbäcker sowie<br />

Wein- und Bierwirte.<br />

Die ganze Breite des damaligen Handels und Handwerkes<br />

fand sich ein -jeder Besucher konnte alles das<br />

finden, was sein Herz begehrte.<br />

Nur wer sich <strong>Reichelsheim</strong> in seiner damaligen Ausdehnung<br />

vorstellt, kann erahnen, welch Gewimmel und<br />

Gedränge während dieser Märkte herrschte! Und um<br />

sich noch besser in das damalige Geschehen hineinversetzen<br />

zu können: die Händler aus Frankfurt, Hanau,<br />

Oberursel oder Gießen benötigten jeweils einen ganzen<br />

Tag für die Reise nach <strong>Reichelsheim</strong>: die von Lauterbach<br />

oder Weilburg 1'/2 oder gar 2 Tage 1 Fast alle legten<br />

die Strecken au1` „Sclıusters Rappen“, also zu Fuß zurück<br />

- die Waren in einer Weidenkiepe auf dem Rücken oder<br />

in einem Korb auf dem von einer „Ketzcl“ geschützten<br />

Kopf!<br />

Glück hatten die auswärtigen Anbieter, daß der Kaiser<br />

für die <strong>Reichelsheim</strong>er Märkte auch die „gewöhnlichen<br />

Freiheiten“ gewährte: 8 Tage vor und 8 Tage nach<br />

dem genannten Markttag garantierte er denen, die, um<br />

zu kaufen oder zu verkaufen, nach <strong>Reichelsheim</strong> kamen,<br />

„Freiheit, Friede, Geleit, Zollfreiheit, Schutz, Schirm<br />

und Gerechtigkeit“. Bei der Kleinstaaterei, die damals<br />

Deutschland prägte, waren dies wichtige Zusicherungen,<br />

war diese Erklärung des gesicherten Geleites sehr wichtig.<br />

Um Vertrauen in seine Anordnungen zu gewinnen,<br />

drohte er denjenigen „Prälaten, Grafen, Fürsten, geistlichen<br />

und weltlichen Herrschern, Herren, Rittern,<br />

Knechten, Hauptleuten, Landvögten, Amtleuten,<br />

Schultheißen und Bürgermeistern _ _. und sonst allen<br />

anderen Unterthanen und Getreuen“, die gegen die ausgesprochenen<br />

Freiheiten verstießen, eine deftige Strafe<br />

von 30 Mark in reinem Gold an.<br />

Doch so gut wie der am 24. Juni 1668 waren später die<br />

Jahrmärkte nicht mehr „beschickt“ und besucht.<br />

G. Steinl faßt die folgende Entwicklung in seinem<br />

schon genannten Aufsatz (s. Spalte 26) wie folgt zusammen:<br />

„Von 1668 bis 1732 finden in <strong>Reichelsheim</strong> bis aufwenige<br />

Ausnahmen ein bis drei Jahrmärkte statt.. _ Gegen<br />

Ende des 18. Jahrhunderts hat das Interesse an den Jahrmärkten<br />

nachgelassen. Die Bürger richten 1799 ein Gesuch<br />

an die fürstliche Regierung, ihnen bei der Wiederemporbringung<br />

der Jahrmärkte zu helfen. Am 24.6.1799<br />

wird der <strong>Reichelsheim</strong>er Jahrmarkt wieder gehalten. Die<br />

Stadt macht gewaltige Anstrengungen, um Händler anzulocken.<br />

Man gewährt eine ójährige gänzliche Freiheit<br />

von allen Abgaben und liefert den Handelsleuten das<br />

zum Ausbau der Stände notwendige Material kostenlos.<br />

Die Kriegswirren der napoleonischen Zeit tragen nicht<br />

gerade zu lebhaftem Marktbesuch bei. Die Zahl der Anbieter<br />

schwankt zwischen 19 und 52 und nimmt bis 1815<br />

auf 12 Händler ab.“<br />

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Zur Anmerkung: Nicht alle <strong>Reichelsheim</strong>er waren<br />

glücklich über das, was sich rund um die Märkte abspielte.<br />

Manch ein Pfarrer sah in dem Treiben während der<br />

Märkte große Gefahren für Sitte und Moral seiner<br />

„Schäfchen“.<br />

1681 wurde, wie die Kirchenchronik berichtet (s.<br />

S. 112), die Verfügung getroffen, daß die <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

Kirmeß mit dem Jahrmarkt von dem (geheiligten)<br />

Sonntag auf den Dienstag zu verlegen sei.<br />

1698 erließ das gräfliche Amt zu Weilburg ein Antwortschreiben<br />

an den sich beklagenden Pfarrer wegen<br />

des „gottlosen Treibens“ rund um die Märkte und die<br />

Kirmeß: Da an den Tagen „mehr Gott gespottet als gedient<br />

wird“, habe das Amt bereits untersagt, Kirmeß<br />

und Jahrmärkte an Sonntagen abzuhalten. Insgesamt<br />

könne aber keine generelle Abhilfe geschaffen werden.<br />

„Ich kann aber leider nicht allen Orten noch zur<br />

Zeit wehren, denn der Kirmeßteufel, den der Sauf-,<br />

Spiel-, Lärm- und Tanzteufel und mehreren anderen<br />

zu Gefallen hat, ist zu stark eingenistet und findet,<br />

die ihm das Wort thun“ (s. S. 113/114 der Kirchenehronik).<br />

67


4. f) Handwerker und Zünfte in <strong>Reichelsheim</strong><br />

In <strong>Reichelsheim</strong>, dieser Kornkammer der Nassauer<br />

Herren in der Wetterau - in diesem agrarisch geprägten<br />

<strong>Reichelsheim</strong> hat es einst Zünfte, also ein florierendes<br />

Handwerksleben, gegeben?<br />

Zu einer Stadt gehören auch Handwerker, und die<br />

Handwerker einer Stadt hatten sich in früherer Zeit in<br />

Zünften zu organisieren.<br />

Eine „Zunft war eine Ordnung, nach der eine Gesellschaft<br />

lebt“, teilt „Meyers Enzyklopädisches Lexikon“<br />

(Bd. 25, S. 795 f.) mit. „Die Zünfte waren im Mittelalter<br />

entstanden, von derjeweiligen Obrigkeit anerkannte Organisationen<br />

vor allem von Handwerkern“. Diese Organisationen<br />

dienten dem Zweck, den Mitgliedern die Ausübung<br />

eines bestimmten Gewerbes zu ermöglichen und<br />

die wirtschaftlichen Verhältnisse zu regeln.“<br />

Einer Zunft konııte sich nicht jeder, der wollte, anschließen<br />

-es sei denn, er brachte überprüfte Kenntnisse<br />

und Fertigkeiten, einen „freien Stand“ (= keine Leibeigenschaft)<br />

und einen guten Leumund mit. Die Zunftordnungen<br />

regelten die organisatorischen und wirtschaftlichen<br />

Fragen, wie z. B. die Bctriebsgrößen, die Arbeitszeit<br />

oder auch den Rohstoftbezug. Man wollte einen<br />

„brutalen Konkurrenzkampf“ der Meisterbetriebe untereinander<br />

verhindern; erreicht werden sollte vielmehr<br />

das Gegenteil: die wirtschaftliche Absicherung der Mitglieder<br />

derjeweiligen Zunft.<br />

Die Zünfte verloren mit der Einführung der Gewerbefreiheit<br />

um 1800 ihre Existenzberechtigung. In den Innungen<br />

der Handwerke leben allerdings bis heute einige<br />

der alten Ideen des Zunftwesens fort.<br />

Im Hessischen Staatsarchiv in Darmstadt befindet sich<br />

das „Zunftbuch über die hernach gesetzten Handwerkker<br />

zu <strong>Reichelsheim</strong>b“.<br />

Zuerst fanden sich die Meister folgender Handwerke<br />

in Zünften zusammen: Schneider, Metzger, Schuhma-<br />

cher, Sattler, Socken- und Hosenstricker. Nach und nach<br />

entschieden sich auch die Meister anderer Gewerbe dafür,<br />

Zünfte zu bilden, z. T. mit anderen Berufen zusammen,<br />

z. T. getrennt. Die gemeinsamen Zünfte hielten<br />

aber nicht immer, so daß es dann zu eigenständigen Neugründungen<br />

kam, wie eine Notiz aus dem Jahre 1713 verrät,<br />

die darüber berichtet, daß sich Glaser, Schreiner,<br />

Bäcker und Bierbrauer sich „von denen übrigen, womit<br />

sie sonst in der Zunft gestanden, abgesondert“.<br />

Das gräfliche Amt zu Weilburg „begnadigte“ die <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

Meister mit Datum vom 1. November 1680<br />

also erstmals mit dem Recht der Zunftbildung. Im nachfolgenden<br />

Teil dieses „Zunft-Buches“ werden die Handwerksmeister<br />

dieser kleinen Stadt „benannt“, also aufgeführt.<br />

Auch wenn uns die Namen dieser Meister heute<br />

nichts mehr sagen - wichtig bleibt zu wissen, welche Berufe<br />

hier am Ende des 17. Jahrhunderts „zünftig“ vertreten<br />

waren, denn dadurch erfahren wir, wie vielfältig das<br />

Angebot an Leistungen damals innerhalb der engen<br />

Stadtmauern war:<br />

Das Buch führt folgende Berufe auf:<br />

Schreiner und Glaser,<br />

Zimmerleute und Maurer,<br />

Schmiede und Bänder,<br />

Wagner und Sattler,<br />

Metzger und Bäcker,<br />

Leinweber und Schneider,<br />

Bierbrauer sowie Socken- und Hosenstricker.<br />

In einer besonderen Urkunde wurden die „Zunftartikel“<br />

durch Georg August, „Fürst zu Nassau, Graf zu<br />

Saarbrücken und Saarwerden _ _ festgelegt. Nach diesen<br />

hatten sich die Meister in ihrem Verhalten innerhalb<br />

und außerhalb des Betriebes zu richten.<br />

Deckblatt des „Zunftbuches“<br />

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5. <strong>Reichelsheim</strong> um 1700<br />

a) Das Erscheinungsbild der Stadt<br />

Das 17. Jahrhundert war, wie die vorherigen Abschnitte<br />

gezeigt haben, das .,Schicksalsjahrhundcrt“ unseres<br />

Ortes: Es galt viel Leid zu ertragen! Es sei an den<br />

3(ljährigen Krieg ınit Tod. Plünderung. Brandschatzung<br />

und Schändung erinnert. Erinnert sei an die Seuchen, die<br />

geliebte Menschen aus dem Familien- und Freundeskreis<br />

hinwegraf'l`ten. Erinnert sei auch an den Hexcnwahn. der<br />

zwar nur von wenigen gewollt, aber von vielen geduldet<br />

war - der allerdiııgs doch das "Todesurteil für 58 unschuldige<br />

Naclıbarinnen und l\lachbarn aus den Häusern unseres<br />

Ortes bedeutete.<br />

Erinnert sei. wenn das Leid jenes Jahrhunderts aufgezählt<br />

werden soll, an die Feuersbrunst im südlichen Ortsteil,<br />

die vielen das Dach über dem Kopf oder zuınindcst<br />

den [%íı'tı'ııg der Arbeit der vergangenen Jahre raubte.<br />

Aber es gab, wie der Leser der letzten Kapitel weiß.<br />

auch (iroßes zu bericlıten: I)ie Verleihung der Stadtrechte<br />

an <strong>Reichelsheim</strong> sowie die Verleihung des Rechtes,<br />

3 große- Märkte im .lalıre abzuhalten!<br />

<strong>Reichelsheim</strong> uııd die <strong>Reichelsheim</strong>er waren nicht<br />

„aın Boden“. Wenn nıan den alten Urkunden Glauben<br />

schenken kann, so eıııplamleıı sie vielmehr Stolz! Sie<br />

glaubten an eine große Zukunft in Wohlstand und Ansehen<br />

- und sie glaubten, hierin von ihrem Herrscherhaus,<br />

das sielı seit l(ı88 „Fürstentum Nassau“ nennen lassen<br />

konnte, unterstützt zu werden.<br />

Und deswegen gingen die <strong>Reichelsheim</strong>er nach jedem<br />

negativen Ereignis immer wieder an den Neuautbau. Natürlich<br />

trug nunmehr dazu bei, daß sich die Handwerker<br />

in anerkannten Zünften zusammengeschlossen hatten.<br />

Natürlich wirkten auch die Jahrmärkte fördernd für diesen<br />

Ort: Jahr für Jahr kamen Berufskollegen aus vielen<br />

anderen Städten und Dörfern hierher: sie boten nicht<br />

nur ihre Produkte feil, sie standen ihren heimischen<br />

Handwerkerkollegen auch immer gerne zum „Fachsim-<br />

peln“ zur Verfügung. Diese Kontakte hatten für die jungen<br />

<strong>Reichelsheim</strong>er Gesellen auch den Vorteil, daß sie<br />

erfahren konnten, wohin, in welche Städte, zu welchen<br />

Meistern, es sich Iohne zu gehen, wenn sie in den Jahren<br />

der Wanderschaft ihr Wissen verbessern wollten!<br />

Holzschnitt von J _ Amman: Werkstatt eines Wagners<br />

(Enm. _' „Die Wetterau“, S. 110)<br />

70


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Die „Wüsten Plätze“ innerhalb der Stadtmauern, die<br />

der lange Krieg verursacht hatte, waren, wie von der nassauischen<br />

Herrschaft gefordert, bald wieder bebaut.<br />

Dies hatte auch seine Begründung darin. daß sich hier -<br />

wie der Graf von Nassau erwartet hatte - Menschen aus<br />

der nachbarschaftlichen Region im Ort angesiedelt, sich<br />

um das Ortsbürgerrecht bemüht (welches sie gegen Zahlung<br />

eines „Eintrittsgeldes“ verliehen bekamen, nachdem<br />

sie im Städtchen Grund und Boden erworben hatten)<br />

und damit zur Stärkung des Gemcinwesens beigetragen<br />

hatten.<br />

Die Brandschäden in der „Untergasse“ (heute: Florstädter<br />

Straße), der heutigen „Neugasse“ und der südlichen<br />

Haingasse (heute: „Untere Haingassc“) waren bald<br />

beseitigt. Man hatte, wie schon dargestellt, nicht vergessen,<br />

die Ortsdurchfahrt neu zu gestalten: Ein neues<br />

Stadttor - direkt hinter dem Amtshaus des Amtsverwesers<br />

bzw. Amtmannes der nassauischen Grafen (heute<br />

steht an dieser Stelle. am Eingang der Neugasse, das<br />

Lehrerwohnhaus) - wurde gebaut! Seitjener Zeit begannen<br />

die Wege nach Florstadt bzw. nach Dorn-Assenheim<br />

und von dort weiter nach Friedberg bzw. nach Assenheim<br />

und dann nach Frankfurt nicht mehr an dem Tor,<br />

das uns am Ende der Kirchgasse noch heute lebhaft an<br />

die alten Zeiten erinnert (Zugang zum heutigen Friedhof).<br />

Dieses alte Tor führte nun nur noch zu den Äckern<br />

in den fruchtbaren Gewannen. Wie die Karte von <strong>Reichelsheim</strong><br />

aus dem Jahre 1761 zeigt, waren seither hier<br />

nur noch Gärten und Streuobstwiesen angelegt. Die<br />

Bauern brauchten sich seit dem Bau des neuen Tores<br />

nicht mehr durch die enge Kirchgasse mit ihren Fuhrwerken<br />

quälen - das neue Tor nach Süden erleichterte ihnen<br />

ihre täglichen Fahrten, vor allem im Frühjahr und in der<br />

Erntezeit.<br />

Auch die herrschaftlichen Verordnungen, die die<br />

Dachdeekung der Häuser betrafen und die verboten, die<br />

Wohnhäuser mit Stroh zu decken, veränderten das Ortsbild:<br />

immer vorherrschender leuchtete das Rot der gebrannten<br />

Ziegel und signalisierte den Ankommenden<br />

von nah und fern Wohlstand und Sicherheit.<br />

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<strong>Reichelsheim</strong> am Ende des 17. Jahrhunderts:<br />

Wie mag es ausgesehen haben? Wie wirkte sich die<br />

„Stadt-Eigenschaft“ aus?<br />

Da sich der Straßen- und Gassenverlauf seit dem großen<br />

Brand im Jahre ló68 im Altort nur gering verändert<br />

hat (die Fachwerkgasse war früher die „Sackgasse“; die<br />

„Hollergassc“, die als Parallelgasse zur Bach- und Turmgasse<br />

von der Hauptstraße zur Neugasse führte - diese<br />

Gasse ist heute überbaut, existiert also nicht mehr), können<br />

wir „Gegenwartsmenschen“ uns leicht ein Bild von<br />

damals machen, um dabei zugleich festzustellen, daß dieser<br />

Ort, daß <strong>Reichelsheim</strong>, ein „typischer“ Ort war!<br />

Beschreibungen voıı Wissenschaftlern über vergleichbare<br />

Städte sagen folgendes aus:<br />

„Alle feuergefährlichen Betriebe und alle durch Feuer<br />

gefährdeten Anlagen wurden, um die Gesamtfläche zu<br />

schützen, an oder vor der Mauer erbaut... Dagegen lagen<br />

die Pfarrkirchen, die sich durch ihre hohen Glockentür~<br />

me von Kloster- und Spitalkirchen unterschieden, inmitten<br />

der Wohnblöcke, damit sie von den Angehörigen der<br />

Pfarrgemeinden leicht erreicht werden konnten; denn<br />

sie wurden nicht nur zu sonntäglichen Gottesdiensten,<br />

sondern auch zu alltäglichen Andachten aufgesucht. Aus<br />

diesem Grunde befindet sich die . _ . Pfarrkirche meist neben<br />

dem Markt, damit auch dessen Bewohner und Besucher<br />

bequem zu ihr gelangen konnten. Das Rathaus ist<br />

am oder auf dem Markt gelegen, da in ihm die Marktstreitigkeiten<br />

zu schlichten waren und sein unteres Gesehoß<br />

oft als Kaufhalle diente. Bei allen diesen Maßnahmen<br />

wurde das Zweckmäßige schön gestaltet, wie<br />

der bauliche Zusammenklang von Pfarrkirche, Rathaus<br />

und den Wohnhäusern am Markt in vielen Städten<br />

zeigt.<br />

Die Märkte und die älteren Wohnhäuser der Städte<br />

wurden gerne an Abhängen angelegt, da diese leichter<br />

entwässert werden konnten. Das Regenwasser und die<br />

Abwässer der Wohnhäuser und der Werkstätten konnten<br />

auf einer leicht geneigten Ebene über die Straßen<br />

oder durch schmale Rinnen leichter abgeleitet werden<br />

als auf einem völlig flachen, waagerechten Gelände. .<br />

(s. Erich Keyser „Der Stadtgrundriß als Gesehichtsquelle“,<br />

in: Heinz Stoob - Hrgb. „Altständisehes Bürgertum“,<br />

Bd. 3, Darmstadt 1.989).<br />

Wer kann sich nicht, wenn er auf der Kírchhofmauer<br />

steht oder aus dem Rathaus schaut, dies geschilderte<br />

Blick vom Kirchturm auf die Marktstraße,<br />

heute Birzgerzheimer Straße<br />

spät-mittelalterliche bzw. frühneuzeitliche Stadtbild von<br />

<strong>Reichelsheim</strong> vorstellen, es mit Hilfe seiner Phantasie rekonstruieren?<br />

Die breite Bingenheimer Straße als<br />

Marktplatz oder Marktstraße, in dem unteren Gesehoß<br />

des Rathauses reges Verkaufstreiben (diese „Hallen“<br />

dienten tatsächlich früher dem Marktbereich), die Händler<br />

und Handwerker aus nah und fern bemüht, an der an<br />

der Rathausaußenwand eingemauerten (heute noch er-<br />

72


ll<br />

kennbaren) „Nassauer Elle“ das richtige Maß zu erfassen,<br />

um ja nicht mit einer deftigen Marktstrafe belegt<br />

oder gar wegen Betruges an den Pranger (einen solchen<br />

gab es bis in das vorige Jahrhundert am Rathausl) gestellt<br />

zu werden?! Wer sieht bei der Schilderung von<br />

Keyser nicht den Amtmann als Sachwalter der lnteressen<br />

des Grafen von Nassau vor sich, stets nach dem<br />

Rechten schauend, meist begleitet von den stolzen Honoratioren<br />

des Ortes, den 2 Bürgermeistern und den Gerichtsschöffen<br />

?!<br />

Anzumerken ist noch, daß die Schmieden, also die<br />

„feuergefährlichen Betriebe“, in <strong>Reichelsheim</strong> tatsächlich<br />

in der Haingasse, also unmittelbar an der Stadtmauer,<br />

lagen. Auch darf nicht vergessen werden, daraufhinzuweisen,<br />

daß zwischen Bach- und Tı.ırmgasse die Hollergasse<br />

verlief, an deren Beginn zu jener Zeit die<br />

„Weed“ lag, die den eigerıtlichen Marktplatz nach Norden<br />

hin begrenzte. ln diese Weed, also den Feuerlöschteich<br />

des Ortes, flossen die Regenmassen, aber auch die<br />

Schmutzwässer des Marktplatzcs, der von der Kirche an<br />

leicht geneigt ist, hinein. Sein Abfluß ging durch die Hollergasse<br />

in die östlich von <strong>Reichelsheim</strong> verlaufende<br />

Horloff.<br />

Auch die weiteren Beschreibungen Keysers von älteren<br />

Städten scheinen auf <strong>Reichelsheim</strong> gemünzt, bzw.<br />

zeigen, daß <strong>Reichelsheim</strong> in seiner Anlage „typisch“ war<br />

bzw. ist (s. S. 245):<br />

„Die Straßen der Städte dienen dem Zugang zu Wohnungen,<br />

öffentlichen Gebäuden, Befestigungen oder<br />

dem Durchgang für den Verkehr. Die Durchgangsstraßen<br />

haben eine Breite von 2 -4 Fuhrwerken, damit sie in<br />

beiden Richtungen befahren werden können... Sie<br />

schließen sich an die Landstraßen an... Außer den<br />

Durchgangsstraßen und den Zugangsstraßen gibt es<br />

Gänge, die nur für Fußgänger bestimmt sind. Sie führen<br />

durch die Baublöcke hindurch, um einen rascheren Zugang<br />

zum Markt, zu den Befestigungen oder zu den Kirchen<br />

zu ermöglichen. _ . (s. Enggasse von der Neugasse<br />

zum Römerberg).<br />

Zimrrıerrrıarm bei der Arbeit.<br />

H0lz.s'chm`tt von .I _ Amman<br />

(Emm. : „Die Wetterau“, S. 105)<br />

73


Die Gänge und die Straßen pflegen zu Plätzen zuführen;<br />

sie dienten zum Aufenthalt bei Ansammlungen von<br />

Menschen, wie sie bei bestimmten Gelegenheiten vor<br />

dem Rathaus und vor den Kirchen stattfanden. .<br />

Wer nochmals auf den Stadtplan blickt oder sich <strong>Reichelsheim</strong><br />

mit seinem Straßennetz vorstellt, der erkennt:<br />

Fast alle Straßen liefen vormals auf die breite Hauptstraße,<br />

die Durchgangsstraße. zu. Es war leicht, von überall<br />

herkommend vor dem Rathaus oder vor dem Kirchplatz<br />

zu erscheinen, um Neuigkeiten, gute oder schlechte<br />

Nachrichten oder Ankündigungen, aus offiziellem Munde<br />

zu erfahren. Die engen Gassen. die zur Hauptstraße<br />

führten und noch führen, konnten wirklich nur jeweils<br />

von einem Fuhrwerk befahren werden. Sie waren eng,<br />

mußten aber auch eng sein, denn schließlich war innerhalb<br />

der Stadtmauern kein Quadratmeter Boden zu vergeuden.<br />

Daß <strong>Reichelsheim</strong> keine von Handel und Gewerbe geprägte<br />

Stadt war, das braucht nicht erst durch das Studium<br />

der Quellen belegt zu werden. <strong>Reichelsheim</strong> war<br />

eine Stadt der Bauern! Landwirtschaft war die Existenzgrundlage<br />

der großen Mehrheit der Menschen. Daß dies<br />

wirklich zutreffen ist, also daß <strong>Reichelsheim</strong> keine Kaufmanns-<br />

und auch keine Handwerkerstadt, sondern eine<br />

typische „Ackerbürgerstadt“ war, das zeigt das Straßenbild<br />

der „Durchgangsstraße“ zwischen Rathaus und dem<br />

heutigen Schuhhaus „Neun“ ganz deutlich:<br />

„Die Ackerbürgerstädte“ erscheinen „meist in Form<br />

einer breiten langen Straßenzeile, die zugleich Markt ist<br />

und an der rechts und links die Bauernhöfe und einige<br />

Handwerkerstellen liegen... Das Rathaus liegt an der<br />

Marktstraße, die Kirche hinter ihr“ (s. Erich Hamm,<br />

„Deutsche Stadtgründungen im Mittelalter“, S. 118, in:<br />

H. Stoob „Altständisches Bürgertum“, Bd. 3).<br />

Die Handwerker. meist auch die Gastwirte, hatten ihre<br />

Wirkungsstätten um 1700 in der Haingasse bzw. den<br />

anderen Nebengassen, wie Turmgasse oder Schweizergasse.<br />

Sie benötigten nicht so große Anwesen wie die<br />

Bauern, sie konnten es sich in der Regel auch nicht leisten,<br />

ihre Werkstätten in der Hauptstraße aufzuschlagen.<br />

Das Sprichwort „Handwerk hat einen goldenen Boden“<br />

traf für <strong>Reichelsheim</strong>, trotz der Einrichtung der<br />

Zünfte, erst viel später zu.<br />

Doch eines ist gewiß: In allen Straßen und Gassen<br />

herrschte reges Leben. Überall verspürte der Betrachter<br />

Aktivität. Dies mag auch daran gelegen haben, daß<br />

nicht jedes Haus oder jede kleine Hofreite mit einem<br />

eigenen Brunnen versehen war. S0 mußten die Mägde<br />

vor allem immer wieder zu einem der Gemeindebrunnen<br />

in der Neugasse in der Nähe des Amtshauses, am<br />

südlichen Rand der alten Apotheke und an der Bachgasse<br />

gehen und bottichweise dieses wichtige Nahrungsmittel<br />

für Mensch und Tier herbeischaffen. Die<br />

Frauen trugen die Bottiche oder Krüge meist auf dem<br />

Kopf, wobei der Druck auf diesen durch ein festgestopftes<br />

Rundkissen, die „Ketzel“, gemindert wurde.<br />

In gleicher Weise sah man die Frauen ihre zubereiteten<br />

Brote oder Kuchen zum Bäcker bringen, damit<br />

dieser sie backe, bzw. die fertige Ware von ihm abholen.<br />

74


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5. b) Was das Alltagsleben in und um <strong>Reichelsheim</strong> prägte<br />

Eine alte Handzeichnung aus dem J 7<br />

Jahre 1725 gibt uns einen ungefähren<br />

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Einblick in das damalige Aussehen unseres<br />

Gemarkungsgebietes.<br />

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Was vor allem auffällt, das ist der große Wiesen- und<br />

Weidenanteil an der Gemarkungsfläche: Sowohl der<br />

nördliche Bereich um den Ortenbergraben als auch der<br />

Bereich zwischen Horloff und „Schiedgraben“ (dem<br />

Grenzgraben zu Leidhecken) waren Wiesen und Weiden.<br />

Dies hatte nicht nur seinen Grund in einer fehlenden<br />

Drainierung der Wiesen bzw. Begradigung der Horloff.<br />

Es wurden auch Wiesen benötigt! Neben dem<br />

Milchvieh hielten die Bauern Schafe (die „Wollweber“<br />

warteten auf das Ergebnis der Schur) und Ziegen, die alle<br />

draußen ihr Futter suchen mußten - gehütet von einem<br />

von der Gemeinde angestellten Hirten. Auch die<br />

Schweine wurden, wenn es die Witterung erlaubte, draußen<br />

gehütet. Dies sparte Platz in den Hofreiten, denn es<br />

brauchte weniger Futter gelagert zu werden, und natürlich<br />

erleichterte es auch die Arbeit der Bauern, hatten sie<br />

doch weniger zu misten.<br />

Der Wiesen- und Wcidebedarf war in den Jahren nach<br />

dem 3(ljährigen Krieg immer mehr gestiegen, weil in den<br />

umliegenden Städten die Bevölkerung zahlenmäßig aber<br />

auch wohlstandsmäßig zugenommen hatte. Wohlstand<br />

der Bürger drückt sich allgemein in einer erhöhten Nachfrage<br />

naeh Fleisch aus! Also muß mehr Vieh und dergl.<br />

gehalten werden.<br />

Wurden in früherer Zeit die Weiden am Ortenberggraben<br />

(Weidgraben) von den Bauern von <strong>Reichelsheim</strong>,<br />

Heuchelheim und Weckesheim bzw. jene, die<br />

beidseitig des Schiedgrabens gelegen waren, von denen<br />

von <strong>Reichelsheim</strong> und Leidhecken gemeinsam genutzt,<br />

so wollte man nun klare Abgrenzungen, wollte - anders<br />

ausgedrückt - möglichst viel allein nutzen können.<br />

Der Streit um die „gerechte“ Grenzziehung zog sich über<br />

Jahrzehnte hin. Erst Mitte des 18. Jahrhunderts<br />

kam es zwischen den Herrschaften zu tragenden Vergleichen.<br />

Die Westhälfte des Gemarkungsgebietes war vorrangig<br />

Ackerfläche. Doch auch dort gab es Feuchtbereiche,<br />

.,Seen“. wie den „Großen See“, den „Kleinen See“ oder<br />

den „Schützensee“. Gewannbezeichnung weisen noch<br />

heute auf deren ehemalige Lage hin. Wenn man den alten<br />

Urkunden Glauben schenken darf, gab es in einigen<br />

dieser Seen so reichlich Fische, daß sogar Fischereirechte<br />

darauf verliehen wurden.<br />

Rund um <strong>Reichelsheim</strong>, direkt an der Stadtmauer, lagen<br />

die Gemüsegärten, die innerhalb der eng gezogenen<br />

Mauern keinen Platz hatten. und die großen Streuobstwiesen,<br />

in deren Mitte manch ein Bienenvolk seine Heimat<br />

hatte. Die vielen Obstbäume - es waren mehrere<br />

Tausende - gaben den Ortsbürgern nicht nur schmackhafte<br />

und damit wichtige Vitamine für die dunkle Jahres-<br />

Blick von cler Horloffbrücke<br />

auf den für <strong>Reichelsheim</strong> wichtigen Fluß<br />

(Foto von Anfang diesen Jahrhunderts)<br />

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zeit; die Bäume gaben dem Ort auch Schutz vor den<br />

manchmal scharfen West- und vor allem Süd-West-<br />

Winden.<br />

Für Vögel aller Art, aber auch für Klein- und Niederwild<br />

war eine derart strukturierte Landschaft ein Paradies.<br />

Störche waren, wie die älteren Mitbürger unserer<br />

Stadt noch heute wissen, in und um <strong>Reichelsheim</strong> so<br />

selbstverständlich wie der wiederkehrende Frühling.<br />

Die <strong>Reichelsheim</strong>er Kinder lernten nicht nur sehr<br />

schnell die heimischen Vögel und Tiere kennen. Sie lernten<br />

von jungen Beinen an die Bedeutung ihres Lebensumfeldes<br />

kennen. Sie wußten durch die Gespräche der<br />

Eltern und Nachbarn, wie wichtig die Weiden, Wiesen<br />

und Felder waren; sie hörten von den geschilderten<br />

Streitereien zwischen den Orten um die Wiesen und Weiden,<br />

bzw. um die Grenzziehung. Sie nahmen „Partei“ für<br />

ihre Väter, wenn diese wieder einmal eine „unberechtigt“<br />

weidende Kuh eines Heuchelheimer, Weckesheimer<br />

oder Leidhecker Bauern in ihren eigenen Stall getrieben<br />

hatten und diese erst gegen Zahlung eines „anständigen“<br />

Entgeltes wieder ihrem ursprünglichen Besitzer<br />

freigaben! Die Kinder hörten aber auch von dem sich<br />

wiederholenden Ärger des <strong>Reichelsheim</strong>er Müllers mit<br />

Bingenheim, das - vor allem in regenarmen Jahren - das<br />

Wasser staute, damit ihr eigener Müller dann Wasser<br />

hatte, wenn er es zum Betreiben seiner Mühle benötigte,<br />

oder wenn ihre eigenen im Bingenheimer Ried weidenden<br />

Herden mehr Wasser brauchten... Bingenheim lag flußaufwärts<br />

und konnte deswegen leicht den Wasserstand regulieren!<br />

Sie hörten allerdings auch von Beschwerden der<br />

Bingenheimer, Gettenauer und Heuchelheimer gegenüber<br />

dem <strong>Reichelsheim</strong>er Müller, der in nassen Jahreszeiten<br />

bzw. Jahren das Wasser gestaut haben soll, wodurch die<br />

Horloff die Wiesen im Bingenheimer Ried noch stärker<br />

überschwemmten bzw. dem Bingenheimer Müller das<br />

Mahlen des Kornes wesentlich erschwert wurde. Auch<br />

wurde ihm vorgeworfen, unerlaubte Veränderungen<br />

(Erhöhung des Wehres) durchgeführt zu haben!<br />

Die Kinder hörten aus den Gesprächen der Erwachsenen<br />

in diesem Zusammenhang auch, wie schlecht Ortschaften<br />

wie Dorn-Asscnheiın dran waren. Dieser Nachbarort<br />

hatte durch Brunnen zwar genügend Wasser zur<br />

Versorgung von Menschen und Vieh. Aber Dorn-Assenheim<br />

hatte keinen großen Bach oder kleinen Fluß! Und<br />

deswegen hatten sie nicht genügend Wiesen zur Versorgung<br />

des Vichs mit Heu, vor allem aber hatten sie keine<br />

Mühle. Da auch dieser Ort ein recht isolierter Herrschaftsbereich<br />

war, zudem durch den katholischen Glauben von<br />

dem protestantischen Umfeld abgeschlossen, hatten die<br />

Bewohner Schwierigkeiten, Mehl aus ihrem Ernteertrag zu<br />

gewinnen. Erst durch Beschluß der Adelsherrschaftcn von<br />

<strong>Reichelsheim</strong> und Dorn-Assenheim wurde der <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

Müller verpflichtet, auch das Getreide des Nachbarortes<br />

zu mahlen. Wenn die Horloff genügend Wasser<br />

führte, hatten auch er und die <strong>Reichelsheim</strong>er Bauern<br />

nichts dagegen einzuwenden. Aber wenn nicht?<br />

Die Kinder hörten auch davon, wie abhängig die<br />

Handwerker von der _jewciligcıı Wirtsehaftssituation in<br />

der Stadt waren: Gab es eine Mißernte, ließen die Bauern<br />

ihre Scheune nicht durch die Zimmerleute ausbessern;<br />

hatte der Zimmermann keine Arbeit und damit<br />

Verdienst, so konnte er für sich und seine Familie keine<br />

Schuhe beim Schuhmacher bestellen; hatte der Schuhmacher<br />

keine Aufträge, konnte er sich keinen neuen Kittel<br />

beim Schneider machen lassen.. _<br />

Die Kinder lernten durch all dies von klein aufdie Bedeutung<br />

von Wind, Regen, Schnee, Sonne, Trockenheit<br />

kennen. Sie lernten die Abhängigkeit der Menschen von<br />

den Einflüssen der Natur kennen -lernten aber auch für<br />

ihren Vorteil zu kämpfen. .!<br />

77


Damit wußten sie schon in jungen Jahren, was es für<br />

ihren Magen bedeuten wird, wenn der Frost die Blüte<br />

der Obstbäume vernichtete, wenn ein Hagelschlag ein<br />

fast erntereifes Feld zerstörte, wenn zu große Trockenheit<br />

das Heu und das Kruınmet nicht gedeihen ließ. so<br />

daß für das Vieh nicht genügend Wintervorrat eingefahren<br />

werden konnte. Sie lernten, daß Mäuse nicht nur süße<br />

Tierchen sind, sondern in großen Massen ihr Konkurrent<br />

um Nahrung sein können!<br />

Wollte man hiermit abschließen, so hätte man das<br />

<strong>Reichelsheim</strong>er Umfeld noch nicht abschließend beschrieben.<br />

Ein Blick nach Norden, an der <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

Mühle vorbei, in der Höhe der Bingenheimer<br />

Mühle, da liegt der Lochbcrg, eine Basaltkuppe, die<br />

seit uralten Zeiten <strong>Reichelsheim</strong>er Besitz ist, obwohl<br />

sie auf Bingenheimer Gemarkung liegt. Dieser Berg,<br />

besser: dieser Hügel war über Jahrhunderte an seinem<br />

Süd- und Südwesthang dicht mit Weinstöcken bepflanzt.<br />

Fast 2 Hcktar betrug das Anbaugebiet! Er versorgte<br />

den nassauischen Amtınann, den Pfarrer und<br />

die wohlhabenden Bauern mit einem edlen, wenn auch<br />

wahrscheinlich sehr herben Tropfen. Der Pfarrer<br />

selbst hatte iın .Iahrc I627 für die Kirche einen Anteil<br />

vorı '/2 Morgen erworben, damit stets für die Abendmahlgottesdienste<br />

ein ausreichender Vorrat vorhanden<br />

war. Für seinen Eigenbedarf war durch andere Regelungen<br />

Sorge getragen: ln einer offiziellen Verordnung aus<br />

dem Jahre 1769 heißt es u. a.:<br />

„Von einer Confirmation der Kinder soll der Pfarrer<br />

für seine Mühewaltung eine Maas Wein haben und bringen<br />

die Kinder dafür 6 bis 8 Batzen.“<br />

Dieser <strong>Reichelsheim</strong>er Weinberg, auf den in früher<br />

Zeit die alten Römer ein Kleinkastel erbaut hatten und<br />

die Nationalsozialisten in unserem Jahrhundert ein eigenes<br />

„Ehrenmal“ errichten sollten - dieser Weinberg, der<br />

Loch- oder Luhberg, ist dafür verantwortlich, daß im<br />

heutigen Stadtwappen dcr Stadt <strong>Reichelsheim</strong> neben<br />

dem Kreuz der Fuldischen Mark und dem nassauischhessischcn<br />

Löwen Weinblätter enthalten sind.<br />

vf 7<br />

Schneiclerwerkstatt Ende des I6. Jahrhunderts<br />

Holzschnitt von J _ Ammann<br />

(Entn.: „Die Wetterau “, S. 112)<br />

78


Was bestimmte neben den Alltagspflichten noch das<br />

Leben in und um <strong>Reichelsheim</strong>? Was lernten die Kinder<br />

von klein auf noch kennen, was war für sie sehr früh eine<br />

Selbstverständlichkeit?<br />

Sie merkten z. B., daß ihre Väter immer mal wieder<br />

für mehrere Stunden außer Hause waren, weil sie „Wache<br />

halten“ mußten, und zwar nicht nur nachts und nicht<br />

nur an den Toren und auf den Türmen ~ nein: in unruhigen<br />

Zeiten oder in jenen Zeiten, wenn die Menschen aus<br />

den großen Städten vor Krankheit und Hunger flüchteten,<br />

waren sie als Ortsbürger auch verpflichtet, tagsüber<br />

Straßen-, Tor- und Feldwachc zu halten. Die Sicherheit<br />

für das Eigentum und die körperliche Unverletzliehkeit<br />

der Menschen in der Stadt mußte hauptsächlich durch<br />

Eigenverantwortung, durch eine Art Bürgerwehr, gewährleistet<br />

werden.<br />

Diese Tor-, Turm- und Feldwachen hatten auch dafür<br />

Sorge zu tragen, daß nicht Unbcreehtigte über eine der<br />

Landwehrbrücken in das hiesige Gemarkungsgebiet eindrangen<br />

oder gar durch eines der Stadttore kamen. Mißtrauisch<br />

wurden vor allem Reiter in der Uniform eines<br />

anderen Herrscherhauses betrachtet. Waren sie „ohne<br />

Legitimation“, so wurde ihnen in der Regel die Durchquerung<br />

des Ortes untersagt. Manches Mal soll es sogar,<br />

wie noch vorhandene Vernehmungsprotokolle bestätigen,<br />

zu Handgreiflichkeiten mit den Durchlaß erbittenden<br />

Fremden gekommen sein. Mehr als einmal erkundigte<br />

sich der nassauische Graf bei seinem hiesigen Amtmann,<br />

was denn vorgefallen sei, habe sich doch sein „licber<br />

Vetter, Seine Erlaucht der Graf. _ bei ihm über das<br />

Verhalten der Torwachen von <strong>Reichelsheim</strong> beschwert!<br />

Ärger gab es auch immer wieder einmal mit der Erhebung<br />

von Wege- und Brückengeld, vor allem in Richtung<br />

Bingenheim. Diese Gelder gingen direkt an den herrschenden<br />

Grafen - den Ärger hatten aber die vor Ort<br />

wohnenden Menschen. Die Bingenheimer waren strikt<br />

gegen solche Abgaben und sperrten als „Gegenleistung“<br />

den <strong>Reichelsheim</strong>ern zeitweise den Zugang in den Wald,<br />

wenn sie Holz für den Hausbau oder für den Hausbrand<br />

holen wollten!<br />

l<br />

1<br />

l<br />

Holzschnitt von J. Amman „Der Holzclrechsler“<br />

(Entn. : „Die Wetterau“, S. Ill)<br />

79


Der Existenzkampf Wal' alltäglich um jene Zeit - Cl0Cl'l gen die Einnahmen aus diesem „Flecken in der Wetter-<br />

Wenn die <strong>Reichelsheim</strong>er Bauern und H21I1dW61'l


6. Vom „Nassauern“<br />

„Von jeher“, so schrieben einst (1807) die <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

Ortsbürger ihrem „Durchlauchtigsten Fürst“, dem<br />

„Gnädigsten Fürst und Herrn“, von jeher „schätzen wir<br />

uns um deswillen besonders glücklich, Hochfürstlich Nassau-Weilburgische<br />

Unterthanen zu seyn, weil die großmüthigen<br />

und gnädigen Handlungen der Regenten dieses uralten<br />

Fürstenhauses dem redlichen getreuen Unterthanen<br />

keinen gerechten Wunsch unerfüllt und keine billige Bitte<br />

unerhört übrig ließen.<br />

Ein Denkmal dieses glücklichen Verhältnisses zwischen<br />

Regenten und Unterthanen verehren wir in derjenigen<br />

Übereinkunft“, so schrieben die <strong>Reichelsheim</strong>er weiter,<br />

„welche Euer Hochfürstliche Durchlaucht würdiger Herr<br />

Großvater und wahrhaft edelmüthiger Vorgänger in allen<br />

Regententugenden, des verewigten Fürsten Karl Augusts,<br />

Durchlauchtigsteren l4ten/22ten May 1739 mit dem Flekken<br />

<strong>Reichelsheim</strong> abzuschließen unsere Vorfahren nicht<br />

für unwürdig gehalten haben.“ Im weiteren des Briefes bitten<br />

die „redlich getreuen Unterthanen“ den Fürsten um<br />

Verringerung der Kriegskosten, die entgegen der genannten<br />

Übereinkunft von 1739 immer wieder erhöht worden<br />

seien.<br />

Der amtierende nassauische Amtsverweser nahm Stellung<br />

zu dem Gesuch und führte dabei einmal „die Hauptausgaben“,<br />

die die Gemeinde im Jahr zuvor hatte, auf:<br />

Gulden Kreuzer Pfennige<br />

l. Monatsgeld 1772 25 -<br />

2. Beed 206 14 l<br />

3. Dienstgeld 150 - -<br />

4. Kriegskosten 1856 44 -<br />

5. Interessen von 38000 Gemeindeschulden<br />

(Zinsen) 1520<br />

6. Baukosten 236 58<br />

7. Brandsteuer nach Atzbach 222<br />

Summe 6259 45 1<br />

„Daß diese Erhebung einzelne Gemeindsmitglieder,<br />

vorzüglich den Armen und den sogenannten Mittelmann<br />

drückend gewesen seyn mag“, schreibt der Amtsverweser<br />

nach Wiesbaden, dem Sitz des neugeschaffenen „Herzogtums<br />

Nassau“, weiter, „ist nicht zu leugnen, allein es ist die<br />

Gemeinde, welche den Druck, den die traurigen Zeitumstände<br />

auf ganze Länder legten, nicht in ihren einzelnen<br />

Theilen empfinden sollte? Dabei hätte die suplicantische<br />

(= antragstellende) Gemeinde bedenken sollen, daß der<br />

Fleck, welche man den grösten Theil derselben in Bebauung<br />

ihres fruchtbaren Bodens nicht absprechen kann, sich<br />

hier reichlicher belohnt, als in Gegenden, wo das Feld nur<br />

kärgliche Erndte gibt, und daß der Staat, bey größerem<br />

Kostenaufwand, auch ihre reichlicheren Beiträge um so<br />

williger erwarten dürfe, als sie sich in einem Lande befindet,<br />

wo man zu außerordentlichen Auflagen und im Fall<br />

der größten Noth seine Zuflueht nimmt, und als es ihr billig<br />

noch hätte im Andenken seyn sollen. wie groß das Opfer<br />

war, wodurch gnädigste Herrschaft vor einigen Jahren<br />

auch ihr durch den Erlaß einer dreijährigen Contribution<br />

das erlittene Kriegsungemach weniger fühlbar gemacht<br />

hatte. .<br />

Die <strong>Reichelsheim</strong>er sollten also nach Meinung ihres<br />

Amtsverwesers bitte schön ruhig sein, sie sollten zahlen,<br />

was von ihnen verlangt, denn schließlich und endlich sollten<br />

sie glücklich sein, daß der Boden, den sie in und um<br />

<strong>Reichelsheim</strong> bearbeiteten, fruchtbarer sei als anderswo.<br />

Diese Tatsache solle sie eigentlich sogar dazu bringen, dem<br />

Staat, wenn dieser „größeren Kostenaufwand“ habe, „um<br />

so williger ihre reichlicheren Beträge“ anzubieten.<br />

Die <strong>Reichelsheim</strong>er mußten bei diesem Vorgang wieder<br />

einmal erfahren, daß trotz aller „unterthänigster“ Lobhudeleien<br />

wenig Hilfe von den Herrschaften zu Weilburg<br />

oder Wiesbaden zu erwarten war. Vielmehr mußten sie erneut<br />

erkennen, wie wertvoll sie andererseits für ihren<br />

81


Grafen bzw. Fürsten bzw. Herzog waren: <strong>Reichelsheim</strong> -<br />

die Kornkammer Nassaus! Wie wertvoll sie für den jeweiligen<br />

Regenten waren, das hatten sie schon oft erleben müssen:<br />

Von 1570 an finden sich viele alte Ouittungen, die<br />

Zahlungen der nassauischen Grafen an verschiedene Personen<br />

- Adlige und Bürgerliche - nachweisen und deren<br />

Begleichung über die Beede-Anteile der Gemeinde <strong>Reichelsheim</strong><br />

liefen (Beede oder Bede war ursprünglich eine<br />

Sondersteuer, die im Mittelalter bei außerordentlichen<br />

Anlässen erhoben wurde; später wurde sie zu einer jährlichen<br />

Abgabe, die pro Hufe erhoben wurde).<br />

Folgende Namen tauchten als Gläubiger der Grafen auf<br />

(in Klammern die Jahreszahlen der geleisteten Zahlungen):<br />

- Wilhelm von Cöln zu <strong>Reichelsheim</strong> (1571, 1572, 1574,<br />

1575, 1576, 1578 bis 1611):<br />

- Johann Oiger Brendel von Homburg, Burggraf zu<br />

Friedberg (1570 bis 1572, 1574 bis 1576):<br />

- Werner Philipp von Buches (1570 bis 1572, 1574 bis<br />

1576):<br />

- Adam Braun, genannt Hell (1571):<br />

- Heinrich Lcrsner (1571):<br />

- Quirin Freiherr von Schwarzenburg (1571, 1572, 1576);<br />

- Reychart Falck, Verwalter des Klosters von Hirzenhain<br />

(1572):<br />

- Christoffer Endes. Kellner (Amtmann) zu Bingenheim<br />

(1572):<br />

- Magnus Holzappel, Amtmann (1572, 1576):<br />

- Abraham Eberhard v. Cronberg (1575):<br />

- Hans Dauernhcim, Verwalter des Klosters Hirzenhain<br />

(1575):<br />

- Heinrich am Steg, Keller (Amtmann) zu Amorbach<br />

(1576):<br />

- Hans Heinrich von Heusenstamm (1576):<br />

- Falck von Schwarzenburg (1581, 1584, 1602):<br />

Georg Buch ( 1579);<br />

- Josten Luncker ( 1583):<br />

Kloster Hirzenhain (1583, 1584, 1587, 1602):<br />

Brendel von Homburg (1584 bis 1611);<br />

- Johann Eberhart, Burggraf zu Friedberg (1587):<br />

Hans Hector von Holzhausen (1589):<br />

Balthasar Haberkorn zu Diepurgk (1602):<br />

- Johann Myllerus, Amtmann zu Ortenberg (1611).<br />

Andere Urkunden berichten folgendes:<br />

1588 z. B. verkaufte Philipp, Graf zu Nassau-Saarbrükken,<br />

an einen Hans Berlinger von Worms und an seine<br />

Frau Anna für 1000 Gulden eine Erbrente. Als Sicherheit<br />

werden Einnahmen aus <strong>Reichelsheim</strong> angegeben.<br />

1634 z. B.: Graf Johann von Nassau-Saarbrücken verspricht<br />

der Elisabeth, Witwe des Johann Bleichenbach,<br />

die von ihrem Vater Ebald Filtz herrührende Schuldforderung<br />

von 200 Gulden zu tilgen, indem er ihr<br />

das „Umgeld vom Weinschank in <strong>Reichelsheim</strong>“ zusagt.<br />

1659 z. B. stellte ein E. Celius an den Grafen von Nassau-Saarbrücken<br />

seine Forderung und erzielt die Sicherstellung<br />

derselben durch die Verpfändung der Orte<br />

Weilburg, Gleiberg und <strong>Reichelsheim</strong>.<br />

1665 (dem Jahr des „Freiheitsbriefes“) z. B.: Graf<br />

Friedrich von Nassau, ermächtigt seinen Kammerschreiber,<br />

daß er bewirke, daß „in <strong>Reichelsheim</strong> die<br />

Unterthanen dem Kauf- und Handelsmann Ochs aus<br />

Frankfurt Handgelöbniß thun lassen (= sie sollten ihm<br />

Treue und Ergebenheit schwören), daß demselben bis<br />

zur Abtragung der Schuld ihre Leistungen dem letzteren<br />

anstatt dem Grafen liefern wollen“.<br />

1684: Johann Ernst und Friedrich Ludwig, Grafen zu<br />

Nassau-Saarbrücken, verkaufen wiederverkäuflich<br />

für 23 000 Gulden dem Kurmainzischen Oberstwachtmeister<br />

Franz Caspar von Bocholtz ihren Flecken Rei-<br />

82


'<br />

`<br />

chelsheim mit allen seinen Zugehörungen, Gerechtsamen<br />

und Gefällen . .. Der Abt von Fulda und das<br />

Haus Hessen-Cassel garantieren diesen Vertrag.“<br />

- 1692 z. B. nimmt Johann Ernst, Graf zu Nassau-Saarbrücken,<br />

50000 Gulden auf und verpfändet zur Sicherstellung<br />

den „Flecken <strong>Reichelsheim</strong>“.<br />

- 1740 bis 1759: Carl August, Fürst zu Nassau-Weilburg,<br />

verpfändet an den Fürsten Heinrich zu<br />

Schwarzburg-Sondershausen auf Lebenszeit den<br />

Flecken <strong>Reichelsheim</strong> zur ›Sicherung der darlehensweise<br />

empfangenen 30000 Reichsthaler


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7. Das 18. Jahrhundert<br />

a) Eine wichtige Zwischenepoche<br />

Das Jahrhundert der Turbulenzen, das 17. Jahrhundert,<br />

konnte für die Zukunft, so mußten die Menschen<br />

glauben, nur Besserung versprechen! Der Glaube an<br />

Hexen, ihre Verfolgung und ihre Hinrichtungen waren<br />

zwar nicht vergessen - noch jedem Kind wurde gezeigt,<br />

wo sie hingerichtet, und erzählt, wie sie hingerichtet<br />

worden waren; doch meinte man allenthalben, daß<br />

eine neue Zeit angebrochen war. Durchreisende berichteten<br />

von immer neuen Erfindungen und Entdekkungen,<br />

und so ahnte man, daß eine neue Zeit begonnen<br />

hatte. Konnte es was anderes sein, als eine bessere<br />

Zeit?<br />

Die Fürsten in den deutschen Kleinstaatcn, geblendet<br />

von ihrem großen monarchischen Vorbild jenseits des<br />

Rheines, Ludwig XIV., dem „Sonnenkönig“, der absolut<br />

über Frankreich herrschte, errichteten überall ihre<br />

„Herrensitze“, ihre Schlösser und Schlößchen, aber auch<br />

neue Hochschulen, denen sie ihren Namen gaben. Überall<br />

zeigten sie ihre Macht und ihre „Aufgeschlossenheit“<br />

- nannten sich einerseits „Herrscher von Gottes Gnaden“,<br />

andererseits „Jünger der Vernunft“. Sie sahen sich<br />

also einerseits als unzweifelhafter Teil der „göttlichen<br />

Ordnung auf Erden“, andererseits als aufgeklärte Zeitgenossen,<br />

die sich vernunftmäßig den neuen Erkenntnissen<br />

der modernen Naturwissenschaften fördernd zuwandten.<br />

Die Bauern auf dem Land, die Bauern von <strong>Reichelsheim</strong><br />

z. B., merkten nichts von den schönen Seiten des<br />

Prunkes. Sie spürten anderes: nämlich die steigenden<br />

Abgaben! Noch häufiger als früher verpfändeten die<br />

nassauischen Grafen „ihr“ Amt <strong>Reichelsheim</strong>, ihre<br />

Kornkammer in der Wetterau!<br />

Auch spürten die Männer und Frauen dieses kleinen<br />

Städtchens schmerzvoll die Folgen des Wiederauflebens<br />

der Jagdlust der adligen Herren: Immer und immer wie-<br />

der bejagten jene die Wiesen und Felder im sogenannten<br />

Parforceritt - ohne Rücksicht auf den Wachstumsstand<br />

der Acker- und Gartenfrüchte. Da zudem die wohlgenährten<br />

Herren eine leichte Jagdbeute haben wollten,<br />

war von ihnen ein dichter Wildbestand gefordert. Die<br />

Bauern in ganz Hessen und anderswo sahen es mit<br />

Schrecken: immer größer wurden neben den Jagdschäden<br />

die Schäden durch Wildverbiß! Vor allem die<br />

„Schwarzkittel“, eine der beliebtesten Jagdtrophäen der<br />

adligen Jäger, richteten in den Feldern große Schäden<br />

an.<br />

Der nassauische Amtsverweser hatte in <strong>Reichelsheim</strong><br />

auch die Aufgabe, jegliche „Wilderei“ durch die Bauern<br />

zu unterbinden. Wurde jemand beim Fallenlegen erwischt,<br />

wurde er wegen versuchten oder gar erwiesenen<br />

Diebstahls am Eigentum des Fürsten von Nassau-Weilburg<br />

angeklagt und hart bestraft. . _<br />

Wie andernorts auch, so versuchten die <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

Bauern verzweifelt, sich durch gezielte Maßnahmen<br />

zu bestimmten Zeiten des Wachstums der Feldfrüchte zu<br />

„wehren“: Die Nachtwachen für den Bereich außerhalb<br />

der Stadtmauern wurden verstärkt: mit Leuchten und<br />

selbstgebauten Knarren und Ratschen ausgerüstet, stellten<br />

sie sich in die Feldbereiche, die sie als besonders gefährdet<br />

ansahen. So hofften sie, das Wild zu vertreiben<br />

und damit zugleich die Früchte ihrer Arbeit vor den Tieren<br />

zu retten.<br />

Der sichtbare Wohlstand kehrte also vorrangig in die<br />

Paläste, nicht aber in die Hütten der Bauern und Handwerker<br />

auf dem Lande ein. Manch ein <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

mag sich überlegt haben, ob er dem Werben der kaiserlichen<br />

Boten aus Wien nachgeben und auch in das Banat<br />

ziehen solle, oder ob er dem Ruf der russischen Zarin<br />

Gehör schenken und in das weite Land an der Wolga ziehen<br />

solle - so wie dies aus der benachbarten Landgraf-<br />

86


schaft Hessen-Darmstadt und aus der Freien Reichsstadt<br />

Frankfurt zu hören war.<br />

Andere mögen von dem weiten Land jenseits des<br />

großen Meeres gehört haben, in das schon sehr viele<br />

Hessen und Nassauer gezogen sein sollen. Vielleicht<br />

haben einige von all dem gehört, als sie in Frankfurt<br />

auf dem Markt ihre Produkte anboten, denn dabei gingen<br />

Werber von Stand zu Stand, vor allem zu solchen,<br />

an denen kräftige junge Leute ihre guten Waren zum<br />

Verkauft anpriesen_ Wahrscheinlich sprach man in<br />

<strong>Reichelsheim</strong> über diese „Traumländer“, wenn hier<br />

selbst die großen Jahrmärkte stattfanden und sich dabei<br />

jeweils eine hektische „Nachrichtenbörse“ entwikkelte.<br />

Doch eines war allen klar: Auszuwandern war<br />

nicht einfach, denn die Fürsten sahen dies nicht gern,<br />

wollten sie doch nicht ihre besten Arbeitskräfte verlieren!<br />

Auch die Nassauer verlangten neben dem üblichen<br />

„Auszugsgeld“, das es für jeden Herrschaftsbereich<br />

seit dem Mittelalter gab, ein zusätzliches Auswanderungsgeld.<br />

Manch Williger blieb nach dem Zusammenrechnen<br />

aller Kostenposten ein treuer Untertan<br />

seiner althergebrachten Herrschaft.<br />

Wie schon an anderer Stelle erläutert, gab es zwischen<br />

<strong>Reichelsheim</strong> und den Nachbarorten Streit um die Nutzung<br />

der Wiesen und Weiden. Streit gab es in dieser Zeit<br />

aber vor allem um die Errichtung von Schlagbäumen<br />

bzw. die Erhebung von Wegegeld. Von 1703 bis 1704<br />

dauerte der Streit der Grafschaft Nassau-Weilburg mit<br />

der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt betr. der Errichtung<br />

des Schlagbaumes in Richtung Bingenheim. Von<br />

1726 bis 1728 wurde mit dem Freiherrn vom Löw, der<br />

Florstadt von Hessen-Darmstadt zur Nutzung erworben<br />

hatte, „wegen dessen Übergriffe in die Hoheitsrechte auf<br />

<strong>Reichelsheim</strong>er Gebiet“ Streit geführt. <strong>Reichelsheim</strong><br />

wurde immer mehr zur lnsel: Nicht nur die Landwehr begrenzte<br />

für den Notfall augenfällig das Gemarkungsgebiet:<br />

die Schlagbäume zu den umliegenden Dörfern, zu<br />

Bingenheim, zu Heuchelheim. zu Dorn-Assenheim und<br />

zu Florstadt schotteten den Ort auch in Friedenszeiten<br />

von seinem Umfeld ab - und dies zu einer Zeit, als die<br />

Welt durch die Entdeckungen immer weiter wurde, und<br />

dies zugleich zu einer Zeit, als die Regenten von sich behaupteten,<br />

immer aufgeschlossener bzw. „aufgeklärter“<br />

zu sein!<br />

Aber hierbei ging es den Grafen und Fürsten nicht um<br />

Modcrnität, hierbei ging es ihnen einzig und allein um<br />

eine regelmäßige Einnahmequellc. Um sich diese zu sichern,<br />

verpachteten sie gegen einen Festbetrag an lnteressierte<br />

das Recht, das Wegcgeld zu erheben. D. h. die<br />

Herren selbst hatten dabei kein Risiko.<br />

87


7. b) Die kurze Herrschaft des Fürsten von Schwarzburg<br />

1740 verkaufte Karl August, Fürst zu Nassau-Weilburg,<br />

dem Fürsten Heinrich zu Schwarzburg-Sondershausen<br />

für 30000 Reichstaler <strong>Reichelsheim</strong> auf Lebenszeit.<br />

Fürst Heinrich, der zu dem 1710 in den Reichsfürstenstand<br />

erhobenen thüringischen Adelshaus gehörte, erhielt<br />

alle landesherrschaftlichen Rechte über <strong>Reichelsheim</strong><br />

und die <strong>Reichelsheim</strong>er, d. h. einerseits waren die<br />

Abgaben an ihn zu liefern, andererseits mußten sie ihm<br />

„in die Hand“ den „Untertanen-Eid“ leisten, ihm also<br />

Treue und Gehorsam schwören.<br />

Über Fürst Heinrich ist nicht allzuviel bekannt. Allerdings<br />

hat er einen wegweisenden Schritt in die Zukunft<br />

dieses Orts getan: Er baute sich als erster oder als einer<br />

der ersten v o r dem Obertor ein Anwesen auf (langjährige<br />

Schlosserei Sprengel gegenüber der Abzweigung<br />

der Bad Nauheimer Straße nach Weckesheim). Damit<br />

setzte er ein Zeichen: Die Stadtmauer, die 300 Jahre<br />

diesen Landort umgrenzte und absicherte. sie wurde<br />

von dem Herrscher selbst nicht mehr als Schutz angesehen.<br />

Anders ausgedrückt: Die Mauer stellte nun keine<br />

Begrenzung mehr für die Entfaltung dieses Landstädtchens<br />

dar.<br />

Fürst Schwarzburg-Sondershausen lebte nicht nur in<br />

<strong>Reichelsheim</strong>. Die Verwaltung des Ortes ließ er durch<br />

einen Frankfurter Hofrat namens Lauterbach vornehmen.<br />

Wie gesagt: Aus der Herrschaftszeit des Fürsten Heinrich<br />

zu Schwarzburg-Sondershausen ist nicht allzuviel<br />

bekannt. Vielleicht liegt dies daran, daß er bereits 1758<br />

in Frankfurt starb, wodurch der Ort wieder den Nassauer<br />

Fürsten zufiel.<br />

Daß Fürst Heinrich in bleibender Erinnerung der <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

blieb, lag vor allem daran, daß er sich in<br />

<strong>Reichelsheim</strong> beerdigen ließ, und zwar in der Kirche<br />

selbst, womit er ein fürstliches Vorrecht für sich in Anspruch<br />

nahm.<br />

Eine weitere Tatsache, die damit in Zusammenhang<br />

steht, ließ ihn für spätere <strong>Reichelsheim</strong>er Generationen<br />

eine Besonderheit bleiben: Er ließ sein Herz aus dem toten<br />

Körper entfernen und in einem herzförmigen Behältnis,<br />

das innen aus Blei und außen aus Silber gefertigt ist,<br />

getrennt von seinem Körper aufbewahren.<br />

Silberkapsel, die in einer inneren Bleiverschalung<br />

das Herz des Fürsten Schwarzburg-Sondershausen<br />

enthalt; 1758 in der <strong>Reichelsheim</strong>er Kirche beigesetzt,<br />

heute im Wetterau-Museum aufbewahrt. (Foto H. Haag)<br />

Als 1953 Arbeiten an der Sakristei der Kirche zur Verbesserung<br />

des Heizungssystems vorgenommen wurden,<br />

stießen die Arbeiter auf zwei Grabkammern: auf die des<br />

Fürsten Schwarzburg und auf die des Grafen Johann<br />

88


Ludwig von Nassau, einem General in Diensten des<br />

Landgrafen von Hessen-Cassel, der am 30. Januar 1690<br />

in <strong>Reichelsheim</strong> verstarb und sich hier auch beerdigen<br />

ließ. Von diesem gräflichen General ist bekannt, daß er<br />

in den Erbfolgekriegen, die der französische König Ludwig<br />

XIV. angezettelt hatte, gegen jenen gekämpft hatte.<br />

Es waren Kriege, in deren Verlauf nicht nur das schöne<br />

Heidelberger Schloß zerstört und die Pfalz in Schutt und<br />

Asche gelegt worden waren: jene Kriege hatten auch<br />

ihre verheerenden Auswirkungen in unserer Heimatregion,<br />

in der Wetterau. Der kriegsführende General Johann<br />

Ludwig, Graf von Nassau, war nicht von ungefähr<br />

hier im Amt <strong>Reichelsheim</strong> _ _ .<br />

7. c) Der Siebenjährige Krieg und seine Auswirkungen<br />

Kriege gab es auch im 18. Jahrhundert!<br />

- Das Machtstreben der absolutistisch regierenden<br />

Könige Europas -<br />

- ihr Versuch, eine momentane Schwäche eines anderen<br />

Herrscherhauses zu nutzen, um sein eigenes<br />

Herrschaftsgebiet auszudehnen -<br />

- zumindest aber der Versuch, durch Bündnisse mit<br />

einem „starken“ auch stark oder wenigstens stärker<br />

zu werden.<br />

Das bestimmte die Politik im Europa des 18. Jahrhunderts!<br />

Auf die Menschen in den Dörfern und Städten wurde<br />

keine Rücksicht genommen. Der Dreißigjährige Krieg<br />

des 17. Jahrhunderts hatte die Macht der Herrscher der<br />

Kleinstaaten gestärkt, weil er sie unabhängig gemacht<br />

hatte von den Einspruchsmöglichkeiten der Landstände<br />

und den historischen Vorrechten des Kaisers des Heiligen<br />

Römischen Reiches Deutscher Nation. Jener lange<br />

Krieg hatte es vor allem zur Gewohnheit werden lassen,<br />

daß die Herrscher ein starkes „stehendes“ Heer besaßen.<br />

Und diese jetzt existentcn Heere wollten eingesetzt sein!<br />

Als 1740 der junge Friedrich ll. den preußischen<br />

Thron bestieg, hatten viele in Europa die Hoffnung, er,<br />

der es liebte zu musizieren und zu philosophieren, der<br />

verkündet hatte, er wollte „der erste Diener des Staates“<br />

sein. eines Staates, in dem jeder nach seiner „facon“ selig<br />

werden könne, er werde eine Epoche des Friedens und<br />

damit des Wohlstandes der Menschen in Stadt und Land<br />

einleiten und bewahren.<br />

Doch weit gefehlt: Friedrich II. wurde ein ausgesprochener<br />

Kriegskönig, was ihm später den Beinamen „der<br />

Große“ einbrachte. Kaum besaß er das Zepter über sein<br />

Land, überfiel er das österreichische Schlesien, die innere<br />

Schwäche des Nachbarreiches nutzend, in dem ebenfalls<br />

ein Thronwechsel anstand: Von Karl VI. zu Maria<br />

89


Theresia, der ersten Frau auf dem Thron des „Erzherzogtums<br />

Österreich“ und des Königrcichcs Ungarn.<br />

Die Folge dieses kalkulierten Angriffes waren die drei<br />

Schlesischen Kriege und der sogenannten Siebenjährige<br />

Krieg (1756 bis 1763).<br />

Preußen suchte sich innerhalb und außerhalb von<br />

Deutschland Verbündetetc, ebenso tat dies Österreich.<br />

So kämpften - wie gut 100 .Iah re zuvor - Engländer und<br />

Franzosen, Russen und Polen, Holsteiner und Hessen,<br />

Nassauer und Bayern in Deutschland miteinander und<br />

gegeneinander.<br />

Manch ein <strong>Reichelsheim</strong>er _junger Bürger mußte Heeresdienst<br />

leisten: entweder unter der Flagge des nassauweilburgischen<br />

Grafen selbst oder als Mitglied einer<br />

Hilfstruppe eines anderen Fürsten: denn auch die Nassauer<br />

wollten nicht „Zuschauer“ des Ringens der zwei<br />

Großen in Deutschland, der Preußen und der Österreicher,<br />

sein. Während sich die Landgrafschaft Hessen-<br />

Kassel mit Preußen und Braunschweig verbündet hatte,<br />

waren Hessen-Darmstadt und die nassauischen Grafschaften<br />

auf österreichischer Seite zu finden, das sich<br />

außerdem zunächst mit England und Rußland zusammengeschlossen<br />

hatte, war doch einer der anderen<br />

Hauptverbündeten Preußens Frankreich, der Erbfeind<br />

Englands in den amerikanischen und indischen Kolonialgebieten.<br />

._<br />

Für Frankreich bot sich zudem die Chance, in das<br />

Reichsgebiet einzudringen, vor allem in das pfälzischhessische<br />

Gebiet. Ob Herrschaftsgebiet von Verbündeten<br />

oder Gegnern: Die französischen Armeen machten<br />

sich breit, sollte doch als Ergebnis des Krieges nicht nur<br />

eine Bindung der Finanzmittel Großbritanniens in Kontinentaleuropa<br />

erreicht werden (Finanzmittel, die jene<br />

dann nicht im Kolonialbereich einzusetzen in der Lage<br />

sein sollten): als Ergebnis des Krieges sollte aus französi-<br />

scher Sicht vorrangig der Gewinn des linken Rheinufers<br />

stehen, ein Ziel, das Ludwig XIV. bereits 60 bis 80 Jahre<br />

zuvor vergeblich versucht hatte zu erreichen. In diesem<br />

Krieg wurde Friedberg 1757 zu einem französischen<br />

Heerlager verwandelt, Gießen wurde mehrere Jahre besetzt<br />

gehalten. Die preußischen Armeen unter dem Prinzen<br />

von Braunschweig versuchten nach dem Bündniswechsel<br />

von England und Frankreich ihrerseits, diesen<br />

linksrheinischen Feind aus diesem Gebiet zu verdrängen.<br />

Für die Menschen hier in der Wetterau bedeutete<br />

das Erscheinen einer Armee immer Last, gleichgültig in<br />

welcher Sprache oder in welchem Dialekt die Heerführer<br />

und Soldaten sprachen!<br />

Größere Schlachten fanden bis auf die bei Bergen im<br />

Norden Frankfurts zwar nicht statt. Aber kleine „Scharmützel“<br />

gab es immer wieder, die weniger die Generale<br />

der streitenden Armeen, sondern mehr die Bewohner<br />

der Gegend beunruhigten und auch in Mitleidenschaft<br />

zogen.<br />

Was die Menschen während dieser schrecklichen Zeit<br />

verunsicherte bzw. beunruhigte? Das war die Frage, wie<br />

sie von dem, was sie nicht abzuliefern hatte bzw. was ihnen<br />

nicht an Ort und Stelle weggenommen wurde, wie sie<br />

von dem wirklich kärglichen Rest überleben, ihre Familie<br />

ernähren sollten?<br />

Hinzu kam, daß sich durch die herumziehenden Heere<br />

auch wieder ansteckende Krankheiten verbreiteten. In<br />

<strong>Reichelsheim</strong> tobte nach Überlieferung durch den damaligen<br />

Pfarrer Hoffmann die Diphterie und raubte vielen<br />

Eltern alle ihre Kinder! Es herrschte Verzweiflung, weil<br />

man damals weder die Urachen der Krankheit noch die<br />

heilenden Medikamente kannte. Aber der Ruf nach<br />

einer einsichtigen Erklärung schallte durch alle Straßen<br />

und Gassen des Ortes. Waren es doch Hexen, oder waren<br />

es die Juden, oder war es einfach Gottes Willen, sei-<br />

90


ne „Strafe“ wegen des sündigen Lebens der Menschen?<br />

Von dem Vorgänger des genannten Pfarrers Hoffmann,<br />

Pfarrer Crecelius (gestorben 1760 hier in <strong>Reichelsheim</strong>),<br />

teilt das Kirchbuch folgendes mit und gibt<br />

uns damit einen Einblick in das Denken der Menschen<br />

jener Zeit:<br />

„Er (Pfarrer Crecelius) wollte aber keine Arzneimittel<br />

mehr nehmen, weshalb er seine Zuflueht zu dem rechten<br />

Arzt des Leibes und der Seele nahm; und weil er wußte,<br />

daß alle Krankheit ihren Ursprung von der Sünde hatte,<br />

so hat er auch seine Sünden vor dem Angesicht Gottes<br />

erkannt und wehmütig bereut, so auch daran Vergebung<br />

von Herzen um des Mittlers Christi und seines geleisteten<br />

blutigen Verdienstes willen, welches er gläubig ergriffen,<br />

gesucht, ist in dem Glauben standhaft geblieben<br />

bis ihn der getreue Gott aus der streitenden Kirche berufen<br />

. _ (s. S. 11.8).<br />

Crecelius” Nachfolger, Pfarrer Hoffmann, der schon<br />

Jahre zuvor den amtierenden Pfarrer in seiner Arbeit<br />

hier in <strong>Reichelsheim</strong> unterstützt hatte und von dem auch<br />

der Eintrag stammte, dieser Pfarrer mußte den Tod aller<br />

seiner Kinder durch jene damals nicht erklärbare Krankheit,<br />

die Diphterie, erleben. Der Tod, der nahezu jede<br />

Familie heimsuchte, die Armut, die durch die Kriegsereignisse,<br />

durch die immer wieder erhöhten Kriegskontributionen<br />

verursacht war; dies alles bedeutete Verzweiflung,<br />

Hilflosigkeit.<br />

Kirchliche Verordnungen sollten das Leben neu regeln,<br />

sollten es „festigen“, sollten Verschwendung, sollten<br />

vor allem aber das Bewußtsein um den allgegenwärtigen<br />

Tod neu regeln: Kinder sollten, so hieß es nun,<br />

spätestens am 3. Lebenstage getauft werden, damit gesichert<br />

sei, daß sie, wenn sie stürben, als Christen die Erde<br />

verließen; zu Hochzeiten sollten nur maximal 12 Leute<br />

eingeladen, die Toten sollten „ohne unnötigen Kostenaufwand<br />

beerdigt, die Toten in ein Hemd von geringer<br />

Leinwand gekleidet werden“. Für Kinder unter 14 Jahren<br />

durfte nicht weiterhin getrauert, Kinder unter 6 Jahre<br />

durften zudem nicht öffentlich (also in Begleitung von<br />

Nachbarn, Verwandten und Bekannten und unter Glokkengeläute)<br />

beerdigt werden _ . _<br />

Zu gleicher Zeit, als man mit diesen Verordnungen die<br />

Menschen aus ihrer Trauer reißen oder sie nicht an die<br />

Trauer anderer im Orte erinnern wollte, als man sich also<br />

offiziell bemühte, den Menschen hier in <strong>Reichelsheim</strong><br />

klarzumachen, daß der Tod eines Angehörigen, vor allem<br />

der eines Kindes, nicht als „böser Schicksalsschlag“,<br />

sondern als Ausdruck des göttlichen Wollcns zu begreifen<br />

sei, der deswegen auch nicht die Kraft rauhen dürfe<br />

für einen aktiven Blick nach vorne, in die Zukunft des eigenen<br />

Lebens - zur gleichen Zeit kam durch Verordnung<br />

die Aufforderung, sich l. mehr den Regeln der von der<br />

Kirche verkündeten göttlichen Ordnung zu beugen und<br />

2. ein bescheidenes, ehrbares und bcherrschtes Leben zu<br />

führen.<br />

Pfarrer Frankenfeld führt aus jener Zeit dazu in dem<br />

Kirchbuch (s. S. 122) eine Verordnung an, die verdeutlicht,<br />

welche Strenge die dem Fürsten von Nassau unterstellte<br />

Kirche den „Unterthanen“ auferlegte:<br />

„Eine fünfte Verordnung setzt über dic Kirchanwohner<br />

fest:<br />

1. daß sie alle Monat gleich nach beendigtcın Betgottesdienst<br />

vorgestellt werden soll;<br />

2. daß alle Handarbeiten an Sonn- und Feiertagen -<br />

wenn es keine Notharbeiten sind - mit 15 Kreuzer<br />

bestraft werden sollen; geschehen sie aber während<br />

des Gottesdienstes mit erhöheter Strafe;<br />

3. daß gleiche Strafe den treffen soll, welcher des Handels<br />

und Wandels wegen am Sonntag ohne Noth und<br />

Vorwissen des Pfarrers vor dem Gottesdienst ausrei-<br />

91


set oder der am Samstag wegreiset und am Sonntag<br />

erst wiederkommt;<br />

daß eine Versäumniß der Catechismuslehre von Seiten<br />

derjungen Leute mit 8 Kreuzern und wenn es geschieht<br />

des Spielens, Tanzens und Saufens halber<br />

mit 6 Gulden gestraft werden soll;<br />

daß der, welcher wäh rend des Gottesdienstes in den<br />

Wirtshäusern gefunden wird, 30 Kreuzer, wer aber<br />

an dem selben Sonntag zum Abendmahl gegangen<br />

ist, 5 Gulden Strafe erlegen soll; und daß von diesen<br />

Wirten Abends nach 10 Uhr den Söffern aber zu keiner<br />

Zeit Getränke gereicht werden sollen bei namhafter<br />

Strafe, weshalben der Kirchenvorstand die<br />

Wirtshäuser visitieren sollen;<br />

daß das Kegelschieben vor und zwischen dem Gottesdienst<br />

bei (1 Kreuzern, während des Gottesdienstes<br />

bei erhöheter Strafe verboten ist;<br />

daß die Hirten vor dem Frühgottesdienst nicht ausfahren<br />

sollen;<br />

daß das Fluchen. Schwören, Verheißen und Vermessen<br />

ınit I0 Kreuzern, und wo solches zur Gewohnheit<br />

werden sollte, mit erhöheter Strafe belangt<br />

werden soll;<br />

daß aber, wenn bei dem viehisehen Vollsäufer irgendwelch<br />

Flüche, Sehwüre, Zoten, auch Tathandlungen<br />

wider das 6. Gebot mit unterlaufen oder solche<br />

Leute über die Straße hin lärmen, brüllen und<br />

schändliche Lieder singen, 30 Kreuzer Strafe erlegt<br />

werden sollen;<br />

daß an Sonn- und Feiertagen, wie auch an der Betwoche<br />

nicht getanzt werden dürfe, Leute aber, welche<br />

bei dem Tanze sich unanständiger Tathandlungen<br />

erlauben, mit 6 bis 15 Kreuzer bestraft seien;<br />

daß Spielgesellschaften, in welchen beträchtlich und<br />

gewinnträchtig Spiel getrieben wird, nicht zu dulden<br />

bei 21.5 Kreuzer Strafe, diejenigen aber, welche diesselbe<br />

in ihrem Hause veranstalten, mit 30 Kreuzern<br />

Strafe belegt werden sollen;<br />

daß wenn ledige Personen in Hurerei und Unzucht<br />

betroffen werden, jedes 2 Gulden Strafe zu erlegen<br />

habe und daß deshalb<br />

alle verdächtigen Zusammenkünfte in entlegenen<br />

Häusern und Winkeln bei 15 Kreuzer Strafe verboten<br />

seien;<br />

endlich daß die, welche in den Spinnstuben sich mit<br />

Wort und Tat ungebührlich betragen, gebührend bestraft<br />

werden sollen."<br />

War diese Strenge, diese Härte der Kirche deswegen<br />

angeordnet, weil man sich in den Universitäten und<br />

Hochschulen Gedanken über die „Freiheiten eines jeden<br />

Individuums“ machte?<br />

Die <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

beugten sich weiter den<br />

gesetzten Regeln.<br />

Das Kircrhenbuch der<br />

evangelise/'zen Kirche,<br />

aufgeschlagen und<br />

getragen vom<br />

gegenwärtigen Pfarrer<br />

von Reich.elsheim,<br />

J. Enke<br />

(Foto W. Wagner)


7. d) Neue Rechnungsführung über Einnahmen /Ausgaben<br />

In diesem Jahrhundert, dem I8., versuchten auch die<br />

Fürsten von Nassau-Weilburg, sich einen materiellen<br />

Vorteil dadurch zu verschaffen, daß sie von ihren Amtern<br />

eine neue Buch- und Rechnungsführung verlangten.<br />

Durch die strenge Kontrolle der Abgaben sowie der Einund<br />

Ausgaben sollten die Einnahmen der Gemeinden<br />

und der Fürstlichen Hofl


alte, brüchige Eimer nicht vererbt oder diese selbst,<br />

allerdings mangelhaft, hergestellt wurden)<br />

Wegen der Markwaldung<br />

(Holz aus dem Markwald konnte nur nach Erlaubnis<br />

der Markmeister und nach Zahlung eines Entgeltes<br />

geholt werden. Dies galt für Bau- und auch für<br />

Brennholz)<br />

Prinzeß-Steuer<br />

(Für die erforderliche Mitgift der Grafen- oder Fürstentöchter<br />

mußte stets eine Sondersteuer von den<br />

„lieben Untertanen“ bezahlt werden)<br />

Extra ordinaria<br />

(Sondersteuer, z. B. für Verköstigung von ausländischen<br />

Truppen oder Strafgeldern von Bürgern, die<br />

etwas in der Gemeinde zerstört hatten)<br />

Von Gemeinde Bauen und Stücken<br />

(Eine Art Gewerbesteuer; 1800 wird eine Einnahme<br />

aus dem Brauhaus der Gemeinde verbucht)<br />

Giltgeld<br />

(Eine Steuer, die aufdie Person, nicht auf den Besitz<br />

bezogen war; also eine Art „Kopfsteuer“);<br />

Vom Gemeinde Faßelvieh<br />

Einnahme durch Verkauf des alten Faselochsens<br />

z. B. bzw. auch Deckungs- oder Sprunggeld)<br />

Wege-Geld<br />

(Das Recht, Wegegeld zu erheben, war verpachtet;<br />

deswegen tauchtejedes Jahr eine geiche Summe auf)<br />

Interesse<br />

(Zinseinnahmen aus Kapitalien, die die Gemeinde<br />

der Herrschaft geliehen hatte)<br />

Gelehnte Capitalien<br />

(Zinsen von Ortsbürgern, die bei der Gemeinde Geld<br />

geliehen hatten)<br />

Von Stipendiaten Geld Interesse<br />

(Es gab eine Stiftung, aus deren Erträge Stipendien<br />

für begabte Schüler aus dem Ort gezahl wurden; wurde<br />

es nicht zu seinem ursprünglichen Zwecke eingesetzt,<br />

gingen die entsprechenden Gelder in die Gemeindekasse)<br />

- Von der Gemeinde Dorn-Assenheim<br />

(Dorn-Assenheim nutzte einige Wiesen im <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

Ried für ihr Vieh; bekanntlich hatte Dorn-<br />

Assenheim keinen gemarkungseigenen Bach oder<br />

Fluß und damit nur wenig natürliches Gras- und Weideland)<br />

- Von urbar gemachten und verpachteten Stücken<br />

(Wer eine Wiese oder Weide trocken legte durch<br />

Drainage, der mußte eine Abgabe bezogen auf die<br />

Höhe des erwarteten Mehreinkommens bezahlen;<br />

außerdem hatte die Gemeinde eigene Wiesen und<br />

Felder, die sie z. T. verpachtete, wenn sie diese nicht<br />

als „Almend“ nutzen wollte. Als die Landwehr oder<br />

die Seen - der Große und der Kleine See sowie der<br />

Schützensee trockengelegt bzw. eingeebnet worden<br />

waren, war von den Bauern, die diese Flächen nutzten,<br />

Pachtgebühren bzw. z. T. Abgaben zu leisten)<br />

- Von verkauften Gemeindegras<br />

(Das Gras, Heu- und Grummet der Gemeindewiesen<br />

wurde verkauft).<br />

Der übliche „Zehnte“, die Abgabe eines festgelegten<br />

Teiles der Ernte oder des Arbeitsertrages, blieb hiervon<br />

unberührt. Auch Sonderabgaben zugunsten der Kirche,<br />

der Schulen und dergleichen kamen fürjeden Ortsbürger<br />

hinzu. So war die Aufforderung des Fürsten und der Nassauischen<br />

Kirche, ein solides Leben zu führen, jede Verschwendung<br />

zu vermeiden, voll verständlich: denn wer<br />

sein Geld „versäuft“, „verhurt“ oder verspielt, der kann<br />

all die Abgaben, die aufzubringen sind, nicht aufbringen<br />

- es sei, er setzt sein ererbtes Vermögen aufs Spiel!<br />

94


7. e) Veränderungen im Erscheinungsbild von Ort und Gemarkung<br />

Das 18. Jahrhundert hat <strong>Reichelsheim</strong> verändert:<br />

Wurden am Anfangjenes Jahrhunderts noch Schlagbäume<br />

errichtet, die Durchgänge der Landwehr damit verschlossen,<br />

so begann - bedingt auch durch die neuen<br />

Waffen, durch das neue Denken, durch neue Entdekkungen<br />

und Erfindungen - ein allmähliches Umdenken.<br />

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Einblick in die Kirchgasse.<br />

Bis 1665 eine der Hauptstraßen, seit ca. 1800 die Straße,<br />

durch die jeder Reicheisheimer anf dem Wege zum<br />

Friedhof nach seinem Tode getragen wurde.<br />

(Foto: Besitz der Familie Dörr).<br />

Es wurde schon berichtet, daß Fürst Schwarzburg-<br />

Sondershausen in seiner Zeit als Herrscher über <strong>Reichelsheim</strong><br />

das ummauerte Stadtgebiet durchbrach, in<br />

dem er sich außerhalb des Obertores ein angemessenes<br />

Anwesen errichten ließ. Andere machten es ihm bald<br />

iii'-l,<br />

I<br />

nach und stellten Antrag, „auf Erlaubniß, außerhalb<br />

dem Flecken vors Obertor zu baun“.<br />

Der Siebenjährige Krieg hatte noch deutlicher gemacht<br />

als alle Kriege seit dem Dreißigjährigen Krieg,<br />

daß die neue Artillerie mit alten dicken Stadtmauern keine<br />

großen Probleme mehr hat bzw. daß Landwehren<br />

schon gar keinen Schutz mehr boten.<br />

Was vordem undenkbar war, wurde um 1784 Wirklichkeit:<br />

Ein wichtiger Bereich des Gemeindelebens wurde<br />

vor die Stadtmauern verlegt: der Friedhof.<br />

Die Einheit von Leben und Tod, die über Jahrhunderte<br />

dadurch dokumentiert wurde, daß der „Totenhof“ der<br />

Gemeinde rund um die Kirche angelegt war, also mitten<br />

im Ort, diese Einheit war damit zerbrechen. Dies kam<br />

einer Revolution gleich, und wird gewiß nicht ohne erbitterte<br />

Diskussionen abgelaufen sein, denn es sei daran<br />

erinnert, daß früher nur die Mitmenschen v o r der<br />

Stadtmauer unter die Erde gebracht wurden, die wegen<br />

eines tatsächlichen oder angenommenen Verbrechens<br />

aus der Mitte der menschlich-christlichen Gemeinschaft<br />

verstoßen worden waren, die man also „ex-kommuniziert“<br />

hatte. Die aufrechten Mitglieder der Gemeinde<br />

hatten auf dem „Totenhof“ rund um die Kirche, die Mitglieder<br />

der Herrsehaftsfamilie sogar in derselben ihre<br />

letzte Ruhestätte und blieben somit wahrnehmbarer Teil<br />

des alltäglichen Lebens der Menschen des Ortes.<br />

Das Stadttor an der Kirchgasse hatte schon spätestens<br />

seit dem großen Brand des südlichen Ortsteiles im Jahre<br />

1668 seine Bedeutung an das Untertor am Amtshaus<br />

(heute Lehrerwohnhaus) südlich der Neugasse abgeben<br />

müssen. Wie in früheren Abschnitten erläutert, begannen<br />

hier am Untertor seit jener Zeit die Wege nach Florstadt<br />

und nach Dorn-Assenheim und von letzterem Ort<br />

weiter über Bauerheim nach Friedberg bzw. über Assenheim<br />

nach Frankfurt. Hinter dem Tor an der Kirchgasse<br />

95


waren Gemüse- und Obstgärten angelegt. Nun errichteten<br />

die <strong>Reichelsheim</strong>er ihren Friedhof vor der Stadtmauer<br />

- außerhalb ihres Lebensberciches. Diese Maßnahme<br />

stand gedanklich und zeitlich in Übereinstimmung mit<br />

den Verordnungen der Nassauischen Landesherrschaft,<br />

die zum Ziele hatten nicht zu sehr den Toten leidend<br />

nachzutrauern. _ l ,.« Q/Øif/l//'r'//Ä/-`).-'//41%/§'Ć„„_<br />

Eın weiteres Zeichen des neuen Denkens“ am Ende<br />

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des 18. Jahrhunderts betrafldie Landwehr. lm Hcssi- .../»«-„//›'/Ä›~›- 27,/j /.775<br />

schen Staatsarchiv (Darmstadt) fand sich aus dem Jahre , › :_ „ _ f " , ~ Y *_,<br />

1798 folgendes amtliehes Dokument: //7' Ø//yišfw/I ß<br />

_ ...:. ›í.`4....Ã:J/fl*/l<br />

Fürstliche Hofkammer W/'I ' V-r<br />

BH I ›„,~' nf-___ ä<br />

den Amtsverweser Schneider zu <strong>Reichelsheim</strong><br />

Auf Reg: Comm: Vom 23ten v.M. Das Gesuch der Gemeinde<br />

<strong>Reichelsheim</strong> um gnädigc Erlaubniß, die Landwehr<br />

und andere in ihrer Gemarkung gelegenen wüsten<br />

Plätze in Acker umphasten zu dürfen und um Erteilung<br />

der Zehntfreiheit und sonstigen Abgaben auf einige<br />

Zeit, betr.<br />

Nachdem Serinissimus der Supplicantischen (= antragstellenden<br />

/ untertänigsten) Gemeinde von der urbar zu<br />

machenden Länderei die gebetene Zehntfreiheit auf<br />

sechs Jahre in Gnaden erteilt haben: als wird der Amtsverweser<br />

davon mit der Auflage andurch benachrichtigt,<br />

dieser Zehnten Befreiung, mit jedesmaliger Benennung<br />

der urbar gemachten Districten und deren Flächeninhaltes<br />

von Jahr zu Jahr in der Rentei-Rechnung zu erwähnen.<br />

Den lten Julius 1798“<br />

96<br />

Schreiben. der furstlichen. Regierung an den<br />

Amtsverweser Schneider betr. des Baugesuches<br />

von Eberhard Vogt außerhalb vors Obertor<br />

2


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uı,..._....Ã-~<br />

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___” ___« um<br />

Gesamtansicht des vermutlich 1725 erbauten Anwesens<br />

„ Vor dem Obertor“, als Adelssitz der Familie<br />

von Trilitz erbaut (Aufnahme vor dem Ersten Weltkrieg)<br />

Die Landwehr (s. hierzu Skizze von L. Beier auf S. 27)<br />

wurde also „geschleift“, die Gräben durch den Wall verfüllt!<br />

Einige Hektar Ackerland wurden dadureh als landwirtschaftliche<br />

Nutztläche gewonnen, zog sich doch dieser<br />

alte Befestigungswall von Florstadt aus an Dorn-Assenheim<br />

vorbei bis zum Ortenberggraben, der Gemarkungsgrenze<br />

zu Weckesheim und Heuchelheim. Die<br />

überschüssige Erde des Walles wurde dazu genutzt, andere<br />

„wüste Plätze“ in der Gemarkung zu verfüllen: Der<br />

„Schützensee“, der „Große“ und „Kleine See“ waren auf<br />

der Gemarkungskarte von 1761 noch deutlich eingezeichnet.<br />

Mitte des 19. Jahrhunderts wurde nur festgestellt,<br />

daß die Flurbezeichnungen „Schützensee-Gewann“<br />

usw. „darauf hinweisen, daß dortselbst in früherer<br />

Zeit Seen gewesen sein mögen“.<br />

Die <strong>Reichelsheim</strong>er erreichten in ihren Eingaben, daß<br />

sie für diese urbar gemachten Flächen „Zehntfreiheit“<br />

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erhielten, also daß sie keine Ertragsabgaben machen mußten.<br />

1803, 1810 und 1815 wurde diese Zehntbefreiung jeweils<br />

neu beantragt und auch gewährt- ein Zeichen dafür,<br />

daß die Arbeit auf diesen Flächen zwar der der anderen<br />

Acker entsprach, nicht aber die Ernteerträge.<br />

Daß sich die <strong>Reichelsheim</strong>er um die Urbarmachung<br />

dieser „wüsten Flächen“ bemühten und der Fürst dies<br />

unterstützte, indem er Abgabenfreiheit gewährte, lag<br />

wesentlich daran, daß in jenen Jahrzehnten trotz der immer<br />

wiederkehrenden Seuchen und der todbringenden<br />

Kriege die Bevölkerung stark anwuchs. Erste Erkenntnisse<br />

im hygienischen und sanitären Bereich und vor allem<br />

neue Erkenntnisse der Medizin sorgten dafür, daß<br />

die Lebenserwartung der Menschen langsam anstieg.<br />

Wissenschaftler wie der Brite Robert Malthus (1766 bis<br />

1834) glaubten gar am Ende des 18. Jahrhunderts, daß es<br />

bald nicht mehr möglich sein werde, die Menschheit zu<br />

ernähren, da die Bevölkerung schneller wachse als die<br />

Nahrungsmittelproduktion auf der Erde.<br />

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8. Das 19. Jahrhundert<br />

a) Nassaus Aufstieg durch Napoleon<br />

Überall in Europa „knirschte es im Gebälk“. Schriftsteller<br />

und Dichter Deutschlands schrieben Freiheitsstücke,<br />

die in Inhalt und Form die alten Regeln „höfischer<br />

Dichtkunst“ sprengten. Goethe schrieb die Dramen<br />

„Goetz von Berlichingen“ und „Egmont“, Schiller<br />

ließ sich als Dichter von „Die Räuber“ (Untertitel: „Gegen<br />

die Tyrannis“) und „Kabale und Liebe“ feiern.<br />

Dem Absolutismus der adligen Herrschaft über ihre<br />

Untertanen wurde der Kampf angesagt; es wurde eine<br />

Anderung der Lebens- und Rechtsbedingungen des Bürgertums<br />

gefordert. Vor allem wurden Meinungs- und<br />

Pressefreiheit gefordert.<br />

Aus der neuen Welt waren zudem Nachrichten gekommen,<br />

die besagten, daß die dortigen Kolonisten sich<br />

gegen das britische Königsregiment erhoben, daß sie<br />

auch Erfolg in ihrem Kampf gehabt hätten, daß sie sich<br />

nun ohne König selbst regieren wollten - als demokratische<br />

Republik! 1789 kam es in Frankreich, dem symbolischen<br />

Sitz des Absolutismus, bedingt durch die schlechte<br />

Finanzlage des Staates, zur Wiedereinberufung der 1615<br />

zuletzt tagenden Generalstände. Der 3. Stand, das Bürgertum,<br />

sollte dieses Mal sogar so stark vertreten sein wie<br />

Geistlichkeit und Adel zusammen! Europa wartete gespannt<br />

auf das, was geschehen würde. _ .<br />

Überall herrschte Nervosität und Unruhe, Unzufriedenheit<br />

und Gereiztheit, gab es doch in den Städten und<br />

auch auf dem Lande seit der verheerenden Mißernte<br />

1788 großen Hunger, stiegen doch die Preise für Brot<br />

und andere Lebensmittel in Höhen, die nicht nur die Armen<br />

verzweifeln ließen. Und das nicht nur in Frankreich<br />

- auch in den deutschen Fürsten- und Herzogtümern war<br />

die Situation bedrohlich.<br />

„Was ist der 3. Stand'?“ fragte in Paris Abbe Sayez.<br />

Und er antwortete selbst mit einem einzigen Wort: „Allesl“<br />

Denn nur der 3. Stand sei in der Lage, sich allein zu<br />

ernähren, sich zu verteidigen, zu verwalten und Bildung<br />

zu vermitteln. Der Ruf nach „Freiheit - Gleichheit - Brüderlichkeit“<br />

aller Menschen wurde nicht nur am 14. Juli<br />

1789 dem König von Frankreich entgegengeschrien.<br />

Auch in unseren Städten und Landstrichen gab es die<br />

Forderung nach „Emanzipation“, also nach Entlassung<br />

aus der Abhängigkeit. Zu Unruhen kam es an den nahe<br />

gelegenen Universitäten Gießen und Marburg - Unruhen,<br />

getragen von den Studenten, aber zum Teil auch unterstützt<br />

von den Handwerkern jener Städte.<br />

Die fürstlichen Herrschaften waren aus Angst vor<br />

„französischen Verhältnissen“ durchweg „antirevolutionär“.<br />

Der vor der Guillotine geflüchtete Adel Frankreichs<br />

wurde deswegen gastfreundlich aufgenommen.<br />

Der Versueh der mit ihnen Verbündeten deutschen Heere,<br />

die Revolution im Nachbarland militärisch zu stoppen<br />

bzw. zu beenden, scheiterte im September 1792 kläglich<br />

(„Kanonade von Valmy“).<br />

Seitdem herrschte allerdings in Frankreich „Vorwärts-<br />

Stimmung“. Noch im gleichen Jahr besetzten die Revolutionsarmeen<br />

Frankfurt und auch Mainz.<br />

Die Herrscher der Fürstentümer Nassau-Weilburg<br />

und Nassau-Usingen schlossen sich ängstlich Frankreichs<br />

Gegnern an, wurden doch von Eroberern wichtige Teile<br />

ihrer Fürstentümer (zwischen Rhein und Mosel) in dem<br />

Bestreben besetzt, den Rhein von Basel bis Koblenz<br />

„endlich“ zur tatsächlichen Grenze Frankreichs zu den<br />

deutschen Fürstentümern werden zu lassen.<br />

Adalbert, Bischof und Abt von Fulda bestätigen<br />

dem „Durchlauchtigsten Fürst Herrn Carl Wilhelm,<br />

Furst zu Nassau“ usw. die Erbleihe an der Hälfte<br />

des Dorfes <strong>Reichelsheim</strong>. (Dieses war die letztrnalige<br />

Erbleihebestatigung vor der Säkularisation)<br />

98


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Für die Bewohner des nassauischen Amtes <strong>Reichelsheim</strong><br />

hatten die Kriege bald spürbare Folgen: Die<br />

Kriegskosten des Fürstentums mußten auch die hiesigen<br />

Bürger mittragcn, wie Rechnungen aus dem Jahre 1793<br />

belegen. Außerdem mußten auch die <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

verstärkt Heeresdienst leisten, und das sollte für die<br />

kommenden zwanzig Jahre „zur Gewohnheit“ werden.<br />

Junge Burschen aus unserem Ort wurden eingezogen,<br />

gedrillt und dann entweder unter nassauischem Kommando<br />

oder unter dem eines gut zahlenden Verbündeten<br />

in den verschiedensten Winkeln Deutschlands und Europas<br />

in den Kampf geschickt.<br />

Weil sich die Staaten Deutschlands im Kampf gegen<br />

Frankreich nicht verbündcten - zu sehr waren Preußen<br />

und Österreich noch durch die Politik um die Vorherrschaft<br />

in Deutschland verfeindet -, konnte sich das revolutionäre<br />

Frankreich ohne große Gefahr nach Osten ausdehnen.<br />

Doch der mittlerweile herrschende Napoleon<br />

versuchte, aus seinen Feinden abhängige Freunde zu machen:<br />

Unter seinem Einfluß wurden die geistlichen Fürstentümer<br />

sowie die Bcsitztümer der Klöster aufgelöst<br />

und den weltlichen Fürstentümern, die an Frankreich<br />

Gebiete abtreten mußten, zur Entschädigung übereignet.<br />

1801 wurden sich auch die Fürsten von Nassau-Usingen<br />

und Nassau-Weilburg mit Napoleon in Paris einig:<br />

Bedeutende Teile des Erzbistums Mainz wurden gewonnen,<br />

so z. B. Höchst, Kronberg, Trier und Limburg/L.<br />

Um diese geographische Neuordnung „reibungslos“<br />

für die neugewonnenen katholischen Untertanen im<br />

evangelischen Nassau abzuwickeln, wurde der noch immer<br />

bestehende „Religionsbann“ aufgehoben: Die alte<br />

Idee der Einheit von weltlichem Staat und religiösem Bekenntnis<br />

wurde damit Teil der Geschichte. Die Freiheit<br />

der Religionsausübung, die Glaubensfreiheit, wurde<br />

offiziell weitestgehend Wirklichkeit.<br />

Die Aufhebung des Religionsbannes in Nassau machte<br />

es dann auch möglich, daß im Rahmen des „Reichsdeputationshauptschlusses“<br />

das dem Grafen Schönborn gehörende<br />

Dorn-Assenheim zum nassauischen Amt <strong>Reichelsheim</strong><br />

geschlagen wurde, so daß nunmehr dem Amt<br />

<strong>Reichelsheim</strong> zwei Dörfer unterstellt waren: eben <strong>Reichelsheim</strong><br />

und Dorn-Assenheim. Die Nassauer verfügtcn<br />

damit über eine ausgedehntere Kornkammer in der<br />

goldenen Wetterau!<br />

In diesen Maßnahmen zur Neuordnung Deutschlands<br />

wurde der Wille Napoleons deutlich, nicht nur die geistlichen<br />

Fürstentümer zu „säkularisieren“, sondern auch die<br />

kleinen und kleinsten Grafschaften zu „mediatisieren“.<br />

Somit entstanden kompaktere Mittelstaaten im Westen<br />

Deutschlands, die handlungsfähig und wirtschaftlich<br />

stärker sein sollten, die aber Frankreich als einzelne<br />

nicht gefährlich werden konnten.<br />

Die Nassauer erhielten noch eine weitere Erhöhung:<br />

Unter der Voraussetzung, daß sich die zwei nassauischen<br />

Fürstentümer Nassau-Weilburg und Nassau-Idstein „für<br />

alle Zeiten“ vereinigten, wurde ihnen die Herzogswürde<br />

verliehen. Der jeweilige Herzog von Nassau führte nun<br />

gar die „Fürstenbank“ der adligen Reichststände an -<br />

eine Auszeichnung, die schmeichelte.<br />

Napoleon hatte aber mit diesem sogenannten Reichsdeputationshauptschluß<br />

von 1803 und mit seinen anderen<br />

Entscheidungen nicht nur Gefälligkeiten verteilt.<br />

Vielmehr verlangte er Wohlwollen Frankreich gegenüber<br />

- und zwar mehr Wohlwollen ihm gegenüber als „jenem<br />

deutschen Kaiser“ im fernen Wien!<br />

Und drei Jahre später leitete er den nächsten Schritt<br />

ein, der Deutschland verändern sollte: Nach einem erneuten<br />

Krieg Österreich-Ungarns gegen Frankreich, wobei<br />

die süddeutschen Staaten sich nicht mehr zu einem<br />

Bündnis gegen Frankreich entscheiden konnten, wurde<br />

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ınçıterçn änfaåeııü ban nad) ıeııcı' flanbeßmdmšımıg bc: bıßben e unter dnrb åmifd›,n1N_1lııferμ bcıben<br />

íšurftlıdgrn 21 n rfiııgíıcıçııııb fllšcılbgırg non ist ftgaurnıiren, an non ıııgerıı f mmtlidnn beıbcríıcitıgvn<br />

flan efiftçílen nur a an baü âßrábıcatz e getan! ı d› mn ga ıı _tf , šıebraııdn nm-nen fu _<br />

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der „Rheinbund“ gegründet, ein Staatenbund süddeutscher<br />

Staaten unter Vorherrschaft Frankreichs. Diese 16<br />

süd- und westdeutschen Staaten, unter ihnen das „Herzogtum<br />

Nassau“, sagten sich von dem „Heiligen Römischen<br />

Reich Deutscher Nation“ los - worauf Kaiser<br />

Franz Il. die KaiseıNkrone dieses alten deutschen Reiches<br />

niedcrlcgte. Ein Deutschland unter einer einheitlichen,<br />

wenn auch sehr lockeren Führung gab es damit nicht<br />

mehr, und damit hatte eine lange, z. T. ruhmreiche Epoche<br />

deutscher Geschichte ihr Ende gefunden.<br />

Zugleich bastelte in Frankreich Napoleon am Entstehen<br />

eines neuen „Römischen Reiches“ - unter Vorherrschaft<br />

seines Landes, seiner Person.<br />

Für Napoleon ergab sich durch die Schaffung des<br />

Rheinbundes unter seiner Vorherrschaft die „Möglichkeit,<br />

auf ein wichtiges militärisches Reservoir für künftige<br />

Feldzüge zurückgreifen zu können“ (s. „Die Chronik<br />

Hessens“, S. 200). „l806 werden auch Nassauer für den<br />

Krieg gegen Preußen mobil gemacht“ (ebenda).<br />

Bis 1814 gab es nun auch in <strong>Reichelsheim</strong> eine ständige<br />

Rekrutierung von jungen Leuten für die Eroberungskriege<br />

Napoleons in ganz Europa. Sie wurden in den Niederlanden<br />

und in Spanien, in Rußland und in Österreich<br />

eingesetzt - sie wurden gar noch gegen die verbündeten<br />

Heere Deutschlands eingesetzt, als diese sich im Herbst<br />

1813 in der „Völkerschlacht bei Leipzig“ gegen den Kaisergeneral<br />

aus Frankreich zu befreien suchten.<br />

Doch es gab nicht nur kriegerische Geschehnisse und<br />

Ereignisse. Auch andere Entscheidungen jener Zeit beeinflußten<br />

das Leben der Menschen im Amte <strong>Reichelsheim</strong><br />

ganz entscheidend: Zum 1. Januar 1806 verkündete<br />

der Herzog von Nassau durch französischen Einfluß die<br />

Aufhebung der Leibeigenschaft, und beendete damit ein<br />

unrühmliches Herrschaftskapitel aus den Zeiten des Mittelalters.<br />

Auch setzte er eine moderne Steuerreform im<br />

Jahre 1809 durch, die „die Gleichheit der Abgaben und<br />

Einführung eines neuen direkten Steuersystems in dem<br />

Herzogtum Nassau“ zum Ziele hatte.<br />

Hauptziel dieses Steuerreform-Gesetzes war allerdings<br />

nicht nur eine wesentliche Vereinfachung des bisherigen<br />

Steuereinnahme-Systems; auch sollte sie nicht<br />

nur einer größeren Steuergerechtigkeit ermöglichen.<br />

Die Steuerreform hatte auch die Aufgabe, wie der Herzog<br />

Friedrich August und sein Mitregent Fürst Friedrich<br />

Wilhelm in der Einleitung des Gesetzes ehrlicher Weise<br />

äußerten, die Steuereinnahmen zu erhöhen:<br />

„Wir haben Uns, in Erwägung, daß durch den langwierigen<br />

schwierigen Krieg und die dadurch veranlaßte<br />

gänzliche Umänderung der äußeren und inneren Staatsverhältnisse,<br />

die Staatsbedürfnisse in unserem vereinigten<br />

Herzogtum teils vorübergehend, teils bleibend gestiegen<br />

sind“, entschieden, „ . . . ein neues System der direkten<br />

Besteuerung einzuführen, das mit gleiehheitlicher<br />

Anziehung aller einzelnen Untertanen nach Verhältnis<br />

ihrer Kräfte den Charakter der Einheit und Einfachheit<br />

verbindet...“ (s. Archiv der Stadt <strong>Reichelsheim</strong>, hier:<br />

„Verordnungsblatt des Herzogthums Nassau, Jg. 1809).<br />

Auszug aus der „Landesherrlichen Verordnung<br />

die Gleichheit der Abgaben und Einfı`t'hrun.g<br />

eines neuen direkten Steuersystems in dem<br />

Herzogthum Nassau betreffend“<br />

Die Steuerreform sollte also zwar „gerechter“ die Lasten<br />

verteilen; insgesamt hatte sie aber eingestandenermaßen<br />

vorrangig die Aufgabe, dem Staat höhere Einnahmen<br />

zu verschaffen. Die Einwohner von <strong>Reichelsheim</strong><br />

werden dem Verzweifeln nahe gewesen sein: Neben<br />

den immer wieder steigenden Beteiligungen an den<br />

Kriegskosten („Kontributionen“), neben der Tatsache,<br />

102


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fiätnnttbebürfııitte bie groben llııgleiehheiteıı uııb Øebrenheıı; nıeiehr in benmnnniih'<br />

faltigm Qibgaben uııb ätruerfılirn ber-bertrhíebenen fμııbetthrile liegen, noch bitteren--<br />

brr fiir benfiiiıtetıırııi unb noch nnıhtheiligrr file ben tlßohitlanb ber Qietaıiimtheit<br />

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iietieuernııg bet reinen ßlntemnıenø. §. i. " _<br />

werben, alt bieteø in trılherenímerhåtinitteıı bertiatt geııieten iti; -› non ber briııgenben<br />

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unb _ltntrrthanen_ im fllierbåltn-in gegen aııberc eııtltaııbrrı flnb. . -<br />

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1) išılr bie išrbibwte .ber ëtantßflenerıı. §. 6. ` ' ' ' ' «Q e tt; r. tät ib trh n tt vt.<br />

b) äılr bie Erhebung aller bireeren ääeitrâneıu ner'nein'nı1ninen Qmecfen. 5. 7,<br />

N ~ Qtttgıniiiıíel tläıtiiiníıiiınnın' ıibıè bie ßtniirdautlngm. -' - f' -<br />

am uns Qapml' I ßcfvnbm mm"-nmungm -um møıunb Ü 'un' ' " `§. 1. töıfletıerung bee ri_i'mn_ı!in|'ommını ) :bie ßtantebebıirfnittei ln te mit<br />

ëteuerburetäegentlåııbe. §. 3. I<br />

e tilnennhmenbanoıı. 5. 9. _<br />

itiorbehair tıinttiger' näheren äåetiímrnunn.. 5. ru.<br />

btltgenıeiner äiertheiiungefufi. §. ıı. N<br />

Steuer-ënpital unb ëimptnını N ~ _<br />

a)!'13bıı fëirunbfltltfriı. §.i2. ' 1 ›<br />

b) Elton eirnııbflàdieıı ber tßebåube. N5. 13. _<br />

ßırerhnung bei ëreueıw ëanitaie. .§. 14. „<br />

einrichtung ber ëinretieuer: _ _ _ . _ _<br />

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b) Pllvnbem Siflbflbrr bei @_i_1_t$_ fılıj alle _biir'at1f battenbe eingeben) mit ßerbebe<br />

bei`triıterne_ifie._ §. ie." _ __ `_ ' “N 1 NN<br />

ßeitiebungeart: 'N _ _ 4; _ _<br />

1) Eier Qemporqt-fbaıbtqbnabm' §._ 11. _<br />

2) bei Behnten. §. 19. _ _' N<br />

3) 53“ ißttfliiıen (Beib- ıınbittntnrnlnbenben:<br />

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th nicht bnreh eiııiiiııftr aus ben ßiantenüierıı ıınb iRenntien_ gebiet: flnbf fetten bnrıh<br />

ßrttenetuııg bee _relneııN@inl'e›.mınen6 tiııtercr tlnterthemen abfnebrarht reerbeıı. .<br />

§. 1. (tiiıirhbıltlidıeo Betrrngwerbåltniß, nach Qlufhıbung ber biøbrrigın -Eee<br />

freiunnevorrerhre.) Bu beríhritımhme an bieten ëtaaieauflnnrn teil in 3ı|ıtııntt berategıtıınen,<br />

unb teniet etmbgiid) tft, eine iıbr ttri bee reinen eıııtonımrni in nteıehheıttn<br />

Rhein fllerhåttnib beígrtonen inerben. _ '<br />

Qinigebtuennhnirn bon ibíeter biegen metqhe Uni entmeber in bee üiatnr ber ëeıhe<br />

gigrıtnbrt, aber auch hem beabllehtinten ßmeef ber- Qrleiehternııg beß bertiålııiiıniifiig tu<br />

tehr betehnieı-t_en_ Eheitsttııterer tlnterthaneni unb_ber .ßeíbrbırıııın bee btteııilırhen<br />

ttßehltianbeei unııaehtheiiigerteheiııeıı, werben wir aus aıtbeimeit ılberiniegenben (Britnben<br />

inteitteni unb in ber tibtge-'bei ben nnrtenınıeııben 'eintelııeıı Øetıeltllållbifl t1»\m=t1f=<br />

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daß immer wieder junge Leute eingezogen wurden, die<br />

als Arbeitskräfte auf dem Hofe oder in der Werkstatt<br />

fehlten, wurden jetzt auch noch die Steuern für die meisten<br />

Ortsbürger erhöht! In einer Beziehung war diese<br />

Steuerreform, die 1812 noch einmal „umgemodelt“ wurde,<br />

für die Menschen des einfachen Volkes erfreulich:<br />

die völlige Steuerfreiheit des Adels wurde abgeschafft!<br />

Ein Edikt vom 6. Januar 1810 sollte die Menschen den<br />

Glauben an eine bessere, gerechtere, an eine menschlichere<br />

Zukunft aufkommen lassen:<br />

Die seit der Vereinigung der zwei Fürstentümer Nassau-Weilburg<br />

und Nassau-Usingen gemeinsamen Regenten<br />

Friedrich August (= Herzog) und Friedrich Wilhelm<br />

(= Fürst) bestimmten, daß „vom Tage der Publikation<br />

der gegenwärtigen Verordnung an, ... die Anwendung<br />

von Stockschlägen. Peitsehenhieben, Rutenstreichen<br />

und ähnlichen körperlichen Züchtigungen, als Corrections-<br />

oder Erziehungsmittel gegen erwachsene Personen<br />

beiderlei Geschlechts. allen geistlichen und weltlichen<br />

Gerichtsstellcn, Polizei- und Forstbehörden in Unserem<br />

vereinigcten Herzogtum gänzlich untersagt“ ist<br />

(s. Archiv der Stadt <strong>Reichelsheim</strong>, Verordnungsblatt<br />

des Herzgtums Nassau, Jg. 1810). Nach dieser Verordnung<br />

verschwand wohl auch der Pranger am Rathaus in<br />

<strong>Reichelsheim</strong>, der bis dahin diejenigen dem Spott der<br />

Mitmenschen ausgesetzt hatte, die z. B. bei ihren Marktgeschäften<br />

versucht hatten, zu schummeln oder zu betrügen,<br />

oder die ihre Zunge „nicht im Zaume hatten halten“<br />

können. Für Kinder und Jugendliche galt dieses Verbot<br />

der Prügelstrafe allerdings ausdrücklich nicht _ . _<br />

1809: Wieder führte Napoleon gegen Österreich<br />

Krieg, wieder wurden die nassauischen Amter aufgerufen,<br />

dem französischen Kaiser-General Hilfsleistungen<br />

in Form von Menschen und Nahrungsmitteln zu erbringen.<br />

Wie sehr der Herzog von Nassau sich Frankreich in<br />

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Re1`chelsh_et`m in der Wetterau 1826.<br />

(Nach einer Bleistiftzeichnung von F. M. Heßemer)<br />

jenen Jahren verbunden fühlte bzw. wie sehr er das<br />

Schicksal seines Hauses mit dem Frankreichs verbunden<br />

sah, zeigen Verordnungen im Zusammenhang mit dem<br />

wechselnden Kriegsglück Napoleons: Nachdem im Mai<br />

104


1809 der österreichische Erzherzog Karl Napoleon bei<br />

Aspern besiegen konnte, wird auch in <strong>Reichelsheim</strong><br />

durch den Ortsbüttel ausgerufen, daß „das Verbreiten<br />

falscher und beunruhigender Kriegsnachrichten“ von<br />

allen Amtsobrigkeiten „jedesmal unverzüglich zur<br />

strengen Verantwortung zu ziehen und nach Befinden<br />

der Umstände empfindlich zu bestrafen“ sei (Archiv<br />

der Stadt R., „VO-Blatt des Herzogtum Nassau“,<br />

Jg. 1809).<br />

Als sich allerdings das Kriegsglück gewendet hatte und<br />

die Österreicher im Oktober 1809 in Wien doch zum<br />

Frieden durch Napoleon gezwungen worden waren, fordert<br />

der Herzog von Wiesbaden aus alle Untertanen der<br />

nassauischen Ämter auf, eine „Feyer des Friedensfestes“<br />

am 10. Dezember 1809 zu begehen. Damit die Feiern in<br />

seinem Sinne verlaufen mögen, gab er den Pfarrern auch<br />

noch durch Verordnung bekannt, welche Gedanken sie<br />

ihrer Predigt zugrunde zu legen hätten:<br />

„Ieh weiß wohl, was ich für Gedanken über Euch habe.<br />

. (Jeremia 29, Verse ll bis 14).<br />

Auch zwei weitere Verordnungen mußten die <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

zur Kenntnis nehmen: „Von der französischen<br />

Gesandschaft zu Frankfurt ist die Anzeige gemacht<br />

worden, daß.. _ mehrere Einwohner aus dem Departement<br />

auswandern, um sich in die Krim zu begeben.<br />

. Diese seien, so sie auf der Durchreise hier gesehen<br />

würden, sofort zu arretieren und den französischen<br />

Behörden auszuliefern!<br />

Auch die Verordnung des Herzogs von Nassau betref`fend<br />

der Desertation junger Leute aus seinem Herrschaftsgebiet,<br />

die Androhung schwerster Strafen, der<br />

Einzeihung des gesamten „anteiligen Vermögens“ macht<br />

deutlich, daß kein großer Jubel über die Kriege auf seiten<br />

der Menschen in den verschiedenen Ämtern des Herzogtums<br />

geherrscht haben mag. Da anscheinend die örtlichen<br />

Ämter dem Befehl nur zögernd nachkamen, der<br />

herzoglichen Verwaltung die „Verzeichnisse über das<br />

confiszierte Vermögen der Deserteure“ einzusenden,<br />

wurden sie mehrfach in strengem Ton daran erinnert.<br />

Auch wird befohlen, das „anerfallene liegende Vermögen<br />

derselben zu einer gelegenen Zeit und allenfalls gegen<br />

terminweise Zahlung meistbietend zu versteigern“<br />

(Archiv der Stadt <strong>Reichelsheim</strong>, VO-Blatt des Herzogtum<br />

Nassau, Jg. 1812).<br />

Selbstverständlich war das Leben hier in <strong>Reichelsheim</strong><br />

nicht nur von Krieg und Steuern geprägt. Das Leben hatte<br />

auch seinen Alltag. Aber auch zu dem Alltag finden<br />

sich im Archiv der Stadt Verordnungen, die für uns heute<br />

das Leben der damaligen Zeit verdeutlichen können:<br />

1809 wird rigoros „die Abschaffung der Strohdächer“<br />

verordnet. Es darf keinem „Untertan die Anlegung neuer<br />

Gebäude gestattet werden, wenn sich dieselben nicht<br />

ausweisen können, daß sie zur Anschaffung eines Schiefer-<br />

oder Ziegeldaehes im Stande sind“.<br />

Eine jährlich wiederkehrende Verordnung betrifft die<br />

„Abraupung der Bäume“. Jene aus dem Jahre 1810 lautet:<br />

„Nachdem man wahrgenommen, daß die Raupen<br />

überhand zu nehmen scheinen, und daher an den Obstbäumen,<br />

wie auch den Garten- und Feldfrüchten, ein<br />

großer Schaden zu besorgen stehet, als hat man zu verordnen<br />

für nötig gefunden, daß alle Eigentümer und<br />

Pächter liegender Grundstücke schuldig und gehalten<br />

seyn sollen, die Bäume, Hecken und Gesträuche in ihren<br />

Grundstücken so wie diejenigen, welche die benachbarten<br />

Wege und Fußsteige begränzen, abzuraupen oder abraupen<br />

zu lassen, dergestalt, daß sie die Raupen und Gespinnste<br />

oder Raupennester zu verbrennen und hierbey<br />

die nötige Vorsichtsmaßregeln zur Vermeidung der Feuergefahr<br />

anzuwenden haben.<br />

105


Zu dieser notwendigen Abraupung wird ihnen für dieses<br />

Jahr der lste April zum termino a quo (= bis zu welchem<br />

Zeitpunkt die Maßnahme durchzuführen ist) bestimmt,<br />

für die Zukunft aber muß sie schon vor dem<br />

1. März geschehen, und diejenigen, welche sich hierunter<br />

saumselig finden lassen sollten, sind nicht allein in<br />

eine Strafe von sechs Gulden zu nehmen, wovon dem<br />

Denunziant 1/3 zuzuweisen ist, sondern es soll auch das<br />

Abraupen von dem Ortsvorstand auf Kosten der Nachlässigen<br />

veranlaßt werden . .<br />

Die Frage der Bekämpfung des Ungeziefers hatte also<br />

existentielle Bedeutung, wenn man bedenkt, daß der<br />

Denunziant mit 1/3 des Strafgeldes des ertappten Nichtstuers<br />

belohnt wurde.<br />

Ähnliche Verordnungen betrafen immer wieder die<br />

Sperlinge und die Mäuse. Jeder Ortsbürger war aufgefordert,<br />

eine bestimmte Zahl „von Köpfen“ abzuliefern<br />

(„In allen Gegenden und Orten, wo die Vermehrung der<br />

Sperlinge auf den Feldbau und dessen Erzeugnisse nachteilig<br />

wirkt, werden . _ . die einsehlagenden oberen Polizei-Beamten<br />

angewiesen und ermächtigt, jedem Einwohner<br />

anzubefehlen. zu bestimmten Fristen eine nach<br />

der Größe des Übels. . _ zu ermessende Quantität Sperlings-Köpfe<br />

zu liefern oder fürjeden fehlenden Kopfeine<br />

Geldabgabe zu bezahlen“ - s. Verordnungsblatt des Herzogtums<br />

Nassau, Jg. 1812).<br />

Doch noch anderes machte den Menschen Sorgen,<br />

weswegen die Obrigkeit reagieren mußte. Eine Verordnung<br />

aus dem Jahre 1816 lautet:<br />

„Nach höchster Genehmigung ist das Schußgeld von<br />

einem erlegten männlichen so wie von einem jungen<br />

Wolf auf 15 und von einer ausgewachsenen Wölfin auf 22<br />

Gulden erhöht worden. . (Archiv der Stadt <strong>Reichelsheim</strong>,<br />

VO-Blatt des Herzogtums Nassau, Jg. 1816).<br />

Die Zeit Napoleons ging zu Ende, nachdem er den<br />

Krieg gegen die unendlichen Weiten Rußlands und den<br />

wachsenden Widerstand der anderen Völker verloren<br />

hatte. Die fürchterlichen Verluste bei den deutschen<br />

Hilfstruppen, das Nichtendenwollen des Blutvergießens<br />

führten schließlich bei den Menschen in den Städten und<br />

Dörfern, aber auch bei denen in den Palästen zu einem<br />

Bewußtseinswandel. Ausgehend von Preußen begann<br />

der Wille „zur Befreiung“. Diese wurde eingeleitet durch<br />

die erfolgreiche „Völkerschlacht bei Leipzig“ (16. bis 19.<br />

Oktober 1813). Die Untertanen Nassaus mußten zwar<br />

noch auf Seiten Napoleons gegen die Preußen und Österreicher<br />

und deren Verbündeten (Bayern, Sachsen, Russen,<br />

Schweden usw.) kämpfen, weil ihr Herzog noch<br />

nicht bereit war, die Fronten zu wechseln. Doch die Niederlage<br />

Napoleons bedeutete die Wende: Am 23. ll.<br />

1813, kurz vor Eintreffen des siegreichen preußischen<br />

Heeres im Rhein-Main-Gebiet sagte sich der Herzog<br />

vom Rheinbund los und wandte sich den verbündeten<br />

deutschen Fürsten zu.<br />

Das lange Festhalten am Bündnis mit Napoleon hätte<br />

fast dazu geführt, daß das Herzogtum Nassau aufgelöst<br />

und die Ländereien Preußen zugeschlagen worden wären.<br />

Nur der alte, nun - nach dem Sieg über Napoleon -<br />

wieder aufkeimende Dualismus zwischen Österreich und<br />

Preußen um die Vorherrschaft im ehemaligen „Heiligen<br />

Römischen Reich Deutscher Nation“ rettete vorerst<br />

noch einmal das Bestehen dieses alten Herrscherhauses.<br />

Somit kam es auch nicht, wie bereits geplant, dazu, daß<br />

„Verordnungen und Bekanntmachungen<br />

Herzoglichen Staats-Ministeriums<br />

und der demselben unmittelbar<br />

subordinierten Behörden.<br />

(Die Abraupung der Bäume,<br />

Hecken und Gesträuche betr.) “<br />

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Qlrmrcrıı aufgegeben ı fiir- Deren pıiıíftlicbø ßoflgiebung-§11 fñrgeıftı ` '<br />

„ı`Raı1›bem wahrgenommen roorbem--baâ Die Elftaupeıı abermaIfi'l'eb'r ıílmt)=anl›'g1ı netimen fıfiiiß-<br />

„nen , uno naher an nen bbflbåumcm mic aud; an benwiırteıı- unn Ešelbfnılcbten ein g_rnšer.'flflfl† ßrffibflføı uıihlraben ße bi-e-'êaunıfeligen mir einen unııadμ-<br />

„lälliaffl @š!rufe~~nı›n 6'112« AU'l=ffmm› ıımon b'er= benuniidntr 1/fr a¬I6.'8eli›!mung-.erlialtm fnllıuııbr<br />

~„íl`f'-løbànn wu ben Dírtánorñànëen traß-üıbrcuıpen' auf~5fr›{Ien tr«-ri âlamldfflgınf ofımiieıiıigiirb ııı-<br />

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8. b) Vom Untertan zum politischen Bürger<br />

Ein moderner Staat muß versuchen, daß die Menschen<br />

des Staatsgebietes in geordneter Form zusammenleben<br />

können. Deswegen muß es Gesetze geben, Verordnungen,<br />

von allen anerkannte Gewohnheitsregeln. Doch das<br />

bedeutet nicht „Statik“ oder Unbeweglichkeit.<br />

Die Zeit der napoleonischen Herrschaft hat Deutschland<br />

verändert. Nicht nur neue Staatsgrenzen waren gezogen<br />

worden. Die Gesetze, beeinflußt von den Ideen<br />

der Aufklärung, der Französischen Revolution und damit<br />

auch von den Ideen der Menschen- und Bürgerrechte<br />

wurden bedeutend für einen immer größer werdenden<br />

Teil der Menschen und ihren Alltag. Und dies führte zu<br />

zum Teil radikalen Änderungen in den Rechtsgrundlagen,<br />

die das Leben bestimmten:<br />

Nassau hob z. B. 1819 die Zunftordnungen auf, führte<br />

also endgültig die Gewerbefreiheit ein, was - wie auch in<br />

anderen Staaten - einer gesellschaftlichen Revolution<br />

gleichkam, wurde doch damit das aus dem Mittelalter<br />

stammende Wirtschaftssystem der regionalen Selbstversorgung<br />

abgelöst. Nun konnte sich auch in <strong>Reichelsheim</strong><br />

jeder Handwerker niederlassen, ob dies den anderen<br />

Meistern der gleichen Berufgruppe paßte oder nicht!<br />

Manch ein Geselle eröffnete seine eigene kleine Werkstatt<br />

und wurde möglicherweise zum „meisterlichen<br />

Konkurrenten“ seines ehemaligen Meisters. Und manch<br />

ein geschäftstüchtiger Meister stellte nun mehr Gesellen<br />

ein, als dies zuvor von seiner Zunft erlaubt worden wäre.<br />

Um durch die Gewerbefreiheit auch wirklich die durch<br />

die lange Kriegszeit und die damit verbundenen hohen<br />

Abgaben geschwächte Wirtschaft wieder anzukurbeln,<br />

erließ Herzog Wilhelm zum 1. Juli 1819 zusätzlich „Gesetzliche<br />

Vorschriften die Dienstverhältnisse des Gesindes<br />

und der Handwerks-Gehülfen betreffend“ (s. Archiv<br />

der Stadt <strong>Reichelsheim</strong> „Verordnungsblatt des Herzogtums<br />

Nassau“, Jg. 1819). Die Regelungen der Dienstver-<br />

hältnisse brachten vor allem den Dienstherren bzw. den<br />

Handwerksmeistern Vorteile, weniger dem Personal;<br />

doch war immerhin eine grobe einheitliche Rechtsregulierung<br />

geschaffen worden. Interessant ist, daß der<br />

Dienstvertrag zwischen Meister und Geselle bzw.<br />

Dienstherrn und Gesinde als „Mietvertrag“, das Einstandsgeld<br />

als „Mietgeld“ bezeichnet wurde. Die Höhe<br />

der „bestimmten Belohnung der Dienste“ wurde nicht<br />

per Gesetz oder allgemeiner Festlegung bestimmt (schon<br />

gar nicht durch eine Art Tarifvertrag), sondern „in freier<br />

Übereinkunft“ festgelegt. Neben der Gewerbefreiheit<br />

sollte also auch die Vertragsfreiheit im Arbeitsleben Bedeutung<br />

erhalten, was sich allerdings aus der Sicht der<br />

Arbeitnehmer nur für jene Zeiten als recht gut herausstellen<br />

sollte, in denen wirkliche Knappheit an Arbeitskräften,<br />

an Gesinde und Gesellen, bestand. Die Dauer<br />

des Dienstvertrages beim Gesinde war zudem kurz: „Bei<br />

Gesinde“, so heißt es in der genannten gesetzlichen Verordnung<br />

des Herzogs, „welches zu häuslichen Diensten<br />

gemietet ist, auf ein Vierteljahr, bei demjenigen, welches<br />

zu landwirtschaftlichen Diensten angenommen worden,<br />

auf ein ganzes Jahr erachtet. Der Anfang und das Ende<br />

der Mietzeit wird im ersten Fall auf Weihnachten,<br />

Ostern, Johannistag, im letzteren Fall auf Weihnachten<br />

angenommen.“<br />

Das Leben einer Magd, eines Knechtes oder eines Gesellen<br />

war also sozial recht ungesichert. Die „Launen“<br />

der Dienstherren bzw. der Meister konnten schnell dazu<br />

führen, daß man bald wieder auf der Straße saß. Da man<br />

jeweils ein Zeugnis seines Dienstherrn benötigte, das zudem<br />

der Ortsschultheiß zu beglaubigen hatte, war man<br />

als Gesinde oder Geselle sehr auf das ständige Wohlwollen<br />

des „Mieters“ angewiesen.<br />

Doch die „neue Zeit“ brachte nicht nur Erschwernisse<br />

für die Gesellen und das Gesinde. Auch das Handwerk<br />

108


litt in jener Zeit. „Veraltete Produktionsmethoden, Verarmung<br />

und eine hohe Zahl von Kleinmeisterbetrieben<br />

kennzeichneten allgemein das Handwerk... Besonders<br />

betroffen waren die ›Massenhandwerke< der Schuhmacher<br />

und Schneider. Teuerungskrisen, aber auch wachsende<br />

Konkurrenz durch großgewerblich-frühindustrielle<br />

Betriebe und durch Kaufleute drückten die Kleinmeister<br />

unter die Armutsgrenze. Insbesondere in der 1819<br />

eingeführten Gewerbefreiheit sahen die meisten nassauischen<br />

Handwerker die Ursache allen Übels“ („Nassaus<br />

Beitrag für das heutige Hessen“, S. 51).<br />

Die jungen Männer oder Familienväter zog es deshalb<br />

immer öfter in die Fabriken der Städte, nicht bloß in die<br />

Nassaus (Dillenburg, Höchst z. B.), sondern auch die der<br />

anderen deutschen Staaten - oder gar in fremde Länder,<br />

jeweils hoffend, in der Fremde das „Glück zu machen“<br />

oder zumindest den Lebensunterhalt für sich und die Familie<br />

verdienen zu können. Aus jener Zeit, 1837, haben<br />

wir einen Kirchenbucheintrag des Pfarrers Funkel. Er<br />

schreibt über eine solche Auswanderungswelle (s. S. 61):<br />

„Heute, den 3. August, sind folgende Leute von hier<br />

nach Polen ausgewandert, um sich dort in Zagwitz und<br />

Sinradz niederzulassen:<br />

1. Johannes Georg Pfeil, Wagner, mit Frau und sieben<br />

Kindern<br />

2. Johann Heinrich Schnell, Leinweber, mit Frau und<br />

fünf Kindern<br />

3. Friedrich Pfeil, Schneider, mit Frau und sechs Kindern<br />

4. Conrad Weil, Tagelöhner, mit Frau und 3 Kindern<br />

5. Johann Reinhard Nagel, Leinweber, mitFrau und deren<br />

Schwester-Sohn Philipp Crüsler und<br />

7. zwei Töchter vom verstorbenen Maurer Jakob<br />

Kärpp.<br />

Gott lasse diese Leute glücklich ans Ziel ihrer Reise<br />

gelangen und sie dort finden, was sie suchen 1“<br />

Es waren, wie die Berufsbezeichnungen zeigen, keine<br />

Bauern, die fortgingen ; es waren Handwerker und Tagelöhner,<br />

die meist auch verarmte Handwerker waren!<br />

Doch es waren keineswegs Menschen, die am „Rande<br />

der Gesellschaft“ lebten. So war Johann Georg Pfeil bis<br />

zu seiner Auswanderung Kirchenvorsteher der hiesigen<br />

Kirchengemeinde. Daß manch einer der Ausgewanderten<br />

schon bald wieder tief enttäuscht ans <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

Stadttor klopfte, bedeutete nicht, daß in <strong>Reichelsheim</strong><br />

selbst Wohlstand herrschte.<br />

Die modernen Gesetze des Herzogs, die den Geist der<br />

Zeit widerspiegelten, verteilten den Wohlstand nicht<br />

gleichmäßig auf die Untertanen. Und so herrschte wahrlich<br />

nicht in allen Häusern des kleinen Landstädtchens<br />

Wohlstand! Immer wieder berichtet uns die Kirchenchronik<br />

von Unwettern, Ungezieferplagen, Tierseuchen,<br />

Dürre und dergleichen mehr, die jeweils vor allem<br />

die Ärmsten der Armen besonders trafen.<br />

Das Kirehenbuch berichtet 2. B.:<br />

1.) lm Jahre 1816 herrschte große Trockenheit. Die Getreideernte<br />

fiel sehr schlecht aus. 1817 waren deswegen<br />

die Preise für Weizen, Korn, Gerste und Hafer<br />

sehr, sehr hoch.<br />

2.) „Am Donnerstag, dem 25. Juli 1822 traf <strong>Reichelsheim</strong><br />

ein sehr harter Schlag. An diesem Tag nämlich“,<br />

schreibt Pfarrer Funkel, „des Abends um 9<br />

Uhr, zog ein Gewitter über die hiesige Gegend, welches<br />

Eisstücke zum Teil so groß wie Taubeneier mit<br />

sich führte, die in kaum 5 Minuten das ganze Sommerfeld<br />

- dieses Jahr die Krone der Wetterau - verheerten,<br />

das sämtliche herrliche Obst teils abschlugen<br />

teils beschädigten, fast alle Gemüse in Gärten<br />

und auf den Feldern vernichtete, den Flachs verdar-<br />

109


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en, das Grummet um die Hälfte verwüsteten und<br />

beinahe allen Bäumen, besonders denjenigen an den<br />

Wegen nach Heuchelheim, Weckesheim und Dornassenheim<br />

_ _ .<br />

Auch wurden an der Wetterseite der Häuser fast<br />

alle Fensterscheiben zerschlagen... Sehr viele tote<br />

Vögel und tödlich verwundete Hasen wurden gefunden.<br />

Ach, wie trauriger, herzzerreißender Morgen“<br />

(Kirchenbuch, S. l8f).<br />

Weiter schreibt Pfarrer Funkel: „Was dieser Schaden<br />

umso größer und drückender, da auch die Winterfrüchte,<br />

weil die Mäuse in demselben schrecklich<br />

gehauset hatten, lange nicht so reichlich, als sonst<br />

eingekommen waren.“ Als ob er für spätere Zeiten<br />

den ungeheuren Umfang der Mäuseplage beschreiben<br />

wollte, konkretisiert er das Gesagte wenige Seiten<br />

später (s. S.22 des Kirchbuches): „Außerdem<br />

waren in diesem Jahre auch so sehr viele Mäuse in<br />

dem Felde, daß zwischen 50- und 60000 gefangen<br />

wurden. Unsäglichen Schaden haben diese Gäste in<br />

den verschiedenen Fluren angerichtet.“ Da landwirtschaftliche<br />

Produktion auf den kleinen Höfen in jener<br />

Zeit vorrangig Produktion zur Deckung des Eigenbedarfes<br />

war, kann man sich leicht vorstellen,<br />

welche Wirkungen Unwetter und Mäuseplagen für<br />

das Leben, für den „Wohlstand“ in <strong>Reichelsheim</strong> vor<br />

ca. 150-170 Jahren hatten.<br />

Feuer: Immer wieder gab es Brände. Die Verordnungen<br />

der Herrschaft von Nassau, die Wohnhäuser<br />

und später dann auch die Wirtschaftsgebäude nicht<br />

länger mit Stroh, sondern mit Schiefer oder mit<br />

Dachziegeln abzudecken, konnten nicht hindern,<br />

daß es immer wieder einmal brannte: Am 16. Juli<br />

1826 brannten nicht nur mehrere Ställe sondern auch<br />

drei Scheunen ab, also die Kammern des bäuerlichen<br />

Wohlstandes! Ein Jahr darauf brannte die Bingenheimer<br />

Mühle, nachdem deren Scheuer von einem<br />

Blitzschlag getroffen worden war, völlig ab. Oft<br />

konnten die Feuer nur gelöscht werden, weil die<br />

„Wehren“ der Nachbarorte schnell herbeieilten und<br />

halfen, so gut sie konnten -wissend, daß auch sie einmal<br />

dankbar für die Hilfe der <strong>Reichelsheim</strong>er sein<br />

könnten...<br />

lm Jahre 1840 ereignete sich eine Begebenheit, die<br />

ganz <strong>Reichelsheim</strong> in Besorgnis versetzte und die<br />

dem Ort großen Schaden zufügen sollte: Ein tollwütiger<br />

Hund fiel die Schweineherde an, die gerade aus<br />

dem Untertor (Südtor) ausgetrieben worden war,<br />

verbiß sich in 7 trächtige Mutterschweine, bevor er<br />

von dem <strong>Reichelsheim</strong>er Bürger Johannes Kornmann<br />

erschlagen werden konnte. „Der Vorfall ereignete<br />

sich am Untertor in der Nähe des Amtshauses.<br />

Ob nun gleich alle äußeren Umstände für die Tollheit<br />

des Hundes sprachen, so wurde dies doch von<br />

mehreren in Zweifel gezogen.“ Doch schließlich<br />

wurde der Tierarzt gerufen, der allerdings „zu keinem<br />

bestimmten Urteil gelangen“ konnte. Die Tiere<br />

wurden vorsichtshalber nicht mehr ausgetrieben. Allerdings<br />

zeigten sich nach mehreren Wochen bei<br />

einem Tier, als man schon gehofft hatte, der Hund<br />

sei doch nicht tollwütig gewesen, Krankheitszeichen.<br />

Der Tierarzt wurde erneut gerufe: Er erklärte, bei<br />

der Krankheit handele es sich um die „stille Wut“.<br />

Als noch ein 2. Tier erkrankte, wurden schließlich alle<br />

gebissenen Tiere erschossen und die bereits geworfenen<br />

Ferkel vom Faselwärter totgeschlagen.<br />

„Übrigens“, so endet der lange Bericht im Kirchenbuch<br />

(s. S. 69 ff), „hat der ganze Vorfall, wie leicht zu<br />

denken, dem Orte großen Schaden gebracht. Denn<br />

die Fremden mieden nicht nur lange Zeit, hier<br />

111


Schweine zu kaufen, sondern es wurde dies auch<br />

vom hiesigen Amte und den auswärtigen Behörden<br />

ausdrücklich verboten. Der Ort war ordentlich verrufenl“<br />

Um zu verdeutlichen, daß Mäuseplagen in jener Zeit<br />

nicht eine Einmaligkeit darstellten, sei ein anschaulicher<br />

Kirchenbucheintrag aus dem Jahre 1842<br />

(s. S. 80) wiedergegeben:<br />

„ . . _ Dagegen war die Ernte von den Sommerfrüchten<br />

sehr gering, wie auch die der Kartoffeln. Was die<br />

anhaltende Hitze nicht vernichtet hatte, wurde von<br />

den Mäusen verzehrt, welche in unzählbaren Mengen<br />

sich auf den Feldern zeigten. Tausende wurden<br />

von den hiesigen Einwohnern gefangen und getötet;<br />

aber doch blieb ihre Anzahl so groß, daß man sie mit<br />

dem Stock auf dem Wege totschlagen konnte.“<br />

1843 herrschte durch die Mißernte vom Jahr zuvor<br />

Hungersnot. War 1842 ein Dürre-Jahr, so war 1843<br />

„durch die Nässe und seinen Regen, zumal in der<br />

Sommerzeit“ ausgezeichnet (Kirchenbuch, S. 81).<br />

Die Preise für Heu und Getreide stiegen enorm an.<br />

Die Regengüsse machten es notwendig, „die Wiesen<br />

durch Erhöhung des Dammes vor dem Austreten der<br />

Horloff zu schützen, und doch wurden - aller Mühe<br />

ungeachtet - unsere Wiesen und Äcker durch das<br />

Wasser zu Grunde gerichtet... Doch gottlob, die<br />

Teuerung ließ nach und der Arme konnte, weil die<br />

Kartoffeln wohlgerieten, sich wieder satt essen.“<br />

Und wieder Mißernten, wieder Hunger: „Das Jahr<br />

1846“, berichtet Pfarrer Frankenfeld, „wird den Bewohnern<br />

Deutschlands lange im Andenken bleiben,<br />

weil es durch die geringe Ernte, welche es lieferte,<br />

Teuerung und Hungersnot hervorrief. ._ Dazu kam<br />

noch die immer mehr überhandnehmende Fäulnis<br />

bei den Kartoffeln, welche bisher ein Hauptnahrungsmittel<br />

des Landsmannes gebildet hatte.“ Weiter<br />

lesen wir im Kirehenbuch (S. 83): „Hier in <strong>Reichelsheim</strong><br />

war zwar im Vergleich zu vielen anderen<br />

Orten der Wetterau die Ernte nicht so schlecht und<br />

die Fäulnis der Kartoffel nicht so allgemein, aber<br />

doch war selbst der Mittelstand unter den Landsleuten<br />

genötigt, einen Teil seines Jahrbrotes zu kaufen.“<br />

1847: „Was zu befürchten war, traf ein: Die Teuerung<br />

des Getreide stieg in diesem Jahr bis kurz vor<br />

der Ernte enorm _ . . Zwar wurden sämtliche Dominialfrüchte<br />

bereitwillig von Seiner Hoheit dem Herzog<br />

dem Lande zu niedrigeren Preisen überlassen<br />

und die Herzogliche Landesregierung ließ dieselben<br />

teils unentgeltlich arı Arme verabfolgen, denen davon<br />

Brot gebacken wurde, teils den weniger Bemittelten<br />

bis zur neuen Ernte borgen; zwar wurden<br />

Früchte, als die Teuerung noch immer stieg, von der<br />

Regierung in Amerika angekauft und den Unbemittelten<br />

zu geringen Preisen überlassen; aber dieses alles<br />

wollte die Not nicht mindern und den Hunger<br />

nicht stillen“ (s. S. 83).<br />

Wahrscheinlich lag es an den wiederkehrenden Hungersnöten,<br />

die die Folge von Mißernten waren, daß der<br />

Verlust eines Kindes nicht in der Form empfunden wurde,<br />

wie dies heute der Fall ist. Wir wissen, daß arme Familien<br />

oft nicht wußten, wie und vor allem mit was sie die<br />

vielen „Kinder-Mäulchen“ stopfen sollten. „Findelhäuser“<br />

nahmen nicht nur ungewollte, nichteheliche Kinder<br />

auf, sondern auch ausgesetzte Kinder aus bestehenden<br />

Familien. Es gab aber auch die Tatsache, daß Kinder und<br />

Jugendliche sich durch wohlklingende Versprechungen<br />

verführen ließen, ohne Erlaubnis ihrem Elternhaus zu<br />

entfliehen, hoffend, es bei Fremden besser zu haben,<br />

hoffend, in der Fremde satt zu werden.


Eine Verordnung der „Herzoglich Nassauischen Landesregierung<br />

an den Herzoglichen Amtmann, Herrn<br />

Bullmann zu <strong>Reichelsheim</strong>“ aus dem Jahre 1844, die sich<br />

im Archiv der Stadt befindet, gibt uns Einblick in ein<br />

heute schwer verständliches Vorkommnis: „Das Mitnehmen<br />

von Knaben und Mädchen von Fliegenwedelhändlern,<br />

Musikanten p.p. nach Rußland, England und<br />

Frankreich betreffend:<br />

Es ist früher zu Unserer Kenntnis gekommen, daß aus<br />

einzelnen Orten des Herzogtums Knaben, die kaum aus<br />

der Schule entlassen waren, so wie Mädchen von erwachsenen<br />

Personen in das Ausland, insbesondere nach den<br />

oben bemerkten Ländern, mitgenommen worden sind,<br />

um sie bei dem Musizieren, dem Handel mit Fliegenwedeln<br />

oder mit anderen zum Hausieren bestimmten geringfügigen<br />

Gegenständen zu benutzen, und daß mitunter<br />

solche Knaben und Mädchen von ihren Führern zu<br />

unerlaubten Gewerbe, durch Betteln und unsittliche Lebensweise<br />

verleidet worden sind.<br />

Wir haben in Folge hiervon durch Verfügung an die<br />

Ämter die Beschränkung eintreten lassen, daß das Reisen<br />

von Knaben und ledigen Weibspersonen in den bezeichneten<br />

Fällen nur gestattet werden soll, wenn sich<br />

dieselben in Begleitung ihrer Eltern befinden.<br />

Wir finden Uns veranlaßt, diese Vorschrift nunmehr<br />

für sämtliche Ämter zu erteilen; Sie werden die Herzoglichen<br />

Schultheißen instruieren, in den über das Ansuchen<br />

solcher Personen um Erteilung von Reisepässen an<br />

das Amt zu erstattenden Berichten, den Zweck der Reise<br />

und in welcher Begleitung dieselbe vorgenommen werden<br />

soll, genau anzugeben. Wir empfehlen Ihnen die<br />

Überwachung der genauen Vollziehung dieser Bestimmung<br />

und ermächtigen Sie zugleich, Pässe auch Mädchen,<br />

welche mit ihren Eltern reisen wollen, zu verweigern,<br />

bei welchen nachweisbarlich, daß sie bei einer früheren<br />

Reise solchem unerlaubten Erwerbe im Ausland<br />

obgelegen haben.<br />

Sollten Einwohner aus dem Großherzogtum Hessen,<br />

was vorgekommen ist, ledige Weibspersonen und Knaben<br />

anwerben wollen, um ihnen bei dem Fliegenwedelhandel,<br />

dem Musizieren pp. behülflich zu seyn, so sind<br />

dieselben unter Strafandrohung für den Wiederholungsfall<br />

auszuweisen.<br />

Wir machen schließlich darauf aufmerksam, daß diese<br />

Beschränkung in Erteilung der Reisepässe auf junge<br />

Burschen, welche das Musizieren als Gewerbe betreiben,<br />

keine Anwendung findet.<br />

Wiesbaden, den 23. April 1844“<br />

Wie schlecht das Leben tatsächlich im Lande des Herzogs<br />

von Nassau war, das zeigen Berichte aus jener Zeit:<br />

ein zeitgenössischer Beobachter schrieb „über die ›im Inund<br />

Auslande schaarenweise umherziehenden Nassauer


Auch die <strong>Reichelsheim</strong>er litten, wie all diese Aussagen<br />

verdeutlichen, in der 1. Hälfte des letzten Jahrhunderts<br />

immer und immer wieder an Hunger. Oft wurden sie des<br />

Ertrages ihrer Jahresarbeit durch Dürre, Regen, Hagel<br />

oder Frost beraubt.<br />

Doch wer in solch einer fruchtbaren Gegend lebt, der<br />

gibt nicht auf! Schon gar nicht die <strong>Reichelsheim</strong>er, von<br />

denen man sagte, seien „steifnackig und zähe“.<br />

Im Archiv der Stadt liegen Dokumente, die beweisen,<br />

daß man hier trotzalleın nicht resignieren wollte: Die früheren<br />

Jahrmärkte. einst von Kaiser Leopold genehmigt,<br />

wurden, weil das Gewerbe sich nicht weiter entwickeln<br />

konnte, schon bald zu „Vieh- und Krämermärkten“ umgewandelt.<br />

Viehmärkte gab es in <strong>Reichelsheim</strong> wohl das<br />

ganze 19. Jahrhundert hindurch, womit man sich gerne<br />

im Umkreis der Wetterau als eine „landwirtsehaftliehe<br />

Hochburg“ präsentieren wollte.<br />

Aueh lesen wir in anderen Unterlagen, daß 1827 der<br />

Versuch unternommen wurde, ein „Landgestüt <strong>Reichelsheim</strong>“<br />

zu schaffen. Wie „landwirtsorientiert“ zu jener<br />

Zeit die Gemeinde war, zeigt die Tatsache, daß neben<br />

den Kuh-, Schweine- und Gänsehirten auch Fohlenund<br />

Pferdehirten eingestellt wurden.<br />

1820, so sagt eine Statistik, gab es in <strong>Reichelsheim</strong> und<br />

Dorn-Assenheim bei 1180 Einwohnern in 343 Familien<br />

113 Pferde; d. h. auf ca. IU Einwohner gab es l Pferd!<br />

(Zugleich erbrachte die Zählung noch folgendes: 564<br />

Stück Rindvieh, 486 Schafe, 446 Schweine, 26 Ziegen, 46<br />

Bienenstöeke).<br />

Es gab also in <strong>Reichelsheim</strong> eine bedeutende Anzahl<br />

von „Pferd-Bauern“, „Küh-Bauern“, die ihre Wagen<br />

und Pflüge von Ochsen ziehen lassen müßten, scheinen<br />

demnach vor allem in <strong>Reichelsheim</strong> selbst seltener gewesen<br />

zu sein als in anderen Dörfern jener Zeit.<br />

Daß <strong>Reichelsheim</strong> und die <strong>Reichelsheim</strong>er in jener<br />

Zeit bereit waren, trotz aller Not Schritte in die Zukunft<br />

zu tun, das zeigt die Tatsache, daß 1834 eine befestigte<br />

Straße („Chaussee“) nach Dorn-Assenheim gebaut wurde.<br />

Mit ihr wurden die zwei Dörfer des Amtes <strong>Reichelsheim</strong><br />

besser verbunden. Zugleich wurde diese Straße für<br />

den Postkutschenverkehr Frankfurt - Assenheim - Nidda<br />

- Schotten bedeutend. <strong>Reichelsheim</strong> erhielt in Folge<br />

auch eine Poststation.<br />

lm gleichen Jahr, also 1834, wurde in <strong>Reichelsheim</strong>,<br />

südlich der Kirche in der Untergasse (heute Florstädter<br />

Straße) eine Apotheke eröffnet. Ihre Eröffnung und die<br />

Tatsache, daß im folgenden Jahr sich erstmals ein Arzt,<br />

Dr. Köppler, in unserem Städtchen niederließ, waren die<br />

Spätfolge der im Jahre 1818 eingeführten ›staatlichen<br />

Medizinpflege


Doch trotz dieser z. T. enormen Belastungen, die auch<br />

manchen Bauern zur Verzweiflung trieb bzw. ihn darüber<br />

nachdenken ließ, ob es nicht besser sei, den bescheidenen<br />

Besitz zu verkaufen und den Erlös für eine Überfahrt<br />

in die „Neue Welt“ einzusetzen, anstatt für die jährlichen<br />

Abzahlungsraten sich kaputt zu arbeiten - doch<br />

wie gesagt: trotz dieser Belastungen wirkte die „Bauernbefreiung",<br />

der Freikauf von den alten Abgaben an die<br />

adlige Herrschaft insgesamt positiv für die Bauern des<br />

Ortes! Denn dieser „Freikauf“ war mit dem Gedanken<br />

verbunden, daß die nächste Generation auf dem eigenen<br />

Hof zum eigenen Vorteil arbeiten werde. Dies stärkte<br />

das Selbstgefühl, das machte selbstbewußter, das sorgte<br />

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Bild der alten Apotheke (erbaut 1834;<br />

Aufnahme vor dem I. Weltkrieg)<br />

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1814, als in verschiedenen nassauischen Ämtern Versammlungen<br />

gehalten wurden zu den Themen „Freiheit<br />

und Gleichheit“. als auf Anregung auch des nassauischen<br />

Advokaten Wilhelm Snell, dessen Großneffe später in<br />

<strong>Reichelsheim</strong> Pfarrer werden sollte, „Deutsche Gesellschaften“<br />

gegründet wurden, da erließ die Regierung in<br />

Wiesbaden für das Herzogtum Nassau ein Verbot, da es,<br />

wie es hieß, Privatleuten nicht zustehe, „zu den großen<br />

Nationalangelcgenheiten Teutschlands mitzuwirken“<br />

(s. „Hessenchronik“, 207).<br />

Begann die Zeit nach Napoleon Bonaparte noch rechtliberal,<br />

wurde damals auch weitestgehend Presse- und damit<br />

Meinungsfreiheit im Herzogtum Nassau gewährt, so begann<br />

doch bald wieder eine restriktive Politik bestimmend<br />

zu werden, was auch in der Person des seit 1816 regierenden<br />

Herzog Wilhelm begründet war, von dem es heißt, er<br />

habe ein „absolutistisches Herrschaftsverständnis“ gehabt.<br />

Durch die Zunahme der sozialen Probleme, vor allem<br />

in den Städten, wurde über Lösungsmöglichkeiten, auch<br />

radikale Lösungsmöglichkeiten, immer lauter nachgedacht.<br />

Die Universitäten wurden zu Ouellen der Unruhen.<br />

Die Studenten begannen sich in Burschenschaften<br />

zu organisieren. Die Rufe nach „wahrer Mitbestimmung“,<br />

nach „bürgerlichen Freiheiten“, nach „Demokratie“,<br />

ja selbst nach „Republik“ wurden immer lauter.<br />

Die Juli-Unruhen in Paris im Jahre 1830, die dabei erzwungene<br />

Abdankung des französischen Königs Karl X.<br />

und die Thronbesteigung Louis Philipp I., des „Bürgerkönigs“,<br />

verunsicherten die deutschen Könige, Großherzöge<br />

und Herzöge: „Alle Vereine, welche politische<br />

Zwecke haben oder unter anderem Namen zu politischen<br />

Zwecken benutzt werden, sind zu verbieten<br />

und ist gegen deren Urheber und die Teilnehmer an denselben<br />

mit angemessener Strafe vorzuschreiten. _ _ Auch<br />

bei erlaubten Volksversammlungen und Volksfesten ist<br />

es nicht zu dulden, daß öffentliche Reden politischen Inhalts<br />

gehalten werden.. _“ so lautete eine „Maßregel zur<br />

Aufrechterhaltung der gesetzlichen Ordnung und Ruhe<br />

im deutschen Bunde“ vom 5. Juli 1832, die der Herzog<br />

von Nassau seinen einzelnen Ämtern, also auch <strong>Reichelsheim</strong>,<br />

zur „strengsten Beachtung“ übermittelte.<br />

Aus <strong>Reichelsheim</strong> wurden keine „Unruhen“, keine<br />

„ungeziemlichen Veranstaltungen“ bekannt.<br />

Doch die Zeit ging weiter: Die Probleme im sozialen Bereich<br />

wurden immer größer - der Unterschied zwischen<br />

Reichen und Armen, zwischen „wohlhabendem Bürgertum“<br />

und „armem Volk“ nahm zu, auch im ländlichen Bereich,<br />

weil - bedingt durch die Zunahme der maschinengetriebenen<br />

Fabriken - der alte Handwerkerstand mehr und<br />

mehr verarmte, wie schon zu Anfang dieses Kapitels aufgezeigt<br />

wurde. Das „Verlagssystem“ der Großhändler vergrößerte<br />

die Abhängigkeit des kleinen Gewerbes auch auf<br />

dem Lande. Die Mißernten trafen vor allem diese Bevölkerungsgruppen<br />

und ließen diese immer gereizter werden.<br />

Und wieder ging der revolutionäre Funken von Paris<br />

aus: Dieses Mal, 1848, konnten die Gewehre und die<br />

Verordnungen der Herrschenden die Menschen nicht<br />

mehr bremsen. In Deutschland brach die Revolution aus<br />

- die Fürsten wurden zu Kompromissen gezwungen.<br />

Auch <strong>Reichelsheim</strong>, das kleine Landstädtchen in der<br />

Wetterau, erzitterte. Auch hier warjetzt die Ruhe dahin!<br />

Pfarrer Frankenfeld, gewiß kein „fortschrittlicher“,<br />

kein „linker“ Pfarrer, berichtet im Kirehenbuch ausführlich<br />

über die „Lage in <strong>Reichelsheim</strong>“ (s. S. 84ff):<br />

„Daß in der Geschichte Deutschlands durch seine politischen<br />

Märzstürme ewig denkwürdige Jahr brachte auch<br />

in <strong>Reichelsheim</strong> manche Veränderungen. Zwar hatten<br />

sich an den Ereignissen des 4ten März in Wiesbaden keine<br />

Einwohner beteiligt und man bemerkt, obgleich die<br />

Gemüter durch die Kunde davon schon aufgewogt wur-<br />

116


den, doch anfangs hier weniger Anklang. Als aber nach<br />

und nach die Nachricht von den Bewegungen in dem ganzen<br />

Nassauischen Ländchen auch hierher drang und man<br />

die Rechte und die Freiheiten, welche man gefordert hatte<br />

und die von unserem Herzoge Adolph verwilligt worden<br />

waren, zu begreifen anfing, ja als in ganz Deutschland<br />

der Freiheitswunsch erwachte, nahm man auch hier<br />

einen immer größeren Anteil an der politischen Begeisterung,<br />

welche alle deutschen Gemüter ergriff. Man<br />

lechzte nach jedem Zeitungsblatt, kam in den Wirtshäusern<br />

zusammen, um sich die neuen Mähren zu verkünden<br />

und zu holen, holte alte verrostete Flinten und Büchsen<br />

hervor, um sie zu probieren, machte Miene, eine Bürgerwehr<br />

zu errichten, bildete ein Sicherheitskommitee, sang<br />

,Heckerlieder“ (Hecker war ein Kämpfer für radikale liberale<br />

Freiheitsrechte im Badischen gewesen), prunkte<br />

mit schwarz-rot-goldenen Fahnen (Fahne der revolutionär-demokratischen<br />

Burschenschaftsbewegung) und beriet<br />

in Versammlungen, wie man die gewordenen Freiheiten<br />

am besten zu seinem eigenen Vorteile benutzen<br />

kann. Jedoch zum Lobe <strong>Reichelsheim</strong>s muß man es sagen,<br />

daß es bei allem erwachten Freiheitsrausche doch<br />

sich stets fast ganz in den Grenzen der Ordnung und Mäßigkeit<br />

hielt. Während man hörte, daß in vielen Orten<br />

Excesse aller Art vorfielen, beschränkte man sich hier<br />

auf einige Pasquille (= Schmähschriften gegen bestimmte<br />

Herrschaften, in diesem Fall gegen den Herzog), welche<br />

man legte, und Drohungen, welche man aussprach.<br />

Zwar bannte der Unfug, welcher jetzt mit der Presse<br />

getrieben wurde, das gemeine Schimpfen und Schelten,<br />

das in den Volksversammlungen an der Tagesordnung<br />

war und sich hauptsächlich gegen die Fürsten Deutschlands,<br />

des Adels, die Kirchen und Angestellten wendete,<br />

der Rufer des Kommunismus, das Eigentum müsse geteilt<br />

werden, das unbesonne Reden der Freiheitsschwindler<br />

über gänzliche Abschaffung aller bisherigen<br />

Lasten und Steuern, nicht ohne Einwirkung aufdie hiesigen<br />

Einwohner blieben. Aber wenn auch in Manchem<br />

das Gelüste nach Aufteilung des Eigentums sich regte,<br />

sich in beklagenswertes Mißtrauen gegen die Vorgesetzten<br />

immer kund tat und die Unzufriedenheit der Minderbegüterten<br />

dahier immer mehr um sich griff; so behielt<br />

dieses alles doch mehr eine locale Richtung.<br />

An größere politische Vereine schloß man sich nicht an.<br />

Man arbeitete weniger oder gar nicht an den Umsturz der<br />

bestehenden Staatsverfassung, sondern wollte nur in dem<br />

Gemeinwesen Neuerungen schaffen. Namentlich glaubten<br />

die Ärmeren, in der Gemeindehaushaltung größere Vorteile<br />

erringen zu müssen, und sie setzten es auch mit Hilfe<br />

des Mittelstandes durch, in diesem Jahr von der Abtragung<br />

der Schulden, welche auch die Gemeinde hat. ganz abzusehen,<br />

und dafürjedem einzelnen Ortsbürger größere Anteile<br />

an den Gemeindewiesen zu geben.“<br />

Auch wenn diese „Revolution“ wegen der Uneinigkeit<br />

der Bürgerschaft, wegen der wenig konkretisicrten Form<br />

der politischen Vorstellungen bald scheiterte, so verblieb<br />

als eine Art Nebenprodukt eine Konsequenz bestehen,<br />

die bis heute keine Umkehr, sondern im Bewußtsein der<br />

Menschen eher noch eine Bestätigung fand: Das war die<br />

eingeleitete Trennung von Staat und Kirche. Das, was<br />

durch die „Säkularisierung“ der geistlichen Fürstentümer<br />

im Jahre 1801 mit der Aufhebung des „Reichsbannes“<br />

(= „Ein Staat - eine Kirche“) eingeleitet worden<br />

war, fand nun seine historisch logische Fortsetzung! Die<br />

Kirche erhielt jetzt, wie Pfarrer Frankenfeld berichtete,<br />

„eine freie selbständige Stellung im Staate“, sie war nun<br />

nicht mehr Teil der Staatsgewalt. Anweisungen des Herzogs,<br />

z. B. zu bestimmten Festtagen Predigten zu bestimmten<br />

Themen unter bestimmten Bibelworten zu halten,<br />

das war nun nicht mehr möglich. Jeder Pfarrer war<br />

117


nunmehr nur noch an die Vorgaben seiner Kirche und -<br />

im Sinne Luthers - an die seines Gewissens gebunden.<br />

Die Ereignisse im Jahre 1848 hatten aber noch weitere<br />

Konsequenzen für das Leben in <strong>Reichelsheim</strong> dadurch,<br />

daß von dieser Zeit an der Pfarrer durch Gesetzesänderung<br />

auch zu einem „Ortsbürger“ wurde, also nichtmehr<br />

als Repräsentant der Obrigkeit außerhalb der von ihm<br />

geführten Gemeinde stand. „Auch die Geistlichen und<br />

die Staatsdiener werden von diesem Jahr an als Gemeindebürger<br />

mit allen Rechten und Pflichten, allen Vorteilen<br />

und Lasten, welche dieselben schon haben, angesehen.<br />

Es hängt also nun an jedem Geistlichen dahier ab,<br />

seinen Mann an der Spritze zu stellen, für die regelmäßigen<br />

Nachtwachen zu sorgen, die gewöhnlichen Frondienste<br />

zu leist_en. Dafür hat er in den Gemeindeversammlungen<br />

Sitz und Stimme und erhält seinen Anteil an<br />

den Gemeindenutzungen, welche in diesem Jahr aus 1<br />

Stecken Buchen Schnittholz, 1 Stecken Stab- und Reiserholz<br />

und 2 Morgen Gemeindewiesen bestand“, schreibt<br />

Pfarrer Frankenfeld 1849 in das Kirehenbuch (s. S. 87).<br />

Doch die „Revolution“ des Jahres 1848, die nicht nur<br />

in vielen Städten Deutschlands große Unruhen und bei<br />

Barrikadenkämpfen auch viele Tote verursacht hatte,<br />

sondern die vor allem das verdeckt keimende demokratische<br />

Bewußtsein der Menschen aus allen Schichten der<br />

Bevölkerung geweckt hatte, veränderte auch im kommunalpolitischen<br />

Bereich die Strukturen! Pfarrer Frankenfeld<br />

sei auch in dieser Frage wieder als Zeitzeuge zitiert:<br />

„Mit Anfang dieses Jahres wurde eine neue Gemeindeverwaltung<br />

in dem Herzogtum Nassau eingeführt, welche<br />

der Gemeinde in Ansehung ihres Gemeindehaushalts größere<br />

Freiheiten zuerkannte. An der Spitze der Gemeinde<br />

wurde als Verwaltungsbeamte der Bürgermeister mit dem<br />

Gemeinderat gestellt, die sämtlich durch die Gemeinde<br />

selbst, und zwar erstere auf 6 Jahre, letzter auf 4 Jahre ge-<br />

wählt wurden. Hier wurde der bisherige Amtsschultheit<br />

Schmid zum Bürgermeister gewählt und ihm 6 Gemeinderäte<br />

beigegeben. Bemerkenswert ist, daß fast alle Gemeinderäte<br />

den Minderbegüterten angehörten.“<br />

Diese Gemeindeordnung blieb nahezu unverändert bis<br />

Ende 1918 in Kraft. Sie gab den Ortsbürgern mehr Mitsprache<br />

bei den Entscheidungen der Gemeinde. Diese Gemeindeordnung<br />

löste jene ab, die während der napoleonischen<br />

Zeit eingeführt worden war, nämlich die, die den<br />

Schultheißen in das kommunale Entscheidungszentrum<br />

stellte. Bis 1800 gab es immer zwei Bürgermeister, die<br />

jedes Jahr neu aus dem Kreis der „Honoratioren“ der Einwohnerschaft<br />

gewählt worden waren, was sich nach Meinung<br />

des bestimmenden Herrschafthauses wegen der Zunahme<br />

der Probleme und Schwierigkeiten der Abrechnungen<br />

nicht mehr „fähig genug“ gezeigt hatte.<br />

So hatte aber die „Revolution von 1848“ doch einen bedeutenden<br />

Schritt in die moderne Form der kommunalen<br />

Selbstverwaltung gemacht.<br />

Wenn man all die geschilderten Ereignisse über die erste<br />

Hälfte des 19. Jahrhunderts zusammenfaßt, so ergibt sich<br />

das, was die Überschrift über dieses Kapitel ankündigte: die<br />

Menschen waren selbstbewußter, sie waren eigenverantwortlicher<br />

geworden, sie waren politischer geworden. Die<br />

Zeit. der reinen „Untertänigkeit“ war vorbei - endgültig.<br />

Doch die Freiheitskämpfer gegen das napoleonische<br />

Frankreich hatten sich nicht nur den Ruf „Freiheit und<br />

Selbstbestimmung“ auf die Fahnen geschrieben. Auch der<br />

Ruf nach „Einheit“ war für die Menschen jener Zeit erregend.<br />

Die Einheit Deutschlands war allerdings durch die<br />

Revolution nicht verwirklicht. Heuchelheim, Weckesheim,<br />

Blofeld, Bingenheim und Florstadt: sie waren immer<br />

noch Ausland zu <strong>Reichelsheim</strong>; eine Grenzüberschreitung<br />

war nur mit Hilfe eines Passes - oft nach Zahlung eines<br />

Zolles - erlaubt!<br />

118


8. c) Das Ende der „Insellage von <strong>Reichelsheim</strong>“<br />

Die 2. Hälfte des letzten Jahrhunderts begann mit<br />

Blitz und Donner oder besser gesagt mit fürchterlichem<br />

Hagelschag, der große Teile der Ernte vernichtete. Anschaulich<br />

beschrieb der neu nach <strong>Reichelsheim</strong> versetzte<br />

Pfarrer Tecklenburg seine Eindrücke (s. Kirehenbuch<br />

S.172):<br />

„Als ich am 19. Juli zum ersten Male hierherkam, um<br />

Eintritt zu nehmen von meiner neuen Pfarrstelle, fand<br />

ich das ganze Erntefeld in eine Wüstenei verwandelt.<br />

Tags zuvor, den l8ten Juli, nachmittags zwischen 2 und 3<br />

Uhr, wurde die Gemeinde <strong>Reichelsheim</strong> von einem<br />

furchtbaren Hagelschlag heimgesucht, der in der Zeit<br />

von 5 - 10 Minuten ihre außerordentlich schöne Erntehoffnungen<br />

fast ganz zerstörte. .<br />

Der hierdurch entstandene Schaden wurde am 23.Juli<br />

von den verpflichteten Taxatoren Rentmeister Filius von<br />

Beienheim, Bürgermeister Gatzert von Heuchelheim<br />

und Bürgermeister Schmid von <strong>Reichelsheim</strong> im Beisein<br />

des herzoglichen Kreisamtmannes Freiherr von Preuschen<br />

abgeschätzt, und es ergab sich hierbei, daß die<br />

Ernte . _ _ durchschnittlich zu 3/4 zerstört war. . _<br />

Eine spezielle Berechnung des Hagelschadens ergab,<br />

daß derselbe 41765 Gulden 44 Kreuzer betrugl“<br />

Der Herzog spendete sogleich 200 Gulden, aus den anderen<br />

Ämtern des nassauischen Herzogtums wurde 217<br />

Gulden, 37 3/4 Kreuzer gespendet, was zusammen ca.<br />

1 % des Unwetterschadens ausmachte. _ .<br />

Die Spenden wurden zum Ankauf von Gerste und<br />

Kartoffeln aus anderen Ämtern verwendet. Damit die<br />

<strong>Reichelsheim</strong>er den Schaden überstehen konnten, wurden<br />

ihnen auch Preisnachlaß, Zinsverbilligung und -verschonung<br />

für ein Jahr gewährt. Nichtsdestotrotz: Über<br />

das Juli-Unwetter des Jahres 1852 wurde noch viele Jahre<br />

erzählt.<br />

Aber die <strong>Reichelsheim</strong>er, seit der sogenannten Bauernbefreiung<br />

Herr über Boden und Erträge, suchten in<br />

jenen Jahren die Anbaumöglichkeiten in ihren engen<br />

Gemarkungsgrenzen zu erweitern. 1857 intensivierten<br />

sie ihre Bemühungen, durch Anlegen von „Abzugsgräben“<br />

die Nutzung und die Qualität der Wiesen zu verbessern;<br />

sie sollten „bei den häufig vorkommenden Überschwemmungen<br />

die Flut ableiten“, wie Pfarrer Tecklenburg<br />

jene Maßnahme im Kirehenbuch beschrieb<br />

(s. S. 183). In jene Zeit (1858) fiel auch die Drainierung<br />

des östlich von der Horloff gelegenen Wiesenbereiches,<br />

der heute z. B. den Kindergarten, die Sportplätze und<br />

den Festplatz umfaßt. Ziel war hier die Schaffung eines<br />

neuen Bleichplatzes für die Wäsche.<br />

Der Aufschwund der Landwirtschaft wurde vor ca.<br />

130 - 140 Jahren auch noch durch anderes beeinflußt:<br />

z. B. durch die wegweisenden Erkenntnisse von Justus<br />

Liebig über die Zufügung von mineralischem Dünger an<br />

die Pflanzen, um die Ernteerträge bedeutend zu steigern.<br />

Damit wurde es den Bauern auch hier in <strong>Reichelsheim</strong><br />

leichter, ihre Schulden und die Schuldzinsen abzubezahlen<br />

- zugleich wuchs damit der Optimismus der<br />

Menschen.<br />

Diese neue Entwicklung in der Förderung des Pflanzenwuchses<br />

verlief parallel mit jener der Landmaschinentechnik:<br />

1864 kam in <strong>Reichelsheim</strong> auf dem damaligen<br />

Anwesen Sprengel die erste durch eine Dampfmaschine<br />

angetriebene Dreschmaschine zum Einsatz.<br />

Nicht nur, daß dieses „technische Ungetüm“ den<br />

Landwirten die Arbeit erleichterte: diese Maschine<br />

machte sie auch von Arbeitskräften unabhängiger, die<br />

ansonsten jeden Spätsommer und Herbst meist aus dem<br />

Vogelsberg hierher kamen, um durch das Dreschen des<br />

Getreides ein dürftiges Zubrot zu verdienen. Die Maschine<br />

machte die Höfe immer mehr zu „Familienbetrie-<br />

119


en“, die die Arbeit ohne Fremdkräfte, ohne Knechte<br />

und Mägde, erledigen konnten.<br />

1865 wurden auf den ca. 80 Bauernstellen unseres Ortes<br />

noch 37 Knechte und 55 Mädge gezählt - eine Zahl,<br />

die nie wieder erreicht werden sollte.<br />

Foto der alten Dreschr*na_s'chine<br />

des Hermann Sprengel<br />

(Aufnahme aus dem Jahre I 9/2)<br />

Aber nicht nur die beginnende Modernisierung veränderte<br />

damals unseren Ort: Auch der Einzug von „Fabriken“<br />

führte zu Änderungen in der Sozial- und Wirtschaftsstruktur.<br />

Dureh eine „Zigarrenfabrik“ in der Untergasse<br />

(heute Florstädter Straße) gab es lohnabhängige<br />

Arbeiter, die aufgrund ihrer Arbeitsverhältnisse, ihrer<br />

geringen Entlohnung auch offen waren für sozialpolitische<br />

Gedanken, die den Landwirten und den Gewerbetreibenden<br />

fremd waren.<br />

Doch in <strong>Reichelsheim</strong> gab es keine Unruhen sozialer<br />

Art. Die Wahlen, ob Bürgermeister- oder Landtagswahlen,<br />

waren zwar hin und wieder „aufregend“, doch dabei<br />

standen stets lokale Gegebenheiten, Wünsche und Forderungen<br />

im Vordergrund des Interesses.<br />

Wie sehrzujener Zeit, als überall in deutschen Landen<br />

der soziale und wirtschaftliche Umbruch enorme Formen<br />

annahm, die <strong>Reichelsheim</strong>er zu der alten Ordnung,<br />

zu ilırem Fürstenhaus bejahend standen, das zeigt ein<br />

Schriftstück aus dem Archiv der Stadt, das sie „ihrem“<br />

Herzog Adolf 1864 zu dessen 25jährigem Regierungsjubiläum<br />

sandten. Dieses Schreiben ist nur verständlich,<br />

wenn man weiß, daß im Nassauischen Landtag große<br />

Unzufriedenheit mit der Politik des Herzogs und seiner<br />

Regierung herrschte, nachdem der Landtag mit seiner liberalen<br />

Mehrheit gefordert hatte, die Verfassung von<br />

1849 wieder in Kraft zu setzen (eine Verfassung, die wesentlich<br />

demokratischer war als jene, die der Herzog im<br />

Zuge der Restauration eingesetzt hatte), de_r Herzog diese<br />

Forderung allerdings mit der Auflösung des Parlaments<br />

beantwortet hatte.<br />

Herzog Adolf hoffte, durch große Jubiläumsfeste in allen<br />

Ämtern seines Reiches eine „Solidarisierung“ der<br />

Menschen mit seiner Person zu erreichen und damit den<br />

politisch Andersdenkenden den Boden zu entziehen.<br />

In <strong>Reichelsheim</strong> ging die Rechnung des Herzogs auf:<br />

Pfarrer Snell, dessen Großonkel 1814 brennende Reden<br />

zu den Themen „Deutschland“ und „Freiheit und<br />

Gleichheit“ gehalten hatte und der selbst von 1849 bis<br />

1851 im nachrevolutionären nassauischen Landtag in<br />

Wiesbaden Sitz und Stimme gehabt hatte, berichtete ausführlich<br />

über den Festablauf, der mit einem Fackelzug<br />

durch den ganzen Ort am Vorabend begann, am eigentlichen<br />

Festtag mit Gottesdienst, Festansprachen fortgesetzt<br />

und am Abend mit Musik und Tanz beendet wurde.<br />

120


Was die <strong>Reichelsheim</strong>er (und Dorn-Assenheimer) ihrem<br />

„Durchlauchtigsten Herzog“ zu sagen hatten, das sei<br />

hier, um Denken und Sprache der damaligen Zeit zu verdeutlichen,<br />

zitiert:<br />

„Durchlauchtigster Herzog!<br />

Gnädigster Fürst und Herr!<br />

Es ist heute der einundzwanzigste Augustdie<br />

aufbrechende Sonne durchbricht ein duftiges Nachtgewölk<br />

und rötet den herrlichen Tag.<br />

Noch hält der Schlaf mit seinem Zauber uns umfangen<br />

und liebliche Träume umgaukeln die Seele. Dem braven<br />

Nassauer will es bedünken, als säh er im Rosenschimmer<br />

das Residenzschloß am Rhein; tausend Gondeln, von<br />

Schwänen gezogen, umschwimmen das Ufer, und darinnen<br />

die Glücksgötter mit ihren reichen Gaben; doch<br />

hoch darüber in lichten Räumen schwebend C l i o, die<br />

Muse mit dem goldenen Griffel, wie sie einschreibt den<br />

denkwürdigen Tag in das goldene Buch der Geschichte.<br />

Die Sonntagsglocken wecken uns auf, das Traumbild<br />

schwindet und wir, die Bewohner des Amts <strong>Reichelsheim</strong>,<br />

sind nicht die letzten, welche hineilen, und nahen<br />

ehrfurchtsvoll dem erhabenen Thron ihres teuren Landesvaters,<br />

beglückt in dem Gefühle, sich Nassauer nennen<br />

zu dürfen, an dem Jubeltage, wo vor fünfundzwanzig<br />

Jahren die göttliche Vorsehung nach dem tödlichen Hintritt<br />

Höchst Ihrer Durchlauchtigsten Herrn Vaters Ew.<br />

Hoheit das Zepter in die Hand legte, um als Inhaber der<br />

höchsten Staatsgewalt zu herrschen nach Gesetz und<br />

Recht. Wir erkennen die hohe Bedeutung des Festes,<br />

und je weiter die Ländercharte das kleine Gebiet abrückte<br />

von den Marken des engem Vaterlandes, je größer die<br />

Fülle der Gaben ist, welehe die günstige Natur in dem<br />

herrlichen Gaue uns spendete, desto inniger sind wir<br />

durchdrungen von der Notwendigkeit, unter dem Zepter<br />

dieses hohen Hauses das Banner der staatlichen Ordnung<br />

aufrecht zu halten, und bei jeder Veranlassung unsere<br />

Bürgertreue und Anhänglichkeit an des durchlauchtigsten<br />

Regenten erhabene Person an den Tag zu legen,<br />

nimmer vergessend der tausendfältigen Wohltaten, die<br />

Höchst seine gerechte, weise und milde Regierung den<br />

Regierten in gleichem Maße zuteilt.<br />

Viele Tausende sind heimgegangen zu den Vätern, die<br />

damals dem jugendlichen Fürsten ins Antlitz schauend<br />

ihre Huldigung brachten, aber es haben sich erfüllt ihre<br />

aufrichtigen Segenswünsche, und kaum ist noch berührt<br />

die Jugendkraft des Körpers und des Geistes, während<br />

ein viertel Jahrhundert dahinging, und das Land und<br />

Volk der Nassauer in gleichem Schritte mit allem Culturstreben<br />

des Abendlandes seinen weltgeschichtlichen Beruf<br />

erfüllte.<br />

Hat auch mehrfach das Firmament sich umwölkt, wurden<br />

manche Tage getrübt durch die Handlungen derer,<br />

die einer verirrten Zeitrichtung folgend sich bemühen,<br />

die Saat des Mißtrauens zu streuen zwischen Fürst und<br />

Volk, so hat doch die überwiegende Mehrheit derer, die<br />

nicht zu den politisch Unwürdigen gehören, niemals von<br />

diesem Strome sich hinreißen lassen; und den Bewohnern<br />

von <strong>Reichelsheim</strong> und Dorn-Assenheim gereicht es<br />

zur besonderen Genugtuung, daß kein Individuum sich<br />

jemals beteiligte an Handlungen, welche ein präventives<br />

oder repressives Hinschreiten hätte veranlassen müssen.<br />

So wollen wir denn auch ferner in pflichtgetreuer Anerkennung<br />

der landesherrlichen Gerechtsame als treue<br />

Bürger und Hüter des Gesetzes uns bewähren, und indem<br />

wir bei diesem bedeutungsvollen Gedenkfeste die<br />

ungeheure Freude des Landes teilen, erneuern wir den<br />

Schwur der unverbrüchlichen Treue, des Strebens nach<br />

Recht und Wahrheit und verneigen uns in brünstigem<br />

Gebet zu Gott, dem Allmächtigen, daß er den Stamm<br />

des regierenden Hauses noch viele Jahrhunderte hin-<br />

121


durch grünen, blühen und wachsen lasse, auch schützen<br />

und bewahren die erhabene Person des hochverehrten<br />

Fürsten zum Heil und Segen des treuen Volkes.<br />

Die wir harren in tiefer Ehrfurcht<br />

EW. Hoheit<br />

untertänigste Einwohner von <strong>Reichelsheim</strong> & Dorn-Assenheim.“<br />

Der überschwengliche Jubel um den „durchlauchtigsten<br />

Herzog“ währte in den Gassen <strong>Reichelsheim</strong>s nicht<br />

mehr lange: Das intensive Streben Preußens um Vorherrschaft<br />

in Deutschland bzw. um die Herstellung der<br />

politischen Einheit von Deutschland unter preußischer<br />

Führung führte schließlich zum Krieg Preußens gegen<br />

Österreich. Die hessischen Staaten - Kurhessen, Nassau<br />

und Hessen-Darmstadt - verbündeten sich mit Österreich<br />

und den anderen süddeutschen Staaten, während<br />

Preußen die Unterstützung der norddeutschen Fürstentümer<br />

hatte.<br />

Die berühmt gewordene Schlacht bei Königgrätz<br />

(Böhmen), die die Preußen für sich gewinnen konnten,<br />

stellte die Weichen für ein neugeordnetes Deutschland -<br />

ein Deutschland ohne Österreich, das Klein-Deutschland.<br />

Vor allem wurde diese Auseinandersetzung zum historischen<br />

Ende von Kurhessen (Hessen-Kassel) und des<br />

Herzogtums Nassau! Preußen annektierte diese Herrschaftsgebiete<br />

und tat damit das, was es ca. 50 Jahre zuvor,<br />

nach den napoleonischen Kriegen, schon hatte machen<br />

wollen: es stieß mit seinem Staatsgebiet bis zum<br />

Main vor und war damit die bestimmende Macht in<br />

Deutschland! Es reichte von der Memel bis an den<br />

Rhein, von der Nord- und Ostsee bis an den Main.<br />

<strong>Reichelsheim</strong> allerdings wurde nur für wenige Wochen<br />

preußiseh. Da das Großherzogtum Hessen-Darmstadt,<br />

auch nicht dessen Provinz Oberhessen, auf Druck des<br />

Zaren von Rußland von Preußen nicht, wie von Otto von<br />

Bismarck vorgesehen, annektiert wurde, Preußen allerdings<br />

an der Exklave <strong>Reichelsheim</strong>/Dorn-Assenheim kein<br />

Interesse hatte, fiel das ehemalige nassauische Amt in der<br />

Wetterau an das Großherzogtum Hessen-Darmstadt.<br />

<strong>Reichelsheim</strong> war nunmehr hessisch!<br />

Sein Poststempel änderte sich konsequenterweise: Es<br />

hieß nicht mehr „<strong>Reichelsheim</strong>/Nassau“, sondern „<strong>Reichelsheim</strong>/Wetterau“<br />

- und bei dieser Bezeichnung blieb<br />

es bis heute!<br />

Pfarrer Snell hatte in seinem langen Eintrag in die Kirchenchronik<br />

über die geschilderten Ereignisse mit folgenden<br />

Worten eingeleitet:<br />

„Dieses Jahr hat das Deutschland, welches aus den<br />

Napoleonisehen Kriegen und dem Wiener Kongreß hervorgegangen<br />

und unter dem Bundestage über ein halbes<br />

Jahrhundert in Frieden gelebt hatte, in politischer Hinsicht<br />

total umgestaltet.“<br />

Snell nennt dieses Jahr „ein Jahr der Schmach“_ Er unterdrückt<br />

nicht seine Antipathie gegen Preußen, und<br />

wahrscheinlich gab er damit die Stimmung der <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

wieder. Da für ihn der Krieg gegen Preußen ein<br />

„gerechter Krieg“ war, wandelte er das „Kriegsgebet um<br />

siegreiche Waffen“, das der nassauischen Landesbischof<br />

angeordnet hatte in ein „Gebet für den Sieg der gerechten<br />

Sache“ um (s. S. 217).<br />

Auch 10 <strong>Reichelsheim</strong>erjunge Männer waren für den<br />

Krieg eingezogen worden, hatten allerdings das Glück,<br />

zu überleben, weswegen Pfarrer Snell den Dankgottesdienst<br />

am 16. September 1866 mit den Worten eröffnete:<br />

„Er zählt die Häupter seiner Lieben, und sieh, es fehlt<br />

kein teures Hauptl“ (s. Kirehenbuch S. 219).<br />

Nach dem Niedergang Nassaus, der ihn zwang, wie alle<br />

„öffentlichen Diener“ sich durch Eid für Preußen in<br />

die Pflicht nehmen zu lassen, betete der <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

122


Pfarrer nicht für Preußen und dessen König, dem neuen<br />

Landesvater, sondern sprach „von da lediglich das alte<br />

nassauische Kirchgebet für das ›Gemeinsame deutsche<br />

Vaterland


8. d) Auf dem Wege ins 20. Jahrhundert<br />

Der Sieg Preußens über Österreich und seine süddeutschen<br />

Verbündeten, die klare Entwicklung hin zu<br />

einem „Deutschland unter einer Krone“ ließ in allen<br />

Teilen des Landes und der Bevölkerung einen kraftstrotzenden<br />

Nationalismus entstehen. Der Blick in die<br />

Zukunft war für die meisten Menschen von „Optimismus<br />

durch Nationalismus“ geprägt: „Es wird besser<br />

werdenl“ - „Wir werden stark werden I“ - „Deutschland,<br />

Deutschland über allcsl“ - „Nichts ist mir teurer<br />

als mein Vaterlandl“ - so lauteten die Kernsätze der<br />

vielen Reden von weltlichen und geistlichen Würdenträgern<br />

an den vielen Gedenktagen, die den Jahreslauf<br />

der Menschen jener Jahrzehnte begleiteten.<br />

Die Zukunftsorientiertheit war auch im nun hessischen<br />

<strong>Reichelsheim</strong> zu spüren: lm Jahr des Krieges,<br />

1866, wurde begonnen, das Rathaus zum gemeindlichen<br />

Schulhaus umzubauen. Das Haus wurde bis auf<br />

den untersten Stock abgetragen und auf die Mauern<br />

des Erdgeschosses der neue Bau gesetzt. „Auf der hintern<br />

Seite des Gebäudes wurde auch das Türmchen neu<br />

aufgeführt und mit einem Wetterfähnchen sowie mit<br />

einem von dem Schmied Siegfried Vogt dahier gestifteten<br />

Glöckchen versehen“ (s. Kirchenbuch, S. 222 f.).<br />

Die zwei alten Schulhäuschen auf dem südlichen Teil<br />

des Kirchhofes mit Zugang von der Untergasse (heute<br />

Florstädter Straße) wurden in den folgenden Jahren<br />

abgerissen. Damit war nun die enge Anbindung zwischen<br />

Kirche und Schule aufgehoben. Wenig später<br />

wurde den Kirchen das Recht der Schulaufsicht genommen,<br />

womit nach der räumlichen Trennung auch<br />

die rechtliche kam. Und 1872, also nahezu gleichzeitig,<br />

wurde, wie es im Kirehenbuch heißt (s. S. 249), „der<br />

bisher offene Platz um die Kirche mit einer niedrigen<br />

Mauer und darauf stehendem eisernen Spalier umgeben“.<br />

Diese Ein- bzw. Abgrenzung des Kirchenge-<br />

ländes schien wahrhaft symbolische Bedeutung zu<br />

haben...<br />

Nachdem <strong>Reichelsheim</strong> nun nicht mehr „Ausland“ zu<br />

seinen Nachbarorten war, wurde auch alles darangesetzt,<br />

die Verbindungen zu verbessern. Schon 1868 wurde<br />

der Weg nach Heuchelheim „chaussiert“, also befestigt<br />

- allerdings nicht auf der Trasse des jahrhundertealten<br />

Weges. „Es wurde jedoch nicht der alte Weg eingehalten,<br />

sondern vom Eck der ›elf Morgen


durch die Wiesen nach Florstadt floß, nunmehr aber ein<br />

ganz gerades Bett erhalten hat, ihren Abschluß. Die Kirche<br />

& Pfarrei <strong>Reichelsheim</strong> erhält ihre Grundstücke in<br />

mehreren größeren Komplexen“ (s. S. 349).<br />

Doch auch in diesen Jahren waren die <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

nicht von Plagen, Kummer und Sorgen verschont. Das<br />

Kirehenbuch gibt uns noch heute Kenntnis von der damaligen<br />

Zeit; hier ein kleiner Ausschnitt:<br />

Schafwäsche in der Horloff.<br />

Die Schafe wurden vor dem Scheren<br />

in der Horloffgrttndlichst „gebaclet“<br />

(Aufnahme um 1910; Besitz der Familie Winter)<br />

Nach Drainierung und Feldbereinigung sah das Umland<br />

des Ortes doch sehr verändert aus: die vielen kleinen<br />

„Ackerchen“, über Jahrhunderte durch Erbauseinandersetzungen<br />

entstanden, hatten das Landschaftsbild<br />

bisher geprägt. Nun aber waren größere Einheiten entstanden,<br />

hatten manchen Feldweg verschwinden lassen,<br />

was den Bauern manchen Weg ersparte: Ihre Arbeitseinsätze<br />

konzentrierten sich auf viel weniger Felder. Manch<br />

ein Bauer wird dadurch gar in die Lage versetzt worden<br />

sein, auf einen Knecht oder auf eine Magd zu verzichten.<br />

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1868: Maikäferplage und Plage durch Erdflöhe („Sie<br />

waren in ungeheurer Menge vorhanden, so daß<br />

man das Kraut verloren gab“ - s.S.232) 1868:<br />

Masernepidemie: 7 Kinder starben _ _ _<br />

1871: Überschwemmungen („Beständig Regen führte<br />

zu Überschwemmung des ganzen Horloff- und<br />

Niddatales zu Ende Juni und Anfang Juli; eine<br />

Wassermenge sah man, dergleichen sich die ältesten<br />

Leute nicht zu erinnern wissen, so daß nur<br />

wenig Heu geerntet werden konnte“ ~ s. S. 241).<br />

1871: Blattern-Epidemie: („Die Blattern-Epidemie<br />

hatte sich, durch Einschleppen von außen, hier<br />

eingestellt und mußten 6 Häuser abgesperrt werden;<br />

auch wurde die Cigarrenfabrik des Kaufmanns<br />

Schwarz geschlossen. weil es lauter Arbeiter<br />

derselben waren, die davon ergriffen waren“<br />

(s. S. 245).<br />

1872: Mäuseplage 1880: Frostschäden an den Obstbäumen<br />

(„Bei der hier vorgenommenen Zählung zur<br />

Konstatierung des Frostschadens ergab sich folgendes<br />

Resultat: Apfelbäume: 1128 erfroren,<br />

1607 noch vorhanden. Birnbäume, die im allgemeinen<br />

weniger gelitten hatten: 349 erfroren,<br />

1415 nicht. Zwetschen aber: 3045 erfroren, 2487<br />

nicht. Von Aprikosen- und Pfirsichbäumen erfroren<br />

18, erhalten blieben 3.<br />

Die Zahlen sind doch nur annähernd, da manche<br />

Bäume, die gesund zu sein schienen, später doch<br />

noch zu Grunde gingen“ -s. Kirehenbuch S. 272).<br />

1882: Regenjahr: „Regen, Regen Regenl“ (Überflu-<br />

125


tungen: 500 Morgen Wiesen und z. T. auch<br />

Fruchtfelder standen unter Wasser)<br />

1892: Diphterie-Epidemie („In diesem Jahr grassierte in<br />

unserer Gemeinde eine Diphterieepidemie, die<br />

zahlreiche Opfer forderte. Es starben in 1892 elf<br />

Kinder und betrugen die Todesfälle die außergewöhnlich<br />

hohe Zahl von 31 “)<br />

1893: Trockenheit („Der Sommer brachte eine außergewöhnliche<br />

Trockenheit. Infolge derselben entstand<br />

cin großer Mangel an Futtermitteln. Das<br />

Vieh wurde mitunter zu wahren Schleuderpreisen<br />

verkauft.<br />

Daß eine Kuh oder ein Rind für 40-50 Mark abgegeben<br />

wurde, war keine Seltenheit. Die Landwirte schlachteten<br />

vielfach ihr entbehrliches Vieh selber und verkauften<br />

das Fleisch zu 20-30 Pfennig das Pfund“ - s. Kirchenbuch<br />

S. 337).<br />

Sorgen - Trauer - wirtschaftliche Not - Verzweiflung:<br />

immer wieder gehörten sie zum Alltag der Menschen.<br />

Die Hoffnungen der ehemaligen Nassauer auf wirtschaftliche<br />

Besserung durch Eingliederung in das größere<br />

Hessen-Darmstadt und die Reichsgründung 1871 erfüllten<br />

sich nicht! Es machte sich nun negativ bemerkbar,<br />

daß das alte Herzogtum zu wenig für den gewerblichen<br />

Fortschritt, aber auch zu wenig für die Neuordnung der<br />

landwirtschaftlichen Strukturen getan hatte. Zudem<br />

mußten die Ex-Nassauer erkennen, daß es nicht so war,<br />

daß alles auf sie gewartet hatte. Die alten Gebiete des<br />

Großherzogtums Hessen hielten zusammen, dachten<br />

wenig daran, mit den neuen Landsleuten zu teilen. Dies<br />

hatte Konsequenzen: „Der verzögerte Aufschwung der<br />

nassauischen Wirtschaft wurde bereits 1873 durch die<br />

›Gründerkrise< unterbrochen. Dazu kam die strukturelle<br />

Dauerkrise der überwiegend kleinbetrieblichen nassaui-<br />

Reieheleheim<br />

FN<br />

»wımıııfil<br />

Symbol der neuen Zeit: Das „Kaiserliches Postamt<br />

<strong>Reichelsheim</strong> “ an der Staatsstraße,<br />

heute Bingenheimer Straße 32<br />

(1886 erbaut, 1965 umgebaut)<br />

ı*«:›»ı.mai<br />

126


schen Landwirtschaft. Für die rasch zunehmende Bevölkerung<br />

war kaum Arbeit vorhanden, so daß die Auswanderzahlen<br />

nochmals stark anstiegen“ („Nassaus Beitrag<br />

für das heutige Hessen“, S. 71).<br />

Im Kirehenbuch vermerkte Pfarrer Kayser im Jahre<br />

1881: „Die Auswanderung nach Amerika ist in diesem<br />

Jahr in ganz Deutschland sehr stark gewesen, auch von<br />

hier gingen viele weg, so am 1. September 16 Personen<br />

auf einmal“ (s. S. 295).<br />

Die Unterlagen des Stadtarchivs bestätigen, daß immer<br />

wieder <strong>Reichelsheim</strong>er Bürgerinnen und Bürger ihrer<br />

Heimat „Lebwohl“ sagten bzw. sagen mußten, weil in<br />

ihrem Heimatort keine wirtschaftliche Zukunft für sie zu<br />

erwarten war. Bekannte Namen tauchen in dem „Paßoder<br />

Heimatschein-Register“, daß von der Gemeindeverwaltung<br />

von 1870 bis 1888 geführt worden war, auf:<br />

Coburger und Maley, Kornmann und Vogt, Weitz und<br />

Mörchel, Schmidt und Nohl, Schäfer und Nagel, Stephan<br />

und Schnell, Krailing und Gros, Möser und Schutt.<br />

Das genannte „Paß- oder Heimatschein-Register“ gibt<br />

aber auch Auskunft, welche Berufe und welche Ziele die<br />

Wanderwilligen gehabt hatten. Insgesamt verließen in<br />

dem registrierten Zeitraum 81 erwachsene Personen<br />

<strong>Reichelsheim</strong>; die Zahl der Kinder, die ausreisende Familien<br />

mitnahmen, ist nur teilweise aufgeführt.<br />

Von jenen 81 Personen wanderten 22 nach Nordamerika,<br />

11 in die Schweiz und 1 nach Frankreich aus. 47 suchten<br />

in anderen Ländern des Deutschen Reiches ihre gesicherte<br />

Zukunft.<br />

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„.124“<br />

Ansichtskarte von <strong>Reichelsheim</strong>,<br />

abgestempelt 1899<br />

(im Besitz der Familie W. Dörr)<br />

1 127


_<br />

Die Tatsache. daß kein Landwirt sondern nur Handwerker<br />

und Arbeiter sowie Dienstpersonal <strong>Reichelsheim</strong><br />

„Adieu“ sagten, weist vor allem auf die wirtschaftlich<br />

schlechte Situation derselben hin: 1 1 Dienstmädchen<br />

bzw. Mägde und 6 Näherinnen, 9 Schreiner, 6 Zigarrenmacher,<br />

5 Schuhmacher, jeweils 4 Schlosser, Weißbinder,<br />

Metzger und Küfer, aber auch je 2 Zimmerleute,<br />

Schmiede, Bäcker und Buchbinder, je 1 Dreher, Sattler,<br />

Bierbrauer, Schneider, Gänshirt, Gärtner, Briefträger,<br />

kaufmännischer Lehrling und Tagelöhner. Man hätte<br />

mit diesen Leute eine kleine Stadt versorgen können! Allerdings<br />

macht diese Aufzählung auch deutlich, wie breit<br />

die handwerklich / gewerbliche Palette in <strong>Reichelsheim</strong><br />

vor gut 100 Jahren war.<br />

Wie eine Volkszählung aus dem Jahre 1875 verdeutlichte,<br />

gaben zu jener Zeit ca. 40% der Haushaltsvorstände<br />

an, Landwirt zu sein. Diese Zahl sagt nicht nur,<br />

daß sich die Auswanderer aus den restlichen 60% rekrutierten;<br />

40% der berufstätigen Haushaltsvorstände waren<br />

Landwirte: Wie groß, so muß man sich als Ortskundiger<br />

fragen, waren damals die Höfe? Es ist vorstellbar,<br />

wie diese Bauern - in der Regel Kleinbauern - von Wind<br />

und Wetter, von Raupen und Mäusen in ihrer Existenz<br />

abhängig waren! Jede Mißernte führte auch für diese Familien<br />

unmittelbar zu Hunger und zu Krankheitsanfälligkeit.<br />

Trotzdem: <strong>Reichelsheim</strong> war eine Bauernstadt_ Die<br />

Bauern lichteten nicht ihren Anker, um in der weiten<br />

Welt ihre Zukunft zu suchen. Sie, die Bauern, die „Seßhaften“,<br />

bestimmten deswegen auch die Kontinuität der<br />

Sitten und Gebräuche, sie bestimmten die Regeln des<br />

Lebens in diesem Ort - sie bestimmten die Politik.<br />

Fotokopie des Registers /Jg. 1874/80<br />

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128


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Wie schon gesagt: die <strong>Reichelsheim</strong>er galten als „stur<br />

und steifnackig“, die nicht sogleich nachgeben. Versuchten<br />

die Landwirte durch Drainierung der Felder und<br />

durch Flurbereinigung in jenen Jahrzehnten ihre Wirtsehaftssituation<br />

zu verbessern, so hofften die verbliebenen<br />

Handwerker durch planvolle Investitionen ihre Zukunft<br />

abzusichern. In den Jahren nach der „Hessisierung“<br />

von <strong>Reichelsheim</strong> wurde manches Bauvorhaben<br />

gewerblicher Art in Angriff genommen:<br />

1869: 2 Waschhäuser<br />

1 Gerbhaus<br />

1876: lKüferwerkstatt<br />

1880: 1Waschküche<br />

1885: 1 Schmiedewerkstatt<br />

1887: 1Wagnerwerkstatt<br />

1892: 51 Schaufenster<br />

1893: 1 Faselstall (Bachgasse)<br />

1 Molkerei (Genossenschaft/Straße<br />

n. Weckesheim)<br />

1896: 1 Zigarrenfabrik (Turmgasse)<br />

1897: 1 Erweiterung eines Backhauses<br />

1899: 1 Werkstätte (Sandgasse)<br />

1900: 1Schlachthaus<br />

1901: 1 Werkstatt (Hainweg)<br />

1 Werkstatt (Haingasse)<br />

1902: lBacksteinbrennerei<br />

(Straße nach Weckesheim /Ziegelei)<br />

1 Ringofenanlage (ebenda)<br />

1 Schmiedewerkstatt<br />

1 Sattlerwerkstatt (Bachgasse)<br />

1 Schmiedewerkstatt<br />

(Ecke Hain-/ Schweizergasse)<br />

1903: 1 Anlage eines Eisteiches (Molkerei)<br />

1 Metzgerei<br />

1904: 1 Sattlerwerkstatt (Neugasse)<br />

1906: 1 Backofen (Haingasse)<br />

1 Maschinenhaus (Straße n. Weckesheim)<br />

1 Schlosserwerkstatt (Schweizergasse)<br />

1911: 1 Apotheke (Straße n. Bingenheim)<br />

1 Maschinenhalle (Straße n. Weckesheim)<br />

1912: lSpritzenhaus<br />

Auch im privaten Hausbau tat sich zwischen 1866 und<br />

dem Beginn des 1. Weltkrieges einiges im Ort, was ihn<br />

heute noch prägt: Hofeinfriedungen, Hausaufstockungen<br />

und dergleichen waren Grund vieler einzelner Bauanträge.<br />

Man wollte/ brauchte mehr Platz, und den wollte<br />

man zugleich schützen. Insgesamt fällt auf, daß sich in<br />

jenen Jahrzehnten <strong>Reichelsheim</strong> vor allem in West- und<br />

Nordriehtung ausdehnte: die Straßen nach Weckesheim<br />

und Bingenheim wurden immer begehrter als Wohn- und<br />

Arbeitsplatzstandort.<br />

Daß diese Investitionen möglich wurden, obwohl in<br />

<strong>Reichelsheim</strong>, wie beschrieben, mehr Armut als Reichtum<br />

zu Hause war, liegt mit in der Tatsache begründet,<br />

daß auch hier die Ortsbürger eine genossenschaftliche<br />

Bank als Selbsthilfeeinrichtung basierend auf den Ideen<br />

von Schulze-Delitzsch gegründet hatten (April 1865),<br />

und zwar den „Vorschuß- und Creditverein mit unbeschränkter<br />

Haftung - <strong>Reichelsheim</strong> (Nassau)“, der sich<br />

den Bürgern in <strong>Reichelsheim</strong> und Umgebung als „Sparkasse<br />

und Bankanstalt“ empfahl und sich seit März 1942<br />

unter dem Namen „Landbank Horlofftal e.G“ weiterhin<br />

erfolgreich empfiehlt. Die Idee des Sparens wurde auch<br />

von einer „Pfennigkasse“, einer „Armen- und Kindersparkasse“<br />

gefördert. Initiator und Motor dieser Sparkasse<br />

war 1882 in <strong>Reichelsheim</strong> Pfarrer Kayser, während<br />

die politische Gemeinde sich von dieser Institution gar<br />

nicht begeistert gezeigt haben soll und auch darauf verwies,<br />

daß der „Vorschuß- und Creditverein“ schon Spar-<br />

. 129


einlagen von 1 Mark annähme. Pfarrer Kayser setzte<br />

sich aber durch, veranstaltete sogar eine - wenig erfolgreiche<br />

- Kollekte in der Kirche, um Mittel für die<br />

Sparbücher zu haben. Und er sollte auf Erfolge verweisen<br />

können: Ende 1883 betrug das Gesamtvermögen<br />

schon 4448,60 Mark und Ende 1884 gar 5602,88 Mark -<br />

zusammen addiert aus vielen kleinen Pfennigbeträgen<br />

von Armen und z. T. auch Kindern. Angelegt wurde<br />

dieses Geld natürlich bei dem <strong>Reichelsheim</strong>er „Vorschuß-<br />

und Creditverein“.<br />

Daß zum Ende des Jahrhunderts die Zahl der Auswanderer<br />

nachließ, mag auch in der Tatsache seine Ursache<br />

haben, daß es durch die Eisenbahnlinie Friedberg<br />

- Nidda vielen eher möglich war, in einem größeren<br />

Umkreis Arbeit anzunehmen. Über die Schaffung<br />

der Eisenbahnlinie von Friedberg her war über viele<br />

Jahre diskutiert worden. 1880 fanden Vermessungen<br />

für eine Streckenführung Friedberg-Echzel1-Laubach<br />

statt, die sich zerschlugen, allerdings 1884 erneuert<br />

wurden. Inwieweit <strong>Reichelsheim</strong> angebunden werden<br />

sollte, war dabei nicht klar. 1885 wurden Pläne für eine<br />

Streckenführung Echzell - <strong>Reichelsheim</strong> - Melbach -<br />

Dorheim - Friedberg entworfen. 1892 waren schließlich<br />

die Arbeiten der endgültigen Streckenführung abgeschlossen:<br />

nicht mehr Laubach war Zielort der von<br />

Friedberg her kommenden Dampflok, sondern Nidda.<br />

Damit war zugleich das Postkutschenzeitalter für <strong>Reichelsheim</strong><br />

vorbei (<strong>Reichelsheim</strong> lag an der Postkutschenstrecke<br />

Frankfurt ~ Assenheim - Echzell - Nidda<br />

- Lauterbach). Noch heute ist die Zugverbindung nach<br />

Friedberg und Nidda für unseren Ort von großer .Bedeutung.<br />

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Schulklasse mit Lehrer Adam Schäfer vor dem Kirchhof in <strong>Reichelsheim</strong>; Aufnahme aus dem Jahre 1904<br />

130


Doch das Leben der Menschen unseres Ortes war<br />

nicht nur von lokalen Ereignissen geprägt. Wie schon in<br />

der Einführung zu diesem Kapitel ausgeführt, begann zu<br />

jener Zeit die Epoche des Nationalismus, ja: die Epoche<br />

der nationalen Euphorie - auch hier in <strong>Reichelsheim</strong>!<br />

„Am 25. Oktober 1870“, so kann man im Kirehenbuch<br />

lesen, „sah man hier ein prachtvolles, weit ausgedehntes<br />

Nordlicht, dem am folgenden Tage furchtbare Stürme<br />

folgten“ (s. S. 240). Während jenes Oktobers stand<br />

Deutschland mit Frankreich schon im Krieg. Es ging zwischen<br />

Frankreich und Preußen, zwischen Napoleon und<br />

Bismarck um die I-Iegemonie in Europa. Preußen gewann<br />

- und es gewann nicht nur erstmals die Unterstützung<br />

der süddeutschen Fürsten und Könige, es gewann<br />

die nationale Sympathie - und schließlich die Kaiserkrone<br />

des neugegründeten deutschen Reiches, des sogenannen<br />

Zweiten Reiches.<br />

Auch die <strong>Reichelsheim</strong>er empfanden nun Preußen als<br />

„Vorreiter der deutschen Sache“, sahen den Krieg als<br />

„gerechten Krieg“, beteten jeden Mittwochnachmittag<br />

in einem besonderen Gottesdienst im „Hause des Herrn<br />

aller Herrn“ zum „König aller Könige“: „Wie an allen<br />

Orten so war auch hier die Begeisterung für die gerechte<br />

Sache des Vaterlandes groß und allgemein, und ebenso<br />

auch die Teilnahme und Mithülfe zur Unterstützung der<br />

Soldaten im Felde und der Kranken und Verwundeten“<br />

(s. Kirehenbuch S. 242). Geld, Lebensmittel, Heu und<br />

Stroh wurden gesammelt und weitergeleitet. Geschenkpakete<br />

wurden vor allem an die gezogenen Soldaten aus<br />

<strong>Reichelsheim</strong> selbst geschickt: an die Söhne der Nohls<br />

und Kornmanns, der Coburger und Eckholds, der Schäfers<br />

und Sprengels, der Schnells und Schutts; an die Söhne<br />

der Heß” und Beilsteins, der Klotz” und Dörrs, der<br />

Stephans und Gerlachs, der Vogts und der Kreilings,<br />

aber auch an die der Nagels und Schmidts, der Vonder-<br />

REKJHELSHEIM (Wetterau)<br />

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Ansichtskarte des Jahres 1914 vom Kriegerden./(mal<br />

heits und Kratz°. 25 junge <strong>Reichelsheim</strong>er standen an der<br />

Front, weitere waren in Kasernen als Reserve bereit zum<br />

Einsatz. Viele Familien waren betroffen von diesem<br />

Krieg, der Deutschland schließlich einte, ein Krieg, der<br />

kein Bruderkrieg mehr war, für den man in früheren Generationen<br />

die Söhne ziehen lassen mußte.<br />

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131


Am 3. März 1871 feierten die <strong>Reichelsheim</strong>er den<br />

Sieg, den Frieden mit Glockengeläut, Ansprachen, Musik<br />

und Umzug.<br />

Die Feiern im Andenken des Sieges wurden nahezu<br />

jährlich wiederholt. Der Ort zeigte sich im Flaggenschmuck;<br />

ein Umzug durch die Straßen, als dessen „Attraktion“<br />

jeweils der 1874 gegründete „Kriegerverein“<br />

hervorstach, war „obligatorisch“; die Kinder hatten<br />

schulfrei, durften sich allerding in allen Sparten der körperlichen<br />

„Ertüchtigung“ ihren Eltern präsentieren; patriotische<br />

Lieder wurden gesungen und durchklangen<br />

den ganzen Ort . . .<br />

1886 erhielt der Kriegerverein gar eine Fahne, die<br />

durch den Geistlichen in würdevoller Form geweiht wurde.<br />

Und 1909 wurde beschlossen, 1910 aus Anlaß der<br />

40. Wiederkehr des „denkwürdigen Krieges“ ein Kriegerdenkmal<br />

in <strong>Reichelsheim</strong> zu errichten.<br />

Als am 9. und 10.Juli 1910 das „Kriegerfest“ (Bezeichnung<br />

aus dem Kirehenbuch) zur Einweihung des Denkmals<br />

gefeiert wurde, hielt der damalige Pfarrer Vogel<br />

eine wohl zeit-typische Ansprache, die er in ihrem Kern<br />

in einem Zeitungsartikel wiederholte. Er „mahnte dabei<br />

zu Treue gegen Kaiser und Reich. . . Möge das Denkmal,<br />

das wir inmitten der Gemeinde für unsere toten und lebenden<br />

Veteranen gesetzt haben, uns stets an die Treue<br />

mahnen, die wir bis zum Tode unserem Vaterlande und<br />

dem Hergott dort oben schuldig sind.. . Die Treue und<br />

die Liebe zum Vaterlande über allesl“<br />

Das Denkmal bezeichnete Pfarrer Vogel in seiner Ansprache<br />

„als ein Werk, das uns (= seiner Generation)<br />

zeigt, was uns Deutsche wirklich deutsch und groß gemacht<br />

und den zukünftigen Geschlechtern eine heilige<br />

Mahnung, unserem Vaterlande die Treue zu halten,<br />

Treue bis zum Tode und Liebe bis zum letzten Hauch“<br />

(s. Kirchenbuch, S. 393 f.).<br />

Die vom <strong>Reichelsheim</strong>er Pfarrer gewählte Sprache<br />

wies auf die Zukunft: sie ließ ahnen, daß nach jedem<br />

Wetterleuchten, mag es noch so prachtvoll sein wie das<br />

von 1870, Stürme und vernichtende Unwetter kommen.<br />

Der sich abzeichnende kommende Krieg, in den an<br />

manchen Orten die jungen Menschen blumengeschmückt<br />

geschickt wurden, wurde ein schmerzvoller,<br />

schrecklicher Krieg, schrecklicher als jeder Krieg<br />

zuvor. Manch ein <strong>Reichelsheim</strong>er kehrte aus ihm<br />

nicht wieder in die Heimat zurück, hinterließ Frau und<br />

Kinder.<br />

132


9 Das 20. Jahrhundert<br />

a) Die Ruhe vor dem Sturm<br />

Dieses Jahrhundert, unser Jahrhundert, sollte <strong>Reichelsheim</strong><br />

durcheinandersch ütteln, wie viele andere Gemeinwesen<br />

in Deutschland und Europa auch. 1911:<br />

Zunächst schlief dieser Ort noch seinen „Dornröschenschlaf“,<br />

lebte in einer abgeschlossenen Welt, verhıelt<br />

sich so, als sei die alte Landwehr rund um die Gemarkung<br />

noch immer Schutz vor radikalen Veränderungen<br />

ım sozialen und wirtschaftlichen Bereich.<br />

Natürlich wurde auch in <strong>Reichelsheim</strong> vieles verwirklıcht,<br />

was die Erkenntnisse und Erfindungen der damali- 1912.<br />

gen Zeit möglich und nötig machten:<br />

1909 <strong>Reichelsheim</strong> erhielt ein Wasserleitungssystem,<br />

was vielfach zu Umbauten in den Häusern führte<br />

(Bad/WC). Die alten Brunnen, früher täglicher<br />

Treff der Menschen, wurden stillgelegt.<br />

<strong>Reichelsheim</strong> erhielt ein neues Spritzenhaus, um<br />

den Brandschutz besser gewährleisten zu können.<br />

- Es wurde eine neue Amts-Apotheke gebaut,<br />

was der Gesundheitsfürsorge zugute kam.<br />

- Nach Abriß des alten nassauischen Amtshauses<br />

wurde an gleicher Stelle ein Lehrerwohnhaus errichtet,<br />

was den Ort für qualifiziertes Lehrpersonal<br />

attraktiver machte.<br />

Das alte Pfarrhaus wurde durch ein neues an gleicher<br />

Stelle ersetzt, was dazu führte, daß nun die<br />

Pfarrer nicht nach wenigen Jahren um Versetzung<br />

nachsuchten.<br />

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1912/ Im Sommer 1912 wurden die Arbeiten zur Versor-<br />

1913: gung der Gemeindestraßen und der Häuser mit<br />

Elektrizität begonnen. Den Strom lieferte das<br />

neue „Elektrizitätswerk der Provinz Oberhessen“<br />

in Wölfersheim. „Am l0. Juli 1913 brannte zum<br />

ersten Male Licht in <strong>Reichelsheim</strong>, am 11.Juli waren<br />

abends zum ersten Male die Ortsstraßen erleuchtet“<br />

(s. Kirchenbuch, S. 425).<br />

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„Ich scheide von <strong>Reichelsheim</strong> mit herzlichem Dank<br />

für die vielen Erweise treuer Anhänglichkeit und Liebe<br />

von seiten der Gemeindemitglieder und bitte Gott, daß<br />

er die Gemeinde <strong>Reichelsheim</strong>, die keinen Mangel an irdischen<br />

Gütern hat, auch reich mache an himmlischen<br />

Gütern durch Christus.“<br />

Politisch verhielt man sich, gemäß der eigentumsbezogenen<br />

Interessenlage, nationalkonservativ bzw. nationalliberal,<br />

sobald ein überregionales Parlament zu wählen<br />

war. Lokal bestimmte die Landwirtschaft die Geschicke,<br />

sie stellte die Bürgermeister, wenn dies auch<br />

nicht immer ohne Streit abging. So berichtet das Kirehenbuch<br />

über die Bürgermeisterwahl des Jahres 1903<br />

folgendes (s. S. 351):<br />

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Spritzenhaus, gegemíiber dem Rathaus<br />

an der Kirchhofmauer<br />

Obwohl dic meisten Pfarrer einen starken Einfluß auf<br />

die Gemeindemitglieder hatten: nicht immer waren sie<br />

in jener Zeit mit ihren „Schäfchen“ zufrieden, denn besonders<br />

kirchentreu bzw. freundlich scheinen sie, vor allem<br />

die Verantwortlichen, nicht immer gewesen zu sein:<br />

Pfarrer Fischer schied 91905 aus <strong>Reichelsheim</strong> mit folgendem<br />

Kirchenbucheintrag:<br />

Rinder aufdem Hof Maley, Neugasse.<br />

Rechts besonders stark gebaute Fahrbullen<br />

(Aufnahme am 1920)<br />

134


„Den 22ten August fand Bürgermeisterwahl statt. Mit<br />

Spannung war man diesem Tag entgegengegangen, standen<br />

sich doch zwei ziemlich gleich starke Parteien gegenüber,<br />

die bezeichnender Weise die ›Nassen< und die<br />

›Trockenen< genannt wurden. Diese Benennung ist<br />

nicht, wie man annehmen könnte, auf größeren oder geringeren<br />

Alkoholverbrauch zurückzuführen, sondern<br />

auf die Wiesenbewässerung, welche von den einen angestrebt,<br />

den anderen aber bekämpft wurde.<br />

Das Resultat der Wahl war: Bürgermeister Steten 75,<br />

Karl Schmid II. 69, Schlosser Nohl 14 Stimmen. Da eine<br />

absolute Majorität von keinem Kandidaten erzielt worden<br />

war, mußte die Stichwahl entscheiden. Dieselbe<br />

wurde am 5ten September vorgenommen und ging aus<br />

derselben der seitherige Bürgermeister mit 89 Stimmen<br />

(gegen 80) siegreich hervor.<br />

Es ist nur zu bedauern, daß durch die Wahlagitation in<br />

unsere Gemeinde Uneinigkeit und Streit gebracht worden<br />

sind und daß vielfach die Bande der Freundschaft, ja<br />

der Verwandschaft durch die unselige Wahl zerrissen<br />

worden sind. Wann wird der Friede wieder bei uns einkehren?<br />

Wie`s jetzt ist, ist es äußerst betrübend.“<br />

Bei den Reichstagswahlen standen die <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

nahezu geschlossen hinter dem jeweils konservativen<br />

Kandidaten, z. B.:<br />

1898: Wahlkreis <strong>Reichelsheim</strong><br />

Graf Oriola (Nat.-Lib.) 61,12 % 84,97 %<br />

Prinz (SPD) 38,88 % 15,03 %<br />

Bei der Reichstagswahl 1910 sollte der <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

Pfarrer Vogel (s. Schluß des vorigen Kapitels) gar Kandidat<br />

für die Nationalliberalen im heimischen Wahlkreis<br />

werden, was er aus Gewissensgründen allerdings ablehnte.<br />

Daß bei jener Wahl erstmals ein Sozialdemokrat den<br />

hiesigen Wahlkreis Friedberg/Büdingen gewinnen konnte,<br />

kommentierte Pfarrer Vogel im Kirehenbuch mit folgenden<br />

Worten (s. S. 396):<br />

„So zieht also ein Sozialdemokrat für unseren Wahlkreis<br />

in den Reichstag. Man sieht, wie die Verbitterung<br />

die Massen blind macht.“ ln <strong>Reichelsheim</strong> hatte der Sozialdemokrat<br />

nur wenig Sympathie gewinnen können:<br />

Sein Gegenkandidat erhielt mehr als Dreiviertel aller<br />

abgegebenen gültigen Stimmen.<br />

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Hauptstraße von <strong>Reichelsheim</strong> im Jahre 1912<br />

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135


9. b) Der erste große Krieg<br />

„Es lag im Laufe der letzten Jahre eine gewisse Kriegsstimmung<br />

auf den Völkern Europas. In der Gemeinde<br />

glaubte man nicht daran“, schrieb Pfarrer Vogel, jener<br />

Mann,<br />

- der 4 Jahre zuvor bei der Einweihung des Kriegerdenkmals<br />

dieses Bauwerk „den zukünftigen Geschlechtern<br />

als... heilige Mahnung unserem Vaterlande<br />

die Treue zu halten, Treue bis zum Tode und<br />

Liebe bis zum letzten Hauche“ vorstellte;<br />

- der bei gleicher Gelegenheit „an die deutschen Frauen<br />

und Jungfrauen“ die Bitte gerichtet hatte, „daß<br />

der echt deutsche Geist immer mehr die Leute erfasse<br />

und durchdringe“;<br />

- der dabei die Jugend an die Leistungen der Veteranen<br />

erinnerte, diese ihnen zum „leuchtenden Vorbild“<br />

empfahl, und sie aufforderte, im entscheidenden<br />

Moment wie jene 1870/71 nach der Parole „Sieg<br />

oder Todl“ dem Feind entgegenzustürmen (s. Kirchenbuch,<br />

S. 394/5).<br />

Um die Stimmung im damaligen <strong>Reichelsheim</strong> zu<br />

verdeutlichen, soll Pfarrer Vogel als wesentlicher Meinungsführer<br />

der Bürgerschaft zitiert werden<br />

(s.S.43lff.): „Als am 28. Juli (Dienstag) von Osterreich-Ungarn<br />

an Serbien der Krieg erklärt wurde, wurde<br />

die Spannung, die auf den Gemütern lag, entsetzlich. Da<br />

kam plötzlich die Entladung. Freitag, den 31. Juli, um<br />

6'/2 Uhr, traf uns dahier die Nachricht, daß der<br />

Kriegszustand über Deutschland<br />

verhängt worden sei. Es solle sofort öffentlich in der Gemeinde<br />

verkündet werden durch Trompetensignale oder<br />

Glockengeläute. Junge Männer eilten auf den Turm und<br />

läuteten alle Glocken. Die ganze Bewohnerschaft, auch<br />

die im Felde draußen, kamen, und am Rathaus wurde<br />

von Bürgermeister Karl Schmid die ernste Nachricht verlesen.<br />

Solch eine erschütternde Kunde konnten viele<br />

nicht glauben. Da erfolgte am Samstag, dem 1. August,<br />

auch um 6'/2 Uhr, die Verkündung der Mobilmachung.<br />

Die Leute, besonders die Wehrfähigen, sammelten sich<br />

wieder am Rathaus. Das Lachen war vielen vergangen.<br />

Manches blasse Gesicht kündete innere Kämpfe an. Eine<br />

Anzahl sagte: ,Bis Kirmeß sind wir wieder daheim“ (dem<br />

10. Oktober). Dr. Bun und ich sagten, daß dieser Krieg,<br />

wo wir so viele Feinde hätten, 1'/2 bis 2 Jahre dauern<br />

könnte, was niemand glauben wollte.<br />

Durch Anschlag am Rathaus setzte ich sofort auf<br />

Sonntag, den 2. August, einen Kriegsgottesdienst mit<br />

heiligem Abendmahl fest. ...Zum heiligen Mahl gingen<br />

65 Männer (Krieger) und 39 Frauen. Diesem ersten Todesmahl<br />

folgten am Mittwochabend um 9 Uhr wiederum<br />

71 Gäste in der Kriegsbetstunde, die von mir vom 5. August<br />

an regelmäßig gehalten wurde. Diese Kriegsbetstunden<br />

waren anfangs stets gut besetzt. . .<br />

Die seelische Not und Angst trieb in die Kirche. Am<br />

1. Kriegssonntag fanden 2 Kriegstrauungen statt. Die<br />

Ernte mußte heimgebracht werden. Die meiste Frucht<br />

stand noch auf dem Halm. Da mußte auch Sonntags<br />

gearbeitet werden, wie die Regierung befahl und viele<br />

taten.<br />

Unsere Bahnen (Eisenbahnen) liefen nur noch fürs<br />

Militär. Nur 1 Zug ging vormittags 9 Uhr und kam<br />

abends 9 Uhr zurück. Täglich fuhren unsere Krieger<br />

nach ihrem Gestellungsbefehl fort von uns. Ich begleitete<br />

die meisten bis Friedberg und ging zu Fuß heim. Man<br />

konnte aus Liebe zu seinem Vaterland alles.<br />

Es gab auch sehr herzpackende Szenen. Besonders<br />

war Mittwoch, der 5. August, für die meisten unserer<br />

Krieger der Abschiedstag. Sie alle versammelten sich an<br />

unserem Kriegerdenkmal um 1/2 9 Uhr. Der Musikverein<br />

spielte: ›Jesus, meine Zuversicht< und ›Mein Heiland ist<br />

im Leben


Ansprache, dann zog ein langer Zug zum Bahnhof. Voran<br />

der Musikverein, dann ich vor meinen lieben Kriegern,<br />

und dann folgten die Angehörigen: ernst. sehr<br />

ernst-, manche weinend. Unvergcßlich ist mir der Augenblick,<br />

als Albrecht Ulrich sein Kind am Bahnhof noch<br />

einmal in die Höhe hob und küßte. Zum letzten Mal,<br />

denn Ende Oktober fiel er.<br />

Rauhc Krieger befahlen mir ihre Frauen und Kinder<br />

an, wenn sie draußen sterben müßten. Das waren Erschütterungenl“<br />

Pfarrer Vogel organisierte sogleich alles Notwendige,<br />

um ein Verwundetenlazarett im Pfarrhaus einrichten zu<br />

können. Auch der Apotheker stellte Räumlichkeiten in<br />

seinem Hause zur Verfügung. Die Einwohner <strong>Reichelsheim</strong>s<br />

und der umliegerıden Ortschaften spendeten, was<br />

nur möglich war. Um die Spendenfreudigkeit anzuregen,<br />

veröffentlichte der Pfarrer die Namen der Spender mit<br />

ihren Spenden - mit Erfolg.<br />

Durch die Verwundeten, die ersten kamen bereits am<br />

5. September 1914 (1) hierher zur Pflege, wurden die <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

Zeuge des Elends des Krieges. Manch eine<br />

Erzählung der Kranken mag eine Mutter. einen Vater,<br />

eine Ehefrau die Angst um das Leben ihres Angehörigen<br />

verstärkt haben.<br />

Wie der seelische Zustand der zurückgebliebenen<br />

Menschen war, zeigt die Schilderung von Pfarrer Vogel<br />

bezüglich der Spionagefurcht (s. 441): „Wir müssen<br />

noch einmal zu den Augusttagen zurückkehren. Was<br />

gab`s da für seelischen Wirrwarrl Vor allen Dingen trat<br />

krankheitsähnlich eine Spionagefurchtí ein. Es wurde<br />

auch behördlich geglaubt, daß von Frankreich her Automobile<br />

ınit Gold nach Rußland unterwegs seien. Jedes<br />

.„›.¬.... -<br />

Die <strong>Reichelsheim</strong>er /l//iinner<br />

ziehen in den Ersten Weltkrieg -<br />

Abschied am Bahnhof<br />

der Gemeincle (5. August 1 914) -<br />

(Besitz der Familie Diel)<br />

137


Automobil wurde angehalten. Auch in unserer Gemeinde<br />

wurden an den Ortsausgängen Schlagbäume errichtet,<br />

wo die zurückgebliebenen Männer bis zu 60 Jahren<br />

Tag und Nacht Wache standen und jedes Fuhrwerk und<br />

Auto anhielten und untersuchten. Alle alten Gewehre<br />

und Flobert (= leichte Handfcuerwaffe, benannt nach<br />

seinem Erfinder, dem Franzosen N. Flobert) wurden instand<br />

gesetzt, um sich wehren zu können.“<br />

„. . . Auch sollten Feinde versuchen, Brunnen zu vergiften,<br />

deshalb wurde die Wasserleitung bei Bisses gewissenhaft<br />

besetzt. Die Feuerwehr wurde deshalb eines Tages<br />

alarmiert. Auch hatte ›man< aıı einem Augusttage gesehen,<br />

wie sich jemand am Haus des elektrischen Lichts<br />

bei der Gänsweide (beim heutigen Kindergarten) zu<br />

schaffen mache. Voller Wut und Zorn eilen Männer und<br />

Frauen mit Gabeln, Stöcken und Steinen bewaffnet dorthin.<br />

Doeh trotz alles Forschens ist nichts Verdächtiges<br />

mehr zu sehen.<br />

Die seelische Erregung war furchtbar in diesen Tagen<br />

der Volksnot! Der Aberglaube fand dabei allenthalben<br />

Einfluß. Die meisten Soldaten, die ins Feld zogen, hätten<br />

›Himmelsbriefe< um, so versicherte man mir. Ein solcher<br />

Brief kam auch eines Tages mit den anderen Sachen<br />

eines Gefallenen von <strong>Reichelsheim</strong> blutig zurück - er<br />

hatte also nicht vor dem Tode schützen können“ (s. Kirchenbuch,S.443)<br />

So wurden die schlimmen Konsequenzen dieses Krieges<br />

auch in <strong>Reichelsheim</strong> deutlich: „Das Schlimmste,<br />

was uns aber in diesen schweren Zeiten traf, waren die<br />

Gefallenennachrichten. Wir konnten`s nicht glauben.<br />

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1 9/5: Jugendwehr bei der<br />

vormilitcirischen Erziehung<br />

im Garten der Gaststätte<br />

„Zur Post“<br />

138


Zuerst kamen Briefe, Pakete zurück mit dem Vermerk:<br />

Gefallen! Verwundet! oder Vermißt! Auch das andere<br />

Wort: Gefangen! Das waren furchtbare Tage und Wochen<br />

für die Angehörigen und uns. 1914 hatten wir 5 Gefallene<br />

und 2 Vermißte sowie einen Gefangenen zu beklagen“<br />

(s. S. 443 f.).<br />

Daß Krieg herrschte, das merkten die Menschen auch<br />

sehr schnell an den steigenden Preisen. lm Frühjahr 1915<br />

wurden bereits die ersten Lebcnsmittelkarten ausgegeben.<br />

„Wir ahnten damals noch nicht, was das Gespenst<br />

des Hungers noch alles über unser deutsches Volk bringen<br />

würde“ (s. S. 455).<br />

Doch schon ein Jahr später werden in den Städten die<br />

Lebensmittel knapp. Die Preise erreichen unvorstellbare<br />

Höhen. Den Bauern wird untersagt, ohne Genehmigung<br />

Hausschlachtungen vorzunehmen -ihre eigenen Vorräte<br />

werden amtlich erfaßt, damit kein Schwarzhandel möglich<br />

wird. Selbst das Obst im eigenen Garten wird amtlich<br />

geschätzt, und es ist den Besitzern nicht erlaubt, über die<br />

Ernte frei zu verfügen.<br />

Und immer wieder kommen die schlimmen Nachrichten<br />

von der Front: Gefallen! Vermißt! Gefangen! Verwundet!<br />

„Seit Ende Februar (1916) tobt die Schlacht bei Verdun<br />

_ . . Der Kanonendonner ist so stark, daß wir ihn hier,<br />

besonders nachmittags, genau hören konnten“ (s. S.<br />

461).<br />

„Es wurden immer mehrjunge und alte Leute eingezogen,<br />

daneben wurden viele Urlaubsgesuche und Reklamationen<br />

eingereicht. .. Es gab da manches Unwahrhaftiges<br />

in diesen Gesuchen. Hierdurch entstand Unzufriedenheit<br />

bei den andern, die Jahr für Jahr im Felde stehen<br />

mußten“ (s. S. 463).<br />

In diesem Zusammenhang machte Pfarrer Vogel aber<br />

folgende Bemerkung: „Es muß freilich aber auch anerkannt<br />

werden, daß durch die Einberufungen sehr große<br />

Lücken entstanden sind. Die ganze Arbeit liegt auf den<br />

Schultern von alten Leuten, die sich vielfach schon zur<br />

Ruhe gesetzt hatten, oder auf den Schultern der Frauen.<br />

Wir haben unter den Frauen manche Heldin aufzuweisen.<br />

So manche ist unter ihrer Last zusammengebrochen,<br />

aber sie mußte weiter schaffen“ (s. S. 464).<br />

Wegen der Knappheit an Rohstoffen mußten alle<br />

Haushaltungen, auch die in <strong>Reichelsheim</strong>, alle Wertstoffe,<br />

Kupfer, Zinn, Zink, Eisen, die irgendwie entbehrlieh<br />

waren, abliefern. Manches Erinnerungsstück wurde anschließend<br />

eingeschmolzen, um Kanone oder Kugel zu<br />

werden. Selbst 37 Zinnpfeifen der Orgel der <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

Kirche mußten in Friedberg abgeliefert werden,<br />

ebenso eine der Glocken und das kleine Glöckchen am<br />

Rathaus, das „Siegfriedsglöckchen“, das einst der<br />

Schlosser Siegfried Vogt gespendet hatte.<br />

ln <strong>Reichelsheim</strong> wurde es stiller.<br />

1 914: Verwanclete des Ersten Weltkrieges vor<br />

dem Pfarrhaus, in dem Pfarrer Vogel (links) ein<br />

Genesungs-Lazarett eingerichtet hatte<br />

139


Da es in anderen Teilen Deutschlands den Menschen,<br />

vor allem den Kindern, viel schlechter ging, wurden ab<br />

1917 Kinder in <strong>Reichelsheim</strong> aufgenommen: 39 kamen<br />

aus dem Industriegebiet Westfalens hierher.<br />

Und die Preise stiegen weiter, und damit nahm für viele<br />

der Hunger zu:<br />

„Ein furchtbarer Feind, der Hunger, hatte sich in den<br />

Städten eingestellt. Es wurden vom Kreisamt im Januar<br />

die Kartoffeln in den Kellern abgeschätzt, da im Lande<br />

die Kartoffeln sehr knapp waren. In den Städten lebten<br />

die meisten Menschen von Steckrüben (Kohlraben). Bei<br />

uns war die Kartoffelernte recht gut gewesen. Alle Milch<br />

mußte an die Molkerei abgeliefert werden. Vollmilch erhielt<br />

man nur noch gegen ärztliches Zeugnis, ausgenommen<br />

Kinder unter 6 Jahren. Eine Menge Menschen kamen<br />

täglich aus den Städten, um Kartoffeln u. v. m. sich<br />

zu holen. Bleiche, abgehärmte Gesichter“ (s. S. 469).<br />

Ein wenig weiter lesen wir, das Jahr 1917 betreffend, im<br />

Kirehenbuch: „Die Lebensmittelnot nahm in der Stadt<br />

bedrohlichste Formen an: 30-40 Leute, besonders größere<br />

Kinder und Frauen, auch ältere Männer betteln um<br />

Kartoffeln und Brot. An einem Sonntag Morgen, als der<br />

Zug eingefahren war, zählte ich auf der Straße vom<br />

Pfarrhaus nach dem Bahnhof etwa 150 Menschen, die<br />

›hamstern< wollten - mußten. Viele aus besseren Ständen<br />

sind darunter gewesen“ (s. S. 471).<br />

Und dann notierte der <strong>Reichelsheim</strong>er Pfarrer<br />

(s. S. 478): „Die Not greift immer mehr um sich, der<br />

Hunger stellt sich ein bei vielen, die nicht Landwirt<br />

sind. Leider gibt`s Bauernfamilien, die genauso fett und<br />

gut leben als in Friedenszeiten“ (s. S. 478). Wer sich<br />

selbst versorgen wollte, der mußte Anfang 1918 feststellen,<br />

daß ein Ferkel 140-150 Mark, ein Gänschen aus<br />

dem Ei 7 M., ein Entehen 5 M. - Preise, die viele abschreckten.<br />

Als sich das Ende des Krieges zeigte, begann die „Moral“,<br />

die Widerstandskraft der Menschen zu sinken. „Es<br />

ist vom September an furchtbarste Zeit für uns. Die<br />

größte Niedergeschlagenheit bricht sich Bahn, der Krieg<br />

dauert zu lange. Ich hörte Worte wie: ›Gebt den Franzosen<br />

doch alles, was sie haben wollen, damit das Gemetzel<br />

und das Elend aufhört.< Ach, die Heimat wankt und die<br />

Front draußen ist vielfach entblöst. - In der Etappe sitzen<br />

viele und mästen sich. Die Moral ist dahin. Der Krieg<br />

gilt als verloren“ (s. S. 481). „Armes Deutschland! Was<br />

wird werden? Unser Volk fühlt sich von seinen Führern<br />

betrogen, auch von denen ganz oben!! - Die Not wird<br />

größer. Die Revolution bricht aus! Der Kaiser flieht nach<br />

Holland! entsetzlichl“ (s. S. 481).<br />

Kurz danach, am Ende des Jahres 1918, als die Soldaten<br />

nach dem harten Waffenstillstand umgehend aus<br />

dem Frontbereich nach Osten, nach Deutschland, verlegt<br />

werden mußten und auch hier in <strong>Reichelsheim</strong> viele<br />

Einheiten Station machten, waren die Zuhausegebliebenen<br />

entsetzt über das Verhalten der Soldaten. Jene verkauften<br />

auf eigene Kappe die Pferde und die Sättel oder<br />

andere Gegenstände, an denen Interesse bestand. Statt<br />

die Pferde zu füttern und zu bewachen, tanzten sie in den<br />

Gasthäusern bis in den Morgen hinein. „Alle Laster walten<br />

freil“<br />

Vielen <strong>Reichelsheim</strong>er Familien war es wirklich nicht<br />

zum Lachen oder Tanzen zumute: 30 der 130 Soldaten,<br />

die der Pfarrer einst an den Bahnhof von <strong>Reichelsheim</strong><br />

geleitet hatte, kehrten nicht wieder zurück - weitere waren<br />

für den Rest ihres Lebens gezeichnet, hatten an den<br />

Verwundungen schwer zu tragen.<br />

Ehrentafel der Gefallenen und Überlebenden<br />

(han.dschrifllich.e Veränderungen. durch A. Nohl)<br />

140


Der Krieg, der als 1. Weltkrieg in die<br />

Geschichte der Menschheit eingehen<br />

sollte, war ausgelöst und getragen von<br />

Haß; er war allerdings nicht in der Lage,<br />

auch eben diesen Haß zwischen denVölkern<br />

zu beenden. Der 1.Weltkrieg hatte<br />

neue Dimensionen der Kriegsführung<br />

eröffnet. hatte durch die neuen Waffen,<br />

die erstmals in ihm zum Einsatz gekommen<br />

waren - Giftgas, Flugzeuge, Panzer<br />

-, aus einem „Krieg der Heere“<br />

einen „Krieg derVölker“ gemacht. Und<br />

viele Menschen wollten nicht glauben,<br />

daß es an der Unterlegenheit der Deutschen,<br />

an Zahl untl Material gelegen<br />

hatte, daß im Oktober 1918 die kaiserliche<br />

Regierung aul` Bitten der Obersten<br />

Heercsleitung beim Gegner, beim<br />

Feind, uın Waffenstillstand nachsuchen<br />

mußte. Sie glaubten an „\/crrat“, weil<br />

dies am wenigsten der rationalen Erklärung<br />

bedurfte! Man wollte weiter glauben<br />

an solche Sätze, wie sie z. B. 8Jahre<br />

zuvor die geistlichen und weltlichen<br />

Würdenträger in <strong>Reichelsheim</strong> bei der<br />

Einweihung des Kriegerdenkmals ausgesprochen<br />

hatten: „Deutschland,<br />

Deutschland, über alles! Hurral“ oder:<br />

„Sieg oderTod!“<br />

<strong>Reichelsheim</strong> zog sich gedanklich<br />

wieder hinter seine alte Landwehr zurück.<br />

Der „Dornröschensch1af“, der<br />

Schlaf, der die Wirklichkeit mit ihren<br />

Notwendigkeiten vergessen ließ, begann<br />

von neuem.<br />

141


9. c) Eine ungeliebte Zwischenstation: Die Weimarer Republik<br />

Lehrer Keller, der seit 1928 während entscheidender<br />

Jahre in <strong>Reichelsheim</strong> wirkte, hat in seinem 1935 beendeten<br />

„<strong>Heimatbuch</strong>“ das Kapitel der Nachkriegszeit folgendermaßen<br />

begonnen (s. dort S. 67 f.):<br />

„Die Nachkriegszeit mit ihrem politischen und wirtschaftlichen<br />

Niedergang unseres lieben, deutschen Vaterlandes<br />

hat auch in <strong>Reichelsheim</strong> ihre Opfer gefordert<br />

und manchen an den wirtschaftlichen Zusammenbruch<br />

gebracht. Man muß aber den <strong>Reichelsheim</strong>ern lobend<br />

nachsagen, daß sie, trotz des sich überall breit machenden<br />

liberalistischen Gedankens, sich stets einen treuen,<br />

immer dem Vaterland dienenden Sinn bewahrten und<br />

die ›schwarz-weiß-rote< Fahne hochhielten (= die des<br />

Kaiserreiches im Gegensatz zu der republikanischen<br />

›schwarz-rot-goldenem Fahne). Kein Wunder, daß <strong>Reichelsheim</strong><br />

in den umliegenden marxistischen Dörfern als<br />

>ein rückschrittliehes Nest< verschrieen war.“<br />

Und Pfarrer Vogel beschrieb die Situation, wie er sie<br />

unmittelbar nach Kriegsende sah, wie folgt:<br />

„Die Revolution, wo jeder nach Belieben schalten<br />

konnte, zeigte den Menschen mit seinen niedrigsten lnstinkten.<br />

Die meisten haben die Kriegsopfer vergessen.<br />

Wenn sie nur tanzen und sich austoben können. Elender<br />

Verrat! ›Was sind wir gesunken! Wo ist die starke Hand,<br />

die uns führen könnte? Was wird aus Deutschland


ders in unserem kleinen Landstädtchen Auswirkungen<br />

zeigen.<br />

Das Leben der Einwohner hatte sich gegenüber der<br />

Zeit vor dem Kriege verändert. Die Staatsverschuldung,<br />

hervorgerufen durch den Krieg und seine Folgen, steigerte<br />

die schon während des Krieges begonnene starke<br />

Geldentwertung. Da die'Preise für die Lebensmittel<br />

schneller stiegen als die Löhne und Gehälter, gab es<br />

Streiks, die nach Einführung der Tarifautonomie nach<br />

dem Kriege erlaubt waren - für die Bewohner landwirtschaftlich<br />

geprägter Ortschaften etwas Fremdes, Unbegreifliches.<br />

Als 1919 auch wegen eines Bahnarbeiterstreiks der<br />

Bahnverkehr zwischen Friedberg und Nidda ruhte, zeigt<br />

der Pfarrer wenig Verständnis, bekämen sie doch bei<br />

rat<br />

Auch wenn die Zeiten. schlecht waren:<br />

Jubiläen der Vereine wurden gefeiert/<br />

I0. Juli 1920: Festzug zum 75ja`hrigen Bestehen<br />

des Gesangvereins „Liederkranz“<br />

(Foto im Original im Besitz der Familie Winter)<br />

gimıå<br />

einem 8-Stunden-Tag stattliche 370 Mark ausbezahlt. In<br />

seiner Entrüstung über den Streik vergaß er den Widerspruch,<br />

der ihm wenige Zeilen darunter mit der Mitteilung<br />

unterlief: „Die Preise für alle Lebensmittel steigen weiterhin.<br />

Ein Ferkel wird für 250-300 verkauft“ (s. S. 486).<br />

Wie schlecht insgesamt die Nahrungs- und damit die<br />

Gesundheitssituation im Winter 1919/1920 war, das verrät<br />

ein kleiner Hinweis des Pfarrers über die Folgen einer<br />

Grippe-Epidemie: „Im Monat Februar stand ich an 6 frischen<br />

Gräbern“ (s. S. 492).<br />

Daß die Stimmung bezüglich der demokratischen Republik<br />

in <strong>Reichelsheim</strong> wirklich schlecht war, beweisen<br />

Eintragungen in der Kirchenchronik zum sogenannten<br />

Kapp-Putsch im März 1920, mit dem Kapp und General<br />

Lüttwitz verhindern wollten, daß zumindest die Bestimmungen<br />

des Versailler Vertrages betreffend der Stärke<br />

der Reichswehr in Kraft treten würden. Diesen Putsch<br />

nannte Vogel eine „Gegenrevolution“. Und weiter äußert<br />

er, daß sich „viele wegen des seitherigen furchtbaren<br />

Elends und Niedergang Deutschlands“ freuten. Der<br />

Umsturz, an den viele <strong>Reichelsheim</strong>er demnach geglaubt<br />

hatten, fand nicht statt, Kapp flüchtete verkleidet und<br />

maskiert ins Ausland.<br />

Allerdings hatte dieser Putsch zur Folge, daß sich die<br />

großen Parteien in Berlin auf vorgezogene Neuwahlen<br />

zum Reichstag einigten. Sie fanden im Juni 1920 statt:<br />

Ergebnis:<br />

Partei<br />

<strong>Reichelsheim</strong> Reich<br />

DNVP 60,71 % 15,1 %<br />

DVP 13,33 % 14,0%<br />

DDP<br />

1,67 '% 8,4%<br />

Z + BVP (Bayr. Volkspartei) - 22,0 %<br />

SPD 9,52 % 21,6 %<br />

USPD<br />

14,76 '% 18,0 %<br />

KPD (Kommunistische Partei) - 2,0%<br />

143


Dreiviertel der Wählerschaft sprach sich in <strong>Reichelsheim</strong><br />

für die kaisertreue, autoritär-monarchistische<br />

DNVP bzw. die konservativ-monarchistische DVP aus.<br />

Nur jeder 10. Wähler stimmte für eine der Parteien, die<br />

Garanten der demokratischen Ordnung der Weimarer<br />

Republik waren.<br />

Dieser politische Rechtsruck wurde noch deutlicher in<br />

der Wahl zur „Hessischen Volkskammer“, also dem<br />

Hessischen Landtag, am 27. November 1921:<br />

Partei<br />

<strong>Reichelsheim</strong><br />

DNVP 10,44 %<br />

Hess. Bauernbund 57,18 %<br />

DVP 14,10 %<br />

Z 0,26 %<br />

SPD 16,16 %<br />

USPD -<br />

KPD 1,83 %<br />

Der hier als überragender Wahlgewinner aufgeführte<br />

„Hessische Bauernbund“ (seit 1927 „Hessischer Landbund“)<br />

hatte vor allem in unserem Oberhessen sein<br />

Machtzentrum. „Im Gegensatz zu anderen Gegenden<br />

Deutschlands trat diese berufsständische Organisation,<br />

deren Sitz Friedberg war und deren höhere Funktionäre<br />

größtenteils im Kreis Friedberg wohnten, im „Volksstaat<br />

Hessen“ (= ehemaliges Großherzogtum Hessen-Darmstadt)<br />

als Partei auf, die recht beachtliche Erfolge erringen<br />

konnte“ (s. „Hessen unterm Hakenkreuz“, S. 199).<br />

Der Bauernbund verstand sich als eine Interessenvertretung<br />

der in Oberhessen überwiegenden Klein- und<br />

Mittelbauern. Nahezu 80-90 % der evangelischen Bauern<br />

der Wetterau waren Mitglied des Verbandes.<br />

Der Hessische Bauernbund beeinflußte „über die verbandseigene<br />

›Neue Tageszeitung< ›durch hetzerische<br />

Attacken gegen die Landesregierung und die Koalitions-<br />

parteien (in Berlin) sowie durch die Verbreitung völkischer<br />

(= nationalistisch-rassistischer) Parolen< seine Anhänger<br />

in antirepublikanischer und antidemokratischer<br />

Weise und trauerte dem vergangenen Kaiserreich nach“<br />

(s. „Hessen unterm Hakenkreuz“, S. 210).<br />

Die Mitglieder der Reichsregierung wurden in der<br />

„Neuen Tageszeitung“ von Anfang der 20er Jahre an als<br />

„demokratisch-marxistisch-pazifistische Volksverräter“<br />

bezeichnet. Dr. Heinrich Leuchtgens, Leiter des Friedberger<br />

Lehrerseminars, der schon 1919 die Hessische<br />

Volkspartei als Gegengewicht zu der Arbeiterbewegung<br />

gegründet hatte und ab 1922 Fraktionsvorsitzender des<br />

Bauernbundes im Hessischen Landtag war, war einer der<br />

Wortführer. In einer seiner Schriften führte er aus, daß<br />

die schwache Stellung Deutschlands in Europa von den<br />

Regierungsparteien in Berlin durch ihre „internationale<br />

und pazifistische Einstellung, durch ihren unklaren Blick<br />

für die außenpolitischen Realitäten, durch ihre Nachgiebigkeit<br />

und winselnde Versöhnungsbereitschaft einem<br />

galligen, rachsüchtigen Frankreich gegenüber“ selbst<br />

verursacht sei. Leuchtgens forderte stattdessen: „Laßt<br />

uns den starken Staat schaffen! . _ .Laßt stahlharten Willen<br />

die Weichheit und Schlappheit des gegenwärtigen<br />

Regimes ablösenl“ (s. „Hessen unterm Hakenkreuz“,<br />

S. 212 f.). e<br />

Geprägt von diesen Ideen war <strong>Reichelsheim</strong>, waren<br />

seine Bewohner, wie nicht nur das oben angegebene<br />

Wahlergebnis oder die Bemerkungen der Pfarrer Vogel<br />

und Rühl (ab Ende 1922 hier tätig) im Kirehenbuch immer<br />

wieder zeigen. Die Aktivitäten des „Kriegervereins“,<br />

die zusätzlichen Gründungen eines „Frontkämpfer-Vereins“<br />

(1922) und einer Ortsgruppe „Stahlhelm,<br />

Bund der Frontsoldaten“ (1925) verweisen auf antirepublikanische<br />

und zugleich antidemokratische Anschauungen.<br />

Fahnen- oder Bannerweihen dieser Organisationen<br />

144


=<br />

wurden zu Ortsfesten - mit Gottesdienst, Ansprache,<br />

Musik, Umzügen und Tanz. Die Reden glichen in ihrem<br />

Inhalt sehr denen, die vor dem 1. Weltkrieg den Menschen<br />

schon zu Ohren gekommen waren.<br />

Die Gemeindesch wester Lisette Schneider mit<br />

ihrer Kinderschar, die sie nachtmittags betreute,<br />

während sie vormittags ihrer pflegerischen Arbeit<br />

in der Gemeinde nachging (aufgenommen vor<br />

Haus 13 in der Oberen Haingasse)<br />

Doch mit all dem Geschilderten ist nicht alles vom damaligen<br />

Leben in <strong>Reichelsheim</strong> berichtet: Es darf nicht<br />

vergessen werden, daß in jenen Jahren der SV 1920 <strong>Reichelsheim</strong><br />

bzw. der Schützenverein (1921) gegründet<br />

wurden. All diese Gründungen weisen daraufhin, daß<br />

ein besonderes Bedürfnis nach Zusammenhalt, nach Geselligkeit<br />

vorhanden war. Pfarrer Rühl waren allerdings<br />

diese Geselligkeiten zu viel, weil sie ihm zu ausgelassen,<br />

zu wenig begrenzt waren: „In das Jahr 1924 hinüber leitete<br />

eine Reihe von Vereinsfestlichkeiten, die fast jeden<br />

Sonntagabend besetzt hielten; wie es dann hier im Winter<br />

gilt, daß fast jeder Verein: Männergesangverein,<br />

Turnverein, Kriegerverein, Vogelsbergerhöhenclub<br />

(VHC), Land_jugendbund, Frontkämpferverein usw.<br />

sein Wintervergnügen oder gar zwei (der Männergesangverein<br />

mit 2 Konzerten) abhält. Da nun bei der Kleinheit<br />

des Ortes jeder zu jedem Verein gehört, bedeutet dieses<br />

fast regelmäßig ein Aufgebot der ganzen Gemeinde, und<br />

es wird dabei für Getränke und Toiletten unerfreulich<br />

viel Geld verpulvert, ganz abgesehen von anderen Schädigungen.“<br />

Dabei waren die Zeiten schlecht! Erst im November<br />

1923 hatte die Reichsregierung in Berlin eine Währungsreform<br />

durchgesetzt, die die Hyperinflation der Reichsmark<br />

beendete - eine Inflation, die viele Geldbesitzer<br />

enteignet, die die Arbeitnehmer hatte verzweifeln lassen,<br />

wenn sie als Tageslohn Milliarden und Billionen<br />

nach Hause bzw. ins nächste Lebensmittelgeschäft tru-<br />

Bauer Walther bei der Kartoffelernte (1929)<br />

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145


gen; eine Inflation, die das Spekulantentum gefördert<br />

hatte und die die Großen in der Wirtschaft hatte größer<br />

und die Zahl der Kleinen geringer werden lassen!<br />

Die Landwirtschaft kam zwar mit einem „blauen Auge“<br />

davon, manche machten im Bereich des Tauschhandels<br />

sogar gute Geschäfte, doch war auch bei ihnen die<br />

Zukunftserwartung, die Hoffnung auf eine baldige Entschuldung<br />

des Besitzes getrübt.<br />

Doch das Leben ging weiter, und die Landwirte suchten<br />

durch weitere Drainierungen ihre Anbauflächen erneut<br />

zu verbessern. Im Jahre 1924 bildeten sie z. B. eine<br />

Wassergenossenschaft zur Entwässerung von Teilen der<br />

Fluren V, Vl, VII und X1.<br />

Und auch das Bauhandwerk bekam ab 1921, vor allem<br />

aber ab 1924 wieder etwas zu tun: Bis 1929 wurden 20<br />

verschiedene und verschiedenartige Bauanträge gestellt<br />

(Für die Zeit danach bis 1938 liegen keine Unterlagen im<br />

Archiv vorl). Besonders aktiv wurde in diesen „Goldenen<br />

Zwanzigern“ in der Straße nach Bingenheim gebaut<br />

(6 x); aber auch die Neugasse (3 x), die Kirchgasse (2 x),<br />

und die Straße nach Weckesheim (2 x) erlebten erkennbare<br />

Veränderungen.<br />

Bedeutend war auch, daß 1926 endlich der Weg nach<br />

Florstadt befestigt und damit zu einer Straße ausgebaut<br />

wurde. Dies geschah als staatlich geförderte Arbeitsbeschaffungsmaßnahme,<br />

oder wie man damals sagte: im<br />

Rahmen der „praktizierten Erwerbslo_senfürsorge“.<br />

Eine besonders auffällige Veränderung betraf den<br />

Friedhof unserer kleinen Stadt. Der Weltkrieg hatte ein<br />

verändertes Bewußtsein zum Tod und den Toten geschaffen;<br />

auch die moderne Medizin ließ eine neue Einstellung<br />

zum Leben und Sterben aufl


men den Auftrag, die neugesetzten Bäumchen zu gießen<br />

und eine Reihe älterer Gräber - Pfarrgräber und dergl. -<br />

unter meiner Aufsicht zu säubern und zu pflegen. Die<br />

Folge dieses Vorgehens sahen dann auch eine ganze Reihe<br />

Privatleute sich veranlaßt, bisher verwahrloste Gräber<br />

wieder in Pflege zu nehmen. Auch die alten Amtmannsgräber<br />

aus der nassauischen Zeit sollen wieder in<br />

Pflege genommen werden, um die Erinnerung an die<br />

Vergangenheit der Gemeinde zu erhalten“ (s. Kirchenbuch,<br />

S. 533 f.).<br />

„Wie politisch“ und wie „kaisertreu“ („Schwarz-<br />

Weiß-Rot“) die <strong>Reichelsheim</strong>er waren, das zeigt eine<br />

nette Anekdote, die Pfarrer Rühl im Kirehenbuch vermerkte<br />

und die im Zusammenhang mit der Kirchenrenovierung<br />

des Jahres 1928 steht:<br />

„Schön ist auch gewesen, was mit dem hierunter in<br />

Maschinenschrift beigefügten Artikel aus der (sozialdemokratischen)<br />

›Oberhessischen Volkszeitung< zusammenhängt.<br />

Der Artikel schildert zwar die Sachlage nicht<br />

ganz richtig und vor allem ist die Zusammenstellung (an<br />

den Rippen des Mittelschiffes) nicht schwarz-rot-gold<br />

sondern blau-rot-gelb, aber schön war`s doch:<br />

›<strong>Reichelsheim</strong>. (Flaggenfrage, Kunst und Religion).<br />

Im kerndeutschen Städtchen <strong>Reichelsheim</strong> in der<br />

Wetterau wird zur Zeit die Kirche renoviert. Ein bekannter<br />

Darmstädter Kirchenmaler und Künstler führt<br />

die Arbeiten aus. Unter dem abgeschlagenen alten Verputz<br />

entdeckte er herrliche alte Malereien, die er in<br />

künstlerischer Form zu neuem Glanze erstehen ließ. Zufällig<br />

ergab sich dabei an einem dekorativ wirkenden<br />

Stück in der Mitte der Decke der harmonische Dreiklang<br />

der Farben Schwarz, Rot und Gold. Anstoß daran nahm<br />

weder Professor Walbe, der hessische Denkmalpfleger,<br />

noch der Ortsgeistliche. Die kunstsachverständigen Bauern<br />

jedoch dachten anders. Einen schwarz-rot-goldenen<br />

Erzengel im Zentrum ihrer Kirche? So etwas kann ein<br />

treudeutsches Herz nicht vertragen. Die Farben der Judenfahne<br />

dürfen nicht bleiben. Es gab Proteste, die Mittel<br />

zur Vollendung cler Arbeiten wurden verweigert. Der<br />

Künstler versuchte in einer Versammlung Aufldärung zu<br />

geben, sie wurde sabotiert; auch Vermittlungsversuche<br />

des Ortsgeistlichen und von anderer Seite halfen nichts!<br />

Der Unfug müsse aus der Kirche, sonst könnten sie nicht<br />

mehr hinein, erklärten die Bauern.<br />

Soweit steht die Sachejetzt; über den weiteren Verlauf<br />

darf man gespannt sein


Eine andere, allerdings „unpolitische“ Anekdote soll<br />

zugleich angefügt werden, steht sie doch auch im Zusammenhang<br />

mit der Kirchenrenovierung und verdeutlicht<br />

sie in gewisser Weise doch, die Stimmung im Ort:<br />

„Die Kirchenvorsteher Zinser und Coburger und ich<br />

gingen im Ort eine Hauskollekte erheben. Wir fanden<br />

überraschende Gebefreudigkeit bei den Armen und Geringen.<br />

Im Haus eines als ›rot< verschrienen Arbeiters<br />

gab der Mann seinen Beitrag. Als wir hinausgingen,<br />

stand unter der Küchentüre die Frau und drückte mir<br />

stillschweigend einen weiteren Betrag in die Hand!<br />

Aber es kam auch anders: ›Goldig!< ist das Wort, mit<br />

dem uns ein wohlhabender Landwirt in der _..-gasse<br />

empfing: ›Eich geawe naut! Eich hu(n) naut! Däi Beamte<br />

freasse a1les!< Das galt dem Herrn Postsekretär Zinser<br />

und mir! Stillschweigend klappte ich die Mappe zu und<br />

ging zur Türe hinaus, äußerlich Entrüstung heuchelnd,<br />

innerlich mich krümmend vor Vergnügenl“ (s. S. 541).<br />

Doch wieder zur politischen Entwicklung in <strong>Reichelsheim</strong>:<br />

Schon früh hatten die <strong>Reichelsheim</strong>er Sympathien für<br />

rechtskonservative und völkische Parteiprogramme gezeigt,<br />

wie bereits berichtet wurde. Die „Neue Tageszeitung“<br />

und der „Bauernkalender“ stimmten die Menschen<br />

dieser Region immer wieder auf einen Umbruch<br />

gegen Republik und Demokratie ein. Auch wurde von<br />

diesen Presseerzeugnissen Adolf Hitler, der Führer der<br />

NSDAP, schon früh „salonfähig“ gemacht und als<br />

„Kämpfer für die richtige Sache“ vorgestellt. So hieß es<br />

im „Bauernkalender 1925“ (Friedberg 1924, S. 76):<br />

„Die 28tägigen Verhandlungen des Hitler-Prozesses.<br />

. _ entschleierten rücksichtslos die parlamentarische<br />

Korruption und brachten eine scharfe Abrechnung mit<br />

allen Schuldigen am heutigen Elend . . . Eines kann man<br />

den Männern nicht absprechen: Mut zur Tat. Verant-<br />

wortungsfreudigkeit und zu jedem Opfer bereite Vaterlandsliebe“<br />

(Entnommen: „Hessen unterm Hakenkreuz“,<br />

S. 212).<br />

Der Boden war gut vorbereitet, die Ernte sollte sich<br />

bald zeigen! Bei den Reichstagswahlen 1928, vor der<br />

Weltwirtschaftskrise, waren die Stimmengewinne hier in<br />

Hessen noch recht gering, wenn auch höher als im<br />

Reichsdurchschnitt. Aber es ging augenscheinlich „aufwärts“:<br />

Immer mehr NSDAP-Ortsgruppen wurden gebildet,<br />

immer mehr kam der Hessische Bauernbund bzw.<br />

Hessische Landbund unter Druck - immer aggressiver<br />

wurde vor allem die Agitation gegen die Weimarer Republik<br />

und die sie tragenden Parteien. Nur in den katholischen<br />

Ortschaften blieben die Erfolge der NSDAP mager,<br />

dort konnte sich - aktiv unterstützt von der katholischen<br />

Geistlichkeit - das Zentrum bis in das Jahr 1933 als<br />

klar stärkste Kraft behaupten.<br />

Im Jahr 1930 machte Pfarrer Rühl im Kirehenbuch folgende<br />

Anmerkung:<br />

„Der Herbst des Jahres brachte Reichstagswahlen (14.<br />

September 1930) und damit für <strong>Reichelsheim</strong> eine Flutwelle<br />

des Nationalsozialismus. Die ganze Jugend, aber<br />

auch reife Leute, darunter führende Männer der Gemeinde,<br />

bekannten sich dazu“ (s. S. 551).<br />

lm Reichsdurchschnitt erhielt die NSDAP etwas über<br />

18%, in <strong>Reichelsheim</strong> aber: 39,4%! Die „Frankfurter<br />

Zeitung“ kommentierte das Wahlergebnis u. a. wie folgt:<br />

„Erbitterungswahlen also, in denen eine aus vielen<br />

Ouellen gespeiste Stimmung, durch eine wilde Verhetzung<br />

aufgewühlt, sich in radikalen Stimmzetteln entlud.<br />

Kein positiver Wille, auch nicht der zu einem wirklichen<br />

Umsturz des heutigen Staates, nicht einmal der zu einem<br />

gewaltsamen Versuch des Umsturzes unserer heutigen<br />

außenpolitischen Grundlagen, steht hinter einem großen<br />

Teil dieser radikalnegierenden Stimmen. Ein solcher<br />

148


_ *-<br />

-waııfi<br />

Arbeit und Freizeit<br />

in <strong>Reichelsheim</strong><br />

um 1930


Umsturzwille ist, wir dürfen uns wahrhaftig nicht in Illusionen<br />

wiegen, bei einem Teil sicherlich vorhanden. Der<br />

andere Teil hat lediglich Protest gewollt. Protest. _ . gegen<br />

die Methoden des Regierens und Nichtregierens, des<br />

entschlußlosen parlamentarischen Parlamentierens der<br />

letztvergangenen Jahre . . _ Protest gegen die wirtschaftliche<br />

Not, die fruchtbar ist und die viele, zum Teil aus ehrlicher<br />

Verzweiflung, zum anderen bloß aus Ärger über<br />

diese oder jene Einzelmaßnahme, einfach in die Stimmung<br />

treibt: die Partei, für die sie bisher gestimmt hatten,<br />

habe ihnen nicht geholfen, also versuche man es nun<br />

einmal mit einer anderen Tonart. Hitler verspricht ja<br />

Macht, Glanz und Wohlstand. Alsol“ (Entnommen: W.<br />

Tormin „Die Weimarer Republik“, S. 197)<br />

Die Weltwirtschaftskrise, der die Reichsregierung seit<br />

1930 mit der Politik der „Gesundschrumpfung der Wirtschaft“<br />

begegnen wollte, die aber vor allem zu Firmenzusammenbrüchen,<br />

zu rapide steigender Arbeitslosigkeit,<br />

zu Wohnungslosigkeit (die Mieten konnten nicht mehr<br />

bezahlt werden / neue, billige Wohnungen wurden wegen<br />

fehlender Finanzmittel nicht mehr gebaut) und damit<br />

zu Verzweiflung führte, zumal kaum eine soziale Absicherung<br />

von seiten des Staates gegeben war - dies alles<br />

zeigte bald Wirkung, vor allem dort, wo die Lawine<br />

schon ins Rutschen gekommen war!<br />

Betreffend der sozialen und politischen Situation in<br />

<strong>Reichelsheim</strong> schrieb Pfarrer Rühl: „In diesem Jahr 1931<br />

fing die wirtschaftliche Not an, sehr fühlbar zu werden.<br />

Sogar in unserem landwirtschaftlich noch stark orientierten<br />

<strong>Reichelsheim</strong> wuchs die Zahl der Arbeitslosen und<br />

auch der Bauer kam in Not. Die Steuern wuchsen unaufhörlich,<br />

während die Preise für die Erzeugnisse, Frucht<br />

und Schlachtvieh immer weiter zurückgehen. Man sieht<br />

diese Not z. B. an einem Zeichen: Während es in der Inflationszeit<br />

kaum möglich war, in der Eisenbahn einen<br />

Sitzplatz zu bekommen, ist eben dieselbe oft so leer, daß<br />

wohl kaum die Unkosten für die Züge gedeckt werden.<br />

Die Bahnverwaltung läßt auch die Züge immer kürzer<br />

werden.<br />

ln diese Zeit der Not und die damit verbundene Stimmung<br />

der Niedergedrücktheit und der Verzweiflung hinein<br />

trafdann im Herbst das Einsetzen einer Flutwelle von<br />

nationalsozialistischer Agitation. Unser <strong>Reichelsheim</strong>,<br />

das gewohnt war, sich auch bei großen politischen Versammlungen<br />

zurückzuhalten, bei denen die meisten<br />

Wahlredner-Versammlungen im Wirtszimmer abgehalten<br />

wurden, sah aufeinmal Versammlungen im zum Brechen<br />

überfüllten Saal, erlebte aufeinmal, daß erst junge<br />

Mädchen, später auch verheiratete Frauen zum Zuhören<br />

bei diesen Versammlungen erschienen. Als dann Hitler<br />

selbst in Gießen sprach, fuhr die Hälfte der Einwohnerzahl<br />

dorthin, um ihn zu hören.<br />

_<br />

Am 15. November war dann die Landtagswahl. Sie bedeutete<br />

für <strong>Reichelsheim</strong> den unbestrittenen Einzug des<br />

Nationalsozialismus:<br />

Nationalsozialisten: 340 Stimmen = 68,97 %<br />

Sozialdemokraten: 48 Stimmen = 9,74 %<br />

Landbund: 38 Stimmen = 7,71 %<br />

Kommunisten: 22 Stimmen = 4,46 %<br />

Deutsche Volkspartei: 18 Stimmen = 3,65 %<br />

Deutschnationale VP: 9 Stimmen = 1,83 %<br />

Sozialist. Arbeiterpartei: 7 Stimmen = 1,42 %<br />

Christlich Soziale: 6 Stimmen = 1,22 %<br />

Kommunistische Opposition: 2 Stimmen = 0,41 %<br />

Radikaldemokraten: 2 Stimmen = 0,41 %<br />

Zentrum: 1 Stimmen = 0,20 %<br />

In diesen Zahlen spiegelt sich zugleich die starke Zersplitterung,<br />

ein Zeichen der Ratlosigkeit der Wählerschaft<br />

soweit sie nicht auf Hitlers Seite stand. Unerhört<br />

ist der Rückgang des Landbundes, der bis dahin hier sei-<br />

150


..«/""`\<br />

Reiterfest Anfang der dreißiger Jahre<br />

151


ne Hochburg gehabt hatte. Aber seine Führer selbst<br />

waren mit fliegenden Fahnen zu Hitler übergegangen“<br />

(s. Kirchenbuch, S. 553).<br />

Anmerkung: In diesem Jahr, also 1931, wird in <strong>Reichelsheim</strong><br />

auch eine NS-Ortsgruppe sowie ein SA-Sturm<br />

gebfldet<br />

Wie sehr schon vor der „Machtergreifung“ am 30. Januar<br />

I933 die <strong>Reichelsheim</strong>er Bevölkerung hinter der<br />

„Bewegung“ stand, das zeigt die Schilderung des Lehrers<br />

Kellers in der „Heimatchronik“ zu Ausschreitungen in<br />

<strong>Reichelsheim</strong>. Die Reichsregierung hatte, nachdem sich<br />

die Ausschreitungen bei politischen Veranstaltungen<br />

während des Wahlkampfes um das Amt des Reichspräsidenten<br />

(2. Wahlgang zwischen v. Hindenburg gegen Hitler<br />

am 10. 4. 1932) gehäuft hatte, die SA für die Dauer<br />

vom 13. 4. bis zum 17.6. 1932 verboten. Was in <strong>Reichelsheim</strong><br />

ablief, dazu sei hier also Lehrer Keller das Wort erteilt:<br />

„Der 13. April 1932, ein Ehrentag für <strong>Reichelsheim</strong><br />

Der Chronist hat als Augenzeuge die ganzen Ereignisse<br />

dieses 13. April miterlebt und erzählt darüber folgendes:<br />

Es war ein stiller, dunstiger Apriltag, dieser 13. April,<br />

der sollte zu einem Ehrentag aller vaterländisch gesinnten<br />

<strong>Reichelsheim</strong>er werden. Die Männer waren zum<br />

größten Teil draußen bei der Frühjahrsaussaat im Felde.<br />

Um die Mittagszeit sah ich zufällig aus dem Fenster meiner<br />

Wohnstube. Da fiel mir ein grünes Auto auf, das vor<br />

dem Hause des Sturmführers A. R. hielt. Am Auto stand<br />

ein Schupo (= Schutzpolizist). Ich dachte mir gleich, da<br />

stimmt etwas nicht und ging sofort aufdie Straße, wo sich<br />

vor dem Hause des Sturmführers schon eine Anzahl Kinder<br />

und Erwachsene, darunter der damalige Beigeordnete<br />

V. eingefunden hatte. Ich erfuhr von ihm, was los war.<br />

Der Hess. Innenminister Leuschner, ein Sozialdemokrat<br />

und ausgesprochener ›Nazifresser< hatte die polizeiliche<br />

Beschlagnahme aller Hakenkreuzfahnen und braunen<br />

Uniformstücke sowie Mitgliederlisten der SA und der<br />

Ortsgruppe der NSDAP angeordnet. Hier in <strong>Reichelsheim</strong><br />

wurde ein Kriminalbeamter und 2 Schutzpolizisten<br />

von Bad Nauheim beauftragt. Ich sah nun auf den Hof.<br />

Auf der Treppe oben stand ein Polizist, während der Kriminalbeamte<br />

und der Polizeidiener die Durchsuchung<br />

vornahmen. Es wurde alles durchsucht nach verbotenen<br />

Gegenständen, auch nach Waffen. Für die Mutter des<br />

Sturmführers, Witwe R., waren es wirklich grauenvolle<br />

Stunden, als dieser eigenartige Besuch in ihrem Hause<br />

alles durchstöberte. Immer mehr Menschen sammelten<br />

sich an, denn wie ein Lauffeuer ging es durch das ganze<br />

Städtchen. „Die Polizei hält Haussuchung abl“ Mißbilligende<br />

und erregte Zurufe wurden laut, denn man konnte<br />

dieses rigorose Vorgehen der Polizei nicht begreifen. Die<br />

Jugend sang Kampflieder, so daß der Polizeidiener erregt<br />

auf die Straße kam und Ruhe bot. Als die Haussuchung<br />

beendigt war, ging es zum Hause von O. P. , dessen<br />

Auto der Beschlagnahme verfiel, da es angeblich im<br />

Dienste der NSDAP Verwendung gefunden hatte. Hierbei<br />

kam es zu erregten Auseinandersetzungen mit der<br />

Polizei. O. P. mußte selbst sein Auto steuern und unter<br />

Polizeilicher Bedeckung nach dem Hofe des Bürgermeisters<br />

S. verbringen, wo es sichergestellt wurde. Unter<br />

lauten Pfuirufen fuhr dann das Auto der Polizeibeamten<br />

weg, um an anderen Orten den Befehl der marxistischen<br />

(korrekt wäre gewesen: sozialdemokratisch geführten)<br />

Regierung auszuführen. Allmählich kehrte wieder Ruhe<br />

in die Stadt ein, nur hier und da standen einzeln Gruppen<br />

in erregter Aussprache beeinander.<br />

Ich ging ins Pfarrhaus zu Pfarrer Rühl, der damals als<br />

einer der wenigen Geistlichen sich schon zu Adolf Hitler<br />

bekannte. Frau Pfarrer Rühl war zur Witwe R. gegan-<br />

152


gen, um etwas Trost zu sagen. Gerade kam sie von ihrem<br />

Besuche die Straße herauf, als 2 Schutzpolizisten in<br />

schnellem Tempo auf einem Motorrad anfuhren. Der<br />

Soziusfahrer, der mir persönlich bekannt war, schwang<br />

seinen Gummiknüppel. Ich lief hinaus und ging mit ihnen<br />

in den Hof des Bürgermeisters. Der eine Schupo<br />

sprang in das Auto des O. P. und stellte den Motor an.<br />

Das Auto sollte abtransportiert werden. Inzwischen hatte<br />

sich draußen in der Kirchgasse vor der Bürgermeisterei<br />

eine Menge erregter Menschen eingefunden, die den<br />

Abtransport des Autos nicht zugeben wollte. Als der<br />

Bürgermeister das Tor öffnete und einen Wagen herausschob,<br />

schrie die Menge auf ihn ein. Die 2 Schupobeamten<br />

und der Bürgermeister zogen sich bald darauf in das<br />

Haus zurück, denn sie sahen ein, daß gegen diese Hunderte<br />

von Menschen sich nichts ausrichten ließ. Um nun<br />

den Abtransport des Autos gänzlich unmöglich zu machen,<br />

wurden aus den umliegenden Bauernhöfen Wagen,<br />

Pflüge, dicke Holzbalken, Steine u. a. m. herbeigeschafft<br />

und die Kirchgasse beiderseitig gesperrt.<br />

Inzwischen hatten die Schupobeamten von dem Bürgermeisteramt<br />

aus telefonisch ein Überfallkommando<br />

herbeigerufen. Ehe es ankam, hatten mutige junge Leute<br />

eine Hakenkreuzfahne herbeigeschafft und zuerst auf<br />

einer Linde auf dem Kirchplatz dann aber droben am<br />

höchsten Fenster des Kirchturms gehißt.<br />

Da ertönten auch schon laute Rufe: „Das Überfallkommando<br />

kommtl“ Es wurde mit dem Horst-Wessel-<br />

Lied und „Heil-Hitlerl“-Rufen empfangen. Ängstliche<br />

waren schon in die Seitenstraßen geflüchtet. Ich stand<br />

auf dem Kirchplatz. Das große, grüne Schupo-Auto<br />

hielt! Über 20 Uniformierte sprangen ab. Kommandorufe<br />

der beiden Schupooffiziere! Ein schnelles Ausrichten!<br />

Die Gewehrkammern wurden rasselnd aufgerissen,<br />

scharf geladen, die Gewehre geschultert, die Gummiknüppel<br />

gepackt! Und nun wird die Meute auf die begeisterte<br />

Menge losgelassen. Laute Pfui-Rufe ertönen! Nur<br />

langsam weichen die Reihen zurück. Dabei zeigt es sich,<br />

daß junge <strong>Reichelsheim</strong>er Mädchen furchtloser und mutiger<br />

sind als mancher starke Jüngling!<br />

Ein Ziel des Überfallkommandos hat indessen die<br />

Barrikaden beiseite geschafft und eine Gasse für das abzutransportierende<br />

Auto geschaffen. Dieses fuhr alsbald<br />

ab und wurde einigeWochen in Bad Nauheim sichergestellt.<br />

Bald darauf fuhr auch das Überfallkommando davon<br />

und bekam einige Abschiedsgrüße in Form von harten<br />

Chausseesteinen nachgesandt.<br />

Es war Abend geworden. Da schmettert ein Trompetensignal<br />

durch die Straßen. Die ganze Gemeinde wird<br />

zu einer öffentlichen Bürgerversammlung im Saale des<br />

Gasthofs ,Zur Post“ eingeladen. Man will nochmals Stellung<br />

nehmen zu dem aufregenden Ereignis des Nachmittags.<br />

Mehrere Sprecher verhehlen nicht ihre Erschütterung<br />

über das provozierende Verhalten der Schupo. Alle<br />

mahnen aber zu Ruhe, Einigkeit und Besonnenheit. Da<br />

dringt die Nachricht in den Saal, daß das Überfallkommando<br />

zum 2ten Male in der Kirchgasse erschienen sei.<br />

Da sprechen auch schon 2 Schupo-Offiziere beim Gastwirt<br />

vor. Nachdem die sich davon überzeugt haben, daß<br />

alles in Ruhe abläuft und keine Unruhen mehr zu befürchten<br />

sind, rückt das Überfallkommando ab in seine<br />

Kaserne nach Butzbach.<br />

Hatte die marxistische Regierung geglaubt, durch die<br />

harten Maßnahmen dem Nationalsozialismus einen tödlichen<br />

Schlag zu versetzen, so hatte sie sich gewaltig<br />

getäuscht. Gerade die Vorkommnisse in <strong>Reichelsheim</strong><br />

führten der NSDAP am hiesigen Platze neue Freunde<br />

zu. Dies zeigt sich vortrefflich bei den Wahlen, bei<br />

denen die nationalsozialistische Stimmenzahl dauernd<br />

wächst.<br />

153


Eine Anklage gegen 38 <strong>Reichelsheim</strong>er, darunter auch<br />

mein Junge, Schüler der Augustinerschule in Friedberg,<br />

wegen Landfriedensbruchs und Widerstands gegen die<br />

Staatsgewalt anläßlich der Vorkommnisse am 13. 4.<br />

bringt in den Monaten des Jahres 32 viel Unruhe und<br />

manche Sorge in dieses oderjenes Haus. Nur einem günstigen<br />

Umstande ist es zu danken, daß das Gerichtsverfahren<br />

nicht zur Durchführung kam.. . Durch geschickte<br />

Maßnahmen des nationalsozialistischen Verteidigers<br />

wird der bereits festgelegte Termin der Gerichtsverhandlung<br />

immer wieder hinausgeschoben. Endlich sollte im<br />

Januar die Aburteilung der Angeklagten erfolgen. Da<br />

kam im Dezember, einige Tage vorher, der Amnestie-<br />

Erlaß der Reichsregierung! Das Verfahren wurde eingestelltl“<br />

(s. H. Keller, „Heimatchronik“, S. 102-107)<br />

Anmerkung:<br />

Die Maßnahme der Reichsregierung und in Folge davon<br />

der Polizei konnten nicht verhindern, daß nun (nach<br />

dem Uniformverbot) SA-Stürme in geschlossener Formation<br />

mit nacktem Oberkörper durch die Dörfer zogen.<br />

Es zeigte sich im Gegenteil, daß das Vorgehen der<br />

Behörden gegen die Nationalsozialisten tatsächlich eher<br />

eine unkritische Solidarisierung der Menschen mit dieser<br />

„Bewegung“ bewirkte. Der Boden war bereitet- es kam,<br />

was anscheinend kommen mußte!<br />

Luftaufnahme von <strong>Reichelsheim</strong> 1930<br />

(Besitz der Familie Rohde)<br />

154


155


9. d) Die Zeit der Verblendungz das „3. Reich“<br />

SA -A ufmarsch in <strong>Reichelsheim</strong><br />

1933 (rechts der umfriedete Kirchhof)<br />

„Es ist der 30. Januar. Da kommen die Schulkinder<br />

der höheren Schule von Friedberg nachmittags mit Nachrichten<br />

heim, die wir nicht glauben wollen. Aber eine<br />

Stunde später, wir sitzen gerade wieder beim Kaffee zusammen,<br />

wie einst, als die Polizei zur SA-Auflösung vorfuhr,<br />

diesmal im Hause des Lehrers Keller zu einem kleinen<br />

Familienfest- da geht der Ortsdiener mit der Schelle<br />

durch die Straßen. Gerade vor dem Fenster, an dem wir<br />

saßen, machte er Halt zur Bekanntmachung:<br />

„Der Herr Reichspräsident hat den Führer der<br />

NSDAP, Adolf Hitler, zum Reichskanzler ernanntl“<br />

Was er weiter noch sagte, ging unter in dem Jauchzen<br />

von Kindern und Erwachsenen“ (s. .Kirchenbuch,<br />

S. 563).<br />

In <strong>Reichelsheim</strong> kam es am 26. Februar 1933 zum Bürgermeisterwechsel,<br />

da der bisherige Bürgermeister ver-<br />

storben war. Er war es gewesen, der im April 1932 bei<br />

der „Revolution“ die Seite der Ordnung und des Rechts<br />

mitvertreten hatte, der aber seit jenem Tage in den Augen<br />

der meisten <strong>Reichelsheim</strong>er „durch mancherlei Umstände<br />

und Irrgänge des Lebens in die falsche Bahn geraten“<br />

war (s. Kirchenbuch, S. 563); betrübt seien die <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

wohl gewesen, weil man aufihn „einst große<br />

Hoffnungen gesetzt“ hätte.<br />

Am 26. Februar 1933 wurde Bürgermeister Veith gewählt.<br />

Da die von Hitler durchgesetzte Reichstagswahl<br />

unmittelbar bevorstand (5. März), die Euphorie vom<br />

30. Januar durch die gelenkte Presse noch wirkungsvoll<br />

am Leben gehalten worden war, galt diese Bürgermeister-Wahl<br />

in <strong>Reichelsheim</strong> als „Stimmungsbarometer“<br />

für die Zustimmung der Bevölkerung zur NSDAP.<br />

Im Kirehenbuch ist darüber zu lesen: „Am 26. Februar<br />

wurde Bürgermeister Veith gewählt. Acht Tage vor der<br />

großen Reichstagswahl (5. lII.): es war die letzte Bürgermeisterwahl<br />

in Hessen: Bürgermeister V., der erste nationalsozialistische<br />

und der letzte ›gewählte< Bürgermeister<br />

Hessensl“ Daß der berichtende Pfarrer das Wort<br />

„gewählte“ in Anführungszeichen gesetzt hatte, weist<br />

wohl auf die Häme hin, die gemäß der Auffassung der<br />

Hitler-Partei dem demokratischen Prinzip einer Mehrheitsentscheidung<br />

zugedacht war.<br />

lm Kirehenbuch wird weiter ausgeführt: „Er (Bürgermeister<br />

V.) hat von seinem Amt sofort entschlossen Gebrauch<br />

gemacht. Als nach der Reichstagswahl man zu<br />

ihm kam und die schwarz-rot-goldenen Fahnen (= die<br />

der demokratischen Republik) forderte, um sie zu verbrennen,<br />

. _ . da waren sie schon nicht mehr da; er hatte<br />

sie schon verbrannt“ (s. S. 564).<br />

Pfarrer Rühl, der seine Rolle in <strong>Reichelsheim</strong> als wichtiger<br />

Meinungsführer seit der absehbaren Wende zum<br />

Nationalsozialismus nicht mehr nur als Pfarrer gesehen<br />

156


'<br />

hatte, war 1932 erst dem NS-Lehrerbund, dann der<br />

NSDAP als Mitglied beigetreten; bald engagierte er sich<br />

in dieser „Bewegung“ auch als „Schulungsleiter der HJ“<br />

(= Hitler-Jugend) für mehrere Gemeinden in der<br />

Wetterau und schließlich auch als Mitglied des Oberbannstabes<br />

Oberhessen.<br />

Wenn überlegt wird, daß der beliebteste Lehrer und<br />

der geachtete Ortspfarrer sich gemeinsam für eine Sache,<br />

für eine totalitäre Parteiideologie engagieren, so<br />

wird eine spürbare Auswirkung auf die Einstellung der<br />

Einwohner der Gemeinde, in der sie wirken, nicht ausbleiben<br />

können.<br />

In <strong>Reichelsheim</strong> zeigte sich die Wirkung nicht nur vor<br />

1933, sondern auch sogleich danach. Zwei Objekte wurden<br />

von ihnen initiiert oder zumindest aktiv unterstützt:<br />

1. Der Umbau der gepachteten „Bingenheimer Mühle“<br />

an der Straße nach Blofeld im Norden des Ortes zu<br />

einer „Herberge und Schulungsstätte der neuen deutschen<br />

Jugerıd“, benannt nach Peter Gemeinder, dem<br />

verstorbenen NS-Gauleiter von Hessen-Nassau; und<br />

2. die Errichtung eines „NS-Ehrenmales“ auf dem Lugbzw.<br />

Lochbcrg, dem ehemaligen Weinberg der Gemeinde<br />

<strong>Reichelsheim</strong>. Lehrer Keller, der Initiator<br />

und Gestalter dieses „Mahnmals“, konnte nach Aussagen<br />

von Zeitzeugen nahezu jeden Tag dabei beobachtet<br />

werden, wie er mit dem NS-Jungvolk und/oder<br />

der Hitler-Jugend an der „Baustelle“ wirkte.<br />

Daß die Idole des neuen Regimes für die Menschen in<br />

<strong>Reichelsheim</strong> stets gegenwärtig waren, dafür sorgte aber<br />

noch mehr die Tatsache, daß die wichtigsten Straßen auch<br />

neue Namen erhalten hatten: Die Dorn-Assenheimer Straße<br />

(heute Florstädter Straße) von der Kirche an lautete nun<br />

„Adolf-Hitler-Straße“, die Bingenheimer Straße wurde in<br />

„Hermann-Göring-Straße“ und die Weckesheimer Straße<br />

in „Horst-Wessel-Straße“ umbenannt.<br />

R<br />

Nazi-Gedenkstätte auf dem Lugberg<br />

bei <strong>Reichelsheim</strong> (1933 wurde dieses „Ehrenmal“<br />

errichtet, 1945 kurz vor Eintreffen der Alliierten<br />

wieder abgerissen)<br />

Ein Jahr nach dem politischen Wandel in Deutschland<br />

kam es in <strong>Reichelsheim</strong> zu einem Wechsel im Pfarramt:<br />

Der seit 1922 hier tätige Pfarrer Rühl wurde nach Friedberg<br />

an die Stadtkirche und zugleich zum Dekan berufen.<br />

Sein Nachfolger wurde Pfarrer Louis Carl, der bis<br />

1958 (mit Ausnahme der Zeit, als er als Soldat Dienst leistete,<br />

hier seinen Dienst tat. Pfarrer Carl, der dem neuen<br />

Regime auch positiv gegenüberstand, wenn auch nicht<br />

derart fanatisch wie sein Vorgänger, bemühte sich ernsthaft<br />

darum, mit Kulturveranstaltungen das Gemeinde-<br />

-~›w.,"<br />

157


leben in <strong>Reichelsheim</strong> zu bereichern. Als Pfarrer mußte<br />

er aber bald mit tiefem Bedauern feststellen, daß es<br />

zwischen politisch-weltlicher Gemeinde und Kirche zu<br />

einer Entfremdung kam. Daß diese Trennung besonders<br />

von dem herrschenden System gefördert wurde,<br />

mußte ihn besonders gekränkt haben, sah er doch<br />

selbst offiziell keinen Widerspruch zwischen christlichevangelischer<br />

Anschauung und NS-Ideologie; und er<br />

glaubte wahrscheinlich auch an die Aussagen Hitlers<br />

in seiner Regierungserklärung vom 1. Februar 1933,<br />

daß „das Christentum als Basis unserer gesamten Moral“<br />

anzusehen sei bzw. daß „beide christliche Konfessionen<br />

wichtigste Faktoren der Erhaltung unseres<br />

Volkstums“ seien (s. E. Aleff „Das Dritte Reich“,<br />

S. 49).<br />

Carl mußte feststellen, daß immer mehr Menschen<br />

aus seiner Kirche austraten; auch wurde auf Druck der<br />

Kreisleitung der NSDAP der damalige Bürgermeister<br />

veranlaßt, seine Funktion als Vositzender des Kirchenvorstandes<br />

aufzugeben, weil sich angeblich die Mitgliedschaft<br />

im Kirchenvorstand mit dem nationalsozialistisch<br />

geprägten Bürgermeisteramt im Dritten Reich<br />

nicht vereinbaren ließe. Damit war ein Bruch in die<br />

<strong>Reichelsheim</strong>er Tradition eingetreten, wonach der<br />

Bürgermeister stets Mitglied, sehr häufig auch Vorsit-<br />

zender des Kirchenvorstandes war - ein Bruch, der<br />

Wirkungen auf das Verhältnis zwischen weltlicher und<br />

kirchlicher Gemeinde haben mußte. Wie sehr dieser<br />

Bruch von der NS-Bewegung gewollt war, zeigt die<br />

Tatsache, daß ab Frühjahr 1938 kein Pfarrer mehr Religionsunterricht<br />

an den Schulen erteilen durfte - auch<br />

nicht Pfarrer Carl, was diesen sehr betrübte.<br />

Doch dies trübte nicht das Verhältnis der <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

zum herrschenden Regime. Die NS-Propaganda<br />

sorgte durch die unendliche Reihe von „Erfolgsmeldungen“,<br />

daß die Stimmung insgesamt optimistisch blieb.<br />

Daß vieles gar nicht selbst erzielt, sondern Ergebnis<br />

einer verbesserten Weltkonjunktur war, das wurde -<br />

wenn überhaupt - nur am Rande erwähnt. Daß die Senkung<br />

der Arbeitslosenzahlen auch etwas damit zu tun<br />

hatte, daß der Arbeitsdienst eingeführt worden war, daß<br />

die Frauen aus den Stellungen im öffentlichen Dienst<br />

oder die jüdischen Mitbürger nach und nach aus allen Bereichen<br />

des Arbeitslebens verdrängt wurden - das wurde<br />

nicht gemeldet. Statt dessen wurden „Arbeitsdienst“,<br />

der Bau von Kasernen, Flugplätzen, Autobahnen propagandistisch<br />

herausgestellt und immer und immer wieder<br />

bejubelt. Der Glaube an den herbeigesehnten Aufschwung<br />

wurde festgehalten - auch wenn in den Lohntüten<br />

der einfachen Menschen keine Steigerung erkennbar<br />

war!<br />

„Arbeitsleben/A rbeitsdank “, Mitte der 30er Jahre<br />

(Bilder im Besitz der Familie Diel)<br />

158


zi<br />

j J r<br />

159


Nachdem sich Hitler schon am 1. August 1934, dem<br />

Tage des Todes des Reichspräsidenten v. Hindenburg,<br />

verfassungswidrig und damit widerrechtlich die Funktionen<br />

des Staatsoberhauptes zugeordnet hatte, ließ er sich<br />

die „Richtigkeit“ dieser verfassungsändernden Maßnahme<br />

durch eine Volksabstimmung bestätigen.<br />

Bürgermeister V. konnte am Abend des 19. August<br />

dem Kreisleiter in Friedberg folgendes Ergebnis aus <strong>Reichelsheim</strong><br />

durchtelefonieren:<br />

„Gesamtzahl der Stimmberechtigten: 632<br />

Gesamtzahl der überhaupt abgegebenen<br />

Stimmen: 621<br />

Zahl der gültigen Ja-Stimmen: 600<br />

Zahl der Nein-Stimmen: 21 “<br />

98,26 % der Abstimmungsberechtigten waren demnach<br />

in das Wahllokal gegangen, und von diesen sagten wiederum<br />

96,62 % „Ja“ zum „Gesetz über das deutsche<br />

Staatsoberhaupt“ und legitimierten damit die Ausweitung<br />

der Macht des Diktators (s. hierzu Unterlagen im<br />

Archiv der Stadt <strong>Reichelsheim</strong>).<br />

Das Schicksal Deutschlands warf seit 1935 seine ersten<br />

Schatten voraus, aber sie wurden völlig im Geiste der<br />

Zeit erkannt:<br />

„Eine große Überraschung erlebten wir am Montag,<br />

dem 18. März, als es hieß: Morgen bekommen wir Einquartierung.<br />

Zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder<br />

einmal Soldaten im Dorf. Zwei Tage blieben sie hier. Für<br />

die Kinder und die Jugend ein ungewohnter Anblick, für<br />

die Älteren eine Erinnerung an große und schwere Zeiten,<br />

für uns alle eine Hoffnung auf eine ehrenvollere Zukunft<br />

unseres Vaterlandes. Am 16. März, dem Vortag<br />

des Heldengedenktages, hatte Adolf Hitler die Fesseln<br />

des Schmachvertrages von Versailles abgeschüttelt und<br />

die allgemeine Wehrpflicht eingeführt“ (s. Kirchenbuch,<br />

S. 575).<br />

Im gleichen Jahr, also 1935, wurden auch die ersten<br />

jungen <strong>Reichelsheim</strong>er Rekruten zur Wehrmacht und<br />

zum Arbeitsdienst eingezogen. Von Jahr zu Jahr steigerte<br />

sich die Zahl der jungen Leute, die für den neuen<br />

Krieg, für „eine ehrenvolle Zukunft“, für die immer und<br />

immer wieder geforderte Gewinnung von „Lebensraum<br />

für das deutsche Volk“ ausgebildet wurden.<br />

1936 wurden die <strong>Reichelsheim</strong>er erneut zu einer<br />

Reichstagswahl gerufen. Es gab zwar seit dem 14. Juli<br />

1933 in Deutschland durch Gesetz nur noch eine erlaubte<br />

Partei, die NSDAP, doch sollte dem In- und vor allem<br />

dem Ausland gezeigt werden, wie sehr das deutsche Volk<br />

den Führer und seine Politik unterstützte. Da man bei<br />

dieser „Wahl“ kein Risiko eingehen wollte, schrieb z. B.<br />

das Friedberger Kreisamt an alle Gemeinden des Kreises:<br />

„Friedberg, den 17. März 1936<br />

Betr.: Reichstagswahl am 29. März 1936<br />

An alle Ortsgruppen- bzw. Stützpunktleiter der NSDAP<br />

Für die Reichstagswahl am 29. März 1936 sind für die einzelnen<br />

Abstimmungsbezirke Abstimmungsvorsteher<br />

und Stellvertreter von uns zu berufen. Wir beabsichtigen<br />

als Abstimmungsvorsteher den Bürgermeister und als<br />

Stellvertreter des Abstimmungsvorstehers den Ortsgruppenleiter,<br />

bezw. den Stützpunktleiter zu ernennen.<br />

In den Orten, in denen der Bürgermeister zugleich Ortsgruppenleiter<br />

bezw. Stützpunktleiter ist, kommt als<br />

Stellvertreter der erste Beigeordnete in Frage. Falls uns<br />

bis spätestens 21. März 1936 keine gegenteilige Äußerung<br />

zugeht, unterstellen wir Ihr Einverständnis.<br />

Heil Hitler“<br />

(s. Unterlagen im Archiv der Stadt <strong>Reichelsheim</strong>).<br />

Der <strong>Reichelsheim</strong>er Ortsgruppenleiter, also der Parteivorsitzende<br />

der NSDAP, wurde damit als der eigentliche<br />

Verantwortliche für die Wahlorganisation und<br />

160


-durchführung von der Aufsichtsbehörde gesehen, nicht<br />

der offizielle Verwaltungsleiter der Gemeinde, also der<br />

Bürgermeister. Der damalige <strong>Reichelsheim</strong>er Ortsgruppenleiter<br />

bestätigt durch Unterschrift: „Zur Kenntnis genommen“.<br />

Betreffend 1937 ist über die Errichtung eines Flugplatzes<br />

für die Luftwaffe in unserer Gemarkung zu berichten,<br />

und zwar in den Wiesen zwischen <strong>Reichelsheim</strong> und<br />

Leidhecken. Da Wasser in jenem Wiesenbereich „reichlich“<br />

vorhanden war, mußte eine Pumpstation eingerichtet<br />

werden. Seit der Eröffnung des Platzes kamen immer<br />

wieder einmal Übungsstaffeln nach <strong>Reichelsheim</strong>. Ein<br />

Einsatzflugplatz wurde zum Glück für den Ort und die<br />

Region nicht aus jener Anlage.<br />

11938 wurde der Ort nach längerer Zeit wieder einmal<br />

von Epidemien und Seuchen heimgesucht: Zu Beginn des<br />

Jahres waren viele Einwohner an Keuchhusten erkrankt,<br />

16 mußten gar ins Krankenhaus eingeliefert werden.<br />

Im Frühjahr und Spätherbst wurde der Viehbestand in<br />

<strong>Reichelsheim</strong> von der Maul- und Klauenseuche befallen:<br />

Für manch einen Bauern war damit ein herber Verlust<br />

verbunden!<br />

Doch neben dem Schrecken und Leid, welehe Epidemie<br />

und Seuche gebracht hatten, fühlten sich die <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

stolz, daß „wieder Weltgeschichte“ erlebt<br />

werden durfte. „Die Zeit ist vorrüber“, so schrieb der<br />

Ortspfarrer ins Kirchenbuch, „daß Deutschland nichts<br />

mehr zu sagen hat. Nach 20 Jahren Not kehrten die Sudetendeutschen<br />

heim in das Reich. Von <strong>Reichelsheim</strong> waren<br />

verschiedene Reservisten und Landwehrmänner eingezogen“<br />

(s. Kirchenbuch, S. 595 f.).<br />

(Wer konnte damals ahnen, daß aufgrund der aggressiven<br />

„Raum-Politik“ Hitlers 8 Jahre danach viele<br />

Sudetendeutsche in <strong>Reichelsheim</strong> Unterschlupf suchen<br />

mußten?)<br />

Diese Einberufungen erinnerten manch einen <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

an das Leid des Ersten Weltkrieges. „Die<br />

Wunden des Weltkrieges sind noch nicht verheilt“,<br />

schrieb Pfarrer Carl treffend. Die Erinnerung an jene bedrückende<br />

Zeit mag auch dadurch wach geworden sein,<br />

daß nunmehr auch im ländlichen <strong>Reichelsheim</strong> Kurse zur<br />

Ausbildung im Luftschutz stattfanden.<br />

Während in Zeiten der Angst und Unsicherheit die<br />

Menschen vermehrt Kraft und Hilfe in der Kirche suchen,<br />

so wurden in diesen Monaten, gefördert und gefordert<br />

von der NSDAP, die Kirchenaustritte zu einer „Alltäglichkeit“.<br />

„Bis Anfang August (1939) traten insgesamt<br />

30 hier wohnende <strong>Reichelsheim</strong>er aus. Es sind alles<br />

Leute, die in der NS-Bewegung einen Posten haben. Die<br />

Leute wurden von mir nicht besucht“ (s. S. 597). ..<br />

.<br />

-.0-*"'<br />

- M ,ll .<br />

Hitler-Jugendheim in <strong>Reichelsheim</strong>, erbaut 1939,<br />

nachdem die Bingenheim.er Miihle nicht mehr zur<br />

Verfiigung stand<br />

(Nach dem Kriege zuerst von den Mechanischen<br />

Werkstiitten <strong>Reichelsheim</strong> - „M WR “ - genutzt,<br />

dann zum Kindergarten der Stadt umgebaut)<br />

\"""<br />

"lu<br />

___.<br />

161


'<br />

V<br />

9. e) Der 2. Weltkrieg<br />

„Die Heuernte ging gut vorrüber. Das Wetter war<br />

günstig. Als die Getreideernte begonnen war, gab es Regenwetter.<br />

Vom ll.-21. war das Wetter sehr günstig. In<br />

dieser Zeit wurde der größte Teil der Frucht abgemacht<br />

und eingebracht.<br />

In der ganzen Zeit aber lag auf uns der Druck der außenpolitischen<br />

Lage: Danzig und der Korridor u.s.w.<br />

sollen wieder zu Deutschland. Das Unrecht des Versailler<br />

Vertrages muß wieder gut gemacht werden.<br />

Wann wird es losgehen`?“<br />

So lautet die Darstellung des damaligen Ortspfarrers<br />

über den Sommer 1939 (s. Kirehenbuch S. 599).<br />

Alltägliches neben der Erwartung von Schrecklichem,<br />

das allerdings als nicht schrecklich, sondern als „historisch<br />

notwendig“ angesehen wurde. Doch klang auch die<br />

Furcht vor Schrecken und Tod aus den Zeilen: „Wann<br />

wird es losgehen'?“<br />

Der Bericht geht weiter:<br />

„Da kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel am Samstag,<br />

um 3 Uhr morgens, die geheime Mobilmachung. Am<br />

selben Tage schon mußten die Leute zum Teil einrücken,<br />

am nächsten Tag mußten die Pferde abgeliefert werden“<br />

(s. Kirchenbuch, S. 599 f.).<br />

Wie sehr sich die Menschen in jener Zeit von der Kirche<br />

- nicht nur in <strong>Reichelsheim</strong> - entfernt hatten, zeigt<br />

ein kurzer, aber verzweifelter Eintrag des Pfarrers. Er<br />

macht deutlich, wie sehr sich die Menschen mittlerweile<br />

in ihrer Haltung zur Kirche gegenüber 1914 unterschieden:<br />

„Am vorigen Sonntag, also am 2. Mobilmachungstag,<br />

waren im Gottesdienst 18 Leute. Ist das nicht furchtbar!<br />

In Leidhecken war nur ein Mann in der Kirche _ .. Deutsche<br />

Christenheit, weißt Du nicht, daß angesichts eines<br />

drohenden Krieges das Bedürfnis lebendig sein muß, vor<br />

Gottes Angesicht gemeinsam zu treten?!“ (s. S. 600 f.).<br />

Qimtiiciie<br />

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ß_efaııııimıidJiiiıa.<br />

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er mit ıimmıuiiıiıit. ue aoırmıiiien auf ue fmenuıı<br />

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1.. tqngianb iii, ıniimf (lirwnrtnr. aldi! gemliit. ben Rrirg- gegen<br />

mcuiidgiınıtı uıı-fμıgcbc-ii.. Es iii i›.alm¬ mit einer langen Ri-icçu›~<br />

iınmr in r-ıdiaın. iiiriilmc ıınıtiiılıe Ruııbgcbııııgııi. hai; im. Strict;<br />

im weiten vorüber ici., in-üflc-n helm: als iibırly mit mıgciıbeıı uıerheıı.<br />

. 2. 'flieınıniiμrcciwib werben bie Itıiuinı-ı in im-n Heiraten ßebiıien in<br />

an-im er-iirle lıı.i-mitm, :mb es iii mit wıiiır-cn Einberufungen 3::<br />

H :träum ßcriuiiiiiien warnen nicht uerii-flrfililidjt meriicn._<br />

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"3. iiiiiuls :mb Siıgiıilrmsıaga fiub, wie MJ liıriıuıgeiiılit bat, ııiçii-t<br />

in hei: Enge, íiufiangriife gu uırbiııbıım aber nuflulgalteii. wie<br />

muiiilemng hat fid; bin-aiif ciııguiieilım. __<br />

I. äisijır iiniı lı-«mitn in ilb-cr 70 imiiid,mı ëıíübien ıııiiiiiiriiılı-ii flirletie<br />

bıirıh ßıımbcıi.-nııgıriflc miiiirt markiert. 311 aber bei Mt iebter<br />

- _ B-hihi befinbııı fiel), wie iıher ißuitsgmniic we-iii, Qiningcn, bie nis<br />

mliiiiiriidj-0 üblen: nniiuwre-dien ilnb. Sie in fluluııft mit einer<br />

'ırbı-hlijiiı-u íiunniııne her britiídyin mit-angriff: gu redμıın iii,<br />

eridμiııi es anne-rmcihiidj, hai; fait alle heiitidyı iäiiibic iıı iiifiiiiıiliicıiı<br />

Idguii geμigcn werben.<br />

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er iii ber äiiiiruin ıinmögiiiiı, time weitere mit noch<br />

einidtnei beiıbere øiiier ieiıeø einteiııen Iiniiøfieııolien ben<br />

firleg iıieiieniiiiiiireııı fnivie eiiirimgen in hat Metten<br />

eeiıieieiı iii unieriiiniieıı.. er iıiirb lieben Iioliøgaıviieıı<br />

iiııiıeimgeiieili, aus tiefer Rage bie ibm notitieiıiiia ırliliciiıenbeıi<br />

eiiiliille fiir iciııe iiiniiige išiniieiliiiiø iii gießen.<br />

" 410<br />

Flugblatt der engl. Propaganda 1941 (entnommen:<br />

„Heil Beil “ - Flugblattpropaganda im<br />

11. Weltkrieg, S. 117).<br />

ı-<br />

162


_<br />

1;-i._'.`_ f':";'¦~.'.'..,'I;.""'¦l."¦:~.;'~i;.,"-1,'"¦_;¦l;-l1l:-_fI§I'll'I11'~I;fl1'¦:-i¦í:i:_l;f:"`;-Li:'-i;l::;Z_?-1-i-""'-" ""'_'-""-3'-'-ii-3:-._:;I_.fi-ii.-1;!':f'f.-,í1'-I-1'.-ii".¦íí' ' ' _ -~ - -- " *_<br />

Die Menschen hinter der Front wurden auch von der<br />

Feindseite „informiert“ über den Stand des Krieges, das<br />

Verhalten der Soldaten hinter der Front oder die Versorgungslage<br />

mit Lebensmitteln. Auf beiden Seiten lautete<br />

die neue Strategie: Durch Flugblätter und durch Bomben<br />

die Menschen in ständiger Angst, in ständiger Verunsicherung<br />

zu halten, also ihre „Moral“ zu zerstören.<br />

Pfarrer Carl, der trotz seiner tiefen Enttäuschung über<br />

die Haltung seiner nationalsozialistischen „Schäfchen“<br />

zur Kirche treu zum Regime stand, berichtete, daß auch<br />

über <strong>Reichelsheim</strong> Flugblätter abgeworfen worden seien,<br />

seines Erachtens „verfaßt von deutschen Emigranten<br />

und Juden“.<br />

Wie sehr die Menschen in jener Zeit propagandistisch<br />

aufgeputscht waren, zeigt eine andere Bemerkung des<br />

Ortspfarrers vom 11. 9. 1939:<br />

„In unserer Zeit beginnen die Kriege wie eine Krankheit.<br />

Sie fängt langsam an und steigt bis zur Krise. Noch<br />

hoffen viele, daß es zu keiner Auseinandersetzung mit<br />

den Waffen zwischen uns und den westlichen Gegnern<br />

kommt. Die entscheidende Frage für die jetzige Lage ist:<br />

WER GEWINNT DEN KRIEG VON 1914-19l8?“<br />

(s. S. 602)<br />

„Wer gewinnt den Krieg von 1914-l9l8?“<br />

Dieser neue Weltkrieg soll nur eine Fortsetzung des<br />

1. Weltkrieges gewesen sein? Nur eine Revanche? Nur<br />

eine Möglichkeit zur „Wiedererlangung der nationalen<br />

Ehre“?<br />

Der Krieg gegen Polen war bald gewonnen, war bald<br />

abgehakt und aus dem „Bewußtsein der Angst“ verdrängt.<br />

Angst bestand aber darüber, ob und wann der<br />

Krieg gegen England und vor allem Frankreich beginnen<br />

würde.<br />

<strong>Reichelsheim</strong> erlebte den Krieg durch Einquartierungen<br />

von Soldaten aus anderen Teilen des Reiches. Ge-<br />

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'ilııieiiıinlimıi im-.it fi“.-iı_~i_cI,`i«ı›L_ _\!I'_iii__1_“¦__ı'ı_jliıi-M. W buirır " lıimmii "ii_rıı 1 Iınih<br />

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Flugblatt<br />

der englischen Kriegspropaganda 1943<br />

(Entn. s. 0., S. 148)


`<br />

_<br />

spürt wurde er auch dadurch z. B., daß der Eisenbahnverkehr<br />

nicht mehr in gewohnter Weise verlief. Anfang<br />

1940 notierte Pfarrer Carl:<br />

„Große Eisenbahnunglücke haben sich ereignet. Bei<br />

Gentin in der Mark sind 200 Personen ums Leben gekommen.<br />

Bei Nieder-Wöllstadt fuhren ein Personenund<br />

ein Güterzug ineinander. Es hat mehrere Tote gegeben.<br />

Mindestens 10 Eisenbahnunglücke haben sich ereignet.<br />

Die Zeitungen schreiben kaum darüber. Zensurl“<br />

(s. S. 608).<br />

Trotz aller Angst machte man sich Mut, stärkte die<br />

Hoffnung, der Krieg würde, wenn er dann richtig (also<br />

gegen den Westen) begonnen hätte, nicht lange dauern:<br />

„Im allgemeinen hört man vom Krieg folgende Ansicht:<br />

›Der Führer hat gesagt: Der Krieg ist bis August<br />

(- 1940) fertig! also wird es bald losgehen! Dabei werden<br />

wir eine ganz furchtbare Waffe anwenden.< Den Optimisten<br />

stehen die Pessimisten gegenüber, die sagen: ›Das<br />

kennen wir vom vorigen Krieg noch her!


„Die Amtsbrüder haben aber wahrscheinlich keine Eintragungen<br />

in die Chronik gemacht, weil sie Sorge hatten,<br />

die Chronik könnte von den nationalsozialistischen Machthabern<br />

beschlagnahmt werden und die Eintragungen dem<br />

Chronisten zum Verhängnis werden“ (s. S. 618).<br />

Diese Sätze weisen nicht nur auf einen Gesinnungswandel<br />

des Pfarrers hin, sie verraten auch, daß die <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

aus ihrem Traum endgültig erwacht waren,<br />

daß sie die NS-Lehre als Irrlehre durchschaut hatten.<br />

Vielleicht hatte ihnen der Flugzeugabsturz über <strong>Reichelsheim</strong><br />

im Mai 1944 einen letzten Schock versetzt,<br />

über den folgendes zu berichten ist: Ein feindlicher, in<br />

einer Luftschlacht angeschossener Bomber „verhakte“<br />

sich mit einer Tragfläche am Schornstein der Molkerei<br />

(bei der Genossenschaft) und stürzte auf das gemeindeeigenen<br />

Haus in der Bahnstraße, das als „Kinderschule“<br />

und Verwaltungsgebäude genutzt wurde.<br />

Glück im Unglück war, daß der Absturz in der Mittagszeit<br />

passiert war - als das Gebäude menschenleer<br />

war.<br />

Doch mehr werden die vielen Todes- und Vermißtennachrichten,<br />

die Nachrichten über Gefangenschaft oder<br />

Verwundung das Denken der Menschen in <strong>Reichelsheim</strong><br />

und anderswo beeinflußt haben: Mögen sie anfänglich<br />

den Haß auf die Kriegsfeinde gestärkt haben; mit Zunahme<br />

des Krieges richtet sich dieser auch gegen die eigene<br />

Führung. Denn in über 30 Fällen erhielten die Familien<br />

die Nachricht:<br />

„Ihr Mann /Ihr Sohn/ Ihr Bruder ist den Heldentod gestorben<br />

-für Führer, Volk und Vaterlandl“<br />

In ungefähr 20 Fällen erhielten die Familienangehörigen<br />

keine Auskunft - es hieß nur: „Vermißt!“ Das ließ<br />

zwar noch ein wenig Hoffnung offen, oft noch für viele<br />

Jahre nach der Kapitulation; doch der Schmerz blieb um<br />

so länger wach!<br />

In vielen Häusern unseres kleinen Ortes hatte man die<br />

Hoffnung, den Mann, den Sohn, den Vater doch noch in<br />

die Arme schließen zu können, hieß es doch, der Angehörige<br />

sei in Gefangenschaft geraten. Doch auch von ihnen<br />

kehrten nicht alle zurück, hatten nicht die Möglichkeit<br />

wie Pfarrer Carl für seine Nachkommen zu schreiben:<br />

„Am 29. 6. 1945 kam ich in Aalen (Württemberg) zur<br />

Entlassung. Per Lastauto ging es über Würzburg nach<br />

Aschaffenburg. Von hier fuhr ich zunächst bis nach Hanau<br />

und dann abends um ll Uhr von Hanau nach Friedberg:<br />

Hier erfuhr ich, daß in <strong>Reichelsheim</strong> durch Kriegsereignisse<br />

kein Schaden entstanden war. Nach der Sperrstunde,<br />

die bis 5 Uhr dauerte, lief ich von Friedberg aus<br />

heim . _. So kam ich denn am 30. 6. 45 heim. Das erste,<br />

was ich sah, war der Kirchturm. Am Schlusse des Krieges<br />

bin ich also noch sehr gnädig geführt worden“ (s. S. 616).<br />

„Das erste, was ich sah, war der Kirchturm“, so Pfarrer<br />

Carl. Die 60 Männer aus <strong>Reichelsheim</strong>, die in jenem<br />

unsinnigen, mörderischen und verbrecherischen Krieg<br />

ihr Leben oder für Jahre ihre Freiheit lassen mußten -<br />

wie hatten sie sich nach dem Anblick jenes Bauwerks gesehnt,<br />

das über Jahrhunderte den Menschen Symbol des<br />

Zuhauses, der Heimat, der Sicherheit gewesen war!<br />

„Das erste, was ich (von <strong>Reichelsheim</strong>) sah, war der<br />

Kirchturml“<br />

Das mögen allerdings auch die Menschen später erzählt<br />

haben, die als Evakuierte aus den zerbomten Großstädten<br />

des Rhein-Main-Gebietes aufs Land geflüchtet<br />

waren. Für ungefähr 150 Personen, meist Frankfurter,<br />

mußte Quartier gefunden werden. Das war nicht leicht,<br />

zumal es sich um Menschen handelte, die neben ihrem<br />

Hab und Gut oft auch Angehörige bei den flächendekkenden<br />

Bombardements verloren hatten. Sie kamen<br />

hierher, zu Familien, deren Versorgung auch stark ein-<br />

165


geschränkt war, deren Angehörige noch „im Felde“ standen<br />

oder bereits gefallen, vermißt, verwundet oder gefangen<br />

waren. _ _<br />

Nach Ende des Krieges kehrten die meisten dieser evakuierten<br />

Familien wieder zurück in ihre Heimatstädte,<br />

hoffend, dort - wo sie aufgewachsen waren - ein neues<br />

Leben leichter beginnen zu können.<br />

Doch kaum hatten die Evakuierten <strong>Reichelsheim</strong> verlassen,<br />

hatten sie ihre Notunterkünfte, ihre Zimmer und<br />

Kammern geräumt, da kamen andere Landsleute. Menschen<br />

aus den Gebieten, deretwegen Hitler angeblich<br />

schon früh den Krieg riskiert hatte: Sudetendeutsche<br />

z. B. Aber es kamen auch Vertriebene und Flüchtlinge<br />

aus anderen Gebieten, die aufgrund der Beschlüsse der<br />

Sieger in Potsdam im Sommer 1945 von Deutschland ab-<br />

getrennt wurden und aus denen die Deutschen ausgesiedclt<br />

werden sollten: aus Ost- und Westpreußen, aus<br />

Schlesien, aus Litauen, Polen, Rumänien oder Jugoslawien.<br />

„<strong>Reichelsheim</strong> hatte vor dem Krieg 1939 = 890 Einwohner,<br />

jetzt mindestens l550“, notierte Pfarrer Carl ins<br />

Kirehenbuch. Um ungefähr 75 % war die Einwohnerzahl<br />

gestiegen - aber kein Haus war bisher zusätzlich gebaut<br />

worden!<br />

Doch eins war damit klar: 1. Diese Menschen würden<br />

<strong>Reichelsheim</strong> nur zum geringen Teil verlassen und<br />

2. <strong>Reichelsheim</strong> würde durch diese Leute niemals mehr<br />

so sein können, wie es war.<br />

Der Umbruch zu einem neuen <strong>Reichelsheim</strong> war gegeben.<br />

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166<br />

Ansichtskarte von <strong>Reichelsheim</strong>,<br />

um 1940. (So mögen die<br />

eingezogen.en Soldaten<br />

<strong>Reichelsheim</strong> in Erinnerung<br />

behalten haben)


9. f) Bruch mit der Vergangenheit- und aktiver Neubeginn<br />

„Endlich nähert sich dieser Wahnsinn seinem Ende.<br />

Es kommt in <strong>Reichelsheim</strong> mit der Besetzung durch<br />

amerikanische Truppen im April 1945. Vor dem Einmarsch<br />

haben beherzte Einwohner auf dem Kirchturm<br />

und an ihren Häusern die weiße Fahne gehißt, um anzuzeigen,<br />

daß kein Widerstand zu erwarten ist, um so <strong>Reichelsheim</strong><br />

vor der Zerstörung zu bewahren“ (W. Coburger<br />

„Der Weg der <strong>Reichelsheim</strong>er Kirche durch 5 Jahrhunderte“,<br />

S. 47).<br />

<strong>Reichelsheim</strong> wurde also nicht durch Befehl „zur<br />

Frontstadt“ erklärt- es öffnete sich und sicherte sich damit<br />

seine Zukunft. Die <strong>Reichelsheim</strong>er mußten wahrnehmen,<br />

daß sie neue kommunalpolitische Wege gehen<br />

mußten, daß sich ihre kleine Stadt wirklich „öffnen“<br />

mußte. Und das geschah.<br />

Neue Ideen waren von den Einwohnern gefordert -<br />

und neue Ideen wurden in der nun beginnenden Nachkriegszeit<br />

im engen Rahmen der knappen öffentlichen<br />

Gelder umgesetzt.<br />

Wesentliche Probleme waren, wie schon berichtet, die<br />

vielen Hunderte von Vertriebenen und Flüchtlingen.<br />

Andere Dialekte, andere Gewohnheiten, andere Lebensauffassungen<br />

und auch andere Konfessionen wurden<br />

zur Alltäglichkeit, und sie wurden vertraut, wurden<br />

fast selbstverständlich. Ende 1947 gab es in <strong>Reichelsheim</strong>,<br />

dieser „ur-protestantischen“ Gemeinde, 475 Katholiken!<br />

Vor dem Krieg konnte man die Anhänger dieser<br />

Glaubenskonfession nahezu an einer Hand abzählen!<br />

Konsequenterweise öffnete man die evangelische Kirche<br />

den Christen dieser Glaubensrichtung, damit auch sie ihren<br />

Gottesdienst feiern konnten. Durch diese Öffnung<br />

wurde - wie selbstverständlich - die <strong>Reichelsheim</strong>er Kirche<br />

das Gotteshaus für alle alten und neuen <strong>Reichelsheim</strong>er.<br />

Doch die Menschen hatten es in diesem kleinen Dorf<br />

(seit 1937 war es nach Einführung der „Deutschen Gemeindeordnung“<br />

durch die nationalsozialistische<br />

Reichsregierung nicht mehr „Stadt“) nicht leicht: Wie<br />

überall in Deutschland konnte die Ernährung der vielen<br />

Menschen (nahezu täglich wurden es mehr) auch in <strong>Reichelsheim</strong><br />

nur äußerst schwer gewährleistet werden. Die<br />

alte Reichsmark war nichts mehr wert, die Lebensmittelkarten<br />

teilten bis auf das Gramm genau jedem einzelnen<br />

seine magere Existenzgrundlage zu.<br />

Wer Acker und Stall sein Eigen nennen konnte, der<br />

hatte es gewiß besser, der konnte nicht nur unabhängig<br />

von den Lebcnsmittelkarten Nahrungsmittel auf den<br />

Tisch seiner Familie stellen, der konnte auch im<br />

„Tausch-Verfahren“ manches erwerben, von dem andere<br />

träumten. Doch leicht war es für keinen in jenen Jahren.<br />

Die am 20. Januar 1946 demokratisch gewählten <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

Kommunalpolitiker hatten keine leichte<br />

Aufgabe übernommen. Um 75% hatte die Einwohnerschaft<br />

zugenommen! Woher Wohnraum für die Menschen,<br />

woher Schulraum für die Kinder, woher Arbeit<br />

für die Erwachsenen nehmen? Die Kirche half bei der<br />

Versorgung der Flüchtlinge und Vertriebenen durch das<br />

„Hilfswerk der evangelischen Kirche“, so gut sie nur<br />

konnte. Über andere Hilfsorganisationen fanden die<br />

amerikanischen „Care-Pakete“ ihren Weg auch nach<br />

<strong>Reichelsheim</strong> zu den bedürftigsten Familien: Pakete mit<br />

Mehl, Milchpulver und manchmal sogar mit Käse und<br />

gesalzener Butter.<br />

Die Ende 1946 / Anfang 1947 sich konstituierende<br />

Staatsgewalt des neugegründeten Staates Hessen versuchte<br />

durch Sonderprogramme, die Gemeinden aktiv<br />

bei der Bewältigung der enormen Probleme zu unterstützen.<br />

Doch erst die Währungsreform im Sommer 1948<br />

167


ließ wirklich Hoffnung aufkommen, dies besonders nach<br />

dem harten Winter '1947/48, in dem die Menschen freiwillig<br />

zusammenrückten, um ja nicht zu erfrieren.<br />

Um die Ernährungssituation zu verbessern, gelang es<br />

schließlich der politischen Gemeinde, Ackerland auf der<br />

Unterbeunde von der Kirche anzupachten, um dieses als<br />

Gartenland an die Heimatvertriebenen weiterzugeben.<br />

Dies brachte Besserung in die Ernährungslage, aber es<br />

brachte in vielen Fällen auch Anerkennung: Die Alt-<br />

<strong>Reichelsheim</strong>er sahen mit Verwunderung und Achtung,<br />

was die neuen Mitbürger aus ihren kleinen Stücken<br />

durch Sorgfalt, Kenntnisreichtum und vor allem Fleiß<br />

herauszuholen imstande waren! Manch ein Kontakt bildete<br />

sich, sah man doch, daß die „Eingeplagten“, wie die<br />

Vertriebenen und Flüchtlinge von Mißgünstigen genannt<br />

wurden, kräftig zupackten, wenn sie die Möglichkeit dazu<br />

erhielten.<br />

Da die Wohnungsnot nicht abnahm, sondern sich eher<br />

von Monat zu Monat verschlechterte, bildete sich eine<br />

„Wohnungsgesellschaft“. Noch vor der Währungsreform<br />

trat sie an die Kirche heran, um in den Besitz von<br />

Land im Bereich „Haingraben“ zu kommen: Nach vielem<br />

Hin und Her gelang es, zu einem Übereinkommen<br />

zu gelangen: Die Kirche, der es durch Kontrollratsgesetz<br />

der Siegermächte nicht erlaubt war, Gelände zu verkaufen,<br />

verpachtete einen Streifen Land durch den alten<br />

Pfarrgarten, um einen Zugang zur Oberen Haingasse zu<br />

ermöglichen. So konnten bald die ersten Häuser gebaut<br />

werden. <strong>Reichelsheim</strong> begann sich nach Westen hin auszudehnen.<br />

In dieser Zeit erblühte auch langsam wieder das Vereinsleben.<br />

Manch ein Zugezogener fand durch die Vereine<br />

Zugang in die Häuser und die Herzen der Alteingesessenen.<br />

Aber auch sonst schien wieder alles „normaler“ zu<br />

werden: Vom Kirchturm läuteten seit 1947 bereits wieder<br />

2 Glocken zu den festgesetzten Zeiten, nachdem eine<br />

der 1940 abgelieferten Glocken unversehrt wieder ihren<br />

Wirkungsort im Kirchturm bekommen hatte. Und auch<br />

sonst schien sich das kirchliche Leben zu normalisieren,<br />

traten doch wieder viele der Gemeinschaft der evangelischen<br />

Christen bei, nachdem sie einige Jahre zuvor aus<br />

politischen Erwägungen ihr den Rücken gekehrt hatten.<br />

Und zur Zufriedenheit des Pfarrers fanden sich genügend<br />

Gemeindemitglieder, die bereit waren, für ein ehrenamtliches<br />

Mandat in der Kirchenvertretung oder gar<br />

im Kirchenvorstand zu kandidieren.<br />

Durch die große Zahl von Neubürgern entwickelte<br />

sich die Schulsituation zu einer Katastrophe: Im Historischen<br />

Rathaus, das in seinem 1. Stock nur zwei Schulräume<br />

beherbergte, gab es anfänglich gar keinen Unterricht,<br />

weil es durch den Krieg überhaupt keine Lehrer<br />

gab. Doch dann sollten in diesen 2 Räumchen 200 Schulkinder<br />

Platz finden! Es blieb nur eine organisatorische<br />

Lösung: Unterricht rund um die Uhr, also in zwei oder<br />

gar drei Schichten! Um das leisten zu können, wurde zusätzlich<br />

ein Raum im Lehrerwohnhaus (Florstädter Straße<br />

/ Neugasse) in ein Klassenzimmer umgewandelt. Die<br />

Eltern, die sich gewiß Besseres und Schöneres für ihre<br />

Kinder vorgestellt hatten, unterstützten die Lehrer, die<br />

anfänglich meist nur Hilfslehrer oder „Schulamtsanwärter“<br />

waren, nach besten Kräften, damit sie die Schülergruppen<br />

von meist 40 Kindern pro Klasse im „Griff“ behalten<br />

konnten.<br />

Schon 1949 begann wegen der unbeschreiblichen<br />

Raumnot die Planung für ein neues Schulgebäude. Doch<br />

es dauerte noch mehrere Jahre, bis es zum ersten Spatenstich<br />

für das Gebäude kam. Die Bürgerschaft war nämlich<br />

geteilter Auffassung über den rechten Standort:<br />

168


Sollte es in den Bereich des neuen Baugebietes am Heingraben<br />

kommen, oder sollte es in unmittelbarer Nähe<br />

des Lehrerwohnhauses stehen? Sechs Jahre stritt ein<br />

<strong>Reichelsheim</strong>er Bürger gegen die beschlossene Absicht<br />

der politischen Gemeinde, das Gebäude in die Lehrergärten<br />

an der Florstädter Straße/Ecke Roßgasse zu errichten.<br />

Sechs lange Jahre wurde hartnäckig und stur aut<br />

ı<br />

den eigenen Positionen beharrt, wurden alle Rechtsmittel<br />

und -wege ausgeschöpft: Widerspruch beim Kreisaussch<br />

uß - Klage vor dem Landgericht- Klageverfah ren vor<br />

dem Oberlandesgericht - Klage vor dem Bundesgerichtshof<br />

in Karlsruhe - Zurückverweisung an das Landgericht<br />

- Entscheidung schließlich durch das Oberlandesgericht.<br />

_ _ ! Endlich (1) erhielt die Gemeinde das Nutzungsrecht<br />

im ehemaligen Lehrergarten zugesprochen!<br />

1955 wurden die Pläne der neuen Schule zur Genehmigung<br />

beim Kreis eingereicht - und am 2. Oktober 1956<br />

konnte sie in einer Feier den Lehrern übergeben werden.<br />

*Mm<br />

Fä<br />

Die neue Schule an der Florstädter Straße<br />

Die 3. Glocke wird in den Turm der Kirche gezogen


Seit 1955 ertönten die Glocken der Kirche wieder so,<br />

wie es die älteren <strong>Reichelsheim</strong>er Mitbürgerinnen und<br />

Mitbürger von klein auf gewöhnt waren, nämlich im<br />

Dreiklang: 10 Jahre nach dem unseligen Krieg war es der<br />

Gemeinde möglich, eine dritte, eine neue Glocke wieder<br />

im Kirchturm zu befestigen. Die „Normalität“ war einen<br />

Schritt weiter gekommen!<br />

Doch alles war nicht so „normal“ wie vor dem Krieg.<br />

Die Menschen hatten sich verändert, auch jene, die hier<br />

geboren worden waren. Zu viel hatten sie in den 2 Jahrzehnten<br />

zuvor erleben müssen, zu sehr waren „Ideale“<br />

als Irrlehren entlarvt. Und so kam es auch zu kleinen<br />

oder größeren Reibereien zwischen der politischen und<br />

der kirchlichen Gemeinde, zwischen den Repräsentanten<br />

dieser zwei Gemeinden innerhalb des Ortes. So ärgerte<br />

es den Pfarrer sehr, daß der Kirchplatz (Besitz der<br />

politischen Gemeinde), der eigentlich zu jener Zeit noch<br />

bis zum Schulhausneubau nicht nur Spielplatz sondern<br />

auch Schulhof war, von den Bauern auch als „Verladerampe<br />

für das Vieh“ genutzt wurde. Was Pfarrer Carl besonders<br />

ärgerte, war, daß sogar sonntags dort das<br />

Schlachtvieh verladen wurde (am Römerberg, unmittelbar<br />

an der Kirchenmauer, befindet sich noch heute das<br />

Wiegehäuschen). „Als sogar während des Sonntagsgottesdienstes<br />

Tiere dort verladen wurden, bin ich zum Bürgermeister<br />

Marloff hingegangen und habe um Abstellung<br />

des Übels gebeten. Er erklärte, die Bürger verlangten<br />

das, daß der Kirchplatz als Verladerampe benützt<br />

wird. Daraufhin habe ich die Behörde in Darmstadt um<br />

Abstellung des Übelstandes gebeten“ (s. Kirchenbuch,<br />

S. 636).<br />

Die Stellung des Pfarrers in der Gemeinde hatte sich<br />

seit Beginn des Dritten Reiches gewandelt, und das Ansehen<br />

der Kirche war erheblich gesunken. Schon bei seiner<br />

Rückkehr aus dem Krieg hatte Pfarrer Carl feststel-<br />

len müssen, daß nahezu alle Fenster des Gotteshauses<br />

eingeschlagen worden waren. _. Und als er den damaligen<br />

Bürgermeister einmal ansprach, die Gemeinde möge<br />

doch wieder eine 3. Glocke für die Kirche anschaffen, erhielt<br />

er nach eigenen Worten nur folgende barsche Antwort:<br />

„Wir brauchen keine Glocke; wir gehen doch nicht<br />

in die Kirche !“ (s. Kirchenbuch, S. 636). Hier klingt einwenig<br />

das Verhalten von „Don Camillo und Pepone“<br />

durch _ _ _<br />

Der Ort hatte sich gewandelt: Durch die größere Bevölkerungszahl<br />

war auch eine größere Geschäftigkeit zu<br />

spüren: Es gab zahlreiche kleine Geschäfte und seit Mitte<br />

der 50er Jahre auch 2 Tankstellen in <strong>Reichelsheim</strong><br />

(Weckesheimer Straße und Bingenheimer Straße) - auch<br />

dies Zeichen eines aufkommenden Wohlstandes in der<br />

Bevölkerung.<br />

Politisch hatte sich auch einiges verändert: T1956 wurden<br />

die Sozialdemokraten erstmals stärkste Fraktion im<br />

Gemeinderat. „Bei den Kommunalwahlen am 28. Oktober<br />

wurden nur noch 9 Gemeinderatsmitglieder gewählt.<br />

Es erhielten die Arbeiter und ein Teil der Heimatvertriebenen<br />

(sozialdemokratisch) 4 Sitze, die Handwerker und<br />

freien Berufe _ _ _ 3 Sitze und die Bauern nur noch 2 Sitze.<br />

Hieraus kann man die Zusammensetzung des Dorfes<br />

<strong>Reichelsheim</strong> heute erkennen.<br />

Die Wahl des Bürgermeisters erfolgte durch den Gemeinderat.<br />

Dieser wählte zum neuen Bürgermeister Installationsmeister<br />

Otto Nohl, der seither erster Beigeordneter<br />

war. Der seitherige Bürgermeister Wilhelm<br />

Marloff wurde zum ersten und der Angestellte Willi Nohl<br />

zum 2. Beigeordneten gewählt“ (s. Kirchenbuch,<br />

S. 651).<br />

Daß die neue, die „moderne“ Zeit nicht an <strong>Reichelsheim</strong><br />

vorbeigegangen war, ergibt sich aus folgenden Anmerkungen<br />

und Mitteilungen: „Seit 1955 gibt es im Ort<br />

170


einen Mähdrescher“ - „Die Landwirtschaft wird immer<br />

mehr technisiert“ - „Seit einiger Zeit gibt es Fernsehgeräte<br />

im Ort, 1957 sind schon ca. 50 Geräte im Gebrauch“.<br />

Neue Zeiten verlangen bekanntermaßen oft auch neue<br />

Symbole. Für <strong>Reichelsheim</strong> bedeutete dies einen Wechsel<br />

auf dem Kirchturm : der alte Turm- oder Wetterhahn,<br />

der über Jahrhunderte das Ortsgeschehen überblickt<br />

hatte, wurde durch einen neuen ersetzt- der alte kam ins<br />

Museum nach Friedberg!<br />

Der alte Turm- und Wetterhahn der <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

Kirche, der bis 1958 die Geschicke des Ortes<br />

iiberwachte (Foto: H. Haag)<br />

Hierzu vielleicht eine kleine informative Anmerkung:<br />

ln früheren Zeiten wurde ein Kirchturm- und Wetterhahn,<br />

bevor er befestigt wurde, durch den ganzen Ort getragen.<br />

Allen Menschen, ob jung oder alt, wurde er gezeigt.<br />

Ein solcher Hahn galt nicht nur als „Wächter der<br />

Gemeinde“ (höchster Platz im Ort - damit beste Übersicht<br />

über denselben), nicht nur als „christlicher Bewahrer<br />

vor dem Bösen“ und als „Symbol der Buße“ (im Zusammenhang<br />

mit der Verleugnung des Petrus), seit dem<br />

Mittelalter gilt der Hahn als „Symbol des Predigers, der<br />

in der Finsternis der Sünde wacht“, sich stets gegen den<br />

Wind kehrend und die Sünder der Gemeinde erweckt.<br />

Der Hahn auf dem Dach bzw. auf dem Kirchturm soll<br />

dem Haus oder der Gemeinde allerdings auch Fruchtbarkeit<br />

schenken!<br />

Der neue Hahn wurde von einem einheimischen<br />

Schlossermeister (Karl Heß) hergestellt und am 28. Juni<br />

1958 auf die Turmspitze der Kirche gesetzt.<br />

Vielleicht war es dem alten Wettcrhahn auch ganz<br />

recht, abgelöst zu werden - vielleicht verstand er seine<br />

Welt, „seinen“ Ort <strong>Reichelsheim</strong>, auch gar nicht mehr:<br />

Überall wurde gebaut, ein regelrechter Bau-Boom war<br />

seit Mitte der 50er Jahre festzustellen, erst in der Bingenheimer<br />

und Weckesheimer Straße, dann aber nach Westen<br />

zu, wo ein ganz neues Wohngebiet „lm vorderen<br />

Bahngewann“ entstand! Neue Straßennamen tauchten<br />

auf, wie z. B. „Am Haingraben“, „Am Feuergraben“,<br />

„Sudetenstraße“, „Friedensstraße“, „Am Hans-Geis-<br />

Küppel“. Die Straßen waren beidseitig mit kleinen Einfamilienhäusern<br />

bebaut, errichtet meist von den Vertriebenen<br />

und Flüchtlingen, die hier wirklich ihre neue, ihre<br />

2. Heimat gefunden hatten.<br />

Für die, die nicht in der Lage waren, ein eigenes Häuschen<br />

zu errichten, baute die Gemeinde in den folgenden<br />

Jahren mehrere Mehrfamilienhäuser und trug damit dazu<br />

bei, daß die Wohnverhältnisse langsam aber sicher<br />

menschenwürdiger wurden.<br />

171


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Friedensstraße zu Baubeginn<br />

Kinderspielplatz mit dem neuen Kindergarten im<br />

und nach der Fertigstellung<br />

Hintergrund sowie das Aussehen des Gehindes<br />

Anfang der 60er Jahre (Fotos: W. Nohl) vor der Neugestaltung im Jahre 1963<br />

(Fotos: W. Nohl)<br />

172


l<br />

Das Hauptaugenmerk der politischen Gemeinde galt<br />

aber den Gemeinschaftseinrichtungen: 1956 wurde, wie<br />

bereits berichtet, die Schule gebaut, und 1963 wurde beschlossen,<br />

das im 3. Reich am Zimmerplatz errichtete<br />

Hitler-Jugend-Heim, das zwischenzeitlich gewerblich<br />

genutzt worden war, in einen städtischen Kindergarten<br />

umzubauen. Damit hatte <strong>Reichelsheim</strong> nach vielen Jahren<br />

wieder eine pädagogisch betreute Bleibe für die Kinder<br />

im Vorschulalter.<br />

Im gleichen Jahr wurden auch die Pläne für den Bau<br />

eines modernen Kinderspielplatzes neben dem neuen<br />

Kindergarten und dem bestehenden Sportplatz in die<br />

Wirklichkeit umgesetzt.<br />

1964 wurden für die Feuerwehr in der Neugasse neue<br />

Räumlichkeiten geschaffen.<br />

Ein Jahr später wurde der Wunsch vieler Menschen erfüllt:<br />

Aufdem erweiterten und neu eingefriedeten Friedhof<br />

wurde eine Aussegnungshalle errichtet, die die 1949<br />

provisorisch errichtete Trauerhalle ersetzte.<br />

1966 entstand der neue Sportplatz für den SV 1920<br />

<strong>Reichelsheim</strong> und 1970 das Naherholungsgebiet mit<br />

Teich, Wegeanlage und Kinderspielbereich.<br />

Da Ende der 60er/ Anfang der 70er Jahre im Neubaugebiet<br />

„Am Lehmberg“ mit Ring- und Ulmenstraße,<br />

Birken-, Tannen- und Lindenweg noch mehr Menschen<br />

- nun z. T. „Großstadtflüchtlinge“, die für ihre Kinder<br />

ein „bißchen heile Welt suchten“ - damit begannen,<br />

Eigenheime in <strong>Reichelsheim</strong> zu errichten, sah sich die<br />

Gemeinde gezwungen, auch eine Halle für Vereins- und<br />

Familienfeiern oder kulturelle Veranstaltungen zu errichten:<br />

die Mehrzweckhalle! Dieser 1970 durchgeführte<br />

Bau geschah auch zur großen Freude der Kindergartenund<br />

der Grundschulkinder, durften sie die Halle vormittags<br />

doch auch als eine Art Sport- und Festhalle<br />

benutzen.<br />

\<br />

Mehrzweckhalle kurz n.ach. der Einweihung 1970<br />

(Foto als Ansichtskarte im Archiv der Stadt)<br />

Somit hatte sich <strong>Reichelsheim</strong> in dem Vierteljahrhundert<br />

nach dem schrecklichen Krieg ein neues Aussehen<br />

gegeben. Manch einen älteren Bewohner mag der rasante<br />

Wandel irritiert haben. Denn tatsächlich hatte sich<br />

<strong>Reichelsheim</strong> in jenen 2'/2 Jahrzehnten mehr in Aussehen<br />

und Zusammensetzung der Bevölkerung verändert<br />

als von den Jahren seiner ersten Blüte zur Zeit der Mitte<br />

des 17. Jahrhunderts, als dem „Flecken“ Stadt- und<br />

Marktrechte verliehen worden waren, bis 1945.<br />

In dieser Zeit der „2. Blüte“ gelang es dem eifrigen<br />

Bürgermeister Otto Nohl auch, für <strong>Reichelsheim</strong> jene historischen<br />

Stadtrechte wiederzuerlangen. Ca. 25 Jahre,<br />

nachdem die Reichsregierung des Dritten Reiches 1937<br />

allen kleinen Gemeinden alte, historisch bedeutsame<br />

Stadtrechte aberkannt hatte, bestätigte die Regierung<br />

des Landes Hessen im Gesetz- und Verordnungsblatt:<br />

<strong>Reichelsheim</strong> darf sich wieder, wie seit 1665, „Stadt“<br />

nennen, genau gesagt: „Stadt <strong>Reichelsheim</strong>/Wetterau“.<br />

173


10. Das Ende der Selbständigkeit<br />

- Beginn der „Gesamtstadt <strong>Reichelsheim</strong>/Wetterau“<br />

„Am 1. Februar 1972 wurde die Zusammenlegung der<br />

Orte Blofeld, Beienheim, Heuchelheim, Dorn-Assenheim<br />

und <strong>Reichelsheim</strong> wirksam. Am 31. 12. 1971 waren<br />

die Verträge mit <strong>Reichelsheim</strong> unterzeichnet. Jetzt liegt<br />

die Genehmigung des Landes Hessen vor.<br />

Seit Tagen steht immer wieder ein Landwirt mit<br />

Schlepper und Anhänger vor dem Rathaus und lädt<br />

Blechschrank und Möbel nebst Akten aus den eingemeindeten<br />

Orten hier ab. Die ganze Verwaltung wird zusammengefaßt“<br />

(s. Kirchenbuch, S. 691).<br />

Weckesheim kam im Laufe des Jahres per Gesetzesbeschluß<br />

hinzu. Damit bildeten nunmehr 6 ehemals selbständige<br />

Ortschaften eine gemeinsame politische Gemeinde!<br />

Als Bezeichnung wurde schließlich einvernehmlich<br />

der Name „Stadt <strong>Reichelsheim</strong>/Wetterau“ gewählt,<br />

obwohl zwischenzeitlich auch „neutralere“ Namen<br />

ins Gespräch gebracht worden waren.<br />

Der Beginn war nicht leicht. Sechs verschiedene Gemeinden,<br />

sechs verschiedene „kommunale Individuen“<br />

mit völlig verschiedenem historischen Hintergrund, mit<br />

unterschiedlichen konfessionellen und politischen<br />

Grundeinstellungen wurden zusammengefügt und sollten<br />

nun zusammenfinden!<br />

Altes Konkurrenzdenken, vor allem aber Vorurteile,<br />

die z. T. seit Jahrhunderten bestanden, aber zumindest<br />

seit Jahrhunderten sorgsam in dem Bestreben nach Abgrenzung<br />

„gehegt und gepflegt“ worden waren, sie sollten<br />

nun, wenn möglich äußerst schnell und „vernünftig“,<br />

überwunden werden. Es sollte gar erstrebt werden, daß<br />

ein „Wir-Gefühl`“ von Beienheim bis nach Blofeld, von<br />

Dorn-Assenheim bis nach Heuchelheim, um einmal die<br />

Eckpunkte der Gesamtstadt zu nennen, entsteht.<br />

Und durch das Bestreben vieler, die ehrenamtlich in<br />

den politischen und/oder kirchlichen Gremien, in Gesang-<br />

und/oder Sportvereinen tätig waren und sind, ist<br />

das Ziel, das damals, 1972, von Optimisten gezeichnet<br />

wurde, nahezu erreicht:<br />

Es gibt 20 Jahre nach der Zusammenlegung der selbständigen<br />

Gemeinden Beienheim, Blofeld, Dorn-Assenheim,<br />

Heuchelheim, <strong>Reichelsheim</strong> und Weckesheim die<br />

Akzeptanz der Zusammengehörigkeit und zugleich den<br />

Willen, den jeweils eigenen Dorfcharakter zu erhalten!<br />

So ist es vielleicht symbolhaft für die gegenwärtige Situation<br />

in der Gesamtstadt „Stadt <strong>Reichelsheim</strong>/W.“,<br />

daß <strong>1992</strong><br />

1. die gemeinsame Grundschule eingeweiht wird, so daß<br />

in Zukunft alle Kinder im Grundschulalter aus allen 6<br />

Ortsteilen in demselben Gebäude unterrichtet werden,daß<br />

2. die Programme zur Dorferneuerung in verschiedenen<br />

Ortsteilen anlaufen und daß<br />

3. in diesem Jahr der erste exakte Stadtplan der „Gesamtstadt<br />

<strong>Reichelsheim</strong>“ an alle Haushalte verteilt<br />

werden konnte.<br />

Die Stadt <strong>Reichelsheim</strong>/Wetterau, der Zusammenschluß<br />

von 6 Gemeinden mit dem Verwaltungszentrum<br />

<strong>Reichelsheim</strong>, ist für die Zukunft gerüstet- als Lebens-,<br />

Wohn- und Arbeitsumfeld.<br />

Möge es so bleiben!<br />

174


l<br />

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'<br />

II. Wichtiges und Interessantes<br />

1. Aus dem Alltagsleben der <strong>Reichelsheim</strong>er - a) Der Hausbau<br />

Wenn in <strong>Reichelsheim</strong> vor 100 Jahren oder früher ein<br />

Haus gebaut werden sollte, so war dies aus Kostengründen<br />

meist ein Fachwerkhaus.<br />

Nachdem das Erdreich für den Keller ausgeschachtet<br />

worden war, wurde ein Basaltstein-Mauerwerk bis ungefährt<br />

50 bis 120 cm über Straßenhöhe errichtet. Die benötigten<br />

Basaltsteine wurden aus dem im Gemeindewald<br />

liegenden Steinbruch, zeitweise auch vom Lochbcrg<br />

(= Luh- oder Lohberg), als dieser nicht mehr als Weinberg<br />

genutzt wurde, gebrochen und dort schon in brauchbare<br />

Brocken zugeschlagen, was eine äußerst zeit- und<br />

vor allem kraftraubende Arbeit war. Der Kellerboden<br />

des Hauses selbst wurde nicht versiegelt. Die dadurch<br />

meist gleichmäßige Temperatur der Kellerräume und die<br />

stets vorhandene natürliche Feuchtigkeit war günstig für<br />

die Lagerung der rohen oder eingemachten Feld- und<br />

Gartenfrüchte. War das Basaltmauerwerk hochgezogen,<br />

begann der eigentliche Hausbau. Oft hatten die Bauherren<br />

sich die notwendigen Hölzer von alten Anwesen „auf<br />

Abriß ersteigert“. D. h.: wollte irgendwer irgendwo sich<br />

ein neues Haus bauen. versteigerte es das „Haus auf Abriß“.<br />

Der Ersteigerer konnte sich das Holz und manchmal<br />

sogar einen Teil der Basaltsteine des Kelle rbereiehes<br />

von der Abbruchstcllc holen.<br />

(Das alte Pfarrhaus wurde im Jahre 1622 durch Vermittlung<br />

der Enkel des ersten evangelischen Pfarrers von<br />

<strong>Reichelsheim</strong> aus einer ersteigerten Abrißmasse eines<br />

Hauses in „Hunstadt im Kirchspiel Gríiwenwicsbacli“ erstellt.<br />

Als dieses l9l2 nicht mehr nutzbar war, wurde es<br />

zum Preise von 500 Mark an den <strong>Reichelsheim</strong>er Schlossermeister<br />

Adolf Nohl „auf Abriß verkauft“. Dieser<br />

verwendete die noch brauclıbaren Hölzer für den west-<br />

.S`chıtı/fıusflug zmn .S`teı'nl›ruch<br />

Kessel „Am Ast“ in der<br />

Nähe des Bingen/ıeiı~ner<br />

Kreuzes, wo <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

= Bauwiilige ihre Basahsreine<br />

brachen (A ufnahme aus<br />

dem Jahre 1931 / Foro<br />

im Besitz der Familie Rohde)<br />

A175


lichen Anbau an das heutige Haus Schauermann an der<br />

Ecke Bingenheimer Straße / Bad Nauheimer Straße. -<br />

Auch die alte Pfarrscheune, die lange im Pfarranwesen<br />

gestanden hatte, war auf Abriß verkauft worden und<br />

steht heute am Römerberg und ist im Besitz der Familie<br />

Rohde.)<br />

de meist direkt vor der Baustelle auf der Straße durchgeführt.<br />

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Zimmerleute bei der Arbeit im Ortsmittelpunkt<br />

Die alte Pfarrscheıme aufdem Römerberg<br />

(Foro G. Wagner)<br />

Die fehlenden oder durch neue zu ersetzenden Balken<br />

mußten von Zimmerleuten auf dem „Zimmerplatz“ zugeschlagen<br />

werden (Zimmerplatz nennt sich noch heute<br />

der Bereich östlich der Brücke über die Horloff beim<br />

Kinderspielplatz bzw. Bauhof der Stadt). Die Stämme<br />

für die Balken hatten sich die bauwilligen Ortsbürger zuvor<br />

mit Genehmigung des Bürgermeisters (früher der<br />

„l\/Iarkmeisters“ oder des „Markgerichtes“ in Bingenheim)<br />

im Gemeindewald bzw. Markwald geschlagen.<br />

Der Feinzuschnitt der Balken auf Paßgenauigkeit wur-<br />

Die Errichtung der „Fache“ erforderte große handwerkliche<br />

Geschicklichkeit und gute Grundkenntnisse<br />

der Statik eines Gebäudes. Wegen der Stabilität, aber<br />

auch, um möglichst viel Wohnraum zu schaffen, wurden<br />

„Verkragungen“ vor allem zur Straßenseite hin vorgenommen,<br />

d. h. das obere Stockwerk überragte das Erdgeschoß<br />

und erhielt dadurch einen größeren Grundriß.<br />

Die „\/erkragungen“, also die überragenden Balken,<br />

schafften eine größere Verspannung innerhalb des gesamten<br />

Holzwerkes.<br />

Seit Beginn des letztes Jahrhunderts wurden diese<br />

Überhänge immer geringer; sie waren auch immer weniger<br />

notwendig, weil die Stadtmauer ihre Bedeutung verloren<br />

hatte und deswegen nicht mehr jeder Quadrat-<br />

176


Zentimeter Boden innerhalb der Stadt bestmöglich ausgenutzt<br />

werden mußte - unter der Berücksichtigung, daß<br />

die Straßen und Gassen bis zu einer Höhe von gut 3 Metern<br />

mindestens „Fuhrwerksbreite“ haben mußten!<br />

Horloffaue oder am Ortenberggraben ausreichend vorhanden<br />

war, gedeckt. Doch nach dem großen Brand des<br />

Jahres 1665, wenige Monate nach Verleihung der Stadtrechte,<br />

wurde vom damaligen nassauischen Graf zuerst<br />

die Abdeckung der Wohnhäuser mit Stroh, später auch<br />

die Abdeckung der Wirtschaftsgebäude mit diesem Material<br />

bei Strafe untersagt. Schiefer oder „gebrannte Ziegel“<br />

mußten seither genommen werden ; in <strong>Reichelsheim</strong><br />

wurde lange der rotgebrannte „Biberschwanz“ bevorzugt<br />

Nach der Dachdeekung wurden die Gefaehe gefüllt:<br />

Stecken aus Weiden oder besser aus zäher Hainbuche<br />

wurden „verschränkt eingeklemmt“.<br />

Wandaufbau „Standerbau“ nennt man eine<br />

Fachwerkhaus -Konstruktion, deren senkrecht<br />

stehende Hölzer (Stander) durch alle Geschosse<br />

bis zur Decke hindurch reichen<br />

(entn.: „Die Wetterau“, S. 106)<br />

„Stockwerkbau“ wird die Fach werkkonstruktion<br />

genannt, bei der jedes Stockwerk für sich<br />

gezimmert, als selbständig ist<br />

(entn. : „Die Wetterau“, S. 106)<br />

Hatte der wackere <strong>Reichelsheim</strong>er Ortsbürger bzw.<br />

hatten die Zimmerleute das Gebälk gerichtet, so galt es,<br />

das Dach zu decken. Ursprünglich wurden die Häuser in<br />

<strong>Reichelsheim</strong> mit Stroh oder Riedgras, das in der<br />

<strong>Reichelsheim</strong>er Bauern bei Abgabe „wichtiger<br />

Kommentare“ bedeutender Ereignisse<br />

(= Zuschauer bei einer Hochzeit<br />

Anfang der 50er Jahre /<br />

Foto im Besitz der Familie Rohde)<br />

177


Nach dieser mühsamen Arbeit, die für die spätere Stabilität<br />

der Wände wichtig war, wurde alles mit einem<br />

Lehm-Stroh-Brei fest und fugenlos verschmiert. Den<br />

Lehm hatte sich der Bauherr mit Genehmigung der Bürgermeisterei<br />

aus der gemeindeeigenen „Lehmkaute“ geholt.<br />

Diese Lehmkaute befand sich an der ehemaligen<br />

Straße nach I)orn-Assenheim, etwa l5() Meter südwestlich<br />

vom Ortsausgang entfernt.<br />

Der mit Stroh vermengte Lehmbrei klebte schnell fest.<br />

Wenn er ausgetroeknet war, stellte er eine gute Isolierung<br />

gegen Hitze und Kälte dar.<br />

Wenn Schreiner und Glaser auch ihr Werk getan hatten,<br />

also Fenster und Türen gesetzt waren, konnte das<br />

Haus bald bezogen werden. Lag das Haus an der<br />

„Hauptstraße“, so befand sich der Treppenaufgang mit<br />

seinen drei bis acht Sandsteinstufen, die der Steinmetz<br />

geliefert und verlegt hatte, auch stets zu dieser hin, es sei<br />

denn, das Haus war Teil einer Hofreite mit einer großen<br />

Einfahrt zum Hofe hin. Dann befand sich der Eingang -<br />

wie sonst meist nur in den schmalen Gassen, wo die Fuhrwerke<br />

nicht behindert werden durften - seitlich des Hauses<br />

iın Hof (,„Hoftore“ gab es früher in der Regel nicht;<br />

somit war auch dann der Hauseingang zugänglich, wenn<br />

der Hauseingang seitlich des Hauses angebracht war).<br />

Mit dem Bau der „modernen“ Ziegelei an der Straße<br />

nach Weckesheim gegen Ende des letzten Jahrhunderts,<br />

aber auch schon zuvor, als westlich der heutigen Bahnstraße<br />

Lehmziegel hergestellt wurden, änderte sich der<br />

Hausbau in <strong>Reichelsheim</strong> ganz gewaltig: Nun brauchten<br />

nicht mehr die harten Basaltsteine im Steinbruch gcschlagen<br />

werden. Und manch ein <strong>Reichelsheim</strong>er begann<br />

zu überlegen, ob er nicht das ganze Haus „hochmauert“<br />

und die Zimmerleute nur noch um Errichtung<br />

des Dachstuhles bittet. Weil dies tatsächlich immer mehr<br />

Ortsbürger taten oder zumindest die Fache ausmauer-<br />

I<br />

ten, wurde die erwähnte Lehm kautc auch kaum noch genutzt:<br />

deswegen wurde sie im Interesse der wachsenden<br />

Bevölkerung im Rahmen der „Feld-“ bzw. Flurbereinigung<br />

1897/98 mit Mutterboden verfüllt und damit in Akkerland<br />

umgewandelt.<br />

178


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Beispiele von Hauseingcingen<br />

in <strong>Reichelsheim</strong><br />

(Foto G. Wagner)<br />

Restauriertes Fachwerkhaus<br />

in Reichelsheirn<br />

(Florstädter Straße 5 / Foto G. Wagner)


) Obst - ein wichtiger Vitaminspender für jung und alt<br />

Wer sich noch einmal die alte Karte aus dem Jahre<br />

l76l anschaut (s. Kapitel „Das Mittelalter“), die <strong>Reichelsheim</strong><br />

mit seiner von einer Landwehr umgrenzten<br />

Gemarkung zeigt, der sieht, daß dieser Ort nach Norden,<br />

Westen und Süden von großen Streuobstwiesen umgrenzt<br />

war. Sie bestanden, mit Ausnahme des nördlichen<br />

Bereiches (Bingenheimer Straße/Bahngebiet) bis in unser<br />

Jahrhundert hinein. lm Kirehenbuch wird indirekt<br />

über den Obstbaumbestand des Jahres 1880 im Zusammenhang<br />

mit der Wiedergabe des Ergebnisses der „Constatierung<br />

des Frostschadens“ im Winter zuvor berichtet:<br />

Dort heißt es:<br />

„Apfelbäume: l 128 erfroren, 1607 noch vorhanden -<br />

Birnenbäume: 349 erfroren, l4l5 nicht -<br />

Zwetschen: 3045 erfroren, 2487 nicht -<br />

Nußbäume: 9 erfroren, 2 nicht -<br />

Von Aprikosen und Pfirsiclıbäumen: erfroren 18, erhalten<br />

3.“<br />

Also waren ca. 45% aller Bäume in jenem Winter erfroren,<br />

wozu der Pfarrer allerdings den Hinweis machte,<br />

daß der wirkliche Schaden noch nicht abgesehen werden<br />

könne, da in den folgenden Monaten gewiß noch weitere<br />

Bäume Schäden zeigen würden.<br />

Durch diese Zahlen wissen wir heute-, daß es vor dem<br />

harten Frost des Winters l8'~)7/98 über ltltlótl Obstbäume<br />

in und um <strong>Reichelsheim</strong> gab! Mehr als 12 Bäume sorgten<br />

im Durchschnitt pro Einwohner für eine wichtige Lebensgrundlage.<br />

(Nicht umsonst haben die Pfarrer für<br />

jedes Jahr das Ergebnis der Obsternte vermcrktl)<br />

Albert Nohl, im Jahre 1893 in <strong>Reichelsheim</strong> geboren,<br />

hat als pensionierter Lehrer sich die Mühe gemacht, aufzuschreiben,<br />

was er über das Obst in und um <strong>Reichelsheim</strong><br />

und die Obstverwertung aus der Zeit um die Jahrhundertwende<br />

noch wußte. Hier sein (leieht gekürzter)<br />

Bericht:<br />

„Von den Obstbäumen:<br />

Rings um den Ort <strong>Reichelsheim</strong> waren Obstbäume in<br />

sehr großer Zahl zu finden. An Steinobst gab es hauptsächhch:<br />

Pflaumen, hier Krichen genannt, die eine runde, fast<br />

kugelige Form hatten. Sie kamen anfangs August mit ihrer<br />

Reife und waren nur zum Frischessen geeignet. Man<br />

konnte sie nicht lange aufheben.<br />

Eine sehr wässrige Frucht, die schnell verdarb, waren<br />

die tü rkischen Krichen, die man in manchen Haus-<br />

<strong>Reichelsheim</strong>er Frauen beim Zwetschenkernen,<br />

um 1937 (Foto im Besitz der Familie Winter)<br />

l 80


gärten pflanzte. Sie wurde auch türkische Kirsche genannt<br />

In reichem Maße war die Zwetsche vorhanden. Die<br />

Zahl der Bäume war außerordentlich groß. Die Frucht<br />

eignete sich vorzüglich zu Kuchen. Um die Reifezeit<br />

wurde in allen Familien der schmackhafte Zwetschenkuchen<br />

gebacken.<br />

Der weitaus größte Teil der Ernte wanderte in die Kessel<br />

der Küchen, in denen oft tagelang Zwetsch enh<br />

oi n g k gekocht wurde. Aus einem Kessel schöpfte man<br />

dann 20 und mehr Steintöpfe voll Latwerg. Bekannte<br />

oder verwandte Familien trafen sich um diese Zeit oft<br />

mehrere Abende im trauten Kreise zum Zwetschenkernen.<br />

Nach Beendigung dieser Arbeit gab es dann oft noch<br />

Kaffee und Kuchen zum Abschied.<br />

Viel Arbeit erforderte schließlich das Rühren im Kessel<br />

beim Kochen des Latwerges, und manche Nacht verbrachte<br />

die Familie, sich mehrfach ablösend, beim Rühren<br />

am Hoingk-Kessel. Wenn man da nicht bei der<br />

Hand war und das Rühren versäumte, brannte der ,Sud“,<br />

so nannte man die kochende Masse, an. Die zeigte sich<br />

einmal, daß der Zwetschenbrei auf dem Boden des Kessels<br />

fest anhing und daß sich ein Brandgeruch im Raum<br />

verbreitete. Stolz füllte dann am Ende der Kochzeit die<br />

Bäuerin die Steintöpfe mit dem sämigen Mus.<br />

Die Zwetsch e n ke rn e wurden manchmal unter dem<br />

Kessel im Feuerraum verbrannt, denn sie gaben ein gutes<br />

Heizmaterial ab. Oft wurden sie auch zu allerhand<br />

Scherzzwecken verwandt, indem sich die Jugend erlaubte,<br />

die Kerne Bekannten vor das Hoftor zu schütten.<br />

(Zusätzlicher Hinweis: Es gab aber auch den Brauch, ein<br />

„Pädche“ mit den Kernen zwischen die Häuser zweier -<br />

noch „geheim“ - verliebter junger Leute zu legen, was<br />

diese meist besonders „freute“.)<br />

Kirschen gediehen in und um <strong>Reichelsheim</strong> so gut<br />

wie gar nicht, weil der Lehmboden zu fett und zu wenig<br />

steinreich war. An Hängen, die nach Westen gerichtet<br />

waren, traf man auch keine Kirschbäume und auch nicht<br />

im ebenen Gelände der Wetterau. Hingegen auf steinigen<br />

Hügeln (Assenheim) oder auf felsigen, nach Osten<br />

gerichteten Abhängen gedieh die Kirsche bestens (Rodenbach,<br />

Rosbach und Ockstadt). Aus diesen Orten kamen<br />

um die Kirschenzeit Händler und boten ihre Kirschen<br />

an.<br />

Selten traf man um die Jahrhundertwende in den Gärten<br />

Mirabellen oder Reineklauden-Bäume an.<br />

Letztere nannte die Mundart „Rennekloe“.<br />

Kernobst gab es um 1900 reichlich. An Apfelsorte<br />

n waren fast nur Hausmannssorten, die schon vor<br />

Jahrhunderten gezüchtet worden waren, vorhanden.<br />

Welche Apfelsorten kannte man um 1900 im Heimatort<br />

<strong>Reichelsheim</strong>:<br />

1. Die einzige frühe Apfelsorte, die ich kannte, waren<br />

der „Haferapfel“. Wie schon sein Name sagt, fiel die Reife<br />

in die Zeit der Haferernte.<br />

2. Späte Apfelsorten waren a) der „Karthäuser“, ein<br />

Apfel weiß bis gelb in der Farbe und ganz vorzüglich im<br />

Geschmack. Nur war er verhältnismäßig klein. b) War es<br />

der rote „Madapfel“, der sich nicht so lange aufbewahren<br />

ließ und bald mehlig wurde. c) Ihm glich an Größe und<br />

Dicke der „Weißapfel“. Beide Sorten verwendete man<br />

im Herbst zur Apfelweinbereitung. d) Wenig vertreten<br />

war der „Rheinische Bohnapfel“, der sich weniger durch<br />

seinen Geschmack als durch seine sehr lange Haltbarkeit<br />

auszeichnete.<br />

Neue Sorten waren mir nur zwei bekannt: a) die Goldparmäne.<br />

Von diesen gab es zwei Arten, eine Sommerund<br />

eine Wintergoldparmäne. Letztere war viel besser<br />

im Geschmack als die Sommerparmäne. b) In die Rubrik<br />

181


der späten Sorten gehörte noch der „Gelbe Mecklenburger“,<br />

der eigentlich „Jakob Lebel“ hieß.<br />

Nun komme ich zu den B i rn e n :Auch hier gab es fast<br />

nur Jahrhunderte alte Hausmannssorten. Die Bäume<br />

dieser Obstart waren mächtig hoch und breit.<br />

An Frühsorten kannte man die zarte „Kornbirne“, die<br />

sehr, sehr süße „Zuckerbirne“, die saftige „Scheibelsbirne“<br />

und die gute „Bestebirne“. Ein Baum dieser Sorte<br />

stand auf dem Spielplatz um die Kirche. Korn- und Zukkerbirne<br />

hatten ihren Standort am Westende des Ortes.<br />

Die süßen und saftigen Früchte dieser Obstarten wurden<br />

von der Dorfjugend immer begehrt.<br />

Eine mittelfrühe Birne war die „Graubirne“. Sie<br />

wurde in der Hauptsache zu Latwerge, in Oberhessen<br />

„Hoingk“ genannt, verwandt. Bei der Ernte dieser Birnen<br />

wurde ein Teil des Ertrages gut gewaschen, dann ge-<br />

kocht und warm gekeltert. Den Saft, den es beim Keltern<br />

gab, brachte man in den gut gereinigten Kupfer- oder<br />

Emaillekessel. Den Ernterest schälten die Frauen und<br />

schnitten die vom Kernhaus gesäuberten Teile in mehrere<br />

Stücke. Die Birnstücke leerte man in den Kessel zu<br />

dem Saft. Auch jetzt wurde wie bei den Zwetschen die<br />

Masse zum Kochen gebracht. Auch der Birnsud mußte<br />

mindestens 310-12 Stunden fleißig gerührt werden, damit<br />

es nicht anbrannte und im Kessel anhing. Dieser Birnhoingk<br />

war fast von schwarzer Farbe und schmeckte<br />

sehr sehr süß und wurde besonders von den Kindern<br />

einer Familie sehr geschätzt.<br />

Die in der Wetterau heimischen Winterbirnen wurden<br />

auch zu Latwerg gekocht, genau in der Art, wie man<br />

auch die Graubirnen verwendete. Nur eine Winterbirne,<br />

die „Apothekerbirne“, war auch gut zum Essen.“<br />

182


2. Lehrer Keller berichtet iıı seiner „Heimatchronik“ aus dem Jahre 1935<br />

a) Von den <strong>Reichelsheim</strong>er Vereinen -<br />

Den „Organisatoren“ des geselligen und kulturellen<br />

Lebens im früheren <strong>Reichelsheim</strong><br />

Vereine führen Menschen zusammen, sie organisieren<br />

das gesellige und kulturelle Leben in einer Gemeinde.<br />

Neben den bestehenden Familien- und Freundschaftskontakten<br />

zwischen den Häusern einer Gemeinde knüpfen<br />

sie die „Bande“ zwischen den Menschen in einer<br />

Stadt oder einem Dorf. Hier lernt man sich, auf der Basis<br />

einer gleichartigen Anschauung oder einer gleichen Vorliebe<br />

(also Hobbys), kennen und achten, unabhängig von<br />

Beruf und sozialer Stellung.<br />

In <strong>Reichelsheim</strong> gab es in früherer Zeit keine Vereine<br />

in unserem Sinne. Die Familienbande waren allerdings<br />

über den ganzen Ort so eng, daß zusätzliche An- und<br />

Verknüpfungspunkte nicht notwendig erschienen. Außerdem<br />

war die Kirche noch derart ein Monopol in ihrer<br />

Stellung, daß wohl auch keiner in einem Städtchen wie<br />

<strong>Reichelsheim</strong> auf die Idee kam, „Vereine“ zu bilden.<br />

Doch nach den „Befreiungskriegen“ gegen das napoleonische<br />

Frankreich, nach dem allgemeinen Versuch der<br />

Menschen in Stadt und Land, Mitsprache in allen gesellschaftlichen<br />

Fragen zu erlangen, da entstanden überall erste<br />

Vereine. Nachdem I832 in allen Ländern des Deutschen<br />

Bundes die politischen Vereine verboten worden waren<br />

und die adligen Herrscher sich stets bemühten, die<br />

nach dem Sieg über Napoleon gewährten Freiheiten wieder<br />

aufzuheben, schlossen sich die Menschen in Vereinen<br />

zusammen. „Nach dem Bundesverbot aller politischen<br />

Vereine vom Juli 1832 nutzen national und demokratisch<br />

Gesinnte die allerorten entstehenden Gesangvereine, um<br />

politische Kontakte in unverdächtigem Rahmen fortzuführen“<br />

(s. „Chronik Hessens“, S. 230).<br />

In dieser Zeit, nämlich 1844, entstand auch der erste<br />

<strong>Reichelsheim</strong>er Verein, der Gesangverein „Liederkranz“.<br />

Es war der national gesinnte Pfarrer Frankenfeld, der ihn<br />

begründete, ein Mann, der sich - geprägt von nationalem<br />

Denken und Fühlen seiner Zeit - auch als erster um die<br />

Aufarbeitung der Geschichte von <strong>Reichelsheim</strong> bemühte.<br />

Er war zwar kein Demokrat im heutigen Sinne, aber doch<br />

ein Mann, der Änderungen im politisch-gesellschaftlichen<br />

System der Länder des Deutschen Bundes (wie der Staatenbund<br />

Deutschland damals offiziell hieß) herbeisehnte.<br />

lm Ort ergriff er, der Pfarrer, die Initiative - und behielt somit<br />

den Überblick über „seine Schäfchen“.<br />

Lehrer Heinrich Keller hat in seiner 1935 fertiggestellten<br />

Heimatchronik über die Vereine von <strong>Reichelsheim</strong> berichtet.<br />

Sie ist zwar nicht vollständig, denn er geht zum Beispiel<br />

nicht auf den „Reit- und Fahrverein <strong>Reichelsheim</strong> und<br />

Umgebung“ ein. Dennoch sei seine „Vereins-Chronik“<br />

hier auch abgedruckt:<br />

„ 1. Der Gesangverein , Liederkranz '.<br />

Der älteste der <strong>Reichelsheim</strong>er Vereine ist der Gesangverein<br />

,Liederkranz`. Er ist 1935 90 Jahre alt geworden.<br />

Am 21. Februar 1844 gründete Pfarrer Frankenfeld den<br />

Verein. Der erste Dirigent war Lehrer Huth, der 1844 mit<br />

seiner eigentlichen Tätigkeit begann. Im Jahr 1846 erhielt<br />

der Verein seine erste Fahne, die in Wiesbaden für 160<br />

Gulden hergestellt wurde. Der Vereinsdiener Joh. Klotz<br />

holte sie zu Fuß in Frankfurt a. M. ab, wohin sie mit der Eisenbahn<br />

befördert worden war.<br />

Der ,Liederkranz° kann auf eine erfolgreiche Tätigkeit<br />

zurückblicken, sei es, daß er bei festlichen Anlässen den<br />

Gottesdienst durch Liedvorträge verschönern half oder<br />

daß er bei sonstigen Veranstaltungen mitwirkte. Bei Gesangswettstreiten<br />

und Wettsingen, die er besuchte, war<br />

ihm manch schöner Erfolg beschieden. Im kulturellen Leben<br />

der Gemeinde hat er zu allen Zeiten eine bedeutsame<br />

Rolle gespielt. Ein Markstein in seiner Geschichte bedeu-<br />

183


tet sein 85stes Geburtstagsfest, das er im Jahr 1930 feierte.<br />

Leider wurde der ,Liederkranz“ von einem schweren<br />

Unheil getroffen, als er am 13. Mai 1934 bei der Heimkehr<br />

vom Wertungssingen in Butzbach zwei seiner besten<br />

Sänger durch einen Sturz vom Motorrad für immer verlor.<br />

Der 18 Jahre alte Sohn des Vereinswirts Walter Sprengel<br />

und der 26 Jahre alte 2te Baßsänger Karl Löffler, die<br />

tödlich verunglückten, bedeuten für den Verein einen<br />

unersetzlichen Verlust.<br />

Das Motto des ,Liederkranzes“, das auf der alten Fahne<br />

von 1846 und auf der neuen von 1930 eingestiekt ist,<br />

lautet:<br />

,Gesang und Liebe im schönen Verein,<br />

erhalten dem Leben Jugendscheinl“<br />

2. ,Der Frauen- und Mädchenverein'<br />

Haben wir als ersten Verein den ältesten genannt,<br />

so wollen wir an 2ter Stelle gleich den jüngsten erwähnen,<br />

der ebenfalls der edlen Sangeskunst huldigt: der<br />

,Frauen- und Mädchenchor“. Wie manchmal hat er unter<br />

der glänzenden Stabführung von Frau Pfarrer Rühl<br />

durch Liedvorträge die Gottesdienste verschönern helfen<br />

und die Herzen der Zuhörer warm und weich gemacht.<br />

Leider ist durch die Versetzung von Pfarrer Rühl<br />

nach Friedberg diese kleine Sängervereinigung schlafen<br />

gegangen. Es wäre aber sehr zu wünschen, daß sie bald<br />

wieder ins Leben tritt.<br />

8<br />

'-'/.<br />

~_„-_<br />

Reiterverein <strong>Reichelsheim</strong><br />

- „Reit- und Fahrverein“<br />

/Aufnahme aus dem Sommer<br />

1922 anläßlich des Turnerfestes<br />

184


3. , Der Musikvereirf<br />

Auch dem 1892 von Louis Schiel gegründeten Musikverein,<br />

dessen Kapelle gleichzeitig die Musikkapelle der<br />

Freiwilligen Feuerwehr ist, müssen wir Beachtung schenken,<br />

hat er doch auch wie der ,Liederkranz“ bei freudvollen<br />

oder ernsten Veranstaltungen in der Gemeinde stets<br />

mitgewirkt. Seine Leitung liegt schon lange Jahre in den<br />

Händen des 1. Vorsitzenden Theodor Fleischhauer und<br />

des bewährten Kapellmeisters Heinrich Ulrich.<br />

4. ,Der Leseverein“<br />

ln <strong>Reichelsheim</strong> besteht auch ein Leseverein, der über<br />

eine ansehnliche Volksbücherei verfügt und somit sorgt<br />

für die Volks- und Weiterbildung der Gemeindeglieder.<br />

5. ,Der Turnverein ›Germania


Vorschuss- u. Creditverein<br />

e. G. m. b. H.<br />

<strong>Reichelsheim</strong><br />

(Wette rau)<br />

empfiehlt sich als<br />

Sparkasse<br />

Bankanstalt<br />

wäre vor allem das obige ganz bedeutende Finanzinstitut<br />

unseres Städtchens zu nennen. Er wurde 1865 gegründet<br />

und zählt heute (1934) 405 Mitglieder und verfügt über<br />

ein Garantiekapital von 607500 Mark. Er wird vorzüglich<br />

geleitet, besitzt ein eigenes Bankgebäude und genießt<br />

das Vertrauen der Bevölkerung <strong>Reichelsheim</strong>s und<br />

der umliegenden Gemeinden.<br />

9. ,Der Konsum verein“<br />

Nicht ganz so große Ausdehnung wie die Creditgenossenschaft<br />

besitzt der 1899 entstandene ,Konsumverein“,<br />

der den Bezug und den Absatz aller möglichen Handelsartikel<br />

und landwirtschaftlichen Erzeugnisse Sorge trägt.<br />

ln Adolf Coburger I. besitzt dieser Verein schon 34 Jahre<br />

einen treuen Sachwalter und Direktor.<br />

I0. ,Die Molkereigenossenschaft`<br />

Die 1892 mit 52 Mitgliedern gegründete Molkereigenossenschaft<br />

hat in den letzten Jahren ungeheuren Auf-<br />

für <strong>Reichelsheim</strong> und Umgegend<br />

Reiciıelsheim<br />

M„;k,_.„,<br />

420 Mitglieder.<br />

Gesamtgarantiekapital: RM. 700 000.-<br />

Anzeige des „ Vorschuß- und Creditvereines“<br />

aus dem Jahre 1930<br />

Molkerei <strong>Reichelsheim</strong> (erbaut 1892, als Molkerei<br />

den Betrieb J 962 stillgelegt/ Aufnahme kurz vor der<br />

Jahrhundertwende)<br />

186


'<br />

_<br />

schwung genommen. Durch das neue Milchwirtschaftsgesetz<br />

vom J. 1934 wurden der Molkerei einige neue Gemeinden<br />

zugeteilt, so daß die Genossenschaft heute über<br />

500 Mitglieder hat.<br />

I I _<br />

,Der Vogelsberger Höhenclub ( V. H. C. )'<br />

Auch einen Wanderverein besitzt <strong>Reichelsheim</strong>, den<br />

,VHC“. Er besteht schon lange Jahre und nennt als Gründer<br />

den allseits beliebten, langjährigen Postmeister<br />

Theodor Zinser, der Inhaber des ,Goldenen Abzeichens“<br />

des VHC (= nach 50jähriger Mitgliedschaft) ist. Nunmehr<br />

wird diese Vereinigung <strong>Reichelsheim</strong>er Wanderfreunde<br />

von dessen Sohn Karl Zinser geleitet. Ein Teil<br />

der VHC-Brüder trifft sich jeden Samstag Abend im<br />

Stammlokal ,Gasthof zur Post“. Der Stammtisch, der seit<br />

einigen Jahren den vielsagenden Namen ,Messerspitze“<br />

führt, hatte einstens größere Bedeutung als heute. Am<br />

Stammtisch in der ,Post“ trafen sich da am Mittwoch<br />

Nachmittag die ,Schullehrer“, die ,Pfarrer`, die ,Doktor“<br />

und der ,Apotheker beim Kegel-, Würfel- oder Skatspiel<br />

und politisierten und kritisierten, rissen „faule“ Witze<br />

und schmokten die langen Pfeifen in der ,Herrenstub“,<br />

während der bekannte Postwirt Wilhelm Sprengel einen<br />

vortrefflich schmeckenden Äppelwoi kredenzte.<br />

Heute ist davon nur ein kümmerlicher Rest übriggeblieben.<br />

Neue Zeiten, neues Denkenl Wenn einmal die<br />

paar Alten gegangen sein werden, wird auch dieses Stück<br />

<strong>Reichelsheim</strong>er Ortsgeschichte zu Ende sein, und es wird<br />

heißen: ,Es war einmal!` Mit seinem Verschwinden wird<br />

das Denken, Fühlen und Wollen eines kleinbürgerliehen<br />

Lebenskreises, wie ihn in vergangenen Zeiten jede deutsche<br />

Kleinstadt besessen, abgeschlossen sein.“<br />

So berichtete, wie gesagt, 1935 der ehemalige <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

Lehrer Keller für die Nachwelt- also für uns!<br />

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2. b) <strong>Reichelsheim</strong> und seine Schulen - eine wechselvolle Geschichte<br />

In früherer Zeit, als es beschwerlich und zeitraubend<br />

war, von einem Ort zum nächsten zu gelangen, hatte jedes<br />

Dorf seine eigene Schule. Und gab es einen weltoffenen<br />

Landesherren und / oder einen aktiven und einflußreichen<br />

Pfarrer (Schulaufsicht war bis Ende des 19. Jahrhunderts<br />

Angelegenheit der Kirchen), so gab es auch in recht kleinen<br />

„Flecken“ bekannte Schulen, die nicht nur das große<br />

oder kleine ABC vermitteln wollten und konnten, sondern<br />

die zur wissenschaftlichen Bildung befähigten.<br />

Die Zeit der Reformation „bewegte“ einiges in dieser<br />

Richtung. ln den protestantischen Herrschaftsgebieten gab<br />

es keine Klöster und Klosterschulen, die sich der Bildung<br />

der Jugend annehmen konnten. Doch man benötigte auch<br />

in den reformierten Ländern Pfarrer, Lehrer, Amtsverweser<br />

und dergl. mehr. Die Einrichtung von Hochschulen unterstand<br />

den adligen Landesherrn. So entstanden konsequenterweisc<br />

injener Zeit die Universität Marburg und die<br />

Hochschule Herborn, worüber an anderer Stelle dieses Buches<br />

berichtet wurde. Da aber an diese Hochschulen nur<br />

junge Leute mit entsprechender Vorbildung aufgenommen<br />

werden konnten, mußte das ländliche Schulwesen<br />

entsprechend ausgebaut werden.<br />

Über die historische Entwicklung des <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

Schulwesens, soweit Kirehenbuch und Stadtartehiv Auskunft<br />

geben können, hat der frühere <strong>Reichelsheim</strong>er Lehrer<br />

Heinrich Keller eine Kurzchronik verfaßt, die an dieser<br />

Stelle wiedergegeben werden soll:<br />

„Von den <strong>Reichelsheim</strong>er Schulen<br />

Über der Geschichte der <strong>Reichelsheim</strong>er Schulen liegt<br />

eine gewisse Tragik! ln der 2ten Hälfte des 16. Jahrhunderts<br />

besaß <strong>Reichelsheim</strong> neben einer allgemeinen<br />

Volksschule eine weithin berühmte Lateinschule, errichtet<br />

von dem vortrefflichen <strong>Reichelsheim</strong>er Pfarrer und<br />

nassauischen Generalsuperintendenten Laurentius Ste-<br />

phani, dem Sohne des ersten evangelischen Geistlichen<br />

in <strong>Reichelsheim</strong>, Jakobus Stephani. Zu Zeiten des Sohnes<br />

des Laurentius Stephani, Gottfried Stephani (1616-<br />

1635) berichten Amtskeller, Bürgermeister und Kirchensenioren<br />

zu <strong>Reichelsheim</strong> an diesen: ›Wir wissen<br />

uns guter Maßen zu erinnern, wie vor Zeiten in unser<br />

Schul, bey einem gar geringen Salario und Einkommens<br />

eines Schulmeisters, die ,Studio liberalium artium“ und<br />

sonderlich ,Grammatica, Musica und Arithmetica`,<br />

sampt anderen ,pietatis` und gottseligen Übungen also<br />

florirt und fortgetrieben worden, daß nicht allein die umliegenden<br />

Flecken, sondern auch aus der Stadt Frankfurt<br />

etliche, mit großem Ruhm und Verwunderung ihre Kinder<br />

hierher geschickt und informiren lassen, wie dann<br />

noch viele Schulgenossen hier und anderswo solches mit<br />

ihrem Exembel erweisen und dankbarlich darzuthun und<br />

zu rühmen wissen. Dahero dann Euer Ehrwürden lieber<br />

Vater, Herr Laurentius Stephani, nicht geringe Ursach<br />

und Anlaß bekommen, zu Erhaltung solcher Studien und<br />

Fleißes, die jährlichen Gefälle einem Schulmeister allhie<br />

zu augiren, inmaßen dann Euer Ehrwürden weit mehr als<br />

das halbe Theil verbessert und aus beiden, der Kirchenund<br />

dem gemeinen Kasten (= Kasse) zufließen lassen.<<br />

Neben dieser (nur kurzzeitig blühenden) ,Lateinschule“<br />

(= Latein war zu jener Zeit die Sprache der Wissenschaft)<br />

bestand gegen Ende des 16. Jahrhunderts eine besondere<br />

Schule für Mädchen. Der Sehulhalter (= Lehrer)<br />

empfing 2 Achtel Korn (= 1 Achtel entsprach einer<br />

Größenordnung von 5 kg) und 5 Gulden an Geld, sowie<br />

von jedem Kind 1 Gulden Schulgeld. Im Jahre 1618 versuchte<br />

man die inzwischen eingegangene Mädchenschule<br />

wieder zu errichten. Der Superintendent Stephani schlug<br />

vor, des Magisters Johannes, des Schulmeisters, Ehefrau<br />

möge sie übernehmen, da sie einem Bericht ihres Mannes<br />

›mit Zwirn und Stricknadeln wohl umzugehen wuß-<br />

188


te


I<br />

c) Geschichte der <strong>Reichelsheim</strong>er Post<br />

(Nach Aufzeichnungen von H. Keller- 1935)<br />

„Die vorteilhafte zentrale Lage des bis 1866 nassauischen<br />

Städtchens <strong>Reichelsheim</strong> inmitten zahlreicher<br />

Wetterauer Dörfer. an der Straße Lauterbach-Schotten-<br />

Nidda-Assenheim-Vilbel-Frankfurt bedingte schon<br />

frühzeitig die Einbeziehung des Fleckens in den ,Thurn<br />

und Taxis`scherı Postverkehr“. Gar oftmals mag im 16.<br />

oder 17. Jahrhundert Freund ,Schwager` auf dem hohen<br />

Bock der Postkutsche draußen vor den spitzbogigen<br />

Festungstoren <strong>Reichelsheim</strong>s sein Horn angestimmt haben.<br />

Drinnen in der Stadt auf dem breiten Marktplatz<br />

vor der ,Lilie“ wurde ausgespannt und den Passagieren<br />

und Pferden ein paar Stunden Ruhe gegönnt. Dies wurde<br />

anders, als im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts die Posten<br />

auf die einzelnen Staaten übergingen. Iın Jahre 1844<br />

erhielt <strong>Reichelsheim</strong> eine selbständige Postanstalt unter<br />

der Leitung von Johannes Conrad, Herzoglich-Nassauischer<br />

Postexpeditor. Ihm folgte 1857 bis 1877 Franz Conrad.<br />

Nach einjähriger Verwaltung wurde der Postverwalter<br />

Theodor Zinser aus Schotten, der z. Z. in Ruhestand lebende,<br />

weithin bekannte Mitbegründer des VHC, mit<br />

der Leitung des <strong>Reichelsheim</strong>er Postamtes betraut. Er<br />

hat dieses Amt vom 31.Mai 1879 bis 30. November 1919,<br />

also über 41 Jahre, in Treue geführt. Unter den widrigsten<br />

Verhältnissen, man denke nur an die Jahre 1914-18,<br />

verstand er es, dank seiner ausgezeichneten Auffassung<br />

von Beruf und Pflicht, sich die Achtung seiner Vorgesetzten<br />

in seltenem Maße zu erwerben. Dies bezeugt<br />

nach seiner Pensionierung am 1. 12. 1919 die Ernennung<br />

seines Sohnes Karl Zinser zum Postmeister von <strong>Reichelsheim</strong>.<br />

Die Geschichte der <strong>Reichelsheim</strong>er Post ist sehr wechselreich.<br />

Es gab eine Zeit, da herrschte reges Leben auf<br />

1<br />

dem <strong>Reichelsheim</strong>er Postamt, mußte doch von <strong>Reichelsheim</strong><br />

aus die Postbestellung fast all der umliegenden Ortschaften<br />

geschehen. Zeitweise waren über 10 Beamte in<br />

Dienst gestellt, die z. T. die weiten Landpostfahrten tätigen<br />

mußten. Anfangs waren 2 Postverbindungen nach<br />

' _¬_†:':' .. Ä'„.-.._._-ıııı _. ;*3ııı_ . ıııııı _ -<br />

ı<br />

ßclwırıtttiıuıtjuııg, bie Y ëtrtctytung einer álšrfiertttäittoıt .gun äteiıtyrtßtpetm bttrtfferıb, _<br />

68 mirb íptermif 'gar öfihıtlidgcn .ttruıım-tfi geítrartıt. ;ba§ in lâlicíiíyrlëfíiritn eine álšofiertirbittøtt<br />

i-„~<br />

errichtet werben tft.<br />

J J l Fbarmftatıt ben. 1.0. ittomnße;_1843.<br />

ürvfibergegttdi 1 tßeffifdife åíötterälšeaftsfflıtfiaecttun.<br />

7 ="nnn'*.§uber. ~*<br />

~<br />

„Bekanntm.achung, die Errichtung einer Postexpedition zu <strong>Reichelsheim</strong> betreffend“<br />

(Besitz der Familie W. Dörr)<br />

190


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Friedberg und Echzell und eine nach Ranstadt eingerichtet.<br />

Zweimal ging die Fahrt, hin und zurück.<br />

Dies hörte auf, als am 1. November 1897 die Nebenbahn<br />

Friedberg-Nidda eröffnet wurde. Am 30. September<br />

abends fuhr die Landpost zwischen Friedberg - <strong>Reichelsheim</strong><br />

und Echzell zum letzten Mal. Dies war der<br />

Abschluß eines Stückes <strong>Reichelsheim</strong>er Postgeschichte.<br />

Dieser mußte durch eine festliche Veranstaltung besonders<br />

festgehalten werden. Sämtliche <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

Vereine mit Lampions und viele Einwohner holten die<br />

letzte Postkutsche vor der Stadt ab und geleiteten sie<br />

durch die Hauptstraße, voran eine Musikkapelle. Rektor<br />

Kramer von der Höheren Bürgerschule hielt eine feierliche<br />

Ansprache und gedachte der ,guten, alten Zeit“.<br />

_ 3.<br />

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_<br />

Mannigfache Anderungen traten infolge des Weltkrieges<br />

ein. Die i. J. 1906 errichteten Landpostfahrten wurden<br />

1922 wieder aufgehoben. Seit der Verkraftung der<br />

Post (= Einsatz von Kraftfahrzeugen) hat <strong>Reichelsheim</strong><br />

aufgehört Zentrale der Brief- und Paketbestellung für<br />

die umliegenden Ortschaften zu sein. Nur als Zentrale<br />

für das Fernsprechwesen der mittleren Wetterau besitzt<br />

<strong>Reichelsheim</strong> noch hervorragende Bedeutung. Am 7.<br />

November 1904 wurde hier eine öffentliche Fernsprechstelle<br />

mit 6 öffentlichen Sprechstellen und 6 Teilnehmern<br />

eröffnet. Im Laufe der Jahre wurde das Fernsprechamt<br />

immer weiter ausgebaut. Im Jahre 1917 besaß <strong>Reichelsheim</strong><br />

42 Teilnehmer und 2 Nebenstellen. und 1930 wurden<br />

l56 Teilnehmer und 12 Nebenanschlüsse. Ursprünglich<br />

befanden sich die Posträume im ,Gasthof zur Post“,<br />

heute sind sie im unteren Stockwerk des Postsekretär i.<br />

R. Theodor Zinser gehörigen Hauses untergebracht. _ _<br />

So bildet auch die Geschichte des <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

Postwesens ein Stück Heimat- und Zeitgeschichte und<br />

verdient daher festgehalten zu werden.“<br />

ll<br />

._ '~›--~<br />

Postkutsche<br />

der Deutschen Reichspost nach 1871<br />

Blick in die Bingenheimer Straße mit dem<br />

Gasthaus „Zur Post“ (Aufnahme um 1950)<br />

192


3. Sitten und Bräuche in <strong>Reichelsheim</strong><br />

Sind „Anhaltspunkte“ im Jahresablauf, also besondere<br />

Daten, für den einzelnen Menschen wichtig?<br />

Ostern, Pfingsten, Erntedankfest, Weihnachten und<br />

Silvester sind solche „Fix-Punkte des Jahres“. Viele Erwachsene<br />

sagen allerdings heute, am Ausgang des 20.<br />

Jahrhunderts, daß diese Feste eigentlich nur noch für<br />

Kinder von Bedeutung seien. Der geplante Urlaub, vielleicht<br />

die beabsichtigte große Party zu einem „runden“<br />

Geburtstag werden eher als „wichtige“ Daten angesehen,<br />

als Daten, an die man schon lange denkt, die man<br />

gedanklich, stimmungsmäßig, aber auch organisatorisch<br />

lange zuvor vorbereitet. Andere Daten? Nein, die anderen<br />

Daten - wenn man keine Kinder oder Enkelkinder<br />

hat. _ .<br />

Natürlich erinnert man sich gerne an seine eigene<br />

Kindheit, erinnert sich an die Familienfeiern, zu denen<br />

man sich bei den Festen des Jahresverlaufes oder bei denen<br />

des Lebenslaufes eines der Familienmitglieder traf<br />

und die meist so „herrlich hektisch - harmonisch“ waren!<br />

Früher spielten Feste und besondere Daten, seien sie<br />

christlich-kirchlicher, familiärer oder jahreszeitlicher<br />

Art, eine bestimmende Rolle im Leben der Menschen.<br />

Die Einhaltung der traditionellen „Regeln“ war in einem<br />

Städtchen wie <strong>Reichelsheim</strong> eine real existierende Notwendigkeit<br />

für jeden einzelnen. Eine Flucht in die Anonymität,<br />

in „ein Leben für sich allein oder zu zweit“, so<br />

etwas war vor Beginn des „Falls der Stadtmauern“, vor<br />

Beginn der großen Freizügigkeit, also vor Beginn der allgemeinen<br />

Mobilität, die durch die Kraftfahrzeuge ermöglicht<br />

wurde, nicht möglich und für die meisten auch<br />

gar nicht vorstellbar.<br />

Wer sich ausschloß, wer sich den Riten des Jahresoder<br />

des Lebenslaufes nicht anschloß, der mußte in bestimmten<br />

Epochen unserer Stadtgeschichte sogar Angst<br />

haben, als „Freund des Teufels“, als „Feind der Chri-<br />

›<br />

`<br />

.,<br />

li<br />

Storchenturm “<br />

am Ausgang der Kirchgasse.<br />

(Bis vor 40 Jahren rıistete auf diesem<br />

Turm ein Storcherıpaar)<br />

Ark*<br />

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stenheit“, als Feind der von Gott geschaffenen Menschheit<br />

„verschrien“, bzw. er mußte Angst haben, als Feind<br />

der Volksgemeinschaft angesehen zu werden.<br />

Sitte und Moral wurden, wie schon in den Kapiteln<br />

„Mitte1alter“, „Kirche“ und „17. Jahrhundert“ beschrieben<br />

wurde, von der Kirche und ihrem jeweiligen Amtsträger,<br />

dem Pfarrer, repräsentiert. In „Visitationen“ des<br />

Superintendenten, die jedes Jahr mindestens einmal<br />

durchgeführt wurden, wurde das „Wissen“ der Gemeindemitglieder<br />

öffentlich überprüft, wurde bezüglich des<br />

allgemeinen Lebenswandels Beschwerde erhoben oder<br />

Lob erteilt. („Es bestanden die Männer und Schüler<br />

wohl, die Weiber aber gar übel“, schrieb z. B. Pfarrer<br />

Frech über die am 10. September 1644 durchgeführte Visitation<br />

in seinen Bericht, der sich in der Kirchenchronik<br />

noch heute wiederfindet.)<br />

Wie die Meister oder Obermeister entschieden, ob<br />

einer ihres Handwerks das Recht verloren habe, weiterhin<br />

„zünftig“ zu sein, also Mitglied der zutreffenden<br />

Zunft (ein Ausschluß kam einem Berufsverbot in der<br />

Gemeinde gleich), so entschied der Pfarrer, ob sich eine<br />

Frau oder ein Mann noch weiterhin als Mitglied der<br />

christlichen Gemeinschaft betrachten durfte (s. Kapitel<br />

„Hexenwahn in <strong>Reichelsheim</strong>“).<br />

Die „Fesseln“, die dem Menschen in früheren Jahrhunderten<br />

in einer solch kleinen Stadt wie <strong>Reichelsheim</strong><br />

auferlegt waren, sie waren eng!<br />

Doch es darf hier nicht vergessen werden zu erwähnen:<br />

Die meisten Regeln machten das Leben der „Nachbarn“<br />

(so nannten sich früher alle Leute eines Ortes)<br />

„kalkulierbar“ oder zumindest berechenbarer. Damit erhielten<br />

die bestehenden Regeln/Vorschriften zum Jahres-<br />

und zum Lebensablauf nicht nur den Charakter von<br />

Fesseln, sie gaben vielen Menschen auch Orientierung<br />

und Halt.<br />

Nach zwei Gesprächsrunden mit Hilda Rohde, Werner<br />

Coburger und Ilse Erdmann, kenntnisreiehe Seniorinnen<br />

und Senioren aus <strong>Reichelsheim</strong>, habe ich versucht,<br />

das noch vorhandene Wissen über frühere Sitten<br />

und Bräuche in diesem kleinen Landstädtchen aufzuzeichnen.<br />

Ergänzungen dazu fand ich in den Büchern,<br />

die einiges über Alt-<strong>Reichelsheim</strong> zu berichten wissen:<br />

vor allem die Kirchenchronik und Georg Schäfers Buch<br />

„Der wilden Frauen Gestühl“.<br />

a) Sitten und Gebräuche: der Jahresablauf<br />

JAHRESWECHSEL:<br />

In nahezu jedem Haushalt wurde „Mäusekuchen“ gebacken,<br />

der bei frisch aufgegossenem Kaffee verzehrt<br />

wurde. Für die Spinnstuben galt folgende Regel: Eines<br />

der Mädchen (immer ein anderes) buk den Mäusekuchen<br />

(s. hierzu auch das besondere Kapitel „Der Mäusekuchen<br />

~ eine <strong>Reichelsheim</strong>er Besonderheit“), die Burschen<br />

kauften die Kaffeebohnen, so daß ein gemütliches<br />

und auch lustiges Schmausen möglich war.<br />

I. JANUAR:<br />

Das Mittagsmahl (Neujahrsmahl) bestand aus Weißkraut<br />

als Zeichen dafür, daß man beabsichtige, im neuen<br />

Jahr sparsam mit seinen Mitteln umzugehen - in der<br />

Hoffnung, durch solch ein Verhalten zu wirtschaftlichem<br />

Erfolg zu gelangen.<br />

22. FEBRUAR: PETR]-TAG (Pı`dderschd0ag“):<br />

An diesem Tag wurden zum ersten Mal im neuen Jahr<br />

um 4 Uhr nachmittags die Glocken geläutet. Damit wurde<br />

offiziell das Frühjahr eingeläutet.<br />

An diesem Tag umband man die Obstbäume mit<br />

Strohseilen, um aufsteigendes Ungeziefer abzufangen.<br />

Auch sollte man sich in der Scheunentenne wälzen, „um<br />

Rückenschmerzen im Arbeitsjahr zu verhindern“ (bzw.<br />

194


um sich für die anstehenden Frühjahrsarbeiten in Haus<br />

und Flur „fit“ zu machen).<br />

Eine Kuriosität, die jedes Jahr vor allem die Kinder in<br />

Erstaunen setzte, war: Die Eier, die die Gänse (früher<br />

hatte nahezu jeder Hof Gänse) am Pidderschdoag legten,<br />

verschwanden! Nie wurde eines wiedergefunden . . .<br />

I. MÄRZ:<br />

An diesem Tag kam der „Märzhase“. Von der engsten<br />

Verwandschaft (Eltern, Großeltern und Paten) wurden<br />

die Kinder mit einem Ei oder höchstens zwei Eiern beschenkt.<br />

Diese Eier waren im Gegensatz zu den Ostereiern<br />

nicht bunt bemalt; sie wurden in Zwiebelschalen<br />

gekocht, wodurch sie eine schöne braune Farbe erhielten.<br />

Am 1.. März machten sich die Buben und Burschen bei<br />

den Mädchen auch gerne den Scherz, ihnen unbemerkt<br />

die Schürze, die obligatorisch getragen werden mußte,<br />

aufzuschnüren, um dann spitzbübisch oder auch etwas<br />

hämisch zu rufen:<br />

„Heut ist l. März!<br />

Mädel, bind geschwind dei Schörzl“<br />

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„Ganz <strong>Reichelsheim</strong> feiert“, Aufnahme aus den Zwanziger Jahren<br />

(Besitz der Familie Dörr)<br />

195


I. APRIL:<br />

Was gab es Schöneres, als jemanden „in den April zu<br />

schicken“?<br />

„Am 1. April,<br />

do schick ich den Narr wohin ich will!<br />

Schick ich ihn weit:<br />

wird er gescheit;<br />

schick ich ihn noh:<br />

ist er bald widder do !“<br />

PALMSONNTAG:<br />

„Kreppelsonntag“! In jedem Haus wurden (oft riesige<br />

Mengen) Kreppel gebacken, so daß es im ganzen Ort<br />

danach roch.<br />

GRÜNDONNERSTAG:<br />

Vormittags war Feiertag, die Arbeit ruhte. Für die<br />

Jugend (ab Konfirmation bis zur Eheschließung) galt es,<br />

zum Beichtgottesdienst zu gehen.<br />

Zum Mittagessen gab es entweder „Grüne Soße“ oder<br />

Spinat.<br />

'<br />

KARFREITAG:<br />

Die Gemeindemitglieder gingen zum Abendmahl in<br />

die Kirche. Die Pfarrer notierten in der Kirchenchronik<br />

genau die Zahl der Männer und Frauen, die an diesem<br />

Gottesdienst teilnahmen.<br />

Zum Mittagessen gab es meist Nudel und Obst (Dörrobst)<br />

- niemals Fleisch.<br />

OSTERN:<br />

Dieses Fest der Freude war auch in <strong>Reichelsheim</strong> ein<br />

Freudenfest der Kinder: Bunt gefärbte Eier wurden versteckt-<br />

und mit Erfolg gesucht. Danach ging es mit dem<br />

Körbchen zu den Paten und meist auch zu den unmittel-<br />

baren Nachbarn und engsten Verwandten. Die Patenkinder<br />

bekamen jeweils 4 Eier geschenkt; in anderen<br />

„Beziehungsfällen“ füllten nur jeweils 1 Ei oder zwei<br />

Eier die Körbchen. „Liebe“ Kinder mußten mit Hilfe der<br />

Schürzen- oder anderer Taschen schon einmal Platz im<br />

Körbchen schaffen, wollten sie nicht zwischenzeitlich<br />

einmal nach Hause laufen, um die vielen geschenkten<br />

bunten Eier abzuladen.<br />

Doch noch an eine andere Gewohnheit sei erinnert:<br />

Kinder armer Familien, meist aus denen der Arbeiter<br />

und Tagelöhner, gingen zu den Bauern und fragten:<br />

„Hot d`r Hoas gelegt?“ Oft waren sie erfolgreich und<br />

konnten je Frage ein oder zwei Eier in ihr Körbchen<br />

legen.<br />

LETZTER OSTERFEIER TAG (Osterdienstag):<br />

An diesem Tag machten sich die Kinder und Jugendlichen<br />

auf zur „Lenze-Wiese“ (an der Horloff gelegen,<br />

dort wo jetzt die Mehrzweckhalle steht): „Eierwerfen“<br />

war angesagt! Die Jungen übten sich im Wettkampf:<br />

Wer am weitesten warf, bekam jeweils die geworfenen<br />

Eier der Konkurrenten. Für die Mädchen war dies meist<br />

nur eine vergnügte Art, die Eier zu öffnen. Es soll nach<br />

glaubhaften Schilderungen bei den Jungen und Mädchen<br />

vorgekommen sein, daß sie an einem solchen Tag so viele<br />

Eier „öffneten“ und dann verspeisten, daß sie ihr Lebtag<br />

keine gekochten Eier mehr essen wollten. . .<br />

HIMMELFAHRTSTAG:<br />

An diesem Tag wurde in den nahe gelegenen Wald gegangen.<br />

Noch vor hundert Jahren wurden an Himmelfahrt<br />

auch bestimmte Kräuter gesammelt, wie Georg<br />

Schäfer in seinem Buch „Der wilden Frauen Gestühl“<br />

berichtet: Brandosten, Baldrian, Waldmeister und Maiblumen<br />

wurden in der mitgebrachten Tasche verstaut.<br />

196


Nach dem Kräutersammeln ging es nach Blofeld zu Äppelwoi<br />

und Handkäs mit Musik! Mit wirklicher Musik<br />

lockten die verschiedenen Wirte zum Tanz in ihre Lokale.<br />

In früheren Zeiten gab es im Blofelder Wald, nahe<br />

„Der Wilden Frauen Gestühl“, einen Tanzplatz, um den<br />

herum die Blofelder Wirte ihre Speisen und Getränke<br />

anboten.<br />

PFINGSTEN:<br />

Früher war immer an Pfingsten Konfirmationsfeier, an<br />

der meist der ganze Ort teilnahm. Wer nachmittags nicht<br />

irgendwo zu Kaffee und Kuchen eingeladen war, ging an<br />

diesem Tag im nahen Wald spazieren.<br />

ERNTEDANKFEST:<br />

Alle Gemeindemitglieder gingen in die Kirche, die zuvor<br />

von den Konfirmanden mit Feld- und Gartenfrüchten,<br />

die sie selbst gesammelt hatten, geschmückt worden<br />

war. Im Anschluß an diesen Dankgottesdienst wurden<br />

die Gaben der Natur an die Kinder bedürftiger Familien<br />

verteilt.<br />

KIRMES/KERB;<br />

Sie erstreckte sich von Sonntag auf Montag. Es wurde<br />

in den Sälen der jeweils vorhandenen Wirtshäuser getanzt<br />

und dabei manches Techtelmechtel zwischen Burschen<br />

und Mädchen begonnen. Kerbeburschen und Kerbebaum<br />

sind erst spät von anderen Gemeinden übernommen<br />

worden; so etwas gab es früher in <strong>Reichelsheim</strong><br />

nicht.<br />

Allerdings war es über eine lange Zeit auf Bitten der<br />

Pfarrer verboten, Kirmes schon am Sonntag, der ein besinnlicher<br />

Tag zu Ehren Gottes sein sollte, gefeiert wurde.<br />

Deswegen gab es die Verfügung, Kirmes erst dienstags<br />

zu feiern. Da die Bevölkerung zu jener Zeit ihren<br />

Arbeitsplatz im Ort hatte, war dieses Gebot gewiß nicht<br />

schwer einzuhalten.<br />

NACHKERB:<br />

Bis in unser Jahrhundert hinein war es Brauch, 4 Wochen<br />

nach der eigentlichen Kerb eine „Nachkerb“ zu feiern.<br />

Vor allem die jungen Leute trafen sich in den Wirtshäusern,<br />

um noch einmal vor Beginn der dunklen und<br />

trüben Jahreszeit nach Herzenslust zu tanzen.<br />

II. NOVEMBER - MARTINITAG:<br />

In alter Zeit war dies der Tag, an dem bestimmte<br />

Abgaben, bestimmte „Zehnte“, an die Herrschaften<br />

geleistet werden mußten. Bis in die Gegenwart hinein<br />

ist es Brauch, an diesem Tag die Pachtzahlungen zu erledigen.<br />

TOTENSONNTAG:<br />

Seit den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts werden<br />

an diesem Novembertag die Gräber der Angehörigen<br />

geschmückt. Die gesamte Gemeinde traf sich zum Gottesdienst<br />

in der Kirche, während dessen die Namen<br />

der im Kirchenjahr verstorbenen Mitbürger verlesen<br />

wurden.<br />

Zu dem Thema Grabpflege sei an dieser Stelle eine<br />

Anmerkung gemacht: Früher wurde die Grabpflege<br />

nicht sehr ernst genommen, meist wurde sie vom Totengräber<br />

übernommen. Pfarrer Rühl schrieb im Jahre<br />

1927, also vor erst 65 Jahren, folgendes in die Kirchenchronik<br />

(s. S. 533 f.): „Der Dorfkirchenvorstehertag. . .<br />

fand in diesem Jahre in Wölfersheim statt, und es nahmen<br />

außer dem Kirchenvorstand auch der Beigeordnete<br />

Karl Veith daran teil, da dieser Vorsitzender unserer<br />

Friedhofskommission ist, und in Wölfersheim über<br />

diese Frage verhandelt werden sollte. Pfarrer Köhler,<br />

197


Nidda, hielt ein eingehendes, sehr wirkungsvolles Referat,<br />

das dann auch in mehreren Auszügen in den „Wetterauer<br />

Heimatglocken“ erschien. Der Erfolg war in<br />

<strong>Reichelsheim</strong> ein mehrfaches Zusammentreten der<br />

Friedhofskommission und anschließend eine gründliche<br />

Säuberung und Herstellung des Friedhofs. Auch eine<br />

Reihe von Bäumen wurde gesetzt. Die Konfirmanden<br />

bekamen den Auftrag, die neugesetzten Bäumchen zu<br />

gießen und eine Reihe älterer Gräber - Pfarrgräber und<br />

dergl. - unter meiner Aufsicht zu säubern und zu pflegen.<br />

Als Folge dieses Vorgehens sahen dann auch eine<br />

ganze Reihe Privatleute sich veranlaßt, bisher verwahrloste<br />

Gräber wieder in Pflege zu nehmen. Auch die alten<br />

Amtmannsgräber aus der nassauischen Zeit wurden wieder<br />

in Pflege genommen, um die Erinnerung an die Vergangenheit<br />

der Gemeinde zu erhalten.“<br />

NIKOLA US:<br />

Dieser Abend wurde nur im Familienbereich gefeiert:<br />

Es wurde gesungen, und die Kinder sagten brav ihre<br />

Gedichtchen auf.<br />

Auf den Straßen machten sich allerdings die 16- bis<br />

18jährigen Burschen vermummt den Spaß daraus, ihre<br />

kleinen Mitbürger in Angst und Schrecken zu versetzen.<br />

24. DEZEMBER:<br />

Dies war ein besonderes Familienfest! Abends gab es<br />

gutes Essen. Nach dem Gottesdienst wurden die Kinder<br />

beschert. Nicht in allen Häusern gab es Tannenbäume,<br />

nicht jede Familie konnte sich diesen „Stimmungsmacher“<br />

leisten.<br />

In der Adventszeit waren viele Kekse gebacken worden.<br />

Die Bäcker des Ortes übertrumpften sich mit dem<br />

Backen der beliebten Lebkuchenherzen, die sich viele<br />

Kinder so sehr wünschten.<br />

I. WEIHNACHTSTAG:<br />

Die Kinder gingen nach dem Gottesdienst zu ihren<br />

Paten, um sich ihre Geschenke abzuholen.<br />

„ZWISCHEN DEN JAHREN“<br />

(Zwischen Weihnachten und Neujahr):<br />

Es sollte eine besonders ruhige Zeit sein. Es durfte keine<br />

Wäsche gewaschen werden. Um zu verhindern, daß<br />

man im neuen Jahr Geschwüre bekomme, durfte in diesen<br />

Tagen kein Hemd gewechselt werden. . .<br />

b) Der Lebenslauf<br />

GEBURT:<br />

Die Kinder wurden zu Hause geboren. lm Ort gab es<br />

eine Hebamme, die von der Gemeinde ausgesucht worden<br />

war. Wer Hebamme war, der war angesehen. Deswegen,<br />

aber auch wegen des zusätzlich sicheren Einkommens,<br />

war dieser Posten begehrt.<br />

WÖCHNERINNEN-ZEIT:<br />

Die Mutter des Neugeborenen mußte 9 Tage im Bett<br />

bleiben. Besucher der Wöchnerin bekamen von ihr als<br />

Dank für den Besuch und das mitgebrachte Geschenk<br />

einen Streuselkuchen (ein ganzes Blech) als Gegengabe<br />

- allerdings nur, soweit der Besuch vor der Taufe stattfand.<br />

Kinder, die auch in das Haus der Wöchnerin zu Besuch<br />

kamen, um das Neugeborene zu sehen, durften in die<br />

Wiege greifen: dort fanden sie Süßigkeiten, „die der<br />

Storch mitgebracht hatte“ (der vom „Storchenturm“).<br />

TA UFE:<br />

In <strong>Reichelsheim</strong> war bis vor wenigen Jahrzehnten die<br />

Haustaufe üblich. Dies war zwar nicht immer so, wurde<br />

198


aber vor allem damit begründet, daß die Mutter durch<br />

die Geburt für einen Gang in die Kirche noch zu geschwächt<br />

sei. Andererseits wurde immer wieder die<br />

Angst ausgesprochen, daß ungetaufte Kinder auf ihrem<br />

Weg in die Kirche von bösen Geistern angefallen werden<br />

könnten (in Heuchelheim trug deswegen die Hebamme<br />

das Neugeborene unter ihrem Mantel versteckt in die<br />

Kirche). Angestrebt wurde auf jeden Fall eine sehr<br />

schnell vollzogene Taufe, damit das Kind nicht lange<br />

außerhalb der christlichen Gemeinschaft stehe.<br />

Zur Haustaufe kam der Pfarrer immer in Begleitung<br />

des Kirchendieners, der die Taufschale und den Krug mit<br />

dem Taufwasser trug.<br />

Unmittelbar nach vollzogener Taufe feierte die Familie<br />

mit den Paten bei Kaffee und Kuchen.<br />

Die Paten wurden in der Regel von den Eltern aus dem<br />

Kreise derer ausgesucht, die sich beim ersten Besuch<br />

nach der Geburt angeboten hatten, „das Kind aus der<br />

Taufe zu heben“. Wer oft zum Paten oder zur Patin erwählt<br />

worden war, der konnte dies als ein Beweis seiner/<br />

ihrer Beliebtheit ansehen.<br />

Um die Bindung des Kindes an den Paten, die Patin<br />

oder die Paten zu verdeutlichen, erhielt es oft deren<br />

Namen als Beinamen.<br />

In <strong>Reichelsheim</strong> wurden, wie die Kirchenchronik verdeutlicht,<br />

die Taufen auch einmal später durchgeführt.<br />

Pfarrer Kayser (1880-1883) war über viele kirchliche<br />

Gewohnheiten in diesem Ort enttäuscht. Er schrieb<br />

(s. S. 268):<br />

„In der Regel läßt man die Kinder 4~6 Wochen lang<br />

liegen, was schon dem herrschenden Geiste gemäß auf<br />

die Gleichgültigkeit gegen das Sacrament hinweist.“<br />

Pfarrer Kayser und seine Nachfolger wie aber auch<br />

seine Vorgänger bemühten sich immer wieder, den Zeitraum<br />

zwischen Geburt und Taufe so eng wie möglich zu<br />

hahenf“<br />

EINSCHULUNG:<br />

Die Schulanfänger erhielten von ihren Eltern eine in<br />

den örtlichen Bäckereien gebackene große Brezel.<br />

KONFIRMA TION:<br />

Die ganze Kirchengemeinde nahm an dem Einzug der<br />

Konfirmanden in die Kirche teil. Der Einzug glich oft<br />

einem kleinen Umzug: vorne der Pfarrer und der Kirchenvorstand,<br />

dann die Eltern, dann die Konfirmanden.<br />

VERLOBUNG:<br />

Der Tag des Heiratsversprechens, die Verlobung, war<br />

als Tag wesentlicher als der Hochzeitstag. Alle rechtlichen<br />

und wirtschaftlichen Fragen waren bis zu diesem<br />

Tage von seiten der Elternhäuser der Brautleute geregelt.<br />

War man sich einig geworden, wurde die Verlobung<br />

gefeiert. Am Vorabend der offiziellen Verlobung fand<br />

das „Dippe-Werfen“ statt. Vor dem Haus der Brautleute<br />

hatten sich die jungen Leute versammelt und sangen Lieder,<br />

deren Texte noch manchen älteren Mitbürgerinnen<br />

und Mitbürgern geläufig sind:<br />

„Als ich dich zum ersten Mal erblickte<br />

Als ich dich zum ersten Mal erblickte<br />

diesen Abend, den vergeß ich nie!<br />

Als mich deine Gegenwart entzückte,<br />

da war es mir, ich weiß ja gar nicht wie.<br />

Ach wie gerne hörte ich dich nennen,<br />

wenn du freundlich warst, da freut ich mich.<br />

Hätt ich”s an jenem Abend wagen können,<br />

dir zu sagen: Ach, ich liebe dich!<br />

199


Einen Kuß von deinem roten Munde,<br />

einen Gruß von deiner zarten Hand -<br />

dies erinnert mich an jene Stunde,<br />

wo mein Herz dich einst durch Zufall fand.<br />

Wenn ich einst verscharrt im tiefen Sande,<br />

wenn der Tod mein mattes Auge bricht:<br />

Ach, so pflanz an meines Grabes Rande<br />

mir zum Gedenk nur ein Vergißmichnicht.“<br />

Ein anderes Lied lautete:<br />

„Mir gefällt das Ehstandsleben<br />

Mir gefällt das Ehstandsleben<br />

besser, als ins Kloster gehn, ja Kloster gehn.<br />

In das Kloster mag, ja mag ich nicht,<br />

ich bin zu der Eh verpflicht, ja Eh verpflicht.<br />

Leute tut euch doch erbarmen<br />

und verschafft mir einen Mann, ja Mann,<br />

der mich küßt und drückt an seine Brust,<br />

denn zum Heiraten hab ich Lust, ja hab ich Lust.<br />

Ach, was wird die Mutter sagen,<br />

wenn ich sie verlassen muß, ja lassen muß?<br />

Sie mag sprechen, reden, was sie will:<br />

ich tu heiraten in der Still, ja in der Still.“<br />

Wenn die Lieder abgesungen und alle „Dippe“ zerschmettert<br />

waren, dann lud der Bräutigam die jungen<br />

Leute zu einem Umtrunk in das Wirtshaus ein.<br />

HEIRA T:<br />

Die „Copulation“, wie die Pfarrer bis vor 60 Jahren<br />

stets ins Kirehenbuch schrieben, fand selbstverständlich<br />

in der Kirche statt (standesamtliche, sogenannte Zivil-<br />

Trauungen gibt es erst seit gut 120 Jahren). Gefeiert wurde<br />

stets im Hause der Braut.<br />

Wollten die Frischgetrauten den Kirchplatz verlassen,<br />

so mußten sie sich „freiwerfen“, indem der Bräutigam<br />

Münzen in die Luft warf, die die Kinder, die ein Seil gespannt<br />

hatten, eilig rafften, dabei allerdings das Seil fallen<br />

lassen mußten (ein Brauch, den nicht alle Pfarrer gerne<br />

sahen).<br />

Der Hochzeitszug von der Kirche zum Hause der<br />

Braut war nach folgendem Gesichtspunkt aufgebaut: je<br />

näher die Verwandtschaft, desto näher durften sie vorne<br />

beim Brautpaar sein; eine entsprechende Regelung galt<br />

für die Freundinnen bzw. Freunde.<br />

TOD und BEGRÄBNIS:<br />

War im Ort jemand gestorben, so ging ein Verwandter<br />

oder befreundeter Nachbar, angetan mit schwarzem Anzug<br />

und Zylinder, durch den Ort, um die zur Beerdigung<br />

Geladenen „anzusprechen“. Vor allem galt es, Männer<br />

aus der Nachbarschaft „anzusprechen“, damit sie zum<br />

Tragen des Sarges bereit sind.<br />

Der Beerdigungszug ging stets vom Haus des oder der<br />

Toten aus, von dort, wo der Körper drei Tage geruht hatte.<br />

Die Träger des Sarges waren mit einem stark duftenden<br />

Myrthensträußchen, das am Revers befestigt war,<br />

geschmückt. War der Weg vom Haus der oder des Toten<br />

zum Friedhof weit und zugleich die Leiche schwer, so begleitete<br />

der Schreiner, der den Sarg angefertigt hatte,<br />

den Trauerzug mit zwei Stühlen, auf die der Sarg zwischenzeitlich<br />

abgesetzt werden konnte.<br />

Die auswärtigen Trauergäste wurden nach der Beerdigung<br />

beim Verlassen des Friedhofes durch zwei Angehörige<br />

der beigesetzten Person besonders „auf einen Totenweck“<br />

eingeladen.<br />

200


c) Kirchliche Vorschriften zu den Feiern des Lebens-<br />

Iaufes aus dem 18./19. Jahrhundert<br />

Pfarrer Frankenfeld fand mehrere kirchliche Verordnungen<br />

aus dem Jahre 1760, die Pfarrer Hoffmann, einer<br />

seiner Amtsvorgänger, auszuführen hatte. Diese Aufzeichnungen<br />

seien hier auszugsweise wiedergegeben:<br />

„Eine dritte (Verordnung) bezieht sich auf die Hochzeiten,<br />

Kindtaufen, Beerdigungen und die gesetzliche<br />

Trauerzeit.<br />

Bei Hochzeiten sollen höchstens 12 Gäste eingeladen<br />

werden. Diesen dürfe vor dem Kirchgang kein<br />

Frühstück gereicht werden. Bei der Mahlzeit dürfe<br />

kein Überfluß in Essen und Trinken sein; auch solle<br />

keine Speise nach Hause geschickt, kein Bettler hinzugelassen<br />

werden und die Feierlichkeit nicht länger dauern<br />

als bis den Abend 10 Uhr. Auch sei das Hemmen<br />

(= Seilspannen) des Brautpaares, das den unverheirateten<br />

Gästen abgenöthigte Schenken von Wein und<br />

Zuckerwerk an die anwesenden Weiber, das sogenannte<br />

Tischrücken den Sonntag nach der Hochzeit<br />

und das Geben von sogenannten Brautstücken an das<br />

Gesinde untersagt.<br />

In Ansehung der Kindtaufen wurde festgesetzt, die<br />

Kinder sollten schon den dritten Tag nach der Geburt getauft<br />

und dabei höchstens drei Taufzeugen genommen<br />

werden. Die Taufzeugen konnten ein Geschenk geben,<br />

alle weiteren Geschenke für die Pathen zum Neuenjahr<br />

u.s.w. wie in das Kindbettenhaus mußten unterbleiben.<br />

Weder vor dem Kirchgang dürfe ein Frühstück noch<br />

nach demselben eine Mahlzeit gereicht werden. Verboten<br />

sei auch die Taufe im Hause, wenn es die Noth nicht<br />

erfordere.“<br />

Ebenso wurden über die Beerdigungen folgende Bestimmungen<br />

getroffen:<br />

„Die Todten sollten den dritten Tag ohne unnöthigen<br />

Kostenaufwand beerdigt, die Todten in ein Hemd von<br />

geringem Leinwand gekleidet, in einen Sarg von tannen<br />

oder sonst gemeines (= billiges) Holz gelegt werden. Alle<br />

Trost- und Leichenschmäuse sollten aufliören bei zehn<br />

Gulden Strafe.<br />

Trauerkleider sollten nur anlegen Eheleute, Eltern,<br />

Großeltern, Kinder, Enkel, Schwiegersöhne und -töchter,<br />

Geschwister, Schwäger und Schwägerinnen auch deren<br />

Eltern, Geschwister und und deren Ehegatten, dergleichen<br />

die eingesetzten Erben; und zwar Eltern für<br />

Kinder, welche das 25. Jahr erreicht haben: Kinder für<br />

Eltern, Ehegatten für einander auf 6 Monat (nach Verlauf<br />

von 3-4 Monat soll abgetrauert werden); Eltern für<br />

Kinder, welche das 14. Jahr erreicht haben, wie auch alle<br />

andern vorgenannten Personen, sollten nur 3, 2, 1 Monat<br />

halbe Trauer anlegen. Für Kinder aber unter 14 Jahr gar<br />

nicht getrauert werden durch Trauerkleidung.“<br />

Pfarrer Frankenfeld führt in seiner Sprache des letzten<br />

Jahrhunderts eine weitere Verordnung aus dem Jahre<br />

1768 auf, die festlegt, daß „Leichenbegängnisse der unter<br />

6 Jahren verstorbenen Kinder untersagt“ werden _ _ .<br />

Daß diese Verordnung wirklich in Kraft trat und das<br />

Leben bestimmte, ja, daß Beerdigungen im letzten<br />

Jahrhundert in einer Form abgehalten wurde, wie wir<br />

heutigen Zeitgenossen es uns gar nicht mehr vorstellen<br />

können, das zeigt ein Eintrag des Pfarrers Ludwig<br />

W. Tecklenburg in die Chronik aus dem Jahre 1856<br />

(s. S. 180 f.):<br />

„Seit 1815 wurden, wie die Leute sagen, die Toten nur<br />

in Begleitung der sogenannten Todtenfrau hinausgetragen<br />

und beerdigt. Alle meine wiederholt angestellten<br />

Versuche, diese Art des Begrabens der Leichen, welche<br />

aus einer Zeit ansteckender Krankheiten herrühren<br />

möchte, in öffentliche Leichenbegräbnisse zu verwan-<br />

201


deln. scheiterten an dem eigensinnigen, hartnäckigen<br />

Festhalten der gewohnten Sitte und an dem tiefen Unwillen<br />

und der Ärgernis, mit der diese Versuche jedes<br />

Mal von den Leidtragenden aufgenommen wurde.<br />

Endlich ergab sich ein Fall, der mir besonders günstig<br />

schien, bei den Trauernden mir die völlige Zustimmung<br />

zur Vornahme eines öffentlichen Begräbnisses<br />

zu erwirken. Ich holte die Leiche am Hause ab, begleitet<br />

unter einem großen Trauerzug und Zulaufen der<br />

Menge zum Grabe, hielt dort eine Leichenrede und<br />

segnete die Leiche ein.<br />

Die Vorliebe und das Hangen an dem alten Gebrauch<br />

war bei dem nächsten Sterbefall nun schon nicht mehr so<br />

groß. Wenn auch nur wenige der Leiche folgten, so hatten<br />

sie doch nichts dagegen, als ich im Augenblicke, wo<br />

sie dieselbe wegtragen wollten, erschien, vor dem Sarge<br />

herging und am Grabe eine kurze Rede hielt.“<br />

Der Nachfolger von Pfarrer Tecklenburg im <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

Pfarramt, Pfarrer Snell, vermerkte die Veränderung<br />

durch folgenden Eintrag in die Kirchenchronik<br />

(s. S. 223):<br />

„Es herrschte in diesem Winter bis in das Frühjahr hinein<br />

eine große Sterblichkeit unter den kleinen Kindern,<br />

und die Gestorbenen werden auf Verlangen der Eltern<br />

fast sämtlich öffentlich von mir beerdigt, was früher hier<br />

nicht üblich war.“<br />

Wie vor ungefähr 110 Jahren die Begräbnisse in <strong>Reichelsheim</strong><br />

durchgeführt wurden, das hielt Pfarrer W.<br />

Kayser. der Nachfolger von Pfarrer Snell, für die Nach-<br />

welt, also für uns und unsere Kindeskinder, wie folgt fest<br />

(s. S. 269 f.):<br />

„Die Begräbnisse sind sehr nüchtern und entbehren<br />

vieler Feierlichkeit, die sich sonsten findet. Es mag dies<br />

darin seine Erklärung finden, daß in Folge von Epidemien<br />

in alter Zeit die öffentlichen Leichenfeiern ganz abgestellt<br />

worden waren. Bis vor nicht langer Zeit blieb die<br />

Leichengesellschaft in dem Sterbehaus, während der<br />

Geistliche allein mit den Trägern die Leiche zum Kirchhofe<br />

brachte. -Jetzt gehn wohl mehr oder weniger Leute<br />

bei jeder Leiche mit. An vielen Orten wird, sobald ein<br />

Glied der Gemeinde gestorben ist, dies derselben durch<br />

Glockengeläute angezeigt, wobei ja nach der Glocke,<br />

mit welcher angefangen wird oder aus den Absätzen des<br />

Geläutes, sofort das Alter des Verstorbenen ersichtlich<br />

wird; an anderen wird ›ins Grab geläutet


d) „Der Mäusekuchen“ -<br />

eine <strong>Reichelsheim</strong>er Besonderheit<br />

Wer sich mit Alt-<strong>Reichelsheim</strong>ern über Besonderheiten<br />

des Ortes unterhält, der erfährt sehr schnell etwas<br />

über den „<strong>Reichelsheim</strong>er Mäusekuchen“.<br />

Vor 10 Jahren hatte sich ein Neubürger der Gesamtstadt,<br />

Helmut Haag, einmal alle Mäusekuchcn-Geschichten<br />

erzählen lassen. Daraus formulierte er für die<br />

„Wetterauer Zeitung“ folgenden Bericht für die Ausgabe<br />

vom 31. Dezember 1982, als die Silvester-Ausgabe.<br />

Dieser „Bericht“ lautete folgendermaßen:<br />

„›Mäusekuchen< als Silvesterschmaus<br />

- Ein jahrzehntelange-r Brauch zum Jahreswechsel,<br />

der nur noch in <strong>Reichelsheim</strong> gepflegt wird<br />

Kaum war die Hektik der Weihnachtstage überstanden,<br />

stand den <strong>Reichelsheim</strong>er Einwohnern erneut Betriebsamkeit<br />

ins Haus. Galt es doeh, zum Jahreswechsel<br />

Verwarıdtc und Bekannte nach alter Sitte mit einer<br />

lukullischen Rarität zu erfreuen, die seit Jahrzehnten als<br />

>Mäusekuchen< bekannt ist. Viele Geschichten ranken<br />

sich um dieses Backwerk, das unseres Wissens nur noch<br />

in <strong>Reichelsheim</strong> zu Silvester hergestellt wird.<br />

Vor Jahren versuchte der inzwischen 90jährige Lehrer<br />

Albert Nohl diesen ländlichen Brauch zu ergründen.<br />

Ohne seine Erfahrung wäre ein Bericht über den Mäusekuchen<br />

nicht denkbar. Als gründlicher Kenner der <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

Geschichte konnte aber auch er nicht genau<br />

ergründen, woher dieser >alte Brauch des Backens und<br />

Verzehrens des Mäusekuchens< stammt. Wenn wir aber<br />

davon ausgehen, daß er als alteingesessener <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

sehon vor Jahrzehnten Eltern, Bekannte oder ältere<br />

Mitbürger befragen konnte, so muß der Mäusekuchen<br />

eine weit über l00jährige Geschichte haben. Seit dieser<br />

Zeit entsteht dieser Kuchen nur ein Mal im Jahr, um in<br />

den folgenden 12 Monaten auf seine Wiedergeburt zu<br />

warten.<br />

Über die Entstehung des ›Mäusekuchens< muß man<br />

auch heute noch rätseln. Unter Berücksichtigung der<br />

Angaben von Albert Nohl läßt sich vielleicht die folgen-<br />

Herstellung eines „Miiusekuchens“ in der<br />

<strong>Reichelsheim</strong>er Bäckerei Capretti-Krieg/<<br />

203


de Entstehungsgeschichte rekonstruieren: Auf dem Lande<br />

war es Sitte, daß die Haushalte etwa zwei bis drei Wochen<br />

vor Weihnachten Hausschlachtungen vornahmen.<br />

Diese Hausschlachtungen dienten dazu, vor allem den<br />

Großfamilien mit den ›Tagelöhnern< den Nahrungsbedarf<br />

zu decken. Natürlich war das bevorstehende Weihnachtsfest<br />

für jedermann Anlaß genug für ein Schlachtfest.<br />

Die nach dem Schlachten übrige Bratwurst muß nun<br />

nach einem unbekannten ›Erfinder< zum Mäusekuchen<br />

verwertet worden sein. Jener Einwohner muß auf die<br />

Idee gekommen sein, die Bratwurst in Teig zu legen und<br />

zu backen. Wie man weiß, wurde neben der Hausschlachtung<br />

früher auch das Brot zumeist selbst gebakken,<br />

so daß der heutige ›Mäusekuchen< seine Entstehung<br />

vielleicht der Tatsache verdankt, daß beide vor dem<br />

Weihnachtsfest nötige Arbeitsgänge zusammen ausgeführt<br />

wurden: Die Wurst und der restliche Teig wurden<br />

im glühenden Ofen zu einem neuen Schmaus.<br />

Doch schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts brachte<br />

man den zu Hause hergestellten Kuchenteig mit der<br />

Wurst zum Bäcker. Der Teig mußte nur gewälzt und die<br />

frische oder leicht geräucherte Bratwurst eingewickelt<br />

werden. Naeh dem ›Aufenthalt< im Ofen sah der dunkelbraune<br />

Kuchen wie ein Landbrot aus. Schnitt man ihn<br />

quer durch, so sah man an der Schnittstelle ein Loch /zuweilen<br />

auch zwei), in dem ein Stück Bratwurst steckte.<br />

Der Zwischenraum zwischen Teig und Wurst ließ den<br />

Eindruck entstehen, als säße eine Maus in ihrem Loch.<br />

Und so hatte sich in der Bevölkerung <strong>Reichelsheim</strong>s über<br />

die Jahrzehnte der Begriff des ›Mäusekuchens< gefestigt,<br />

der neben seinem Ruf als Delikatesse auch wesentliche<br />

Bedeutung für das gesellschaftliche Leben gewann.<br />

Am Silvesterabend nämlich kam der Mäusekuchen auf<br />

den Tisch, wurde aber an den folgenden Tagen nicht nur<br />

im Familienkreis verzehrt, sondern früher auch in den<br />

›Spinnstuben


kuchen stiften mußte und die jungen Bohnenkaffee mitbrachten.<br />

So zog sich das Mäusekuchenessen zumeist<br />

eine ganze Woche im neuen Jahr hin, wobei neben Spinnen,<br />

Stricken und Kartenspielen wohl auch der eine oder<br />

andere Partner fürs Leben gefunden wurde.<br />

Vielleicht ist auch mit dieser Vermutung ein Grund gegeben,<br />

daß ein nach auswärts verzogener <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

am Jahreswechsel nicht auf seinen ›Mäusekuchen<<br />

verzichten wollte und sich von seinen Angehörigen einen<br />

ganzen Kuchen oder wenigstens einen Teil davon schikken<br />

ließ. Zum Jahreswechsel eine ausgesprochen<br />

schmackhafte Erinnerung an die Heimatgemeinde.“<br />

Eine engagierte <strong>Reichelsheim</strong>er Landfrau (Elli Schäfer)<br />

stellte vor einigen Jahren für die Sendung „Hessen 3<br />

unterwegs“ einmal das richtige Rezept zusammen.<br />

Zur Anregung sei es hier abgedruckt:<br />

„Zutaten:<br />

1 Pfund Mehl,<br />

50 g Zucker,<br />

80 g Schweinesehmalz,<br />

1 Würfel Hefe,<br />

1/4 l Milch,<br />

1 geräucherte Bratwurst (40 cm lang).<br />

Zubereitung:<br />

Aus Mehl, Zucker, Fett, Hefe und Milch einen Hefeteig<br />

kneten, gehen lassen und ca. 1/2 em dick ausrollen. Die<br />

geräucherte Bratwurst darin ausrollen. Den Mäusekuchen<br />

auf ein gefettetes Backblech legen, mit dem Küchenmesser<br />

einstechen und nochmals gehen lassen. Bei<br />

Mittelhitze 45 Minuten backen. Der heiße Kuchen wird<br />

mit kaltem Wasser abgepinsel (›gefrischt


4. Von Petschau und anderswo nach <strong>Reichelsheim</strong><br />

- ein Weg in eine neue Heimat<br />

„Am 25. Juni 1966 sind es zwanzig Jahre, daß wir, aus<br />

unserer Heimat Petschau kommend, hier als Heimatvertriebene<br />

aufgenommen wurden.<br />

Wir haben hier in <strong>Reichelsheim</strong> eine neue Heimat gefunden<br />

und sind mit ihr fest verwurzelt. Das bezeugt, daß<br />

wir nun schon zwanzig Jahre hier wohnen.<br />

Für das uns damals und auch weiterhin entgegengebrachte<br />

Vertrauen und Entgegenkommen sagen wir lhnen<br />

und allen <strong>Reichelsheim</strong>ern herzlichsten Dank.<br />

Im Auftrag der ._ _ 30 ehemaligen Petschauer<br />

gez. Franz Hubl - Altbürgermeister der Stadt Petschau.“<br />

So schrieben 1966 30 ehemals Vertriebene aus der heutigen<br />

Tschechoslowakei an den Bürgermeister und den<br />

Stadtverordnetenvorsteher Otto und Willi Nohl der<br />

Stadt <strong>Reichelsheim</strong>.<br />

Ein schöner Brief, ein Brief, der aber gewiß auch<br />

manch eine unschöne Erinnerung verdrängte. Aber insgesamt<br />

ein Brief, der zeigt, daß sich die Petschauer wie<br />

viele andere Heimatvertriebene und Flüchtlinge auch,<br />

die <strong>Reichelsheim</strong> nach dem entsetzlichen Kriege als<br />

Wohnort zugewiesen bekamen, hier „einlebten“. Mehrere<br />

hundert Menschen aus den östlichen Teilen des<br />

Siedlungsraumes der Deutschen kamen in diesen kleinen<br />

Ort, kamen hierher, in einen „geschlossenen Ort“, einen<br />

Ort mit festen Strukturen und traditionellen Verhaltensweisen.<br />

Sie kamen hierher, meist noch nicht realisierend,<br />

daß sie ihre alte, ihre gewohnte und geliebte Heimat nie<br />

wieder sehen würden - sie kamen hierher in der Hoffnung,<br />

hierfür eine Übergangszeit ohne Angst überleben<br />

zu können.<br />

Doch als ihnen klar wurde, daß sich der „Eiserne Vorhang“<br />

zwischen West und Ost für sie nie wieder derart<br />

öffnen werde, daß sie wieder heimkehren könnten, da<br />

entfalteten sie hier ihre Aktivitäten, packten sie hier ihr<br />

Schicksal „am Schopfe“.<br />

Die <strong>Reichelsheim</strong>er versperrten sich ihnen im großen<br />

und ganzen nicht. Sie wußten Arbeit zu schätzen und<br />

schätzten deswegen all die, die bereit waren zu arbeiten.<br />

Als sie z. B. sahen, daß und vor allem WIE die „Neubürger“<br />

die ihnen zur Verfügung gestellten Gärten bearbeiteten,<br />

wie diese sich untereinander halfen, um die größte<br />

Not zu besiegen, wie dankbar sie waren, wenn man ihnen<br />

am Ort Arbeit und damit eine geringe Verdienstmöglichkeit<br />

gab - da waren die Alteingesessenen auch bereit,<br />

sich zu öffnen, die Neuen zu akzeptieren, sie tatsächlich<br />

als Mitbürger anzuerkennen.<br />

Bald wurden die ersten Pläne entworfen, um vermehrten<br />

Wohnraum zu schaffen. Die ersten Häuser im Bereich<br />

„Haingraben“ entstanden; dann - Mitte der 50er<br />

Jahre - die gesamte Siedlung zwischen Feuergraben, Sudetenstraße,<br />

Friedensstraße und Hans-Geis-Küppel.<br />

Wie gut das Verständnis auch damals sehon war, das verdeutlicht<br />

die Tatsache, daß sich auch Alt-<strong>Reichelsheim</strong>er<br />

- mit Erfolg - um Grundstücke in diesem Wohngebiet bewarben.<br />

„Berührungsängste“ gab es also schon nach wenigen<br />

Jahren nicht mehr. Dies verstärkte die Intregration der<br />

Heimatvertriebenen und Flüchtlinge. Eine Ghettobildung<br />

fand nicht statt. Wie sehr die Neubürger „Ja“ zu dieser neuen<br />

Heimat sagten, zeigten ihre Aktivitäten in den Vereinen<br />

und in den kommunalpolitisehen Organen der Stadt, vor<br />

allem der Stadtverordnetenversammlung.<br />

Heute? Heute spricht ein Teil der Kinder der Heimatvertriebenen<br />

aus dem Sudetenland oder Schlesien, aus<br />

Ost- oder Westpreußen, aus Pommern oder Siebenbürgen<br />

besseres <strong>Reichelsheim</strong>er Platt als die Kinder der Alt-<br />

Bürger. Heimat ist der Ort allerdings nunmehr für die<br />

Kinder beider Bevölkerungsgruppen - dies wohl auch<br />

deswegen, weil sie alle wissen, daß durch die Arbeit ihrer<br />

Eltern <strong>Reichelsheim</strong> seit 1945 sich mehr verändert hat als<br />

in vielen Jahrhunderten zuvor.<br />

206


5. Hynmen und Gedichte an die Heimatstadt <strong>Reichelsheim</strong><br />

Manch einem unter uns Zeitgenossen mag es vielleicht<br />

merkwürdig erscheinen, wenn man über den Heimatoder<br />

Wohnort ein Gedicht vorgelegt oder gar vorgelesen<br />

bekommt. Aber warum eigentlich? Derartige Verse<br />

drücken doch ein positives Gefühl gegenüber der Heimatgemeinde<br />

aus, sagen Dank für die Erlebnisse, die<br />

man vor allem in der eigenen Kindheit und Jugend in<br />

„ihren Mauern“ haben durfte. Darf man Dankbarkeit,<br />

ganz individuell ausgeprägte Dankbarkeit nicht zeigen,<br />

nicht niederschreiben und anderen Menschen mitteilen?<br />

Es existieren drei Gedichte, eines davon hat sogar die<br />

Überschrift „Hymne“, von denen hier zwei wiedergegeben<br />

werden. Zwei der drei dichtete Wilhelm Muhl, der<br />

1871 in <strong>Reichelsheim</strong> geboren worden war. Er verließ<br />

zwar schon nach der Schulzeit im Jahre 1885 seinen Geburtsort,<br />

um Lehr- und dann Arbeitsstelle in verschiedensten<br />

Städten in Deutschland anzunehmen; doch in<br />

Gedanken blieb er <strong>Reichelsheim</strong>er. Nahezu 80jährig<br />

wandte er sich an den damaligen Bürgermeister Marloff<br />

und sandte ihm ein in heimisehem Dialekt geschriebenes<br />

Gedicht, was bewies, daß er nach all den Jahrzehnten seine<br />

„Muttersprache“ nicht vergessen bzw. verlernt hatte.<br />

Wenig später übersandte er Bürgermeister Marloff ein<br />

zweites Werk, allerdings in Hochdeutsch verfaßt, was<br />

aber wiederum seine innere Verbundenheit mit <strong>Reichelsheim</strong><br />

verdeutlichte.<br />

Damit jenes Mundartgedicht von Wilhelm Muhl nicht<br />

im Archiv der Stadt verstaubt, sei es hier ebenso abgedruckt<br />

wie jenes von Adolf Maley, einem heimischen<br />

Landwirt, der von seiner Geburt im Jahre 1898 bis zu seinem<br />

Tode im Jahre 1983 hier lebte.<br />

H à í m w i e h<br />

(Wilhelm Muhl)<br />

Schund goarschelang iés wirrer her,<br />

Wäi aich ién Reihlsem woar,<br />

Weil väiles geng ién die Quer<br />

Sé öffne des Stoadt-Tor.<br />

Die Morrersprog velent mer näid<br />

voh àím zoum annen Dog;<br />

Mer muß do siénge väil á Läid<br />

ién seiner Morrersprog.<br />

Daß uhs als Kiend ies iéngebregt,<br />

Kann mer näid vergiässe,<br />

Wann aag des Hàímwieh uhs uffregt,<br />

Domet derf mer näid measse.<br />

Des Hàímwieh deat maich quehle oarg,<br />

Aich glaab, aich weann noch krank;<br />

Bestänn brauch aich dadrinn kän Soarg,<br />

Zoum Sterwe iés noch lang.<br />

Etz sài aich öwwser doch so weit<br />

Se gieh nog Reihelsem,<br />

de Fialdweg ie's näid goascheweit,<br />

Mér gieht iwwer Weckelsem.<br />

Wäi aich do kohm bei Weand ean Storm<br />

O Heuchelem vebei,<br />

Konnt aich schund sieh de ronde Torm,<br />

ohm Kirchhob ganz nohbei.<br />

Die Steag, wu weann dann däi etz sài?<br />

Kahn Stoag hunn aich eándeckt,<br />

Däi weann gewiéß wuh annesch sài<br />

Owwer däi hunn sich vesteggt.


Vom Neast söh mer bahl goanaut mich,<br />

Doas sài goar schlägte Sache.<br />

Aich glaab, do lacht doas Ferrervieh.<br />

Wann mir és Neast au mache.<br />

Wu kehme dann die Kienn all her,<br />

Wann uhse Steag näid weann?<br />

Do kennt mer laafe kreuz ién quer<br />

Eann kennt do doch kah fiénn.<br />

Etz geng aich wirrer weirer fott<br />

Met meine meure Bàh,<br />

Aich wollt de ahle Krätzerdott<br />

Döch aage Gemoje sàh.<br />

Sé woar iém Goate schund ganz freuh,<br />

eann göb dé Heuer Freasse,<br />

Donog geng äi noch bei de Keuh,<br />

Däi doat se' näid vegeasse.<br />

Di Krätzerdott wear goanäid faul,<br />

Se ärwet immerzou,<br />

Sé ärwet immer wäi à Gaul,<br />

Noch mie als wäi à Kouh.<br />

Di Dott woar immer gout zou mir.<br />

Gout wäi à ahjen Morrer,<br />

Sé lud maich immer ién zou ihr,<br />

Sé easse Weck met Borrer.<br />

So gout wäi uhse Krätzerdott<br />

woan all die Frahe - ién<br />

Uhsem schiene Hàímetsott<br />

fier Ahle ién fier Kienn.<br />

Oh Reihelsem, dou Hàímetsott<br />

Deaf aich Daich wirrersieh?<br />

Om läibste do megt aich sofott<br />

Zou dir noch àh-mohl gieh!<br />

(Hinweis: Vokale mit ` gekennzeichnet werden lang ausgesprochen,<br />

jene mit ' gekennzeichnet kurz)<br />

<strong>Reichelsheim</strong> (AdolfMaley)<br />

<strong>Reichelsheim</strong>, dich will ich preisen<br />

Heimatstädtchen, lieb und wert,<br />

Dir, dir gelten meine Weisen<br />

Bist ein fruchtbar Flecken Erd.<br />

Bauernfleiß und Saat und Sonne<br />

weben in der Sommerzeit.<br />

Es zu schau`n ist eine Wonne<br />

Deiner Fluren schönstes Kleid.<br />

Richolf hat in alten Zeiten<br />

Hier gebaut, das ist bekannt. _.<br />

Und man hat den Ort bescheiden.<br />

nach ihm Rieholfsheim benannt.<br />

Und er mehrte sich und blühte<br />

Nährte seine Bürger gut,<br />

Denn sein Boden hatte Güte.<br />

Seine Bürger Lebensmut.<br />

Jahre gingen, .lahre kamen,<br />

Ach sie flossen schnell dahin.<br />

Richelsheim war jetzt dein Name.<br />

Bürgerfleiß und Arbeitssinn<br />

Bauten Mauern, Tore, Türme<br />

Ragend in des Himmels Blau.<br />

Trotzten schweren Zeiten Stürme<br />

Grüßen still die Wetterau.<br />

Grüßend schaut es in die Ferne<br />

Unser liebes <strong>Reichelsheim</strong>.<br />

Ja, wir loben dich so gerne,<br />

Unser Städtchen, unser Heim.<br />

Wünschen ihm für alle Zeiten<br />

Wachsen, Blühen und Gedeih`n.<br />

Sehlimmes möge dich stets meiden<br />

Lang bestehe <strong>Reichelsheim</strong>!<br />

208


6. Abschließende Frage: Was heißt das eigentlich:<br />

„<strong>Reichelsheim</strong>er Stehkragenbauer“?<br />

Wer sich in den Nachbarorten nach <strong>Reichelsheim</strong> und<br />

die <strong>Reichelsheim</strong>er erkundigt, der wird möglicherweise<br />

gesagt bekommen, dort lebten die „Stehkragenbauern“,<br />

zu hochdeutsch: die „Feinen auf dem Kutschbock“!<br />

Manche werden das hämisch/abschätzig und mit einem<br />

„gewissen“ Unterton sagen - so wie nun einmal über die<br />

Leute „auf der anderen Seite des Grabens“ gesprochen<br />

wird . _ .<br />

Und wenn man dann nach <strong>Reichelsheim</strong> kommt und<br />

die Menschen hier nach der Bedeutung oder der Herkunft<br />

dieser Bezeichnung fragt, dann wird man entweder<br />

(meist) ein Schulterzucken als Antwort auf diese Frage<br />

bekommen oder aber man wird folgendes erleben: Der<br />

angesprochene <strong>Reichelsheim</strong>er - es kann in dem Fall nur<br />

ein Alt-<strong>Reichelsheim</strong>er im Rentenalter sein - wird sich<br />

gerade aufrichten, tief durchatmen, auf dem Stuhl nach<br />

hinten rücken und dann mit ernstem Gesicht beginnen:<br />

„Also, das mit den Stehkragenbauern, das ist den heutigen<br />

Menschen nicht leicht zu erklären, weil das nur durch<br />

einen Rückblick in unsere Vergangenheit erklärt werden<br />

kannl“<br />

Tja, und dann wird unser Gesprächspartner oder besser:<br />

unser Erzähler mit einem „Intensivkurs <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

Geschichte“ begründen, warum das Wort „Stehkragenbauer“<br />

auf jeden Fall kein Schimpfwort ist, sondern<br />

eine sachliche Kennzeichnung des <strong>Reichelsheim</strong>er Ortsbauern<br />

früherer Zeit. Vielleicht erfährt der Zuhörer<br />

dann z. B. folgendes:<br />

Für Kaufleute, die aus dem Norden und Nordosten<br />

über den Vogelsberg herunter nach Frankfurt zogen, ist<br />

<strong>Reichelsheim</strong> der letzte feste Platz vor dem Ziel gewesen.<br />

Gar manchmal, wenn die Bauern vom Feld mit ihren<br />

Ackerwagen heimfuhren, zogen mit ihnen auch die Wagen<br />

der reisenden Kaufleute in die Stadt ein, um Schutz<br />

und Unterkunft für die Nacht innnerhalb der starken<br />

Stadtmauern zu suchen. An der breiten Hauptstraße und<br />

einzelnen Nebengassen (z. B. Schweizergasse) waren gute,<br />

behäbige Gastwirtschaften mit großen Höfen. Da<br />

stellte der Fuhrknecht unter, dieweil die Herren ins<br />

Wirtszimmer gingen und Essen und Trinken bestellten.<br />

Dann fanden sich auch die <strong>Reichelsheim</strong>er ein, und alle<br />

waren froh und guter Dinge. Dabei erzählte man von Begebenheiten<br />

aus nah und fern und suchte Kurzweil, vor<br />

allem aber Unterhaltung. Da waren die <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

zu der lebenslustigen, spottsüchtigen Art gekommen, die<br />

sie auch heute oft nicht lassen können („<strong>Reichelsheim</strong>er<br />

Spötter“). Aber sie wurden auch durch diesen Verkehr<br />

zu Menschen, die einen weiteren Blick als ihre Nachbarn<br />

haben, denn sie blieben so immer auf dem Laufenden<br />

(Diese Darstellung ist- sprachlich leicht abgeändert -jene,<br />

die W. Coburger in: „Der Weg der <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

Kirche durch 5 Jahrhunderte“, S. 41, niederschrieb).<br />

Aber nicht allein die Tatsache, daß man glaubte, durch<br />

die stationmachenden Kaufleute über das Geschehen in<br />

der Welt besser unterrichtet zu sein als die Menschen in<br />

den abgelegeneren Nachbargemeinden, führte zu dem<br />

Bewußtsein, daß man sich abheben könne, ja: müsse. Es<br />

war vor allem das „Städtische“, das <strong>Reichelsheim</strong> nun<br />

einmal ausgemacht hatte, das es über mehrere Jahrhunderte<br />

geprägt hatte und auf das die <strong>Reichelsheim</strong>er, und<br />

nicht nur die reichen und die reicheren unter ihnen, ehrlich<br />

stolz waren. Verneinen wollte man dieses Gefühl,<br />

Stadt-Mensch zu sein, wahrlich nicht; im Gegenteil:<br />

Manch ein Bauer ist nach glaubwürdigen Berichten Anfang<br />

dieses Jahrhunderts nur dann vom eigenen Hofgegangen<br />

oder gefahren , wenn ihm zuvor seine Bäuerin bestätigt<br />

hatte, das „der Binder“ bzw. „die Schleife“ um<br />

den weißen Stehkragen gerade sitzt! Oder sollte man<br />

nicht mehr zeigen dürfen. wer man war und woher man<br />

kam?<br />

209


Daß sich dieser Begriff auch im Ort unterschiedlicher<br />

Interpretationen „erfreute“, das lag wohl mit daran, daß<br />

es zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen, zwischen<br />

den „Reichen“ und „Armen“ vor allem, lange Zeit<br />

eindeutige Distanz gegeben haben soll: Die einen gingen<br />

in die eine, die anderen in die andere Wirtschaft - zusammen<br />

saß man nicht unbedingt aus freien Stücken, so, wie<br />

es schon in der Geschichte vom „Hexenmeister von <strong>Reichelsheim</strong>“<br />

von Karl Becker beschrieben wurde oder wie<br />

Lehrer Keller es 1935 in seiner Chronik über die Vereine<br />

<strong>Reichelsheim</strong> bezüglich des „Herrenzimmers“ in der<br />

Gaststätte „Zur Post“ angedeutet hatte.<br />

Der Zuzug der Vertriebenen und dann der der „Großstadtflüchtlinge“<br />

sowie der allgemein gewachsene Wohlstand<br />

ließen die gesellschaftlichen Grenzen innerhalb<br />

der Bevölkerung fallen - ein Grund dafür, daß nur noch<br />

wenige unter uns, die wir heute dieses Buch lesen, etwas<br />

mit dem Begriff „<strong>Reichelsheim</strong>er Stehkragenbauer“ anfangen<br />

können.<br />

Ist das zu bedauern?<br />

210


Anhang:<br />

Flur- und Gewann-Namen aus dem Schatzungsbuch von 1734 bzw. 1721<br />

(zusammengestellt von H. Keller)<br />

Die Namen von Fluren und Gewannen sagen viel über<br />

die früheren Zeiten eines Ortes aus. Wo heute Felder<br />

stehen, verrät der erhalten gebliebene historische Name,<br />

daß dort vielleicht einmal ein See war oder Gärten oder<br />

nasse Wiesen lagen. Das Studium einer Flurkarte ist für<br />

einen geschichtlich orientierten Bürger deswegen unbedingt<br />

„Pflicht“.<br />

Im <strong>Reichelsheim</strong>er Stadtarchiv befindet sich aus dem<br />

Jahre 1858 in der Abteilung II, Konvolut 3, Faszikel 13<br />

das „Namensverzeichnis der verschiedenen Teile der<br />

Gemarkung mit offiziellen Namen und Namen in der<br />

Volksaussprache“.<br />

Dieses sehr wichtige Dokument wartet noch darauf,<br />

einmal intensiv aufgearbeitet zu werden.<br />

Vor einigen Jahrzehnten hat sich Albert Nohl, in <strong>Reichelsheim</strong><br />

geboren und <strong>Reichelsheim</strong>er geblieben, auch<br />

wenn er die meiste Zeit seines Lebens in Oppenheim als<br />

Lehrer wirkte, die Mühe gemacht und alle Flur- und Gewann-Namen<br />

aufgelistet.<br />

Vor ihm hat sich auch der schon mehrfach zitierte Lehrer<br />

Heinrich Keller im Rahmen seiner „Heimatchronik“<br />

mit diesem Themenkomplex beschäftigt. Da seine Auflistung<br />

aus dem Jahre 1935 am übersichtlichsten ist, sei sie<br />

hier für alle Interessierten abgedruckt:<br />

Flur I (Acker, Baumstücke und Wiesen):<br />

Auf dem alten Dorf Hinter der Mühl<br />

In den Hasengärten Auf dem Oberwirr<br />

Hinter den Stammgärten In den untersten Wiesen<br />

Die Haingärten<br />

Auf der Roßgasse<br />

Hinter der Gänspfuhl Die Gänswiese<br />

Die Lehngärten (neu !) Auf dem Hain<br />

Der Oberhain Die nassen Gärten (neu !)<br />

Flur II:<br />

Im Mühlahl<br />

Auf der Oberbeunde<br />

( = beune)<br />

Der mittelste Ortenberg<br />

Flur III:<br />

Am Weckesheimer Weg<br />

Flur IV:<br />

Beim Henkbaum<br />

Am Katzenloh<br />

Am Hansgeißküppel (neu)<br />

Am Friedberger Weg<br />

Flur V:<br />

Im Schnellensee<br />

Im Ahl<br />

An der Teufelsmutter<br />

(neu !)<br />

Am hintersten Pfluggewann<br />

Flur VI:<br />

Beim Massenheimer Pfad<br />

(alt)<br />

Beim Großen See<br />

Im Zehntfreien Gewann<br />

Flur VII:<br />

Die Kettenweiden<br />

Am spitzen Stein<br />

Auf dem Plaul<br />

Am Massenheimer Zehnten<br />

In den sieben Gräben<br />

Auf dem vordersten<br />

Ortenberg<br />

Unterbeunde.<br />

Heuchelheimer Hohl<br />

Der hinterste Ortenberg<br />

Auf der Schanze<br />

Am Schützensee<br />

Am Pflugweg<br />

Bei der Lehmkaute<br />

In den Gänsgräben<br />

Im Pfeifensack<br />

Die Schmalzäcker<br />

Im Kleinen See<br />

Beim Großen Seebrucklein<br />

(alt)<br />

Im Schweichert<br />

Am Bernhardspfad<br />

Am Schlag<br />

In den Pfingstgärten<br />

Bei der Flurscheid


Flur VIII:<br />

Am Bauchbornsgraben<br />

(neu)<br />

Am Grasweg<br />

In den Fuchslöchern<br />

Im Wolfgartensee<br />

Aufdem Berg<br />

Im langen Gewann<br />

Im Weinberg<br />

Beym Kuhbrücklein<br />

Beym Sauerbronnensteg<br />

Hinter der Gült<br />

Beim Pfeifensack<br />

Hinter den Girrn<br />

Aufs Galgenhaus<br />

Am Weyergarten<br />

Auf der Hohl<br />

Flur IX:<br />

Am Galgenpfad<br />

In den Galgenwiesen<br />

Im Mähried<br />

Flur X:<br />

Am Florstädter Weg<br />

Flur XI:<br />

Am Bärbehain<br />

Am Großensee-Weg (alt)<br />

Aufder Mittelbeunde<br />

Flur Xll:<br />

Der Kuhweg (alt)<br />

Die Unterbeunde<br />

Die untersten Wiesen<br />

Bei der Glockenwiese<br />

Hinter den Hütten<br />

Flur XIII:<br />

Auf dem Oberwirr<br />

Auf dem Unterwirr<br />

In den Weidländern<br />

Im Galgengrund<br />

Im Riegel<br />

Auf der Platte<br />

Beim Heiligenhaus<br />

Am Beunderain<br />

Die sauren Wiesen<br />

Hinter dem Entenfang<br />

Die Weideneek<br />

Hinter der Höh<br />

Beim Ulmensteg<br />

Alte, ausgestorbene Flur- und Gewann-Namen:<br />

Beim Krackesteg Auf den Feuergräben<br />

Bey der Bauehborn Auf der Landwehr<br />

Bey Kaysers Weiden Bey den Zänkweiden<br />

Beym Kolbenbronnen In den sieben Gräben<br />

So weit die Darstellung von Heinrich Keller.<br />

Einige Gewann-Namen lassen den Leser gewiß<br />

stutzen:<br />

„Heiligenhaus“? In der Auflistung von 1858, die wie<br />

erwähnt im Stadtarchiv lagert, heißt es dazu: „Es soll<br />

ehemals in derselben ein Heiligenhaus gestanden haben.<br />

„Massenheimer Pfad“ ? Dorn-Assenheim hieß früher<br />

einmal „Massenheim“.<br />

„Henkbaum“? Dazu heißt es 1858 als Erläuterung:<br />

„Der District soll seinen Namen daher haben, daß<br />

ehemals Jungen, die dort Vieh gehütet, sich abwechselnd<br />

an einen Baum aufgehangen und wieder losgemacht<br />

haben. Als aber ein Has gekommen und die<br />

Jungen solchem nachgelaufen, hing derjenige, weleher<br />

gerade Wache hatte, bei der Rückkunft der anderen<br />

leblos am Ast.“<br />

„Massenheimer Zehnte“? „Der Zehnte aus diesem<br />

District gehörte ehemals dem Freiherrn von Frankenstein<br />

als Herr zu Dorn-Assenheim“.<br />

„Bei der Glockenwiese“? Obwohl manch eine der<br />

<strong>Reichelsheim</strong>er Glocken in <strong>Reichelsheim</strong> von einem<br />

angereisten Glockengießer gegossen worden ist, hat<br />

dieses Gewann seinen Namen nicht daher, sondern:<br />

„Als ehemaliger Besoldungstheil des Glöckners so<br />

genannt“, heißt es in der offiziellen Darstellung von<br />

1858.<br />

„Hinter den Girrn“ ? Früher „Gürn“ genannt. - Dazu<br />

hieß es: „Mehrer dreieckige Stücke, welche mit den<br />

212


spitzen Winkel auf einen Punkt zusammenstoßen.“<br />

- „Pfeifengewann“? Früher wohl „Pfaffengewänd“ genannt.<br />

„Diese Gewänd gehörte früher dem Kloster<br />

Arnsburg“, heißt es 1858.<br />

Wie gesagt: Die Namen der Fluren und Gewanne gehören<br />

intensiv erforscht, weil sie uns über <strong>Reichelsheim</strong><br />

viel verraten. Nicht immer kann man genau erkennen,<br />

was gemeint ist, weil sich die Namen änderten, weil der<br />

inhaltliche Bezug durch geschichtlichen Wandel verloren<br />

ging. Auch gibt es in zwischen den verschiedenen Darstellungen<br />

der Gewannbenennungen Abweichungen,<br />

die auf Klärung warten.<br />

Aber auf eines sei noch hingewiesen: Sehr oft taucht in<br />

allen Auflistungen die Bezeichnung „See“ auf: Großer<br />

See, Kleiner See, Sehnellesee, Schützensee, Wolfgartensee<br />

usw. Das „Mähried“ wird auf einer alten Karte als<br />

„Meerried“ bezeichnet. Wasser, so kann man daraus<br />

schließen, gab es in früheren Jahrhunderten in der <strong>Reichelsheim</strong>er<br />

Gemarkung mehr als genug: Die Drainierungen<br />

der Wiesen und Felder, die Begradigung der<br />

Horloff, die Grabung des Flutbaches haben unsere<br />

Landschaft gravierend und unwiederbringlich verändert.<br />

Gut für die Landwirtschaft- schlecht z. B. für die einstmals<br />

hier heimischen Störche.<br />

213


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