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Die Befreiung vom Bildschirm

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76 Wirtschaftsinformatik Schweiz<br />

Live Paper<br />

<strong>Die</strong> <strong>Befreiung</strong> <strong>vom</strong><br />

<strong>Bildschirm</strong><br />

An der Fachhochschule Nordwestschweiz wird an Technologien für den Bankberater<br />

der Zukunft geforscht. Er kommt ohne <strong>Bildschirm</strong> aus. Stattdessen<br />

arbeitet er mit dem «Live Paper».<br />

Von Doris Agotai<br />

Beratung stetig zu verbessern und durch die Möglichkeiten<br />

der Digitalisierung zu unterstützen. Gemeinsam mit der<br />

FHNW erfolgten Kooperationen, die untersuchten, wie Beratungsgespräche<br />

durch Simulation und Visualisierung so<br />

gestaltet werden können, dass die Kunden ein besseres Verständnis<br />

für die Zusammenhänge erlangen und somit auch<br />

Vertrauen in die Produkte fassen. Hier kommt Design Thinking<br />

ist Spiel: Entlang eines nutzerzentrierten Prozesses<br />

wurden Beratungsgespräche analysiert, iterativ Ideen entwickelt,<br />

prototypisch umgesetzt und evaluiert. <strong>Die</strong> erste Tablet-Lösung,<br />

die vor bald fünf Jahren aus dieser Entwicklung<br />

hervorging, entspricht dem, was sich heute bei vielen<br />

Banken etabliert hat.<br />

Weitere Untersuchungen ergaben aber, dass der Einsatz<br />

von Tablets die Qualität der Beratungsgespräche signifikant<br />

beeinträchtigen kann. Während Berater bisher geschult waren,<br />

im direkten Dialog mit ihren Kunden Lösungen zu entwickeln,<br />

waren plötzlich alle Blicke auf die neuen Geräte gerichtet.<br />

<strong>Die</strong> Gespräche führten entlang der vor gegebenen<br />

Menüs und verloren die persönlichen Qualitäten eines direkten<br />

Austauschs. Zeitgleich forschte das IIT an Möglichdie<br />

autorin<br />

Professorin: Doris Agotai<br />

ist Leiterin des Instituts<br />

für Interaktive Technologien<br />

an der Fachhochschule<br />

Nordwestschweiz<br />

FHNW in Windisch. Sie hat<br />

unter anderem das Projekt<br />

«Live Paper» geleitet.<br />

www.fhnw.ch<br />

<strong>Die</strong> Digitalisierung ist omnipräsent – sie bietet Neues,<br />

verbessert Bestehendes und ermöglicht tiefgreifende<br />

Einblicke dank intelligenter Auswertung<br />

grosser Datenmengen. Gleichzeitig löst sie Umbrüche aus,<br />

sorgt damit für Verunsicherung und führt zu Widerständen.<br />

Sie weckt Sehnsüchte nach dem Authentischen, nach sinnlichen<br />

Erlebnissen und direkten Begegnungen. Und sie bietet<br />

letztlich die Gelegenheit, uns auf bestehende Quali täten<br />

zurückzubesinnen und nicht alles vorbehaltslos der technisch<br />

machbaren Virtualisierung zu überlassen. An dieser<br />

Schnittstelle setzt «Live Paper» an: <strong>Die</strong> Technologie versucht,<br />

richtiges Papier oder einen normalen Tisch zum<br />

Leben zu erwecken, und damit die Vorteile beider Welten<br />

miteinander zu verschmelzen.<br />

Was ist «Live Paper»?<br />

Das «Live Paper» ist eine neuartige Beratungsumgebung,<br />

die bewährte Pencil-Selling-Strategien flexibel mit den<br />

Möglichkeiten digitaler Dokumentation, Simulation und<br />

Visualisierung verbindet. Technologisch ist «Live Paper» ein<br />

interaktives Aufprojektions-Setup, das mit dreidimensionalen<br />

Trackingtechnologien einen normalen Tisch oder ein<br />

einfaches Blatt Paper in ein Touchdisplay verwandelt. Und<br />

schliesslich eröffnet «Live Paper» als neuartiges Interface<br />

viele Gestaltungsmöglichkeiten, indem es die Grenzen der<br />

bildschirmbasierten Interfaces aufbricht und die virtuelle<br />

mit der realen Welt verschmilzt.<br />

Customer Experience Design<br />

Bis es soweit war, mussten einige Hürden genommen werden.<br />

Erster Schauplatz ist das Institut für Interaktive Technologien<br />

IIT, das in der Informatik an der FHNW Interface-<br />

Lösungen erforscht und entwickelt. Dabei geht es um Fragen,<br />

wie der Übergang von der physischen in die virtuelle<br />

Welt gestaltet wird – im 2D- oder im 3D-Bereich –, welche<br />

Interfaces diesen Raum strukturieren, wie Informationen<br />

visualisiert werden und natürlich, wie Mensch und Computer<br />

interagieren. Zweiter Schauplatz ist die Hypothekarbank<br />

Lenzburg, die neben dem Bankgeschäft auch ihre eigene<br />

Software entwickelt. Ihr Anliegen ist es, die persönliche<br />

«Digitalisierung<br />

weckt<br />

Sehnsüchte<br />

nach sinnlichen<br />

Erlebnissen»<br />

Doris Agotai, FHNW<br />

Bild: FHNW


77<br />

re nonesse quodic temquis ullent fuga. Sediam quid.<br />

keiten, wie normale Tische über Aufprojektion und Tracking<br />

in interaktive Flächen verwandelt werden können. Gemeinsam<br />

mit dem dritten Partner, der Universität Zürich, und<br />

dessen grosser Expertise in der Banken-IT wurde ein KTI-<br />

Projekt gestartet. <strong>Die</strong>ses Projekt hatte das Ziel, eine neuartige<br />

Beratungsumgebung zu entwickeln, und wurde von<br />

der damaligen Kommission für Technologie und Innovation<br />

(KTI) <strong>vom</strong> Bund – heute Innosuisse – gefördert. Nach<br />

mittlerweile zwei Jahren ist dieses Projekt erfolgreich abgeschlossen<br />

und der Pilotbetrieb von «Live Paper» läuft.<br />

Calm Computing<br />

Im Rahmen von «Live Paper» ist eine interaktive Umgebung<br />

entstanden, wie sie Mark Weiser schon zu Zeiten von Xerox<br />

Parc 1996 als «Calm Computing» propagierte. Ihm ging es<br />

darum, die sichtbare Hardware wo möglich zu verbannen<br />

und die Aufmerksamkeit auf die Interaktion und Information<br />

selbst zu lenken. Mit dem Aufkommen hochauflösender<br />

Kamera- und Projektortechnologien kann dieses Paradigma<br />

heute realisiert werden. Für «Live Paper» ermöglichte<br />

ein 4K-Beamer eine hochauflösende Projektion auf einer<br />

normalen Tischoberfläche, die auch bei Tageslicht eine<br />

scharfe Darstellung kleiner Texte zulässt. Komponenten aus<br />

dem Game-Bereich wie Microsofts Kinect boten mit der Tiefenbildkamera<br />

die Grundlage, um mittels Computervision<br />

ein Fingertracking zu entwickeln und so Touch Events auf<br />

dem Tisch abzufangen. Weitere Elemente wurden integriert,<br />

um vielfältige Interaktionen anzubieten: Papiererkennung<br />

erlaubt, projizierte Inhalte durch eigene Skizzen<br />

zu ergänzen. Schrifterkennung ermöglicht, Zahlen und<br />

Inhalte zu erfassen und für die Applikation verfügbar zu<br />

machen. Objekte wie das Haus-Token werden erkannt und<br />

steuern die Interaktion mit einer Karte. Schliesslich ist «Live<br />

Paper» als modular aufgebaute Webapplikation konzipiert,<br />

die für die jeweiligen Themen Beratungsmodule in Form<br />

von Apps bereithält und so dem Berater freie Hand über die<br />

Gestaltung und Abfolge des Gesprächs lässt.<br />

Mixed Reality<br />

Interessante Erkenntnis aus dieser neuen Umgebung ist<br />

die neu gewonnene Flexibilität: <strong>Die</strong> Berater entscheiden,<br />

wann digitaler Content unterstützt und wann die physische<br />

Präsenz gefordert ist. Token, die auf dem Tisch liegen und<br />

zum Beispiel das Erproben verschiedener Hypothekenmodelle<br />

erlauben, laden den Kunden ein, selbst Szenarien<br />

durchzuspielen. Sie aktivieren die Kunden und tragen damit<br />

zu einem besseren Verständnis der Inhalte bei. Das<br />

Haus-Token wiederum ist als Metapher ein Stellvertreterobjekt<br />

für die Wünsche der Kunden und verortet das jeweilige<br />

Wunschobjekt direkt auf der Karte. <strong>Die</strong> Papiere schliesslich<br />

dienen nicht nur der Darstellung, sondern unterstützen<br />

auch die Auslegeordnung relevanter Themen.<br />

Mit Mixed-Reality-Technologie ist es hier gelungen, ein<br />

neues Interface zu entwickeln, das die Grenzen des <strong>Bildschirm</strong>s<br />

aufbricht und einen Gestaltungsraum eröffnet, der<br />

sich rein durch die Inhalte definieren lässt. «Dank ‹Live<br />

Paper› können wir unsere Kunden aus der digitalen Welt<br />

wieder abholen und in die analoge Welt vis-à-vis zurückführen.<br />

<strong>Die</strong>se Kombination von Innovation und Tradition<br />

nennen wir bei der Hypi: Tradivation», sagt André Renfer<br />

von der Hypothekenbank Lenzburg.<br />

Zwischenzeitlich sind auch weitere Produkte auf dem<br />

Markt, die interaktive Aufprojektion ermöglichen. Dazu gehört<br />

beispielsweise der Sony-Projektor Xperia, der ebenfalls<br />

Touch-Erkennung, allerdings keine Objekterkennung besitzt.<br />

<strong>Die</strong> Quasi-Magie, mittels Fingerzeig Bilder oder auch<br />

Texte an eine Wand oder auf einen Tisch zu zaubern, wird<br />

uns in Zukunft womöglich noch häufiger begegnen. Und<br />

damit dem Wunsch nach einer «realen» digitalen Welt<br />

etwas näherkommen.<br />

Das «Live Paper»<br />

projiziert Grafiken<br />

sowie Daten zwischen<br />

Berater und Kunden<br />

auf den Tisch<br />

Impressum<br />

Das offizielle<br />

Publikationsorgan<br />

des VIW<br />

Herausgeber:<br />

VIW – Wirtschaftsinformatik<br />

Schweiz<br />

VIW-Geschäftsstelle:<br />

5037 Muhen<br />

Tel. 031 311 99 88<br />

info@viw.ch<br />

Erscheinungsweise:<br />

Monatlich<br />

www.viw.ch

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