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LEBE_69

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Erziehung<br />

NÄGELBEIßEN: Überfordert,<br />

eingeengt und spannungsgeladen<br />

von Prof. Reinhold Ortner<br />

Nägelbeißen ist nicht nur eine unappetitliche<br />

Angewohnheit. Meist ist sie Ausdruck<br />

einer psychischen Notsituation.<br />

Wieso beginnt jemand mit einem Mal mit<br />

dem Nägelbeißen? Kann man sich das<br />

wieder abgewöhnen? Eltern und Erzieher<br />

reagieren oft mit falschen Maßnahmen.<br />

Das Kind wird gescholten oder bestraft.<br />

Damit aber kommt man nicht zum Erfolg.<br />

Wenn Schule überfordert<br />

Die achtjährige Corinna gab sich in der<br />

Schule große Mühe. Aber die Erfolge<br />

blieben aus. Das früher aufgeschlossene<br />

und fröhliche Mädchen wurde bedrück -<br />

ter. Die Eltern wussten nicht mehr, wie<br />

sie helfen sollten. Sie führten ein<br />

Gespräch mit der Lehrerin. Aber das<br />

Schulversagen nahm weiterhin seinen<br />

Lauf. Das Kind spürte, wie dies den Eltern<br />

Kummer machte, wie aber trotz Fleiß und<br />

Anstrengung keine besseren Erfolge zu<br />

erbringen waren. Corinna wurde immer<br />

häufiger krank. Sie litt unter Einschlafstörungen<br />

und nässte gelegentlich ein –<br />

typische Symptome für ein quälendes<br />

psychisches Problem. Jetzt begann<br />

Corinna auch an dem Nägeln zu kauen:<br />

Ausdruck einer Notsituation der Hilflosigkeit.<br />

Konflikte und Spannungen<br />

Nägelbeißen ist ein Abreißen und Abkauen<br />

der Fingernägel und führt meist zur<br />

Verhaltensgewohnheit. Die Nägel oder<br />

Hand oder nur einige Finger werden<br />

angeknabbert, abgeknabbert, zerkaut<br />

und anschließend ausgespukt oder<br />

geschluckt. Dieses Verhalten ist unter<br />

Kindern weit verbreitet, kann sich aber<br />

auch noch bis in spätere Jahre fortsetzen.<br />

In Druck-, Konflikt- und Spannungssituationen<br />

oder bei Angst vor Strafe tritt<br />

Nägelbeißen verstärkt auf. Eltern sind oft<br />

ratlos bis verärgert, wenn ihr Kind auf<br />

einmal damit anfängt. Nägelknabbern ist<br />

schließlich nicht nur ein störendes Verhalten,<br />

sondern führt auch zu Verletzungen<br />

und Entzündungen des Nagelbettes.<br />

Zwangskreis<br />

Als Ursache für Nägelkauen wird ein<br />

Aggressionsstau genannt. Es braucht<br />

also nicht unbedingt eine psychische<br />

Störung vorzuliegen. Oft handelt es sich<br />

einfach um eine motorische Abreaktion<br />

vorhandener Spannungen. Solches kann<br />

schließlich in einen Zwangskreis einmünden:<br />

Die aufgefaserten Nagelränder<br />

und die angebissene Nagelbetthaut wirken<br />

störend und verlangen immer wieder<br />

neue Korrektur. So entwickelt sich Nägelbeißen<br />

zur zwanghaften Dauerangewohnheit.<br />

Gängelnde Erziehung<br />

Nägelbeißen tritt etwa ab dem vierten<br />

Lebensjahr auf. Wie schon erwähnt, ist<br />

die nächstliegende Ursache ein Drang<br />

zur Abreaktion von Spannungen und<br />

Konflikten, die infolge der Belastungen<br />

einer Anpassung an familiäre und schulische<br />

Zwänge auftreten. Verschärfend<br />

wirkt einengende Erziehung durch ängstliche<br />

Mütter oder streng unterdrückende<br />

Väter. Besonders hyperaktive Kinder neigen<br />

dazu, Spannungen auf diese Weise<br />

abzureagieren. Unterdrückende Gängelung<br />

im Erziehungsgeschehen, übermäßige<br />

Verbote oder überhöhte Anforderungen<br />

bringen für das Kind ebenso<br />

innere Spannungen wie mangelnder<br />

Pädagogisch helfen<br />

• Vorwürfe und Strafen vermeiden. Dies<br />

bringt höchstens oberflächlichen Erfolg.<br />

• Die überschießende Aktivität des Kindes<br />

in sinnvolle Abläufe lenken: Sport,<br />

Spiel, Malen, Werken<br />

• Sich selbst kritisch unter die Lupe nehmen:<br />

Zu streng oder einengend?<br />

• Dem Kind mit pädagogischem Augenmaß<br />

notwendige Freiheiten einräumen<br />

• In Absprache mit dem Kind den Fernsehkonsum<br />

einschränken<br />

• Psychologisch geschickt verstärkende<br />

Impulse geben: "Gepflegte Finger sind<br />

schöner." Ein Nageletui zur Nagelpflege<br />

schenken<br />

• Ein Zeichen (keine Drohung; kein<br />

Beschämen) vereinbaren, das signalisiert:<br />

Du bist schon wieder dabei...<br />

• Ein Verstärkungsprogramm aufstellen:<br />

Wenn eine Zeitlang das Nägelbeißen<br />

unterlassen wird, gibt es eine besondere<br />

Belohnung. Achtung: Bedingungen<br />

niedrig setzen, damit diese auch<br />

erreicht werden können.<br />

• Zur nächtlichen Unterstützung die Finger<br />

mit einer (vom Arzt zu verschreibenden)<br />

übel schmeckenden Flüssigkeit<br />

einpinseln (das Kind muss einverstanden<br />

sein)<br />

Bewegungsausgleich,<br />

ungenügende<br />

Befriedigung<br />

frühkindlicher<br />

Bedürfnisse<br />

oder Stresssituationen.<br />

Allein ohne Liebe<br />

Kurt kam zur Welt, als seine Mutter 16<br />

Jahre alt war. Den Vater kannte er nicht.<br />

Kurt machte einen unruhigen, gehetzten<br />

Eindruck. Sein Blick war unstet. Ab und<br />

zu zeigte er ein gequältes Lächeln. Seine<br />

Fingernägel waren tief ins Nagelbett hinein<br />

abgenagt. Beim Sport stellte seine<br />

Lehrerin fest, dass auch die Zehennägel<br />

tief angebissen waren. Da Kurt auch<br />

Schulschwierigkeiten hatte, kam die Mutter<br />

zur psychologischen Beratung. Es<br />

stellte sich heraus, dass Kurt an vielen<br />

Abenden und Nächten in der Wohnung<br />

allein gelassen wurde. Die Mutter hatte<br />

wechselnde Freunde. Nach Lokalbesuchen<br />

brachte sie diese mit nach Hause.<br />

Während der langen Stunden des Alleinseins<br />

saß Kurt in seinem Bett und biss<br />

sich die Finger und Zehen wund. Einmal<br />

musste er in ärztliche Behandlung, weil<br />

die Zehen bluteten. Kurt hatte kaum zärtliche,<br />

verständnisvolle und liebende<br />

Zuwendung erhalten. Er erinnerte die<br />

Mutter an den Vater. Dieser hatte sie<br />

schon während der Schwangerschaft in<br />

Stich gelassen. Ihre Aggressionen, die<br />

eigentlich dem Vater galten, übertrug sie<br />

auf den Jungen. Sein Vorhandensein<br />

störte ihren Lebenswandel. Ein depressiver<br />

Grundzug hatte sich im Gemüt des<br />

Jungen festgesetzt. Verdrängte Aggressionen<br />

den Erwachsenen gegenüber<br />

schlugen bei Kurt in Selbstaggression<br />

um. Sein geradezu selbstzerstörerisches<br />

Nägelbeißen war der Notschrei in existentieller<br />

Ausweglosigkeit.<br />

Ursachen entschärfen<br />

Um pädagogisch helfen zu können, muss<br />

zunächst die dahinter stehende Ursache<br />

entschärft werden. Auch sollte das Kind<br />

über seine Nöte sprechen. Weiter gilt es,<br />

die eingeschliffene Gewohnheitshaltung<br />

aufzulösen, die vom Kind vielfach gar<br />

nicht mehr bewusst registriert wird. In<br />

schwerwiegenden Fällen empfiehlt sich<br />

eine Psychotherapie.<br />

■<br />

<strong>LEBE</strong> <strong>69</strong>/2004<br />

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