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Erziehung<br />
NÄGELBEIßEN: Überfordert,<br />
eingeengt und spannungsgeladen<br />
von Prof. Reinhold Ortner<br />
Nägelbeißen ist nicht nur eine unappetitliche<br />
Angewohnheit. Meist ist sie Ausdruck<br />
einer psychischen Notsituation.<br />
Wieso beginnt jemand mit einem Mal mit<br />
dem Nägelbeißen? Kann man sich das<br />
wieder abgewöhnen? Eltern und Erzieher<br />
reagieren oft mit falschen Maßnahmen.<br />
Das Kind wird gescholten oder bestraft.<br />
Damit aber kommt man nicht zum Erfolg.<br />
Wenn Schule überfordert<br />
Die achtjährige Corinna gab sich in der<br />
Schule große Mühe. Aber die Erfolge<br />
blieben aus. Das früher aufgeschlossene<br />
und fröhliche Mädchen wurde bedrück -<br />
ter. Die Eltern wussten nicht mehr, wie<br />
sie helfen sollten. Sie führten ein<br />
Gespräch mit der Lehrerin. Aber das<br />
Schulversagen nahm weiterhin seinen<br />
Lauf. Das Kind spürte, wie dies den Eltern<br />
Kummer machte, wie aber trotz Fleiß und<br />
Anstrengung keine besseren Erfolge zu<br />
erbringen waren. Corinna wurde immer<br />
häufiger krank. Sie litt unter Einschlafstörungen<br />
und nässte gelegentlich ein –<br />
typische Symptome für ein quälendes<br />
psychisches Problem. Jetzt begann<br />
Corinna auch an dem Nägeln zu kauen:<br />
Ausdruck einer Notsituation der Hilflosigkeit.<br />
Konflikte und Spannungen<br />
Nägelbeißen ist ein Abreißen und Abkauen<br />
der Fingernägel und führt meist zur<br />
Verhaltensgewohnheit. Die Nägel oder<br />
Hand oder nur einige Finger werden<br />
angeknabbert, abgeknabbert, zerkaut<br />
und anschließend ausgespukt oder<br />
geschluckt. Dieses Verhalten ist unter<br />
Kindern weit verbreitet, kann sich aber<br />
auch noch bis in spätere Jahre fortsetzen.<br />
In Druck-, Konflikt- und Spannungssituationen<br />
oder bei Angst vor Strafe tritt<br />
Nägelbeißen verstärkt auf. Eltern sind oft<br />
ratlos bis verärgert, wenn ihr Kind auf<br />
einmal damit anfängt. Nägelknabbern ist<br />
schließlich nicht nur ein störendes Verhalten,<br />
sondern führt auch zu Verletzungen<br />
und Entzündungen des Nagelbettes.<br />
Zwangskreis<br />
Als Ursache für Nägelkauen wird ein<br />
Aggressionsstau genannt. Es braucht<br />
also nicht unbedingt eine psychische<br />
Störung vorzuliegen. Oft handelt es sich<br />
einfach um eine motorische Abreaktion<br />
vorhandener Spannungen. Solches kann<br />
schließlich in einen Zwangskreis einmünden:<br />
Die aufgefaserten Nagelränder<br />
und die angebissene Nagelbetthaut wirken<br />
störend und verlangen immer wieder<br />
neue Korrektur. So entwickelt sich Nägelbeißen<br />
zur zwanghaften Dauerangewohnheit.<br />
Gängelnde Erziehung<br />
Nägelbeißen tritt etwa ab dem vierten<br />
Lebensjahr auf. Wie schon erwähnt, ist<br />
die nächstliegende Ursache ein Drang<br />
zur Abreaktion von Spannungen und<br />
Konflikten, die infolge der Belastungen<br />
einer Anpassung an familiäre und schulische<br />
Zwänge auftreten. Verschärfend<br />
wirkt einengende Erziehung durch ängstliche<br />
Mütter oder streng unterdrückende<br />
Väter. Besonders hyperaktive Kinder neigen<br />
dazu, Spannungen auf diese Weise<br />
abzureagieren. Unterdrückende Gängelung<br />
im Erziehungsgeschehen, übermäßige<br />
Verbote oder überhöhte Anforderungen<br />
bringen für das Kind ebenso<br />
innere Spannungen wie mangelnder<br />
Pädagogisch helfen<br />
• Vorwürfe und Strafen vermeiden. Dies<br />
bringt höchstens oberflächlichen Erfolg.<br />
• Die überschießende Aktivität des Kindes<br />
in sinnvolle Abläufe lenken: Sport,<br />
Spiel, Malen, Werken<br />
• Sich selbst kritisch unter die Lupe nehmen:<br />
Zu streng oder einengend?<br />
• Dem Kind mit pädagogischem Augenmaß<br />
notwendige Freiheiten einräumen<br />
• In Absprache mit dem Kind den Fernsehkonsum<br />
einschränken<br />
• Psychologisch geschickt verstärkende<br />
Impulse geben: "Gepflegte Finger sind<br />
schöner." Ein Nageletui zur Nagelpflege<br />
schenken<br />
• Ein Zeichen (keine Drohung; kein<br />
Beschämen) vereinbaren, das signalisiert:<br />
Du bist schon wieder dabei...<br />
• Ein Verstärkungsprogramm aufstellen:<br />
Wenn eine Zeitlang das Nägelbeißen<br />
unterlassen wird, gibt es eine besondere<br />
Belohnung. Achtung: Bedingungen<br />
niedrig setzen, damit diese auch<br />
erreicht werden können.<br />
• Zur nächtlichen Unterstützung die Finger<br />
mit einer (vom Arzt zu verschreibenden)<br />
übel schmeckenden Flüssigkeit<br />
einpinseln (das Kind muss einverstanden<br />
sein)<br />
Bewegungsausgleich,<br />
ungenügende<br />
Befriedigung<br />
frühkindlicher<br />
Bedürfnisse<br />
oder Stresssituationen.<br />
Allein ohne Liebe<br />
Kurt kam zur Welt, als seine Mutter 16<br />
Jahre alt war. Den Vater kannte er nicht.<br />
Kurt machte einen unruhigen, gehetzten<br />
Eindruck. Sein Blick war unstet. Ab und<br />
zu zeigte er ein gequältes Lächeln. Seine<br />
Fingernägel waren tief ins Nagelbett hinein<br />
abgenagt. Beim Sport stellte seine<br />
Lehrerin fest, dass auch die Zehennägel<br />
tief angebissen waren. Da Kurt auch<br />
Schulschwierigkeiten hatte, kam die Mutter<br />
zur psychologischen Beratung. Es<br />
stellte sich heraus, dass Kurt an vielen<br />
Abenden und Nächten in der Wohnung<br />
allein gelassen wurde. Die Mutter hatte<br />
wechselnde Freunde. Nach Lokalbesuchen<br />
brachte sie diese mit nach Hause.<br />
Während der langen Stunden des Alleinseins<br />
saß Kurt in seinem Bett und biss<br />
sich die Finger und Zehen wund. Einmal<br />
musste er in ärztliche Behandlung, weil<br />
die Zehen bluteten. Kurt hatte kaum zärtliche,<br />
verständnisvolle und liebende<br />
Zuwendung erhalten. Er erinnerte die<br />
Mutter an den Vater. Dieser hatte sie<br />
schon während der Schwangerschaft in<br />
Stich gelassen. Ihre Aggressionen, die<br />
eigentlich dem Vater galten, übertrug sie<br />
auf den Jungen. Sein Vorhandensein<br />
störte ihren Lebenswandel. Ein depressiver<br />
Grundzug hatte sich im Gemüt des<br />
Jungen festgesetzt. Verdrängte Aggressionen<br />
den Erwachsenen gegenüber<br />
schlugen bei Kurt in Selbstaggression<br />
um. Sein geradezu selbstzerstörerisches<br />
Nägelbeißen war der Notschrei in existentieller<br />
Ausweglosigkeit.<br />
Ursachen entschärfen<br />
Um pädagogisch helfen zu können, muss<br />
zunächst die dahinter stehende Ursache<br />
entschärft werden. Auch sollte das Kind<br />
über seine Nöte sprechen. Weiter gilt es,<br />
die eingeschliffene Gewohnheitshaltung<br />
aufzulösen, die vom Kind vielfach gar<br />
nicht mehr bewusst registriert wird. In<br />
schwerwiegenden Fällen empfiehlt sich<br />
eine Psychotherapie.<br />
■<br />
<strong>LEBE</strong> <strong>69</strong>/2004<br />
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