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Nancy R. Pearcey: Liebe deinen Körper

Nancy R. Pearcey Liebe deinen Körper Sexualität, Gender und Ethik aus Sicht von Medien, Politik und Bibel

Nancy R. Pearcey
Liebe deinen Körper
Sexualität, Gender und Ethik aus Sicht von Medien, Politik und Bibel

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<strong>Nancy</strong> R. <strong>Pearcey</strong><br />

<strong>Liebe</strong> <strong>deinen</strong> <strong>Körper</strong><br />

Sexualität, Gender und Ethik<br />

aus der Sicht von Medien, Politik und Bibel


<strong>Nancy</strong> R. <strong>Pearcey</strong><br />

Sexualität, Gender und Ethik aus<br />

Sicht von Medien, Politik und Bibel


1. Auflage 2019<br />

Titel der Originalausgabe: Love Thy Body<br />

© 2018 by <strong>Nancy</strong> R. <strong>Pearcey</strong><br />

Erschienen bei Baker Books, Grand Rapids<br />

© der deutschen Ausgabe by Betanien Verlag, 2019<br />

Imkerweg 38· 32832 Augustdorf<br />

www.cbuch.de · info@betanien.de<br />

Übersetzung: Christian Beese<br />

Lektorat: Silke Voß<br />

Cover: Sara Pieper<br />

Satz: Betanien Verlag<br />

Herstellung: drusala.cz<br />

ISBN 978-3-945716-47-2


Inhalt<br />

Vorwort zur deutschen Ausgabe 7<br />

Einführung 13<br />

Orientierung in der moralischen Wüste<br />

1 Ich hasse mich 23<br />

Aufstieg und Niedergang des menschlichen <strong>Körper</strong>s<br />

2 Die Freude am Tod 67<br />

Du musst bereit sein, zu töten<br />

3 Sehr geehrter Wähler 125<br />

Du bist nicht mehr als Person qualifiziert<br />

4 Schizoider Sex 177<br />

Geiseln der Aufreiß-Kultur<br />

5 Politik gegen den <strong>Körper</strong> 235<br />

Wie das homosexuelle Narrativ den <strong>Körper</strong> erniedrigt<br />

6 Transgender, Transrealität 297<br />

»Gott hätte mich als Mädchen machen sollen«<br />

7 Die Göttin der Wahl ist tot 355<br />

Vom Gesellschaftsvertrag zur gesellschaftlichen<br />

Kernschmelze<br />

Danksagungen 413<br />

Studienleitfaden 415


Vorwort<br />

zur deutschen Ausgabe<br />

»Und, welche Frauen als Autorinnen empfiehlst du mir?« In der<br />

Stimme der fragenden Person schwang der Nachdruck auf »Frau«<br />

mit. Nach kurzem Nachdenken antwortete ich: »<strong>Nancy</strong> <strong>Pearcey</strong>.«<br />

Ich erläuterte ihren persönlichen Werdegang und den Schwerpunkt<br />

ihres Werks. Dabei stellte ich mit Bedauern fest, dass keines ihrer<br />

Bücher in die deutsche Sprache übersetzt ist, während mehrere ihrer<br />

Bücher auf Portugiesisch und Koreanisch erschienen sind.<br />

Deutschland, Homeschooling, Heimarbeit<br />

Wer ist <strong>Nancy</strong> <strong>Pearcey</strong>? Ihr Ruf wuchs still und stetig über Jahrzehnte.<br />

Die amerikanische Zeitschrift »The Economist« bezeichnete<br />

sie vor einiger Zeit als »Amerikas führende evangelikale, protestantische,<br />

weibliche Intellektuelle«.<br />

<strong>Pearcey</strong>, geboren 1952, verbrachte in ihrer Jugend einige Jahre<br />

in Heidelberg und studierte am dortigen Konservatorium Violine.<br />

Als sie Jahre später ihre beiden Söhne selbst unterrichtete, suchte<br />

sie ihre Aufgabe als Mutter mit ihrem umfassenden Wissen der<br />

westlichen Geistesgeschichte sowie ihrer Schreibbegabung zu kombinieren.<br />

Dabei sammelte sie ihre Erfahrung zuerst in der Publikation<br />

und der Analyse von Themen aus christlicher Weltsicht für den<br />

»Bible Science Newsletter«. Später wurde sie Redakteurin des Radioprogramms<br />

»Breakpoint«, das während ihrer Zeit bis zu fünf<br />

7


<strong>Liebe</strong> <strong>deinen</strong> <strong>Körper</strong><br />

Millionen Zuhörer wöchentlich anzog. In der dritten beruflichen<br />

Periode kombinierte sie das Bücherschreiben mit dem Lehren an<br />

christlichen Universitäten in den USA, u. a. der renommierten<br />

Houston Baptist University.<br />

Wer ihre Bücher liest, dem fällt nicht nur die gründliche Recherche,<br />

sondern auch der häufige Bezug zu Artikeln aus Zeitungen<br />

und Zeitschriften ins Auge. <strong>Pearcey</strong> verbindet enzyklopädisches<br />

Lesen mit journalistischem Flair und jahrelanger Erfahrung<br />

im Unterrichten sowohl im privaten wie auch in akademischen<br />

Rahmen.<br />

8<br />

Wendepunkt, Heirat und ein lebenslanges Anliegen<br />

Noch eine andere Seite ihres Lebens fasziniert mich. In der Highschool<br />

verfasste <strong>Pearcey</strong> einen Aufsatz unter dem Titel »Warum ich<br />

kein Christ bin«. Während ihres Studiums am Heidelberger Konservatorium<br />

stolperte sie über den Namen der christlichen Kommunität<br />

»L’Abri« (dt. »Die Zuflucht«). Anfang der 1970er-Jahre<br />

reiste sie zu dieser Begegnungsstätte in der französischen Schweiz.<br />

Dort trafen sich Menschen aus unterschiedlichen weltanschaulichen<br />

Hintergründen von allen Kontinenten, um mit dem Ehepaar<br />

Francis und Edith Schaeffer über grundlegende Fragen des Lebens<br />

zu diskutieren. <strong>Pearcey</strong> war ebenso davon beeindruckt, dass sie zum<br />

ersten Mal Antworten auf ihre Fragen erhielt, wie von der Tatsache,<br />

dass Christen sich so intensiv mit Fragen der Gegenwartskultur beschäftigten.<br />

Diese Impulse erwiesen sich als Meilenstein in ihrem<br />

Leben, das kurze Zeit später eine Kehrtwende hin zum christlichen<br />

Glauben erfuhr.<br />

Ihr Mann Rick <strong>Pearcey</strong>, den sie in »L’Abri« kennenlernte und<br />

einige Jahre später heiratete, arbeitet ebenfalls als Journalist und<br />

Publizist. Das Theologiestudium am Covenant Theological Seminary<br />

(St. Louis im US-Bundesstaat Missouri) sowie Post-Graduate<br />

Studien am »Institute for Christian Studies« in Toronto dienten<br />

der inhaltlichen Zurüstung für ihr lebenslanges Anliegen, Gottes<br />

Wahrheit auf das gesamte menschliche Leben anzuwenden.


Vorwort zur deutschen Ausgabe<br />

Das zweigeteilte Konzept der Wahrheit<br />

Für die Arbeit <strong>Pearcey</strong>s ist ein von Francis Schaeffer (1912 – 1984)<br />

stammendes, weiterentwickeltes Konzept für die Wahrheitsfindung<br />

in der (post)modernen westlichen Welt grundlegend. Die Menschen<br />

in unserer Gesellschaft haben heute einen »doppelten inneren<br />

Wahrnehmungsfilter« eingebaut, der besagt:<br />

• Die sichtbare Welt ist unseren Sinnen zugänglich (messbar) und<br />

darum objektiv.<br />

• Die moralische Ordnung kann nicht durch die Sinne erfasst<br />

werden (nicht messbar) und basiert darum auf subjektiven Gefühlen.<br />

Sie ist allerdings erfahrbar, auch wenn sie nicht wörtlich<br />

wahr sein muss. Damit ist auch die Religion eine soziale Konstruktion,<br />

die den emotionalen Bedürfnissen der Menschen begegnet.<br />

Diese Trennung von Fakten und Werten ist der Schlüssel, um den<br />

übergeordneten Denkrahmen unserer Gesellschaft zu verstehen.<br />

Die Zweiteilung des Lebens in Fakten und Werte ist nicht nur<br />

ein unbewusster Konsens unserer Gesellschaft. Diese Dichotomie<br />

beeinflusst in zunehmendem Maße die öffentliche Meinungsäußerung.<br />

Auf dem Markt der Überzeugungen ist es nicht schicklich,<br />

von christlichen Überzeugungen zu reden. Weshalb? Weil das<br />

Nicht-Rationale, Subjektive nicht in den öffentlichen Raum gehört.<br />

Da gehören keine Überzeugungen hin, die universale Gültigkeit<br />

beanspruchen. Wenn es ein gültiges »Dogma« gibt, dann dieses,<br />

dass Überzeugungen subjektiv sind. Somit müssen alle Meinungen<br />

gleichwertig nebeneinander stehen. Es kann nicht angehen, dass<br />

eine Überzeugung von sich behauptet, objektiv gültig zu sein.<br />

Unvorbereitet aufs Spielfeld<br />

Dieses Denken ist nicht zuletzt in jungen Menschen aktiv, die in<br />

christlichen Gemeinden aufwachsen. Was sie in der Schule lernen,<br />

9


<strong>Liebe</strong> <strong>deinen</strong> <strong>Körper</strong><br />

ist Faktenwissen; die Kirche stellt nur die emotionale Unterstützung<br />

sicher. Sie hilft, mit der Realität zurechtzukommen. Eine religiöse<br />

Aussage wird erst dann wahr, wenn sie mit der inneren Erfahrung<br />

übereinstimmt. Christliche Lehrinhalte mögen zwar mit<br />

dem Kopf erfasst worden sein. Emotional werden diese jedoch anders<br />

bewertet, sobald es um eigene Entscheidungen geht. Manche<br />

Elternhäuser und Gemeinden bedienen deshalb ausschließlich die<br />

emotionale, subjektive Ebene. Sie adressieren das Gefühl – und lassen<br />

darum die Heranwachsenden hilflos und allein.<br />

Diese Not treibt mich als Vater von fünf heranwachsenden<br />

Söhnen seit längerem um. <strong>Pearcey</strong> schreibt in ihrem Buch »Total<br />

Truth« (2004, S. 125):<br />

Wir müssen sichergehen, dass unsere Kinder, wenn sie das Haus<br />

verlassen, dieselbe Überzeugung tief in ihr Denken eingeprägt<br />

bekommen haben: Das Christentum ist fähig, den Herausforderungen<br />

auf dem Marktplatz der Ideen zu trotzen. Es reicht<br />

nicht, jungen Gläubigen einfach beizubringen, wie man eine<br />

persönliche »Stille Zeit« hält, wie man ein Bibellernprogramm<br />

befolgt und wie man mit einer christlichen Gruppe auf dem<br />

Campus Verbindung aufnimmt. Wir müssen sie auch anleiten,<br />

wie man auf intellektuelle Herausforderungen antwortet, die<br />

ihnen im Klassenzimmer begegnen werden. Bevor sie das Haus<br />

verlassen, sollten sie all die Ideologien kennen, vom Marxismus<br />

über Darwinismus bis zum Postmodernismus. Es ist am besten<br />

für junge Gläubige, wenn sie von diesen Ideen zuerst von den<br />

vertrauten Eltern, Pastoren oder Jugendleitern hören, denn die<br />

können sie in den Strategien trainieren, um die konkurrierenden<br />

Ideologien analysieren zu können.<br />

10<br />

Die Dichotomie angewandt auf die Sexualethik<br />

<strong>Pearcey</strong> nimmt das Metamodell der Zweiteilung des Lebens auf<br />

und wendet es auf das säkulare Verständnis von Person-Sein an.<br />

Gesellschaftlich fest verankertes »Dogma« ist die Dichotomie von


Vorwort zur deutschen Ausgabe<br />

<strong>Körper</strong> und Seele. Dieser gelebte Dualismus spaltet die vom Schöpfer<br />

geschaffene Einheit mit verheerenden Konsequenzen auf. Dahinter<br />

steckt die Überzeugung, dass der Geist dem <strong>Körper</strong> seine<br />

Entscheidungen aufzwingen könne. Das wirkt sich in verschiedene<br />

Bereiche der Sexualethik und damit der Vorstellung einer »lebenswerten«<br />

Existenz aus. <strong>Pearcey</strong> dokumentiert den radikalen Einstellungswandel<br />

in den Gebieten der »freien« Sexualität (die promiskuitive<br />

»Hook up Culture«, in diesem Buch als Aufreiß-Kultur<br />

übersetzt), der Homosexualität, des Transgenderismus ebenso wie<br />

im veränderten Umgang mit dem Anfang und Ende des Lebens<br />

(Abtreibung und Euthanasie).<br />

Eine Theologie des <strong>Körper</strong>s<br />

<strong>Pearcey</strong> arbeitet in ihrer gewohnten Art und Weise, indem sie zahlreiche<br />

Beispiele, die sie im Lauf ihrer lebenslangen journalistischen<br />

Tätigkeit, während ihrer zahlreichen Auftritte und Vorlesungen<br />

gesammelt hat, in ihre Argumentation einbindet. Wenn man das<br />

Buch studiert, wird man vielen gewichtigen Argumenten begegnen.<br />

Die biblische Weltsicht wird ausbuchstabiert. Das macht die<br />

Lektüre zu einem Pflichtstück für Eltern, Jugendarbeiter und Pastoren.<br />

Ich bete dafür, dass diese Theologie des <strong>Körper</strong>s nun auch im<br />

deutschen Sprachraum Verbreitung findet.<br />

Zürich, im Januar 2019<br />

Hanniel Strebel<br />

11


Das Schicksal, nicht Gott, hat uns dieses Fleisch gegeben.<br />

Wir haben absoluten Anspruch auf unseren <strong>Körper</strong><br />

und dürfen mit ihm machen, was wir für richtig halten.<br />

Camilla Paglia, Vamps & Tramps<br />

Christen sollten ihren Glauben an die natürliche Ordnung<br />

als die gute Schöpfung Gottes bekennen. […]<br />

Wir müssen die Natur schätzen,<br />

wir müssen uns an ihre immanten Gesetze halten,<br />

und wir müssen unser Handeln im Einklang mit ihnen planen.<br />

Oliver O’Donovan, Begotten or Made?


Einführung<br />

Orientierung in der moralischen Wüste<br />

Menschliches Leben und Sexualität sind die zentralen moralischen<br />

Themen unserer Zeit, an denen sich die Geister scheiden. Jeden Tag<br />

berichten die Nachrichten rund um die Uhr über den Fortschritt<br />

einer säkularen Moralrevolution in Bereichen wie Sexualität, Abtreibung,<br />

Sterbehilfe, Homosexualität und Transgenderismus. Die neue<br />

säkulare Lehre wird uns von praktisch allen großen gesellschaftlichen<br />

Institutionen auferlegt: von Universitäten, Medien, öffentlichen<br />

Schulen, Hollywood, privaten Unternehmen und dem Gesetz.<br />

Dabei bleiben wir leicht bei der neuesten Kontroverse oder den<br />

aktuellen Nachrichten hängen. Aber aktuelle Ereignisse sind nur<br />

Oberflächenwirkungen wie Wellen auf dem Meer. Die eigentliche<br />

Handlung geschieht unter der Oberfläche, auf der Ebene der Weltanschauungen.<br />

Diese gleichen tektonischen Platten, deren Verschiebung<br />

die aufwühlenden Oberflächenfalten verursacht. In<br />

<strong>Liebe</strong> <strong>deinen</strong> <strong>Körper</strong> gehen wir über reißerische Schlagzeilen und<br />

trendige Slogans hinaus, um die Weltanschauung aufzudecken, die<br />

als treibende Kraft hinter der säkularen Ethik steht. Wenn du die<br />

Grundprinzipien dieser Weltanschauung kennst, bist du in der Lage,<br />

intelligent und mitfühlend bei allen heute höchst umstrittenen<br />

moralischen Herausforderungen mitzureden.<br />

Als ehemalige Agnostikerin schildere ich die postmodernen<br />

Moraltheorien als Insiderin und zeige, wie sie den Menschen entwerten<br />

und die Menschenrechte zerstören.<br />

Abweichlern von der politisch korrekten Sicht wird Intoleranz<br />

und Diskriminierung vorgeworfen, sie werden als Fanatiker und<br />

13


<strong>Liebe</strong> <strong>deinen</strong> <strong>Körper</strong> · Einführung<br />

Frauenfeinde gebrandmarkt und zu Zielscheiben von Schmäh- und<br />

Einschüchterungskampagnen gemacht. Beweise? In seiner Windsor-Entscheidung<br />

von 2013 hob der Oberste Gerichtshof der Vereinigten<br />

Staaten den »Defense of Marriage Act« auf (auch DOMA<br />

abgekürzt), ein Bundesgesetz, das anerkennt, dass die Ehe zwischen<br />

einem Mann und einer Frau besteht. Die Mehrheitsmeinung warf<br />

den DOMA-Befürwortern vor, von »Feindseligkeit« (Boshaftigkeit,<br />

Hass) motiviert zu sein. Man behauptete, es sei ihre Absicht,<br />

Menschen in gleichgeschlechtlichen Gemeinschaften »zu verunglimpfen«,<br />

»zu verletzen«, »zu erniedrigen«, »herabzuwürdigen«,<br />

»zu demütigen« und »zu schädigen« […], um sie als »unwürdig«<br />

zu bezeichnen, ihnen »einen Nachteil, eine Stigmatisierung aufzuzwingen«<br />

und »ihnen gleiche Würde zu verweigern«. Das Gericht<br />

sagte also nicht nur, dass Menschen, die die Ehe zwischen Mann<br />

und Frau befürworten, sich irrten. Es verurteilte sie als feindselig,<br />

hass erfüllt und böswillig.<br />

Diejenigen, die mit dem vorherrschenden weltlichen Ethos nicht<br />

einverstanden sind, plädieren für ein Recht auf Religionsfreiheit.<br />

Aber der Vorsitzende der US Commission on Civil Rights schrieb<br />

verächtlich, »die Begriffe ›Religionsfreiheit‹ und ›Glaubensfreiheit‹<br />

stehen für nichts anderes als Heuchelei, solange sie nur Codewörter<br />

für Diskriminierung, Intoleranz, Rassismus, Sexismus, Homophobie,<br />

Islamophobie, christliche Überlegenheit oder jede andere Form<br />

von Intoleranz sind.« 1 Der Begriff Religionsfreiheit ist spöttisch in<br />

Anführungszeichen gesetzt, als wäre diese ein gesetzeswidriger Anspruch<br />

und nicht ein Grundrecht in einer freien Gesellschaft.<br />

Die nächste Stufe wird darin bestehen, den Bürgern ihre Religionsfreiheit<br />

zu verweigern – und es hat bereits begonnen. Diejenigen,<br />

die sich der säkularen Moralrevolution widersetzen, verloren<br />

Arbeitsplätze, Unternehmen und Lehrerstellen. Andere wurden aus<br />

Hochschulprogrammen geworfen, einigen wurde das Recht entzogen,<br />

Pflegeeltern zu sein, wieder andere wurden gezwungen, Adop-<br />

14<br />

1 Chairman Martin R. Castro: »Peaceful Coexistence: Reconciling Nondiscrimination<br />

Principles with Civil Liberties«, US Commission on Civil<br />

Rights, 29. September 2016.


Orientierung in der moralischen Wüste<br />

tionszentren zu schließen oder sie verloren ihren Status als Campus-Organisationen<br />

[…] und die Liste der Unterdrückung wird<br />

vermutlich immer länger werden. 2<br />

Die gleiche politisch korrekte Sichtweise wird weltweit durch<br />

das Außenministerium, die Vereinten Nationen, die Europäische<br />

Union, private Stiftungen und die Medien offensiv gefördert. Reiche<br />

Nationen drängen ärmere Nationen, ihre Gesetze zu Abtreibung<br />

und Sexualität zu ändern, um ihr Anrecht auf Hilfe nicht zu<br />

verlieren. 3 Die sexuelle Revolution ist global.<br />

Vereinnahmte Christen<br />

Glaube nur nicht, Christen, die regelmäßig in ihre Gemeinde gehen,<br />

seien immun. Viele Menschen, die sich als religiös oder christlich<br />

bezeichnen, werden von der säkularen Weltanschauung vereinnahmt<br />

– oft, ohne es zu merken. Die Zahlen sind beunruhigend:<br />

• Pornografie: Etwa zwei Drittel der christlichen Männer schauen<br />

sich mindestens einmal im Monat Pornografie an; dieselbe<br />

Quote wie bei Männern, die nicht behaupten, Christ zu sein. 4<br />

In einer Umfrage gaben 54 % der Pastoren an, im vergangenen<br />

Jahr Pornos angesehen zu haben. 5<br />

• Zusammenleben: Eine Gallup-Umfrage ergab, dass fast die<br />

Hälfte (49 %) der Teenager mit religiösem Hintergrund das Zusammenleben<br />

vor der Ehe unterstützen. 6<br />

2 Beispiele in J. Corvino und M. Gallagher: Debating Same-Sex Marriage (New<br />

York: Oxford University Press, 2012); Ryan T. Anderson: Truth Overruled: The<br />

Future of Marriage and Religious Freedom (Washington, DC: Regnery, 2015).<br />

3 Siehe Gabriele Kuby: The Global Sexual Revolution: Destruction of Freedom in<br />

the Name of Freedom (Kettering, OH: Angelico Press, 2015).<br />

4 Leonardo Blair: »Fast zwei Drittel der christlichen Männer schauen sich monatlich<br />

Pornographie an: Laut einer Studie tun sie es genauso häufig wie<br />

säkulare Männer.« The Christian Post, 27. August 2014.<br />

5 Mike Genung: »How Many Porn Addicts Are There in Your Church?«, Crosswalk,<br />

17. Juni 2005.<br />

6 Linda Lyons: »How Many Teens Are Cool with Cohabitation?«, Gallup.com,<br />

15


<strong>Liebe</strong> <strong>deinen</strong> <strong>Körper</strong> · Einführung<br />

• Scheidung: Von den Erwachsenen, die sich als Christen bezeichnen,<br />

aber selten in die Kirche gehen, sind 60 % geschieden. Von<br />

denen, die regelmäßig zur Kirche gehen, sind es 38 %. 7<br />

• Homosexualität und Transgenderismus: Diese Themen spalten<br />

selbst konservative religiöse Gruppen. Laut einer Studie des Pew<br />

Research Center aus dem Jahr 2014 hielten 5 % der evangelikalen<br />

Millenniums-Generation gleichgeschlechtliches Verhalten<br />

für moralisch akzeptabel. 8<br />

• Abtreibung: Eine LifeWay-Umfrage ergab, dass sich etwa 70 %<br />

der Frauen, die eine Abtreibung hatten, selbst als Christinnen<br />

bezeichnen. Und 43 % sagten, dass sie zu der Zeit, als sie ihr<br />

Baby abtrieben, mindestens einmal im Monat oder öfter eine<br />

christliche Gemeinde besucht hätten. 9<br />

Das Problem ist, dass viele Menschen Moral als eine Liste mit Regeln<br />

betrachten. Doch in Wirklichkeit beruht jedes Moralsystem<br />

auf einer Weltanschauung. Bei jeder Entscheidung, die wir treffen,<br />

geht es nicht nur darum, was wir tun wollen. Wir bringen unsere<br />

Ansicht über den Zweck des menschlichen Lebens zum Ausdruck.<br />

Nach den Worten des Theologen Stanley Hauerwas ist eine moralische<br />

Handlung »nicht nur als isolierter Akt zu betrachten, sondern<br />

beinhaltet grundlegende Einstellungen zur Natur und der Bedeutung<br />

des Lebens selbst«. 10<br />

Wir sollten uns also mit dem befassen, was die Menschen ȟber<br />

die Natur und Bedeutung des Lebens selbst« glauben. Wir müssen<br />

ihre Weltanschauung einbeziehen.<br />

13. April 2004.<br />

7 Bradley R. E. Wright: Christians Are Hate-Filled Hypocrites . . . and Other Lies<br />

You’ve Been Told (Minneapolis: Bethany, 2010), S. 133.<br />

8 Die Millenniums-Generation sind die zwischen 1981 und 1996 Geborenen.<br />

Caryle Murphy: »In den meisten christlichen Gruppierungen in den USA<br />

wuchs die Akzeptanz für Homosexuelle«, Pew Research Center, 18. Oktober<br />

2015.<br />

9 Samuel Smith: »70 % der Frauen, die eine Abtreibung vornehmen lassen, bezeichnen<br />

sich als Christen«, The Christian Post, 25. November 2015.<br />

10 Stanley Hauerwas: Vision and Virtue (Notre Dame: University of Notre<br />

Dame Press, 1974), S. 155.<br />

16


Orientierung in der moralischen Wüste<br />

C. S. Lewis drückte es so aus: »Der Christ und der Materialist<br />

haben unterschiedliche Ansichten über das Universum. Sie können<br />

nicht beide recht haben. Derjenige, der sich irrt, wird in einer<br />

Weise handeln, die einfach nicht zum realen Universum passt.« 1<br />

In <strong>Liebe</strong> <strong>deinen</strong> <strong>Körper</strong> möchte ich zeigen, dass eine säkulare Moral<br />

»nicht zum realen Universum passt«.<br />

Wahr für dich, aber nicht für mich?<br />

Der erste Schritt besteht darin, zu erkennen, dass die säkulare Moral<br />

auf einer tiefen Spaltung beruht, die das gesamte westliche Denken<br />

und die westliche Kultur durchzieht – eine Spaltung, die die<br />

Verbindung zwischen wissenschaftlichem und moralischem Wissen<br />

sprengt. In der Vergangenheit glaubten die meisten Zivilisationen,<br />

die Wirklichkeit bestehe sowohl aus einer natürlichen als auch<br />

aus einer moralischen Ordnung, die beide in ein großes Ganzes<br />

eingebettet sind. Deshalb wurde unser Wissen über die Wirklichkeit<br />

als ein einziges einheitliches Wahrheitssystem angesehen.<br />

In der Neuzeit kamen viele Menschen jedoch zu dem Schluss,<br />

zuverlässiges Wissen sei nur in der natürlichen Ordnung möglich –<br />

den empirisch prüfbaren wissenschaftlichen Fakten. Was bedeutet<br />

das für moralische Wahrheiten? Sie können nicht in ein Reagenzglas<br />

gesteckt oder unter dem Mikroskop untersucht werden. Viele<br />

Menschen kamen zu dem Schluss, Moral sei nicht als objektive<br />

Wahrheit gültig, da sie aus rein persönlichen Gefühlen und Vorlieben<br />

bestehe.<br />

Das einheitliche Konzept der Wahrheit wurde aufgelöst und in<br />

zwei getrennte Bereiche aufgeteilt.<br />

Der Theologe Francis Schaeffer veranschaulichte die Aufteilung<br />

anhand der Metapher von zwei Stockwerken in einem Gebäude. In<br />

der unteren Etage befindet sich die empirische Wissenschaft, die als<br />

objektiv wahr und prüfbar gilt. Dies ist der Bereich der öffentlichen<br />

1 C. S. Lewis: Man or Rabbit? God in the Dock (Grand Rapids: Eerdmans,<br />

1970), S. 108-109.<br />

17


<strong>Liebe</strong> <strong>deinen</strong> <strong>Körper</strong> · Einführung<br />

Wahrheiten – Dinge, von denen erwartet wird, dass sie jeder akzeptiert,<br />

unabhängig von seinem privaten Glauben. Die obere Etage ist<br />

das Reich der Moral und Theologie. Sie wird als privat, subjektiv<br />

und relativ angesehen. Hier gilt: »Das kann für dich wahr, aber für<br />

mich unwahr sein.« 2<br />

18<br />

Der Wahrheitsbegriff wurde geteilt<br />

Theologische & moralische Wahrheit<br />

privat, subjektiv, relativ<br />

____________________________________<br />

Wissenschaftliche Wahrheit<br />

öffentlich, objektiv, absolut<br />

Als Schaeffers Bücher zum ersten Mal veröffentlicht wurden, sahen<br />

die meisten in seinem Bild von den zwei Stockwerken kaum mehr<br />

als eine eigenwillige Metapher für den Relativismus. Aber Jahre<br />

später, als ich mich mit der Unterscheidung von Tatsachen und<br />

Werten befasste, wie es die akademische Welt bezeichnet, fiel mir<br />

auf, dass Schaeffer genau davon sprach, obwohl er nicht diesen Begriff<br />

verwendete. 3 Erkennst du die Parallelen?<br />

2 Francis Schaeffer machte die Zwei-Stockwerke-Metapher bekannt in Büchern<br />

wie Escape from Reason (dt. Preisgabe der Vernunft) und The God Who Is There<br />

(dt. Gott ist keine Illusion), in The Complete Works of Francis A. Schaeffer,<br />

Band 1 (Wheaton, IL: Crossway, 1982). Er wurde von Herman Dooyeweerds<br />

wissenschaftlicher Analyse beeinflusst, die sich in Werken findet wie: Roots<br />

of Western Culture: Pagan, Secular, and Christian Options (Toronto: Wedge,<br />

1979; orig., Zutphen, Netherlands: J. B. van den Brink, 1959); In the Twilight<br />

of Western Thought (Nutley, NJ: Craig, 1972; orig., Presbyterian & Reformed,<br />

1960) und im vierbändigen A New Critique of Theoretical Thought (Ontario:<br />

Paideia Press, 1984; Original auf Niederländisch, veröffentlicht 1935).<br />

3 Dieser Zusammenhang fiel mir erstmals auf, als ich eine Rezension zu dem<br />

Buch Phillip E. Johnson’s The Wedge of Truth schrieb. Vergleiche <strong>Nancy</strong><br />

<strong>Pearcey</strong>: »A New Foundation for Positive Cultural Change: Science and<br />

God in the Public Square«, Human Events, 15. September 2000. Historiker<br />

führen die Unterteilung von Tatsachen und Werten normalerweise auf den<br />

Philosophen David Hume aus dem 18. Jahrhundert zurück. Hume, ein extremer<br />

Empiriker, argumentierte, moralische Wahrheiten seien nicht real, weil


Orientierung in der moralischen Wüste<br />

Die Unterscheidung von Tatsachen und Werten<br />

Werte<br />

privat, subjektiv, relativ<br />

____________________________________<br />

Tatsachen<br />

öffentlich, objektiv, absolut<br />

Ich beschrieb die Parallelen schon in meinem früheren Buch Total<br />

Truth, und plötzlich wurde Schaeffers Zwei-Stockwerke-Analyse<br />

auffallend relevant für unsere heutige Zeit. Ein führender christlicher<br />

Philosoph sagte mir, er habe Schaeffer ausführlich gelesen,<br />

und aus seiner Praxis als Professor erzählte er: »Ich habe mein ganzes<br />

Leben lang über die Gefahren der Unterscheidung von Tatsachen<br />

und Werten gelehrt … aber ich habe nie diese Verbindung<br />

hergestellt.« Total Truth stellte die Verbindung her und bringt<br />

Schaeffers Gedanken in einen frischen und fruchtbaren Dialog mit<br />

dem säkularem Denken ein.<br />

Eine zerstückelte Weltsicht<br />

Noch später wurde mir klar, dass die Unterscheidung zwischen Tatsachen<br />

und Werten nur die Spitze des Eisberges ist, denn tatsächlich<br />

hatte sich die gesamte moderne Philosophie in zwei Hauptströme<br />

aufgeteilt. Ein Strom begann mit der wissenschaftlichen Revolution,<br />

aus der die Tradition der Aufklärung entstand. Diese bestand<br />

aus Philosophen, die den Anspruch erhoben, auf der Wissenschaft<br />

sie empirisch nicht nachgewiesen werden könnten. Was wir für moralische<br />

Fakten halten, seien in Wirklichkeit nur »Gefühle und Wünsche«. Es war<br />

jedoch Kant, der die Kluft formal definierte (wie wir in Kapitel 5 sehen). Die<br />

logischen Positivisten vertraten eine besonders virulente Form dieser Ansicht,<br />

indem sie postulierten, moralische und theologische Aussagen seien nicht<br />

nur falsch, sondern kognitiv sinnlos. Eine detaillierte Erörterung findet sich<br />

in meinem Buch Saving Leonardo: The Secular Assault on Mind, Meaning, and<br />

Morals (Nashville: B&H, 2010).<br />

19


<strong>Liebe</strong> <strong>deinen</strong> <strong>Körper</strong> · Einführung<br />

aufzubauen. Sie stellten Philosophien vor, die den Tatsachenraum<br />

(Erdgeschoss) als die primäre Wirklichkeit ansehen, also »Ismen«<br />

wie Empirismus, Rationalismus, Materialismus und Naturalismus.<br />

Vielleicht erinnerst du dich noch aus deiner Schulzeit daran,<br />

dass es eine Gegenreaktion auf die Aufklärung gab, die als Romantik<br />

bezeichnet wird. Sie bestand aus Denkern, die versuchten, den<br />

Bereich der Werte aufrechtzuerhalten (Obergeschoss). Sie konzentrierten<br />

sich auf Fragen der Gerechtigkeit, der Freiheit, der Moral<br />

und der Sinnhaftigkeit. Denker in dieser Tradition entwickelten<br />

»Ismen« wie Idealismus, Marxismus, Existenzialismus und die<br />

Postmoderne.<br />

Heute werden beide Traditionen grob gesagt unter den Schlagworten<br />

Moderne versus Postmoderne zusammengefasst, und sie stehen<br />

nach wie vor im Widerstreit zueinander. Die Kluft zwischen<br />

ihnen ist sogar so groß geworden, dass ein Philosoph sagte, es sei fast<br />

so, als ob sich das westliche Denken in »zwei philosophische Welten«<br />

gespalten habe. Und er formulierte noch eine weitere Sorge: »Wir<br />

sind an einem Punkt angelangt, an dem wir in verschiedenen Studienfächern<br />

arbeiten« und »uns über den Abgrund hinweg zurufen.« 4<br />

Modernisten behaupten, das Erdgeschoss sei die primäre oder<br />

einzige Wirklichkeit, also Fakten und Wissenschaft. Aus Sicht der<br />

Vertreter der Postmoderne hingegen ist das Obergeschoss die primäre<br />

Realität, selbst Fakten und Wissenschaft sind für sie nur gedankliche<br />

Konstrukte. 5<br />

20<br />

4 Anthony Quinton, zitiert in Simon Critchley: Introduction, A Companion<br />

to Continental Philosophy, hg. Simon Critchley und William R. Schroeder<br />

(Oxford, UK: Blackwell, 1998), S. 7; Critchley, »Introduction« S. 14. Im<br />

20. Jahrhundert wurden diese beiden philosophischen Traditionen als analytisch<br />

(untere Etage) und kontinental (obere Etage) bezeichnet. Ein Philosoph<br />

bemerkt: »Es sieht manchmal aus, als wären analytische und kontinentale<br />

Philosophie wirklich zwei getrennte Disziplinen, die nicht viel gemeinsam<br />

haben.« Michael Dummett: Origins of Analytical Philosophy (Cambridge,<br />

MA: Harvard University Press, 1996), S. 193.<br />

5 In meinem Buch Finding Truth: 5 Strategies for Unmasking Atheism, Secularism<br />

& Other God Substitutes (Colorado Springs: David C. Cook, 2015) analysiere<br />

ich, weshalb alle nicht-biblischen Weltanschauungen letztlich beide<br />

Etagen überspannen müssen, was zu fatalen internen Widersprüchen führt.


Orientierung in der moralischen Wüste<br />

Die Spaltung des westlichen Denkens<br />

Romantische Tradition<br />

Postmoderne<br />

____________________________________<br />

Aufklärerische Tradition<br />

Modernismus<br />

Da Philosophie etwas so Grundlegendes ist, betrifft diese Kluft<br />

auch jeden anderen Themenbereich, einschließlich der Moral. 6 In<br />

der Moral stellen wir Fragen wie: Wie gehen wir richtig mit Menschen<br />

um? Unsere Antwort hängt davon ab, was unserer Meinung<br />

nach Menschen eigentlich sind, was es bedeutet, ein Mensch zu<br />

sein. Philosophen nennen das unsere Anthropologie. Der Schlüssel<br />

zum Verständnis all der umstrittenen Themen unserer Zeit liegt<br />

hierin: Auch der Begriff des Menschen wurde in ein oberes und<br />

ein unteres Geschoss zerlegt. Das säkulare Denken geht heute von<br />

einer Spaltung von <strong>Körper</strong> und Person aus, wobei der <strong>Körper</strong> im<br />

»Fakten«-Bereich durch die Empirie (Erdgeschoss) und die Person<br />

im »Werte«-Bereich als Grundlage für Rechte definiert ist (Obergeschoss).<br />

Dieser Dualismus schuf eine zerstückelte, fragmentierte<br />

Vorstellung vom Menschen, die den <strong>Körper</strong> als vom eigentlichen<br />

Selbst getrennt ansieht.<br />

Eine neue Strategie<br />

Anhand der Unterteilung in zwei Stockwerke können wir Menschen<br />

auf neue Art vermitteln, warum eine säkulare Ethik versagt, und<br />

zwar sowohl im persönlichen Bereich als auch in der Öffentlichkeit.<br />

Kapitel 1 dieses Buches, »Ich hasse mich«, gibt einen Überblick über<br />

die wichtigsten Themen und beleuchtet das zweistufige Verständnis<br />

6 Wie sich die Spaltung in Aufklärung und Romantik auf die Kunst und die<br />

Geisteswissenschaften auswirkte, beschreibe ich in meinem Buch Saving Leonardo.<br />

21


<strong>Liebe</strong> <strong>deinen</strong> <strong>Körper</strong> · Einführung<br />

des Menschen, das hinter all diesen Sichtweisen steht. Auch wenn<br />

du dich lieber auf ein späteres Thema konzentrieren möchtest, empfehle<br />

ich dir, zunächst Kapitel 1 zu lesen, um dich mit meiner Herangehensweise<br />

vertraut zu machen, die ich auch im weiteren Verlauf<br />

des Buches verfolge. (Da es sich um kontroverse Themen handelt,<br />

kann ich nicht alle Einwände im Text selbst ansprechen. In den<br />

Fußnoten findest du jeweils viele weitere Aspekte dazu.)<br />

Kapitel 2, »Die Freude am Tod«, fragt, wie der Dualismus von<br />

<strong>Körper</strong> und Person weltliche Argumente für Abtreibung und Kindesmord<br />

untermauert. Kapitel 3, »Sehr verehrter Wähler«, deckt die<br />

verheerenden Auswirkungen des gleichen Dualismus in den Argumenten<br />

für Euthanasie und verwandten Themen wie embryonale<br />

Stammzellenforschung, Tierrechte, Gentechnik und Transhumanismus<br />

auf. Kapitel 4, »Schizoider Sex«, enthüllt die Lügen der Aufreiß-Kultur.<br />

Entgegen ihrem Anspruch, den <strong>Körper</strong> zu befreien,<br />

drückt sie in Wirklichkeit Verachtung für den <strong>Körper</strong> aus. Kapitel 5,<br />

»Politik gegen den <strong>Körper</strong>«, zeigt, wie auch die gleichgeschlechtliche<br />

Praxis den <strong>Körper</strong> erniedrigt. Kapitel 6, »Transgender, Transrealität«,<br />

fragt, wie man Menschen helfen kann, die glauben, ihr <strong>Körper</strong> stehe<br />

im Widerspruch zu ihrem wahren, eigentlichen Selbst. Das letzte<br />

Kapitel, »Die Göttin der Wahl ist tot«, geht vom Einzelnen in<br />

den gesellschaftlichen Bereich über: Wie zerstört der Dualismus von<br />

<strong>Körper</strong> und Person unsere intimsten Beziehungen, insbesondere Ehe<br />

und Familie, und lässt die Menschen einsam und isoliert zurück?<br />

* * *<br />

Wir leben in einer moralischen Wüste, in der Menschen verzweifelt<br />

nach Antworten auf schwierige Fragen des Lebens und der Sexualität<br />

suchen. Aber es gibt Hoffnung. In der Wüste können wir einen<br />

Garten anlegen. Wir können eine auf die Realität gegründete Moral<br />

mit einer positiven, lebensbejahenden Sicht auf die menschliche<br />

Person entdecken – eine, die inspirierender, ansprechender und<br />

befreiender ist als die säkulare Weltanschauung. Wie das geht, erfährst<br />

du auf der nächsten Seite in Kapitel 1.<br />

22


1<br />

Ich hasse mich<br />

Aufstieg und Niedergang des menschlichen <strong>Körper</strong>s<br />

Für Zoe schien alles bestens zu laufen. Sie war eine kluge, leistungsstarke<br />

Schülerin, deren Eltern sie zu Hause im Homeschooling unterrichteten.<br />

Zwei Eliteuniversitäten hatten ihr ein Vollstudium angeboten,<br />

als sie erst siebzehn und noch in der Mittelstufe war.<br />

Dann, ohne Vorwarnung, lief Zoe von zu Hause weg.<br />

Die in ihrer Angst und Trauer völlig verzweifelten Eltern erfuhren,<br />

dass sie von einer zweiundzwanzigjährigen Collegestudentin<br />

verführt worden war – nennen wir sie Holly –, die eine nahegelegene<br />

evangelikale Universität besuchte. Sie hatten sich bei einer<br />

christlichen Homeschooling-Organisation getroffen, wo Holly unterrichtete.<br />

Da das Volljährigkeitsalter in ihrem Staat achtzehn Jahre<br />

betrug, war ihre Beziehung illegal. Aus Angst vor einer möglichen<br />

Klage überredete Holly Zoe, in einen anderen Staat mit niedrigerem<br />

Volljährigkeitsalter zu fliehen.<br />

Obwohl Zoes Eltern sich entschieden, keine Anklage zu erheben,<br />

zählten laut Gesetz diese Vergehen zum Tatbestand der sexuellen<br />

Gewalt: Unzucht mit Minderjährigen, Verführung einer<br />

Minderjährigen zu sexueller Aktivität, Entführung einer Minderjährigen<br />

und sexuelle Übergriffe auf ein Kind durch eine Person<br />

des Schulpersonals oder eine Person, die hauptberuflich oder ehrenamtlich<br />

mit Kindern arbeitet. (Im Gesetz steht »Kind« für eine<br />

minderjährige Person.)<br />

Um Verständnis (und staatliche Leistungen) zu bekommen, behauptete<br />

Zoe, ihre Eltern hätten sie aus dem Haus geworfen. Viele<br />

Freunde der Familie glaubten ihr, mit dem Ergebnis, dass ihre El-<br />

23


<strong>Liebe</strong> <strong>deinen</strong> <strong>Körper</strong> · Kapitel 1 · Ich hasse mich<br />

tern zusätzlich zum Kummer über den Verlust ihrer Tochter von<br />

ihnen gemieden wurden.<br />

Wenige Monate nachdem sie Zoe überredet hatte, mit ihr an<br />

das andere Ende des Landes zu ziehen, ließ Holly sie fallen, um<br />

Affären mit anderen Frauen einzugehen. Heute promoviert Holly<br />

an einer renommierten Eliteuniversität und studiert Genderwissenschaften<br />

und sexuelle Orientierung. Zoe kellnert in einem Café,<br />

desorientiert und deprimiert. Ein Opfer der sexuellen Revolution. 7<br />

In unserer Zeit sind Fragen des Lebens und der Sexualität nicht<br />

nur Theorie. Sie betreffen jeden ganz persönlich. Um wirksam auf<br />

die heutige säkulare Moralrevolution zu reagieren, müssen wir die<br />

zugrundeliegende Weltanschauung untersuchen. In der Einleitung<br />

haben wir festgestellt, dass die Weltanschauung, die die säkulare<br />

Moral unterstützt, ein zutiefst gespaltener Dualismus ist, der <strong>Körper</strong><br />

und Person voneinander trennt. Wenn du diese Teilung in zwei<br />

Stockwerke durchschaust, bist du in der Lage, die zutiefst entmenschlichende<br />

Weltanschauung aufzudecken, die den Kern von<br />

Abtreibung, Sterbehilfe, Homosexualität, Transgenderismus und<br />

dem sexuellen Chaos der Aufreiß-Kultur bildet.<br />

In diesem Kapitel arbeite ich das zweigeschossige Weltbild durch<br />

einen Überblick über die wichtigsten moralischen Themen heraus.<br />

In den folgenden Kapiteln entfalte ich jedes Thema ausführlicher<br />

und gehe auf die häufigsten Einwände ein. Es wird sich zeigen, dass<br />

eine biblische Ethik im Gegensatz zur säkularen Weltanschauung<br />

eine umfassende, ganzheitliche Sicht auf die Person gewährleistet,<br />

eine Sicht, die sich für Menschenrechte und Würde einsetzt.<br />

Mensch sein allein reicht nicht<br />

Am besten lässt sich die Dichotomie zwischen <strong>Körper</strong> und Person<br />

anhand eines Beispiels veranschaulichen. Vor einigen Jahren<br />

erschien ein Artikel der britischen Journalistin Miranda Sawyer,<br />

24<br />

7 Siehe Jennifer Roback Morse: The Sexual Revolution and Its Victims (San<br />

Marcos, CA: Ruth Institute Books, 2015).


Aufstieg und Niedergang des menschlichen <strong>Körper</strong>s<br />

die sich als liberale Feministin bezeichnete. In dem Artikel schrieb<br />

sie, dass sie immer entschieden »pro-Choice« gewesen sei.<br />

Bis sie mit ihrem eigenen Baby schwanger wurde.<br />

Daraufhin setzte sie sich mit dem Thema auseinander. »Ich bezeichnete<br />

das Leben in mir als ein Baby, weil ich es wollte. Doch<br />

wenn ich es nicht gewollt hätte, würde ich es nur als einen Zellklumpen<br />

betrachten, den man töten kann. […] Das erschien mir<br />

irrational. Vielleicht sogar unmoralisch.« 8 Babys im Bauch erfüllen<br />

nicht nur dann die Kriterien des Menschseins, wenn jemand sie<br />

will.<br />

Sawyer war gegen die Wand der Realität gelaufen und die Realität<br />

passte nicht zu ihrer Ideologie. Sie beschäftigte sich eingehender<br />

mit dem Thema und produzierte sogar einen Dokumentarfilm.<br />

Schließlich kam sie zu dem Schluss: »Am Ende muss ich der Aussage<br />

zustimmen, dass das Leben mit der Empfängnis beginnt. Also<br />

ja, Abtreibung beendet dieses Leben.« Doch dann fügte sie hinzu:<br />

»Aber vielleicht geht es nicht um die Tatsache, dass es Leben ist.<br />

Vielleicht ist die entscheidende Frage, ob dieses Leben so weit herangewachsen<br />

ist […] dass es sich um eine Person handelt.« 9<br />

Was ist hier mit dem Menschenbild passiert? Es wurde in zwei<br />

Teile gerissen. Wenn ein Baby von der Empfängnis an ein Menschenleben,<br />

aber erst zu einem späteren Zeitpunkt eine Person ist,<br />

dann sind das eindeutig zwei verschiedene Dinge.<br />

Dies ist eine radikal gespaltene, fragmentierte, zerbrochene, dualistische<br />

Sichtweise des Menschen. Im normalen Gespräch verwenden<br />

wir natürlich den Ausdruck Mensch, um die Person zu<br />

bezeichnen. Doch die beiden Begriffe wurden vom Obersten Gerichtshof<br />

in seiner bahnbrechenden Abtreibungsentscheidung von<br />

1973 Roe versus Wade auseinandergerissen. Das Gericht entschied<br />

damals in einer Grundsatzentscheidung, dass das Baby in der Gebärmutter<br />

zwar menschlich, aber keine »Person« gemäß dem vierzehnten<br />

Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten ist.<br />

8 Miranda Sawyer: »I knew where I stood on abortion. But I had to rethink«,<br />

The Guardian, 7. April 2007.<br />

9 ebd.<br />

25


<strong>Liebe</strong> <strong>deinen</strong> <strong>Körper</strong> · Kapitel 1 · Ich hasse mich<br />

Damit haben wir eine neue Kategorie von Individuen: die<br />

menschliche Nicht-Person.<br />

Diesen modernen Dualismus können wir mit Schaeffers Bild<br />

von den zwei Stockwerken in einem Gebäude veranschaulichen<br />

(siehe Einführung). In seinem Frühstadium befindet sich der Fötus<br />

in der unteren Etage. Hier wird anerkannt, dass es sich von der<br />

Empfängnis an um einen Menschen handelt, in dem Sinne, dass<br />

er ein biologischer, durch die empirischen Methoden der Wissenschaft<br />

erkennbarer Organismus ist. Aber es wird weder angenommen,<br />

dass er einen moralischen Status hat, noch ist ihm Rechtsschutz<br />

gewährleistet. Später, zu einem undefinierten Zeitpunkt,<br />

springt er in die obere Etage und wird zu einer Person, wobei<br />

aufgrund eines bestimmten Grades kognitiver Fähigkeit, des Bewusstseins<br />

und der Selbstwahrnehmung definiert wird, ob jemand<br />

eine Person ist. Erst dann erlangt der Mensch einen moralischen<br />

und rechtlichen Status.<br />

Dies wird als »Personschafts-Theorie« (engl. personhood theory)<br />

bezeichnet und ist eine Weiterentwicklung der Tatsachen-Werte-Unterscheidung:<br />

Das biologische Menschsein ist eine wissenschaftliche<br />

Tatsache. Aber eine Person zu sein, ist ein ethisches<br />

Konzept, das durch unser Wertesystem definiert wird.<br />

26<br />

Abtreibung beruht auf der Personschafts-Theorie<br />

Person<br />

hat einen moralischen und rechtlichen Stand<br />

_______________________________________<br />

<strong>Körper</strong><br />

ist ein entbehrlicher biologischer Organismus<br />

Aus dieser zweistöckigen Sichtweise folgt, dass das Menschsein allein<br />

nicht ausreicht, um Rechte zu erhalten. Denken wir an Sawyers<br />

Worte: »Aber vielleicht geht es nicht um die Tatsache, dass es<br />

Leben ist.« Dem menschlichen Leben an sich wird aus dieser Sicht<br />

kein Wert beigemessen und was wir damit machen hat keine moralische<br />

Bedeutung.


Aufstieg und Niedergang des menschlichen <strong>Körper</strong>s<br />

Natürlich denken einzelne, die sich für eine Abtreibung entscheiden,<br />

nicht unbedingt bewusst über diese philosophischen Aspekte<br />

nach. Manche sagten mir, sie könnten Abtreibung befürworten<br />

und trotzdem der Meinung sein, dass das Baby einen Wert hat.<br />

Aber eine Handlung kann ihre eigene Logik haben, ob wir es wollen<br />

oder nicht.<br />

Wenn du für Abtreibung bist, sagst du implizit, dass ein ungeborenes<br />

Baby in der Anfangsphase des Lebens so wenig Wert hat,<br />

dass es aus jeglichem Grund – oder auch ohne Grund – getötet<br />

werden kann. Ohne jegliche moralische Konsequenzen. Was immer<br />

du dabei empfinden magst, dies drückt eine sehr geringschätzende<br />

Sicht auf das Leben aus. Rein logisch musst du dann auch der<br />

Meinung sein, dass das Baby zu irgendeinem späteren Zeitpunkt zu<br />

einer Person wird und dann einen so hohen Wert bekommt, dass es<br />

ein Verbrechen wäre, es zu töten.<br />

In der Folge wird das vorgeburtliche Kind als Mensch, aber<br />

nicht als Person betrachtet. Es ist nur ein verfügbares Stück Materie,<br />

ein natürlicher Rohstoff wie Holz oder Mais. Es kann für die<br />

Forschung und für Experimente verwendet, genetisch manipuliert,<br />

für Organe ausgeschlachtet und dann mit den anderen medizinischen<br />

Abfällen entsorgt werden.<br />

Die Annahme im Kern der Abtreibung ist also die Personschafts-Theorie<br />

mit ihrer zweistufigen Sichtweise auf das menschliche<br />

Wesen. Eine Theorie, die dem lebenden menschlichen <strong>Körper</strong><br />

keinen Wert beimisst, sondern all unsere Wertigkeit im Geist oder<br />

im Bewusstsein sieht. 10<br />

10 Dass Schaeffers Analyse des Dualismus auf Abtreibungsargumente angewendet<br />

werden kann, wurde mir klar durch Robert Georges: A Clash of<br />

Orthodoxies (Wilmington, DE: Intercollegiate Studies Institute, 2001). Siehe<br />

auch Robert George und Christopher Tollefsen: Embryo: A Defense of<br />

Human Life (New York: Random House, 2008); Patrick Lee und Robert<br />

George: Body-Self Dualism in Contemporary Ethics and Politics (Cambridge,<br />

UK: Cambridge University Press, 2008); Gerard V. Bradley und Robert P.<br />

George: Marriage and the Liberal Imagination, Scholarly Works (1995), Paper<br />

878. Weitere Quellen zum Dualismus in Abtreibungsargumenten sind die<br />

Schriften von William E. May, wie z. B. Philosophical Anthropology and Evangelium<br />

Vitae, http://www.christendom-awake.org/pages/may/philanthropol.<br />

27


<strong>Liebe</strong> <strong>deinen</strong> <strong>Körper</strong> · Kapitel 1 · Ich hasse mich<br />

Die Personschafts-Theorie geht daher von einem sehr geringschätzenden<br />

Blick auf den menschlichen <strong>Körper</strong> aus, der letztlich uns<br />

alle entmenschlicht. Denn wenn unser <strong>Körper</strong> keinen Eigenwert<br />

besitzt, dann wird ein wichtiger Teil unserer Identität abgewertet.<br />

Wir werden feststellen: Dieselbe <strong>Körper</strong>-Person-Dichotomie – mit<br />

ihrer Herabwürdigung des <strong>Körper</strong>s – befeuert als stillschweigende<br />

Vorrausetzung auch die säkularen Ansichten zu Euthanasie, Sexualität,<br />

Homosexualität, Transgenderismus und vielen damit zusammenhängenden<br />

ethischen Themen.<br />

Die Natur »lesen«<br />

Um diesen zweistöckigen Dualismus zu verstehen, müssen wir uns<br />

fragen, woher er kommt und wie er sich entwickelt hat. Am Anfang<br />

steht die Frage, was bedeutet das Wort Dualismus? Auf der einen<br />

Seite ist es einfach die Behauptung, die Realität bestehe aus zwei<br />

Arten von Substanzen und nicht nur aus einer. In diesem traditionellen<br />

Sinne ist das Christentum dualistisch, weil es davon ausgeht,<br />

dass es <strong>Körper</strong> und Seele, Materie und Geist gibt. Diese beiden<br />

Substanzen interagieren kausal miteinander, aber keine von beiden<br />

kann auf die jeweils andere reduziert werden. Die Realität des geistlichen<br />

Bereichs zu verteidigen, ist heute wichtig, da die akademische<br />

Welt von der Philosophie des Materialismus dominiert wird<br />

(der Behauptung, außer der materiellen Welt existiere nichts). 11<br />

htm; What Is a Human Person and Who Counts as a Human Person?, http://<br />

www.christendom-awake.org/pages/may/humanperson.htm.<br />

11 Im Gegensatz zum Dualismus lehrt der Monismus, dass die Realität nur aus<br />

einer Substanz besteht. Der Materialismus ist monistisch, weil er davon ausgeht,<br />

dass es nur eine Substanz gibt, nämlich die Materie. Der Pantheismus<br />

ist ebenfalls monistisch, weil er davon ausgeht, dass es nur eine Substanz gibt,<br />

nämlich Geist. Siehe J. P. Moreland und Scott Rae: Body and Soul (Downers<br />

Grove, IL: InterVarsity Press, 2000). Christliche Philosophen, die den Dualismus<br />

gegen den Materialismus verteidigen, sind u. a. Alvin Plantinga und<br />

Richard Swinburne. Siehe ihre Essays in Persons: Human and Divine, Hg.<br />

Peter Van Inwagen und Dean Zimmerman (New York: Oxford University<br />

Press, 2007).<br />

28


Aufstieg und Niedergang des menschlichen <strong>Körper</strong>s<br />

Doch das Christentum vertritt die Ansicht, dass <strong>Körper</strong> und<br />

Seele zusammen eine miteinander verwobene Einheit bilden, dass<br />

der Mensch eine verkörperte Seele ist (wie wir am Ende dieses Kapitels<br />

genauer sehen werden). Im Gegensatz dazu beinhaltet die<br />

Personschafts-Theorie einen zweistufigen Dualismus, der den <strong>Körper</strong><br />

gegen die Person stellt, als wären es zwei getrennte, lediglich<br />

zusammengesteckte Dinge. Infolgedessen erniedrigt sie den <strong>Körper</strong><br />

zu etwas für die Person Fremdem, etwas Minderwertigem, das für<br />

rein pragmatische Zwecke verwendet werden kann.<br />

Wie hat sich eine solche negative Sicht auf den <strong>Körper</strong> entwickelt?<br />

Da der <strong>Körper</strong> Teil der Natur ist, finden wir die Antwort im<br />

Denken der Menschen über die Natur. Jahrhundertelang war die<br />

westliche Kultur von einem christlichen Erbe geprägt, welches die<br />

Natur als Gottes Werk betrachtet, das seine Absichten widerspiegelt.<br />

Die Kirchenväter drückten es so aus: Gottes Offenbarung<br />

kommt zu uns in »zwei Büchern«, dem Buch des Wortes Gottes<br />

(der Bibel) und dem Buch der Welt Gottes (der Schöpfung). 12 Die<br />

Natur ist Ausdruck der Absichten Gottes und eine Offenbarung<br />

seines Charakters. Der Psalmist schreibt: »Die Himmel erzählen<br />

die Ehre Gottes, und die Feste verkündigt seiner Hände Werk«<br />

(Ps 19,1; Schlachter). Im Römerbrief sagt der Apostel Paulus, die<br />

Schöpfung sei ein Beweis für Gott: »Denn sein unsichtbares Wesen,<br />

sowohl seine ewige Kraft als auch seine Göttlichkeit, wird seit<br />

Erschaffung der Welt in dem Gemachten wahrgenommen und geschaut«<br />

(Röm 1,20).<br />

Mit anderen Worten: Auch wenn die Welt aufgrund der Sünde<br />

gefallen und gebrochen ist, spricht sie immer noch von ihrem<br />

Schöpfer. Wir können Zeichen von Gottes Existenz und Absichten<br />

in der Schöpfung »lesen«. Dies wird als teleologische Sicht der Natur<br />

bezeichnet, vom griechischen Wort telos, das Zweck oder Ziel<br />

bedeutet. Es ist offensichtlich, dass alles Leben zu einem bestimmten<br />

Zweck konstruiert ist: Augen sind zum Sehen, Ohren zum Hören,<br />

Flossen zum Schwimmen und Flügel zum Fliegen. Jeder Teil<br />

12 <strong>Pearcey</strong>: Saving Leonardo, S. 85.<br />

29


<strong>Liebe</strong> <strong>deinen</strong> <strong>Körper</strong> · Kapitel 1 · Ich hasse mich<br />

eines Organismus ist vorzüglich an die anderen Teile angepasst,<br />

und alle interagieren koordiniert und zielgerichtet, um die Absicht<br />

des Ganzen zu verwirklichen. Diese Art integrierter Struktur ist<br />

das Kennzeichen von Design: Plan, Wille, Absicht.<br />

Auch heute noch können Biologen die Sprache der Teleologie<br />

nicht ganz vermeiden, auch wenn sie diese durch Formulierungen<br />

wie »gute Ingenieurarbeit« ersetzen. 13 Wissenschaftler sagen, ein<br />

Auge ist ein gutes Auge, wenn es seinen Zweck erfüllt. Ein Flügel<br />

ist ein guter Flügel, wenn er wie vorgesehen funktioniert.<br />

Doch die beeindruckendsten Beispiele dieser Ingenieurarbeit<br />

sind erst seit der Erfindung des Elektronenmikroskops sichtbar.<br />

Jede der Nanomaschinen innerhalb der Zelle (beispielsweise Proteine)<br />

hat ihre eigene unverwechselbare Funktion. Forscher führen<br />

Experimente der so genannten »Reverse Engineering Technik«<br />

durch. Als hätten sie ein technisches Gerät in der Hand, versuchen<br />

sie, den Entwicklungsprozess zu rekonstruieren.<br />

Der schlagende Beweis für ein Design liegt jedoch im Zellkern –<br />

der Kommandozentrale. Das DNA-Molekül speichert eine immense<br />

Menge an Informationen. Genetiker sprechen von der DNA als<br />

einer »Datenbank«, die ganze »Bibliotheken« genetischer Informationen<br />

speichert. Sie analysieren, wie RNA die Vier-Buchstaben-Sprache<br />

der Nukleotide in die Zwanzig-Buchstaben-Sprache der Proteine<br />

»übersetzt«. Aus der Suche nach dem Ursprung des Lebens<br />

wurde die Suche nach dem Ursprung biologischer Informationen.<br />

Und Informationen setzen die Existenz eines Verstandes voraus.<br />

Eines Handelnden, der zu Absicht, Wille, Plan oder Zielrichtung<br />

fähig ist. Die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse deuten darauf<br />

hin, dass das Neue Testament recht hat: »Am Anfang war das<br />

Wort« (Joh 1,1). Im griechischen Original ist der mit »Wort« übersetzte<br />

Begriff logos, was auch Vernunft, Intelligenz oder Information<br />

bedeutet.<br />

Wissenschaftler haben allerdings nicht nur in Lebewesen, sondern<br />

auch im Universum Beweise für die Teleologie entdeckt. Sie<br />

13 Siehe z. B. Brian Charlesworth und Deborah Charlesworth: Evolution: A Very<br />

Short Introduction (Oxford, UK: Oxford University Press, 2003), Kapitel 5.<br />

30


Aufstieg und Niedergang des menschlichen <strong>Körper</strong>s<br />

stellten fest, dass die grundlegenden physikalischen Konstanten des<br />

Universums exakt so aufeinander abgestimmt sind, dass sie Leben<br />

ermöglichen. Der Harvard Astrophysiker Howard Smith schreibt:<br />

»Zu den Gesetzen des Universums gehören grundlegende fundamentale<br />

Zahlen wie die Stärken der vier Kräfte, die Lichtgeschwindigkeit,<br />

die Plancksche Konstante, die Massen von Elektronen oder<br />

Protonen und andere […] Würden diese Werte leicht, auch nur um<br />

wenige Prozentpunkte, abweichen, wären wir nicht hier […] Leben,<br />

insbesondere intelligentes Leben könnte nicht existieren.«<br />

Dieses Phänomen nennt man Feinabstimmung des Universums.<br />

Und es bedeutet, dass selbst die physikalische Welt das Kennzeichen<br />

eines Designs zeigt. Der Untertitel von Smiths Artikel lautet:<br />

»Geradezu entgegen ihrer eigenen Sicht werden Wissenschaftler zu<br />

einem teleologischen Verständnis des Kosmos getrieben.« 14<br />

Wie man Mensch ist<br />

Wenn die Natur teleologisch und der menschliche <strong>Körper</strong> Teil der<br />

Natur ist, dann ist er ebenfalls teleologisch. Es gibt einen eingebauten<br />

Zweck, der zum Teil im Moralgesetz zum Ausdruck kommt.<br />

Wir sind moralisch verpflichtet, Menschen so zu behandeln, dass sie<br />

ihren Zweck erfüllen können. Dies erklärt, warum biblische Moral<br />

nicht willkürlich ist. Die Moral ist der Leitfaden zur Erfüllung der<br />

ursprünglichen Absicht Gottes für die Menschheit – die Anleitung,<br />

14 Howard A. Smith: »Does Science Suggest Humans Have a Cosmic Role? Almost<br />

in Spite of Themselves, Scientists Are Driven to a Teleological View of<br />

the Cosmos«, Nautilus, Dezember 2016. Mehr Informationen zur DNA finden<br />

sich in meiner Abhandlung in The Soul of Science (Wheaton, IL: Crossway,<br />

1994), Kap. 10; Stephen C. Meyer: Signature in the Cell (New York: HarperCollins,<br />

2099). Mehr zum Thema Feinabstimmung, siehe Hugh Ross: The<br />

Creator and the Cosmos: How the Latest Scientific Discoveries of the Century<br />

Reveal God, 3. Aufl. (Colorado Springs: Nav Press, 2001); Guillermo Gonzalez<br />

and Jay Richards: The Privileged Planet: How Our Place in the Cosmos Is<br />

Designed for Discovery (New York: Routledge, 2014). Weitere Gedanken über<br />

Teleologie in der Natur, siehe William Dembski: Being as Communion: A<br />

Metaphysics of Information (New York: Routledge, 2014).<br />

31


<strong>Liebe</strong> <strong>deinen</strong> <strong>Körper</strong> · Kapitel 1 · Ich hasse mich<br />

die Person zu werden, zu der Gott uns ursprünglich machte – der<br />

Fahrplan zum Erreichen des menschlichen telos. Diese Moral wird<br />

manchmal als Naturrechtsethik bezeichnet, weil sie uns zeigt, wie<br />

wir unsere wahre Natur erfüllen und vollständig Mensch werden.<br />

In dieser zielgerichteten Sichtweise gibt es keine Zweiteilung in<br />

<strong>Körper</strong> und Person. Beide zusammen bilden eine integrierte psycho-physische<br />

Einheit. Wir achten und ehren unseren <strong>Körper</strong> als<br />

Teil der Offenbarung der Absicht Gottes für unser Leben. Der<br />

<strong>Körper</strong> ist Teil der erschaffenen Ordnung, die »Gottes Herrlichkeit<br />

verkündet«.<br />

Das bedeutet, dass die physische Struktur unseres <strong>Körper</strong>s Hinweise<br />

auf unsere persönliche Identität offenbart. Die Art und Weise,<br />

in der unser <strong>Körper</strong> funktioniert, liefert rationale Gründe für<br />

unsere moralischen Entscheidungen. Deshalb berücksichtigt eine<br />

christliche Ethik, wie wir noch sehen werden, immer die Fakten<br />

und Erkenntnisse der Biologie, sei es hinsichtlich Abtreibung (wissenschaftliche<br />

Erkenntnisse darüber, wann das Leben beginnt)<br />

oder Sexualität (Erkenntnisse über die Unterschiede der Geschlechter<br />

und der Fortpflanzung). Eine christliche Ethik respektiert die<br />

Teleologie der Natur und des <strong>Körper</strong>s.<br />

32<br />

Materie ohne Bedeutung<br />

Was hat dieses zielgerichtete Naturbild verändert? Wie hat das<br />

Abendland seine positive Sicht auf den <strong>Körper</strong> verloren?<br />

In der Neuzeit war der wichtigste Wendepunkt die 1859 veröffentlichte<br />

Evolutionstheorie von Charles Darwin. (Es gab andere<br />

vor ihm, aber Darwin hat heute den größten Einfluss, dazu später<br />

mehr.) Darwin konnte nicht leugnen, dass die Natur bewusst<br />

gestaltet erscheint. Aber nachdem er die Philosophie des Materialismus<br />

übernommen hatte, versuchte er, diesen Anschein auf eine<br />

Illusion zurückführen. Er wollte zeigen, dass lebendige Strukturen<br />

zwar teleologisch erscheinen, in Wirklichkeit aber das Ergebnis<br />

blinder, ungerichteter Kräfte seien. Obwohl diese scheinbar das Ergebnis<br />

einer Absicht (eines Willens, Plans, einer Intelligenz) seien,


Aufstieg und Niedergang des menschlichen <strong>Körper</strong>s<br />

handele es sich tatsächlich um Erzeugnisse eines ziellosen materiellen<br />

Prozesses. Die beiden Hauptelemente seiner Theorie, Zufallsvariationen<br />

und natürliche Selektion, dienten ausdrücklich dazu,<br />

einen Plan oder Zweck auszuschließen.<br />

Der Historiker Jacques Barzun stellt fest: »Diese Leugnung eines<br />

Zwecks ist Darwins ganz unverkennbares Argument.« 15 Dem<br />

stimmt der Biologe Richard Dawkins zu: »Natürliche Selektion,<br />

der blinde, unbewusste, automatische Prozess, den Darwin entdeckte<br />

[…] hat keine Zielsetzung.« 16<br />

Auf einer Richterskala des Denkens verursachte Darwins Theorie<br />

ein Erdbeben der Stärke weit über 9,0. Und die seismischen<br />

Wellen waren nicht auf die Wissenschaft beschränkt. Auch im<br />

moralischen Denken verursachten sie schwere Nachbeben. Denn<br />

wenn die Natur nicht das Werk Gottes war, wenn sie keine Anzeichen<br />

der guten Absichten Gottes mehr trug, dann lieferte sie<br />

keine Grundlage für moralische Wahrheiten mehr. Sie war nur eine<br />

Maschine, die von blinden, materiellen Kräften mitgerissen wurde.<br />

Der Philosoph Charles Taylor erklärt: »Der Kosmos wird nicht<br />

mehr als die Verkörperung einer sinnvollen Ordnung angesehen,<br />

die das Gute für uns definieren kann.« 17<br />

Der nächste logische Schritt ist entscheidend: Wenn die Natur<br />

nicht den Willen Gottes offenbart, dann ist sie ein moralisch neutraler<br />

Raum, in dem der Mensch seinen Willen durchsetzen kann.<br />

Es gibt nichts in der Natur, das zu berücksichtigen der Mensch<br />

moralisch verpflichtet wäre. Die Natur wird zu einem Bereich mit<br />

wertneutralen Fakten, die allen Werten zur Verfügung stehen, die<br />

der Mensch wählt.<br />

Und weil der menschliche <strong>Körper</strong> Teil der Natur ist, wird auch<br />

er auf die Ebene eines amoralischen Mechanismus herabgewürdigt,<br />

der dem Willen des autonomen Selbst unterliegt. Wenn der <strong>Körper</strong><br />

keine von Gott integrierte innere Bestimmung hat, dann sind<br />

15 Jacques Barzun: Darwin, Marx, Wagner (Chicago: University of Chicago<br />

Press, 1981), S. 11.<br />

16 Richard Dawkins: The Blind Watchmaker (New York: Norton, 1980), S. 5.<br />

17 Charles Taylor: Sources of the Self: The Making of Modern Identity (Cambridge,<br />

MA: Harvard University Press, 1989), S. 148-149.<br />

33


<strong>Liebe</strong> <strong>deinen</strong> <strong>Körper</strong> · Kapitel 1 · Ich hasse mich<br />

menschliche Ziele das einzige, was zählt. Der <strong>Körper</strong> wird auf einen<br />

Klumpen Materie reduziert – eine Ansammlung von Atomen<br />

und Molekülen, die sich nicht wesentlich von jeder anderen zufälligen<br />

Konfiguration von Materie unterscheidet. Er ist ein Rohstoff,<br />

der manipuliert und gesteuert werden muss, um, wie jeder andere<br />

natürliche Rohstoff, der menschlichen Agenda zu dienen. 18<br />

Wir neigen dazu, den Materialismus als eine Philosophie zu betrachten,<br />

die der materiellen Welt einen hohen Wert beimisst, weil<br />

sie behauptet, die Materie sei alles, was existiert. Doch ironischerweise<br />

misst sie der materiellen Welt tatsächlich einen geringen Wert<br />

bei und betrachtet diese lediglich als bewegte Teilchen ohne höhere<br />

Bestimmung oder Bedeutung.<br />

Wegwerfartikel Mensch<br />

Das erklärt die Logik, die der Abtreibung zugrunde liegt. In der<br />

Vergangenheit leugneten Abtreibungsbefürworter gewöhnlich,<br />

dass ein ungeborenes Baby ein Mensch ist: Es ist nur ein Gewebeklumpen,<br />

ein potenzielles Leben, eine Ansammlung von Zellen. Infolgedessen<br />

konzentrierten sich viele Pro-Life-Argumente auf den<br />

Nachweis, dass ein Fötus menschliches Leben ist. Heute sind sich<br />

jedoch aufgrund der Fortschritte in Bezug auf Genetik und DNA<br />

praktisch alle professionellen Bioethiker einig, dass das Leben mit<br />

18 Der Philosoph David West fasst den Wandel mit diesen Worten zusammen:<br />

»Als die Natur als Manifestation des Willens Gottes betrachtet wurde, war es<br />

das Ziel der Erkenntnis, den Plan Gottes zu erfüllen und in Harmonie mit seinen<br />

Zielen zu leben. Aber wenn die Natur den Zweck Gottes nicht offenbart,<br />

dann ist das Ziel der Erkenntnis nur die Verbesserung unserer Fähigkeit, die<br />

Natur vorherzusagen und zu beherrschen, um unseren eigenen Bedürfnissen<br />

und Vorlieben zu dienen.« Continental Philosophy: An Introduction, 2. Aufl.<br />

(Cambridge, UK: Polity Press, 2010), S. 15. Ähnlich erklärt es Roger Lundin<br />

vom Wheaton College: »Mit dem Verlust des Glaubens an die spirituelle und<br />

ethische Bedeutung der Schöpfung und des menschlichen <strong>Körper</strong>s« wurden<br />

diese zu »essenziell amoralischen Mechanismen, die wir für jegliche private<br />

Zwecke nutzen können.« The Culture of Interpretation: Christian Faith and the<br />

Postmodern World (Grand Rapids: Eerdmans, 1993), S. 102.<br />

34


Aufstieg und Niedergang des menschlichen <strong>Körper</strong>s<br />

der Empfängnis beginnt. Ein Embryo besitzt einen vollständigen<br />

Satz Chromosomen und DNA. Er ist ein vollständiges und ganzheitliches<br />

Individuum, ab der Befruchtung fähig zu einer intern<br />

gesteuerten vollständigen Entwicklung.<br />

Warum wird dies nicht als zwingender Beweis dafür angesehen,<br />

dass Abtreibung moralisch falsch ist? Weil wir uns nach der Personschafts-Theorie<br />

im Bereich der Wissenschaft (in der unteren Etage)<br />

befinden, wenn wir über den Menschen als biologischen Organismus<br />

sprechen. Dort wird das Leben auf einen bloßen Mechanismus<br />

ohne eigentlichen Zweck oder Würde zurückgeführt. Es wurde zu<br />

Rohmaterial abgewertet, das für jeden pragmatischen Nutzen, den<br />

wir daraus ziehen können, eingesetzt werden darf. Selbst Bioethiker,<br />

die den Fötus als biologisch menschlich anerkennen, kommen<br />

daher nicht unbedingt zu dem Schluss, dass er einen moralischen<br />

Status hat oder rechtlich geschützt sein sollte. Stattdessen wird der<br />

Fötus nur als ein Stück Materie behandelt, das für Forschung oder<br />

Experimente verwendet werden und dann mit dem anderen medizinischen<br />

Müll entsorgt werden kann.<br />

In der zweigeschossigen Weltanschauung genügt es nicht, Mitglied<br />

der menschlichen Rasse zu sein, um sich als »Person« zu qualifizieren.<br />

Das Baby in der Gebärmutter muss sich den Status des<br />

Personseins verdienen, indem es eine bestimmte Ebene kognitiver<br />

Fähigkeiten erreicht – die Fähigkeit zu Bewusstsein, Selbsterkenntnis,<br />

Selbstbestimmtheit und so weiter.<br />

Die Personschafts-Theorie ist die Annahme hinter den häufigsten<br />

Argumenten für Abtreibung. Als John Kerry 2004 für das Amt<br />

des US-Präsidenten kandidierte, überraschte er die Öffentlichkeit,<br />

als er der Aussage zustimmte, dass »das Leben mit der Empfängnis<br />

beginnt«. Wie konnte er in diesem Fall Abtreibung befürworten?<br />

Weil, wie er in einem Interview mit dem Reporter Peter Jennings<br />

erklärte, das ungeborene Baby »nicht diejenige Lebensform ist, die<br />

nach unserer Definition eine Person ist«. 19<br />

Bioethiker, die die Personschafts-Theorie anwenden, behaupten<br />

oft, wissenschaftlich zu sein, aber die Theorie ist nicht wis-<br />

19 »Peter Jennings Interviews Sen. John Kerry«, ABC News, 22. Juli 2004.<br />

35


<strong>Liebe</strong> <strong>deinen</strong> <strong>Körper</strong> · Kapitel 1 · Ich hasse mich<br />

senschaftlich gestützt. Es würde einer erheblichen Transformation<br />

bedürfen, aus einem bloßen menschlichen Organismus ohne<br />

Rechte eine Person mit einem unverletzlichen Recht auf Leben zu<br />

machen. Aber es gibt keine wissenschaftlichen Beweise für eine solche<br />

Transformation, keinen einzigen dramatischen Wendepunkt,<br />

der empirisch nachweisbar wäre. Die Entwicklung eines Embryos<br />

ist ein kontinuierlicher Prozess, der das von Anfang an eingebaute<br />

Potenzial allmählich entfaltet. Das zweigeschossige Konzept der<br />

Personschaft ist weder empirisch noch wissenschaftlich.<br />

Die wissenschaftlichen Erkenntnisse begünstigen eigentlich eine<br />

teleologische Sichtweise, die den Menschen ab der Empfängnis<br />

als ein zusammenhängendes Ganzes betrachtet. In einer christlichen<br />

Weltanschauung ist jeder Mensch auch eine Person. Beides<br />

kann nicht voneinander getrennt werden. Diese Sichtweise beugt<br />

einer radikalen Abwertung menschlichen Lebens vor. Von Anfang<br />

an hat der <strong>Körper</strong> an dem menschlichen telos Anteil und damit an<br />

der Bestimmung und Würde der menschlichen Person. (Wir werden<br />

das Thema Abtreibung später genauer untersuchen. In Kapitel<br />

2 gehe ich außerdem auf Einwände ein.)<br />

36<br />

Dr. Schöntod<br />

Wie ist es mit der Euthanasie? Wie drückt sie die zweigeschossige,<br />

geteilte Weltanschauung aus? Viele Amerikaner erinnern sich noch<br />

an den Fall Terri Schiavo von 2005. Terri war eine junge verheiratete<br />

Frau, die einen vorübergehenden Herzstillstand erlitten hatte.<br />

Einige Ärzte erklärten, sie befinde sich im dauerhaften Wachkoma.<br />

Ihr Mann wollte die Zufuhr von Nahrung und Wasser einstellen<br />

lassen, aber ihre Eltern bestritten die Diagnose. Sie holten Meinungen<br />

zahlreicher medizinischer Experten ein, von denen viele<br />

aussagten, Terri reagiere auf Kommunikationsversuche. Nach einer<br />

Reihe von Gerichtsverfahren, die auf größtes öffentliches Interesse<br />

stießen, und einer Intervention durch den US-Kongress wurde<br />

schließlich die Zufuhr von Wasser und Nahrung eingestellt. Terri<br />

starb langsam durch Dehydrierung und Verhungern.


Aufstieg und Niedergang des menschlichen <strong>Körper</strong>s<br />

Terris Geschichte wurde in den Medien als ein Fall dargestellt,<br />

der das Recht zu sterben thematisiert. Aber Terri lag nicht im Sterben.<br />

Sie war nicht unheilbar krank. Das war also nicht wirklich der<br />

Kern der Debatte. Das Kernproblem war die Personschafts-Theorie.<br />

In einer Fernsehdebatte fragte Wesley Smith vom Discovery<br />

Institute einen Bioethiker der University of Florida: »Glauben Sie,<br />

dass Terri eine Person ist?«<br />

»Nein, das tue ich nicht«, antwortete der Bioethiker. »Meiner<br />

Meinung nach ist das Bewusstsein ein wesentliches Kriterium, das<br />

einen Status als Person definiert.« 20<br />

Was auch immer du über die Politik rund um Terris Fall denkst,<br />

diese Antwort bringt die weltanschauliche Bedeutung des Falls<br />

auf den Punkt. Nach der Personschafts-Theorie bist du, wenn du<br />

geistig behindert bist, wenn du kein willkürlich vorgeschriebenes<br />

Maß an neokortikaler Funktionalität mehr aufweist, keine Person<br />

mehr – auch wenn du offensichtlich noch Mensch bist.<br />

Einer derjenigen, die sich dafür aussprachen, Terris Zufuhr von<br />

Nahrung und Wasser abzustellen, war ein Neurologe namens Ronald<br />

Cranford, der sich selbst »Dr. Schöntod« (engl. Dr. Humane<br />

Death) nannte. Cranford war bekannt dafür, Euthanasie auch für<br />

behinderte Menschen zu fordern, die bei Bewusstsein und teilweise<br />

beweglich sind. In Kalifornien wurde ein Mann namens Robert<br />

Wendland bei einem Autounfall hirngeschädigt. Er konnte logische<br />

Tests mit farbigen Klammern durchführen, Knöpfe drücken,<br />

um Ja-Nein-Fragen zu beantworten und wie der berühmte Physiker<br />

Stephen Hawking sogar mit einem Elektrorollstuhl über die<br />

Krankenhausflure fahren. Dennoch argumentierte Cranford vor<br />

Gericht, dass Wendland keine Person sei und seine Zufuhr von<br />

Nahrung und Wasser eingestellt werden müsse. 21<br />

20 Wesley J. Smith: »Personhood Theory: Why Contemporary Mainstream Bioethics<br />

is Dangerous«, National Review, 25. März 2005.<br />

21 Siehe Wesley Smith: The Culture of Death (New York: Encounter Books,<br />

2000), S. 73-78. In einigen Fällen kann es gute Gründe geben, das Leben<br />

nicht durch »außergewöhnliche Maßnahmen« zu verlängern. Damit gemeint<br />

sind schmerzhafte und invasive Verfahren, die dazu führen, dass Menschen<br />

langsamer sterben, während sie an Maschinen in steriler Krankenhausum-<br />

37


<strong>Liebe</strong> <strong>deinen</strong> <strong>Körper</strong> · Kapitel 1 · Ich hasse mich<br />

Gemäß der Zweiteilung in <strong>Körper</strong> und Person ist es moralisch<br />

nicht relevant, bloß biologisch der menschlichen Spezies anzugehören<br />

(untere Etage). Menschen müssen sich den Status des Personseins<br />

verdienen, indem sie zusätzliche Kriterien erfüllen: die Fähigkeit,<br />

Entscheidungen zu treffen, sich ihrer selbst bewusst zu sein,<br />

Zukunftspläne zu machen und so weiter (obere Etage). Als Person<br />

gilt nur, wer diese zusätzlichen Bedingungen erfüllt.<br />

Wer es nicht schafft, wird zur Nicht-Person herabgestuft. Und<br />

eine Nicht-Person ist nur ein <strong>Körper</strong> – ein verfügbares Material, eine<br />

natürliche Ressource, die für die Erforschung oder Entnahme von<br />

Organen oder andere rein utilitaristische Zwecke genutzt werden<br />

kann, beurteilt lediglich nach einer Kosten-Nutzen-Analyse.<br />

Wie bei der Abtreibung sprechen wir über die Logik, die in der<br />

Handlung selbst impliziert ist, unabhängig davon, wie man darüber<br />

denkt. Verantwortliche mögen mitfühlend sein, wenn sie das<br />

Leben eines leidenden Patienten beenden. Aber ihre Handlungen<br />

setzen eine zweigeschossige Weltanschauung voraus, die entmenschlichend<br />

ist. Eine Weltsicht, in der nicht Menschen, sondern<br />

nur »Personen« Rechte haben. Der einzige Weg, sich gegen die Kultur<br />

des Todes zu stellen, ist die Überzeugung, dass alle Menschen<br />

auch Personen sind. Niemand wird ausgeschlossen. (Wir werden<br />

die Themen Euthanasie und Sterbehilfe in Kapitel 3 vertiefen.)<br />

Schnell zusammen, schnell auseinander<br />

Was ist mit der Sexualität? Erstaunlicherweise zeigt die säkulare<br />

Sichtweise der Sexualität den gleichen <strong>Körper</strong>-Person-Dualismus.<br />

In der zweigeschossigen Weltanschauung, die den <strong>Körper</strong> als<br />

von der Person getrennt sieht (wie wir bei Abtreibung und Euthanasie<br />

gesehen haben), muss das, was Menschen sexuell mit ihrem<br />

<strong>Körper</strong> machen, keine Verbindung zu dem haben, was sie als<br />

38<br />

gebung angeschlossen sind, siehe Kapitel 3 in diesem Buch. Nahrung und<br />

Wasser sollten jedoch nicht als »außergewöhnliche Maßnahmen« betrachtet<br />

werden.


Aufstieg und Niedergang des menschlichen <strong>Körper</strong>s<br />

ganze Person sind. Sex kann rein körperlich sein, gänzlich losgelöst<br />

von <strong>Liebe</strong>.<br />

Unsere sexualisierte Kultur ermutigt dazu, diese beiden Aspekte<br />

voneinander getrennt zu halten. Das Magazin Seventeen ermahnt<br />

Teenagermädchen, ihre »Herzen unter Verschluss zu halten«, sonst<br />

könnten Jungs sie »langweilig und klammernd« finden. Cosmo<br />

weist Frauen darauf hin, dass sie einen Mann nach dem Sex begeistern,<br />

wenn sie ihn bitten, sie nach Hause zu fahren. (»Mach deutlich,<br />

dass du nicht die Absicht hast, hier rumzuhängen und auf eine<br />

Beziehung zu hoffen.«)<br />

Diese Beispiele hat Wendy Shalit in ihrem Buch Girls Gone<br />

Mild 22 gesammelt. Auf ihrer Website veröffentlicht Shalit dazu<br />

zum Teil herzzerreißende Leserbriefe. Als ich ihre Seite anschaute,<br />

war dort am selben Tag ein Brief der sechzehnjährigen Amanda<br />

erschienen, in dem sie die Situation an einer typischen Highschool<br />

beklagte: »Je unbeteiligter Jugendliche an ihre Sexualität herangehen,<br />

desto cooler sind sie.« Sie fügte hinzu, dass selbst Erwachsene<br />

– Lehrer, Eltern, Bücher, Zeitschriften – Jugendliche oft zu einer<br />

»Keine-große-Sache«-Auffassung von Sexualität drängten.<br />

Wie zur Bestätigung ihrer Thesen verteidigten Rezensenten von<br />

Shalits Buch solche lieblosen körperlichen Begegnungen. Die Washington<br />

Post meinte, es sei gesund, wenn Mädchen im Teenageralter<br />

sich weigerten, <strong>Liebe</strong> und Sex zu verschmelzen: »Manchmal kommt<br />

beides gleichzeitig, manchmal nicht.« Die Nation fragte trotzig:<br />

»Warum sollte es auf Sex eine ewige <strong>Liebe</strong>sgarantie geben?« 23 Ja,<br />

warum eigentlich, wenn der <strong>Körper</strong> nur ein Stück Materie ist, das<br />

zum Vergnügen erregt werden kann – ohne Bedeutung für die ganze<br />

Person?<br />

Die gleiche trostlose Sicht auf Sexualität wird schon kleinen<br />

Kindern eingeschärft. Ein Video aus dem Kinderfernsehen, das in<br />

22 Wendy Shalit: Girls Gone Mild: Young Women Reclaim Self-Respect and Find<br />

It’s Not Bad to Be Good (New York: Random House, 2007)<br />

23 Kathy Dobie: »Going All the Way: A Reporter Argues That Young Women<br />

Are Fooling around with Their Emotional Health«, Washington Post, 11. Februar<br />

2007; Nona Willis-Aronowitz: »The Virginity Mystique«, The Nation,<br />

19. Juli 2007.<br />

39

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