PORTRÄT HOLLIS CHATELAIN Fotos: Lynn Ruck Photography, Raleigh (Blue Men, Precious Water, Hope for our World, School: Its never Too Late to Learn, Sahel) Jason Dowdle Photography, Snow Camp (Innocence, Girls Are Strong) Hollis Chatelain Compassion 6 P W P R O F E S S I O N A L 0 4 / 2 0 1 9 01-68_PP_<strong>04</strong>-<strong>2019</strong>.indd 6 28.05.19 15:31
PORTRÄT HOLLIS CHATELAIN Aus einem Traum wird Wirklichkeit Das Markenzeichen von Hollis Chatelain, einer international anerkannten und mit Preisen ausgezeichneten Künstlerin, ist die Textilmalerei. In ihren Arbeiten, die sich mit anspruchsvollen sozialen und ökologischen Themen befassen, spiegeln sich die Erfahrungen ihres zwölfjährigen Aufenthaltes in Westafrika und die Arbeit mit humanitären Organisationen wider. Der Ausgangspunkt meiner Arbeiten ist oft ein monochromatischer Traum. Diese Träume sind meist von aktuellen Ereignissen oder von den vielen Erfahrungen aus meiner Zeit in Westafrika geprägt. Deshalb tendiere ich in der künstlerischen Praxis dazu, surreale, traumähnliche Kompositionen in fotorealistischer Qualität zu schaffen. Ich fertige „Textile Gemälde“, weil ich mit Stoff all die Dinge umsetzen kann, die ich liebe – Fotografieren, Zeichnen, Malen –, aber auch weil das Material sehr taktil ist. Die Weichheit des Mediums zieht die Zuschauer an und ermutigt sie dazu, sich auf einer tieferen Ebene mit meiner Arbeit zu beschäftigen. Sowohl meine Ausbildung in Design und Fotografie wie auch die über 35-jährige Erfahrung als professionelle Künstlerin helfen mir sicherlich dabei, meine Botschaften in Form von Kunstwerken zu übermitteln. Wenn mich ein Traum nicht mehr loslässt, fange ich an zu recherchieren, indem ich nach Bildern suche, die beschreiben, was ich geträumt habe. Es ist wichtig, dass Farben, Gesichter, Gebäude und Pflanzen so sind, wie sie sein könnten oder sollten. Ich habe im Laufe der Zeit erkannt, dass meine Träume mir oft Einblicke in Orte und Völker geben, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Sobald ich meine Recherche abgeschlossen habe, fange ich an zu zeichnen, und dabei nutze ich die ausgesuchten Fotos als Inspiration. Oft arbeite ich mit dreißig bis vierzig verschiedenen Bildern. Zusätzlich mache ich viele kleine Zeichnungen. Wenn ich mit der eigentlichen Skizze dann zufrieden bin, vergrößere ich sie und übertrage sie auf ein Sahel, 80 x 60 Inch Sahel heißt die Gegend südlich der Sahelwüste, wo es nur sehr wenige Bäume gibt. Eine der wenigen Arten, die dort wächst, ist der Baobab, auch Lebensbaum genannt, der den Menschen, die dort leben, Essen, Medizin und Schatten gibt. Die Frauen von dem Nomadenvolk Fulani zählen zu den hübschesten Frauen in West- Afrika. Als ich mich 1996 mit einem Freund in Benin zum Malen getroffen hatte, war das kleine Mädchen im orangefarbenen Kleid unser ständiger Begleiter. Innocence, 103 x 78 Inch Diese Arbeit ist auch nach einem Traum entstanden. Im Traum stand ich in einem riesigen Raum, am anderen Ende des Raumes hing ein Porträt in Orangetönen, das einen afrikanischen Jungen zeigte. Er wirkte auf mich klug, schelmisch und unschuldig. Als ich auf das Bild zuging, um es näher zu betrachten, bemerkte ich auf einmal, dass über dem Gesicht viele weitere Zeichnungen von Kindern verteilt waren. Kinder, die ich nur sehe, wenn ich genau vor dem Bild stehe und genau hinschaue. Die Kinder waren aus der ganzen Welt und in allen möglichen Situationen zu sehen. Sie lachten, spielten, aßen und arbeiteten. Aber es gab auch Kinder, die sich prostituierten oder Kindersoldaten waren. Es erschien mir so, als wollte der Junge, den ich Ernst taufte, mir mitteilen, dass ich mich um die Kinder dieser Welt kümmern soll, ihnen eine Stimme geben und ihre Geschichte erzählen soll, wie ein Auftrag, für die Unschuldigen einzutreten, die vielen Gefahren ausgesetzt sind. Während der vielen Monate, die ich an diesem Quilt arbeitete, habe ich zu den dargestellten Kindern eine besondere Nähe und Empathie entwickelt. Zwei meiner eigenen Kinder, meine Nichten und Neffen sowie deren Spielkameraden sind ebenfalls in diesem Quilt verewigt. P W P R O F E S S I O N A L 0 4 / 2 0 1 9 7 01-68_PP_<strong>04</strong>-<strong>2019</strong>.indd 7 28.05.19 15:31