Der Kampf um den Kanon
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TITEL<br />
gewor<strong>den</strong>en Pflanzschulen des Denkens. Künftig wür<strong>den</strong><br />
die Korridore des Sag- und Denk- und Erforschbaren<br />
enger. Im Rennen <strong>um</strong> je neue Sonderrechte, je<br />
neuen Sondergruppenstatus setzte sich mit mathematischer<br />
Unerbittlichkeit die dreisteste Klientel durch.<br />
Wer am lautesten schrie, gewönne. Offen indes muss<br />
die Frage bleiben, wie weit die „feste, kieselharte<br />
Förmlichkeit des aufeinander abgestimmten Sprechens“<br />
(Botho Strauß) noch trägt. <strong>Der</strong> Blick nach Ungarn<br />
oder Polen zeigt, dass es neben linken auch rechte<br />
Formierungsstrategien gibt, die nicht minoritär von<br />
unten, sondern majoritär von oben betrieben wer<strong>den</strong>.<br />
<strong>Der</strong> hiesigen Konfliktlage ist sich der Deutsche<br />
Hochschulverband (DHV) bewusst. Bei seiner Jahresversammlung<br />
hat der DHV Anfang April eine Resolution<br />
verfasst, die mit dem Titel „Zur Verteidigung der<br />
freien Debattenkultur an Universitäten“ überschrieben<br />
ist. Dort heißt es in <strong>den</strong> ersten bei<strong>den</strong> Sätzen: „Die<br />
Toleranz gegenüber anderen Meinungen sinkt. Das hat<br />
auch Auswirkungen auf die Debattenkultur an Universitäten.“<br />
Wer die Welt der Hochschulen betrete, müsse<br />
akzeptieren, „mit Vorstellungen konfrontiert zu wer<strong>den</strong>,<br />
die <strong>den</strong> eigenen zuwiderlaufen“. DHV-Präsi<strong>den</strong>t<br />
Bernhard Kempen, Staatsrechtsprofessor an der Uni<br />
Köln, hebt ausdrücklich hervor, dass die Resolution<br />
mit über 90 Prozent Zustimmung verabschiedet wurde:<br />
„Damit wird deutlich, dass unser Verband mit seinen<br />
Positionen sehr geschlossen auftritt.“ <strong>Der</strong> DHV vertritt<br />
32 000 Mitglieder, von Professorinnen und Professoren<br />
bis z<strong>um</strong> wissenschaftlichen Nachwuchs – beileibe<br />
keine Nischenveranstaltung.<br />
MAN WENDE SICH, sagt Kempen, mit dem Aufruf<br />
„auch ausdrücklich an die Leitungen der Hochschulen,<br />
die manchmal ein erstaunliches Maß an Unsicherheit<br />
erkennen lassen, wenn es dar<strong>um</strong> geht, Flagge zu zeigen<br />
und deutlich zu machen, dass es gerade die Aufgabe<br />
von Hochschulleitungen ist, sich schützend vor diejenigen<br />
zu stellen, die ihre wissenschaftlichen Thesen an<br />
der Universität kundtun wollen“. Seltsame Dinge habe<br />
man in der Vergangenheit erlebt – „z<strong>um</strong> Beispiel sollte<br />
eine Veranstaltung verhindert wer<strong>den</strong> mit dem Arg<strong>um</strong>ent,<br />
diese könne polizeilich nicht geschützt wer<strong>den</strong>.<br />
Und dann hat sich gezeigt, dass mit der Polizei noch<br />
überhaupt nicht gesprochen wor<strong>den</strong> war.“<br />
<strong>Der</strong> DHV-Präsi<strong>den</strong>t erkennt in der Arrondierung<br />
des Meinungsspektr<strong>um</strong>s ein angloamerikanisches Phänomen,<br />
das über <strong>den</strong> Atlantik geschwappt sei: „Dort<br />
hat sich ja die These, dass Hochschulen gewissermaßen<br />
geschützte Rä<strong>um</strong>e seien, in <strong>den</strong>en nur ein bestimmtes<br />
Spektr<strong>um</strong> an Meinungen zulässig ist, sogar an sehr<br />
renommierten Universitäten durchgesetzt. Das entspricht<br />
womöglich einer Diskursverengung, wie wir<br />
sie auch auf dem politischen Feld insgesamt erleben.<br />
<strong>Der</strong> Deutsche<br />
Hochschulverband<br />
hat eine Resolution<br />
verabschiedet, in der<br />
zur Verteidigung<br />
der Debattenkultur<br />
an <strong>den</strong> Universitäten<br />
aufgerufen wird<br />
An <strong>den</strong> Universitäten darf diese Entwicklung aus unserer<br />
Sicht keinen Einzug halten.“ Dass ein offener Diskurs<br />
häufig mit Totschlagarg<strong>um</strong>enten verhindert wer<strong>den</strong><br />
soll, ist für Kempen besonders ärgerlich: „Es wäre<br />
gut, wenn in diesem Bereich nicht ständig mit so diffusen<br />
Begriffen wie ,Rassismus‘ operiert würde, sondern<br />
mit Begriffen, die uns die Rechtsordnung vorgibt.“<br />
Natürlich gebe es Grenzen der Meinungsfreiheit, etwa<br />
wenn es <strong>um</strong> Volksverhetzung geht. „Aber die sind juristisch<br />
auch sehr klar gefasst.“<br />
Dass die Grenzen der Justiz und jene neuen des<br />
Diskurses gehörig auseinanderklaffen, zeigte sich<br />
auch an der Universität Siegen. Hauptperson ist Dieter<br />
Schönecker, seit 2006 Professor für Praktische Philosophie.<br />
Kant-Spezialist Schönecker, ein Liberaler, wie<br />
er sich selbst nennt, begann im Frühjahr 2018 mit <strong>den</strong><br />
Vorbereitungen für ein Seminar zu „Philosophie und<br />
Praxis der Meinungsfreiheit“, das im darauffolgen<strong>den</strong><br />
Wintersemester stattfin<strong>den</strong> sollte. Doch der Plan<br />
enthielt Sprengstoff, und zwar wegen zwei externer<br />
Referenten, die neben etlichen anderen Gästen z<strong>um</strong><br />
Seminar eingela<strong>den</strong> wer<strong>den</strong> sollten: <strong>Der</strong> AfD-Bundestagsabgeordnete<br />
und promovierte Philosoph Marc Jongen<br />
sowie Thilo Sarrazin. Ka<strong>um</strong> waren die bei<strong>den</strong> Namen<br />
publik gewor<strong>den</strong>, begann eine Schlammschlacht,<br />
die bis heute nachwirkt.<br />
Schönecker beruft sich darauf, Jongen und Sarrazin<br />
könnten gerade wegen ihrer <strong>um</strong>strittenen Haltungen<br />
z<strong>um</strong> Nationalstaat oder zur Zuwanderung Erhellendes<br />
zur Frage beitragen, wie es heutzutage <strong>um</strong><br />
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Cicero – 06. 2019