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Der Kampf um den Kanon

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TITEL<br />

Erst, als das Rektorat der Universität mit der Bitte<br />

<strong>um</strong> eine Stellungnahme konfrontiert wird, kommen<br />

konkrete Antworten. Darin widerspricht man der Behauptung<br />

von Mario S., wonach die Dozentin gesagt<br />

habe, Universitäten seien kein Ort für Meinungsäußerungen:<br />

„Natürlich gelten für alle Angehörigen der<br />

Universität die Grundrechte, dazu gehören sowohl<br />

Meinungs- als auch Forschungsfreiheit.“ Außerdem<br />

heißt es vonseiten der Universitätsleitung: „Zu <strong>den</strong><br />

Regeln gehört auch, dass man nicht permanent <strong>den</strong><br />

Lehrbetrieb durch Zwischenrufe und unwissenschaftliche<br />

Kommentare stört.“ Mario S. bestreitet ausdrücklich,<br />

das Seminar durch Fehlverhalten gestört zu haben.<br />

Allerdings habe er gesagt, seiner Meinung nach<br />

gehöre der Islam nicht zu Deutschland, die hier leben<strong>den</strong><br />

Muslime allerdings schon. „Ich habe meine<br />

Aussagen klar begründet.“ Dazu teilt wieder<strong>um</strong> das<br />

Rektorat gegenüber Cicero mit: „Wissenschaftlich gesehen<br />

ist eine Aussage wie ,<strong>Der</strong> Islam gehört nicht zu<br />

Deutschland‘ dem Kultur-Rassismus zuzuordnen, da<br />

diese Aussage von einer Unvereinbarkeit von Kulturen<br />

ausgeht. Somit ist eine Aussage in diesem Sinne<br />

zu bewerten, damit findet aber keine Bewertung der<br />

gesamten Person statt.“ Mit anderen Worten: Mario S.<br />

sei zwar nicht unbedingt ein Rassist, aber seine Äußerungen<br />

gingen sehr wohl in diese Richtung.<br />

WOHER STAMMT das große Begriffsbesteck für letztlich<br />

kleine Auseinandersetzungen <strong>um</strong> Macht- und Terraingewinne?<br />

Äußert sich hier ausschließlich, wie Herfried<br />

Münkler und DHV-Präsi<strong>den</strong>t Kempen mutmaßen,<br />

ein geistiger Import aus <strong>den</strong> Vereinigten Staaten, genauer:<br />

von <strong>den</strong> Universitäten der amerikanischen Ostküste?<br />

Hinter dem Kulturkampf steht das an <strong>den</strong> Universitäten<br />

und in <strong>den</strong> Gesellschaften des Westens breit<br />

propagierte Paradigma von der je einzuklagen<strong>den</strong>, stets<br />

weiter zu verfeinern<strong>den</strong> Vielfalt. Veranstaltungen sollen<br />

abgesagt, Leselisten modifiziert, Traditionen gereinigt<br />

wer<strong>den</strong>, weil es sonst an Vielfalt mangele. Das<br />

Schlagwort geht zurück auf die Evolutionsbiologie des<br />

19. Jahrhunderts, ehe es im 20. Jahrhundert z<strong>um</strong> Motto<br />

der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung wurde,<br />

die tatsächlich benachteiligten Bevölkerungsgruppen<br />

Gerechtigkeit widerfahren lassen wollte.<br />

Bald entdeckte die Wirtschaft „Diversity“ als renditesteigern<strong>den</strong><br />

Faktor der Mitarbeiterführung. Unlängst<br />

plakatierten 50 deutsche Familienunternehmen<br />

„Made by Vielfalt“. Konkret erfahrbar wird der universitäre<br />

Vielfaltsdiskurs vor allem unter Genderaspekten.<br />

Camille Paglia kritisierte schon 1991 („Zur<br />

Krise der amerikanischen Universitäten“) jene Einengungen<br />

der akademischen Freiheit, die im autoritären<br />

Wahrheitsregime der Literaturwissenschaftlerin und<br />

Gender-Theoretikerin Judith Butler z<strong>um</strong> Protest wird<br />

gegen jede binäre Ordnung – und zu einem „Denken<br />

ohne Denken“, zur „Philosophie ohne Arg<strong>um</strong>entation“<br />

und z<strong>um</strong> „Subjekt ohne eigene Handlungen“. So fasst<br />

Marco Ebert, bis 2017 Referent für Ökologie am AStA<br />

der H<strong>um</strong>boldt-Universität, in einem Aufsatz Butlers<br />

Theoriegebäude zusammen und folgert: „Das Gefühl<br />

soll bei Butler die Reflexivität ersetzen.“ Ebert scheint<br />

die Erfahrungen eines Mario S. mit seiner Dozentin geradezu<br />

vorwegzunehmen: „Die queer-theoretisch informierten<br />

Gender Studies haben in <strong>den</strong> vergangenen<br />

Jahren mit dazu beigetragen, dass ‚Reflexion‘ heute<br />

in Uni-Seminaren (…) ka<strong>um</strong> mehr als eine Unterwerfungsgeste<br />

unter die Autorität von WissenschaftlerInnen,<br />

AutorInnen oder ReferentInnen bedeutet.“<br />

Die Emotionalisierung wissenschaftlicher wie<br />

politischer Debatten reicht jedoch tiefer zurück, bis<br />

in die siebziger Jahre, zu <strong>den</strong> Ausläufern der Achtundsechziger,<br />

und, weiter noch, ins späte 18., frühe<br />

19. Jahrhundert. Jörg Baberowski erkennt eine „eigenartige<br />

Mischung aus Protestantismus und deutscher<br />

Romantik“. <strong>Der</strong> deutsche „Volksgeist“ und die romantische<br />

„Innerlichkeit“ seien auf das öffentliche Bekenntnis<br />

angelegt, verlangten die stete Publizierung<br />

eigener Läuterung. Man arbeitet an sich, und will und<br />

muss das zeigen. Ein solcher Bekenntniszwang sei <strong>den</strong><br />

katholischen Kulturen unbekannt. Und in <strong>den</strong> ehemals<br />

sozialistischen Ländern meide man ihn aus historischer<br />

Erfahrung.<br />

Unterdessen sieht es schlecht aus für ein von Baberowski<br />

an der HU beantragtes „Zentr<strong>um</strong> für vergleichende<br />

Diktaturforschung“. Seit rund einem Jahr<br />

weigert sich der Akademische Senat, <strong>den</strong> Antrag auf<br />

die Tagesordnung zu setzen. <strong>Der</strong> AStA hat, angefeuert<br />

von Baberowskis liebsten Fein<strong>den</strong>, ein ablehnendes<br />

Vot<strong>um</strong> gegeben. Bei Twitter heißt es aus linken stu<strong>den</strong>tischen<br />

Kreisen, auf dem Account des AStA-Mitglieds<br />

Bafta Sarbo, es solle ein „Institut für Antikommunismus<br />

und Holocaustrelativierung“ gegründet wer<strong>den</strong>.<br />

Dabei, so der Historiker, wür<strong>den</strong> Diktaturen wissenschaftlich<br />

verglichen und analysiert, keineswegs gutgeheißen.<br />

Mit solchen Vorwürfen sieht sich der Träger<br />

des Preises der Leipziger Buchmesse 2012 für sein<br />

Standardwerk „Verbrannte Erde – Stalins Herrschaft<br />

der Gewalt“ noch immer konfrontiert, weshalb Baberowskis<br />

Einschätzung nicht überrascht. Die deutsche<br />

Universität habe als Stätte freien Denkens abgedankt.<br />

Heiter und gelassen gibt sich hingegen Konrad<br />

Paul Liessmann: „In meiner Studienzeit musste in jedem<br />

Seminar Marx zitiert wer<strong>den</strong>, bei Augustinus<br />

ebenso wie bei Wittgenstein. Heute muss überall Judith<br />

Butler zitiert wer<strong>den</strong>. Das verschwindet wieder.<br />

Marx ist auch verschwun<strong>den</strong>.“<br />

Mitarbeit: Yves Bellinghausen<br />

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Cicero – 06. 2019

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