Die Kunst des Zweifelns und Glaubens
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BIBLIOTHEK HISTORISCHER DENKWÜRDIGKEITEN<br />
SEBASTIAN CASTELLIO<br />
DIE KUNST DES ZWEIFELNS UND GLAUBENS<br />
DES NICHTWISSENS UND WISSENS<br />
DE ARTE DUBITANDI ET CONFIDENDI<br />
IGNORANDI ET SCIENDI<br />
1
BIBLIOTHEK HISTORISCHER DENKWÜRDIGKEITEN<br />
Herausgegeben von Wolfgang F. Stammler<br />
Der Alcorde Verlag ist Mitglied im Freun<strong>des</strong>kreis der Kurt Wolff Stiftung<br />
2
Sebastian Castellio<br />
DIE KUNST<br />
DES ZWEIFELNS<br />
UND GLAUBENS<br />
DES NICHTWISSENS<br />
UND WISSENS<br />
De arte dubitandi et confidendi<br />
ignorandi et sciendi<br />
Aus dem Lateinischen übersetzt<br />
von Werner Stingl<br />
Eingeführt <strong>und</strong> kommentiert<br />
von Hans-Joachim Pagel<br />
Herausgegeben<br />
von Wolfgang F. Stammler<br />
ALCORDE VERLAG<br />
3
Castellios Bronzebüste <strong>des</strong> Bildhauers François Bonnot<br />
vor der Kirche von Vandœuvres, eingeweiht am 30. Mai 2015.<br />
Über diese Büste sagte der Künstler: « Es liegt eine Liebe in seinem<br />
Blick, die allzu oft seinen damaligen Kollegen abging. Er will uns sagen,<br />
dass Gott nur ein Gott der Befreiung sein kann, nicht aber ein Gott der<br />
Unterwerfung. Castellio flößt Respekt ein, nicht durch sein akademisches<br />
Wissen, sondern durch seine Demut <strong>und</strong> Schwachheit. Sebastian wurde,<br />
wie der gleichnamige Heilige, von den Pfeilen seiner theologischen Gegner<br />
durchbohrt. Doch was soll’s, er ist lebendiger als sie. »<br />
4
INHALT<br />
Vorwort <strong>des</strong> Herausgebers 6<br />
Einführung 9<br />
<strong>Die</strong> <strong>Kunst</strong> <strong>des</strong> <strong>Zweifelns</strong> <strong>und</strong> <strong>Glaubens</strong>,<br />
<strong>des</strong> Nichtwissens <strong>und</strong> Wissens<br />
De arte dubitandi et confidendi<br />
irgnorandi et sciendi<br />
Erstes Buch 19<br />
Zweites Buch 55<br />
ANHANG<br />
Anmerkungen 346<br />
Quellen <strong>und</strong> Darstellungen 388<br />
Bildnachweis 397<br />
Verzeichnis der Bibelstellen 398<br />
5
VORWORT<br />
<strong>Die</strong> <strong>Kunst</strong> <strong>des</strong> <strong>Zweifelns</strong> beginnt in einem kleinen Dorf.<br />
Es liegt in Bugey, einer fruchtbaren Landschaft im heutigen<br />
Departe ment Ain, etwa siebzig Kilometer westlich von Genf<br />
<strong>und</strong> achtzig Kilometer südöstlich von Lyon. Hier, in St. Martin<br />
du Fresne mit seinen heute 1027 Einwohnern, wurde Sebastian<br />
Castellio 1515 geboren. Weitab vom großen Weltgetriebe liegt<br />
es wie viele der zahlreichen kleinen Dörfer hingestreut in ein<br />
weites Tal unweit <strong>des</strong> Lac du Nantua. Mit ein wenig Phantasie<br />
kann man noch heute den Geist jener Zeit erahnen, als der<br />
Bauer Claude Chastillon mit seiner Familie hier lebte.<br />
Es ist dieses Dorf, das in kaum einer anderen seiner Schriften<br />
so gegenwärtig ist wie im De arte dubitandi. Man spürt, wie<br />
entscheidend ihn dieses Dorf geprägt hat. Bis zu seinem<br />
zwanzigsten Lebensjahr war er selbst Teil dieser dörflichen<br />
Gemeinschaft, hat das bäuerliche Handwerk erlernt, dem<br />
Vater geholfen, den Acker zu pflügen <strong>und</strong> die Saat auszubringen,<br />
die Bäume zu beschneiden, zu pfropfen <strong>und</strong> zu veredeln.<br />
Hier hat ihn der Umgang mit der Natur gelehrt, das Gute<br />
vom Schlechten zu unterscheiden <strong>und</strong> mit Nachsicht <strong>und</strong><br />
Geduld dem weniger Guten zum Besseren zu verhelfen. Doch<br />
welch tieferer Sinn sich darin verbirgt, begann er erst später zu<br />
ermessen, als die Beschäftigung mit Fragen der Religion<br />
<strong>und</strong> dem christlichen Verständnis der Bibel – vor allem auf<br />
dem Hinterg<strong>und</strong> der reformatorischen Wirren <strong>und</strong> Zerwürfnisse<br />
– ihn immer stärker drängte, eigene Antworten darauf<br />
zu finden.<br />
<strong>Die</strong> Summe seines Nachdenkens über Gott <strong>und</strong> das Wesen<br />
christlichen Handelns findet sich in der <strong>Kunst</strong> <strong>des</strong> <strong>Zweifelns</strong>.<br />
Viel ist darin von der Natur die Rede. Für Castellio ist sie als<br />
Gottes Schöpfung sinnfälligster Ausdruck der in ihr wirkenden<br />
göttlichen Vernunft. Sie verstehen zu lernen, so Castellio, heißt<br />
6
vorwort <strong>des</strong> herausgebers<br />
zu erkennen, dass sie gut ist, wie auch der Mensch von Gr<strong>und</strong><br />
auf gut ist. Das gilt auch für das Verhältnis zwischen Menschen<br />
<strong>und</strong> Natur. Da die Natur nach dem Schöpfungsbericht den<br />
als Gottes Ebenbild geschaffenenen Menschen zur Pflanzung<br />
<strong>und</strong> Mehrung übergeben wurde, ist sie ihm damit gleichsam<br />
in Stellvertretung Gottes übertragen worden. Über sie zu herrschen<br />
heißt damit, ihr zu dienen <strong>und</strong> sie zu verstehen, sie zu<br />
heilen <strong>und</strong> <strong>und</strong> zu verbessern, wie es Jesus später vorlebte.<br />
<strong>Die</strong>ser Gedanke durchzieht viele Schriften Castellios <strong>und</strong> am<br />
deutlichsten hier, wo er mit der <strong>Kunst</strong> <strong>des</strong> <strong>Zweifelns</strong> beginnt,<br />
die den Menschen lehren soll, das von Gott Gemeinte von<br />
dem zu unterscheiden, was von Menschen erdacht oder hinzugedacht<br />
wurde.<br />
Schon in seiner Vorrede nennt er seine Schrift eine «Pflanzung»<br />
<strong>und</strong> vergleicht sein Tun mit dem eines Bauern, der sät<br />
in der Hoffnung, dass ein Teil der Saat auf guten Boden fällt.<br />
Aus der Überzeugung, dass in der Natur dieselbe Vernunft<br />
<strong>und</strong> Weisheit walten wie in den Menschen, ergibt sich für ihn<br />
die Aufgabe, dem Beispiel <strong>des</strong> Bauern folgend, der der Natur<br />
dient, kraft dieser Vernunft dem Menschen zu dienen, ihn zu<br />
veredeln <strong>und</strong> zu verbessern. Wenig später, im 4. Kapitel, geht<br />
er sogar so weit, im Zusammenhang mit der für ihn zentralen<br />
Lehre der Gerechtigkeit von einer Art Agrikultur <strong>des</strong> Geistig-<br />
Seelischen zu sprechen.<br />
Castellio war <strong>und</strong> blieb bei all seiner Gelehrtheit stets der<br />
savoyardische Bauernsohn. Ob später in Lyon, in Straßburg, in<br />
Genf oder in Basel, er trug diese Herkunft überall in <strong>und</strong> mit<br />
sich, wie die Fischer <strong>und</strong> Handwerker, die Jesus nachfolgten,<br />
auch ihre Herkunft nie verleugneten. <strong>Die</strong> Imitatio Christi wurde<br />
für ihn zum Leitmotiv seines Lebens, Denkens <strong>und</strong> Schaffens,<br />
was für ihn bedeutete, die Weisheit nicht in den Köpfen, sondern<br />
in den Herzen der Menschen zu suchen, in die Gott alle<br />
Geheimnisse seiner Wahrheit hineingeschrieben hat.<br />
7
vorwort <strong>des</strong> herausgebers<br />
Das Manuskript, vermutlich erst sechs Monate vor seinem<br />
Tod begonnen, lässt die Hast erkennen, in der er das De arte geschrieben<br />
hatte, so als ahnte er bereits sein nahen<strong>des</strong> Ende. <strong>Die</strong><br />
Erschöpfung nach den nicht enden wollenden Kämpfen mit<br />
seinen Genfer Gegnern, die wenige Wochen vor seinem Tod<br />
sogar noch in einer Anklage wegen Ketzerei gipfeln sollten, ist<br />
bisweilen förmlich zu greifen. In keinem seiner Werke kann<br />
man Castellio so erfahren wie in diesem: kämpferisch, verzweifelt<br />
ringend um ein rechtes Verständnis einer von Dogmen<br />
verstellten Wahrheit, verstellt von einem unbedingten, sich bis<br />
zum Hass steigernden <strong>und</strong> mörderischen Willen, Recht zu<br />
behalten gegen Andersdenkende, verstellt von Menschen, die<br />
sich von Gott berufen fühlen, das Himmelreich auf die Erde<br />
herabzuzwingen <strong>und</strong> die ihnen anvertrauten Schafe in ein So<strong>und</strong>-nicht-anders<br />
zu versklaven.<br />
Noch während ich an der Herausgabe dieses Werkes arbeitete,<br />
hatte ich Gelegenheit, anlässlich eines Festes, das die Bürger<br />
von St. Martin du Fresne zum 500. Geburtstag ihres großen<br />
Sohnes ausgerichtet hatten, dieses Dorf <strong>und</strong> seine Bewohner<br />
kennenzulernen <strong>und</strong> zusammen mit ihnen zu feiern. Hier,<br />
in der Begegnung <strong>und</strong> in den Gesprächen mit diesen unverstellten,<br />
offenen <strong>und</strong> selbstbewussten Menschen, war mir, als<br />
begegnete ich in dem Gelehrten, den ich bereits einn wenig<br />
zu kennen glaubte, nun auch dem Menschen Castellio.<br />
Den St. Martinois, wie sie sich nennen, gilt daher neben dem<br />
Übersetzer Dr. Werner Stingl, dem Lektor <strong>und</strong> Kommentator<br />
dieses Ban<strong>des</strong>, Hans-Joachim Pagel, <strong>und</strong> Dr. Adrie van der<br />
Laan von der Bibliothek Rotterdam, Erasmuszaal, für seine<br />
vollständige Übermittlung <strong>des</strong> Castellio-Manuskripts mein<br />
größter Dank.<br />
Wolfgang F. Stammler<br />
September 2015<br />
8
EINFÜHRUNG<br />
von Hans-Joachim Pagel<br />
»Am Anfang <strong>des</strong> Evangeliums, da Gottes Wort durch die<br />
Apostel lauter <strong>und</strong> rein gepredigt wurde <strong>und</strong> noch kein<br />
Menschengebot, sondern nur die Heilige Schrift maßgeblich<br />
war, schien es, als sollte es keine Not geben, weil die<br />
Heilige Schrift unter den Christen die Kaiserin war. Aber<br />
[sieh’ an,] was der Teufel nicht alles zuwege brachte! Er<br />
ließ es zunächst geschehen, daß allein die Schrift galt <strong>und</strong><br />
kein pharisäisches, jüdisches Gebot oder Werkgesetz mehr<br />
anerkannt werden sollte; er hatte aber seine Handlanger in<br />
den Lehrstätten der Christen, durch welche er heimlich<br />
in die Heilige Schrift schlich <strong>und</strong> kroch. Als er nun hineingekommen<br />
<strong>und</strong> der Sache gewiß war, brach <strong>und</strong> riß er<br />
aus nach allen Seiten, richtete ein solches Durcheinander<br />
in der Schrift an <strong>und</strong> machte viele Sekten, Ketzerei <strong>und</strong><br />
Rotten unter den Christen.« 1<br />
Als Martin Luther das 1527 schrieb, befand er sich mitten<br />
im Streit: im Streit mit Zwingli über das rechte Verständnis<br />
<strong>des</strong> Abendmahls, in dem man sich bekanntlich nicht einigen<br />
konnte, so dass Lutheraner <strong>und</strong> Reformierte (wie sie später<br />
hießen) fortan getrennte Wege gingen. Es war ein Streit um<br />
Worte, genauer: um ein einziges Wort, das Wort »ist« in den<br />
Einsetzungsworten Jesu: »Das ist mein Leib, das ist mein Blut.«<br />
Brot <strong>und</strong> Wein, den Jüngern gereicht, sollen also Leib <strong>und</strong><br />
Blut »sein«. Wie ist das zu verstehen? Wörtlich oder bildlich?<br />
Darüber konnte man sich nicht einigen. War der Teufel also<br />
heimlich sogar bis in dieses eine kleine Wort gekrochen?<br />
Er hockte schon längst darin, denn über das Abendmahl<br />
9
einführung<br />
wurde seit Jahrh<strong>und</strong>erten gestritten. Castellio geht am Schluss<br />
seiner <strong>Kunst</strong> <strong>des</strong> <strong>Zweifelns</strong> darauf ein (II 38–44) <strong>und</strong> wählt<br />
es als eines der fünf Beispiele, die er aus den vielen Fragen<br />
herausgreift, über die die Theologen seiner Zeit uneins waren.<br />
Sie stritten über das Abendmahl, die Taufe, die Buße,<br />
die Erbsünde, die Rechtfertigung, den Glauben, den freien<br />
Willen, die guten Werke, die Mitwirkung <strong>des</strong> Menschen an<br />
seinem ewigen Heil, die Trinität, die göttliche Erwählung<br />
<strong>und</strong> Prä<strong>des</strong>tination, die Klarheit oder Dunkelheit der Heiligen<br />
Schrift, Geist oder Buchstaben, die Dogmen der kirchlichen<br />
Tradition, die Heiligen- <strong>und</strong> Bilderverehrung, die Kompetenz<br />
der staatlichen Instanzen, über <strong>Glaubens</strong>fragen zu urteilen, die<br />
Bestrafung, gar Tötung von Ketzern <strong>und</strong> wer das wohl sei, <strong>und</strong>,<br />
ja, worüber eigentlich nicht? Waren da nicht auch wieder die<br />
Handlanger <strong>des</strong> Teufels in die Lehrstätten der Christen <strong>und</strong><br />
in die Tintenfässer der Theologen gekrochen, wenn sie ihre<br />
Streitschriften verfassten <strong>und</strong> einer den anderen der Irrlehre<br />
bezichtigte?<br />
Doch es blieb ja nicht bei Schriften, es wurde nicht nur darüber<br />
diskutiert, ob man Ketzer bestrafen solle: Man tat es, trieb<br />
sie außer Lan<strong>des</strong>, ertränkte sie <strong>und</strong> verbrannte sie lebendigen<br />
Leibes. Ja selbst Tote holte man aus ihren Gräbern <strong>und</strong> verbrannte<br />
ihre Gebeine mitsamt ihrem Bild <strong>und</strong> ihren Schriften<br />
auf dem Scheiterhaufen – so geschehen zu Basel am 13. Mai<br />
1559, nachdem man offiziell erfahren hatte – inoffiziell wussten<br />
es manche schon lange –, dass der vor drei Jahren gestorbene<br />
angesehene Kaufmann Jan van Brugge in Wahrheit der<br />
aus den Niederlanden vertriebene Täuferführer <strong>und</strong> Prophet<br />
David Joris war, ein «Erzketzer». Castellio, der ihn persönlich<br />
gekannt <strong>und</strong> gewusst hatte, wer er war, der Schriften von ihm<br />
ins Französische übersetzt hatte, musste dem Feuerspektakel<br />
zusehen. 2 Und warum das alles? Um der reinen Lehre willen,<br />
zur Ehre Gottes? Beriefen sich denn nicht alle – wenigstens<br />
10
einführung<br />
alle Evangelischen – gleichermaßen auf die Heilige Schrift?<br />
Und dennoch verketzerte einer den anderen <strong>und</strong> der andere<br />
den einen, nur weil sie die Schrift unterschiedlich auslegten.<br />
Castellio hatte das am eigenen Leib erfahren. Schon in Genf<br />
fing das an. 3 Dort war er als frisch gebackener Schullehrer<br />
mit Calvin <strong>und</strong> der Pfarrerschaft zusammengestoßen, weil er<br />
in einigen Punkten der Lehre abweichender Meinung war:<br />
Er fasste das Hohelied Salomos als weltliche Liebesdichtung<br />
auf, die eigentlich nicht in den Kanon gehöre, <strong>und</strong> er deutete<br />
den Satz im <strong>Glaubens</strong>bekenntnis über Christi Aufenthalt in<br />
der Unterwelt anders als Calvin. Das genügte, ihn aus seinem<br />
Schuldienst zu entlassen <strong>und</strong> ihm das gewünschte Pfarramt zu<br />
verweigern. Das war im Sommer 1544. Castellio ging nach<br />
Basel, wurde Korrektor bei dem Drucker-Verleger Johannes<br />
Oporin <strong>und</strong> 1553 Professor für Griechisch an der Universität.<br />
Hier arbeitete er unter anderem an seinen Bibelübersetzungen<br />
ins Lateinische <strong>und</strong> Französische, die ihm ebenfalls heftige<br />
Kritik eintragen sollten. Doch vorher kam der große Streit, mit<br />
dem sich Castellios Name vor allem für die Nachwelt verbinden<br />
sollte: der Streit um die <strong>Glaubens</strong>- <strong>und</strong> Gewissensfreiheit,<br />
ausgelöst durch den Prozess gegen den Antitrinitarier Michael<br />
Servet 4 <strong>und</strong> <strong>des</strong>sen Verbrennung als «Ketzer» am 27. Oktober<br />
1553 vor den Toren Genfs – auf Betreiben Calvins, der mit der<br />
Inquisition zusammengearbeitet hatte. 5<br />
Hier mischte sich Castellio ein mit seiner berühmt gewordenen<br />
Anthologie De haereticis an sint persequendi (Über<br />
Ketzer <strong>und</strong> ob man sie verfolgen soll) 6 <strong>und</strong> stellte den Begriff<br />
«Ketzer» gr<strong>und</strong>sätzlich in Frage, indem er auf den inflationären<br />
Gebrauch dieses Wortes hinwies: Jeder halte jeden, der<br />
anders denkt als er, für einen Häretiker. 7 <strong>Die</strong>se Einmischung<br />
löste eine scharfe Debatte vor allem mit Calvin <strong>und</strong> Beza aus, 8<br />
in der auch die Frage eine wichtige Rolle spielte, ob staatliche<br />
Instanzen sich in Religionsangelegenheiten einmischen<br />
11
einführung<br />
oder kirchliche Instanzen die staatlichen für ihre Zwecke in<br />
<strong>Die</strong>nst nehmen dürfen, was Luther einst heftig abgelehnt hatte.<br />
9 Als weitere Themen in der Kontroverse kamen Calvins<br />
Prä<strong>des</strong>tinationslehre <strong>und</strong> Castellios Bibelübersetzungen hinzu.<br />
Der Streit wurde mit ungleichen Waffen geführt: Calvin<br />
<strong>und</strong> Beza konnten veröffentlichen, was sie wollten, Castellio<br />
unterlag – ebenfalls auf hartnäckiges Betreiben Calvins – der<br />
Basler Zensur, die seit dem Erscheinen <strong>des</strong> De haereticis verschärft<br />
worden war, so dass seine Erwiderungen zu seinen<br />
Lebzeiten ungedruckt blieben. 10 Und es war ein von Anfang<br />
an vergifteter Streit, von Calvin <strong>und</strong> Beza mit allen Mitteln<br />
der Verleumdung <strong>und</strong> ehrverletzenden Beleidigungen ihres<br />
Gegners geführt, 11 die darin gipfelten, dass sie ihn (im Blick<br />
auf seine Bibelübersetzungen) als «Instrument <strong>des</strong> Teufels zur<br />
Verwirrung der Gläubigen» bezeichneten, 12 ja, so Calvin, als<br />
Teufel selbst 13 . Castellio hat sich dagegen gewehrt mit seiner<br />
persönlichsten Schrift, der Defensio. 14<br />
Es ging auch in dieser Auseinandersetzung immer wieder um<br />
die Auslegung der Bibel, <strong>und</strong> das ließ Castellio nach einem<br />
Kriterium suchen, mittels <strong>des</strong>sen man zwischen richtig <strong>und</strong><br />
falsch unterscheiden lernen kann. Mit diesem Thema beschäftigte<br />
er sich in seiner letzten Arbeit, der <strong>Kunst</strong> <strong>des</strong> <strong>Zweifelns</strong>,<br />
geschrieben 1563 in seinem letzten Lebensjahr <strong>und</strong> nicht mehr<br />
ganz bis zur Druckreife vollendet. In ihr fasste er zusammen<br />
<strong>und</strong> führte weiter, was in seinen Bibelübersetzungen mit ihren<br />
Anmerkungen <strong>und</strong> Vorworten <strong>und</strong> in seinen theologischen<br />
Schriften der 1550er <strong>und</strong> frühen 1560er Jahre schon angelegt<br />
war.<br />
Sie ist in zwei Bücher unterteilt. Das erste, gr<strong>und</strong>sätzliche,<br />
entfaltet Castellios hermeneutisches Prinzip: Was man sicher<br />
wissen kann, braucht nicht geglaubt zu werden. Was geglaubt<br />
werden kann, darf den Urteilen <strong>des</strong> Verstan<strong>des</strong> <strong>und</strong> der Sinne<br />
12
einführung<br />
zumin<strong>des</strong>t im Prinzip nicht widersprechen, auch wenn es sie<br />
übersteigt. Was ihnen klar widerspricht, ist zu verwerfen. Im<br />
zweiten Teil konkretisiert er das an einigen Beispielen: den<br />
umstrittenen Themen Trinität, Glauben, Rechtfertigung,<br />
Gnadengaben Christi <strong>und</strong> Abendmahl.<br />
Was man weiß <strong>und</strong> nicht zu beweisen braucht, ist, dass es<br />
Gott gibt, dass er die Welt regiert <strong>und</strong> gerecht ist (I 1–3).<br />
Was man wissen <strong>und</strong> beweisen kann, ist, dass die Lehre <strong>des</strong><br />
Christentums, wie sie in der Heiligen Schrift überliefert ist,<br />
die beste aller Lehren über Gott <strong>und</strong> den Menschen ist. Aber<br />
nicht <strong>des</strong>halb, weil sie das meiste Wissen vermittelt, sondern<br />
weil sie den Menschen zu wahrer Selbsterkenntnis führt <strong>und</strong><br />
ihm den Weg weist, Gottes Willen gemäß zu leben (I 4–10).<br />
Auf die Einwände, dass in den heiligen Schriften vieles dunkel<br />
sei, dass sie Fehler <strong>und</strong> Widersprüche, ja hier <strong>und</strong> da sogar<br />
Absur<strong>des</strong> enthalte, entgegnet Castellio, dass man in ihr verschiedene<br />
Textarten unterscheiden müsse, denen unterschiedlich<br />
große Verbindlichkeit zukomme: göttliche Offenbarungen,<br />
Erzählungen über historische Ereignisse <strong>und</strong> persönliche<br />
Meinungen der Autoren (I 11–14). Auf den Einwand gegen<br />
eine solche Unterscheidung: dass die biblischen Schriften doch<br />
vom Heiligen Geist eingegeben seien, <strong>des</strong>halb keine Irrtümer<br />
enthalten könnten <strong>und</strong> in allem geglaubt werden müssten,<br />
antwortet er, nur in der Sache, dem wesentlichen Inhalt <strong>und</strong><br />
Sinn seien die biblischen Autoren vom Heiligen Geist geleitet,<br />
nicht im Wortlaut. Als ein Beispiel dafür zitiert er die<br />
Einsetzungsworte Jesu beim Abendmahl, die bei Matthäus <strong>und</strong><br />
Lukas unterschiedlich formuliert sind (I 15–16).<br />
Nach diesen eher einleitenden Ausführungen über die<br />
Geltung der Heiligen Schrift wendet sich Castellio seinem<br />
Hauptthema zu unter der Leitfrage, woran man sich denn nun<br />
halten solle, woran man erkennen könne, was an den vielen<br />
Lehrmeinungen wahr oder falsch sei (I 17). Er nimmt die<br />
13
einführung<br />
schon im Titel genannte Unterscheidung von Glauben <strong>und</strong><br />
Zweifeln, Wissen <strong>und</strong> Nichtwissen jetzt genauer in den Blick (I<br />
18–22) <strong>und</strong> entwickelt dann ausführlich seine schon erwähnten<br />
Kriterien für die Wahrheitsfindung: die Urteile <strong>des</strong> Verstan<strong>des</strong><br />
<strong>und</strong> der Sinne (I 23–33). Man kann ihnen gr<strong>und</strong>sätzlich vertrauen,<br />
denn Verstand <strong>und</strong> Sinne sind eine Schöpfungsgabe<br />
Gottes <strong>und</strong> keineswegs (das geht gegen Calvin) durch den<br />
Sündenfall gänzlich verdorben. Auch Jesus hat seine Zuhörer<br />
auf ihren ges<strong>und</strong>en Menschenverstand <strong>und</strong> ihre Erfahrung hin<br />
angesprochen. Ihr Urteil kann allerdings durch verschiedene,<br />
von außen oder von innen kommende Beeinträchtigungen<br />
getrübt sein (körperliche <strong>und</strong> geistige Behinderungen,<br />
Sinnestäuschungen, «fleischliche» Leidenschaften).<br />
Mit diesen Kriterien geht Castellio dann im zweiten Buch<br />
an die schon erwähnten Streitfragen heran.<br />
Mit dem Trinitätsdogma ist er schnell fertig (II 2). Er wählt<br />
dafür die Form <strong>des</strong> Dialogs, die man aber getrost als Parodie<br />
eines solchen nehmen kann: Ein dogmatischer Starrkopf sagt<br />
sein <strong>Glaubens</strong>bekenntnis auf <strong>und</strong> erwidert die Einwände seines<br />
Gegenübers nicht nur nicht, sondern hört sie gar nicht, so<br />
dass nicht einmal der Ansatz eines Gesprächs in Sicht kommt.<br />
Das nächste Kapitel über den Glauben (II 3–6) ist unvollständig,<br />
es bricht mitten im Satz ab. 15 Castellio hebt hier folgenden<br />
Aspekt hervor: Glaube ist eine Sache <strong>des</strong> Willens <strong>und</strong><br />
nicht <strong>des</strong> Erkennens <strong>und</strong> damit auch nicht <strong>des</strong> Wissens (wieder<br />
gegen Calvin). Er ist <strong>des</strong>halb auch nicht ausschließlich ein<br />
Geschenk Gottes, wenngleich er das auch sein kann. Geschenk<br />
Gottes ist das Heil, das dem Glaubenden zugesagt wird. Auf<br />
diese Zusage vertrauen heißt glauben. Das ist ein Akt freier<br />
Willensentscheidung. 16<br />
Das folgende Kapitel über die Rechtfertigung ist das umfangreichste<br />
(II 7–29) 17 <strong>und</strong> zeigt noch deutlicher, worin<br />
Castellio anders denkt als die Reformatoren. Das ist vor allem<br />
14
einführung<br />
deren zentrale Ansicht, dass dem Menschen, der an Christus<br />
<strong>und</strong> seine erlösende Tat glaubt, von Gott die Gerechtigkeit<br />
Christi zugerechnet werde. Gegen diese «Zurechnung» [imputatio]<br />
wird Castellio nicht müde zu argumentieren. Dem<br />
Glaubenden werde Gerechtigkeit nicht zugerechnet, er werde<br />
gerecht gemacht. So wie Christus körperlich Kranke tatsächlich<br />
ges<strong>und</strong> gemacht hat, so mache er auch seelisch-geistig Kranke 18<br />
tatsächlich ges<strong>und</strong>; Rechtfertigung sei Gerechtmachung. Das<br />
führt er in vielen Kapiteln aus, in denen er sich auch mit den<br />
Schriftbeweisen für <strong>und</strong> gegen die Imputation auseinandersetzt<br />
(II 7–23 [2]). 19 Dabei wehrt er das Missverständnis ab, der<br />
Mensch werde gleichsam mit einem Schlag vollkommen gerecht<br />
(das widerspräche jeder Erfahrung), vielmehr sei das ein<br />
langer Prozess. Aber auch die unvollkommene Gerechtigkeit<br />
sei Gerechtigkeit, so wie das schwache Licht der Sterne gleichwohl<br />
Licht sei, wenn auch weit weniger als das volle Licht der<br />
Sonne (II 16–17). Abschließend erläutert er sein Verständnis<br />
von Rechtfertigung noch einmal anhand <strong>des</strong> Gleichnisses vom<br />
Pfropfen aus Röm 11 (II 26–29).<br />
Das sich anschließende vierte Kapitel über die Gnadengabe<br />
Christi (II 30–37) ist eher ein Anhang zu dem vorhergehenden.<br />
Es beschreibt noch einmal die dem Menschen durch<br />
Christus zuteil werdenden Gaben Sündenvergebung <strong>und</strong><br />
Gerechtmachung <strong>und</strong> nennt als Voraussetzung für deren<br />
Empfang wieder die Hinwendung <strong>des</strong> Menschen zu Gott.<br />
Das Schlusskapitel über das Abendmahl (II 38–44) wirkt<br />
ebenfalls fragmentarisch, zumal das letzte Kapitel, das die ganzen<br />
Auseinandersetzungen eher etwas unwillig abbricht als abschließt.<br />
Zunächst erläutert er den Unterschied zwischen wörtlichem<br />
<strong>und</strong> bildlichem Sinn biblischer Rede, der ihn zu dem<br />
Schluss führt, dass die Einsetzungsworte Jesu «Das ist mein<br />
Leib, das ist mein Blut» nur symbolisch verstanden werden können;<br />
sie wörtlich zu nehmen sei schlicht widersinnig. Von da-<br />
15
einführung<br />
her lehnt er sowohl die scholastische Transsubstantiationslehre<br />
wie auch Luthers Abendmahlsverständnis entschieden ab. Für<br />
ihn ist das Abendmahl eine reine Symbolfeier zum Gedächtnis<br />
an die Erlösungstat Christi.<br />
Worin besteht nun die <strong>Kunst</strong> <strong>des</strong> <strong>Zweifelns</strong>? Man könnte es<br />
ganz knapp so sagen: unterscheiden lernen, sich <strong>des</strong> eigenen<br />
Verstan<strong>des</strong> bedienen <strong>und</strong> nicht blind anderen Autoritäten<br />
(<strong>und</strong> sei es die der Bibel) folgen. Daraus folgt auch: die eigene<br />
Ansicht oder Erkenntnis als Meinung zu erkennen, sich also<br />
nicht im Alleinbesitz der Wahrheit zu glauben, sondern davon<br />
abweichende Meinungen gelten zu lassen. Im Blick auf den<br />
Glauben heißt unterscheiden lernen: erkennen, was für das<br />
Heil <strong>des</strong> Menschen notwendig ist <strong>und</strong> was nicht. Notwendig<br />
ist, sich von sich selbst ab- <strong>und</strong> Christus zuzuwenden <strong>und</strong> zu<br />
tun, was er geboten hat. Nicht notwendig ist, sich in theologischen<br />
Spekulationen zu ergehen, die von diesem Einen ablenken.<br />
Denn dass <strong>und</strong> was einer glaubt, wird erkennbar nicht<br />
an dem, was er denkt <strong>und</strong> sagt, sondern an dem, was er tut.<br />
Man könnte Castellios Kritik an den Dogmatikern unter das<br />
eine Jesuswort stellen: «Was nennt ihr mich Herr, Herr, <strong>und</strong> tut<br />
nicht, was ich euch sage?» (Lk 6,46)<br />
Verstehen wir Castellio so – <strong>und</strong> er wird sich so nicht missverstanden<br />
fühlen –, dann ist er unser Zeitgenosse.<br />
16
einführung<br />
anmerkungen<br />
1 Luther: Daß diese Worte Christi, »Das ist mein Leib« noch fest stehen,<br />
wider die Schwärmgeister (April 1527), in: WA 23, S. 64; zitiert nach:<br />
Kirchen- <strong>und</strong> Theologiegeschichte in Quellen III, S. 146.<br />
2 Siehe dazu Guggisberg, Castellio, S. 168–171; van Veen, S. 176 f.<br />
3 Vgl. zu allem Biographischen, das im Folgenden nur angedeutet<br />
wird, Guggisberg, Castellio, <strong>und</strong> die für einen größeren Leserkreis<br />
gedachte Castellio-Biographie von Mirjam van Veen, welche jetzt<br />
auch in deutscher Übersetzung vorliegt (siehe Bibliographie).<br />
4 Vgl. zu Servet vor allem die Biographie von Bainton; zum Prozess<br />
auch Plath, Der Fall Servet, S. 75–88.<br />
5 Vgl. Castellio, «Bericht über den Tod Servets», in: Das Manifest der<br />
Toleranz, S. 39–48; dazu Plath, Der Fall Servet, S. 106–115.<br />
6 Nachzulesen in: Castellio, Das Manifest der Toleranz, S. 49–207.<br />
7 «<strong>Die</strong>s erhellt bereits aus der Tatsache, dass es unter allen Sekten<br />
(deren es heutzutage unzählige gibt) kaum eine gibt, die nicht die<br />
andern für Ketzer hält, so dass du, wenn du in der einen Stadt oder<br />
Gegend ein Rechtgläubiger bist, in der nächsten als Ketzer giltst.»<br />
Ebd., S. 65 f.<br />
8 Vgl. Guggisberg, Castellio, Kap. V <strong>und</strong> VI, wieder abgedruckt in<br />
Castellio, Das Manifest der Toleranz, S. 221–308. Ferner Plath, Der<br />
Fall Servet, S. 138–176. Vgl. vor allem Castellios Generalangriff auf<br />
Calvins Vorgehen gegen Servet in: Gegen Calvin.<br />
9 Castellio zitiert in Das Manifest der Toleranz, S. 73–86, ausführlich<br />
aus Luthers Schrift Von weltlicher Obrigkeit (1523). Dass Luther später<br />
anders dachte, wusste er.<br />
10 Mit Ausnahme der Verteidigung seiner Bibelübersetzungen, der<br />
Defensio suarum translationum Bibliorum, et maxime Novi Foederis, Basel<br />
1562, die er aber auch erst fünf Jahre nach ihrer Fertigstellung in<br />
zensierter Fassung drucken lassen konnte.<br />
11 Vgl. die unten in Anm. 168 zitierte Schimpfwörterliste.<br />
12 <strong>Die</strong>s steht ausgerechnet im Vorwort ihrer gemeinsamen französischen<br />
Über setzung <strong>des</strong> Neuen Testaments, Le Nouveau Testament<br />
[…] (Genf 1560), S. 4, zitiert bei Guggisberg, Castellio, S. 205.<br />
13 <strong>Die</strong> Schrift Calvins, die zum Anlass für Castellios Defensio wurde<br />
(siehe die folgende Anm.), schließt mit den Worten: «Compescat te<br />
17
anmerkungen zur einführung<br />
Deus, Satan» (Möge Gott dich in Fesseln schlagen, Satan). In: van<br />
Veen, S. 243. Nicht nur Luther also sieht den Teufel am Werk bei<br />
seinen Gegnern.<br />
14 Defensio ad Authorem libri, cui[us] titulus est, Calumniae Nebulonis<br />
(1558), jetzt auch in deutscher Übersetzung in: van Veen, Anhang,<br />
S. 235 ff..<br />
15 Siehe dazu unten Anm. 144.<br />
16 Hier wäre auch Castellios Dialog De Libero Arbitrio (1558) heranzuziehen,<br />
der erstmals in den Dialogi IIII (1578) veröffentlicht wurde.<br />
17 <strong>Die</strong>ses Kapitel <strong>des</strong> De arte dubitandi ist früher schon einmal veröffentlicht<br />
worden; siehe dazu unten Anm. 145.<br />
18 Sünde (Laster, Ungerechtigkeit, Selbstliebe, Selbstsucht etc.) ist für<br />
Castellio ein morbus animi, eine Erkrankung <strong>des</strong> Menschen in seinem<br />
Denken, Fühlen, Wollen. Animus lässt sich kaum mit nur einem<br />
Wort übersetzen.<br />
19 <strong>Die</strong>se Kapitel lassen sich fast wie ein Kommentar zu Calvins Institutio<br />
lesen, auch wenn <strong>des</strong>sen Name nicht fällt. Castellio nennt in vielen<br />
seiner Schriften keine Namen, wenn er auf die Ansichten anderer<br />
eingeht, auch hier in der <strong>Kunst</strong> <strong>des</strong> <strong>Zweifelns</strong> nicht. Er hat das einmal<br />
damit begründet, dass es ihm nicht darauf ankomme, woher eine<br />
Aussage stammt, sondern auf deren Wahrheit; vgl. die Praefatio zu<br />
seinen Dialogi IV (1613), S. 2r.<br />
<strong>Die</strong> folgende Übersetzung beruht auf der bisher einzigen vollständigen<br />
Edition <strong>des</strong> De arte dubitandi von Elisabeth Feist Hirsch, Leiden<br />
1981. Zu dieser Edition siehe ihr Vorwort (Preface, S. IX–XII). Offensicht<br />
liche Druckfehler in deren Anmerkungen (vor allem bei der<br />
Angabe von Bibelstellen) wurden stillschweigend korrigiert, fehlende<br />
Bibelstellenangaben ergänzt. <strong>Die</strong> Kommentierung hält sich in dem von<br />
ihr abgesteckten Rahmen, füllt ihn aber auf durch Verweise auf weitere<br />
Schriften Castellios <strong>und</strong> anderer Autoren <strong>und</strong> Erläuterungen zeitgeschichtlicher<br />
<strong>und</strong> biographischer Hintergründe.<br />
Für die Wiedergabe der Manuskriptseiten danken wir der Bibliothek<br />
Rotterdam, Eras mus zaal, Handschrift Rem.Gem. no. 505, namentlich<br />
Herrn Dr. Adrie van der Laan, der eigens eine vollständig digitalisierte<br />
Kopie <strong>des</strong> Manuskripts zu unserer Verwendung hat anfertigen lassen.<br />
18
SEBASTIAN CASTELLIO<br />
DIE KUNST DES ZWEIFELNS UND GLAUBENS,<br />
DES NICHTWISSENS UND WISSENS<br />
DE ARTE DUBITANDI ET CONFIDENDI<br />
IGNORANDI ET SCIENDI<br />
ERSTES BUCH<br />
19
liber primus, erstes [vorwort] buch fol. 56<br />
De arte Dubitandi et confidendi,<br />
ignorandi et sciendi, liber primus.<br />
Veritatis magister Christus futurum praedixit, ut postremis temporibus<br />
tot falsi Christi falsique doctores existant, ut vel electi,<br />
si fieri possit, decipiantur. Et quoniam postrema tempora iam<br />
esse cum ex aliis multis tum maxime ex tot tantisque quos vigere<br />
video erroribus et dissidiis mihi persuasum est, quibus erroribus<br />
homines etiam non mali tamen interdum sic commoventur,<br />
ut etiam de Christianae religionis veritate subdubitare incipiant,<br />
equidem saepe multumque cogitavi, ecquod usquam huic<br />
malo remedium inveniri queat. Ac si quis usquam hodie (sicut<br />
olim solebat) extaret in terris vates, qui dissidia componere et<br />
viam quaerentibus certo commonstrare erroresque divina authoritate<br />
profligare posset, equidem nihil melius aut expeditius<br />
esset quam ad eius oraculum confugere et, quod ille divinitus<br />
respondisset, id sine ulla dubitatione aut cunctatione sequi. Sed<br />
quo confugiemus? »Signa nostra non videmus« ut habetur in<br />
psalmis; »non iam vates, non nobis a<strong>des</strong>t, qui sciat, quousque<br />
duratura sint haec« . Denique nunc, si unquam, viget illa fames<br />
sermonis dei, hoc est oraculorum, quam olim se immissurum<br />
esse deus per Amosum vatem minatus est. Igitur cum hoc<br />
perfugio <strong>des</strong>tituamur, hoc superesse video, ut fiat, quod olim<br />
fecisse memoriae proditum est militiae ducem quendam, qui<br />
cum in flumen quoddam incidisset, quod omnino transe<strong>und</strong>um<br />
erat neque transe<strong>und</strong>i modum ullum videret ideoque aestuaret,<br />
edixit proposito praemio universis militibus, ut, si quis ullum<br />
transe<strong>und</strong>i consilium invenisset, id ipsi protinus indicatum veniret,<br />
quaecumque tandem vel diei vel noctis hora foret: mandavitque<br />
ianitoribus suis, ut quemvis, qui se consilium afferre<br />
diceret, quacumque hora ad se introducerent. Hac ratione<br />
consecutus est, ut quidam ex omnium numero extiterit, qui ei<br />
bonum consilium suggessit, quod ille secutus traiecit atque ita<br />
seque exercitumque servavit.<br />
20
21
erstes buch<br />
[VORREDE]<br />
Christus, der Lehrer der Wahrheit, hat vorhergesagt [Mt 24,24],<br />
dass in den letzten Zeiten so viele falsche Christusse <strong>und</strong> falsche<br />
Lehrer auftreten werden, dass selbst die Erwählten sich<br />
davon würden täuschen lassen, sofern das überhaupt möglich<br />
ist. Und weil ich nun zu der Überzeugung gelangt bin, dass wir<br />
jetzt in diesen letzten Zeiten leben 1 – <strong>und</strong> zwar neben vielem<br />
anderen besonders wegen der vielen <strong>und</strong> schlimmen Irrlehren<br />
<strong>und</strong> Zerwürfnisse, die ich ins Kraut schießen sehe, von denen<br />
auch rechtschaffene Männer so erschüttert werden, dass sie<br />
insgeheim an der Wahrheit <strong>des</strong> christlichen <strong>Glaubens</strong> selbst<br />
zu zweifeln beginnen –, <strong>des</strong>halb habe ich oft <strong>und</strong> viel darüber<br />
nachgedacht, ob sich gegen dieses Übel wohl ein Heilmittel<br />
finden ließe.<br />
Gewiss, wenn heute, wie es einst öfter geschah, ein Prophet auf<br />
Erden erschiene, der mit göttlicher Autorität die Zerwürfnisse<br />
schlichten <strong>und</strong> mit sicherer Hand den Suchenden den Weg zeigen<br />
<strong>und</strong> die Irrtümer zerstreuen könnte, so wäre nichts besser<br />
<strong>und</strong> einfacher, als zu seinem Orakelspruch Zuflucht zu nehmen<br />
<strong>und</strong> das, was aus göttlicher Eingebung daraus spricht, ohne<br />
Zögern <strong>und</strong> Zweifel zu befolgen. Doch wohin sollen wir uns<br />
wenden? « Unsere Zeichen sehen wir nicht », wie es in den Psalmen<br />
heißt, « kein Prophet ist mehr da, <strong>und</strong> keiner ist bei uns, der weiß, wie<br />
lange dies dauern wird » (Ps 74[,9]). 2 Schließlich herrscht heute<br />
mehr denn je dieser Hunger nach dem Wort <strong>des</strong> Herrn, das<br />
heißt nach Weisheitssprüchen, den über uns zu senden Gott<br />
einst durch den Propheten Amos angedroht hat (Am 8[,11 f.]).<br />
Da uns also diese Zuflucht fehlt, sehe ich nur noch die<br />
eine Möglichkeit: dass wir nach dem Vorbild eines gewissen<br />
22
[vorrede]<br />
Heerführers handeln, der einst der Überlieferung nach auf<br />
einen Fluss stieß, den er unbedingt überqueren musste. Da er<br />
kein Mittel wusste, ihn zu überschreiten, <strong>und</strong> <strong>des</strong>halb in große<br />
Sorge geriet, setzte er eine Belohnung aus <strong>und</strong> ließ allen seinen<br />
Soldaten verkünden: Wenn einer von ihnen eine Möglichkeit<br />
zur Überfahrt gef<strong>und</strong>en habe, solle er, ob bei Tag oder bei<br />
Nacht, geradewegs zu ihm kommen <strong>und</strong> sie ihm aufzeigen.<br />
Und er wies seine Türwächter an, jeden, der von sich behauptete,<br />
eine Lösung zu finden, zu ihm zu führen, zu welcher<br />
St<strong>und</strong>e auch immer. Mit dieser Maßnahme hatte er Erfolg: Es<br />
fand sich einer unter ihnen, der ihm einen guten Rat gab, <strong>und</strong><br />
den befolgte er <strong>und</strong> setzte über <strong>und</strong> rettete damit sich <strong>und</strong> das<br />
Heer. Fürwahr ein kluger Gedanke <strong>und</strong> wert, dass wir ihn in<br />
diesen schwierigen Zeiten befolgen. Denn nach einem klugen<br />
Rat zu verlangen <strong>und</strong> ihn einzuholen, woher er auch kommt,<br />
ist selbst schon ein kluger Rat. Auf diese Weise empfangen<br />
diejenigen, die guten Rat suchen, ihn oft dort, wo sie ihn am<br />
wenigsten erhofft hätten.<br />
Doch ergibt sich hier wiederum eine große Schwierigkeit,<br />
weil es sich mit dem Erteilen von Ratschlägen in religiösen<br />
Fragen anders verhält als in sonstigen Dingen. Denn die, welche<br />
Rat geben in sonstigen Dingen, mag ihr Rat auch keine<br />
Zustimmung finden, werden doch meistens allein schon wegen<br />
der Bereitschaft geschätzt, Rat zu erteilen. Wenn du aber<br />
in religiösen Fragen einen Rat gibst, der denen missfällt, die<br />
ihn empfangen, wirst du dafür nicht nur nicht geschätzt, sondern<br />
sogar für einen Ketzer gehalten <strong>und</strong>, derart bloßgestellt,<br />
nicht nur beim Volk verhasst gemacht, sondern gerätst sogar<br />
in Lebensgefahr. Denn so pflegt die Welt die ihr erwiesenen<br />
Wohltaten zu belohnen. 3<br />
Darum sind die Propheten <strong>und</strong> Christus <strong>und</strong> die Apostel<br />
<strong>und</strong> all die Gerechtesten getötet worden. Und folglich kommt<br />
es dazu, dass viele, durch solche Beispiele abgeschreckt, das<br />
23
erstes buch<br />
Heilige für sich behalten, damit sie nicht, wenn sie es den<br />
H<strong>und</strong>en vorwerfen [Mt 7,6], zum Dank dafür von ihnen zerrissen<br />
werden. Und so geschieht es: Während die Guten zugr<strong>und</strong>e<br />
gehen oder schweigen, stehen die falschen Lehrer überall in<br />
Ansehen <strong>und</strong> werden geliebt, wobei sich die Welt in nichts um<br />
das Wort Christi schert: « Weh euch, wenn euch alle Leute loben!<br />
Denn das Gleiche haben ihre Vorfahren bei den falschen Propheten<br />
getan » (Lk 6[,26]).<br />
Wenn ich dies bedenke, scheint es mir in der Tat ein gewichtiger<br />
Gr<strong>und</strong> zu sein, um zu schweigen <strong>und</strong>, wenn ich<br />
etwas weiß, das nur für mich zu wissen. Bedenke ich jedoch<br />
das Gebot <strong>des</strong> Herrn, in dem er uns auffordert, den anderen<br />
alles das zu tun, von dem wir wünschen, dass es uns selbst geschieht<br />
[Mt 7,12], so drängen mich Nächstenliebe, Pflicht <strong>und</strong><br />
Barmherzigkeit, die ich angesichts so vieler irrender Menschen<br />
empfinde, das, was ich an Einsicht besitze, öffentlich bekannt<br />
zu machen. Was aber die damit verb<strong>und</strong>ene Gefahr betrifft,<br />
so wird der Herr für mich sorgen, bei dem ich, wie ich glaube,<br />
zu der Schar derer gehöre, deren Haare gezählt sind [Lk<br />
12,7]. Zwar bin ich weder ein Fre<strong>und</strong> von Gefahren noch will<br />
ich den Verlust meines Saatguts riskieren <strong>und</strong> möchte auch<br />
nicht, dass es vor die Säue oder die H<strong>und</strong>e geworfen wird [Mt<br />
7,6]. Doch nachdem es mit zur Aussaat gehört, dass ein Teil<br />
der Samen, auch wenn der Bauer das nicht will, auf den Weg<br />
oder zwischen Steine <strong>und</strong> Dornen fällt, so muss eben gesät<br />
werden um jenes Teiles willen, der auf guten Boden fällt [Mt<br />
13,3–9]. Gott stehe uns bei <strong>und</strong> schenke unserer Pflanzung<br />
Gedeihen <strong>und</strong> schütze uns vor den Feinden, ohne ihnen jedoch<br />
zu schaden.<br />
Ich unternehme es, eine <strong>Kunst</strong> zu beschreiben, mit deren<br />
Hilfe jemand mitten im Strudel der Zerwürfnisse, von denen<br />
die Kirche heute erschüttert wird, so fest stehen <strong>und</strong> sich so<br />
im Besitz der erkannten <strong>und</strong> erprobten Wahrheit wissen kann,<br />
24
[vorrede]<br />
dass er je nach Glauben <strong>und</strong> Amt unerschütterlich bleibt wie<br />
ein Fels. Dem Buch habe ich den Titel gegeben « <strong>Die</strong> <strong>Kunst</strong><br />
<strong>des</strong> <strong>Zweifelns</strong> <strong>und</strong> <strong>Glaubens</strong>, <strong>des</strong> Nichtwissens <strong>und</strong> Wissens »,<br />
weil in ihm vor allem gelehrt wird, woran man zweifeln <strong>und</strong><br />
worauf man vertrauen muss, was nicht zu wissen erlaubt <strong>und</strong><br />
was zu wissen geboten ist.<br />
Es wird sich, glaube ich, über diesen Titel manch einer<br />
w<strong>und</strong>ern, weil es lächerlich sei, eine <strong>Kunst</strong> <strong>des</strong> <strong>Zweifelns</strong><br />
<strong>und</strong> Nichtwissens zu lehren, da diese doch nicht durch<br />
<strong>Kunst</strong>fertigkeit vermittelt wird, sondern dem Menschen von<br />
Natur aus innewohnt. Wer aber das ganze Werk durchgelesen<br />
<strong>und</strong> alles genau bedacht hat, wird sicherlich begreifen, dass es<br />
genau <strong>des</strong>sen bisweilen bedarf <strong>und</strong> es einige <strong>Kunst</strong> braucht, um<br />
einen Menschen davon zu überzeugen. <strong>Die</strong> Menschen verfallen<br />
bis zum heutigen Tag oft in den Fehler, dass sie glauben,<br />
wo sie zweifeln müssten, wogegen sie zweifeln, wo sie glauben<br />
müssten, <strong>und</strong> nicht wissen, was sie wissen müssten, aber wissen<br />
wollen oder zu wissen glauben, was sie nicht wissen <strong>und</strong> auch<br />
ignorieren können, ohne um ihr Heil fürchten zu müssen. Hat<br />
doch Paulus einmal gelehrt: « Wer sich selbst für weise hält, der<br />
werde ein Narr, damit er weise werde » [1. Kor 3,18]. Wenn es aber<br />
so einfach wäre, ein Narr zu werden, <strong>und</strong> es nicht einer <strong>Kunst</strong><br />
bedürfte, würden wir heute nicht so viele sehen, die sich für<br />
weise halten <strong>und</strong> dabei doch Narren sind.<br />
Hinzufügen will ich noch, dass die <strong>Kunst</strong>, von der ich schreibe,<br />
eine ist, auf die man leicht verzichten kann, wenn man einfach<br />
an Christus glaubt <strong>und</strong> seinen Geboten ohne allzu vieles<br />
Nachfragen folgt. Weil aber nicht alle so sind <strong>und</strong> es unser<br />
Wunsch ist, dass auch die etwas Verstockteren, wenn möglich,<br />
zur Wahrheit geführt werden (da ja auch Christus gekommen<br />
ist, um nicht nur die leichten Krankheiten, sondern auch die<br />
schweren zu heilen), werden wir uns bemühen, die Wahrheit,<br />
so gut es geht, auf möglichst verständliche Weise darzulegen.<br />
25
erstes buch<br />
Beginnen wollen wir aber mit dem, was alle Menschen wissen<br />
<strong>und</strong> was auch von denen, die die Heilige Schrift nicht kennen<br />
oder sie verwerfen, nicht geleugnet werden kann. Wenn<br />
wir dies festgestellt haben, wollen wir mit <strong>des</strong>sen Zeugnis die<br />
Heilige Schrift bekräftigen. Wenn auf diese Weise der christliche<br />
Glaube mit Natur <strong>und</strong> Vernunft verb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> dadurch<br />
untermauert ist, dann erst werden wir ganz im christlichen<br />
Glauben stehen <strong>und</strong> werden darlegen, wie wir mit seinen<br />
Streitfragen umzugehen haben – sofern Gott das zulässt, ohne<br />
<strong>des</strong>sen Hilfe wir nicht einmal einen Gedanken fassen können.<br />
So begleite uns dabei, lieber Leser, nicht mit übelwollendem<br />
<strong>und</strong> von finsterem Argwohn erfülltem Herzen. Denn was wir<br />
hier als unsere Meinung darlegen, verkünden wir gleichsam<br />
im Senat 4 <strong>und</strong> nicht als einen Orakelspruch, von dem abzuweichen<br />
ein Frevel wäre.<br />
KAPITEL 1<br />
ES GIBT EINEN GOTT<br />
UND DIESER IST DER LENKER DER WELT<br />
UND IST GERECHT<br />
Als Erstes sagen wir, dass es einen Gott gibt <strong>und</strong> dieser die<br />
Welt regiert <strong>und</strong> gerecht ist. Aus diesen drei Voraussetzungen<br />
gedenken wir alles zu entwickeln, was wir im Sinn haben.<br />
Auch wenn wir meinen, dass diese drei, die wir gleichsam als<br />
Voraussetzungen unserer <strong>Kunst</strong> erachten, nicht erst bewiesen<br />
oder bekräftigt werden müssen <strong>und</strong> diejenigen, die sie leugnen,<br />
vom Recht <strong>des</strong> Mitdisputierens ausschließen dürfen, wollen<br />
wir dennoch auch dies kurz untersuchen, damit allen so weit<br />
wie irgend möglich Genüge getan werde.<br />
Zunächst muss man zugeben, dass die Welt entweder vom<br />
26
kapitel 1: es gibt einen gott<br />
Zufall regiert wird oder von der Vorsehung. Denn ein Drittes<br />
gibt es nicht. Wenn einer glaubt, sie werde vom Zufall regiert,<br />
so halte ich ihn für zu dumm, als dass er noch belehrt werden<br />
könnte. Da wir sehen, dass bis jetzt nicht einmal die menschlichen<br />
Werke wie die Familien, die Schulen, die Staatswesen,<br />
die Schiffe, die Uhren <strong>und</strong> dergleichen sich vom Zufall lenken<br />
lassen, hieße das für einen Menschen, der die Regierung der<br />
Welt, dieses höchsten aller Werke, das alle übrigen mit einschließt,<br />
dem blinden Zufall zuschreibt, dass er nicht viel mehr<br />
Verstand besitzt als die Tiere. Somit müssen alle Menschen bekennen,<br />
dass die Welt nicht vom Zufall regiert wird, sondern<br />
von der Vorsehung. Wenn du aber diese Vorsehung einem anderen<br />
zuschreibst als Gott, so kannst du noch nicht einmal denken.<br />
Denn was immer du dir vorstellst, dem jene Vorsehung<br />
innewohne, das eben wäre Gott, <strong>und</strong> du wirst keinen anderen<br />
Namen oder Sachverhalt finden. Deshalb müssen wir ohne<br />
Wenn <strong>und</strong> Aber bekennen, dass es Gott gibt <strong>und</strong> die Welt von<br />
ihm regiert wird.<br />
Wenn nun aber der Lenker dieses besten aller Werke notwendigerweise<br />
auch der Beste ist (woran kein Zweifel besteht),<br />
so müssen wir, da die Welt das beste aller Werke ist, bekennen,<br />
dass auch Gott als ihr Lenker der Beste ist. Und wenn er es<br />
ist, so ist er auch gerecht, <strong>und</strong> wenn er gerecht ist, so lässt er<br />
Gerechtigkeit walten, wo immer sich Gelegenheit dazu bietet.<br />
Ist es doch die Aufgabe <strong>des</strong> Herrn der Gerechtigkeit, die<br />
Guten zu belohnen <strong>und</strong> die Bösen zu strafen. Darum belohnt<br />
Gott die Guten <strong>und</strong> bestraft die Bösen.<br />
Hier erhebt sich allerdings eine schwierige Frage: die Frage<br />
nämlich, wie man es gutheißen könne, dass es den Gottlosen<br />
gut, den Frommen aber schlecht ergeht, wie wir es doch häufig<br />
sehen. Denn wenn Gott gerecht ist <strong>und</strong> Herr über die<br />
Menschen, warum lässt er dann zu, dass die Gottlosen sich ihres<br />
Lebens freuen <strong>und</strong> die Frommen wehklagen? Darauf antwor-<br />
27
erstes buch<br />
te ich, dass oft doch auch das Gegenteil geschieht, dass es den<br />
Bösewichten schlecht, den Rechtschaffenen aber wohl ergeht<br />
<strong>und</strong> dass darin Gottes Gerechtigkeit offenbar wird. Dabei will<br />
ich hier nicht von solchen Fällen sprechen, in denen man sich<br />
fragen könnte, ob dabei göttliche Fügung oder der Zufall die<br />
Hand im Spiel hatte; etwa wenn ein verbrecherischer Mensch<br />
bei einem Schiffbruch umkommt oder wegen seiner Taten von<br />
der Obrigkeit ans Kreuz geschlagen wird oder einer Krankheit<br />
erliegt <strong>und</strong> dergleichen mehr; oder wenn ein rechtschaffener<br />
Mann reich wird <strong>und</strong> sich blühender Ges<strong>und</strong>heit erfreut <strong>und</strong><br />
den Nachstellungen seiner Neider glücklich entgeht <strong>und</strong> bei<br />
den Mächtigen <strong>und</strong> Fürsten in Gnade steht <strong>und</strong> Ähnliches<br />
mehr. Denn obwohl man in solchen Fällen oft bei genauerem<br />
Hinsehen Gottes Gerechtigkeit <strong>und</strong> Vorsehung offenbar werden<br />
sieht, so könnte man dennoch – weil solches oft wahllos<br />
Rechtschaffenen wie Schurken widerfährt – sich noch eindeutigere<br />
Beispiele wünschen, bei denen auch die Verstockteren<br />
sich zu dem Eingeständnis genötigt sehen, dass hier kein Platz<br />
ist für das Walten der Fortuna. Darum will ich noch einige<br />
weitere hinzufügen, teils aus Quellen <strong>des</strong> Altertums, teils aus<br />
neuerer Zeit, die vielleicht noch nicht schriftlich niedergelegt<br />
wurden. 5 KAPITEL 2<br />
Das erste Beispiel soll Henoch sein, der, wie Mose schreibt, um<br />
seiner Frömmigkeit willen von Gott zu sich genommen wurde<br />
[1. Mose 5,24]. Sodann Noah, der um seiner Gerechtigkeit willen<br />
inmitten <strong>des</strong> Untergangs der gesamten Menschheit errettet<br />
wurde [1. Mose 6,8–22]. Ebenso Lot durch eigens zu seiner<br />
Rettung aus dem Untergang Sodoms entsandte Engel [1. Mose<br />
19]. Für Abrahams Wohlergehen trug Gott so viel Sorge, dass<br />
28
kapitel2<br />
er dem König Abimelech im Traum den Tod androhte, wenn<br />
er das Eheweib nicht zurückgäbe, das er geraubt hatte [1. Mose<br />
20,1–3]. Demselben Abraham, der schon betagt war, schenkte<br />
er durch <strong>des</strong>sen Weib, das gleichfalls betagt <strong>und</strong> zudem unfruchtbar<br />
war, einen Nachkommen [1. Mose 17,15–22; 18,9–15;<br />
21,1–2]. Auch Isaaks <strong>und</strong> Jakobs Gottesfurcht hat er nicht etwa<br />
heimlich belohnt, sondern die Jakobs in aller Offenheit, indem<br />
er Laban in einem Traum bedrohte, falls er jenem irgendeinen<br />
Schaden zufüge [1. Mose 31,24]. Mose hat er oft vor dem Zorn<br />
<strong>des</strong> Volkes beschützt [2. Mose 15,24 f.; 16,2–5; 17,2–6 u. ö.].<br />
Elisa hat er gegen die Syrer [Aramäer] verteidigt, indem er die<br />
syrischen Soldaten, die zu seiner Ergreifung entsandt wurden,<br />
derart mit Blindheit schlug, dass sie sich nach Samaria, eine<br />
feindliche Stadt, führen ließen [2. Kön 6,18–20]. So könnte<br />
ich noch andere Beispiele anführen, aber ich will nicht gar zu<br />
weitschweifig sein.<br />
Auch für Strafgerichte liegen Beispiele parat. Das erste <strong>und</strong><br />
für alle Zeiten denkwürdigste ist die Sintflut [1. Mose 7], mit der<br />
Gott die Gottlosigkeit der Menschen bestraft hatte. Desgleichen<br />
nenne ich die Verwüstung Sodoms [1. Mose 19,24 f.] <strong>und</strong> die<br />
ägyptischen Plagen [2. Mose 7–11] <strong>und</strong> die vielen Strafen, die<br />
Gott dem Israelitenvolk um seiner Sünden willen auferlegt hatte,<br />
<strong>und</strong> besonders Korach, Datan <strong>und</strong> Abiram (4. Mose 16), die<br />
wegen ihrer schändlichen Verschwörung gegen Mose – einen<br />
Mann ohne Fehl <strong>und</strong> Tadel – teils öffentlich von göttlichem<br />
Feuer verzehrt, teils wie von Mose vorhergesagt (damit nicht<br />
einer behaupten könne, dies sei durch Zufall geschehen) vor<br />
den Augen <strong>des</strong> ganzen Volkes von einem Erdspalt verschlungen<br />
wurden.<br />
Aber nicht nur aus den Heiligen Schriften, sondern auch aus<br />
weltlichen, <strong>und</strong> zwar sowohl aus alten wie auch solchen neueren<br />
Datums, lassen sich Beispiele anführen. 6<br />
29
erstes buch<br />
KAPITEL 3<br />
NICHT JEDER ERHÄLT IN DIESEM LEBEN<br />
DEN SEINEN TATEN GEBÜHRENDEN LOHN,<br />
DAHER WIRD ER IHN IN EINEM<br />
KÜNFTIGEN LEBEN ERHALTEN<br />
<strong>Die</strong>se <strong>und</strong> andere Beispiele, wie sie den Lesern zahlreich in den<br />
Sinn kommen, da sie ja häufig vorkommen, sind bestens geeignet,<br />
darin Gottes Gerechtigkeit aufs deutlichste zu offenbaren.<br />
Hier wird manch einer sagen: Warum geht es dann nicht<br />
immer so zu? Warum gehen oft die Unschuldigen zugr<strong>und</strong>e,<br />
<strong>und</strong> die Übeltäter triumphieren? Ich antworte: Wenn es nicht<br />
immer geschieht, so heißt das nicht, dass es überhaupt nicht<br />
geschieht; vielmehr, wenn es irgendwann geschieht, so heißt<br />
das, dass es geschieht. Mir genügt es zunächst festzuhalten, dass<br />
die Gerechtigkeit in manchen Fällen so klar zutage tritt, dass<br />
sie nicht einmal von den Dreistesten geleugnet werden kann.<br />
Und ich füge noch ein Gleichnis hinzu.<br />
Da gibt es irgendwo einen Staat, der nach Einberufung<br />
<strong>des</strong> Senats <strong>und</strong> nach gefasstem Beschluss dafür sorgt, dass ein<br />
Räuber ergriffen <strong>und</strong> ans Kreuz geschlagen wird. Ich frage: Ist<br />
dieser Räuber nun durch Zufall bestraft worden? Ganz <strong>und</strong> gar<br />
nicht, sondern kraft Beschluss <strong>und</strong> Vorsehung. Nun werden<br />
aber in demselben Staat nicht alle Bösewichte bestraft, selbst<br />
wenn sie bekannt sind. Zugegeben – aber was weiter? Willst du<br />
<strong>des</strong>halb etwa behaupten, dass in jenem Staat keine Gerechtigkeit<br />
herrscht? Keineswegs – genauso wie es auch dort Schwerter<br />
gibt, selbst wenn man die Schwerter nicht immer gebraucht.<br />
Denn sie haben dort manchmal triftige Gründe, warum sie sich<br />
ihrer nicht oder noch nicht bedienen. Bisweilen ist nämlich<br />
ein Übeltäter so mächtig oder angesehen, dass er nicht bestraft<br />
werden kann, ohne damit größte Gefahr für den Staat herauf-<br />
30
kapitel 3: nicht jeder erhält in diesem leben den lohn<br />
zubeschwören, <strong>und</strong> gelegentlich wartet man aus bestimmten<br />
Gründen auf eine andere Gelegenheit, ihn zu strafen: Nicht<br />
selten meint der Senat, ihm wegen früherer Verdienste um den<br />
Staat Gnade erweisen zu müssen, oder man nimmt Rücksicht<br />
auf einen Fürsten, den die Hinrichtung <strong>des</strong> bei ihm in Gunst<br />
stehenden Angeklagten erzürnen würde, was dem Staat als<br />
nachteiliger erscheinen könnte, als wenn ihm Straffreiheit gewährt<br />
wird. Es gibt schließlich viele solcher Gründe (<strong>und</strong> ich<br />
rede hier nur von den berechtigten, um von den unberechtigten<br />
zu schweigen), warum ein Senat sich beeindrucken lässt <strong>und</strong><br />
nicht tut, was das Gesetz eigentlich verlangen würde. Und doch<br />
könnte man nicht wirklich sagen, dieser Senat habe keinerlei<br />
Sinn für Gerechtigkeit oder Umsicht.<br />
Wenn nun aber ansonsten gerechte <strong>und</strong> besonnene Senate<br />
so handeln, sehe ich keinen Gr<strong>und</strong>, warum nicht auch Gott so<br />
handeln kann. Gewiss hat er nicht oder nicht immer die gleichen<br />
Beweggründe wie die Staatsmänner, kann dafür aber andere<br />
<strong>und</strong> bisweilen sogar die gleichen haben. Um <strong>des</strong> Exempels<br />
willen gewährt er manchem Bösewicht Wohlergehen <strong>und</strong><br />
länger währende Straffreiheit, sei es, damit jener zuletzt zur<br />
Rechtschaffenheit zurückkehrt, sei es, damit er zuletzt umso<br />
schwerere Strafen erleidet <strong>und</strong> über die Umkehr der Verhältnisse<br />
umso größeren Schmerz empfindet. Hinwiederum lässt er zu,<br />
dass mancher Rechtschaffene von schweren Drangsalen gepeinigt<br />
wird, damit sein Glaube <strong>und</strong> seine Standhaftigkeit wie Gold<br />
im Schmelzofen geprüft werden <strong>und</strong> er zuletzt, wenn Gott<br />
es ihm lohnt, über jene Wendung <strong>des</strong> Schicksals umso mehr<br />
Freude empfindet <strong>und</strong> Gott umso mehr für seine unerwartete<br />
Hilfe preist.<br />
Dass die Frommen von Gott mitunter strenger behandelt<br />
werden als die Gottlosen – damit sie danach umso mehr mit<br />
Gottesruhm <strong>und</strong> umso größerer Freude beschenkt werden –,<br />
ist schließlich auch nicht abwegiger, als wenn ein kluger Vater<br />
31
erstes buch<br />
seinen Lieblingssohn <strong>und</strong> künftigen Erben manchmal strenger<br />
<strong>und</strong> härter erzieht als die anderen, damit er geläutert daraus hervorgehe<br />
<strong>und</strong> die Erbschaft frei von jeder Schande erlange. Oder<br />
wenn ein tüchtiger Landmann einen Weinstock, der ihm so teuer<br />
ist wie kein anderer seiner Stöcke, beschneidet <strong>und</strong> strenger<br />
behandelt als irgendeinen von den anderen Weinstöcken, damit<br />
er bessere <strong>und</strong> reichlichere Frucht trage.<br />
Ja, wenn Gott die Frommen sofort belohnte <strong>und</strong> die Gottlosen<br />
sofort bestrafte, hätten die Frommen keine Gelegenheit, neben<br />
den anderen Tugenden vor allem deren schönste, die Geduld, zu<br />
erlernen <strong>und</strong> zu üben, die ohne Erleiden von Ungerechtigkeit<br />
<strong>und</strong> Missgeschick ebenso wenig erlernt werden kann wie die<br />
Schwimmkunst außerhalb <strong>des</strong> Wassers. Auch bliebe uns bei<br />
den Bösewichten deren innere Bosheit verborgen, da sie aus<br />
Furcht vor der drohenden Strafe von ihren Verbrechen ablassen<br />
würden, dabei aber den Sinn voll solcher Taten hätten <strong>und</strong><br />
in Wirklichkeit nicht besser wären, als wenn sie diese Taten<br />
wirklich begangen hätten. Genauso würde ein Wolf, der im<br />
Schafstall eingeschlossen ist, aus Furcht vor den Schlägen der<br />
anwesenden Hirten vom Würgen der Schafe ablassen, wäre <strong>des</strong>halb<br />
aber nicht weniger wölfisch gesinnt, als wenn er frei wäre.<br />
Was aber, so wird man fragen, wird mit denen geschehen, die<br />
in diesem Leben den Lohn für ihre Taten, die guten wie die<br />
schlechten, nicht bekommen? Antwort: Das ist in der Tat jene<br />
Frage, die viele schon lange umgetrieben hat <strong>und</strong> die man nur<br />
beantworten kann, indem man sagt, dass der gerechte Lohn auf<br />
ein anderes Leben verschoben wird. Wenn man nämlich behauptet,<br />
er werde schon in diesem Leben zuteil, würde man,<br />
wie an obigen Beispielen gezeigt wurde, die Frage nicht hinreichend<br />
beantworten, weil das eben nicht immer geschieht<br />
<strong>und</strong>, wenn es denn geschieht, der Lohn nicht ganz den Taten<br />
entspricht. Denn viele Fromme leben bis an ihr Ende im Elend<br />
<strong>und</strong> werden oft mit schlimmster Peinigung <strong>und</strong> Schande ums<br />
32
kapitel 3: nicht jeder erhält in diesem leben den lohn<br />
Leben gebracht, wie wir an vielen Propheten <strong>und</strong> an Christus<br />
<strong>und</strong> seinen Jüngern <strong>und</strong> ihren Nachfolgern sehen. Und wenn<br />
sie in diesem Leben einmal beschenkt werden, so ist das zu<br />
wenig, <strong>und</strong> dann werden sie zudem geringer beschenkt als<br />
viele Gottlose.<br />
Dagegen leben viele Gottlose ihr ganzes Leben lang ausschweifend<br />
<strong>und</strong> scheiden oft ohne Pein <strong>und</strong> Schande aus dieser<br />
Welt, <strong>und</strong> wenn sie doch einmal bestraft werden, so ist das unbedeutend<br />
im Vergleich zu den vielen von ihnen begangenen<br />
Schandtaten. Denn welche Strafe, die ihren Verbrechen angemessen<br />
gewesen wäre, hätten in diesem Leben die Hero<strong>des</strong>,<br />
Phalaris, Nero, Caracalla <strong>und</strong> Heliogabal <strong>und</strong> andere – man<br />
sollte nicht sagen: Menschen, sondern besser: menschliche<br />
Ungeheuer – dieser Art erleiden müssen, die sich oft an einem<br />
Tag mehr Strafen verdient hatten, als sie hätten abbüßen können,<br />
auch wenn sie ihr ganzes Leben lang die schlimmsten<br />
Peinigungen erlitten hätten? Welche Strafe empfängt der gottlose<br />
Soldat, der sein ganzes Leben in sämtlichen Übeltaten geschwelgt<br />
hatte <strong>und</strong> zuletzt freudig, munter <strong>und</strong> triumphierend<br />
mitten in der Schlacht von einer Kanonenkugel in die Luft<br />
gesprengt wird, ohne irgendwelchen Schmerz zu empfinden<br />
(denn welchen Schmerz kann man empfinden in einem Nu)?<br />
Stirbt er nicht um vieles leichter, als wenn er in seinem Bett<br />
von einer Krankheit aufgezehrt würde? <strong>Die</strong>se Frage hat die bedeutendsten<br />
Männer dazu geführt, mit Bestimmtheit anzunehmen,<br />
dass den Menschen ein ihren Taten angemessener Lohn<br />
erst in einem künftigen Leben zuteil wird. Denn da sie sahen,<br />
dass es in diesem Leben nicht geschieht, <strong>und</strong> daher, wenn es<br />
nicht geschieht, auch nicht von Gottes Gerechtigkeit sprechen<br />
konnten, waren sie um der Wahrheit willen gezwungen, so zu<br />
argumentieren. Es gehört zu Gottes Gerechtigkeit, jedem den<br />
Lohn zu entrichten, der seinen Taten entspricht, doch tut er<br />
es in diesem Leben nicht: Also wird er es im künftigen tun.<br />
33
erstes buch<br />
KAPITEL 4<br />
Da also Gott Gerechtigkeit will <strong>und</strong> sie übt <strong>und</strong> der Mensch<br />
in Gottes Hand <strong>und</strong> Urteil steht, ist es Aufgabe der Menschen,<br />
ihrerseits für Gerechtigkeit zu sorgen 7 <strong>und</strong> diese, damit er für<br />
sie sorgen kann, auch zu erkennen. Gerechtigkeit aber bedeutet,<br />
einem jeden das Seine, also das, was ihm gebührt, zuteil werden<br />
zu lassen. Es gebühren aber Gott <strong>und</strong> dem Menschen von Seiten<br />
<strong>des</strong> Menschen Liebe <strong>und</strong> die Werke der Liebe. 8 Denn wenn<br />
das, was gut ist <strong>und</strong> dem Menschen gut tut, vom Menschen geliebt<br />
werden soll, muss ganz sicher auch Gott, der sowohl gut<br />
ist (was nicht geleugnet werden kann) als auch dem Menschen<br />
gut tut (da der Mensch ja alles, was er an Gutem hat, von Gott<br />
hat), vom Menschen geliebt werden. Und wenn es von Natur<br />
so eingerichtet ist, dass diejenigen Geschöpfe, die miteinander<br />
verwandt sind, einander lieben wie das Schaf das Schaf <strong>und</strong><br />
die Taube die Taube, so ergibt sich daraus, dass alle Menschen,<br />
da sie miteinander verwandt <strong>und</strong> Brüder sind, einander lieben<br />
müssen <strong>und</strong> keinen Menschen von ihrer Liebe ausschließen<br />
dürfen. Wenn sie dem zuwiderhandeln, verstoßen sie gegen<br />
ihre Pflicht. Also ist es aller Menschen Pflicht, Gott <strong>und</strong> die<br />
anderen Menschen zu lieben <strong>und</strong> Werke der Liebe zu tun: <strong>Die</strong>s<br />
ist die Gerechtigkeit, nach der wir streben. Gerechtigkeit aber<br />
wird gelehrt <strong>und</strong> erkannt sowohl durch die Natur wie durch<br />
die Lehre. Denn zum einen hat die Natur dem Menschen die<br />
Vernunft mitgegeben, mit der er das Wahre vom Falschen, das<br />
Gute vom Schlechten, das Gerechte vom Ungerechten unterscheiden<br />
kann; <strong>und</strong> zum andern bestätigt die Lehre, angeleitet<br />
von der Vernunft, die Natur <strong>und</strong> lehrt, dass man gemäß der<br />
Natur leben soll, <strong>und</strong> bezeichnet jene, die das tun, als Gerechte<br />
<strong>und</strong> die, die ihr zuwider handeln, als Ungerechte.<br />
An dieser Stelle erheben sich jedoch zwei sehr bedeutsame<br />
<strong>und</strong> erklärungsbedürftige Fragen. <strong>Die</strong> erste ist diese: Wenn<br />
34
kapitel 4<br />
man nach der Natur leben soll, wozu braucht es dann eine<br />
Unterweisung? Wo doch die Lehre selber lehrt, dass die Natur<br />
die beste Führerin <strong>und</strong> Lehrerin ist, <strong>und</strong> da die Tiere ohne irgendwelche<br />
Unterweisung von Natur aus ihrer Bestimmung<br />
nachkommen wie die Schwalben, die Kraniche, die Affen oder<br />
die Ameisen, die unter Anleitung der Natur ihren Auftrag erfüllen,<br />
unter sich Gemeinschaft pflegen, sich gewissermaßen zu<br />
Beratungen versammeln <strong>und</strong> über so etwas wie ein Staatswesen<br />
verfügen. Und die zweite Frage ist: Wenn es darum geht, nach<br />
der Natur zu leben, wieso werden dann von Natur aus diebische,<br />
lüsterne oder jähzornige Menschen als ungerecht angesehen,<br />
wenn sie getreu ihrer Natur stehlen <strong>und</strong> der Wollust<br />
<strong>und</strong> dem Zorn frönen? Wie kann man glauben, sie handelten<br />
wider die Natur, wo sie doch nach Art wilder Tiere ihrem natürlichen<br />
Trieb gehorchen?<br />
<strong>Die</strong> erste Frage beantworte ich so: Gott <strong>und</strong> die Natur tun<br />
nichts ohne Gr<strong>und</strong>. 9 Wenn nämlich dem Menschen ohne Hilfe<br />
<strong>des</strong> Verstan<strong>des</strong> alles auf natürliche Weise zu Gebote stünde,<br />
so hätte er nichts, wodurch sein Verstand oder seine Hand<br />
sich hervortun könnten, <strong>und</strong> so hätte die Natur bei<strong>des</strong> dem<br />
Menschen unnützerweise gegeben. Da aber die Natur dem<br />
Menschen in weiser Voraussicht Hand <strong>und</strong> Verstand verliehen<br />
hatte, wollte sie, dass es etwas gibt, worin diese sich Gaben zeigen<br />
<strong>und</strong> betätigen könnten. Und indem sie von sich aus manche<br />
Dinge ohne menschliches Dazutun spendete, in anderen<br />
Dingen aber sich die Arbeit mit dem Menschen teilte, hat sie<br />
sich gewissermaßen zu seinem Gefährten <strong>und</strong> Helfer gemacht<br />
<strong>und</strong> seinem Verstand <strong>und</strong> seinen Händen gewisse Dinge zur<br />
Berichtigung oder Verbesserung überlassen, <strong>und</strong> zwar sowohl<br />
im körperlichen wie im geistigen Bereich.<br />
Der Unterschied zwischen den Lebensbedürfnissen <strong>des</strong><br />
Menschen <strong>und</strong> denen der Tiere besteht also darin, dass die<br />
Natur dem Menschen nicht Brot <strong>und</strong> Wein, nicht Kleider <strong>und</strong><br />
35
erstes buch<br />
Häuser geschenkt hat, sondern Korn <strong>und</strong> Trauben, Wolle <strong>und</strong><br />
Holz <strong>und</strong> Steine, um sich mittels Verstand <strong>und</strong> Hand Brot,<br />
Wein, Kleidung <strong>und</strong> Häuser daraus zu fertigen. Ja, nicht einmal<br />
all die genannten Materien wollte sie ganz ohne menschliches<br />
Zutun hergeben, indem nämlich weder Korn noch Trauben<br />
noch Vieh ohne menschliche Arbeit <strong>und</strong> Pflege gedeihen noch<br />
auch Apfel- <strong>und</strong> Birnbäume <strong>und</strong> etliche andere Baumsorten<br />
ohne Pfropfung (die zum Menschenwerk, nicht zur Natur gehört)<br />
genügend gute Früchte tragen. Dem Vieh aber hatte<br />
die Natur Nahrung <strong>und</strong> Kleidung fertig mitgegeben <strong>und</strong> zuvor<br />
ganz von sich aus den meisten auch noch Verstecke beschafft;<br />
oder wenn es an etwas mangelte, so verlieh sie jedem<br />
Tier so viel Fleiß <strong>und</strong> Geschick, wie nötig war, sich dies zu<br />
verschaffen.<br />
Wenn sich also in den Fragen, die den menschlichen Körper<br />
betreffen, die Sache so verhält, dass Hand <strong>und</strong> Verstand <strong>des</strong><br />
Menschen der Natur als Gefährtin <strong>und</strong> Helferin dienen, so<br />
kann es weder verw<strong>und</strong>ern noch abwegig erscheinen, wenn<br />
es sich im Reich <strong>des</strong> Geistes ebenso verhält. Folglich hat die<br />
Natur gewollt, dass es wie bei der Erde <strong>und</strong> den Trieben der<br />
Pflanzen, so auch in der menschlichen Seele etwas geben<br />
soll, was durch die Kraft der Vernunft der Veredelung <strong>und</strong><br />
Verbesserung bedarf. Wenn demnach feststeht, dass die Natur<br />
dort weise verfährt, so darf man darauf vertrauen, dass sie auch<br />
hier weise handelt: ist es doch ein <strong>und</strong> dieselbe Vernunft. Wenn<br />
also gelehrt wird, der Mensch habe gemäß der Natur zu leben,<br />
dann muss man dies ebenso bejahen, wie wenn man sagt, der<br />
Bauer müsse den Acker gemäß der Natur bestellen – <strong>und</strong> zwar<br />
nicht, weil der Bauer der Natur nicht helfen <strong>und</strong> sie verbessern<br />
würde, da die Bebauung <strong>des</strong> Ackers ja geradezu bedeutet, der<br />
Natur zu helfen oder sie zu verbessern, sondern weil er in allem<br />
die Natur selbst zur Führerin <strong>und</strong> zur Gefährtin hat. Denn er<br />
tut alles mit der Kraft der Vernunft, welche naturgegeben ist,<br />
36
kapitel 4<br />
<strong>und</strong> wenn er zufällig einmal entgegen der Natur handelt (wie<br />
wenn er Bäume pfropft, die die Natur selbst nicht pfropfen<br />
kann), so sagt ihm dies gleichwohl seine natürliche Vernunft<br />
<strong>und</strong> wird danach von der Natur selbst begünstigt <strong>und</strong> gefördert<br />
– in nicht geringerem Maß, als wenn die Natur es selbst getan<br />
hätte. Denn auch der gegen die Natur eingepfropfte Baum<br />
wächst <strong>und</strong> trägt dann Früchte gemäß der Natur, <strong>und</strong> es besteht<br />
hier zwischen der Pfropfung, die Menschenwerk ist, <strong>und</strong><br />
dem Zuwachs, den die Natur bewirkt, eine ganz enge, sozusagen<br />
eheliche Verbindung. Und da es sich in seelischen Dingen<br />
ebenso verhält, ist für mich die Lehre von der Gerechtigkeit<br />
so etwas wie die Agrikultur im geistig-seelischen Bereich. 10 So<br />
viel zur ersten Frage.<br />
Auf die zweite Frage antworte ich, dass Hang zu <strong>Die</strong>bstahl,<br />
Trunksucht, Lügenhaftigkeit <strong>und</strong> dergleichen Krankheiten der<br />
Seele sind <strong>und</strong> also wider die Natur, da ja jede Krankheit wider<br />
die Natur ist, selbst wenn einer mit ihr geboren wird.<br />
<strong>Die</strong>jenigen also, die sich von diesen Krankheiten leiten lassen,<br />
leben wider die Natur: Denn zu stehlen, zu lügen <strong>und</strong> sich<br />
zu berauschen ist dem Menschen nicht natürlicher als vom<br />
Aussatz befallen zu werden. Deshalb sind jene Eigenschaften<br />
zu bekämpfen, statt ihnen nachzugeben, was letztlich mit der<br />
Agrikultur <strong>des</strong> Seelisch-Geistigen gemeint ist. Denn wie die<br />
Bauern sich nicht nur um die Dinge kümmern, die wir aufgezählt<br />
haben, sondern auch die Krankheiten heilen, die bei<br />
Pflanzen oder beim Vieh auftreten, so leisten auch die Lehrer<br />
der Gerechtigkeit, nach ihrem eigenen Bekenntnis, bei<strong>des</strong> im<br />
Reich <strong>des</strong> Seelisch-Geistigen: Aus diesem Gr<strong>und</strong> sind wir der<br />
Meinung, dass die Lehre von der Gerechtigkeit für den seelisch-geistigen<br />
Bereich <strong>des</strong> Menschen gewissermaßen eine Art<br />
Agrikultur <strong>und</strong> Medizin bedeutet.<br />
37
liber primus, erstes cap. buch 4.5, fol. 63<br />
Ad sec<strong>und</strong>am quaestionem respondeo furacitatem, ebriositatem,<br />
mendacitatem et huius generis alia esse morbos animi<br />
ideoque contra naturam, quandoquidem omnis morbus est<br />
contra naturam, etiam si quis cum eo nascatur. Itaque qui<br />
morbis illis obsequuntur, contra naturam vivunt: neque enim<br />
homini naturale est furari, mentiri, inebriari non magis quam<br />
leprosum esse. Proinde corrigenda sunt illa, non sequenda,<br />
quod etiam profitetur animorum agricultura. Sicut enim agricolae<br />
non solum illa praestant, quae recensuimus, verum etiam<br />
si quid vel in stirpibus vel in pecore morbi est, sanant, ita<br />
et iusticiae magistri utrumque animis praestare se profitentur.<br />
Quare sic statuamus, doctrinam iusticiae esse animorum quandam<br />
quasi agriculturam atque medicinam.<br />
Cap. 5<br />
Nunc quoniam artem hanc multi et professi sunt et profitentur<br />
et, quinam sint eius authores optimi et vel ante omnes vel<br />
etiam soli sequendi, controversia est, dispiciendum nobis est,<br />
quanam ratione de eo iudicari possit, et, postquam, quinam<br />
sint optimi, deprehenderimus, in illis ipsis quid sequi oporteat<br />
considerandum. Dicet hic fortasse protinus aliquis Christianus<br />
nihil opus esse consideratione. Christianam enim doctrinam<br />
esse sine controversia omnium longe praestantissimam. Et sane<br />
de praestantia verum dicet: sed de consideratione fortasse non<br />
item. Debemus enim non temere, sed circumspecte et cum<br />
iudicio sequi quae sequimur, id quod plerique non faciunt.<br />
Maxima enim Christianorum pars in Christum non aliter credit<br />
quam Turcae in Mahometem aut quam illae ipsae nationes,<br />
quae nunc Christum profitentur, olim in Iovem aut Neptunum<br />
caeterosque peregrinos deos crediderunt.<br />
38
39
erstes buch<br />
KAPITEL 5<br />
Weil nun viele als Lehrer dieser <strong>Kunst</strong> aufgetreten sind <strong>und</strong> es<br />
immer noch tun <strong>und</strong> man darüber streitet, wer denn die besten<br />
oder gar die einzigen Autoren sind, denen man vorzugsweise zu<br />
folgen habe, müssen wir jetzt herausfinden, auf welche Weise<br />
man dies beurteilen kann, <strong>und</strong> – nachdem wir erkannt haben,<br />
welche die besten sind – abwägen, worin man ihnen folgen<br />
soll. Hier wird vielleicht der eine oder andere Christ r<strong>und</strong>heraus<br />
sagen, es brauche keine solche Erwägung: <strong>Die</strong> christliche<br />
Lehre sei unstrittig die bei weitem vortrefflichste. Und in der<br />
Tat mag er wohl Recht haben, was die Vortrefflichkeit betrifft,<br />
aber vielleicht nicht in gleicher Weise in Bezug auf das<br />
Abwägen. Denn wir dürfen den Lehren, denen wir folgen,<br />
nicht blindlings folgen, sondern umsichtig <strong>und</strong> mit Bedacht,<br />
was die meisten nicht tun.<br />
Der größte Teil der Christen glaubt nämlich nicht anders<br />
an Christus als die Türken an Mohammed oder als selbst jene<br />
Völker, die heute Christus bekennen <strong>und</strong> einst an Jupiter oder<br />
Neptun oder die anderen heidnischen Götter geglaubt haben.<br />
Denn sie glauben an Christus, weil sie von klein auf in seiner<br />
Lehre erzogen wurden <strong>und</strong> sie von ihren Eltern empfangen<br />
haben. Wären sie aber in gleicher Weise in Mohammeds<br />
Lehren erzogen worden, würden sie ebenso an Mohammed<br />
glauben. Von dieser Art ist der Glaube der Kinder <strong>und</strong> der<br />
Unwissenden, die ich bestenfalls glücklich, aber nicht weise<br />
nennen möchte. Wie jemand, der seine Ges<strong>und</strong>heit dem<br />
Arzt seiner Stadt anvertraut, weil er eben der Arzt seiner Stadt<br />
ist, <strong>und</strong> nicht, weil er ihn als einen guten Arzt erkannt hat;<br />
hat er Erfolg – gut so; doch sollte er dafür seinem Glück <strong>und</strong><br />
nicht seiner Weisheit danken. Hätte jener Arzt sich nämlich<br />
als schlechter Arzt erwiesen, so wäre der Kranke an derselben<br />
Gutgläubigkeit zugr<strong>und</strong>e gegangen, die ihn geheilt hat.<br />
40
kapitel 5<br />
Selbst wenn wir an einen hervorragenden Arzt geraten, müssen<br />
wir doch sehen, wie seine Vortrefflichkeit bewiesen werden<br />
kann, damit zum einen diejenigen, die schon an ihn geraten<br />
sind, noch mehr in ihrem Glauben bestärkt werden, zum<br />
anderen jedoch die, die noch Zweifel haben (es zweifeln ja<br />
auch etliche Menschen, die den Namen Christen tragen), nach<br />
Möglichkeit von ihrem Irrtum geheilt werden. Hinzu kommt<br />
noch der Nutzen, den diese Abwägung haben wird, um auch<br />
die Anhänger einer fremden Religion zu überzeugen oder zumin<strong>des</strong>t<br />
in ihren Irrtümern zu widerlegen.<br />
Fest steht zunächst, dass man den Schöpfer eines Werkes entweder<br />
nach seinen Worten oder nach seinem Werk beurteilen<br />
muss. Worte sind allerdings oft trügerisch, <strong>und</strong> es gibt heutzutage<br />
so redegewandte <strong>und</strong> scharfsinnige Leute, die zwar keine<br />
guten Werkmeister sind, die man aber, wollte man sie nur nach<br />
ihren Worten beurteilen, leicht den guten Werkmeistern vorziehen<br />
möchte, sofern man nicht selber (was nur wenigen gegeben<br />
ist) ebenso scharfsinnig ist. Vom Werk aber kann jeder<br />
getrost auf <strong>des</strong>sen Schöpfer schließen. Um nur ein Beispiel zu<br />
nennen: Wenn umstritten ist, welcher von zwei Schmieden der<br />
bessere ist, gibt es niemanden, der nicht r<strong>und</strong>heraus den für<br />
den besseren halten wird, der die besseren Eisengeräte schmiedet,<br />
<strong>und</strong> zwar nicht nur einige wenige (denn das könnte als<br />
Zufall erscheinen), sondern fast alle. Dasselbe sage ich über<br />
den Soldaten oder Heerführer, der die Feinde am trefflichsten<br />
besiegt; dasselbe über den Landmann, von denen der sich als<br />
der beste erweist, der dank seiner <strong>Kunst</strong> die meisten Früchte<br />
erntet; dasselbe vom Arzt, der entweder die Ges<strong>und</strong>heit am<br />
besten erhält oder die Krankheiten am besten zu heilen versteht.<br />
Kurz, für den größten Künstler ist derjenige anzusehen,<br />
der die besten Werke vollbringt.<br />
Da es nun hier um die Frage der Lehre von der Gerechtigkeit<br />
geht, welche von allen die beste ist, <strong>und</strong> wir vorher gesagt ha-<br />
41
erstes buch<br />
ben, sie sei gewissermaßen die Agrikultur <strong>und</strong> Medizin 11 <strong>des</strong><br />
seelisch-geistigen Bereichs, so steht außer Zweifel, dass diejenige<br />
als die beste anzusehen ist, welche die Menschen so<br />
rechtschaffen wie möglich werden lässt <strong>und</strong> ihre Krankheiten<br />
am besten heilt. 12 <strong>Die</strong>se Lehre, sage ich, ist die christliche, wie<br />
ich an vielen Beispielen zeigen kann, von denen ich aber, um<br />
nicht weitschweifig zu werden, nur wenige anführen will. So<br />
schreibt Lukas in seiner Apostelgeschichte die folgenden Sätze:<br />
« Alle Glaubenden aber lebten zusammen <strong>und</strong> hatten alles gemeinsam;<br />
sie verkauften ihr Hab <strong>und</strong> Gut <strong>und</strong> verteilten es an alle, jedem nach<br />
dem, was er brauchte; <strong>und</strong> täglich waren sie zusammen im Tempel <strong>und</strong><br />
nahmen die Mahlzeiten mal in diesem, mal in jenem ihrer Häuser<br />
ein, wobei sie das Brot brachen <strong>und</strong> Gott lobten mit Freude <strong>und</strong> einfältigem<br />
Gemüt; <strong>und</strong> sie fanden Wohlwollen beim ganzen Volk »<br />
(Apg 2[,44–47]).<br />
Wir sehen hier eine Heiligkeit <strong>und</strong> Gerechtigkeit <strong>des</strong> ganzen<br />
Volkes, wie es sie niemals zuvor auf Erden gegeben hatte.<br />
Und damit man erkennt, dass durch diese Lehre nicht nur<br />
Menschen von durchschnittlicher, sondern auch von ganz ungewöhnlicher<br />
Schlechtigkeit zu Besserung <strong>und</strong> Gerechtigkeit<br />
geleitet wurden, schreibt derselbe Autor in Kapitel 19 <strong>des</strong>selben<br />
Buches: « Viele von denen, die gläubig geworden waren, kamen<br />
<strong>und</strong> bekannten <strong>und</strong> verkündeten, was sie getan hatten. Viele auch,<br />
die Unerlaubtes getan (das heißt magische Künste getrieben) hatten,<br />
brachten die Bücher zusammen <strong>und</strong> verbrannten sie öffentlich » (Apg<br />
19[,18–19]). Hier handelt es sich also nicht um gewöhnliche<br />
Sünder, die auf den Weg der Besserung zurückfanden, sondern<br />
gerade um die schlimmsten von allen. Denn die, welche jene<br />
magischen Künste betreiben, haben zuvor Gott abgeschworen<br />
(ein Verbrechen, wie man es sich furchtbarer fast nicht<br />
vorstellen kann) oder waren zumin<strong>des</strong>t nicht weit davon entfernt,<br />
<strong>und</strong> dennoch vermochte christliche Lehre sie zu heilen.<br />
So schreibt denn auch Paulus an die Korinther: « Irrt euch<br />
42
kapitel 5<br />
nicht! Weder Unzüchtige noch Götzendiener noch Ehebrecher noch<br />
Lustknaben noch Knabenschänder noch <strong>Die</strong>be noch Geizige noch<br />
Trunkenbolde noch Lästerer noch Räuber werden das Reich Gottes<br />
erlangen. Und solche waren einige von euch. Aber ihr seid reingewaschen<br />
worden, ja, ihr seid geheiligt worden, ja, ihr seid gerecht gemacht<br />
worden durch den Namen <strong>des</strong> Herrn Jesus <strong>und</strong> durch den Geist<br />
unseres Gottes » (1. Kor 6[,9–11]). Er spricht hier zweifellos von<br />
den schändlichsten Menschen, die dennoch durch Jesu Namen<br />
<strong>und</strong> Gottes Lehre von ihren Verbrechen reingewaschen werden<br />
konnten. Und ebenso Petrus: « Weil nun Christus für euch den<br />
Tod erlitten hat, so wappnet auch ihr euch mit demselben Sinn; denn<br />
wer dem Leib gestorben ist, hat aufgehört zu sündigen, so dass er fortan<br />
die noch übrige Zeit im Fleisch nicht den Begierden der Menschen,<br />
sondern dem Willen Gottes lebe. Denn es ist genug, dass ihr in der<br />
vergangenen Lebenszeit fremdem [heidnischem] Willen gefolgt seid,<br />
als ihr ein Leben führtet in Ausschweifung, Begierden, Trunkenheit,<br />
Fresserei, Zecherei <strong>und</strong> gottlosen Astralkulten. Das allerdings erstaunt<br />
jene, dass ihr nicht mehr mitmacht bei diesem genusssüchtigen Treiben »<br />
(1. Petr 4[,1–4]).<br />
Soweit Petrus. Mit diesen Worten zeigt er, dass diese<br />
Menschen sich so sehr von ihren Sünden losgesagt <strong>und</strong> aus<br />
Ruchlosen zu Rechtschaffenen gewandelt hatten, dass selbst<br />
die Heiden darüber erstaunten. Wenn das von der breiten<br />
Masse der Christen gesagt wird, was soll ich dann erst<br />
über die Vornehmsten unter ihnen sagen, die Apostel? Deren<br />
Lebenswandel war so unsträflich, wie es selbst die ehrwürdigsten<br />
Philosophen sich kaum zu wünschen, geschweige denn für<br />
sich zu hoffen gewagt hätten, so dass sie gleichsam als Leuchten<br />
den Erdkreis (wie Christus ihr Lehrer es ihnen geboten hatte)<br />
erhellten. 13 Man vergleiche doch nur die Werke der Lehre der<br />
Philosophen, so viel ihrer nur unter dem ganzen Himmelszelt<br />
in der Erinnerung fortleben, mit den Werken dieser Lehre,<br />
<strong>und</strong> man wird sehen, dass diese Werke all den anderen ebenso<br />
43
erstes buch<br />
sehr überlegen sind, wie die Sonne die Sterne überstrahlt, <strong>und</strong><br />
dass mit deren Erscheinen die Lehren der Weisen nicht anders<br />
verblassen als die Sterne beim Aufgang der Sonne. Da nun<br />
feststeht, dass es sich so verhält, ist damit für mich begründet,<br />
dass die christliche Lehre von der Gerechtigkeit von allen bei<br />
weitem die beste ist.<br />
KAPITEL 6<br />
Doch mag der eine oder andere hier einwenden, damals seien<br />
die Christenmenschen keineswegs immer so heilig gewesen<br />
<strong>und</strong> seien heutzutage fast die Schlimmsten von allen. Denn<br />
schon zu seiner Zeit geht Paulus mit den Galatern sehr hart<br />
ins Gericht <strong>und</strong> sogar so weit, sie geistig verwirrt zu nennen,<br />
weil sie, aus dem Geist geboren, zum Fleisch übergegangen<br />
seien (Gal 3[,3]). Und die Korinther schilt er aufs heftigste,<br />
weil sie eine Unzucht duldeten, wie es sie nicht einmal unter<br />
den Heiden gab, <strong>und</strong> sich geradezu daran zu ergötzen schienen<br />
(1. Kor 5[,1 f.]), <strong>und</strong> weil sie nicht nur gegeneinander prozessierten,<br />
<strong>und</strong> das vor nichtchristlichen Richtern, sondern auch<br />
ihre Brüder hintergingen (1. Kor 6[,1.6–9]). Ist es nicht so,<br />
dass derselbe Paulus darüber klagt, in seiner Bedrängnis von<br />
allen verlassen worden zu sein? (2. Tim 4[,16]) Dass er in aller<br />
Deutlichkeit feststellt, alle seien nur um ihren eigenen Vorteil<br />
besorgt [Phil 2,21], <strong>und</strong> in seinem Elend hätten ihn die Seinen<br />
im Stich gelassen? « Ihr », sagt er [zu den Philippern], « habt<br />
recht daran getan, dass ihr euch meiner Bedrängnis angenommen habt.<br />
Denn ihr wisst es, ihr Philipper, dass am Anfang [meiner Predigt] <strong>des</strong><br />
Evangeliums, als ich auszog aus Mazedonien, keine Gemeinde etwas<br />
beigetragen hat zu meinen Ausgaben als ihr allein » (Phil 4[,14 f.]).<br />
Ich frage, was waren das für Christen, die ihren Lehrer – um<br />
nicht zu sagen Vater –, einen ehelosen Mann, ohne familiäre<br />
44
kapitel 6<br />
Belastung, ernst, nüchtern <strong>und</strong> mit dem Allergeringsten zufrieden,<br />
der überdies oftmals von der eigenen Hände Arbeit<br />
gelebt hatte, dass sie ihn dennoch als Bittsteller darben ließen<br />
− <strong>und</strong> das, obwohl sie so viele waren, dass es kaum zu sagen<br />
ist, denn Paulus hatte ja das Evangelium überall ausgebreitet?<br />
Dass er ihnen schließlich an anderer Stelle vorwirft, sie selbst<br />
seien schuld daran, dass das Evangelium bei den Heiden einen<br />
schlechten Ruf habe (Röm 2[,24]) 14 – natürlich weil sie ein<br />
zuchtloses Leben führten?<br />
Und die Christen heute, was braucht es da viele Worte?<br />
Wo doch die Christen selbst ihre Zuchtlosigkeit nahezu offen<br />
bekennen 15 – doch was sage ich: nahezu? Wo diejenigen, die<br />
sich nicht nur als Christen, sondern auch als Reformatoren der<br />
Kirchen aufspielen, öffentlich <strong>und</strong> vor der Gemeinde <strong>und</strong> in<br />
Versammlungen <strong>und</strong> im Angesicht der heiligen Majestät tagtäglich<br />
unter feierlichem Chorgesang <strong>des</strong> ganzen Volkes verkünden,<br />
dass sie dem Bösen ergeben <strong>und</strong> zu nichts Gutem fähig<br />
sind <strong>und</strong> durch ihre Verdorbenheit unablässig gegen Gottes heilige<br />
Gebote verstoßen? Ich frage, was lässt sich vom verruchtesten<br />
aller Völker, die es je gegeben hat, Schlechteres sagen,<br />
als was jene Christen täglich von sich selber bekennen? Oder<br />
was braucht es noch Zeugen zum Beweis ihrer fortwährenden<br />
Schandtaten, da sie selbst sie verkünden, ohne auch nur<br />
dazu vernommen, geschweige denn gerichtlich dafür belangt<br />
zu werden?<br />
Darauf erwidere ich: <strong>Die</strong> Schuld liegt nicht bei der Lehre,<br />
sondern bei den Menschen, die sich nicht an die Lehre halten.<br />
Es ist wie mit den guten Regeln für die Landwirtschaft:<br />
Wer sie befolgt, erntet Früchte im Überfluss, wer sie aber vernachlässigt<br />
<strong>und</strong> dem Müßiggang <strong>und</strong> den Freuden <strong>des</strong> Bauches<br />
frönt, dem trägt die Erde statt Früchten <strong>und</strong> Trauben Disteln<br />
<strong>und</strong> Dornen. So waren auch anfangs jene Christen, als sie der<br />
Lehre Christi gehorcht hatten, zu Heiligen geworden; später<br />
45
erstes buch<br />
aber wurden sie nachlässig <strong>und</strong> verkamen. Dass sie aber einmal<br />
heilig geworden waren, geschah wegen der Lehre, die sie<br />
gewiss nicht hätte heiligen können, wäre sie selbst nicht heilig<br />
gewesen. Und dass sie verkamen, war ihre eigene Schuld, da<br />
sie als schlechte Schüler von der Lehre abfielen. Wir jedoch<br />
handeln hier nicht von der Standhaftigkeit der Menschen, sondern<br />
von der Wahrhaftigkeit der Lehre, <strong>und</strong> wir halten dafür,<br />
dass diejenige die beste ist, welche am besten auf die Besten<br />
einwirkt, so wie auch diejenige Medizin erwiesenermaßen die<br />
beste ist, welche die Ges<strong>und</strong>heit am besten erhält oder wiederherstellt,<br />
auch wenn ihr nur wenige folgen oder, wenn sie ihr<br />
einmal gefolgt sind, sie wieder aufgeben.<br />
Was nun die heutigen Christen betrifft <strong>und</strong> vor allem<br />
jene, über deren Geständnis oder vielmehr öffentliches<br />
Selbstbekenntnis ich soeben gesprochen habe, so kann ich ihnen<br />
nichts antworten, was passender <strong>und</strong> wahrer <strong>und</strong> weniger<br />
dazu angetan wäre, sie zu verletzen, als jenes Wort aus<br />
dem Gleichnis Christi: « Nichtsnutziger Knecht, mit deinen eigenen<br />
Worten werde ich dich richten » (Lk 19[,22]). Denn da sie<br />
selbst eingestehen, einen Hang zum Bösen zu haben <strong>und</strong> unfähig<br />
zu allem Guten zu sein <strong>und</strong> ständig gegen Gottes heilige<br />
Gebote zu verstoßen, so würde niemand, wenn er die Rollen<br />
tauschte, ihnen eine größere Schmähung zufügen als sie sich<br />
selber antun, wenn er ihnen sagte: Ihr neigt dazu, Böses zu<br />
tun, seid unfähig zu allem Guten <strong>und</strong> brecht unablässig Gottes<br />
heilige Gebote. 16 Denn sei es, dass sie niemals heilig gewesen<br />
sind, so waren sie doch einmal Christen, <strong>und</strong> wir sprechen<br />
hier über Christen; oder sie waren einmal heilig, dann sind<br />
sie verkommen <strong>und</strong> ähneln der Sau, die sich nach dem Bad in<br />
der Schwemme wieder im Kot wälzt [2. Petr 2,22], oder dem<br />
H<strong>und</strong>, der wieder frisst, was er gespien hat [ebd.], oder den<br />
herbstlichen Bäumen, die zweimal gestorben sind [Jud 12].<br />
Für uns aber ist das wahre christliche Bekenntnis das genaue<br />
46
kapitel 6<br />
Gegenteil davon <strong>und</strong> wir streben nach dem, was man am besten<br />
so formulieren kann: Wir sind erpicht darauf, Gutes zu tun,<br />
sind fähig zu allem Guten <strong>und</strong> wollen unablässig Gottes heilige<br />
Gebote befolgen. Und waren wir einmal schlecht, so sind<br />
wir « reingewaschen, sind geheiligt, sind gerecht gemacht worden » (1.<br />
Kor 6[,11]) <strong>und</strong> « erfreuen uns am Gesetz Gottes <strong>und</strong> sinnen Tag<br />
<strong>und</strong> Nacht darüber nach » (Ps 1[,2]) <strong>und</strong> bewegen uns in Gottes<br />
Geboten. Und nachdem wir Kinder <strong>des</strong> Lichts geworden sind<br />
<strong>und</strong> die Werke der Finsternis verworfen haben, tun wir die<br />
Werke <strong>des</strong> Lichts [Eph 5,8] <strong>und</strong> ehren, geheiligt an Körper,<br />
Seele <strong>und</strong> Geist, unseren Gott als Spender all dieser Gaben<br />
mit Körper, Seele <strong>und</strong> Geist. <strong>Die</strong>s, genau dies ist das wahre<br />
<strong>und</strong> den Heiligen Schriften gemäße Bekenntnis der wahren<br />
Christen, das anders ist als dasjenige derer, die Christus ihren<br />
Heiland aufs schändlichste verunehren. Dabei rühmen sie sich,<br />
von ihm erlöst worden zu sein, <strong>und</strong> bekennen sich dennoch<br />
als Sklaven aller Sünden, ohne zu bedenken, dass sie durch<br />
Christi Wort verdammt sind, der da sagt: « Wer eine Sünde begeht,<br />
ist der Sünde Knecht » (Joh 8[,34]), <strong>und</strong> ohne zu sehen (o<br />
welche Verblendung!), dass der von ihnen entehrt wird, den<br />
sie geehrt glauben, wie etwa ein Gelähmter Christus entehren<br />
würde, wenn er über seine Ges<strong>und</strong>heit verkündete: Ich bin von<br />
Christus so geheilt worden, dass ich mich nicht vom Fleck rühren<br />
kann <strong>und</strong> ständig von Schmerzen geplagt werde. Um wie<br />
viel aufrichtiger sind da die Worte <strong>des</strong>sen, der sprach: « Eines<br />
weiß ich: dass ich blind war <strong>und</strong> nun sehe » (Joh 9[,25]).<br />
All dies sage ich in aller Entschiedenheit <strong>und</strong> Wahrhaftigkeit.<br />
Ich sage es nicht gern, da ich mir sicher bin, dass es jene verletzen<br />
wird, die am wenigsten Gr<strong>und</strong> hätten, verletzt zu sein,<br />
da sie sich doch selbst öffentlich darüber erklären. Doch zwingen<br />
mich dazu die innere Notwendigkeit <strong>und</strong> das Mitleid, das<br />
ich mit einem Volk empfinde, das irregeführt wird <strong>und</strong> blind<br />
den Blinden folgt <strong>und</strong> ohnehin wenig erpicht ist, Gutes zu<br />
47
erstes buch<br />
tun, <strong>und</strong> durch diese Art Lehre <strong>und</strong> Bekenntnis nur noch träger<br />
<strong>und</strong> mehr <strong>und</strong> mehr davon abgehalten wird. Aber damit<br />
werden wir uns, so Gott will, zu gegebener Zeit noch weiter<br />
beschäftigen. 17 KAPITEL 7<br />
Nachdem wir nun gezeigt haben, dass die christliche Lehre von<br />
allen weitaus die beste ist, weil sie die besten Werke vollbringt,<br />
unterstellen wir, dass sie, wenn sie die beste von allen ist, auch<br />
am meisten Glauben verdient; das sollte mir, auch wenn ich<br />
es ohne weitere Argumente behaupte, jeder zugestehen. Um<br />
aber die Autorität dieser Lehre <strong>und</strong> weshalb sie am meisten<br />
Glauben verdient, besonders zu bekräftigen, will ich noch weitere<br />
Gründe anführen <strong>und</strong> dabei vorausschicken, dass ich unter<br />
der christlichen Lehre sämtliche heiligen Schriften verstehe: das<br />
Alte <strong>und</strong> das Neue Testament. Denn da Christus (der, wie wir<br />
zeigen konnten, der Urheber dieser besten Lehre ist) den Alten<br />
B<strong>und</strong> gutgeheißen <strong>und</strong> bekannt hat, er sei nicht gekommen,<br />
das Gesetz abzuschaffen, sondern es zu erfüllen [Mt 5,17], so<br />
müssen auch wir, indem wir der Autorität Christi gehorchen,<br />
es gutheißen. In dieser Hinsicht denke ich anders als einige, die<br />
meinen, die Autorität <strong>des</strong> Alten Testaments sei größer als die<br />
<strong>des</strong> Neuen, <strong>und</strong> Christus müsse man vor allem <strong>des</strong>halb glauben,<br />
weil Mose <strong>und</strong> die Propheten ihn bezeugten. 18<br />
Wenngleich nun freilich die Unwissenden von dieser<br />
Begründung am meisten überzeugt sind <strong>und</strong> daher sowohl<br />
Christus selbst wie auch später seine Apostel seine Autorität<br />
auf Zeugnisse <strong>des</strong> Alten Bun<strong>des</strong> stützten − sicherlich mit<br />
Rücksicht auf die Unwissenheit <strong>des</strong> Volkes, das sich für gewöhnlich<br />
mehr von der Tradition als von der Wahrheit bestimmen<br />
lässt −, so muss doch in Wahrheit in dem Maße, in dem<br />
48
kapitel 7<br />
Christus alle anderen überragt, auch seine Autorität für alle<br />
die größte sein, <strong>und</strong> bei den Gebildeteren ist sie es auch. Was<br />
aber das Alter [der Überlieferung] betrifft, so hätten dieselben<br />
Leute, die Mose wegen dieses Alters mehr Glauben schenken,<br />
ihm weniger geglaubt, wenn sie seine Zeitgenossen gewesen<br />
wären, weil er ja damals kein Autor aus der Vergangenheit<br />
war. Der Glaube aber muss der Sache gelten <strong>und</strong> nicht der<br />
Zeit, <strong>und</strong> ein jegliches Ding ist danach zu beurteilen, was es<br />
in Wirklichkeit ist; denn die Wahrheit ist nicht wie der Käse,<br />
der durch Altern besser wird. Ich fragte einmal einen Juden,<br />
aus welchem Gr<strong>und</strong> vor allem er Mose glaube. Er gab zur<br />
Antwort: wegen der W<strong>und</strong>er, die er mit Gottes Hilfe getan hat.<br />
Und da hat er meiner Meinung nach recht geantwortet. Und<br />
ich sagte ihm das Gleiche, was ich jetzt sagen will: Wenn man<br />
Mose wegen seiner W<strong>und</strong>er glauben muss, dann doch umso<br />
mehr Christus, der zahlreichere <strong>und</strong> größere gewirkt hat, zumal<br />
noch seine Lehre hinzukommt, die von allen bei weitem<br />
die gottgefälligste <strong>und</strong> heiligste ist.<br />
Um also wieder auf mein ursprüngliches Vorhaben zurückzukommen,<br />
sage ich, dass man der christlichen Lehre aus all<br />
den Gründen, aus denen im allgemeinen jemandem Glauben<br />
geschenkt wird, am meisten glauben muss. Und zwar sind das<br />
(soweit ich es im Moment überschauen kann) vier Gründe. Der<br />
erste sind Übereinstimmung <strong>und</strong> Konstanz, das heißt, wenn<br />
sich jemand nirgends widerspricht, <strong>und</strong> erst recht, wenn dies<br />
mehrere tun, also mehrere Zeugen auch bei wiederholter <strong>und</strong><br />
sorgsamer Befragung stets miteinander übereinstimmen.<br />
Der zweite Gr<strong>und</strong> ist: Wenn wir merken, dass wir dem, was<br />
uns jemand sagt, innerlich zustimmen mit dem Gefühl, das<br />
sei eine bewiesene Sache, dann glauben wir ihm auch da, wo<br />
wir dieses Gefühl nicht haben. Wie wenn etwa ein Arzt zu<br />
einem Kranken sagt: Du fühlst eine körperliche Schwere <strong>und</strong><br />
gelegentlich Übelkeit oder Bauchschmerz <strong>und</strong> Seitenstechen,<br />
49
erstes buch<br />
wenn du hustest, oder dergleichen mehr. Wenn der Kranke<br />
dies nun an sich selber wahrnimmt, so glaubt er dem Arzt auch<br />
in den Punkten, in denen er keine eigenen Empfindungen hat.<br />
Ebenso, wenn der Arzt beim Sezieren eines Tierkadavers sagt:<br />
Durchschneidet jene Haut, <strong>und</strong> ihr werdet darunter den <strong>und</strong><br />
den Nerv finden oder die <strong>und</strong> die Vene oder Membran oder<br />
was auch immer es sein mag, so halten wir ihn, wenn wir an<br />
mehreren Stellen bemerken, dass es sich so verhält <strong>und</strong> kein<br />
Irrtum vorliegt, in dieser Frage für sachk<strong>und</strong>ig <strong>und</strong> glauben<br />
ihm auch dann, wenn wir etwas nicht sehen.<br />
Das dritte ist die Zuverlässigkeit, wie wenn ein Kaufmann<br />
sich immer als zuverlässig erwiesen <strong>und</strong> unser Vertrauen niemals<br />
enttäuscht hat: Dann glauben wir, dass er nicht lügt, <strong>und</strong><br />
vertrauen ihm.<br />
Und viertens sind da Leistung <strong>und</strong> Erfahrung: Wenn wir<br />
zum Beispiel sehen, dass ein Schlosser ein Schloss oder einen<br />
Schlüssel gut gemacht hat, so glauben wir, dass ihm auch ein<br />
Gatter oder ein Riegel oder dergleichen gut gelingen wird.<br />
Dasselbe gilt, wenn wir sehen, dass dieser oder jener Kranke<br />
von einem Arzt richtig geheilt worden ist: Wir vertrauen ihm<br />
auch dort, wo wir noch keine Heilwirkung gesehen haben.<br />
<strong>Die</strong>s sind, jedenfalls aus meiner Sicht, die Fälle, die uns für<br />
gewöhnlich dazu bewegen, jemandem Vertrauen zu schenken.<br />
Und da nun die Frage lautet, welcher Lehre man glauben soll,<br />
sage ich: der christlichen, <strong>und</strong> zwar aus den vier soeben dargelegten<br />
Gründen, die wohlgemerkt nur auf sie <strong>und</strong> nicht auf<br />
andere zutreffen.<br />
50
KAPITEL 8<br />
Was zunächst die Übereinstimmung <strong>und</strong> Konstanz betrifft, so<br />
stelle ich fest, dass diese Lehre – was, wie auch die Böswilligsten<br />
zugeben werden, von keiner anderen gesagt werden kann –<br />
vom Anfang der Welt bis auf unsere Tage stets fest, beständig,<br />
unwandelbar <strong>und</strong> im Einklang mit sich selbst geblieben<br />
ist, immer auf dasselbe Ziel gerichtet, <strong>und</strong> dass wie in einer<br />
Kette ein Glied auf das andere folgt, auch die nachfolgenden<br />
Generationen stets die Lehre der früheren bekräftigten <strong>und</strong><br />
dafür einstanden. Was aber diese Konstanz <strong>und</strong> Kraft noch bestärkt,<br />
ist, dass keine andere Lehre jemals so viele, so starke <strong>und</strong><br />
mächtige <strong>und</strong> hartnäckige <strong>und</strong> in ihrer Bekämpfung so einmütige<br />
Feinde gehabt hat: Und doch ist sie, allen zum Trotz,<br />
dank einer nicht menschlichen, sondern zweifellos göttlichen<br />
Hilfe stets unbesiegt geblieben.<br />
Hat doch schon Noah in der Welt <strong>des</strong> Alten Testaments,<br />
ohne selbst über Heerscharen zu gebieten, nicht etwa wenige<br />
<strong>und</strong> schwache Feinde, sondern die Menschheit insgesamt, so<br />
zahlreich ihrer unter dem Himmel lebte, zu Widersachern gehabt<br />
[1. Mose 6,9–22] <strong>und</strong> hat, ganz auf sich allein gestellt, mit<br />
Hilfe dieser Lehre so viele Jahre unerschütterlich am Bau der<br />
Arche festgehalten. Und als er mit dieser Lehre zusammen in<br />
seiner Arche gleichsam begraben worden war, ist er, nachdem<br />
die Sintflut endlich vorbei war, mit ihr der Arche entstiegen,<br />
sozusagen vom Tode wieder zum Leben erstanden, <strong>und</strong> hat die<br />
Samen jener Lehre für immer an seine Nachkommen weitergegeben.<br />
Es folgten Abraham, Isaak, Jakob <strong>und</strong> ihre Nachfahren,<br />
die an derselben Lehre festhielten <strong>und</strong> auch in Ägypten, dieser<br />
eisernen Schmiede der Knechtschaft, nie von ihr abgefallen<br />
sind [5. Mose 4,20]. Soll ich an Mose erinnern? Wurde er<br />
nicht schon vor seiner Geburt verfolgt [2. Mose 1,15–17; 2,1–9]<br />
<strong>und</strong> obsiegte allein durch Gottes Lenkung <strong>und</strong> Vorsehung über<br />
51
erstes buch<br />
alle Anschläge [2. Mose 2,11–15], über die Zauberer [2. Mose<br />
7,8–13], über den Pharao <strong>und</strong> die ägyptischen Heerscharen<br />
<strong>und</strong> schließlich über das Meer, das er durchquerte [2. Mose<br />
14,5–31], <strong>und</strong> hat die Lehre, die er teils aus den Händen der<br />
Vorväter <strong>und</strong> teils erst jüngst von Gott selbst empfangen <strong>und</strong><br />
aufgeschrieben hatte, den Nachfahren anvertraut, wonach sie,<br />
so vielen Drangsalen <strong>und</strong> Kriegen zum Trotz, unbesiegt überdauert<br />
hat bis zur Zeit Christi?<br />
Und was soll ich von Christus <strong>und</strong> seinen Sendboten berichten?<br />
Auf welche Waffen gestützt haben sie diese Lehre verbreitet,<br />
die einst nur bei einem Volk zu Hause <strong>und</strong> allen anderen<br />
verhasst war? Kümmerliche Geschöpfe ohne Ansehen <strong>und</strong><br />
Ruhm, unbewaffnet <strong>und</strong> zuletzt ohne irdische Schutzwehr,<br />
angefeindet <strong>und</strong> mit allen Mitteln bekämpft von den Reichen,<br />
den Gelehrten, den Mächtigen, den Fürsten, den Weisen, so<br />
viel ihrer nur auf Erden waren, <strong>und</strong> schließlich der Feindschaft<br />
<strong>des</strong> ganzen Erdkreises ausgesetzt, ohne einen eigenen Ort, in<br />
dem sie zusammen lebten, sondern verstreut über die ganze<br />
Welt: So haben sie diese Lehre ausgesät <strong>und</strong> so verbreitet,<br />
dass sie über mehr als fünfzehnh<strong>und</strong>ert Jahre bis zum heutigen<br />
Tag siegreich <strong>und</strong> unbezwungen geblieben ist. Hinzu<br />
kommt noch – was ihre Kräfte bestätigt –, dass sie nicht nur<br />
von Andersgläubigen, sondern auch von Ihresgleichen bekämpft<br />
worden ist <strong>und</strong> bis heute tagtäglich bekämpft wird,<br />
indem diejenigen, die sie mit dem M<strong>und</strong> bekennen, sie durch<br />
ihre Taten, ihr gottloses Leben, verleugnen <strong>und</strong> durch die<br />
Vielzahl der Sekten 19 <strong>und</strong> widerstreitenden Meinungen nach<br />
Kräften erschüttern. Denn angesichts der von Christen versursachten<br />
Verbrechen, Zerwürfnisse, Verfolgungen <strong>und</strong> Kriege,<br />
schlimmer als Bürgerkriege − <strong>und</strong> das wegen unterschiedlicher<br />
Meinungen im Schoß derselben Lehre −, gibt es keinen<br />
Gr<strong>und</strong>, warum die christliche Lehre nicht von Gr<strong>und</strong> auf aus<br />
dem Gedächtnis der Menschen hätte getilgt werden sollen.<br />
52
kapitel 8<br />
Und dennoch dauert sie fort, <strong>und</strong> zwar so, dass selbst die<br />
Gottlosen, die sie mit dem M<strong>und</strong>e bekennen <strong>und</strong> mit Taten<br />
verleugnen, lieber sterben <strong>und</strong> sich der Gefahr eines Krieges<br />
aussetzen wollen, als sich die Lehre nehmen zu lassen. Denn<br />
darin besteht wahrhaftig die Kraft der Wahrheit, dass sie aus<br />
sich heraus <strong>und</strong> ohne irgendwelche Hilfe, ja sogar von allen mit<br />
äußerster Kraft bekämpft, sich dennoch siegreich behauptet.<br />
Aus diesem Gr<strong>und</strong> hat auch Jesus, dieser Lehrer der Wahrheit,<br />
selbst nur mittels der Wahrheit gekämpft <strong>und</strong> die Seinen zu<br />
kämpfen gelehrt. Und solange die Jünger dem Meister gefolgt<br />
sind, das heißt nur mit der bloßen Wahrheit gekämpft haben,<br />
sind sie siegreich geblieben. Doch wenn sie einmal diese geistlichen<br />
Waffen beiseite legten <strong>und</strong> irdische Hilfsmittel einsetzten,<br />
haben sie die Herrschaft der geistlichen <strong>und</strong> göttlichen Kirche<br />
mit Schande bedeckt <strong>und</strong> den himmlischen Glanz der Wahrheit<br />
mit dem dichten Nebel der Irrlehren verdunkelt.<br />
KAPITEL 9<br />
Was den zweiten Gr<strong>und</strong> betrifft, so ist gewiss, dass es niemals<br />
eine Lehre gegeben hat, welche den Menschen so von Gr<strong>und</strong><br />
auf erschloss <strong>und</strong> ihn gleichsam sich selbst in vollem Licht offenbarte<br />
wie die christliche. So wie diejenigen, die menschliche<br />
Körper sezieren <strong>und</strong> mit den Ergebnissen <strong>des</strong> Sezierens die<br />
von anderen verfassten Bücher vergleichen, leicht beurteilen<br />
können, wer die besten geschrieben hat, so können auch jene,<br />
die sich mit der Zergliederung, Erforschung <strong>und</strong> sozusagen<br />
stückweisen Sezierung menschlicher Seelen (<strong>und</strong> vor allem der<br />
eigenen) befassen <strong>und</strong> diese Untersuchung mit den heiligen<br />
Schriften vergleichen, leicht erkennen, dass der Geist, in dem<br />
die heiligen Schriften verfasst wurden, die menschliche Natur<br />
derart durchschaut hat, dass man, um sie kennen zu lernen,<br />
53
erstes buch<br />
nirgendwo sonst zu suchen braucht. Wenn jemand sich davon<br />
überzeugen möchte, soll er die Probe machen <strong>und</strong> sich selbst<br />
aufrichtig im Lichte dieser Schriften erforschen <strong>und</strong> sich Mühe<br />
geben, sie zu befolgen, <strong>und</strong> er wird sagen: Ja, so ist es. Und er<br />
wird nach dem, was er fühlt <strong>und</strong> erlebt, allen Gr<strong>und</strong> haben,<br />
auch an das zu glauben, was jenseits von Sinneswahrnehmung<br />
<strong>und</strong> Erfahrung liegt.<br />
Das Gleiche stelle ich fest in Bezug auf den dritten Gr<strong>und</strong>,<br />
die Zuverlässigkeit. So verkündete Noah seinen Zeitgenossen,<br />
die Sintflut werde kommen, <strong>und</strong> sie ist gekommen [1. Mose<br />
7]. So sprachen Gott zu Abraham [1. Mose 18,16–33] <strong>und</strong> die<br />
Engel zu Lot [1. Mose 19,12 f.], Sodom werde zugr<strong>und</strong>e gehen,<br />
<strong>und</strong> es ist zugr<strong>und</strong>e gegangen. So sprach Gott zu ebendiesem<br />
Abraham, dass seine Nachkommen einem fremden Volk vier<br />
Jahrh<strong>und</strong>erte lang Sklavendienste würden leisten müssen <strong>und</strong><br />
danach nach Kanaan gelangen würden [1. Mose 15,13 f.], <strong>und</strong><br />
so ist es gekommen. So hat Jakob auf dem Sterbebett seinen<br />
Kindern das Kommende vorhergesagt (1. Mose 49), <strong>und</strong> es ist<br />
eingetreten. Josef hat dem Bäcker <strong>und</strong> dem M<strong>und</strong>schenk <strong>des</strong><br />
Pharao prophezeit, was ihnen geschehen werde [1. Mose 40,9–<br />
19], <strong>und</strong> die Ereignisse haben seine Prophezeiung bestätigt.<br />
Ebenso hat er dem Pharao sieben Jahre Überfluss <strong>und</strong> sieben<br />
Hungerjahre richtig vorhergesagt [1. Mose 41].<br />
Wer schließlich alle Schriften <strong>des</strong> Alten wie <strong>des</strong> Neuen<br />
Testaments gründlich studiert, wird erkennen, dass alles, was<br />
dort den Menschen als göttliche Offenbarung überliefert worden<br />
ist, sich als wahr herausgestellt hat, zumal was im Neuen<br />
Testament von den Juden wie von den Christen vorausgesagt<br />
wurde, dass nämlich Jerusalem zerstört <strong>und</strong> unter den Füßen<br />
zertreten werden solle (Lk 21[,24]) <strong>und</strong> das Evangelium auf<br />
dem ganzen Erdkreis zu verkünden sei (Mt 26[,13]); ebenso,<br />
was Paulus vorhergesagt hat, dass gierige Wölfe eindringen<br />
<strong>und</strong> die Herde nicht verschonen würden [Apg 20,29]<br />
54
kapitel 9<br />
<strong>und</strong> die Menschen von Glauben <strong>und</strong> Wahrheit abfallen [1.<br />
Tim 4,1] <strong>und</strong> am Ende der Zeiten so sein würden, wie wir<br />
sie heute sehen: Kurz, was immer dort vorhergesagt wurde,<br />
ist so offensichtlich eingetreten, dass jemand, der an anderen<br />
Dingen zweifeln kann, die jetzt noch in der Zukunft liegen<br />
oder verborgen sind, wohl verdient hätte, zum Glauben an die<br />
Wahrheit erst dann zu kommen, wenn es zu spät ist. Denn es<br />
ist nicht wahrscheinlich, dass der, der seit Anbeginn der Welt<br />
bis zum heutigen Tag niemals bei einer Lüge ertappt worden<br />
ist, zu guter Letzt anfängt zu lügen. Und wer immer die<br />
Wahrheit gesagt hat in allem, was uns bekannt ist, sollte der<br />
etwa lügen in Dingen, die uns nicht bekannt sind? Wenn nun<br />
trotzdem jemand verstockt <strong>und</strong> ungläubig bleibt <strong>und</strong>, obwohl<br />
vom Vergangenen überzeugt, dennoch ungläubig ist in Bezug<br />
auf die Zukunft, so schadet er sich mit seinem Unglauben<br />
selbst, <strong>und</strong> es wird ihm so ergehen, wie es den Menschen vor<br />
der Sintflut oder den Sodomitern <strong>und</strong> den anderen erging, die<br />
erst glaubten, als es zu spät <strong>und</strong> alles vergebens war. Denn wer<br />
erst dann an die kommende Sintflut glaubt, wenn sie schon begonnen<br />
hat, wird vergeblich anfangen, an den Bau einer Arche<br />
zu denken, in der er entkommen könnte.<br />
KAPITEL 10<br />
Was den vierten Gr<strong>und</strong> angeht, nämlich Taten <strong>und</strong><br />
Erfahrungen, so will ich hier die W<strong>und</strong>er anführen, welche zur<br />
Bestätigung <strong>des</strong> Alten Testaments wie auch <strong>des</strong> Evangeliums<br />
vollbracht worden sind. Es sind so viele <strong>und</strong> große <strong>und</strong> ungeheuerliche,<br />
dass niemand so abgestumpft oder verstockt<br />
war, darüber nicht zu erstaunen. Sogar die Juden (<strong>und</strong> niemals<br />
hat es unter dem ganzen Himmel ein verstockteres, für<br />
die Wahrheit weniger aufgeschlossenes Volk gegeben) wurden<br />
55
erstes buch<br />
über die W<strong>und</strong>er Christi vom Staunen ergriffen, <strong>und</strong> da sie<br />
diese nicht leugnen konnten, weil sie ja bei vollem Tageslicht<br />
öffentlich <strong>und</strong> im Beisein aller geschahen, gaben sie zu, dass<br />
er zwar W<strong>und</strong>er gewirkt habe, jedoch im Namen Beelzebuls,<br />
<strong>des</strong> Fürsten der Dämonen [Mt 9,34; 12,24 par]. Ja, gewisse<br />
Gesetzeslehrer der Juden, gewöhnlich Rabbiner genannt,<br />
schrieben noch viele Jahrh<strong>und</strong>erte später − da selbst sie die<br />
W<strong>und</strong>er Christi auch nach so langer Zeit nicht zu leugnen<br />
wagten, so wenig wie einstmals ihre Vorväter −, dass diese<br />
W<strong>und</strong>er gewirkt worden seien durch die Kraft einer gewissen,<br />
von ihnen Schem Hamphoras genannten Gottheit. So<br />
jedenfalls soll es erzählt worden sein von einem Rabbiner<br />
Porchetus. 20 <strong>Die</strong>se Erzählung, obwohl es in ihr von lächerlichen<br />
<strong>und</strong> unzüchtigen Lügengeschichten nur so wimmelt,<br />
hat immerhin so viel Gutes, dass sie bezeugt, es seien von<br />
Christus die größten W<strong>und</strong>er gewirkt worden. Gerade weil<br />
dieses Zeugnis für Christus von seinen tödlichsten Feinden abgelegt<br />
worden ist, muss man es in diesem Punkt für besonders<br />
stichhaltig <strong>und</strong> glaubwürdig halten. Durch welche Kraft nun,<br />
ihrer Überlieferung nach, solche W<strong>und</strong>er gewirkt worden sind,<br />
kümmert mich nicht. Denn da sie schlecht gesinnt sind, können<br />
sie auch nichts Gutes reden: Genug, dass sie zugeben, sie<br />
seien gewirkt worden. Und dabei spreche ich von fleischlichen<br />
<strong>und</strong> sichtbaren W<strong>und</strong>ern, die von allen als W<strong>und</strong>er bezeichnet<br />
werden, <strong>und</strong> will dazu noch zwei hinzufügen, die ich weiter<br />
oben schon beiläufig erwähnt habe. 21<br />
Das erste ist, dass die Apostel – Männer von der Art, wie<br />
wir sie oben beschrieben haben – aller Ehrsucht <strong>und</strong> Habgier<br />
<strong>und</strong> Genusssucht zum Trotz (drei Gottheiten, die nahezu der<br />
ganze Erdkreis verehrt) die Lehre <strong>des</strong> Evangeliums überall in<br />
der Welt verbreitet <strong>und</strong> den Erdkreis davon überzeugt haben.<br />
Und dies gegen die Abneigung <strong>und</strong> den Abscheu der ganzen<br />
Welt, die gleichsam für ihre heimatlichen Altäre <strong>und</strong> Herde<br />
56
kapitel 10<br />
kämpfte (<strong>und</strong> wahrhaftig für Altäre <strong>und</strong> Herde, nämlich für<br />
die drei eben erwähnten Weltgottheiten). Und obwohl sie über<br />
keinerlei Unterstützung durch menschliche Waffen verfügten,<br />
gelang ihnen das auf solche Weise, dass bis zum heutigen Tag<br />
weder der Lauf der Jahrh<strong>und</strong>erte noch menschliche Kriege,<br />
Nachstellungen, Anschläge <strong>und</strong> Verbrechen sie [die Lehre <strong>des</strong><br />
Evangeliums] wieder aus der Welt schaffen konnten.<br />
Mit welchen Worten könnte ich dieses W<strong>und</strong>er noch steigern?<br />
Plinius rühmt die Eloquenz Ciceros <strong>und</strong> erhebt sie in<br />
den Rang eines W<strong>und</strong>ers, weil dieser die Römer zu Dingen<br />
habe überreden können, die ihren Begierden, ihren Interessen<br />
<strong>und</strong> ihrer Ehre zuwiderliefen. So schreibt Plinius im Buch<br />
VII, Kap. 30: « Du sprachst », sagt er (sich an Cicero wendend),<br />
« <strong>und</strong> die Tribus verzichteten auf das Ackergesetz, das heißt<br />
ihren Unterhalt; du gabst einen Rat, <strong>und</strong> sie verziehen dem<br />
Roscius, dem Urheber <strong>des</strong> Theatergesetzes, <strong>und</strong> nahmen die<br />
Beleidigung durch die Unterscheidung der Sitzplätze gleichmütig<br />
hin. » 22 Soweit Plinius über Ciceros Eloquenz, die er<br />
zweifellos nicht ohne Gr<strong>und</strong> rühmt; denn all das hätte er nicht<br />
vollbringen können ohne die außergewöhnliche Kraft seiner<br />
Rede. Vergleicht man damit aber, was die Apostel vollbracht<br />
haben, so verblasst Cicero <strong>und</strong> erscheint als ein Nichts. Denn<br />
dieser, ein Mann von höchstem Ansehen <strong>und</strong> mit allen Mitteln<br />
der Redekunst ausgestattet, der vieles vortäuschte, vieles verdrehte<br />
<strong>und</strong> verbarg <strong>und</strong> den Verstand seiner Zuhörer bisweilen<br />
(wie er sich selbst einmal rühmt) mit Dunkel umhüllte, konnte<br />
mit seiner wohlbedachten, ausgeschmückten, einschmeichelnden<br />
Rede doch letztlich die Römer nicht dazu überreden, der<br />
Jagd nach Genüssen oder der Ehrsucht auf Dauer Lebewohl<br />
zu sagen (wozu Cicero selbst sich auch nie durchringen konnte);<br />
sondern nur für den Augenblick <strong>und</strong> unter dem Eindruck<br />
seiner Redeglut fassten sie Beschlüsse, die für sie selbst abträglich<br />
erschienen.<br />
57
erstes buch<br />
<strong>Die</strong> Apostel jedoch, kümmerliche Geschöpfe ohne Ansehen<br />
<strong>und</strong> bar jeder rhetorischen Eloquenz, die alles ohne jegliche<br />
Augenwischerei oder <strong>Kunst</strong>fertigkeit in ungelenker, schmuckloser<br />
<strong>und</strong> unvorbereiteter – ja, wie es in einem Psalm heißt<br />
[Ps 8,3], in kindlicher <strong>und</strong> lallender – Sprache aus dem<br />
Augenblick heraus vortrugen, sie wussten die Völker zu überzeugen,<br />
dass diese all das für immer aufgaben, was ihnen seit<br />
jeher das Teuerste gewesen war <strong>und</strong> wofür sie alle Mühe ertragen,<br />
Gefahren auf sich genommen <strong>und</strong> Kriege geführt hatten,<br />
<strong>und</strong> zwar derart, dass all dies noch heute, nach so vielen<br />
Jahrh<strong>und</strong>erten <strong>und</strong> so vielen Wechseln der Zeiten <strong>und</strong><br />
Herrschaften, verfallen <strong>und</strong> bedeutungslos geworden ist. Denn<br />
die Jupiter, Neptun, Merkur <strong>und</strong> sonstigen Heidengötter<br />
dieser Art, die der ganze Erdkreis (mit Ausnahme nur <strong>des</strong><br />
Hebräervolks) in Opfern <strong>und</strong> Riten verehrte, haben mit dem<br />
Auftreten der Apostel bald ihr Ansehen verloren. Es wurden<br />
nicht nur ihre Kulte abgeschafft, sondern auch die berühmten<br />
<strong>und</strong> hoch angesehenen Orakel begannen zu verstummen, so<br />
dass selbst bei den Völkern, die in ihrer Verderbtheit zeitweise<br />
von der Lehre Christi abgefallen waren, heute keine Spuren<br />
jener Götter mehr sichtbar sind. Vielmehr beten (wie einst der<br />
Prophet Jesaja geweissagt hatte [Jes 55,5]) alle Völker nur noch<br />
Jahwe, den Gott der Hebräer, an. Wahrhaft göttlich war die<br />
Kraft ihrer Rede, <strong>und</strong> es sprach aus ihnen so der Feuerzungen<br />
wirkende Heilige Geist, 23 dass dem Feuer ihrer Beredsamkeit<br />
nichts widerstehen konnte. Dazu kamen dann noch die schon<br />
genannten W<strong>und</strong>er, die so beschaffen waren, dass alle bekennen<br />
mussten, sie seien gewirkt worden aus göttlicher Kraft. Denn<br />
ohne W<strong>und</strong>er hätte all das sicher nicht geschehen können.<br />
Wenn aber einer behaupten wollte, es seien keine W<strong>und</strong>er im<br />
Spiel gewesen, so kommt er doch nicht umhin, das wohl größte<br />
W<strong>und</strong>er von allen einzugestehen – oder war es etwa kein<br />
W<strong>und</strong>er, die Welt von all dem zu überzeugen, was wir aufge-<br />
58
kapitel 10<br />
zählt haben, <strong>und</strong> die Religionen der Königreiche <strong>und</strong> Völker<br />
derart umzustürzen, dass die Welt eine neue Form annahm <strong>und</strong><br />
gleichsam eine andere Welt geworden zu sein scheint?<br />
Ein weiteres W<strong>und</strong>er (von dem wir bereits gehandelt haben<br />
<strong>und</strong> auf das wir, so Gott will, zu gegebener Zeit noch gründlicher<br />
eingehen werden) 24 ist der Sinneswandel, der seinerzeit auf<br />
diese Lehre folgte <strong>und</strong> auch heute noch auf sie folgt bei denen,<br />
die wahrhaft an Christus glauben. Doch kann dieser Wandel<br />
nicht in gleicher Weise deutlich gemacht werden wie jene äußeren<br />
W<strong>und</strong>er. Denn wie nur der Liebende weiß, was Liebe ist,<br />
so weiß auch nur der, was es mit diesem Sinneswandel <strong>und</strong> (wie<br />
es in der Heiligen Schrift verschiedentlich heißt) 25 dem neuen<br />
Menschen <strong>und</strong> der neuen Schöpfung auf sich hat, der dies bei<br />
sich erlebt hat. Wer es nie erlebt hat, wird es durch noch so<br />
viele Worte nicht nachempfinden können. Doch mag dies als<br />
Nachweis genügen, dass auch die, in denen dieser Wandel nicht<br />
geschehen ist, ihn doch bei anderen an deren Taten wahrnehmen<br />
können.<br />
Indem also, um das Thema abzuschließen, die christliche<br />
Lehre stets unwandelbar <strong>und</strong> mit sich selbst in Übereinstimmung<br />
ist <strong>und</strong> aussagt, was durch eines jeden Gewissenszeugnis bestätigt<br />
wird, <strong>und</strong> fern jeglicher Täuschung durch Größe <strong>und</strong><br />
Erhabenheit ihrer Werke alle anderen Lehren ebenso sehr übertrifft,<br />
wie der Tag heller ist als die Nacht: so meine ich, dass<br />
man dieser Lehre zuverlässig <strong>und</strong> ohne jeden Zweifel glauben<br />
muss.<br />
59
erstes buch<br />
60
liber primus, cap. 11, fol. 71 b<br />
Cap. 11<br />
Sed hic existunt tria..., quorum unum est quod in sacris literis<br />
insunt quaedam, quae absurda et dei maiestatem parum decentia<br />
esse videantur. Cuiusmodi est, quod de Mose narratur,<br />
intrasse eum in cavum saxi et a deo fuisse manu coopertum<br />
atque ita demum praeteriisse deum et a Mose a tergo, non a<br />
fronte fuisse visum. Item quod praecepit deus Israelitis, ut sibi<br />
bestias immolarent carnemque torrerent, ut eius nidor ad illius<br />
nares suavis perveniret, quasi ipse nidore carnis pasceretur.<br />
Idem dico de tabernaculo, templo, vestibus et ceremoniis, quae<br />
deus sic praecepit, quasi is humano more delectaretur et, ut<br />
paucis absolvam, de omnibus, in quibus inesse videtur aliquid<br />
absurditatis.<br />
Alterum est, quod videntur alicubi sacrae literae ipsae secum<br />
pugnare, tum in historiis tum in sententiis.<br />
Ex quo deinde nascitur tertium, quod earum interpretes ipsi<br />
quoque tum verbis tum scriptis ita non solum diversa, verum<br />
etiam saepe pugnantia docent et tamen omnia sacrarum literarum<br />
authoritate tuentur, ut saepe quid sequendum sit dubitent<br />
homines nec mali nec imperiti.<br />
Ad quorum primum sic respondeo. Fieri videmus tum natura<br />
tum arte quaedam, quae si per se consideres, foeda ineptaque<br />
videbuntur. Eor<strong>und</strong>em finem si perpendas, iudicabis et optime<br />
fieri et sapientissime, nisi eris et naturae et arti inimicissimus.<br />
Nam primum ipsa natura quomodo gignit et alit hominem?<br />
Concipitur homo in utero foeminae inter stercoris et lotii conceptacula<br />
collocato. Ibi alitur augescitque spacio circiter novem<br />
mensium sanguine menstruo, hoc est re haud scio an omnium,<br />
quae sunt, sub omni coelo imm<strong>und</strong>issima, nasciturum deinde<br />
antecedit liquor quidam haud sane m<strong>und</strong>issimus, in quo foetus<br />
ipse in utero mersus iacuit.<br />
61