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Seelenpflege 2013-1

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<strong>Seelenpflege</strong><br />

in Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie<br />

Die Frage des freien Willens<br />

Arbeit ermöglichen<br />

Tagungsimpressionen<br />

Erwachsenenbildung<br />

1 | <strong>2013</strong>


Editorial<br />

«Wie aus Schwierigkeiten Erfolgserlebnisse werden»<br />

ist ein schönes Motto, das man über jede heilpädagogische<br />

und sozialtherapeutische Situation schreiben könnte. In<br />

diesem Heft finden Sie es als Untertitel von Hein Kistners<br />

Beitrag, in dem er einmal mehr über das Feld der Arbeit mit<br />

Menschen mit schweren Behinderungen schreibt. Seine These<br />

stellt er eindrucksvoll am Beispiel des Bügelns unter Beweis.<br />

Von der sehr erfolgreichen Internationalen Tagung für Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie, die im letzten Oktober am<br />

Goetheanum stattgefunden hat, gibt es einige Nachklänge in<br />

diesem Heft: zum einen den Aufsatz von Bernd Kalwitz, der<br />

sich mit dem Tagungsthema «Wille» auseinandersetzt sowie<br />

einen Tagungsbericht von Michael Gehrke und last not least<br />

ein Porträt der Malerwerkstatt in der Camphill Gemeinschaft<br />

Vidaråsen, deren Ausstellung uns an der Tagung nachhaltig<br />

beeindruckt hat.<br />

Die Beiträge von Maximilian Buchka über Erwachsenenbildung<br />

und Marion Josek über Musiktherapie ergänzen den<br />

Schwerpunkt «Sozialtherapie» dieses Heftes.<br />

Bitte beachten Sie auch die Hinweise auf die neue Buchreihe<br />

«Edition Anthropos», in der einige gewichtige Neuerscheinungen<br />

zur anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie vorliegen.<br />

Wir wünschen Ihnen einen guten Start in ein gutes Neues Jahr!


Inhalt<br />

Seite 6<br />

Der freie Wille und die drei<br />

Blutstropfen im Schnee<br />

Bernd Kalwitz<br />

Seite 20<br />

Initiativ werden – Die Kunst des<br />

guten Handelns<br />

Bericht der internationalen<br />

Tagung<br />

Michael Gehrke<br />

Seite 13<br />

Arbeit ermöglichen!<br />

Wie aus Schwierigkeiten<br />

Erfolgserlebnisse werden<br />

Hein Kistner<br />

Seite 22<br />

Impressionen aus der<br />

Ausstellung «Rätsel»<br />

Jasminka Bogdanovic<br />

Von so ungeheurer Wichtigkeit ist nicht der Denkdefekt. Die meisten Defekte<br />

haben, müssen Sie sorgfältig hinschauen, inwieferne der Denkdefekt ein Will<br />

die Gedanken ganz richtig sein, es handelt sich nur darum, dass der Wille, de<br />

bis zu welchem Grade der Wille darinnen steckt. Eigentlich einen Denkdefekt<br />

der Gedanken auftreten, Sinnestäuschungen. Bei der Einstellung zur äusse<br />

selber unregelmässig. Oder aber wir haben etwas wie Zwangsvorstellungen<br />

Aber auf das muss man vor allem aufmerksam sein, ob man es mit einem Wille<br />

in das Gebiet des abgesonderten Heilens. Mit den Willensdefekten hat man<br />

<strong>Seelenpflege</strong><br />

in Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie<br />

4<br />

Die Frage des freien Willens<br />

Arbeit ermöglichen<br />

Tagungsimpressionen<br />

Erwachsenenbildung<br />

1 | <strong>2013</strong><br />

Herausgeber:<br />

Konferenz für Heilpädagogik und<br />

Sozialtherapie<br />

in der Medizinischen Sektion<br />

der Freien Hochschule für<br />

Geisteswissenschaften am Goetheanum<br />

Dornach (Schweiz)<br />

Redaktion:<br />

Rüdiger Grimm<br />

Bernhard Schmalenbach<br />

Gabriele Scholtes


Seite 29<br />

Seite 45<br />

Aktuelle Entwicklungslinien in<br />

der Arbeit mit erwachsenen<br />

Menschen mit Behinderung<br />

Maximilian Buchka<br />

Anthroposophische Musiktherapie<br />

für erwachsene Menschen mit<br />

Behinderung<br />

Marion Josek<br />

Seite 53<br />

Seite 55<br />

Seite 55<br />

Nachruf: Wolfgang Armbrüster<br />

Berichte:<br />

Fachtag an der HFHS<br />

Fachtag der HeileurythmistInnen und<br />

ÄrztInnen<br />

Rezensionen: Ruth-Ingrid Hesse<br />

Schloss Gerswalde 1929-1950. Ein heilpädagogisches<br />

Kinderheim in drei deutschen<br />

Staatsformen<br />

Gertraud Bessert<br />

Ein Quell wird zum Strom<br />

sind eigentlich Willensdefekte; denn auch wenn Sie im Denken einen Defekt<br />

ensdefekt ist. Denn, wenn Sie zu schnell oder zu langsam denken, so können<br />

r wirkt in der Ineinandersetzung, einen Defekt hat. Man muss hinschauen,<br />

können Sie nur konstatieren, wenn unabhängig vom Willen Deformationen<br />

ren Welt treten sie im ganz Unbewussten auf, da wird das Vorstellungsbild<br />

, und dass sie Zwangsvorstellungen sind, hebt sie aus dem Willen heraus.<br />

nsdefekt oder Denkdefekt zu tun hat. Die Denkdefekte fallen zumeist schon<br />

es meistens zu tun in der Erziehung von unvollständig entwickelten Kindern<br />

Rudolf Steiner im Heilpädagogischen Kurs<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 5


Bernd Kalwitz<br />

Der freie Wille und die drei Blutstropfen im Schnee<br />

Während der Begriff ‹Wille› im wissenschaftlichen Diskurs immer mehr verschwindet<br />

und immer weniger verstanden wird, schlagen Diskussionen um die Willensfreiheit<br />

regelmässig hohe Wellen. Dies ist nicht verwunderlich, denn zunächst würde jeder<br />

behaupten, er sei in seinen Willensentscheidungen frei. Auch die Ethik unserer<br />

Gesellschaft gründet sich auf die Vorstellung, dass jeder Mensch in der Regel verantwortlich<br />

ist für das, was er tut, da er sich zu seinen Handlungen entscheiden konnte.<br />

In heilpädagogischen und sozialtherapeutischen Arbeitsfeldern stellt sich die Frage<br />

nach der Freiheit des Willens – nach dem Wesen des Willens überhaupt – oft in besonderer<br />

Eindringlichkeit. Würden nicht alle kleinen und grossen Initiativen, die unser<br />

tägliches Handeln betreffen, in einem ganz anderen Licht erscheinen, wenn man sie<br />

nicht als freie Taten freier Individuen betrachten könnte? Wie wäre eine Begegnung<br />

freier Individuen möglich ohne freien Willen? Auch stehen wir in heilpädagogischen<br />

oder sozialtherapeutischen Situationen manchmal vor Phänomenen, die unser Verständnis<br />

von dem, was ‹Wille› eigentlich ist, in ganz besonderer Weise herausfordern.<br />

Ein Beispiel<br />

Tom, ein junger Mann mit Behinderung, den ich über viele Jahre kannte, wollte<br />

eigentlich immer nur eines: weg. Er wurde in einer Lebens- und Arbeitsgemeinschaft<br />

betreut, war dort ein angenehmer Mitbewohner und geschätzter Werkstattkollege,<br />

aber er strahlte stets durch sein ganzes Wesen aus, dass er eigentlich woanders sein<br />

wollte. Diese manchmal von ihm auch explizit vorgetragene Idee wurde zunächst<br />

überhaupt nicht ernst genommen, da es ihm offensichtlich gut ging und er selbst auch<br />

nicht wusste, was ihm eigentlich fehlte, geschweige denn, wo er denn hin wollte. Aber<br />

dieser Willensimpuls, der in ihm wirkte, wurde immer stärker und löste schliesslich<br />

auch zunehmend soziale Schwierigkeiten aus. Diese Entwicklung führte dann tatsäch-<br />

6


Beiträge<br />

lich dazu, dass er die Einrichtung und den Kreis der Menschen, mit denen er teilweise<br />

über Jahrzehnte verbunden gewesen war, verlassen musste.<br />

Niemand hätte sich damals vorstellen können, dass bei der komplexen Natur seiner<br />

vor allem psychischen Hilfsbedürftigkeit ein Ort gefunden werden könnte, der ihm<br />

besser angemessen wäre als die Einrichtung, deren Gründung er miterlebt und deren<br />

innere Entwicklung er durch seine Eigenschaften und seinen Unterstützungsbedarf<br />

massgeblich mit beeinflusst hatte. Er landete dann auch tatsächlich in einer Situation,<br />

die zunächst eher zu Besorgnis Anlass gab. Aber: Er fand dort die Liebe seines Lebens!<br />

Einen Menschen, mit dem er eine innige Beziehung einging und diese seitdem leben<br />

kann, wie es schöner kaum vorstellbar ist. Wie geht man mit dem Willensimpuls eines<br />

Menschen um, dem es kognitiv gerade an den entscheidenden Fähigkeiten zu fehlen<br />

scheint, auf die wir unsere Willensfreiheit zu stützen glauben? Toms Impuls schien<br />

‹unvernünftig›, aber er führte ihn dorthin, wo er sein Glück fand.<br />

Ein anderes Beispiel:<br />

Amy, eine seit ihrer Geburt vollständig spastisch gelähmte junge Frau, wurde stündlich<br />

von Krampfanfällen geschüttelt, konnte nicht sprechen und nicht essen. Selbst<br />

ihren Blick konnte sie nur in die Richtung wenden, die für ihren am Rollstuhl festgeschnallten<br />

Kopf gerade vorne lag: Sie war völlig davon abhängig, in welche Richtung<br />

der Rollstuhl gedreht wurde. Wegen ihres grossen Hilfebedarfs waren ihre Eltern die<br />

treibende Kraft bei Gründung einer Betreuungseinrichtung gewesen und bereits in<br />

ihrer Kindheit und Jugend hatten sich viele Menschen um sie herum eingefunden, um<br />

ihr zu helfen. Als sie im Alter von 24 Jahren starb, glich ihre Beerdigung dem Begräbnis<br />

einer ‹Prominenten›, und es wurde der unglaublich grosse Kreis von Menschen sichtbar,<br />

der sich mit ihr während ihres kurzen Lebens verbunden hatte. Auch hier wirkte<br />

der Wille eines Menschen, der zwar durch seinen Körper keinerlei aktive Impulse in<br />

die Welt tragen konnte, der aber den Anlass dazu gab, dass eine Einrichtung entstand<br />

und eine Gemeinschaft von Menschen.<br />

Der Wille in der Forschung<br />

Der Begriff des Willens verschwindet immer mehr aus dem Forschungsfeld der Psychologie<br />

und der Philosophie. Die Vorstellungen von dem, was man unter Wille verstehen<br />

will, verlieren mehr und mehr an Konturen, aber die Idee der Willensfreiheit wird<br />

dessen ungeachtet immer wieder heftig diskutiert. Waren es früher eher philosophische<br />

oder psychologische Argumente, die gegen einen freien Willen ins Feld geführt wurden,<br />

stammen diese heute – wie sollte es anders sein – meist aus der Hirnforschung.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 7


Beiträge<br />

Zunächst war es der kalifornische Neurophysiologe Benjamin Libet (1916-2007), der die<br />

Idee des freien Willens ins Wanken brachte, als er 1985 und 1987 in San Francisco die<br />

Ergebnisse seiner inzwischen berühmten Experimente vorstellte (Libet). Er hatte eine<br />

spezielle Form des schon in den 1960er Jahren von Helmut Kornhuber (1965, S. 281:1-<br />

17) entdeckten Bereitschaftspotentiales im Gehirn gefunden, bei dem sich zeigte, dass<br />

schon einige Zeit vor dem Bewusstwerden eines Willensimpulses in der Hirnaktivität Prozesse<br />

nachweisbar sind, die offensichtlich diesem Willensimpuls entsprechen.<br />

Eine grosse Zahl von Versuchspersonen sollte bei diesen Experimenten jeweils genau<br />

den Moment angeben, an dem sie den Impuls («Urge») zu einer Handbewegung in<br />

ihren Körper geschickt hatten, und es zeigte sich, dass ungefähr eine Drittelsekunde<br />

(300ms) vor diesem Moment das Gehirn die Bewegung bereits vorbereitete. Der Willensimpuls<br />

schien den Versuchspersonen also erst sekundär bewusst zu werden,<br />

nachdem ihr Gehirn bereits dabei war, die Bewegung einzuleiten. Natürlich gab es<br />

bald eine unermessliche Fülle von methodischen Einwänden gegen Aufbau und Auswertung<br />

der Experimente 1. und auch Libet selbst war mit seiner Interpretation eher<br />

vorsichtig. Dennoch wurden seine Ergebnisse fortan als Argumente für die These<br />

verwendet, dass der Wille im Grunde ein biochemischer Prozess sei, der uns erst im<br />

Nachhinein bewusst wird, wenn die Handlung bereits determiniert ist. Demzufolge<br />

wäre das innere Erlebnis einer freien Willensentscheidung bloss eine Illusion.<br />

Interessanterweise konnten spätere Untersuchungen mit ihren inzwischen epochal<br />

verbesserten technischen Möglichkeiten die Ergebnisse Libets nicht nur eindrucksvoll<br />

bestätigen, sondern die mit ihnen aufgeworfene Frage nach der Willensfreiheit<br />

tatsächlich noch erheblich verschärfen.<br />

Am überzeugendsten scheinen mir in dieser Hinsicht die Forschungen von John Dylan<br />

Haynes 2007 am Max-Planck-Institut in Leipzig zu sein. 2 Haynes zeigte nicht nur, dass<br />

sich aufgrund der nun wesentlich besser darstellbaren Hirnaktivität die Art und Weise<br />

einer getroffenen Willensentscheidung zuverlässig voraussagen lässt, bevor die Versuchsperson<br />

sich dieser Entscheidung bewusst wird. Er konnte zudem anhand der<br />

gemessenen Hirnaktivität vorhersagen, zu welcher Bewegung sich der Proband entschlossen<br />

hatte, bevor sich dieser überhaupt eines Entschlusses bewusst war. Noch<br />

überraschender war jedoch, dass dieses von ihm gemessene Bereitschaftspotential<br />

sage und schreibe bereits zehn Sekunden vor dem Moment auftrat, in dem die Versuchsperson<br />

glaubte, sich zu dem Willensimpuls entschieden zu haben. Zehn Sekunden<br />

sind eine sehr lange Zeit – und Haynes’ Experiment vermied auf sehr elegante<br />

Weise die methodischen Schwächen, die Libets Versuchen vorgeworfen wurden.<br />

Untersuchungen wie diese waren es, welche den Bremer Neurophysiologen Gerhard<br />

Roth zu der Aussage führten, Menschen seien eigentlich nicht für ihre Handlungen<br />

8


Beiträge<br />

verantwortlich zu machen, weil sich ihre Willensentscheidungen unbewusst und<br />

durch biochemische Prozesse gesteuert entwickeln (vgl. Pauen; Roth 2008). Roth plädiert<br />

folglich für eine Anpassung unseres Strafrechtes an diese biologische «Schuldunfähigkeit»<br />

des Menschen (vgl. Roth 2004).<br />

Der Wille in der Menschenkunde Rudolf Steiners<br />

Bei allen Fragen, die diese Forschungen aufwerfen, bestätigen sie doch zunächst<br />

etwas, worauf Rudolf Steiner schon vor fast einem Jahrhundert hingewiesen hat: Der<br />

Wille als Seelenfähigkeit lebt in einem Bewusstseinsraum, der dem tiefen, traumlosen<br />

Schlaf entspricht (Steiner 1992, S. 91 ff.). In unseren Gedanken und Vorstellungen,<br />

auch in unseren äusseren Wahrnehmungen können wir sehr bewusst ‹wach›<br />

sein. Auch wenn wir uns dafür sehr anstrengen müssen, können wir den Raum der<br />

Sinneswahrnehmungen und Gedanken überblicken und selbst gestalten. Wir können<br />

lernen, selbst zu bestimmen, wohin wir unseren Blick richten, welche Sinneseindrücke<br />

wir aufnehmen wollen und welche Gedanken unser Bewusstsein erfüllen.<br />

Mit unseren Gefühlen leben wir in einer Art traumhaften Bewusstseins: einiges<br />

kommt, der Spitze eines Eisberges gleich, uns zu Bewusstsein, das meiste aber verbleibt<br />

im Dunklen. Unsere Gefühle, ihre Ursachen und ihre Verwandlungen können<br />

wir nie ganz bewusst durchschauen.<br />

In einer noch tieferen Bewusstseinsebene spielt sich unser Willensleben ab. Es ist<br />

von unserem Tagesbewusstsein ebenso weit entfernt wie unser Bewusstsein während<br />

des tiefen, traumlosen Schlafes. Wenn wir unseren Arm bewegen, ist uns der<br />

Entschluss dazu als Gedanke bewusst, wir haben auch eine bewusste Vorstellung<br />

davon, was geschehen soll und können die Bewegung mit unseren Sinnesorganen<br />

im Verlauf verfolgen. Doch von der Kraft, die in unseren Gliedern wirksam wird und<br />

dort die Bewegung auslöst, haben wir kein Bewusstsein. Sie wirkt gleichsam in der<br />

tiefen Dunkelheit der Nacht. Dies eben zeigen auch die neurobiologischen Befunde:<br />

Nicht bewusste Prozesse sind es, die unsere Bewegungen auslösen, das Bewusstsein<br />

kommt erst im Nachhinein dazu.<br />

Kann im Willen Freiheit herrschen?<br />

Rudolf Steiner hat beschrieben, wie der Wille sich in den verschiedenen Ebenen<br />

unseres Wesens in unterschiedlicher Gestalt zeigen kann: als Instinkt, Trieb und<br />

Begierde in den tieferen Schichten unserer Leiblichkeit, als Motiv, Wunsch, Vorsatz<br />

und Entschluss in unseren höheren seelisch-geistigen Anteilen, in denen die Möglichkeit<br />

des Zugriffes durch unser Ich wächst (a.a.O., S. 62 ff.).<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 9


Beiträge<br />

Jeder weiss, wie sehr Triebe und Begierden die Freiheit unseres Willens einschränken<br />

können, man muss hier nur an dessen Schattenseiten wie beispielsweise Süchte<br />

denken. Doch nicht nur unsere leibgebundenen Impulse, auch unser Karma wirkt in<br />

der Nacht unseres Willenslebens und bindet dieses zunächst. Es ist dies eine Bindung<br />

an etwas, zu dem wir uns vorgeburtlich einmal entschlossen haben, wie dies in<br />

dem Herrmann Hesse zugeschriebenen Gedicht ‹Das Leben, das ich selbst gewählt›<br />

in bezaubernder Weise ausgesprochen wird:<br />

Ehe ich in dieses Erdenleben kam,<br />

ward mir gezeigt, wie ich es leben würde.<br />

Da war die Kümmernis, da war der Gram,<br />

da war das Elend und die Leidensbürde.<br />

Da war das Laster, das mich packen sollte,<br />

da war der Irrtum, der gefangen nahm.<br />

Da war der schnelle Zorn, in dem ich grollte,<br />

da waren Hass und Hochmut, Stolz und Scham.<br />

Doch da waren auch die Freuden jener Tage,<br />

die voller Licht und schöner Träume sind.<br />

Wo Klage nicht mehr ist und Plage<br />

und überall der Quell der Gaben rinnt.<br />

Wo Liebe dem, der noch im Erdenkleid gebunden,<br />

die Seligkeit des Losgelösten schenkt,<br />

wo sich der Mensch, der Menschenpein entwunden,<br />

als Auserwählter hoher Geister denkt.<br />

Mir ward gezeigt das Schlechte und das Gute,<br />

mir ward gezeigt die Fülle meiner Mängel.<br />

Mir ward gezeigt die Wunde, draus ich blute,<br />

mir ward gezeigt die Helfertat der Engel.<br />

Und als ich so mein künftig Leben schaute,<br />

da hört ein Wesen ich die Frage tun,<br />

ob ich dies zu leben mich getraute,<br />

denn der Entscheidung Stunde schlüge nun.<br />

Und ich ermass noch einmal alles Schlimme.<br />

‹Dies ist das Leben, das ich leben will!›<br />

Gab ich zur Antwort mit entschlossner Stimme.<br />

So war's, als ich ins neue Leben trat<br />

und nahm auf mich mein neues Schicksal still.<br />

So ward geboren ich in diese Welt.<br />

Ich klage nicht, wenn's oft mir nicht gefällt,<br />

denn ungeboren hab ich es bejaht.<br />

Die durch unseren Willen impulsierten Bewegungen sind es, die uns dorthin führen,<br />

wo wir den Menschen begegnen, die wir in diesem Leben treffen wollten. Wenn wir<br />

uns einmal rückblickend vergegenwärtigen, welche Schritte und Abirrungen manch-<br />

10


Beiträge<br />

mal nötig waren, um in einem zentralen Moment unseres Lebens zur richtigen Zeit am<br />

richtigen Ort zu sein und dort einem wichtigen Menschen zu begegnen, dann können<br />

wir einen Eindruck davon gewinnen, welche Weisheit in diesem Nachtbereich unseres<br />

Bewusstseins wirkt, der ja trotz seiner Verschiedenheit vom Tagesbewusstsein dennoch<br />

zu uns gehört. Mag dies auch eine Bindung an unsere eigenen vorgeburtlichen<br />

Entschlüsse sein: es handelt sich um eine Bindung.<br />

Wirklich frei sind wir nur in unserem Gedanken- und Vorstellungsleben: Das hat<br />

Rudolf Steiner in seiner Philosophie der Freiheit (Steiner 1962) dargestellt. Aber wir<br />

können das Freiheitselement unseres Gedankenlebens in beide Bereiche hineintragen,<br />

in denen unser Wille zunächst gebunden ist. Wir haben die Möglichkeit, unsere<br />

individuellen Entscheidungen in den Vordergrund unserer Willensmotive zu stellen<br />

und auf diese Weise etwa die Wirksamkeit von Instinkten oder Trieben zu blockieren.<br />

Wir können ebenso an einem Menschen oder einer Situation vorbeigehen, die wir mit<br />

der Nachtseite unseres Willens aufgesucht haben, weil wir uns dann bewusst gegen<br />

diese Begegnung entscheiden.<br />

Libet hatte bei seinen Versuchen Hinweise darauf gefunden, dass bis zu einer Zeitspanne<br />

von 100ms vor der Handlung eine durch das Bereitschaftspotential vorbereitete<br />

Willensbewegung bewusst wieder abgebrochen werden kann. Haynes<br />

überzeugten diese von Libet dargestellten Hinweise nicht. Er wollte überprüfen, ob ein<br />

ausgelöster Willensimpuls in seiner zehn Sekunden dauernden unbewussten Vorbereitungsphase<br />

durch ein bewusstes Veto wieder abgebrochen oder modifiziert werden<br />

kann. Man würde vermuten, diese Untersuchung könnte nicht mehr allzu schwer sein,<br />

aber bisher sind mir keine diesbezüglichen Ergebnisse bekannt geworden.<br />

Den Willen befreien<br />

Wie trägt man die Freiheit seines Gedankenlebens in den Willen? Auf ein intensives<br />

Bild hierfür hat Walter Johannes Stein in seinen Anmerkungen zu Wolfram von Eschenbachs<br />

Parzival hingewiesen (Stein 1986, S. 207 ff.). Beim Anblick von drei roten<br />

Blutstropfen, die eine von einem Falken verletzte Gans in der weissen Schneedecke<br />

des Waldes hinterlassen hat, versinkt Parzival in eine derart leidenschaftliche Sehnsucht<br />

nach Kondwiramur, dass sein Bewusstsein sich herabdämpft. Benommen und<br />

entrückt verliert er sich in dem Bild, das ihn an die helle Haut und die warmen Lippen<br />

seiner lange entbehrten, geliebten Frau erinnert und er handelt nur noch wie in tiefer<br />

Bewusstlosigkeit. Wenn er angerempelt wird und sein Pferd sich dreht, sodass sein<br />

Blick kurz etwas anderes sieht, wacht er ein wenig auf und greift in das um ihn herum<br />

tobende Kampfgeschehen ein. Doch wirklich zu Bewusstsein kommt er nicht, und<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 11


Beiträge<br />

immer wieder sucht er sogleich wieder die Blutstropfen im Schnee auf, um erneut in<br />

sie ‹hineinzuträumen›. Sein Wille ist an seine leidenschaftliche Sehnsucht gebunden.<br />

In dieser Situation kommt Gawan, der Helfer und Heiler der Gralssage, steigt vom<br />

Pferd und deckt ein Seidentuch über die Blutstropfen. Nun erwacht Parzival aus<br />

seiner tiefen Benommenheit und kann sich wieder der Wirklichkeit um sich herum<br />

zuwenden. Wir können die tief unbewussten Impulse unseres Willens nicht immer<br />

direkt beeinflussen. Aber wir können entscheiden, wohin wir unseren Blick wenden<br />

und mit welchen Gedanken wir unser Bewusstsein erfüllen: Auf diese Weise können<br />

wir unseren Willen den bindenden Kräften entziehen.<br />

Die Kraft des Willens hat ihren Ursprung nicht im zentralen Nervensystem des Kopfes.<br />

Das dort entstehende Bewusstsein unserer Willensimpulse ist ein sekundäres, ein<br />

gespiegeltes Bewusstsein. Die Willensimpulse dagegen entstehen an der Peripherie,<br />

in unseren Bewegungen, unserer Umgebung, unserem sozialen Umkreis. Sie kommen<br />

uns gleichsam aus der Zukunft unseres Schicksals entgegen, wie im Beispiel von Tom,<br />

und sie wirken oft im Umkreis, wie im Beispiel von Amy. Gegen eine Freiheit dieser<br />

Willenskräfte im Sinne einer bewussten Beliebigkeit von Entscheidungen sprechen<br />

auch alle bisherigen neurobiologischen Befunde. Wir können jedoch lernen, unseren<br />

Willen mehr und mehr an der Freiheit unseres Gedankenlebens zu orientieren und ihn<br />

damit aus seiner doppelten Bindung zu befreien.<br />

Bernd Kalwitz, langjährige Einrichtungs- und Seminarleitung der sozialtherapeutischen<br />

Lebens- und Arbeitsgemeinschaft Vogthof in Ammersbek bei<br />

Hamburg, heute stellvertretende Schulleitung der Fachschule Nord in Kiel<br />

und Dozent an der Fachhochschule Ottersberg; Schularzt der Rudolf Steiner<br />

Schule Bergstedt/Hamburg<br />

Anmerkungen<br />

(1) Z.B. Alfred R. Mele (2007): Decisions, Intentions, Urges, and Free Will: Why Libet Has Not Shown What He Says He<br />

Has. In: Joseph Keim Campbell, Michael O'Rourke und Harry S. Silverstein Explanation and Causation: Topics in Contemporary<br />

Philosophy. MIT Press, S.228 ff.<br />

(2) Z.B. in ‹Die Zeit› vom 17. April 2008: Der unbewusste Wille.<br />

Literatur<br />

Kornhuber, H.H.; Deecke, L. (1965): Hirnpotentialänderungen bei Willkürbewegungen und passiven Bewegungen des<br />

Menschen: Bereitschaftspotential und reafferente Potentiale. Pflügers Arch Physiol., 281: 1-17.Libet, B. (1985): Unconscious<br />

cerebral initiative and the role of conscious will in voluntary. Behavioral and Brain Sciences 8. S. 529-566.<br />

Pauen, M.; Roth, G. (2008): Freiheit, Schuld und Verantwortung – Grundzüge einer naturalistischen Theorie der Willensfreiheit.<br />

Edition Unseld, Suhrkamp Verlag, Berlin.<br />

Roth, G. (2004): Spiegel-Streitgespräch – «Das Hirn trickst das Ich aus». Neurobiologe Gerhard Roth und Moraltheologe<br />

Eberhard Schockenhoff über neue Zweifel an der Entscheidungsfindung des Menschen, umstrittene Erkenntnisse der<br />

Hirnforschung und die Folgen für das Strafrecht. Der Spiegel Nr. 52, S. 117-121.<br />

Stein, W. J. (1986): Weltgeschichte im Lichte des heiligen Gral (4. Auflage). J. CH. Mellinger Verlag, Stuttgart.<br />

Steiner, R. (1992): Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik (GA 293, 9. Aufl.). Rudolf Steiner Verlag,<br />

Dornach.<br />

Steiner, R. (1962): Philosophie der Freiheit (GA 4, 16. Aufl.). Rudolf Steiner Verlag, Dornach.<br />

12


Hein Kistner<br />

Arbeit ermöglichen!<br />

Wie aus Schwierigkeiten Erfolgserlebnisse werden<br />

Das Leben von Menschen mit schweren Behinderungen verändert sich grundlegend,<br />

wenn sie nicht nur eine Tages- oder Förderstätte besuchen, sondern wenn sie auch<br />

zur Arbeit gehen. Arbeit ist möglich. Sinnvolle Arbeit ist interessant, sie erweitert die<br />

Perspektive und sie kann die persönliche Entwicklung voranbringen.<br />

Um Arbeit zu ermöglichen, sollten Arbeitsbegleiter sich nicht primär mit den Schwierigkeiten<br />

beschäftigen, welche Menschen mit schweren Behinderungen überwinden<br />

müssen. Sie sollten vor allem die Schwierigkeiten in den Blick nehmen, die sie selbst<br />

zu bewältigen haben. Es gibt im Alltag meistens mehrere Wege, wie Arbeitsbegleiter<br />

dies erreichen können. Einen dieser Wege möchte ich an einem Beispiel aus der eigenen<br />

Praxis aufzeigen. Wenn es im Arbeitsprozess gelingt, Hindernisse aufzulösen,<br />

entsteht eine grosse Zufriedenheit und nicht selten auch ein Glücksgefühl auf beiden<br />

Seiten. Im folgenden nenne ich die Menschen mit schweren Behinderungen, die ich<br />

am Arbeitsplatz begleite, ArbeitskollegInnen.<br />

Mit der Arbeit beginnen<br />

Ich arbeite mit meiner Arbeitskollegin Nathalie Sol 1 an einem Arbeitsplatz in der Bügelwerkstatt.<br />

Wir bügeln gemeinsam Servietten. Frau Sol ist 25 Jahre alt. Aufgrund einer<br />

Paraplegie und einer schweren Skoliose liegt sie in ihrem Rollstuhl in einer Sitzschale.<br />

Frau Sol kann nicht sprechen. Hin und wieder gibt sie einen tiefen Ton von sich.<br />

Bevor ich mehr von Frau Sol und ihrer Arbeit berichte, möchte ich noch einen weiteren<br />

Kollegen vorstellen. Er ist der Kollege, der Recht hat. Manchmal ist der Kollege, der<br />

Recht hat, ein ganz realer Mensch. Meistens ist er eine Stimme in mir. Der Kollege, der<br />

Recht hat, ist ein hervorragender Beobachter. Er sagt oft zu mir: «Frau Sol schläft. Du<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 13


Beiträge<br />

kannst jetzt nicht mit ihr arbeiten.» Wenn Frau Sol aufwacht, sagt er meistens: «Jetzt<br />

muss Frau Sol etwas trinken. Wenn Sie weiterhin so wenig trinkt, dann bekommt sie<br />

wieder Nierenschmerzen.» Nach dem Trinken fordert mich der Kollege, der Recht hat,<br />

auf, Frau Sol im Bad zu pflegen. Dann kommt schon wieder das zweite Frühstück, das<br />

sie unbedingt zu sich nehmen muss, damit die Ernährung stimmt. Manchmal sagt<br />

mein Kollege: «Frau Sol hat gerade einen Anfall.» Hin und wieder fällt Frau Sol in tagelange<br />

Unruhezustände und hat dann vermutlich auch körperliche Schmerzen. Danach<br />

kommt der Kollege, der Recht hat, zu mir und meint: «Jetzt hat Frau Sol gerade alles<br />

überstanden, was sie geplagt hat. Jetzt braucht sie wirklich eine Pause.» In all diesen<br />

Fällen hat mein Kollege wirklich gut beobachtet. Deshalb hat er Recht, wenn er darauf<br />

verweist, dass Frau Sol in diesen Zeiten nicht arbeiten kann. Ich bestehe im Übrigen<br />

darauf, dass Frau Sol auch dann zu mir in die Werkstatt kommt, wenn es ihr nicht<br />

gut geht. Ich bin nicht nur ein Arbeitsbegleiter. Ich kann vieles für sie tun, damit sie<br />

besser in ihren Tag hinein findet. Nur an wenigen Tagen im Jahr muss Frau Sol zuhause<br />

bleiben, weil sie krank ist. Dann gehe ich in ihr Wohnhaus und begleite sie dort. Die<br />

beschriebene Situation ist voller Schwierigkeiten. Ganz entscheidend aber ist, dass<br />

dies keine Schwierigkeiten sind, die ich als Arbeitsbegleiter zu überwinden hätte. Das<br />

ist der Alltag meiner Arbeitskollegin. Es ist nicht meine Aufgabe, diesen zu verändern.<br />

Das kann und muss ich meiner Arbeitskollegin selbst überlassen. Dieser Alltag ist<br />

lediglich die Ausgangssituation, wenn wir zu arbeiten beginnen. Die Schwierigkeiten,<br />

die ich als Arbeitsbegleiter zu lösen habe, sind andere. Sie beginnen erst jetzt.<br />

Ich stelle noch einen weiteren Kollegen – eine weitere Stimme in mir – vor: Er ist<br />

dem Kollegen, der Recht hat, sehr ähnlich. Er könnte sein Zwillingsbruder sein. Er ist<br />

aber überhaupt kein guter Beobachter und er ist ein sehr oberflächlicher Denker. Er<br />

ist der Kollege, der verallgemeinert. Er sagt zu mir sehr bestimmend: «Mit Frau Sol,<br />

mit einem Menschen mit einer so schweren Behinderung, kannst Du einfach nicht<br />

arbeiten, das musst Du einsehen.» Ich kann mich im Umgang mit dem Kollegen, der<br />

verallgemeinert, nur behaupten, wenn ich selbst ein guter Beobachter bin.<br />

Gut beobachten<br />

Frau Sol hatte früher bis zu 20 Anfälle am Tag. Heute Nacht hatte sie wieder einmal<br />

fünf schwere Anfälle. Ich beobachte aber gerade in diesem Moment, dass sie keinen<br />

Anfall hat. Ich beobachte weiterhin: Frau Sol ist gerade wach, sie hat getrunken und<br />

sie ist auch nicht unruhig. Sie braucht jetzt auch keine Pause. Sie kann jetzt arbeiten,<br />

wenn ich es ihr ermögliche. Seit mehr als 20 Jahren begleite ich Menschen mit schwe-<br />

14


Beiträge<br />

ren Behinderungen bei der Arbeit. Ich konnte immer wieder staunen, wie viele Zeiten<br />

es gibt, an denen Arbeit möglich ist. Bei den meisten meiner ArbeitskollegInnen sind<br />

diese Zeiten zahlreicher und länger geworden, nachdem wir mit der Arbeit begonnen<br />

haben. Meine Arbeitskollegin Frau Sol hat anfangs in der Werkstatt oft und viel<br />

geschlafen. Schon lange schläft sie am Vormittag kaum noch. Zu dieser Zeit will sie<br />

jetzt etwas erleben. Mit einer guten Beobachtung habe ich meine erste Schwierigkeit<br />

gemeistert. Es kommen aber noch weitere.<br />

Ziele erreichen wollen<br />

Ein dritter Kollege – eine dritte Stimme – erscheint jetzt: Er ist ein recht unangenehmer<br />

Geselle. Er flüstert mir immer etwas ins Ohr. Er ist der Kollege, der verführt.<br />

Er sagt zu mir zum Beispiel: «Wenn Du Frau Sol ernährt, gepflegt, bewegt und ihre<br />

Unruhe ertragen hast, brauchst Du dann nicht eine Pause? Gönne Dir doch selbst mal<br />

etwas Gutes.» Oder er flüstert mir zu: «Jetzt hast Du doch nur 10, 15 oder höchstens<br />

20 Minuten zur Verfügung. Willst Du da wirklich mit der Arbeit beginnen? Das lohnt<br />

sich doch nicht.» Meistens fragt er mich auch: «Ist das wirklich sinnvoll, was Du da mit<br />

Frau Sol arbeiten willst? Willst Du das wirklich machen?» Ich kann diesem Verführer<br />

nur etwas entgegen setzen, wenn ich ein klares Ziel vor Augen habe und wenn ich<br />

den Wunsch habe, dieses Ziel auch zu erreichen. Klare Ziele können Arbeitsbegleiter<br />

bekommen, indem sie Erfahrungsberichte über die Arbeit von Menschen mit schweren<br />

Behinderungen hören. Sie können ihre Ziele noch besser finden und aufrechterhalten,<br />

wenn sie selbst über eigene Erlebnisse als Arbeitsbegleiter verfügen.<br />

Sich um Ehrlichkeit bemühen<br />

Ziele zu haben und zu verfolgen reicht allein noch nicht aus. Ich kann dem Kollegen,<br />

der verführt, nur entkommen, wenn ich bereit bin, meine eigenen Schwierigkeiten zu<br />

entdecken und aus ihnen zu lernen. Der Kollege, der verführt, spielt nämlich mit den<br />

persönlichen Problemen der Arbeitsbegleiter und er kennt sie oft viel besser als diese<br />

selbst. Ich bin ihm schon oft und auf unterschiedliche Weise erlegen. Ein Beispiel:<br />

Als ich mit Frau Sol zum ersten Mal gebügelt habe, war das ein wunderbarer Tag. Frau<br />

Sol hat sich von Anfang an aktiv in den Prozess eingebracht. Das bin ich überhaupt<br />

nicht gewohnt. Ich musste bisher immer damit umgehen, dass ich über Monate und<br />

manchmal auch Jahre Arbeitsversuche gestartet habe, ohne dass ich deutliche Rückmeldungen<br />

von meinen ArbeitskollegInnen erhalten habe. Der wunderbare Tag ist<br />

für mich noch zu einem ganz schwierigen Tag geworden. Mir ist nämlich nicht ent-<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 15


Beiträge<br />

gangen, dass Frau Sol mir in diesem Moment nicht nur gezeigt hat, dass sie arbeiten<br />

will, sondern auch, dass sie schon lange und bisher vergeblich darauf gewartet hat.<br />

Warum habe ich das nicht bemerkt? Mein ganzes Arbeitsleben begleite ich Menschen<br />

mit schweren Behinderungen bei der Arbeit. Ich entwickle auch unter schwierigen<br />

Bedingungen Arbeitsplätze und da fällt mir nicht auf, dass Frau Sol Interesse hat zu<br />

bügeln? Frau Sol ist eine sehr zarte Frau und ein ganz feiner Mensch. Sie ist immer<br />

sehr schick und modisch gekleidet. Eine pflegende Arbeit wie die Wäschepflege ist<br />

da naheliegend. Frau Sol hat oft kalte Hände. Das drängt eine Arbeit, die mit Wärme<br />

umgeht, geradezu auf. Im Rückblick weiss ich, dass mir Frau Sols Interesse nicht aufgefallen<br />

ist, weil ich selbst zu wenig Interesse am Bügeln hatte. Aber ich gebe doch<br />

nicht mir selbst oder meinen Kollegen gegenüber zu, dass ich keine Lust habe, auszuprobieren,<br />

ob Frau Sol gerne bügelt. Ich gebe natürlich andere Begründungen an.<br />

Die besten Begründungen flüstert mir der Kollege, der verführt, ins Ohr. Das klappt<br />

wunderbar. Die offizielle Begründung, warum ich mindestens ein Jahr lang nicht mit<br />

Frau Sol bügeln konnte, war, dass ich mich zuerst gründlich in die Kinästhetik einarbeiten<br />

musste. Ich wollte lernen, wie ich Frau Sol gut bewegen kann, ohne dass ich<br />

sie trage und hebe. Frau Sol und ich probierten tatsächlich mit grosser Freude neue<br />

Bewegungen aus. Wir haben viel geübt und waren auch sehr erfolgreich. Dafür hat<br />

Frau Sol aber auf ihren Arbeitsplatz warten müssen.<br />

Heute weiss ich: Wenn ich gleich Interesse für die Arbeit entwickelt hätte, die auch<br />

Frau Sol liegt, hätte ich beides gleichzeitig voranbringen können: die Kinästhetik und<br />

den Bügelarbeitsplatz. Hier wird deutlich, wie viel Arbeit ein Arbeitsbegleiter manchmal<br />

schon geleistet hat, bevor er ein einziges Mal mit seiner Arbeitskollegin ein Bügeleisen<br />

über eine Serviette bewegt.<br />

Selbstständig und mutig sein<br />

Am konkreten Arbeitsplatz tauchen dann andere Schwierigkeiten auf. Der Kollege,<br />

der Recht hat, sagt zu mir: «Das Bügeleisen ist für einen Faustgriff konstruiert<br />

worden. Frau Sol kann mit ihrer verkrümmten und verkrampften Hand keinen<br />

Faustgriff machen.» Da hat er Recht – wie immer. Der Kollege, der verallgemeinert,<br />

kommt hinzu und sagt: «Wenn Frau Sol das Bügeleisen mit einem Faustgriff nicht<br />

anfassen kann, ist die Bügelarbeit für sie nicht möglich.» Der Kollege, der verführt,<br />

ist auch zur Stelle: Er sagt: «Das sieht doch komisch aus, wenn Du versuchst, mit<br />

Frau Sol zu bügeln.» Selbst wenn meine Arbeitskollegin das Bügeleisen zunächst<br />

nur berührt und es noch nicht richtig anfassen kann, ist dies ein wichtiger Schritt.<br />

Das ist ein guter Anfang. Oft vollzieht sich innerlich etwas Grosses, während äusserlich<br />

nur eine kleine Veränderung sichtbar wird.<br />

16


Beiträge<br />

Kreativ sein<br />

An dieser Stelle sind jetzt frische Ideen und Lust auf Ungewöhnliches gefragt. Ich kann<br />

zum Beispiel den Griff des Bügeleisens mit einem Stück Filz so vergrössern, dass Frau<br />

Sol ihre flache Hand darauf legen kann. Wichtig ist, dass ich ein Material auswähle,<br />

welches Frau Sol gerne berührt. Ich kann auch das Bügeleisen mit Schnüren in die<br />

Mitte eines Gymnastikreifens hängen. Dann kann das Bügeleisen von meiner Arbeitskollegin<br />

und mir indirekt bewegt werden, indem wir den Gymnastikreifen anfassen.<br />

Der Abstand zwischen dem Bügeleisen und der Arbeitskollegin ist nun grösser. Manche<br />

ArbeitskollegInnen können auf diese Weise ihre Arbeit besser mit den Augen verfolgen.<br />

Ich kann damit die Verbrennungsgefahr verringern, wenn ich jemanden begleite,<br />

der unkontrollierbare Bewegungen macht. Noch weitere Varianten sind möglich: Ich<br />

habe einen jungen Mann begleitet, der immer hin- und hergeschaukelt ist. Er war sehr<br />

stolz und er wirkte auf mich wie ein Kapitän auf einem Schiff, der an seinem Steuerrad<br />

steht. Ich habe für ihn ein Steuerrad gebaut, das er drehen konnte. Am Arbeitsplatz<br />

des jungen Mannes bewegte sich das Bügeleisen mit Seilen über die Bügelwäsche.<br />

Nicht alles muss ein Arbeitsbegleiter selbst entwickeln. Diese Idee habe ich von Kollegen<br />

aus dem Humanus-Haus bei Bern 2 übernommen. Dort wurden mit einem Rad,<br />

in dessen Mitte ein Bohrer befestigt war, Löcher in Holz gebohrt. Wünsche ich eine<br />

ganz andere Arbeitsweise, kann ich das Bügeleisen an einen Hebel befestigen. Dann<br />

kann meine Arbeitskollegin bügeln, indem sie die Bewegungen eines Ruderers macht.<br />

Natürlich sind hier keine grossen Bewegungen gemeint. Sie können noch so klein<br />

sein. Es kommt dabei auf die Arbeitsgeste an.<br />

Unterschiede erforschen<br />

Die Bügelarbeit muss auf einem kleinen Tisch oder einem Bügelbrett stattfinden. Wo<br />

soll dieser Tisch stehen: über dem Rollstuhl, davor, links oder rechts davon? Auch<br />

hier ist nicht zu übersehen, dass ich immer über mehrere Möglichkeiten verfüge, wie<br />

ich die Arbeit ausführe. Sobald ich aber verschiedene oder sogar zahlreiche Varianten<br />

in meinem Repertoire habe, kann und muss ich mir Gedanken machen, welche<br />

ich wann einsetze. Jede Arbeitsbewegung hat eine bestimmte Geste und mit dieser<br />

Geste nimmt meine Arbeitskollegin jeweils unterschiedlichen Kontakt zu ihrer Umgebung<br />

auf. Sie erlebt sich in verschiedenen Arbeitsbewegungen in unterschiedlichen<br />

Verhältnissen zur Welt. Ich kann diese Erlebnisse meiner Arbeitskollegin am Arbeitsplatz<br />

ermöglichen. Dadurch wird die Arbeit zusätzlich interessant, abwechslungs- und<br />

erlebnisreich. Dieser entwicklungsfördernde Aspekt der Arbeit ist bereits an anderer<br />

Stelle beschrieben worden (Kistner 2005).<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 17


Beiträge<br />

Kraftvoll in die Zukunft gehen<br />

Nachdem der Start am Arbeitsplatz gelungen ist, kommt es darauf an, dass die Arbeit<br />

regelmässig ausgeführt wird und zur Gewohnheit werden kann. Das erfordert Treue zur<br />

Aufgabe, Festhalten am Ziel, Ausdauer und Durchhaltekraft. Nach meiner Beobachtung<br />

haben Arbeitsbegleiter damit mehr Schwierigkeiten als die ArbeitskollegInnen.<br />

Der Kollege, der verallgemeinert, und der Kollege, der verführt, legen manches Hindernis<br />

in den Weg, das auf die Seite geräumt werden muss. Aber es lohnt sich und<br />

die ArbeitskollegInnen sind dankbar dafür. Für mich ist der Moment, wenn die Arbeit<br />

zur Gewohnheit und damit selbstverständlich wird, beeindruckend. Das verändert<br />

meine Beziehung zu Frau Sol. Wir sind dann wirklich Arbeitskollege und Arbeitskollegin.<br />

Nach meiner Erfahrung sollten Arbeitsbegleiter nicht alle Kraft und Zeit für die<br />

aktuelle Arbeit verwenden. Sie sollten frühzeitig die Entwicklungsmöglichkeiten ihrer<br />

ArbeitskollegInnen in den Blick nehmen und sich nicht zu spät mit dem nächsten und<br />

übernächsten Schritt beschäftigen. Es ist gut, kraftvoll in die Zukunft zu gehen (Kistner<br />

2012). Ich ahne, dass Frau Sol mehr kann als bügeln und auch mehr erleben will. Frau<br />

Sols Bügelarbeitsplatz war ein Ergebnis ihrer ersten Zukunftskonferenz, welche Frau<br />

Sols Mutter, ihre Begleiter in der Werkstatt und im Wohnhaus durchgeführt haben.<br />

Eine Fortsetzung dieser Zukunftsarbeit steht nun für Frau Sol an. Arbeit soll nicht das<br />

einzige sein, was Frau Sol mit mir erleben kann. Sie bügelt im Moment bis zu drei Servietten<br />

am Tag. Sie schafft diese Arbeitsleistung nicht immer. Sie braucht schliesslich<br />

auch viel Zeit, um sich künstlerisch zu betätigen, sich fortzubilden, Spaziergänge zu<br />

machen, auf dem Markt einzukaufen und ins Cafe zu gehen.<br />

Sich an der Entwicklung freuen<br />

Indem ich Arbeit ermögliche, lerne ich viel über mich selbst und erweitere dabei<br />

meine Fähigkeiten. Ich kann mich zudem bei zahlreichen Gelegenheiten über die Entwicklung<br />

meiner Arbeitskollegin freuen. Bei Frau Sol erkenne ich an ihrem Hin- und<br />

Herbewegen des Kopfes und an einem tiefen Blick ihr Wohlbefinden und ihre Zufriedenheit.<br />

Ich bemerke ihre zunehmende Wachheit und das wachsende Interesse. Es<br />

gibt weiterhin noch viele kleine äusserliche Veränderungen, die Ausdruck von wichtigen<br />

inneren Entwicklungen sind. Frau Sols Arme zum Beispiel waren jahrelang nach<br />

aussen gestreckt. Inzwischen hat sie ihre Arme und Hände entdeckt und macht immer<br />

mehr mit ihnen. Sie hat sie jetzt neben oder vor sich liegen. An dieser Entwicklung<br />

haben viele mitgearbeitet, insbesondere ihre Physiotherapeutin.<br />

18


Beiträge<br />

Wenn ich mir vergegenwärtige, mit welcher Mühe ich mich entwickle, und dies damit<br />

vergleiche, wie meine Arbeitskollegin ihre oft viel grösseren Schwierigkeiten bearbeitet,<br />

dann werde ich bescheiden. Ich werde aufmerksamer auf das, was Frau Sol bisher<br />

schon geleistet hat, ohne dass ich es wahrgenommen oder gewürdigt habe. Entwicklung<br />

zu erleben – auf beiden Seiten – ist immer eine grosse Freude und kann sich<br />

manchmal zum Glückserlebnis steigern.<br />

Hein Kistner (Dipl. Heilpädagoge, Biografiearbeiter) ist langjähriger Begleiter<br />

von Menschen mit schweren Behinderungen am Arbeitsplatz. Ausbildung zum<br />

Biografieberater im Werkplatz für individuelle Entwicklung (WIE).<br />

Anmerkungen<br />

(1) Name geändert<br />

(2) Humanus-Haus Beitenwil: Im Internet unter http://www.humanushaus.ch<br />

Literatur<br />

Kistner, H. (2005): Arbeit und Bewegung. Entwicklungsfördernde Arbeit für Menschen mit schweren<br />

Behinderungen. Verlag Selbstbestimmtes Leben, Düsseldorf.<br />

Kistner, H. (2012): Kraftvoll in die Zukunft! Zukunftskonferenzen für Menschen mit schweren Behinderungen.<br />

In: <strong>Seelenpflege</strong> in Heilpädagogik und Sozialtherapie, 1/2012, S. 45-53.<br />

Weiterführende Literatur<br />

Bundesvereinigung Lebenshilfe (2006): Schwere Behinderung – eine Aufgabe für die Gesellschaft.<br />

Lebenshilfe-Verlag, Marburg<br />

Hagen, J. (2001): Ansprüche an und von Menschen mit einer geistigen oder mehrfachen Behinderung<br />

in Tagesstätten. Lebenshilfe-Verlag, Marburg.<br />

Leben mit Behinderung Hamburg (2011): Ich kann mehr! Berufliche Bildung für Menschen mit<br />

schweren Behinderungen. 53GradNord, Hamburg.<br />

Lelgemann, R. (1996): Arbeit ist möglich! Arbeitshilfen und Arbeitsplätze für Menschen mit schweren<br />

und mehrfachen Behinderungen.<br />

Bundesverband f. körper- u. mehrfachbehinderte Menschen, Düsseldorf.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 19


Berichte<br />

Michael Gehrke<br />

Initiativ werden – Die Kunst des guten Handelns<br />

Bericht von der internationalen Tagung für Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />

Nach dem Thema ‹Bewusstseinsbildung› vor<br />

zwei Jahren war es gar nicht so leicht, den Titel<br />

für die diesjährige Tagung zu finden. Zu abgedroschen<br />

oder moralinsauer klingen Formulierungen<br />

wie der Titel verheisst, so Rüdiger Grimm<br />

bei der Begrüssung zur internationalen Tagung<br />

für Heilpädagogik und Sozialtherapie.<br />

Doch damit ist man bereits bei einem wichtigen<br />

Aspekt des Themas angelangt, der damit zusammenhängt,<br />

dass beim menschlichen Handeln<br />

immer die handlungsleitende Moral oder<br />

das Wertsystem eine Rolle spielt.<br />

In zahlreichen Beiträgen wurde dann auch<br />

deutlich, dass ‹gut› oder ‹richtig› zu handeln,<br />

insbesondere im therapeutischen Kontext, tatsächlich<br />

eine Kunst ist. Denn der «Schatten des<br />

menschlichen Handelns», wie Rüdiger Grimm<br />

es formulierte, ist natürlich allgegenwärtig, wie<br />

auf der anderen Seite «Geistesgegenwärtigkeit»<br />

eine Voraussetzung des guten Handelns ist.<br />

Von Johannes Denger wurden die unterschiedlichen<br />

Ebenen der richtunggebenden Kräfte für<br />

das Handeln herausgearbeitet, von der triebgesteuerten<br />

Tat bis hin zu der von Rudolf Steiner<br />

in der Philosophie der Freiheit beschriebenen<br />

moralischen Intuition, Phantasie und Technik.<br />

Die Norwegerin Bente Edlund, die in Deutsch<br />

vortrug, wies darauf hin, dass der Wille heute<br />

‹out› sei. Sie erinnerte in diesem Zusammenhang<br />

an Steiners Ausführungen über den Philosophen<br />

Brentano: «Sind wir nicht alle Kinder<br />

Brentanos?» – «Denken heisst Vorstellungen<br />

bewegen, verknüpfen, festhalten, fokussieren.<br />

Das verlangt Willenskraft». Mit dieser Formulierung<br />

machte Bente Edlund den Zusammenhang<br />

von sogenannter geistiger Behinderung und der<br />

Willensentwicklung deutlich, der bei der frühkindlichen<br />

und kindlichen Entwicklung in reziproken<br />

Prozessen von «oben nach unten» bzw.<br />

«unten nach oben» verläuft.<br />

Mit der Wirksamkeit unfreier Willensimpulse beschäftigte<br />

sich Ron Dunselmann, der jahrzehntelange<br />

Erfahrung in der Drogentherapie gesammelt<br />

hat und Autor des Buches mit dem für sich<br />

sprechenden Titel ‹An Stelle des Ich› ist. «Sucht<br />

ist, wenn es in der Seele eine Begierde gibt, die<br />

unwiderstehlich ist». Hiermit sprach er die Frage<br />

nach dem freien Willen an und beschrieb einen<br />

siebenstufigen Entwicklungsweg, der die Ausbildung<br />

und Läuterung des Willens beinhaltet.<br />

Über Bedingungen einer gemeinschaftlichen<br />

Ich-Kultur, in der hinter dem Konflikt Gemeinschaftsformen<br />

aufleuchten, in denen sich der<br />

Gegensatz von Punkt und Kreis aufhebt, reflektierte<br />

Michaela Glöckler. Als Aufgabe anthropo-<br />

20


Berichte<br />

Beim Podiumsgespräch<br />

sophischer Initiativen sieht sie, den Willen zur<br />

Menschlichkeit individuell, institutionell-sozial<br />

und hinsichtlich des Menschheitsganzen zu wecken<br />

und zu pflegen.<br />

Mithilfe von beeindruckendem Bildmaterial<br />

über den Begriff der Seele in Comenius‘ berühmtem<br />

Orbis sensualium pictus und der Skizze<br />

auf einem Notizblatt von Joseph Beuys zur<br />

Frage der Seelenkräfte illustrierte Walter Kugler<br />

seine Ausführungen über die Anthroposophie<br />

als Willenskultur.<br />

Am Abend des ersten Tages präsentierten Volker<br />

Frielingsdorf, Brigitte Kaldenberg und Rüdiger<br />

Grimm einem sehr interessierten Publikum<br />

Streiflichter aus der Geschichte der Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie.<br />

Neben den Vorträgen spielte sich ein buntes<br />

Tagungsgeschehen ab. Die über 800 Teilnehmerinnen<br />

und Teilnehmer aus 32 Ländern<br />

fanden sich zu 48 Arbeitsgruppen und zahlreichen<br />

freien Initiativen zusammen.<br />

Daneben sorgten die verschiedensten Angebote<br />

der ‹Kunst um halb drei› für belebenden Ausgleich<br />

zu den Vorträgen und Arbeitsgruppen.<br />

Als ein Highlight der Tagung darf durchaus das<br />

Podiumsgespräch am Vormittag des letzten<br />

Tages genannt werden, bei dem Menschen mit<br />

und ohne Behinderung ihre innovativen und beeindruckenden<br />

Projekte vorstellten.<br />

An den Abenden wurde mit einer Eurythmie-Aufführung<br />

des Eurythmieensembles der Goetheanum<br />

Bühne, einem Chorprojekt über Kaspar<br />

Hauser von der Lebensgemeinschaft Le Béal aus<br />

Frankreich und der Compagnia Dimitri für Kulturgenuss<br />

und Kurzweil gesorgt.<br />

Die Ausstellung ‹Rätsel› der Malerwerkstatt der<br />

Lebensgemeinschaft Vidaråsen umrahmte das<br />

Tagungsgeschehen und führte den Betrachter in<br />

die geheimnisvolle Welt der Künstler.<br />

Ein wichtiger Teil war aber wieder die nicht organisierte<br />

Zeit. Das Wiedersehen von alten Bekannten<br />

aus allen Teilen der Welt und viele neue<br />

Begegnungen machten die Zusammenkunft lebendig<br />

und interessant.<br />

Wieder einmal zeigte sich, dass die internationale<br />

Tagung für Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />

als ein Ereignis gelten kann, an dem der Puls<br />

der Zeit zu spüren ist. Der Veranstaltung diese<br />

Prägung gegeben zu haben, dafür sei Rüdiger<br />

Grimm und seinen Mitstreitern bei der Vorbereitung<br />

der Tagung gedankt.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 21


Jasminka Bogdanovic<br />

Impressionen aus der Ausstellung «Rätsel»<br />

Am Goetheanum vom 9. – 21. Oktober 2012 der ‹Malerverksted› in Vidaråsen (Norwegen)<br />

mit Bildern von Tore Janicki, David Johansen, Reidun Larsen, Arnkjell Ruud, Hannes Weigert<br />

Tore Janicki: Der Mensch im Geiste<br />

Malerwerkstatt<br />

Seit drei Jahren kommt Hannes Weigert<br />

täglich in die Malerwerkstatt. An den Vormittagen<br />

arbeitet er an seinen eigenen Bildern,<br />

an den Nachmittagen sind jeweils vier<br />

andere Malende dabei: Tore Janicki, David<br />

Johansen, Reidun Larsen und Arnkjell Ruud.<br />

Man redet nicht viel miteinander, karge, mehr<br />

hinweisende Worte, es gilt zu malen. Tische,<br />

Farben, Papiere, Pinsel, Stifte und alles Nötige<br />

für ein Mal-Atelier sind vorhanden.<br />

Hier ist keine Schule, kein Therapeutikum,<br />

keine Atelier-Gemeinschaft, und doch von<br />

allem ein wenig, noch andere Nuancen zulassend,<br />

das eigentliche Anliegen, den Raum für<br />

die Möglichkeiten des Schaffens zu öffnen.<br />

In dieser Werkstatt gilt kein Klischee von<br />

Behinderung, die individuellen Einschränkungen<br />

werden zugleich als besondere<br />

Gaben angesehen.<br />

Nach Aussage von Arnkjell Ruud ist Hannes<br />

Weigert der Chef, denn Hannes leitet die<br />

Werkstatt, indem er die Anregungen und<br />

Hilfestellungen für die Arbeit gibt. Ganz so<br />

will er sich aber nicht sehen, er lässt sich<br />

selbst von Anderen auch anregen in den ewig<br />

bohrenden künstlerischen Fragen, welche<br />

Hannes über das Feld der reinen Malerei<br />

erforschen will. Er versteht seine Tätigkeit als<br />

einem Produzenten ähnlich. Aufmerksam ver-<br />

22


Beiträge<br />

folgt er, wie sich das Team zu einem gleichgewichtig-unverwechselbaren<br />

Zusammenklang,<br />

welchen alle Beteiligten prägen, findet. Mit<br />

der Zeit durchklingt eine Art Sound die Atmosphäre<br />

der entstandenen Werke.<br />

Ohne ein für alle gültig vorgegebenes Thema<br />

richtet sich die Intention auf das Malen<br />

selbst. Das schöpferische Potenzial, jedem<br />

Menschen innewohnend, ist das Verbindende.<br />

Die Motive sind handlungsleitend und<br />

werden individuell gefunden.<br />

Davon zeugen die ausgestellten Bilder hier im<br />

Terrassensaal des Goetheanums. Es sind einundzwanzig<br />

fein eingerahmte Papierarbeiten:<br />

alle mit denselben Massen von 84X59 cm,<br />

Acryl auf Papier. Eine gewisse Frische und<br />

kindliche Freude des Schaffens erstrahlt in<br />

dem Raum. Das, was zu sehen ist, ist authentisch,<br />

fragt nicht nach Korrektur oder Ergänzung.<br />

David Johansen<br />

David Johansen: König<br />

Die Bilder von David Johansen sind reine<br />

Spiegel willentlich gesetzter Spuren der aufgetragenen<br />

Farben: sie könnten z.B. Tore,<br />

eine Katze darstellen. So das Bild ‹König›<br />

(2011): auf weissem Papier aufgetragen,<br />

abwechselnd das Rot und Violett, die Form<br />

einer Tür andeutend, darin angelehnt eine<br />

Gestalt, nach David Johansen ein König;<br />

zum König macht ihn der feierliche Klang der<br />

Farben und seine Positionierung. Er steht an<br />

einer Schwelle, denn ein guter König ist ein<br />

Verbindender, Begleiter, Beschützer, Bewacher<br />

seiner Untertanen. Der obere Teil der<br />

Schwelle wirkt in der Fläche mächtig, durch<br />

diese wird die Gestalt gestärkt, «gekrönt».<br />

Aber die Abstraktheit und das labile Gleichgewicht<br />

der gemalten Konstruktion lassen<br />

dieser Erzählung keinen dauerhaften Halt zu.<br />

Es drängen sich erneut die Farben, Linien und<br />

Flächen als reine Willensäusserungen hervor:<br />

Sie sind so, wie sie sind – nicht mehr und<br />

nicht weniger. Das Bild lässt an die Konkrete<br />

Kunst denken.<br />

Reidun Larsen<br />

Die Werke von Reidun Larsen sind motivisch<br />

aufgefasst: unmittelbar erlebte und<br />

klar sprechend wiedergegebene Bilder der<br />

Eurythmiefiguren. Wer diese kennt, wird die<br />

Reinheit und die Treffsicherheit im Erfassen<br />

des Wesentlichen an diesen Darstellungen<br />

finden. Das Bild ‹Eurythmiefigur P›<br />

(2012) wirkt durchtanzt, der rötlich violette<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 23


Beiträge<br />

«Schleier» macht um den rechten Arm der<br />

Figur eine Drehung, etwas Typisches für den<br />

Laut P: das Innere in leiblicher Beziehung<br />

stülpt sich nach aussen.<br />

Von der kindlichen Unbeholfenheit, der kindlichen<br />

Wesenhaftigkeit und Unmittelbarkeit,<br />

welche diese Bilder ausstrahlen, würden viele<br />

Künstler gerne lernen.<br />

Tore Janicki<br />

Diesen Eindruck bestätigen auch die Bilder<br />

von Tore Janicki. Nach Skizzen Rudolf Steiners<br />

hat er das Motiv ‹Der Mensch im Geiste›<br />

(2012) zweimal gestaltet. Das eine der Bilder<br />

stellt einen sitzenden, blauen Menschen im<br />

Profil, mit dem Buch in der Hand dar, ‹Ich›<br />

(norwegisch: Jeg) ist auf dem Buch zu lesen;<br />

sein Kopf mit Aureole gekrönt berührt ein<br />

grünes Engelwesen mit dem Zipfel seines<br />

Kleides und schaut aus dem Bild den Betrachter<br />

an, darüber schwebt ein orange-roter<br />

Engel lächelnd, beide anderen beschützend,<br />

so als ob er an einem über ihm noch höheren<br />

Wesen hängen würde. Von ihm aus scheint<br />

der helle Hintergrund auszustrahlen und<br />

alle die gemalten Gestalten zu umhüllen. Sie<br />

wirken wie durch ein unsichtbares Band, in<br />

der Senkrechten miteinander verbunden und<br />

voneinander abhängig. Freudige Lebenszuversicht<br />

strahlen sie aus. Etwas wie ein Ich-<br />

Gefühl des sich Aufrichtens stellt sich ein.<br />

Die Dreigliedrigkeit dieser einfachen Kompositionen<br />

wirkt einheitlich. Die Empfindung,<br />

in der Ganzheit der Welt beheimatet zu sein,<br />

spiegeln diese Blätter wider.<br />

Arnkjell Ruud<br />

Arnkjell Ruud ist ein begabter Maler. Künstlerische<br />

Freiheit und Originalität zeigen alle<br />

seine Portraits. Mittels Zeichnung und Farbe<br />

gibt er den betreffenden Personen Ausdruck.<br />

Ob nach einer Fotografie, einer Abbildung,<br />

oder sich selbst vor dem Spiegel malend, ein<br />

jedes Gesicht ist unverwechselbar. ‹Selbstbildnis›<br />

(2011) zeigt einen durchgrauten<br />

Mann in Untersicht. Der Kopf scheint sich aus<br />

dem Körper heraus zu ziehen. Visionär und<br />

in sich gefangen wirkt sein durch die Brille<br />

gefasster Blick, schweigsam die Lippen, ein<br />

Ohr, das aufmerksam hört.<br />

Ruhe in der Körperhaltung, Unruhe im<br />

Gesicht – duldsam heroisch zeigt er sich<br />

selbst: das menschliche Antlitz als Imagination<br />

des Ich.<br />

Hannes Weigert<br />

Inmitten dieser Schöpfungen reihen sich zwei<br />

Bilder von Hannes Weigert ein. Man könnte<br />

sie übersehen, wenn man alle anderen,<br />

schon Beschriebenen in Augenschein nimmt:<br />

Weil sie alle auffallender platziert sind, farbiger<br />

und linear ausgeprägter. Bei ihnen stellt<br />

sich die Befriedigung sofort wie bei einem<br />

Kinde ein. An diesen Bildern ist etwas in sich<br />

selbst sich Spiegelndes, etwas, was keine<br />

bohrenden Fragen und Zweifel kennt.<br />

Hannes Weigerts Bilder dagegen in Grau<br />

und Inkarnat gehalten, mit nur angedeuteten<br />

«Gesichten», wo positive und negative<br />

Formen ineinander greifen, sind deutungs-<br />

24


Reidun Larsen: Eurythmiefigur nach Rudolf Steiner (P)<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 25


Hannes Weigert: ohne Titel (nr.17)<br />

Reidun Larsen: Eurythmiefigur nach Rudolf Steiner (S)<br />

26


Arnkjell Ruud: Selbstbildnis (nr.7)<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 27


Beiträge<br />

offen, durchweht vom Selbstverständnis des<br />

Künstlers, seiner Autonomie, bestimmt durch<br />

das Kreuz des ewig Fragenden, ausgesetzt<br />

dem zähen Spiel zwischen zwei Wirklichkeiten:<br />

des Künstlers und dem Bild.<br />

In ‹Ohne Titel›, Nr. 17 (2012) eine uneinheitliche,<br />

offene graue Fläche, unterbrochen von<br />

einer etwas einheitlicheren rosig farbigen,<br />

geschlossenen Form, welche von der linken<br />

Seite klarer als von der rechten begrenzt ist.<br />

An der schärferen Berührungskante beider<br />

Farben bildet sich etwas wie ein Gesicht im<br />

Halbprofil. Sofort entsteht die Frage ... ? ...<br />

welche aber noch unformulierbar inne hält.<br />

In der rechten Ecke des Bildes die Zahl 17.<br />

Ist das Bild eine Variation der langen Zahlenreihe<br />

der Fragen?<br />

Das Leben mit Bildern<br />

Das Bild weist immer über sich selbst hinaus,<br />

es ist die Manifestation dessen, was es darstellt.<br />

Einer Maske ähnlich verhüllt es den<br />

Träger, das heisst, den darzustellenden<br />

Weltinhalt und es zeigt, was dieser in seiner<br />

Ganzheit nicht von selbst zu zeigen vermag.<br />

Das Bild hat Offenbarungscharakter. Die Projektion<br />

(die Darstellungstätigkeit) ist ein Prozess,<br />

welcher das ursprüngliche Wesen (den<br />

darzustellenden Weltinhalt) in einem ihm<br />

fremden Medium an einem anderen Ort und<br />

zu einer anderen Zeit zur Darstellung bringt.<br />

Das Medium können Farben, Töne, Bewegungen,<br />

Sprache usw. sein; diese bestimmen<br />

die Art der Darstellung. Das Medium ist die<br />

Projektions- oder Darstellungsfläche mit dem<br />

Anspruch, das Dargestellte so zu zeigen, wie<br />

es in seiner Wahrheit und Wirklichkeit ist,<br />

aber im Bilde und nicht durch die Erkenntnis.<br />

Das Bild ist nicht definierbar, aber sinnlich<br />

wahrnehmbar und erlebbar. Das ist der Weg<br />

der Kunst.<br />

Kunst ist der Zugang zur Wirklichkeit. Der<br />

Künstler schafft aus sich selbst heraus, er<br />

macht die Weltinhalte durch die Darstellung<br />

erfahrbar für die Wahrheit der Welt. Durch<br />

seine Tätigkeit tritt das Verborgene in die<br />

Sichtbarkeit; ein Wesen, was in seiner Unmittelbarkeit<br />

nicht erfasst werden kann, wird<br />

mittels der Darstellung erfassbar. Das Bild ist<br />

eines der selbstverständlichsten Wunder der<br />

Welt.<br />

Bild als Zeitgestalt<br />

Die Ausstellung «Rätsel» zeigt eine als Gesamtbild<br />

anschaubar gewordene Bildentstehung,<br />

aufgefächert in verschiedenen Stufen. Einzelne<br />

dieser Stufen von einem Malenden angefangen<br />

und durch den anderen fortgesetzt nach dem<br />

Mass der individuellen Fähigkeiten.<br />

Die Ausstellung verrät das ‹Bild› in seiner Zeitgestalt,<br />

die Freude des Weges, das Licht der<br />

Hoffnung, die Nähe der möglichen Lösung: Tore<br />

– Spiegel – Schwelle – berührend und rätselhaft.<br />

Hannes Weigert, geboren in 1964 in Deutschland, studierte<br />

und unterrichtete von 1985-1995 an der Malschule<br />

am Goetheanum und lebt seitdem in Norwegen.<br />

Projekte: Kores Haus (mit Patrick Müllerschön, 1996-<br />

2003), The School of Nature (innerhalb der Anthroposophischen<br />

Gesellschaft in Norwegen, 2003-2010),<br />

Lichtgold (Loidholdhof, Österreich, 2009), Malerverksted<br />

(Vidaråsen, Norwegen, seit 2009).<br />

Jasminka Bogdanovic ist magistrierte Kunstmalerin,<br />

Eurythmistin und Dozentin für das Fach Malen an der<br />

«AfaP», Dornach. Sie macht regelmässige Ausstellungen<br />

und beteiligt sich an der Projektarbeit zu Goethes Farbenlehre<br />

«Experiment FARBE», leitet künstlerische Seminare<br />

und Kunstreisen, hält kunstgeschichtliche Vorträge.<br />

Diverse literarische Beiträge für Fachzeitschriften<br />

28


Maximilian Buchka<br />

Aktuelle Entwicklungslinien in der Arbeit mit<br />

erwachsenen Menschen mit Behinderung<br />

Einleitung<br />

Im Folgenden möchte ich die Entwicklungslinien der Arbeit mit Erwachsenen auf die<br />

Gruppe der Menschen mit geistiger Behinderung eingrenzen und mich dabei besonders<br />

der Frage der Erwachsenenbildung für diesen Personenkreis zuwenden. Die<br />

Begriffe Andragogik und Erwachsenenbildung werden synonym verwendet.<br />

Begriff der Erwachsenenbildung (Andragogik)<br />

Der Begriff der Andragogik, abgeleitet von «aner = Mann, Mensch» und «ago = ich<br />

führe, leite, ziehe» ist «die Bezeichnung für die wissenschaftliche Behandlung der<br />

Fragen der Erwachsenenerziehung und -bildung. Der Begriff Andragogik ist für J. Dolch<br />

erforderlich, wenn «das Unterschiedliche gegenüber der Erziehung und Bildung von<br />

Kindern und Jugendlichen betont wird» (1965, S. 22). Auch für H. Hanselmann (vgl.<br />

1951, S. 20) ist es aus systematischer Sicht notwendig, dass es einen von der Pädagogik<br />

unterschiedlichen Begriff für die Erwachsenenbildung gibt, «obwohl die Pädagogik<br />

und die Andragogik mit all ihren Bemühungen ein und dasselbe Ziel verfolgen, die Bildung<br />

des Menschen» (S. 91). Neben Andragogik ist auch der deutsche Begriff Erwachsenenbildung<br />

geläufig. Er hat sich nach W. Strzelewicz (vgl. 1984, S. 183f.) einerseits<br />

aus der angelsächsischen Bezeichnung «adult education» entwickelt und andererseits<br />

aus der in der Reformpädagogik gebräuchlichen Bezeichnung für die Volksbildung.<br />

Es muss aber betont werden, dass, im Gegensatz zum deutschen Verständnis von<br />

Erwachsenenbildung, der im angelsächsischen Kulturkreis verwendete Begriff «adult<br />

education» nicht für eine individualistische Bildungsidee (Bildung für mich) steht, son-<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 29


Beiträge<br />

dern das damit die soziale Idee der Bildung (Bildung durch und für die Gesellschaft)<br />

gemeint ist, oder anders ausgedrückt: «Adult education» bezeichnet die «Befähigung<br />

zum alltäglichen, mitmenschlichen Zusammenleben» (Pöggeler 1974, S. 29).<br />

Geschichte der Erwachsenenbildung (Andragogik)<br />

Die Anfänge der Andragogik lassen sich bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen.<br />

Die Idee der Aufklärung, die den gebildeten Menschen zum Ziel hatte,<br />

die politischen Umwälzungen im Rahmen der Freiheitskriege, die den Bürgern eine<br />

Demokratisierung ihrer politischen Systeme brachten, die totale Veränderung der<br />

Industrieproduktion und der damit einher gehende Wandel der Arbeits- und Berufswelt,<br />

die immer stärker zu beobachtende soziale Mobilität sowie die aktive Einbeziehung<br />

der Frauen in Politik, Beruf und Gesellschaft machten eine lebenslange Bildung<br />

erforderlich, ergänzend zu der sehr oft ungenügenden Schulbildung. Zu Beginn der<br />

Entwicklung der Andragogik war es ihre wichtigste Aufgabe, die noch mangelnde<br />

Schulbildung auszugleichen, im Sinne einer kompensatorischen Bildung. Nach der<br />

Verbesserung der Schulbildung wurde in der Erwachsenenbildung Wert gelegt auf<br />

eine komplementäre Bildung, die auf Dauer eine Neueinstellung auf die veränderte<br />

Situation in Familie, Beruf und Gesellschaft durch erwachsenengemässe Lernmethoden<br />

ermöglichen sollte («life long learning»).<br />

Mit der Aufwertung der Erwachsenenbildung zu einem tertiären Bildungsangebot<br />

wurden in Deutschland Gesetze auf den Weg gebracht, die diese zu einem integrierten<br />

Teil des öffentlichen Bildungswesens gemacht haben, auf der Basis der Empfehlungen<br />

des Deutschen Bildungsrats im Strukturplan zum Bildungswesen für die<br />

Bundesrepublik Deutschland von 1970, in der die Erwachsenenbildung als tertiäres<br />

Bildungsangebot beschrieben wurde (vgl. 1972, S. 199f.).<br />

Aufgaben der Erwachsenenbildung (Andragogik) bei Menschen mit geistiger Behinderung<br />

Die Forderung nach andragogischer oder Erwachsenen-Bildung für Menschen mit geistiger<br />

Behinderung schien nicht unumstritten zu sein. Hanselmann war z. B. noch<br />

der Meinung, dass nur Erwachsene, die durch die vorangegangene Erziehung und<br />

Bildung im Kindes- und Jugendalter sich voll entwickelt hätten, für eine Andragogik<br />

in Frage kämen. Menschen mit Behinderungen, die dieses Ziel nur mit wesentlichen<br />

Einschränkungen erreichen, «bedürfen nach Abschluss der ihnen angemessenen Bildungszeit<br />

als Erwachsene, an Stelle der Andragogik, einer organisierten, sachkundig<br />

und ‹lebenslänglich nachgehenden Fürsorge›, um ihr individuelles Lebensglück<br />

30


Beiträge<br />

(und) ihre beschränkte soziale Brauchbarkeit (…) zu sichern» (1951, S. 24). Vielleicht<br />

sind diese Vorbehalte Hanselmanns hinsichtlich der Andragogik bei Menschen mit<br />

geistiger Behinderung auf seinen unklaren Selbstbildungsbegriff zurückzuführen. Für<br />

ihn war eine Selbstbildung von Erwachsenen mit geistiger Behinderung noch sehr<br />

umstritten, da er sich für diesen Personenkreis nur eine geplante Bildung (im Sinne<br />

geplanter Lern- bzw. Unterrichtsprozesse) durch ausgebildete Lehrende vorstellen<br />

konnte.<br />

Diese negative Selbstbildungssicht von Hanselmann für erwachsene Menschen mit<br />

geistiger Behinderung blieb lange Zeit in der Heil- und Sonderpädagogik gültig. So<br />

war noch 1969 Kobi der Meinung, dass eine Andragogik bei Menschen mit geistiger<br />

Behinderung, er bezeichnete sie als Geistesschwache, sehr schwierig sei, insbesondere<br />

für schwer behinderte Menschen. Er führte aus: «Mit den Geistesschwachen<br />

haben wir Menschen vor uns, die in ihrem ganzen Wesen ‹anders› sind. Dieses<br />

Anderssein lässt sich nicht durch äussere Hilfen ganz oder teilweise kompensieren.<br />

Schwere Schwachsinnsgrade verunmöglichen die Verselbständigung und machen<br />

auch im Erwachsenenalter eine dauernde Betreuung (nachgehende Fürsorge) erforderlich.<br />

Die Möglichkeiten einer sonderpädagogischen Erwachsenenbildung sind<br />

daher, soweit es sich um Bildungsunfähige handelt, minimal» (Kobi 1969, S. 804).<br />

Wenn er auch bei dieser Personengruppe gewisse Vorbehalte hinsichtlich einer<br />

Erwachsenenbildung hatte, bejahte Kobi jedoch eine allgemeine sonderpädagogische<br />

Erwachsenenbildung und verstand sie als die Gesamtheit der Bemühungen<br />

um die Förderung psychisch oder physisch geschädigter Erwachsener mit dem Ziel,<br />

diesen die Anpassung innerhalb der Gesellschaft zu erleichtern und ihnen Wege zu<br />

zeigen, wie sie, trotz ihrer Behinderung, zu einem erfüllten Leben und zur Teilhabe am<br />

kulturellen Leben ihrer Mitwelt finden können (vgl. 1969, S. 802).<br />

Die Zurückhaltung in damaliger Zeit gegenüber einer Andragogik für erwachsene<br />

Menschen mit geistiger Behinderung führt Speck u. a. darauf zurück, dass erst eine<br />

solche Bildung als notwendig erkannt wurde, nachdem die personalen und sozialen<br />

Lebensmöglichkeiten durch neue heil- und sonderpädagogischen Massnahmen<br />

erweitert wurden in Verbindung mit einem Verständniswandel über den erwachsenen<br />

Menschen mit geistiger Behinderung, der jetzt nicht mehr als das «stehen gebliebene<br />

Kind» oder der «unmündiger Mensch» angesehen wurde (vgl. 1982, S. 11).<br />

In der Neuauflage des «Enzyklopädischen Handbuchs der Sonderpädagogik» wurde<br />

endlich der Anschluss an die gegenwärtige Bildungsdiskussion in der allgemeinen<br />

Andragogik oder Erwachsenenbildung hergestellt. Kerkhoff (vgl. 1992, S. 183f.) geht<br />

dabei, wie in der allgemeinen Andragogik üblich, von der spezifischen Sozialsituation<br />

und Bedürfnislage ihrer Teilnehmer aus, die sich für ihn bei der Personengruppe der<br />

Menschen mit Behinderung durch das Faktum ihrer Behinderung spezifiziert.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 31


Beiträge<br />

Der besondere Zuschnitt der Andragogik für erwachsene Menschen mit Behinderung liegt<br />

für Kerkhoff darin, dass auch ihnen die «Teilhabe, Mitgestaltung und Mitentscheidung an<br />

den Entwicklungs- und Umformungsprozessen in allen Lebensbereichen» (1992, S. 183)<br />

ermöglicht werden muss. Eine weitere Zielakzentuierung liegt darin, schulische Defizite<br />

auszugleichen oder dass die in der Schulzeit gelernten Inhalte und Fertigkeiten im Verlauf<br />

des Lebens nicht wieder verloren gehen (vgl. Kerkhoff 1992, S. 184).<br />

Ein Desiderat ist derzeit noch die Bildung erwachsener Menschen mit einer schweren<br />

geistigen Behinderung in Kombination mit weiteren Beeinträchtigungen. Es ist<br />

klar, dass diese Zielgruppe von der Andragogik nicht ausgeschlossen werden darf.<br />

Die Bildung der erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung darf sich nicht<br />

strukturell, sondern nur graduell unterscheiden von der Bildung der Menschen ohne<br />

Behinderung. Notwendig jedoch ist, dass das Verständnis von Bildung für diese Personengruppe<br />

geändert werden muss. Es orientiert sich nicht mehr am humanistischen<br />

Bildungsideal, sondern sie muss besonders die alltagsorientierte Bildung zum<br />

Ziel haben. Für Bühler und Schlienger (1991, S. 12) heisst das z. B.:<br />

- «Bilden heisst orientieren an den Bedürfnissen und am Lernwillen der betroffenen Person;<br />

- Bilden heisst erschliessen der kulturellen und individuellen Bedeutung von<br />

Gegenständen und Beziehungen;<br />

- Bilden heisst ausgehen von konkreten Situationen, die der Alltag bietet;<br />

- Bilden heisst ermöglichen von grundlegenden Erfahrungen;<br />

- Bilden heisst fördern von Eigenaktivitäten;<br />

- Bilden heisst gemeinsam handeln mit den Betroffenen.»<br />

Allgemeine Konzepte der Erwachsenenbildung (Andragogik) bei Menschen mit<br />

geistiger Behinderung<br />

Bei den didaktischen Entwürfen hinsichtlich einer allgemeinen Erwachsenenbildung<br />

(Andragogik) für Menschen mit geistiger Behinderung kann man drei bedeutende<br />

Konzepte unterscheiden:<br />

- Die heilpädagogische Erwachsenenbildung,<br />

- die systemische Erwachsenenbildung und<br />

- die integrative Erwachsenenbildung.<br />

Das Konzept der heilpädagogischen Erwachsenenbildung<br />

Für Theunissen (1991) ist die Erwachsenenbildung (Andragogik) bei Menschen mit<br />

geistiger Behinderung als eine heilpädagogische zu konzipieren. Mit dem Begriff des<br />

«Heilpädagogischen» möchte er das «Ganzheitliche» und den «ökologisch-systemischen<br />

Lebensvollzug» (Speck 1996) in seinem Konzept deutlicher hervorheben.<br />

32


Beiträge<br />

Weiterhin ist es sein Bestreben, diese Form der Erwachsenenbildung stärker im pädagogischen<br />

Raum zu verorten und ihre vorrangigen pädagogischen und didaktischen<br />

Leitlinien deutlicher zu machen. Das «Heilende» versteht er mit Kobi im umfassenden<br />

Sinne der Verganzheitlichung und Sinnerfüllung des Lebens. Die Aufgaben richten<br />

sich dabei auf «behindertenbezogene (Lern-)Hilfen und Gelegenheiten ‹zum beglückenden<br />

Miteinanderseins› (Speck), auf Momente wie Lebenssinn, Lebensfreude und<br />

Daseinsgestaltung» (Theunissen 1991, S. 28).<br />

Durch die Verortung seiner «Heilpädagogischen Erwachsenenbildung» im pädagogischen<br />

und therapeutischen Raum werden für Theunissen dabei Funktionen wichtig,<br />

die in der Tradition der Heilpädagogik liegen, z.B. die:<br />

- Emanzipatorische Funktion<br />

als Überwindung der Hindernisse bei der Verwirklichung der Selbstbestimmung<br />

durch mögliche Fremdbestimmungen. Diese Funktion gilt sowohl für die Betroffenen<br />

wie auch für das soziale und gesellschaftliche Umfeld;<br />

- Kompensatorische Funktion<br />

als Notwendigkeit des Nachholens und Ausgleichens von Defiziten und des Suchens<br />

nach einem Ausgleich für zu einschränkende Bedingungen (z. B. Wohnen, Arbeiten);<br />

- Komplementäre Funktion<br />

als Informationsvermittlung, Aufklärung, Lernhilfe und Unterstützung zur<br />

Bewältigung gesellschaftlicher Realität, um zur Partizipation und zur emanzipierten<br />

Beteiligung am kulturellen Erbe fähig zu sein;<br />

- Integrative Funktion<br />

als Vernetzung und Integration der verschiedenen Bildungsangebote der<br />

Institutionen (Werkstatt, Wohnheim, Freizeitclub);<br />

- Therapeutische Funktion<br />

als Hilfen zu physisch-psychischem Wohlbefinden, zum Abbau psychischer Krisen<br />

oder spezifischer Beeinträchtigungen, zur Beseitigung von Verhaltensauffälligkeiten,<br />

zur Ich-Findung, zum Aufbau eines positiven Selbstwertgefühls und<br />

Sozialverhaltens, Verbesserung einer realistischen Selbst- und Fremdwahrnehmung<br />

sowie Stabilisierung der Identität.<br />

Hier muss allerdings kritisch angefragt werden, ob diese therapeutische Funktion<br />

überhaupt dem oben genannten Bildungsgedanken zugeordnet werden kann.<br />

Die «Heilpädagogische Erwachsenenbildung» geht für Theunissen über die bisherige<br />

Erwachsenenbildung als Volkshochschulbildung hinaus und hat für ihn ihren Einsatzort<br />

in allen Lebensräumen des Erwachsenen mit geistiger Behinderung. Er nimmt auch<br />

keine weitere Einteilung nach Schweregraden und Ausprägungsformen der geistigen<br />

Behinderung vor, da sie grundsätzlich für alle Teilnehmenden zugänglich sein muss.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 33


Beiträge<br />

Grundsätzlich soll sich die «Heilpädagogische Erwachsenenbildung» bei allen ihren<br />

Angeboten und Aktivitäten am primären Lebensraum der Teilnehmerinnen und Teilnehmer<br />

orientieren, darüber hinaus aber auch zusätzliche Angebote zur gesellschaftlichen<br />

Integration machen (vgl. Theunissen 1991, S. 65f.).<br />

Kritisch muss vermerkt werden, dass die heilpädagogische Erwachsenenbildung sich<br />

explizit auf die Personengruppe der Menschen mit Behinderung richtet, zum Teil defizitorientiert<br />

ist und von der Grundanlage her auch nicht so konzipiert ist, dass auch<br />

nicht behinderte Mitglieder an dieser heilpädagogischen Erwachsenenbildung teilnehmen<br />

können.<br />

Weiterhin ist sie, didaktisch betrachtet, eine sog. zielgruppenorientierte Erwachsenenbildung<br />

(vgl. Albers et al. 1989). Diese wurde entwickelt, um für besonders<br />

benachteiligte Gruppen in der Gesellschaft den Anschluss an diese und die Teilnahme<br />

an ihr zu ermöglichen. In der sonderpädagogischen Andragogik wird das Konzept der<br />

zielgruppenorientierten Erwachsenenbildung insbesondere von Erika Schuchardt<br />

(1987) auf der Basis ihrer Biografieforschung vertreten. Das Zielgruppenkonzept ist<br />

nicht ohne Kritik geblieben, weil sie z. B. für Schwarte fast immer defizitorientiert<br />

ist. Dadurch kämen immer mehr Therapieangebote mit ins Bildungsprogramm, die<br />

seiner Meinung nach nichts in der Erwachsenenbildung zu suchen hätten (vgl. 1991,<br />

S. 19). Durch diese defizitorientierte Ausrichtung der heilpädagogischen Zielgruppen-<br />

Erwachsenenbildung «und der daraus folgenden Tendenz zur Homogenisierung der<br />

Bildungsangebote für verschiedene Zielgruppen des Adressatenkreises der ‹sozial<br />

Benachteiligten›» (Lindmeier 2000, S. 174) sowie durch die Exklusivität der Bildungsorte<br />

(z. B. Werkstatt oder Wohnheim für behinderte Menschen) finden diese Angebote<br />

der heilpädagogischen bzw. zielorientierten Erwachsenenbildung bei nicht behinderten<br />

Menschen wenig Zuspruch und bekommen dadurch einen integrations- bzw.<br />

inklusionsfeindlichen Charakter.<br />

Das Konzept der systemischen Erwachsenenbildung<br />

Das Systemische in der Erwachsenenbildung meint:<br />

- «einerseits, dass die Lernprozesse von den Lernbedürfnissen der zu den primären<br />

Bezugssystemen gehörenden Personen ausgehen müssen, und zwar unter<br />

Berücksichtigung der Bedingungen, die deren Entwicklungsmöglichkeiten<br />

bestimmen,<br />

- andererseits, dass bei der Organisation von Lernprozessen die Hilfsquellen<br />

mobilisiert werden, die in den Systemen zur Verfügung stehen, in denen der<br />

Behinderte mit seinen Angehörigen lebt» (Linden/Schwarte 1985, S. 178).<br />

Die «Systemische Erwachsenenbildung» (Linden/Schwarte 1965; Schwarte 1991)<br />

zeichnet sich dadurch aus, dass das soziale Umfeld mit in die Erwachsenenbildung<br />

34


Beiträge<br />

einbezogen wird. Die Autoren gehen dabei einerseits von einem umfassenden Lernbegriff<br />

und andererseits von dem Gedanken aus, dass «langfristig wirksame, erfahrungsbedingte<br />

Verhaltensänderung bei Menschen mit geistiger Behinderung nicht in Gang<br />

gebracht werden kann, wenn sich nicht das umgebende soziale Bezugssystem mit<br />

verändert» (1985, S. 174). Die allgemeine Zielsetzung der Erwachsenenbildung bei<br />

Menschen mit geistiger Behinderung wie Selbstständigkeit, Persönlichkeitsbildung<br />

und soziale Partizipation ist allein noch keine konkrete Bestimmung dessen, was eine<br />

systemische Erwachsenenbildung ausmacht, erst der emanzipatorische Ansatz, der<br />

sich aus ihrer Erwachsenenrolle ergibt, macht es möglich, die Beeinträchtigung durch<br />

die Behinderung zu minimieren. «Dazu bedarf es dringend der Einbeziehung des sozialen<br />

Umfeldes, das ja Behinderung im eigentlichen Sinne erst hervorbringt» (Linden/<br />

Schwarte 1985, S. 175).<br />

Aus der systemischen Arbeit heraus ergeben sich für diese Form der Erwachsenenbildung<br />

bei Menschen mit geistiger Behinderung drei Ansatzpunkte:<br />

1. Die Erwachsenenbildung soll die Selbstständigkeit der Teilnehmenden mit geistiger<br />

Behinderung unterstützen durch neu erworbene Handlungsmöglichkeiten, die<br />

diese in ihren Alltag einbringen können;<br />

2. Die Erwachsenenbildung soll möglichst in realen Situationen stattfinden,<br />

deshalb ist es wichtig, ein breites Spektrum realer Lebenssituationen zu finden, in die<br />

die Lernbegleiter einbezogen werden können;<br />

3. Laienhelfer aus dem sozialen Umfeld und auch Mitarbeiter aus anderen sozialen<br />

Netzwerken und Bezugssystemen sollen mit in der Erwachsenenbildung tätig werden<br />

(vgl. Linden/Schwarte 1985, S. 177f.).<br />

Beim konkreten Lernprozess müssen dann auf allen Entscheidungsebenen, die der<br />

Orientierung, der Analyse/Zielfindung, der Planung/Strategieentwicklung sowie der<br />

Überprüfung/Evaluation die verschiedenen sozialen Bezugssysteme immer mit einbezogen<br />

werden, damit nicht ausschliesslich der Mensch mit Behinderung, sondern<br />

stets auch das soziale Umfeld mit erfasst wird. Dabei ist die Frage der institutionellen<br />

Anbindung nachrangig, wenn bei den «Überlegungen die Kriterien des Normalisierungsprinzips<br />

und der Gemeinwesensorientierung mit bedacht werden» (Linden/<br />

Schwarte, 1985, S. 181).<br />

Das Konzept der integrativen Erwachsenenbildung<br />

In den letzten Jahren hat sich das Verständnis von Integration verändert. Sie «bedeutet<br />

jetzt nicht mehr Angleichung, Nivellierung, Verstehen um jeden Preis, sondern<br />

Anerkennung von kultureller, geschlechtlicher, altersspezifischer Differenz, von Vielfalt<br />

und Pluralität. Die Grenzen des Fremdverstehen werden erkannt und anerkannt»<br />

(Siebert zit. nach Lindmeier 2000, S. 177).<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 35


Beiträge<br />

Dieses neue Integrationsverständnis hat den Ansatz der «Zielgruppenorientierten<br />

Erwachsenenbildung» in Frage gestellt, in der die Lebensweltprobleme nur einer<br />

Zielgruppe zum Thema gemacht werden, die dann auch noch in der Regel in einer<br />

homogenen Gruppe der Mitglieder der jeweiligen (Sub-)Kultur abgehandelt wurden,<br />

selbst wenn es das Ziel dieses Ansatzes war, die Mitglieder der (Sub-)Kultur in die<br />

Gesellschaft zu integrieren. Als Revision dieses Ansatzes, in Verbindung mit dem<br />

erweiterten Begriff von Integration, beginnt sich für Lindmeier (vgl. 2000, S. 177f.)<br />

ein neuer Ansatz in der Erwachsenenbildung zu entwickeln, den er «integrative<br />

Erwachsenenbildung» nennt. In diesem Modell wird jede integrative Bildungssituation<br />

zu einem Interaktionsprozess, in der ein interkultureller Austausch stattfinden<br />

kann über die unterschiedlichen lebensweltlichen Erfahrungen der Teilnehmenden,<br />

die wechselseitig von ihnen als ‹fremd› erlebt werden. Das Thema des Fremd- und<br />

Selbstverstehens wird zur zentralen Aufgabe der integrativen Erwachsenenbildung,<br />

nicht nur in Bezug auf ausländische Teilnehmerinnen und Teilnehmer, sondern auch<br />

auf sog. ‹inländische› Repräsentanten einer fremden (Sub-)Kultur, wie z. B. die der<br />

Menschen mit geistiger Behinderung.<br />

Fremdheit wird nicht mehr als ein objektiver Tatbestand hingenommen, sondern «als<br />

eine die eigene Identität in positiver Hinsicht herausfordernde Erfahrung angesehen»<br />

(Lindmeier 2000, S. 178). In der «Integrativen Erwachsenenbildung» ist Fremdheit<br />

die Basis, um mit Mitgliedern anderer (Sub-)Kulturen in Beziehung zu treten, um sich<br />

mit ihnen über die jeweiligen eigenen Identitäten auszutauschen, die vielleicht vom<br />

Anderen als etwas «Fremdes» erlebt wird.<br />

Ziel ist es, «seine eigene Position und Sichtweise als eine Möglichkeit unter anderen<br />

zu erkennen und dabei zu sehen, dass das, was und wie ich es als fremd erlebe, sehr<br />

wesentlich von meinen eigenen Lebenserfahrungen und meiner Biografie abhängt»<br />

(Schäfter zit. nach Lindmeier 2000, S. 178). Zugleich lernen die Mitglieder auch, dass<br />

die anderen die eigenen Eigenheiten als «fremd» artikulieren, auch wenn das für die<br />

Betroffenen kaum nachvollziehbar ist, weil sie nicht verstehen können, dass jemand<br />

sie selbst als etwas «Fremdes» erlebt.<br />

Das «Fremde» selbst wird nach Schäfter (zit. nach Lindmeier 2000, S. 178f.) ganz<br />

unterschiedlich erlebt, z. B. als das Auswärtige, Fremdartige, Unbekannte und letztlich<br />

als das Unerkennbare. Didaktisch wird das Thema in der Dialektik von Gleichheit<br />

und Differenz aufgearbeitet. In der Bildungsmassnahme lernen die Teilnehmenden,<br />

dass man sich in Fragen des sozialen Lebens nicht einseitig am Phänomen der Gleichheit<br />

orientieren darf, sondern sie lernen in gemeinsamen Gruppenaktivitäten, dass<br />

man auch immer Zusammenhängendes und Überschneidendes erkennen muss, um<br />

das ganze Bild zu erhalten.<br />

36


Beiträge<br />

Mit diesem Ansatz reiht sich die integrative Erwachsenenbildung ein in das neue Verständnis<br />

einer Arbeit mit und bei Menschen mit geistiger Behinderung, die davon<br />

ausgeht, dass sie nicht mehr in Sonderinstitutionen geleistet werden darf. «Es geht<br />

vielmehr darum, in Kooperation und Erlebnisgemeinschaft mit den Menschen, die wir<br />

als (geistig) behindert bezeichnen, die dynamische Balance von Fremdheit und Nähe,<br />

Gleichheit und Verschiedenheit im Sinne einer Verlebendigung und Humanisierung<br />

unserer (Bildungs-)Kultur wirksam werden zu lassen» (Lindmeier 2000, S. 182).<br />

Das Konzept der sozialtherapeutischen Erwachsenenbildung<br />

Bevor wir auf die sozialtherapeutische Erwachsenenbildung eingehen, soll vorab<br />

geklärt werden, was wir unter Sozialtherapie, resp. unter solcher mit einem anthroposophischen<br />

Profil, verstehen.<br />

Zum Begriff der Sozialtherapie<br />

Der Begriff Sozialtherapie entwickelte sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts, in der<br />

«erste Gedanken über Zusammenhänge psychischer Erkrankungen mit den sozialen<br />

Lebensbedingungen und dem sozialen Umfeld der Patientinnen/Patienten formuliert»<br />

(Baer 1996, S. 9) wurden. In Deutschland wurde 1926 der Begriff ‹Sozialtherapie›<br />

von Elias Salomon in die Medizin eingeführt. Mit sozialtherapeutischen Massnahmen<br />

sollte das soziale Umfeld des Patienten verbessert oder verändert werden, um damit<br />

auch seine Befindlichkeit und Eingliederungsfähigkeit positiv zu verändern. Diese<br />

sozial- und heilpädagogischen Arbeitsansätze wurden anfangs noch als medizinische<br />

Methoden angesehen. Deshalb bezeichnete sie Victor von Weizäcker 1947 noch als<br />

eine psychotherapeutische Methode. Er schreibt: Mit Sozialtherapie wird «die soziale<br />

Mitwelt [...] gezielt beeinflusst und verändert, um damit dem psychisch und psychosomatisch<br />

kranken Menschen zu helfen» (zit. nach Baer 1996, S. 10).<br />

Wegen der disziplinübergreifenden Verortung der Sozialtherapie zwischen Medizin,<br />

Sozial- und Heilpädagogik fällt es nach wie vor schwer, eine eindeutige Definition zu<br />

finden. In Anlehnung an Petzold (1997) hat Sozialtherapie in unserem Verständnis<br />

einerseits die Aufgabe, bei Menschen mit geistiger Behinderung gefährdete oder<br />

beschädigte Beziehungen zwischen ihm und den Mitmenschen abzubauen und<br />

positive neu herzustellen, damit er wieder in geordnete soziale Bezüge und Kontexte<br />

kommen kann, andererseits wird durch Sozialtherapie ein Gemeinwesen von psychisch<br />

gefährdenden oder psycho-sozial krank machenden Faktoren befreit, damit sie<br />

auf den Menschen mit geistiger Behinderung einen heilenden Einfluss nehmen kann.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 37


Beiträge<br />

Zum Begriff der anthroposophischen Sozialtherapie<br />

Aus begrifflich-phänomenologischer Sicht kann die anthroposophische Sozialtherapie<br />

wie folgt beschrieben werden:<br />

- Sie befasst sich mit den sozialen Hintergründen somatischer, psychischer und<br />

sozialer Störungen (vgl. Gaertner 1982, S. 8);<br />

- sie will misslungene Sozialisationsprozesse verändern und dem sozial geschädigten<br />

Menschen zu einer ihm gerechten Lebensführung in Sinne einer sozialen<br />

Emanzipation befähigen (vgl. Haag o.J., S. 929);<br />

- sie schliesst, im Gegensatz zur klassischen Sozio- und Sozialtherapie, auch die<br />

sozioökologische Gestaltung der Lebenswelt (Natur, Technik, Kultur) des Menschen<br />

mit Behinderung mit in ihr Konzept ein (vgl. Stein 1983, S. 48);<br />

- sie ist ein intermethodisches Konzept, weil darin präventive, kurative, rehabilitative,<br />

sozialfürsorgerische und sozialökologische Methoden mit eingeschlossen sind (vgl.<br />

Melzer 1979, S. 213).<br />

Zusammenfassend kann man festhalten:<br />

Anthroposophische Sozialtherapie richtet sich an Menschen, die durch ein individuell-biografisches<br />

Schicksal in Form von Krankheit, Sozialbeeinträchtigung, psychosozialen<br />

Störungen oder Behinderungen in der Gesellschaft noch nicht integriert<br />

sind oder von ihr ausgegrenzt werden. «Menschen mit Behinderungen sind aufgrund<br />

ihrer leiblichen und seelischen Lebensbedingungen und durch die gesellschaftliche<br />

Wirklichkeit auf besondere Hilfe und Unterstützung angewiesen. Sie brauchen daher<br />

Lebensverhältnisse, in denen ihre besondere Situation berücksichtigt und in der sie<br />

als Persönlichkeiten wertgeschätzt werden» (Grimm o.J., S. 32).<br />

Ziele der anthroposophischen Sozialtherapie<br />

Es gibt verschiedene Zugänge zu den Zielbestimmungen der anthroposophischen<br />

Sozialtherapie. Man kann einerseits den Begriff der Bildung zur Unterscheidung<br />

wählen und darauf hinweisen, dass im Kindes- und Jugendalter die Fremdbildung<br />

vorrangig ist, im Gegensatz zur Selbstbildung im Erwachsenenalter. Andererseits<br />

kann auch die therapeutische Bedeutung des Sozialraumes herausgestellt werden,<br />

d. h., dass Ziele für das gemeinsame Leben, Arbeiten und Kulturschaffen formuliert<br />

werden, wie sie in klassischer Weise von den Dorf- und Lebensgemeinschaften angestrebt<br />

werden (König 1994).<br />

Wir wollen an das Paradigma der Sozialtherapie als ‹heilende Entwicklungsraumgestaltung›<br />

erinnern, dass der leider viel zu früh verstorbene Armin Küttner zu Beginn<br />

unseres Millenniums in die Diskussion eingeführt hat.<br />

38


Beiträge<br />

Um die heilende Intention in der anthroposophischen Sozialtherapie näher zu bestimmen,<br />

hat er Passagen zum Heilen aus dem Heilpädagogischen Kurs von Rudolf Steiner<br />

(1967) analysiert. Den Begriff des Heilens von Steiner interpretiert Küttner auch als<br />

einen sozialtherapeutischen, weil es darauf ankommt, «den Menschen in die Lage zu<br />

versetzen, ‹Ich› zu werden und das Gleichgewicht zu finden zwischen Verhärtung und<br />

Auflösung, Illusion und Zwang, Selbstüberschätzung und Resignation» (2000a S. 14).<br />

- Eine erste Aufgabe der Sozialtherapie sollte sein, dass der Mensch mit Behinderung<br />

fähig wird, «Moralität und Urteilsfähigkeit gegenüber sich selbst und der Umwelt zu<br />

entwickeln, um eigene geistige Impulse verwirklichen zu können» (S. 14). Mit dem<br />

‹Ich› wird in diesem Zusammenhang ein mehrschichtiges Phänomen verstanden, das<br />

sich als Selbst über mehrere Stufen durch körperliche und seelische Prozesse hinweg<br />

entwickelt, im Kern als geistiges ‹Ich› jedoch unversehrt ist, trotz einer sogenannten<br />

geistigen Behinderung (vgl. S. 15).<br />

- Zur zweiten Aufgabe der Sozialtherapie gehört es, die Umwelten des Menschen mit<br />

Behinderung als soziale Entwicklungsräume so zu gestalten, damit er «die grundlegenden<br />

Ich-Erfahrungen und die seelischen Gebärden der kindlichen Entwicklung<br />

nachvollziehen kann, um, wenn notwendig, sie nachreifen zu lassen. Dadurch wird<br />

die seelische Entwicklung nach dem 21. Lebensjahr wesentlich unterstützt und<br />

gefördert» (S. 15).<br />

- Eine dritte Aufgabe der Sozialtherapie im Zusammenhang mit dem Heilungsbegriff<br />

nach Steiner sieht Küttner darin, für den Menschen mit geistiger Behinderung spezalisierte<br />

Hilfen zur Selbsterziehung bzw. -bildung anzubieten. Es sind Hilfen zur Interpretation<br />

seiner Lebenswelt, da jeder Mensch darauf angewiesen ist, sich selbst und<br />

seine Lebenswelt zu interpretieren, um sich als eigenständiges Ich im Kontext seiner<br />

Umwelt erleben und identifizieren zu können. Diese spezialisierten sozialtherapeutischen<br />

Hilfen sind darauf angelegt, dass auch der Mensch mit geistiger Behinderung<br />

eine eigene Lebenswelt erhält, «unter Umständen eine ganz individuell angepasste<br />

kleine Welt, die es ermöglicht, sich selbst in der Mitte zu erleben. Gelingt dies, kann<br />

man auch Menschen mit schwerer geistiger Behinderung so ins Gleichgewicht bringen,<br />

dass sie uns – und sei es nur für Momente – in voller Präsenz als Ich gegenüber<br />

treten» (S. 16).<br />

Mit diesem Verständnis von Sozialtherapie, die auf den Heilungsbegriff von Steiner<br />

zurückgeht, gewinnt unserer Meinung nach die anthroposophische Sozialtherapie ein<br />

eigenständiges Profil im Kontext anderer sozialtherapeutischer Erklärungsmodelle.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 39


Beiträge<br />

Zum Konzept der sozialtherapeutischen Erwachsenenbildung<br />

Die sozialtherapeutische Erwachsenenbildung hat das Leitziel der Emanzipation<br />

oder Autonomie des erwachsenen und alten Menschen mit geistiger Behinderung.<br />

Sie korrespondiert konzeptionell mit der von Speck entwickelten emanzipatorischen<br />

Erwachsenenbildung. Dieser liegt die Leitidee des möglichst selbstständig lebenden<br />

erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung zu Grunde, «der zu einer gestärkten<br />

Identität gefunden hat, so dass er in seinen eigenen Lebensbedürfnissen in sozialer<br />

Eingegliedertheit nachkommen und sich im Rahmen seiner individuellen Möglichkeiten<br />

auch aktiv am gesellschaftlichen Leben beteiligen kann» (Speck 1982, S. 29).<br />

Das emanzipatorische Konzept der anthroposophisch-sozialtherapeutischen Erwachsenenbildung<br />

geht von einem Menschenbild aus, das den Menschen mit geistiger<br />

Behinderung als einen lernfähigen Erwachsenen mit eigenen Bedürfnissen und<br />

Kompetenzen ansieht, dem Entscheidungen zugetraut werden und dem ein Leben in<br />

normaler Daseinsgestaltung zusteht. Sie orientiert sich als pädagogisches Konzept<br />

an den Ideen der emanzipatorischen Pädagogik, deren Leitziel es ist, die sozialen<br />

Ungerechtigkeiten durch Bildung zu überwinden. Ihr Anliegen ist es, den Menschen<br />

zu befähigen, Ungleichheiten und Einschränkungen des persönlichen Lebens zu<br />

erkennen und ihn darin zu bestärken, dass er diese überwinden kann, letztlich ihn zu<br />

unterstützen, in aktiver Teilhabe am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können.<br />

Zu den Zielen der sozialtherapeutischen Erwachsenenbildung<br />

Aus dem o. a. Leitziel der Emanzipation können dann, in Verbindung mit der Konkretisierung<br />

des Heilungsgedankens von Rudolf Steiner im Heilpädagogischen Kurs<br />

(1967), mit seinen Angaben in der Anthroposophischen Menschenkunde (1982) und<br />

mit dem, was Armin Küttner (2000a und b), Rüdiger Grimm (o.J.) und Johannes Denger<br />

(1993) ausgeführt haben, zwei Teilzielbereiche der anthroposophisch geprägten<br />

sozialtherapeutischen Erwachsenenbildung benannt werden:<br />

1. Teilzielbereich: Persönlichkeits- bzw. Ichbildung (mit folgenden Bildungszielen):<br />

- Findung des Gleichgewichts zwischen Verhärtung und Auflösung, Illusion und Zwang,<br />

Selbstüberschätzung und Resignation mit dem Ziel der Ichbildung;<br />

- Fähig werden zu Moralität und Urteilsfähigkeit gegenüber sich selbst und der<br />

Umwelt, um eigene Entwicklungs- und Bildungsimpulse zu verwirklichen;<br />

- Nachvollzug der grundlegenden Ich-Erfahrungen und der seelischen Gebärden der<br />

kindlichen Entwicklung, um, wenn nötig, eine optimale Nachreifung zu ermöglichen.<br />

40


Beiträge<br />

2. Teilzielbereich: Öko-soziale und psycho-soziale Entwicklungsraumgestaltung<br />

(mit folgenden Bildungszielen):<br />

- Nutzen von spezialisierten/individualisierten Hilfen zur Selbsterziehung und Selbstbildung<br />

in sozialen Kontexten;<br />

- Nutzen von Bildungshilfen, die zu einer geistigen, sittlichen und wirtschaftlichen<br />

Selbstbestimmung führen, um sich in das Wirtschafts-, Rechts- und Geistesleben<br />

seiner Gemeinschaft integrieren zu können;<br />

- Finden von Interpretationshilfen für sich, d. h., für sein individuelles und soziales<br />

Leben im Kontext seiner sozialen Lebenswelten;<br />

- Erfahren der existenziellen Bedeutung des eigenen Ichs und seiner Lebenswelt als<br />

sinnhafte Werte und Qualitäten.<br />

Zur Didaktik der sozialtherapeutischen Erwachsenenbildung<br />

Ihr Ziel ist es, für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung «Entwicklungsprozesse<br />

[...] zu fördern und den dafür notwendigen Rahmen zur Verfügung zu stellen.<br />

Dazu gehört es, soziale Integration, Selbstfindung und Selbstverwirklichung und<br />

die Entwicklung von Mündigkeit zu fördern, die die Möglichkeit zur geistigen, sittlichen<br />

und wirtschaftlichen Selbstbestimmung schafft» (Küttner 2000b, S. 32). Diese<br />

anthroposophisch-sozialtherapeutischen Hilfen werden, das ist ihr Spezifikum, im<br />

sozialen Kontext angeboten. Sie wird in, für und durch eine Sozietät geleistet, damit<br />

der erwachsene Mensch mit geistiger Behinderung in das Wirtschafts-, Rechts- und<br />

Geistesleben seiner Gemeinschaft und Gesellschaft integriert werden kann.<br />

Eine besondere sozialtherapeutische Qualität sozialtherapeutischer Erwachsenenbildung<br />

auf anthroposophischer Grundlage ist es, «gerade auch jene Menschen, deren<br />

Lebens- und Entwicklungsalter auseinander klaffen, ihrem Lebensalter gemäss als<br />

Erwachsene anzusprechen. Dieses Bemühen schafft ein heilsames Gemeinschaftsklima,<br />

das dem Einzelnen seine Würde verleiht und lässt» (Denger 1993, S. 143).<br />

In einer solchen heilenden Gemeinschaftsatmosphäre kann der erwachsene Mensch<br />

mit geistiger Behinderung sein eigenes Ich entwickeln unter Zuhilfenahme der durch<br />

die Sozietät bereitgestellten sozialen Entwicklungsräume, in der er die existentielle<br />

Bedeutung des eigenen Ichs erfahren und seine Lebenswelt als eine sinnhafte erleben<br />

kann, die dadurch eine die Persönlichkeit stärkende Wirkung auf ihn hat.<br />

Zur Methodik der sozialtherapeutischen Erwachsenenbildung<br />

Methodisch gesehen bietet die anthroposophisch-sozialtherapeutische Erwachsenenbildung<br />

vorbeugende, unterstützende, ausgleichende, abbauende oder<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 41


Beiträge<br />

auch aufbauende Hilfen an, damit die erwachsenen Menschen mit geistiger<br />

Behinderung mit ihrer Schicksalsaufgabe individuell fertig werden können.<br />

In der Methodik des Lehrens und Lernens unterscheidet sich diese Form der Erwachsenenbildung<br />

nur graduell von der allgemeinen Andragogik, wenn auch sonderpädagogische<br />

Akzentuierungen (Bach) angebracht erscheinen.<br />

Die methodischen Leitideen können in Anlehnung an Tietgens wie folgt beschrieben werden:<br />

- «Ernstnehmen der Lerngewohnheiten und Lernschwierigkeiten der Teilnehmenden<br />

durch mögliche Differenzierungen;<br />

- vorhandene Lernerfahrungen bewusst machen, vorhandenes Wissen mobilisieren<br />

und mit dem neu zu lernenden Inhalt in Zusammenhang bringen (Anschlusslernen);<br />

- inhaltlich und methodisch Neuartiges dosiert einführen und stufenweise steigern,<br />

damit kein Widerstand entsteht und schrittweise Aneignung möglich ist;<br />

- von Zeit zu Zeit lernanregende Erfahrungen der Leistungsfähigkeit vermitteln;<br />

- einen Interaktionsstil anregen, der durch gegenseitige Hilfsbereitschaft ein soziales<br />

Klima entstehen lässt, das ein angstfreies Lernen erlaubt;<br />

- auf Grundlegendes konzentrieren, Anwendbares hervorheben und den Umgang mit<br />

dem Gelernten fördern» (1997, S. 135).<br />

Zusammengefasst kann man diese verschiedenen Interaktionsformen als: «lernzielbezogen<br />

– problemorientiert – gestaltungsbestimmt» (Tietgens 1977, S. 135)<br />

bezeichnen. Sie prägen, mehr oder weniger, auch die Didaktik und Methodik der<br />

sozialtherapeutischen Erwachsenenbildung auf anthroposophischer Grundlage.<br />

Ausblick<br />

Zusammenfassend kann man festhalten, wenn sich die sich konstituierende anthroposophisch-sozialtherapeutische<br />

Erwachsenenbildung orientiert<br />

- am Gedanken, dass die gebrochene oder gefährdete Individualität des Menschen<br />

mit geistiger Behinderung durch die Sozialtherapie in den heilenden Kontext seiner<br />

Sozietät gestellt werden kann,<br />

- wenn sie dabei die Möglichkeiten nutzt, die eine sozialtherapeutische Einrichtung<br />

durch die Gestaltung und Bereitstellung von öko-sozialen und psycho-sozialen Erfahrungs-,<br />

Erlebnis- und Begegnungsräumen bietet und<br />

- wenn sie sich auf den individuellen und sozialen Heilungsgedanken ausrichtet, den<br />

Steiner im Heilpädagogischen Kurs (1967), in der Interpretation von Küttner (2000a;<br />

2000b), dargelegt hat,<br />

dann kann dieses Konzept zu einem eigenen erwachsenenpädagogischen Profil<br />

gelangen und dadurch zu einer unübersehbaren Konzeptvariante in der sonderpädagogischen<br />

Andragogik bzw. Erwachsenenbildung werden.<br />

42


Beiträge<br />

Maximilian Buchka ist Professor an der Alanus Hochschule für Kunst und<br />

Gesellschaft/Alfter im Fachbereich Bildungswissenschaft. Zudem hat er<br />

seit fast zehn Jahren eine Gastprofessur für Heilpädagogik an der Comenius<br />

Universität Bratislava/Slowakei inne.<br />

Literatur<br />

Albers, R. et al. (1989): Erwachsenenbildung mit Menschen die als geistig behindert gelten. Erfahrungen<br />

an der Volkshochschule Oldenburg. Geistige Behinderung, 28, Einhefter, S. 1-28.<br />

Arnim, G. von (2000): Bewegung, Sprache, Denkkraft. Der geistige Impuls der Heilpädagogik. Hrsg.<br />

von R. Steel. Verlag am Goetheanum, Dornach.<br />

Baer, U. (1996): Sozialtherapie. Versuch einer Begriffsbestimmung. In: Baer, U. (Hg.): Kreative<br />

Sozialtherapie. Ausgewählte Artikel aus der Zeitschrift Sozialtherapie. LIT Verlag, Münster, S. 9-25.<br />

Bühler, T.; Schlienger, I. (1991): Erwachsenenbildung – auch für Menschen mit schwerster geistiger<br />

Behinderung? In: Erwachsenenbildung und Behinderung, 1, S. 9-11.<br />

Denger, J. (1993): Heilpädagogik und Sozialtherapie auf anthroposophischer Grundlage. In: Glöckler,<br />

M.; Schürholz, J.; Walker, M. (Hg.): Anthroposophische Medizin. Ein Weg zum Patienten. Verlag<br />

Freies Geistesleben, Stuttgart, S. 140-145.<br />

Deutscher Bildungsrat (1972): Strukturplan für das Bildungswesen. Empfehlungen der Bildungskommission<br />

(4. Aufl.), Stuttgart.<br />

Dolch, J. (1965): Grundbegriffe der pädagogischen Fachsprache (8. Aufl.), Ehrenwirth, München.<br />

Gaertner, A. (1982): Sozialtherapie. Hinweise zur Reorganisation therapeutischer Praxis . In: Gaertner,<br />

A. (Hg.): Sozialtherapie. Konzepte zur Prävention und Behandlung des psychosozialen Elends.<br />

Luchterhand, Neuwied/Darmstadt, S. 1-44.<br />

Grimm, R. (o.J.): Sozialtherapeutische Gemeinschaft. Normalisierung, Salutogenese und Individualisierung<br />

in der Lebensgestaltung. In: Gartenhof, L. (Hg.): Festschrift. St. Martin (Österreich), S. 29-36.<br />

Haag, F. (o.J.): Sozialtherapie. In: Hahn, P. (Hg.): Psychologie des 20. Jahrhunderts. Band IX: Ergebnisse<br />

der Medizin 1. Psychosomatik. Kindler Verlag, München, S. 929-946.<br />

Hanselmann, H. (1951): Andragogik. Wesen, Möglichkeiten, Grenzen der Erwachsenenbildung. Rotapfel,<br />

Zürich.<br />

Kerkhoff, W. (1992): Erwachsenenbildung. In. Dupuis, G.; Kerkhoff, W. (Hg.): Enzyklopädie der Sonderpädagogik,<br />

der Heilpädagogik und ihrer Nachbargebiete. Fundus, Berlin, S. 183f.<br />

Kobi. E.E. (1969): Sonderpädagogische Erwachsenenbildung. In: Heese, G.; Wegener, H. (Hg.): Enzyklopädisches<br />

Handbuch der Sonderpädagogik und ihrer Grenzgebiete. Band 1 (3. Aufl.). Marhold,<br />

Berlin, S. 802-805.<br />

König, K. (1994): Der Impuls der Dorfgemeinschaft. Menschenkundliche Grundlagen für das Zusammenleben<br />

von Erwachsenen mit und ohne Behinderung. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart.<br />

Küttner, A. (2000a): Sozialtherapie – Heilende Agogik. In: <strong>Seelenpflege</strong> in Heilpädagogik und Sozialtherapie,<br />

19. Jg., S. 13-16.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 43


Beiträge<br />

Küttner, A. (2000b): Sozialtherapie. Leben und Arbeiten mit erwachsenen Menschen mit Behinderung.<br />

In: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft, Nr. 6, S. 11-34.<br />

Linden, H.; Schwarte, N. (1985): Erwachsenenbildung für Menschen mit geistiger Behinderung,<br />

Überlegungen zu einem systemischen Ansatz. In: Geistige Behinderung. 25. Jg., Heft 3, S. 171-181.<br />

Lindmeier, C. (2000): Integrative Erwachsenenbildung im Interesse von Menschen mit (geistiger)<br />

Behinderung. In: Markowetz, R.; Cloerkes, G. (Hg.): Freizeit im Leben behinderter Menschen. Theoretische<br />

Grundlagen und sozialintegrative Praxis. Edition Schindele, Heidelberg, S. 171-184.<br />

Melzer, G. (1979): Sozialtherapie und die Sozialtherapeutische Anstalt. Erfahrungen in der Behandlung<br />

chronisch Krimineller. Stuttgart<br />

Petzold, H. G. (1997): Soziotherapie und SoziotherapeutInnen – ein Beruf ohne Chance? Grundsätzliche<br />

und programmatische Überlegungen. In: Sticht, U. (Hg.): Gute Arbeit in schlechten Zeiten.<br />

Suchtkrankenhilfe im Umbruch. Lambertus Verlag, Freiburg i. Br., S. 57-115.<br />

Pöggeler, F. (1974): Erwachsenenbildung. Einführung in die Andragogik. Kohlhammer, Stuttgart/<br />

Berlin/Köln/Mainz<br />

Schuchardt, H. (1987): Schritte aufeinander zu. Soziale Integration behinderter durch Weiterbildung.<br />

Zur Situation in der Bundesrepublik Deutschland. Klinkhardt, Bad Heilbrunn<br />

Schwarte, N. (1991): Erwachsenenbildung für Menschen mit geistiger Behinderung. In: Bundesvereinigung<br />

Lebenshilfe für geistig Behinderte e.V. (Hg.): Erwachsenenbildung für Menschen mit geistiger<br />

Behinderung. Referate und Presseberichte. Marburg, S. 11-35<br />

Speck, O. (1982): Erwachsenenbildung bei geistiger Behinderung eine Grundlegung. In: Speck, O.<br />

(Hg.): Erwachsenenbildung bei geistiger Behinderung. Grundlagen, Entwürfe, Berichte. Reinhardt<br />

Ernst Verlag, München, S. 11-42.<br />

Speck, O. (1996): System Heilpädagogik. Eine ökologisch-reflexive Grundlegung (3. Aufl.). Reinhardt<br />

Ernst Verlag , München.<br />

Stein, A. (1983): Sozialtherapeutisches Rollenspiel. Erfahrungen einer Methode der psychosozialen<br />

Behandlung im Rahmen der Sozialarbeit/Sozialpädagogik. Luchterhand, Frankfurt a.M./ Berlin/<br />

München.<br />

Steiner, R. (1967): Heilpädagogischer Kurs. Zwölf Vorträge, gehalten in Dornach vom 25. Juni bis 7.<br />

Juli 1924 vor Ärzten und Heilpädagogen (4. Aufl.). Rudolf Steiner Verlag, Dornach.<br />

Steiner, R. (1982): Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik. Menschenkunde und<br />

Erziehungskunst. Ein Vortragskurs bei der Begründung der Freien Waldorfschule in Stuttgart vom 21.<br />

August bis 5. September 1919 (Erster Teil). 21.-23. Tsd. (ungekürzte Ausgabe der 1. Aufl. von 1932).<br />

Rudolf Steiner Verlag, Dornach.<br />

Theunissen, G. (1991): Heilpädagogik im Umbruch. Über Bildung, Erziehung und Therapie bei geistiger<br />

Behinderung. Lambertus Verlag, Freiburg i. Br.<br />

Tietgens, H. (1997): Erwachsenenbildung. Volkshochschulen, Verbände, Initiativen, Bildungsstätten.<br />

In: Krüger, H.-H.; Rauschenbach, T. (Hg.): Einführung in die Arbeitsfelder der Erziehungswissenschaft<br />

(2. Aufl.). UTB - Leske + Budrich, Opladen, S. 125-139.<br />

Strzelewicz, W. (1984): Erwachsenenbildung. In: Wulf, C. (Hg.): Wörterbuch der Erziehung (6. Aufl.).<br />

Piper, München/Zürich, S. 183-186.<br />

44


«Edition Anthropos» – eine neue Buchreihe<br />

In der Kooperation des Verlags am Goetheanum, Dornach und des Athena Verlags, Oberhausen<br />

konnte erfreulicher Weise unter der Herausgeberschaft von Rüdiger Grimm eine neue Buchreihe –<br />

«Edition Anthropos» – konzipiert werden. Die ersten drei Bände sind bereits erschienen.<br />

Sie löst die seit einiger Zeit eingestellte «Dornacher Reihe» der Edition SZH ab, in der viele Jahre<br />

lang die Tagungsbände der Reihe «Heilen und Erziehen» wie auch Dissertationen erschienen sind.<br />

Auch die neue Reihe beginnt mit erfolgreich abgeschlossenen Dissertationen, die wertvolle Beiträge<br />

für die wissenschaftliche Weiterentwicklung der anthroposophischen Heilpädagogik darstellen.<br />

Den ersten Band bildet die umfassende Studie «Der biografische Mythos als pädagogisches Leitbild»,<br />

in dem Jan Göschel, leitender Mitarbeiter der heilpädagogischen Ausbildung in «Beaver Run»<br />

(USA) die Grundlagen der Kinderkonferenz als transdisziplinäre Förderplanung in ihren Schritten und<br />

Mikroschritten genauestens untersucht und sie methodisch als offenen Prozess im Sinne Scharmers<br />

«Theory U» darstellt.<br />

Der zweite Band stammt von Andreas Fischer, Leiter der heilpädagogischen Ausbildung in Dornach<br />

(Schweiz), der unter dem Titel «Zur Qualität der Beziehungsdienstleistung in Institutionen für Menschen<br />

mit Behinderungen» die Wirksamkeit des QM-Verfahrens «Wege zur Qualität» empirisch untersucht hat.<br />

Band drei beinhaltet die Arbeit «Beziehungsgestaltung in der Begleitung von Menschen mit Behinderung»<br />

von Pim Blomaard, Geschäftsführer der niederländischen Raphael-Stiftung, in der er der Frage<br />

einer beziehungsorientierten Heilpädagogik in umfassender Weise nachgeht.<br />

Auch Band vier und fünf stehen bereits am Horizont: <strong>2013</strong> erscheinen die Dissertation über «Integration<br />

und Waldorfpädagogik» von Ulrike Barth und darüber hinaus das Buch über die «Geschichte der anthroposophischen<br />

Heilpädagogik» von Volker Frielingsdorf, Rüdiger Grimm und Brigitte Kaldenberg.<br />

Redaktion<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 45


Marion Josek<br />

Anthroposophische Musiktherapie für erwachsene<br />

Menschen mit Behinderung<br />

Anthroposophische Musiktherapie bietet neben der eigentlichen Wirkung der Musik<br />

auch die therapeutische Beziehung als Mittel an. Diese findet ihren Ausdruck in der<br />

Art und Weise, wie Therapeut und Klient – auch nonverbal über Mimik, Gestik oder<br />

musikalische Dialoge – miteinander interagieren und ermöglicht somit vielfältige Ausdrucksmöglichkeiten<br />

für jeden. Das ist eine grosse Stärke, da sie damit ganz auf die<br />

verbale Sprache verzichten kann. Die Qualität der therapeutischen Beziehung hängt<br />

von einer adäquaten Kommunikationsaufnahme ab, die sich am Entwicklungsstand<br />

und den verbalen, intellektuellen und kognitiven Fähigkeiten des Klienten orientiert.<br />

Mit diesem Aufsatz möchte ich einen Beitrag zum Verständnis des Erstkontaktes in<br />

der Anthroposophischen Musiktherapie leisten und auf die Bedeutung einer erwachsengemässen<br />

Diagnostik hinweisen.<br />

Entstehung und Anfänge der anthroposophischen Musiktherapie<br />

Die Anthroposophische Musiktherapie für Menschen mit geistiger Behinderung entstand<br />

seit den 1950er Jahren wesentlich aus der musikalisch-therapeutischen Arbeit<br />

durch Julius Knierim und wurde so Teil des Therapieangebotes innerhalb der anthroposophischen<br />

Heilpädagogik (Beilharz 2004). Vertieft wurde sie durch Beiträge von<br />

Hans-Heinrich Engel (2005) zu einer musikalischen Anthropologie, die eine physischmusikalische<br />

Sichtweise bekräftigten, sowie Forschungen zu den Wirkkräften der<br />

Musik (Dörfler 1975, Oberkogler 1987, Pfrogner 1976). Einen weiteren Impuls setzte<br />

Maria Schüppel mit einer mehr am klinischen Bild orientierten Musiktherapie (Stückert<br />

1997).<br />

Zwei Akzente<br />

Es kristallisierten sich für mich in den letzten Jahren zwei Akzente heraus, die sich vor<br />

allem aus der Historie sowie den Erfordernissen der Klientel ergaben, nämlich eine<br />

«anthroposophisch begründete heilpädagogische Musiktherapie» (Lindenberg 2004)<br />

und eine mehr klinisch akzentuierte anthroposophische Musiktherapie (Felber 2003).<br />

46


Beiträge<br />

In diesem Zusammenhang stellten sich spezifische Fragen nicht nur nach diesen<br />

beiden Akzenten, sondern entstanden auch in meiner eigenen musiktherapeutischen<br />

Praxis mit erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung. Einen besonders wichtigen<br />

Punkt stellte dabei die Frage nach der angemessenen Diagnostik dar, denn<br />

daran orientieren sich die Therapieplanung und das weitere Vorgehen. Zwei Fragen<br />

sind in diesem Zusammenhang von zentraler Bedeutung:<br />

Welche Erkenntnisse will ich von einer Diagnostik gewinnen?<br />

Bei dem Ziel, einen Menschen möglichst genau in kurzer Zeit kennenzulernen, steht<br />

dem anthroposophischen Musiktherapeuten für die Diagnostik ausser der Dreigliederung<br />

des Menschen in Nerven-Sinnes-System, Rhythmisches System und Stoffwechsel-<br />

Gliedmassen-System (Steiner 1983) auch eine Orientierung an bipolaren Prozessen<br />

wie der Konstitution, der Schwingungsfähigkeit zwischen Innen und Aussen sowie der<br />

Handlungsfähigkeit zwischen Strukturieren und Fliessen (Pütz 2008) zur Verfügung.<br />

Zudem hat sich eine Ergänzung durch weitere diagnostische Verfahren aus der behindertenpädagogischen,<br />

der kindermusiktherapeutischen sowie der psychologischen<br />

Diagnostik als lohnenswert herausgestellt.<br />

In der Arbeit mit erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung ist es von zentraler<br />

Bedeutung, den Entwicklungsstand des Klienten zu berücksichtigen. Als dafür<br />

sehr hilfreich hat sich das Instrument zur Einschätzung der Beziehungsqualität (EBQ)<br />

nach Schumacher/Calvet (2007) gezeigt. Einen weiteren Aspekt bieten die aus anthroposophischer<br />

Betrachtung basierenden sogenannten ‹Krankheitsbilder›, die diagnostisch<br />

in dem Instrument zur Beurteilung der kindlichen Konstitution weiterentwickelt<br />

wurden (Baars/Niemeijer 2004). Sie erlauben eine Beurteilung nach den sechs polaren<br />

Krankheitsbildern aus dem Heilpädagogischen Kurs von Rudolf Steiner (1990).<br />

Was braucht der erwachsene Mensch mit Behinderung?<br />

Meine Erfahrung ist, dass erwachsene Menschen unabhängig von einer geistigen<br />

Behinderung das Bedürfnis sowie die Fähigkeit haben, sich selbst zu steuern. So<br />

stimme ich Rogers (1951) in dem zu, dass Therapie ganz allgemein ein Lernprozess<br />

ist, deren Lernerfolg primär vom Klienten abhängig ist. Der Therapeut kann als Wegbegleiter<br />

Sicherheit und Bindung geben, damit sich der Klient nach Maslows (1973)<br />

Prinzip zwischen den Polen Wachstum und Sicherheit bewegen kann.<br />

Darüber hinaus gehören auch Selbstbestimmung und Transparenz in ein musiktherapeutisches<br />

Setting, ganz den Richtlinien eines erwachsengemässen Lernens, wie den<br />

andragogischen Kernprinzipien nach Knowles et al. (2007) folgend.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 47


Beiträge<br />

Ich möchte mit der anschliessenden Tabelle einen Eindruck in diese Prinzipien aus<br />

musiktherapeutischer Sicht sowie einen praxisorientierten Ansatz in der Arbeit mit<br />

geistig behinderten Menschen darstellen.<br />

Eine weitere Sichtweise ist das Modell zur Entwicklung von Lebensepochen (Levinson<br />

1979, Steiner 1996), das den Erwachsenen befähigt, aus der eigenen Ich-Identität<br />

heraus zu leben. Greift man diese Lebensübergänge bewusst auf, können sie als<br />

zusätzliche Lernmotivation genutzt werden. Deshalb ist es für eine verstehende Diagnostik<br />

wichtig, dass Veränderungen und Übergänge im Leben eines Erwachsenen<br />

beachtet werden, da sie auch Anlass für Krisen sein können. Hierbei kann der Therapeut<br />

altersgemässe Entwicklungsthemen in Form von Interpretationshilfen anhand<br />

der individuellen Biographie anbieten.<br />

Therapiemotivation<br />

Für den Erfolg einer Therapie ist es ganz entscheidend, woher die Therapiemotivation<br />

kommt. In diesem Zusammenhang gibt es einen signifikanten Unterschied zwischen<br />

Erwachsenen ohne Behinderung gegenüber Erwachsenen mit geistiger Behinderung,<br />

für die meist Dritte, wie Eltern oder Betreuer aufgrund von etwa auffälligem Verhalten<br />

oder Krisen die Entscheidung zur Therapie fällen. Für den Erfolg einer Therapie ist es<br />

aber erforderlich, dass der Klient zustimmt. Daher ist es von elementarer Bedeutung,<br />

diese ‹Über-den-Kopf-hinweg-Entscheidung› schon im Erstkontakt aufzugreifen und<br />

nachzuvollziehen.<br />

Andragogische Kernprinzipien<br />

1. Wissensbedürfnis<br />

- Warum<br />

- Was<br />

- Wie<br />

Diagnostik mit Erwachsenen<br />

ohne Behinderung<br />

Informationen über Ziele und<br />

Absichten der Musiktherapie.<br />

Ablauf der TherapiestundeErwartungen,<br />

Musikalisches<br />

besprechen.<br />

Therapieziele oder Zwischenziele<br />

formulieren<br />

2. Selbstkonzept Lernender Welchem Lerntyp gehört der<br />

Klient an? Wieviel Selbstinstruktion<br />

ist möglich, wie<br />

viel Eigenverantwortung will er<br />

in Bezug auf das Lernen übernehmen,<br />

wie setzt er sich kritisch<br />

mit Veränderungen oder<br />

seiner Autonomie auseinander?<br />

Nimmt er Selbsthilfe an?<br />

Diagnostik mit Erwachsenen<br />

mit geistiger Behinderung<br />

Ziele und Absichten können<br />

oft nicht verbal besprochen<br />

werden. Somit ist es nützlicher,<br />

erlebnisorientiert zu<br />

arbeiten. Anleitung zum Spielen<br />

der Instrumente geben<br />

und Spielräume ermöglichen.<br />

Kann meist nur über das<br />

erlebnisorientierte Arbeiten<br />

erkannt werden.<br />

Oftmals entsteht im Erstkontakt<br />

noch kein Bild vom<br />

Selbstkonzept.<br />

48


3. Vorerfahrung des Lernenden Bei der Anamneseerhebung Oft verschleiern überangepasste<br />

nach Vorerfahrungen (ggf.<br />

Verhaltensweisen oder<br />

auch nach dem Therapiebereich)<br />

herausforderndes Verhalten<br />

fragen.<br />

die Identität. Bei Kommuni-<br />

kationsstörungen muss die<br />

Information von Dritten eingeholt<br />

werden. Das kann zu<br />

Fehleinschätzungen führen.<br />

4. Lernbereitschaft Wo ist die Frage, wo die Fragestellung kann meist<br />

Not? Soll eine Entwicklung nur musikalisch, auch durch<br />

stattfinden? Therapeutische erlebnisorientiertes Arbeiten,<br />

zum Ausdruck gebracht<br />

Sicherheit versus Wachstum<br />

berücksichtigen. Ermittlung werden. Beobachten der<br />

von Schwächen und Stärken nonverbalen Kommunikation<br />

in Bezug auf die Verbesserung reflektiert die Lernbereitschaft.<br />

von Selbstakzeptanz. Reflexion<br />

zeigt Entwicklungschancen<br />

Beobachten, ob Klient<br />

bereit ist, sich auf Entwick-<br />

auf. Transparenz stärkt lungen einzulassen. Grenzen<br />

die Therapie. Nicht unnötig des Klienten wahrnehmen<br />

ausdehnen.<br />

und akzeptieren.<br />

5. Lernorientierung Auseinandersetzung mit Erfahrungsorientiertes Lernen<br />

krankheitstypischen Gestaltungsphänomenen<br />

in Beziehung zum Alltag<br />

und -defi-<br />

setzen. Das systemische<br />

ziten. Herausfinden, was im Umfeld beachten. Hier kann<br />

Alltag behindert. Selbstregulationsfähigkeit<br />

auch ein klärendes Gespräch<br />

hinsicht-<br />

mit Dritten notwendig sein,<br />

lich einer Übertragung in die um belastende Situationen zu<br />

Lebensführung aufzeigen, verändern. Neue Erfahrungsspielräume<br />

Regression besprechen.<br />

erproben.<br />

6. Lernmotivation Empathische Grundhaltung Aufzeigen von Lern- und Entwicklungsstufen,<br />

in der therapeutischen Beziehung,<br />

wo will der Klient hin? meist musi-<br />

kalisch aufgegriffen.<br />

Zukunftsaspekte aufzeigen.<br />

Praxis des Erstkontaktes<br />

Die Diagnostik des Erstkontaktes, auf die sich meine Therapieplanung gründet, entsteht<br />

über vier Therapieeinheiten. So bezieht sie sowohl die Leitlinien des BVAKT (Pütz<br />

2008), als auch weitere Diagnostikverfahren ein und ist um eigene praxis- und klientenspezifische<br />

Aspekte erweitert:<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 49


Beiträge<br />

- Ärztliche Diagnose durch den Heimarzt,<br />

- Fremd- und Eigenanamnese: Vorgespräch mit Betreuern, parallele Therapien,<br />

Beschwerdebild, biografische Besonderheiten, Klärung, woher die Indikation für<br />

Musiktherapie kommt (will der Klient?), musikalische Vorerfahrungen,<br />

- Fragebogen zur Lebensqualität, ggf. als Leitfadeninterview gestellt,<br />

- phänomenologische Wahrnehmung: Ersteindruck, physisches Erscheinungsbild,<br />

Vitalität, Durchlebtheit der Gestalt, Äusserung im Seelischen,<br />

Persönlichkeitspräsenz, Intentionen und Motive, Temperament,<br />

- diagnostische Werk- und Prozessbetrachtung, das ist das ‹praktische Werk› des<br />

Klienten während der Therapiestunden,<br />

unter Berücksichtigung von<br />

- der Beurteilung der polaren Konstitutionsbilder (ermittelt aus dem Instrument zur<br />

Beurteilung der kindlichen Konstitution),<br />

- dem Entwicklungsstand (festgestellt aus dem EBQ-Befund).<br />

Methodischer Aufbau der therapeutischen Einheiten<br />

Im Erstkontakt halte ich mich, wenn möglich, an einen festen Ablauf, um mit dieser<br />

Struktur für eine Einschätzung einen vorzugsweise objektiven Rahmen zu bieten.<br />

Die Therapiestunde beginnt mit dem Begrüssen vor dem Therapieraum, einem<br />

Hereinführen in das Zimmer. Es stehen zwei Stühle in der Regel gegenüber und ein<br />

zusätzlicher neben dem Klienten bereit. Dieser dient als Ausweichstuhl, wenn die<br />

direkte Sitzhaltung als zu konfrontierend erlebt wird. Wir setzten uns und besprechen<br />

ggf. die Therapiesituation und die gegenseitigen Erwartungen. Das ist auch der<br />

Zeitpunkt für die Anamnese und den Fragebogen zur Lebensqualität. Dann beginne<br />

ich mit dem Eingangslied, das ich auf der Leier begleite und rege an, mitzumachen.<br />

Während ich die Leier zur Seite lege, singe ich weiter und ermuntere, mitzuklatschen,<br />

um mir ein Bild von den rhythmischen Fähigkeiten zu machen. Gerne setze ich zur<br />

Rhythmisierung Perkussion-Instrumente, wie Trommeln etc. ein, die ich auch dem<br />

Klienten anbiete. Anschliessend erkunden wir den Raum und die Instrumente, die<br />

spielbereit daliegen und probieren sie aus. Ab der zweiten Stunde einigen wir uns<br />

auf eine kleine Auswahl von Instrumenten und üben daran. Über diese musikalische<br />

Wahrnehmung kann ich sowohl an der therapeutischen Beziehung arbeiten als auch<br />

Frustrationstoleranz, Übertragungs- und Gegenübertragungssituationen betrachten.<br />

Zudem lerne ich den Klienten in seinem musikalischen und individuellen Ausdruck<br />

kennen. Den Abschluss bildet ein Bewegungslied im Raum. Am Ende reflektieren wir<br />

gegebenenfalls die Stunde und das weitere Vorgehen.<br />

50


Grundsätzlich habe ich gute Erfahrungen mit erlebnisorientierten und kontextgebundenen<br />

Interventionen, mit denen erfahrungsbedingtes Lernen im therapeutischen<br />

Kontext ausprobiert werden kann. Damit können neue Spielräume und Möglichkeiten<br />

erschlossen werden. Diese Erfahrungen biete ich als Wiederholungs- und Vertiefungsübungen<br />

an, damit sie sich auch körperlich verankern können und so weitere Kompetenzen<br />

ermöglichen.<br />

Ausblick<br />

Ich hoffe, dass die Qualität und meine Begeisterung, die Musiktherapie für erwachsene<br />

Menschen mit geistiger Behinderung bieten kann, verständlich geworden ist. So<br />

ist gerade der Aspekt, dass in dieser Therapieform Kommunikation auch ohne verbale<br />

Sprache geschehen kann, der meiner Erfahrung nach Wesentlichste. Denn eigentlich<br />

ist doch das grösste Anliegen, dass wir Menschen untereinander hegen:<br />

Verstanden zu werden.<br />

Marion Josek, M.A. Education (social care and music therapy) lebt und arbeitet<br />

in der Camphill Gemeinschaft Hausenhof. Im Rahmen ihres Masterstudiums<br />

(EIMO Plymouth/England) entwickelte sie in der Masters Dissertation ein Diagnostikportfolio<br />

für den Erstkontakt in der Anthroposophischen Musiktherapie.<br />

Literatur:<br />

Baars, E./Niemijer, M. (2004): Bild-gestaltende Diagnostik der kindlichen Konstitution. Die Entwicklung<br />

eines Messinstrumentes. Louis Bolk Instituut, Driebergen.<br />

Beilharz, G. (2004): Acht Jahrzehnte Musik in der anthroposophischen Heilpädagogik. In: Beilharz,<br />

G. (Hg.): Musik in Pädagogik und Therapie. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart.<br />

Dörfler, W. (1975): Das Lebensgefüge der Musik. Sektion für Redende und Musikzierende Künste der<br />

Freien Hochschule für Geisteswissenschaft Goetheanum, Dornach.<br />

Engel, H.-H. (2005): Musikalische Anthropologie. Medizinische Sektion der Freien Hochschule für<br />

Geisteswissenschaft Goetheanum, Dornach.<br />

Felber, R./Reinhold, S./Stückert, A. (2003): Anthroposophische Kunsttherapie 3. In: Arbeitsgruppe<br />

der Kunsttherapeuten in der Medizinischen Sektion am Goetheanum, Freie Hochschule für Geisteswissenschaft<br />

(Hg.), 2. Aufl. Verlag Urachhaus, Stuttgart.<br />

Knowles, M.S./Holton E.F./Swanson, R.A. (2007): Einführung. In: Jäger, S. (Hg.): Lebenslanges<br />

Lernen. Andragogik und Erwachsenenbildung. Elsevier, München.<br />

Levinson, D.J. (1979): Das Leben des Mannes. Werdenskrisen, Wendepunkte, Entwicklungschancen.<br />

Kiepenheuer & Witsch, Köln.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 51


Beiträge<br />

Lindenberg, Ch.A. (2004): Musiktherapie und heilpädagogische Krankheitsbilder. In: Beilharz, G.<br />

(Hg.): Musik in Pädagogik und Therapie. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart.<br />

Maslow, A.H. (1973): Psychologie des Seins. Ein Entwurf. Kindler Verlag, München.<br />

Oberkogler, F. (1987): Tierkreis- und Planetenkräfte in der Musik. Vom Geistgehalt der Tonarten.<br />

Novalis Verlag, Schaffhausen.<br />

Pfrogner, H. (1976): Lebendige Tonwelt. Verlag Müller GmbH, München.<br />

Schumacher, K./Calvet, C. (2007): Entwicklungspsychologisch orientierte Kindermusiktherapie –<br />

am Beispiel der ‹Synchronisation› als relevantes Moment. In: Stiff, U./Tüpker, R. (Hg.) Kindermusiktherapie<br />

Richtungen und Methoden. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen.<br />

Pütz, H. (2008): Leitlinie zur Behandlung mit Anthroposophischer Kunsttherapie für die Fachbereiche<br />

Malerei, Musik, Sprachgestaltung, Plastik. Berufsverband für Anthroposophische Kunsttherapie<br />

e.V. (Hg.): BVAKT, Herdecke.<br />

Rogers, C.R. (1951): Client-Centered Therapy. Houghton-Mifflin, Boston.<br />

Steiner, R. (1983): Von Seelenrätseln (GA 21, 5. Aufl.) Rudolf Steiner Verlag, Dornach.<br />

Steiner, R. (1990): Heilpädagogischer Kurs (GA 293, 1. Aufl.) Rudolf Steiner Verlag, Dornach.<br />

Steiner, R. (1996): Vom Lebenslauf des Menschen: Dreizehn Vorträge von 1909-1924. In: Fucke, E.<br />

(Hg.): Themen aus dem Gesamtwerk (Band 4). 5. Aufl. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben<br />

Stückert, A. (1997): Verschiedene Aspekte der Musiktherapie auf anthroposophischer Grundlage.<br />

Unveröffentlichte Diplomarbeit.<br />

Im Zwergenhaus<br />

ist Mittagsschmaus.<br />

Auf Wurzeltisch<br />

und Wurzelbank<br />

die Speis’ schmeckt frisch<br />

und wohl der Trank.<br />

In froher Ruh’<br />

ein Elfenkind<br />

schaut zu.<br />

MArie Steiner VerlAg<br />

75378 Bad Liebenzell, Burghaldenweg 12/1<br />

Telefax: 07052-9344233<br />

www.sprachgestaltungskunst.de<br />

info@sprachgestaltungskunst.de<br />

Vertrieb: Marie Steiner Verlag oder<br />

www.amselhof-kunstdrucke.de<br />

aus: Christa Slezak-Schindler<br />

»Sprüche und Lautspiele für Kinder«,<br />

immerwährender Wochenkalender mit Übungsanleitungen<br />

und Hin weisen zur Sprachpflege<br />

illustriert von Christiane Lesch<br />

j 34.– ISBN 978–3–9813255-3-9<br />

52


Nachrufe<br />

Nachruf auf Wolfgang Armbrüster<br />

Elterninitiative eine Einrichtung in Wuppertal,<br />

welche sieben Jahre bestand; anschliessend<br />

arbeitete er ambulant therapeutisch, vor allem<br />

einzeltherapeutisch sowie auf einer geschlossenen<br />

Station einer psychiatrischen Einrichtung.<br />

1991 wurde er von Eltern, deren Kinder zuvor in<br />

einer anthroposophischen Einrichtung betreut<br />

worden waren, aber dort nicht mehr bleiben<br />

Am 13. Mai des vergangenen Jahres verstarb<br />

überraschend nach kurzer Krankheit der Sozialtherapeut<br />

Wolfgang Armbrüster. Wolfgang<br />

wurde am 7. November 1953 in Völklingen/Saar<br />

geboren. Nach der Schule und verschiedenen<br />

Praktika studierte er Pädagogik an den Universitäten<br />

Köln und Bonn und fand schon früh sein<br />

Arbeitsfeld: die Begleitung erwachsener behin-<br />

Wolfgang Armbrüster<br />

derter Menschen in besonderen Notlagen, welche<br />

durch extreme Verhaltensweisen wie schwere<br />

Aggressionen oder Zwänge zum Ausdruck<br />

kommen. In den letzten Jahren seines Studiums<br />

hatte er die Verwahrlosung von Kindern und<br />

Erwachsenen in psychiatrischen Einrichtungen<br />

erlebt. Dies weckte in ihm das Bedürfnis, den<br />

Betroffenen eine Gemeinschaft zur Verfügung zu<br />

stellen, in der sie, wie er es einmal ausdrückte,<br />

«zur vollen Entfaltung ihrer Persönlichkeit – bei<br />

allen Schwierigkeiten – gelangen können.»<br />

1984 gründeten Wolfgang und seine Frau Dorothee<br />

mit weiteren Kollegen auf Anregung einer<br />

konnten, gebeten, seine ursprüngliche Arbeit<br />

wieder aufzunehmen. So kam es zur Begründung<br />

einer Lebensgemeinschaft in Wuppertal,<br />

welche drei Jahre später, 1994, in einen umgebauten<br />

Bauernhof nach Halverscheid im Sauerland<br />

umzog. Die Einrichtung wendete sich von<br />

Beginn an an behinderte Menschen, welche<br />

aufgrund schwerer ‹Verhaltensstörungen› dauerhaft<br />

in einer geschlossenen Abteilung einer<br />

Psychiatrie lebten oder vor einer Einweisung<br />

dorthin standen. In den folgenden Jahren kamen<br />

drei weitere Häuser hinzu, in einem Umkreis<br />

von 20 km. Im Zentrum des von Wolfgang<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 53


Nachrufe<br />

und seinen Mitarbeitern erarbeiteten Ansatzes<br />

stand eine unbedingte Orientierung an der Lebensgeschichte<br />

des betreuten Menschen und<br />

der Versuch, ihn vor dem Hintergrund seiner oft<br />

traumatischen Erfahrungen zu verstehen – und<br />

seine besonderen Verhaltensweisen als Ausdruck<br />

von Ängsten und Wünschen, als Suche<br />

nach Verständigung oder nach Konfrontation,<br />

als Sprache eines Menschen, der sich nur eingeschränkt<br />

äussern kann. Beispiele und eine<br />

Erläuterung dieses Vorgehens gab Wolfgang<br />

Armbrüster in einem bereits 1990 erschienenen<br />

Erfahrungsbericht sowie in zwei Interviews in<br />

dieser Zeitschrift in den Jahren 1999 und 2006.<br />

Erst in der Vergegenwärtigung dieser Beispiele<br />

wird deutlich, wie radikal und vorurteilslos dieser<br />

Versuch, zu verstehen und das Verstandene<br />

unbedingt ernst zu nehmen, praktiziert wurde –<br />

und wie innovativ er war, etwa im Umgang mit<br />

schweren Aggressionen oder Zwängen.<br />

So tiefgreifend dieser Impuls mit Blick auf den<br />

Einzelnen war, so bildete die Bemühung um<br />

Gemeinschaftsbildung seine Ergänzung – Gemeinschaft<br />

zunächst verstanden als Angebot<br />

und als Versprechen, den Erwachsenen aufzunehmen,<br />

zu ihm zu stehen und seinen Weg<br />

in ein Miteinander zu begleiten. Beide Säulen<br />

dieses Konzeptes verbanden sich in der Erfahrung,<br />

dass besonders das gemeinsame Leben<br />

ein Verstehen von Menschen ermöglicht, welche<br />

kaum oder nur in Fragmenten, und oft auch<br />

in widersprüchlicher Weise, sprachlich über<br />

sich Auskunft geben können. Die von Wolfgang<br />

begründete Gemeinschaft war von Beginn an<br />

offen konzipiert, es fanden sich Menschen,<br />

die vor Ort lebten, mit anderen zusammen,<br />

welche für bestimmte Zeiten kamen, ohne dass<br />

dieser Unterschied eine Wertung in sich trug.<br />

Gemeinsam war ihnen das Anliegen, sich von<br />

einem traditionellen Bild eines Arbeitsplatzes<br />

zu lösen und «unser Bild vom ‹Zuhause-sein›<br />

in die Einrichtung zu integrieren.» Zugleich war<br />

diese Auffassung von Gemeinschaft demokratisch<br />

und pluralistisch orientiert – alle sollten<br />

ihren Beitrag leisten, zugleich wurde jeder in<br />

seinem Standpunkt und in seinen Bedürfnissen<br />

respektiert und konnte die Formen des Gemeinschaftslebens<br />

mitbestimmen. Wolfgang und<br />

seine Mitarbeiter vertrauten darauf, dass diese<br />

Erfahrung gerade bei Menschen, welche Ausgrenzung<br />

und Entmündigung erfahren haben,<br />

besondere Kräfte und Intentionen freisetzt. Er<br />

sah sich in dieser Arbeit von der Anthroposophie<br />

inspiriert, als einem Weg, «die Menschen<br />

sich selbst entdecken zu lassen und ihnen zur<br />

Fähigkeit der Selbstschulung zu helfen», – dazu<br />

beizutragen und dem Einzelnen Entwicklung angesichts<br />

seines Schicksals zu ermöglichen, das<br />

sah er als Aufgabe von Gemeinschaftsbildung.<br />

In seine therapeutische Arbeit fanden psychotherapeutische<br />

Ansätze ebenso Eingang wie das<br />

gemeinsame Arbeiten: etwa das Renovieren der<br />

alten Häuser und die An- und Umbauten. Hier<br />

mitzuarbeiten machte Wolfgang grösste Freude.<br />

Ebenso gerne war er auf Reisen, zumeist in<br />

einem grossen Camping-Bus, der eine sichere<br />

Basis für die Gruppe bedeutete und so grösste<br />

Unabhängigkeit beim Reisen ermöglichte. Alleine<br />

war er gerne mit dem Motorrad unterwegs.<br />

Wenn man Wolfgang inmitten seiner Freunde<br />

und Freundinnen besuchte, so erlebte man bald<br />

sein unbändiges Vertrauen in die Menschen und<br />

ihre Entwicklungsmöglichkeiten, seinen Humor,<br />

seine Lebensfreude. Auch im Umgang mit den<br />

Mitarbeitern wirkte er – und verstand sich auch<br />

– eher als Berater denn als Leitungsperson.<br />

Man spürte, dass auch er sich getragen fühlte,<br />

von der Gemeinschaft und von seiner Familie.<br />

In den Monaten vor seinem Tod hatte er eine Erschöpfung<br />

verspürt, das Bedürfnis, sich stärker<br />

zurückzuziehen, auch hatte er das Gefühl, dass<br />

dies möglich ist. So mussten ihm diejenigen,<br />

die er so lange begleitet hatte, an einem warmen<br />

Frühlingstag das letzte Geleit geben. Die<br />

Einrichtung mit ihrem Konzept wird in seinem<br />

Sinne weiter geführt.<br />

Bernhard Schmalenbach<br />

54


Berichte<br />

«Anthroposophische Heilpädagogik im<br />

Diskurs»<br />

Fachtag in der Höheren Fachschule für anthroposophische<br />

Heilpädagogik, Sozialpädagogik<br />

und Sozialtherapie Dornach<br />

von Gabriele Scholtes<br />

Mit einem kleinen Feuerwerk an Vorträgen<br />

und Beiträgen aus der akademischen Fachwelt<br />

konnte der Schweizer Verband für anthroposophische<br />

Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />

(vahs) die Feierlichkeiten rund um sein 50.stes<br />

Jubiläum in gebührender Weise abrunden. Zugleich<br />

war die Veranstaltung am 23. November<br />

<strong>2013</strong> der Auftakt zum 40-jährigen Bestehen der<br />

Höheren Fachschule für anthroposophische<br />

Heilpädagogik, Sozialpädagogik und Sozialtherapie<br />

Dornach (HFHS, ursprünglich Rudolf<br />

Steiner Seminar für Heilpädagogik) im kommenden<br />

Jahr. Der Leiter der HFHS, Andreas Fischer,<br />

konnte somit neben den Gästen aus eigenen<br />

Reihen die nahezu gesamte Vertreterschaft des<br />

Verbandes der heilpädagogischen Ausbildungsinstitute<br />

der Schweiz (VHPA) auf das Herzlichste<br />

begrüssen.<br />

Dem einleitenden Überblick auf die Entwicklung<br />

der heilpädagogischen Ausbildung im nationalen<br />

und internationalen Kontext von Beatrice<br />

Kronenberg (Leiterin des Schweizerischen<br />

Zentrum für Heilpädagogik, Bern) folgten Beiträge<br />

von Barbara Jeltsch-Schudel (Universität<br />

Fribourg), Lars Mohr (Hochschule für Heilpädagogik,<br />

Zürich) und Johannes Denger (Referent<br />

für Bildung, Ethik und Öffentlichkeitsarbeit<br />

des deutschen Verbandes für Heilpädagogik)<br />

zu Schwerpunkten und Herausforderungen der<br />

heilpädagogischen Ausbildung. Dabei wurden<br />

historische Überschneidungen, die Vielfalt der<br />

Anforderungen, Schlüsselkompetenzen, Spannungsfelder<br />

als Lernziele und neben etlichen<br />

weiteren Aspekten die Verbindung von Wissenschaft,<br />

Theorie, Kunst und Praxis erörtert.<br />

Am Nachmittag stellte Christof Stamm mit sei-<br />

Andreas Fischer und Lars Mohr<br />

ner ethnografischen Studie zentrale Aspekte<br />

und Schlussfolgerungen über ‹Anthroposophische<br />

Sozialtherapie im Spiegel ausgewählter<br />

Lebensgemeinschaften› vor, die er im Rahmen<br />

seiner Dissertation erarbeitet hat.<br />

Schliesslich endete die Veranstaltung mit Beiträgen<br />

über das Menschenbild als Grundlage<br />

heilpädagogischer Tätigkeiten als ethische<br />

Frage hinsichtlich des Umgangs mit Nähe und<br />

Distanz. Gabriel Sturmy-Bossert (Pädagogische<br />

Hochschule Zentralschweiz, Luzern), Urs Strasser<br />

(Hochschule für Heilpädagogik, Zürich) und<br />

Rüdiger Grimm (Alanus Hochschule für Kunst<br />

und Gesellschaft Alfter, Deutschland) führten<br />

in diesem Kontext die immer wieder gestellte<br />

Frage des Menschenbildes als ethische Grundkategorie<br />

in der Heilpädagogik an, es wurde auf<br />

den Spannungsbogen von zu viel respektive zu<br />

wenig Distanz aufmerksam gemacht, um letztlich<br />

die Kompetenz einer harmonischen und<br />

‹gesunden Dialogfähigkeit› zu erwerben.<br />

Andreas Fischer und Greta Pelgrims ( Université<br />

de Genève und Präsidentin des VHPA) erachteten<br />

zum Abschluss die Veranstaltung als einen<br />

Tag voller wertvoller Anregungen und vor allem<br />

als einen Beitrag zur Stärkung des Miteinanders<br />

in der gemeinsamen Aufgabe.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 55


Berichte<br />

Psychiatrische Erkrankungen und ihre<br />

Erscheinungsformen in der Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie<br />

Fachtagung für HeileurythmistInnen und ÄrztInnen<br />

von Judith Oberndörfer<br />

Bei der dritten Fachtagung mit dem Schwerpunkt<br />

psychiatrische Erkrankungen beschäftigten sich<br />

die ca. 20 Teilnehmenden im Sonnenhof/Arlesheim<br />

mit Fragen zu Traumafolgestörungen, der<br />

Borderline-Persönlichkeitsstörung und Formen<br />

von Essstörungen.<br />

Die psychiatrischen Grundlagen referierte der<br />

Kinder- und Jugendpsychiater Walter Dahlhaus.<br />

Aspekte zu den Organen und ihren kosmischen<br />

Zusammenhang stellte Dr. med. Ingo Junge aus<br />

Oldenburg in seinem Vortrag dar. Ergänzt wurden<br />

diese Erläuterungen durch zwei sehr anschauliche<br />

Kindervorstellungen.<br />

Dahlhaus begreift die Diagnose einer Erkrankung<br />

als ‹Fenster›, das es ermöglicht, durch<br />

die Symptome hindurch auf das Wesen des<br />

Menschen zu schauen. Um daraus in eine therapeutische<br />

Tätigkeit zu kommen, ist es nötig,<br />

sich wirklich in die Befindlichkeit des Patienten<br />

einzuleben: «Man kann kaum einem Menschen<br />

seelisch etwas sein, in dessen Innenlage man<br />

sich nicht versetzen kann» (R. Steiner).<br />

Trauma<br />

Die allen modernen Erkrankungen gemeinsame<br />

Dissoziation (Verlust der Geschlossenheit) kann<br />

auf jeder Ebene der Wesensglieder auftreten.<br />

Wie sehr das jedoch auch auf seelenpflegebedürftige<br />

Menschen zutrifft, war lange Zeit nicht<br />

bekannt. Erst in den letzten fünf bis zehn Jahren<br />

wurde entdeckt, dass viele unter traumatischen<br />

Erfahrungen leiden, da sie aufgrund der<br />

heilpädagogischen Konstellation schneller von<br />

Eindrücken überwältigt sind, sodass sie sich<br />

ohnmächtig und hilflos fühlen. Diese Erfahrungen<br />

können sich tief in den Körper einprägen<br />

bis hin zu Veränderungen in der Gehirnstruktur.<br />

Menschen mit einem Trauma leben in ständiger<br />

Alarmbereitschaft und neigen bei Ängsten zu<br />

heftigen Reaktionen. So können Kleinigkeiten<br />

zu einer plötzlichen und heftigen Reaktion führen,<br />

die zunächst unverständlich scheint.<br />

Da die Prägung im Körpergedächtnis jedoch wieder<br />

verwandelt und aufgelöst werden kann, ist<br />

gerade die Heileurythmie als leib-gestaltendes<br />

Element zur Therapie geeignet.<br />

Borderline<br />

Das schillernde Bild eines Borderline-Patienten<br />

ist schwer zu fassen und pendelt zwischen Idealisierung<br />

und Abwertung anderer Menschen,<br />

aber auch sich selbst gegenüber. Aus Angst vor<br />

dem Alleinsein stürzt er sich in intensive, aber<br />

unstete Beziehungen und ringt um Anerkennung,<br />

die er aus Mangel an Vertrauen nicht wirklich<br />

annehmen kann. Freundliches Verhalten<br />

kann ganz plötzlich in Impulsivität und affektive<br />

Handlungen umschlagen. Wie beim traumatisierten<br />

Menschen können auch hier die Gefühle<br />

wie aus dem Nichts auftreten. Aus einer gestörten<br />

Selbstwahrnehmung heraus neigen die Patienten<br />

häufig zu selbstverletzendem Verhalten.<br />

Im Hintergrund steht jedoch der Wunsch, nach<br />

seinem himmlischen Wesen angesehen zu werden.<br />

Der Therapeut muss den Patienten darin<br />

begleiten, den Weg in die irdischen Verhältnisse<br />

zu gehen. Dazu muss er selbst innerlich lebendig<br />

sein, um immer wieder neue Schritte zu finden.<br />

Er kann kein fertiges Konzept haben. In der<br />

Haltung braucht er, als Antwort auf die Widersprüchlichkeit<br />

des Patienten, die Möglichkeit<br />

zur Strenge, aber auch zu Einfühlsamkeit und<br />

Verständnis. Aufgrund der hohen Anforderungen<br />

an das soziale Miteinander und die Toleranz<br />

ist es in den meisten sozialtherapeutischen<br />

Einrichtungen oftmals nicht möglich, mehr als<br />

einen Menschen mit einer Borderline-Störung<br />

mitzutragen.<br />

Heileurythmie<br />

In den Übungen mit der Heileurythmistin Ursula<br />

Langerhorst konnten wir den Wirkungen nachspüren<br />

und ahnen, welche Hilfe sie den seelisch<br />

so tief verletzten Menschen sein können. Wir<br />

übten die bereits in den Anfängen der Eurythmie<br />

56


Berichte<br />

entwickelte anregende und beruhigende Reihe.<br />

Besonders wichtig war hier, wie die Gesten aus<br />

Naturbildern nach innen führten. Ein Weg, der<br />

uns auch in der Beschreibung der Seelenverfassung<br />

dieser Erkrankungen begegnet war. Die<br />

seelisch verletzten Menschen hegen eine tiefe<br />

Sehnsucht nach Wahrbildern, die wir ihnen in<br />

der Heileurythmie geben können. Zugleich helfen<br />

die Übungen, sich mit dem als fremd empfundenen<br />

Leib zu versöhnen.<br />

Anders stellt sich die Toneurythmie für Patienten<br />

mit Borderline-Syndrom dar. In der Auseinandersetzung<br />

mit starken Gegensätzen (z.B. in<br />

der Tonhöhe oder Dur und Moll) wurde die Möglichkeit<br />

gegeben, die eigene Mitte als Identität<br />

zu erleben. Damit diese Patienten keine Langeweile<br />

entwickeln, die bis zu Verweigerung führen<br />

kann, bedarf es einer hohen Anforderung.<br />

Mit toneurythmischen Übungen führte uns Roswitha<br />

Schumm immer wieder an den inneren<br />

Quell heran, aus dem eurythmische Gestaltung<br />

erst möglich wird und sich erneuern kann.<br />

Grundlage war die ins Seelische gespiegelte<br />

Erfahrung der unteren Sinne: der Ruhe durch<br />

den Gleichgewichtssinn, der seelischen Freiheit<br />

durch den Bewegungssinn und als Ergebnis der<br />

beiden die Behaglichkeit aus dem Lebenssinn.<br />

Wir erforschten drei Ebenen des ‹Rhythmus'›<br />

und machten uns das Erlebnis der Qualitätsunterschiede<br />

von 1, 2 usw. bis 7 bewusst. Beim<br />

Üben der inneren Qualität des ‹vorne – hinten›<br />

im Bewegen von ‹Längen und Kürzen› erlebten<br />

wir die innere Regsamkeit, die den fortlaufenden<br />

Strom gliedert. Schließlich fanden wir einen<br />

neuen Zugang zu den Intervallformen als Rhythmusformen,<br />

die sich im Unterschied zum Melos<br />

in der Gebärde neu offenbarten, so dass in der<br />

Mitte ein freier Wahrnehmungsraum entstand.<br />

Nach den drei ereignisreichen Tagen trennten<br />

wir uns nur ungern voneinander.<br />

Unsere Gemeinschaft war im gemeinsamen Einfühlen<br />

in die Seelenproblematik auf besondere<br />

Weise zusammengewachsen.<br />

Nähe und Distanz – ein Balanceakt in<br />

jeder Beziehung<br />

In der Begleitung von Menschen mit einer Behinderung<br />

ist die Beziehungsgestaltung das wichtigste<br />

Arbeitsinstrument. Sie ist aber gleichzeitig<br />

auch die Achillesferse unserer Profession, da<br />

die Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse in Institutionen<br />

Grenzverletzungen begünstigen. Der<br />

Balanceakt zwischen Nähe und Distanz muss<br />

deshalb bewusst reflektiert und täglich geübt<br />

werden. Jede menschliche Beziehung pendelt<br />

zwischen Nähe und Distanz. Es kann nicht Ziel<br />

sein, einseitig für eine «professionelle Distanz»<br />

zu plädieren, welche für alle verheerende Wirkungen<br />

hat. Viel eher geht es darum, gemeinsam<br />

um eine «professionelle Nähe» zu ringen,<br />

die alle oben erwähnten Aspekte mitdenkt. Die<br />

Tagung hat zum Ziel, im Dialog mit den Teilnehmenden<br />

mögliche Wege für ein förderliches Miteinander<br />

zu skizzieren.<br />

Redaktion<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 57


Rezensionen<br />

Ruth-Ingrid Hesse<br />

Schloss Gerswalde 1929-1950.<br />

Ein heilpädagogisches Kinderheim<br />

in drei deutschen Staatsformen.<br />

Verlag Ch. Möllmann<br />

Borchen 2012<br />

Euro: 17,-<br />

CHF: 21,40<br />

Rezension: Johannes<br />

Kiersch<br />

Neue Bücher<br />

Ita Wegman, als Leiterin der<br />

Medizinischen Sektion am<br />

Goetheanum eng mit den<br />

heilpädagogischen Heimen<br />

der anthroposophischen Bewegung<br />

verbunden, verfolgte<br />

im Jahre 1933 mit Sorge und<br />

grösster Wachheit die Machtübernahme<br />

der Nationalsozialisten.<br />

Eine Zeitlang dachte sie<br />

daran, in England noch einmal<br />

ganz neu anzufangen. Nach<br />

ihrer schweren Krankheit im<br />

Jahre 1934, auf einer Reise ins<br />

Heilige Land, wurde ihr dann<br />

klar, dass sie Deutschland<br />

nicht im Stich lassen durfte.<br />

Ihre Hoffnungen richteten sich<br />

besonders auf die beiden Heime,<br />

die vom Ursprungsort Jena<br />

aus begründet worden waren:<br />

Schloss Hamborn bei Paderborn<br />

durch Siegfried Pickert<br />

und Gerswalde in der Uckermark<br />

durch Franz Löffler. Hier<br />

sah sie Kulturstätten aufblühen,<br />

die das Chaos nach dem<br />

Zusammenbruch der Diktatur<br />

überdauern würden.<br />

Von der «pädagogischen Provinz»<br />

Gerswalde hat Hermann<br />

Girke in seiner Biographie des<br />

Begründers eine lebendige<br />

Schilderung gegeben. Jetzt ist<br />

über die Geschichte dieses<br />

Ortes eine lesenswerte neue<br />

Studie von Ruth-Ingrid Hesse<br />

erschienen, die selbst ihre<br />

ersten Lebens- und Schuljahre<br />

dort verbracht hat. Noch deutlicher<br />

zeigen sich in diesem<br />

Buch die einundzwanzig Jahre<br />

vom Beginn der Arbeit in Gerswalde<br />

bis zur Schliessung als<br />

ein ungeheuer bewegtes, mit<br />

Enthusiasmus und Zuversicht<br />

durchgestandenes Abenteuer<br />

im Kampf mit der Ideologie<br />

und dem bürokratischen Zugriff<br />

zweier totalitärer Gesellschaftssysteme.<br />

Auffallend ist<br />

die Jugend der ersten Mitarbeiter:<br />

Ausser Franz Löffler und<br />

Frieda Heinze war niemand<br />

älter als dreissig Jahre. Die<br />

wenigen anthroposophischen<br />

58


Rezensionen<br />

Heime damals halfen sich<br />

gegenseitig in Notlagen, wodurch<br />

immer wieder Menschen<br />

ausschieden und neue einzuarbeiten<br />

waren. Besonders<br />

prekär war der häufige Wechsel<br />

der ärztlichen Betreuung.<br />

Für drei Jahre arbeitete das<br />

Heil- und Erziehungsinstitut<br />

für seelenpflege-bedürftige<br />

Kinder ohne amtliche Konzession,<br />

gefördert vom wachsenden<br />

Respekt der zuständigen<br />

Beamten und vieler Fachleute.<br />

In einem Bericht von Aussenstehenden<br />

heisst es:<br />

«Es handelt sich vorwiegend<br />

um moralisch schwache Jugendliche<br />

(Jugendgerichtsfälle),<br />

um geistig und körperlich<br />

unterentwickelte Kinder, die,<br />

wenn sie ausserhalb unter<br />

Altersgenossen gestellt würden,<br />

als Schwererziehbare,<br />

als Imbecille, als Halbidioten<br />

bezeichnet werden müssten.<br />

Hier fügen sie sich zu einer Gemeinschaft,<br />

die den Besucher<br />

gänzlich vergessen macht,<br />

dass es sich um irgendwelche<br />

schwierigen Kinder handelt.<br />

Es herrscht Ordnung, Fröhlichkeit,<br />

auffallende Freundlichkeit<br />

der Kinder untereinander.<br />

Vom Erwachsenen geht offenbar<br />

so viel Haltung und Humanität<br />

aus, dass indirekt der<br />

Ton der Kinder untereinander<br />

beeinflusst wird».<br />

Schon ein Jahr nach der Gründung<br />

wurde ein weitsichtiger<br />

Versuch mit Sozialwerkstätten<br />

für erwerbsbeschränkte Jugendliche<br />

unternommen. Die<br />

älteren Betreuten sollten bleiben<br />

dürfen und etwas Sinnvolles<br />

tun. In Zusammenarbeit<br />

mit der bekannten Initiative<br />

in Stuttgart wurde Waldorf-<br />

Spielzeug hergestellt, wenn<br />

auch ohne dauerhaften Erfolg.<br />

Die Betreuten kamen anfangs<br />

über öffentliche Wohlfahrtseinrichtungen.<br />

Als 1935 die Anthroposophische<br />

Gesellschaft<br />

verboten wurde, war man<br />

mehr und mehr auf Kinder aus<br />

wohlhabenden Familien angewiesen.<br />

Ständig befand sich<br />

das Heim unter wirtschaftlichem<br />

Druck. Schon Anfang<br />

1933 wurde der unmittelbar<br />

bevorstehende Konkurs nur<br />

verhindert durch das kompetente<br />

Eingreifen von Siegfried<br />

Palmer, der dann bis zu seiner<br />

Einberufung im Jahre 1941 Geschäftsführer<br />

blieb. Über ein<br />

Finanzloch im Sommer halfen<br />

dreissig Berliner Ferienkinder<br />

hinweg. Ab 1943 setzten dann<br />

Evakuierungen aus den Grossstädten<br />

ein, wodurch sich die<br />

Belegschaft von 100 auf 350<br />

Personen vermehrte.<br />

Ergreifend sind auch in dieser<br />

Studie die Schilderungen<br />

des Kampfes gegen den menschenverachtenden<br />

Darwinismus<br />

der staatlichen Organe. In<br />

zähen Verhandlungen werden<br />

Betreute vor der Sterilisation<br />

nach dem Gesetz zur Verhütung<br />

erbkranken Nachwuchses<br />

bewahrt, später vor der Euthanasie-Aktion.<br />

Jüdische Kinder<br />

werden umsichtig ausser Landes<br />

gebracht oder versteckt.<br />

Käthe Seiferth, die Gärtnerin,<br />

schreibt darüber:<br />

«Sobald ein Parteifahrzeug vor<br />

dem Schloss auftauchte, funktionierte<br />

unser Alarmsystem.<br />

Friedel Schmidt [die Ärztin]<br />

schickte einen der leichteren<br />

Fälle in die Gärtnerei und liess<br />

ausrichten, sie hätte keine<br />

Zeit, ich solle später zur Behandlung<br />

kommen. Das war<br />

unser Zeichen, ich wusste, sie<br />

sind wieder da. Mit Gemüsekorb<br />

oder Karre bewaffnet, es<br />

stand immer bereit, machte ich<br />

mich auf den Weg ins Schloss.<br />

So ging ich runter durch den<br />

Kücheneingang und von dort<br />

in den Heizungstrakt. Dorthin<br />

waren schon die Behinderten<br />

gebracht worden. Vor dem<br />

Heizungsausgang, der nicht<br />

einsehbar war, konnte man<br />

dann hinuntergelangen mit<br />

den Kindern (...) in die untere<br />

Gärtnerei und das Wäldchen.<br />

(...) Nur bei ganz schlechtem,<br />

kaltem Wetter wurden sie in<br />

den Einkochkeller unter dem<br />

Gärtnereihaus gebracht. Dort<br />

waren die Wände dick ausgepolstert,<br />

damit möglichst kein<br />

Lärm nach aussen drang.»<br />

Wie weiträumig und zukunftsorientiert<br />

Franz Löffler denken<br />

konnte, zeigte sich nach dem<br />

Ende des Krieges, als das<br />

Heim für seelenpflegebedürftige<br />

Kinder sich in ein Institut<br />

für Erziehungshilfe verwandelt<br />

hatte. Siegfried Palmer<br />

schreibt darüber im Juli 1946:<br />

«Löffler war gerade in Berlin,<br />

um an einer von amtlicher<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 59


Rezensionen<br />

Seite einberufenen Versammlung<br />

sämtlicher Heimleiter in<br />

der russischen Zone teilzunehmen.<br />

Er hat in letzter Zeit<br />

verschiedentlich Vorträge vor<br />

Wohlfahrtspflegerinnen und<br />

anderen Angehörigen sozialer<br />

Berufe gehalten. (...) Die Diskussionen<br />

waren sehr lebhaft<br />

und gingen bis tief in die Nacht<br />

hinein, und immer noch mehr<br />

wollten die Menschen wissen.<br />

Löffler meinte, wenn er jetzt<br />

genügend Menschen hätte,<br />

die ihn in diesem Wirken unterstützen<br />

können, so würde in<br />

Kürze eine ziemliche Breitenwirkung<br />

möglich sein.<br />

Daraus wurde nichts. Statt<br />

dessen trat ein anderes Ziel<br />

in den Vordergrund: Das Institut<br />

sollte zum Kulturzentrum<br />

für die dörfliche Umgebung<br />

werden. In der alten Burgruine<br />

sollte ein geeigneter<br />

Versammlungsraum ausgebaut<br />

werden. Möglich schien<br />

das wohl, weil in den letzten<br />

Kriegsjahren aus der zerbombten<br />

Hauptstadt eine Reihe<br />

profilierter Künstler nach<br />

Gerswalde gekommen waren.<br />

Helene Reisinger, die später<br />

mit ihrer Tochter Claudia ihre<br />

Eurythmieschule in Berlin aufbaute,<br />

der Komponist Hans<br />

Georg Burkhardt, die Pianistin<br />

Alexandra Graatz. Schon länger<br />

war der Maler Frans Copijn<br />

im Institut tätig. Zu dem lebendigen<br />

Bild, das Hermann Girke<br />

von dem künstlerischen Leben<br />

des Heims in der Nachkriegszeit<br />

entworfen hat, wird hier<br />

manches Detail nachgeliefert.<br />

Man kann den Mut, die energische<br />

Führungskraft und die<br />

Urteilskompetenz Franz Löfflers<br />

in kritischen Situationen<br />

nur bewundern. Zugleich wird<br />

in der Studie von Ruth-Ingrid<br />

Hesse aber auch deutlich,<br />

wie ihn sein aufbrausendes<br />

Temperament immer wieder<br />

in Konflikte mit seinen Mitarbeitern<br />

hineintrieb. Zeitweilig<br />

scheint er deshalb sogar die<br />

Heimleitung niedergelegt zu<br />

haben. Einmal musste Ita Wegman<br />

persönlich eingreifen.<br />

Käthe Seiferth berichtet von<br />

ernsten Meinungsverschiedenheiten<br />

sogar mit Olga<br />

Franke und Alois Künstler: «Er<br />

hätte sie am liebsten hinausgeworfen».<br />

Aber die Situation<br />

entschärfte sich wieder.<br />

Bei allen internen Krisen wird<br />

man den ungeheuren Druck<br />

berücksichtigen müssen, der<br />

durch die Zeitverhältnisse<br />

auf allen Beteiligten lastete.<br />

Und das gilt wohl auch für<br />

die befremdliche zwölfseitige<br />

Eingabe, die Löffler am 5. Juni<br />

1940 an den stellvertretenden<br />

Kreisleiter der NSDAP in der<br />

Kreisstadt Templin einreichte.<br />

Darin bekennt er sich, dem<br />

Anschein nach, rückhaltlos zu<br />

dem herrschenden System.<br />

Alle Umstände sprechen dafür,<br />

dieses peinliche Dokument als<br />

ein extrem opportunistisches<br />

Manöver zu verstehen. Für jeden<br />

Einsichtigen war damals,<br />

schon fast ein Jahr nach dem<br />

deutschen Überfall auf Polen,<br />

das Ende des Regimes in<br />

absehbarer Zeit zu erwarten.<br />

Löffler hat wohl versucht, die<br />

prekäre Lage des Heims mit<br />

dem problematischen Mittel<br />

eines Lippenbekenntnisses<br />

doch noch bis dahin irgendwie<br />

zu retten.<br />

Der Darstellung von Ruth-Ingrid<br />

Hesse liegen ausgedehnte<br />

Archiv-Studien zugrunde, die<br />

viele Abläufe besonders in den<br />

juristischen und wirtschaftlichen<br />

Einzelheiten zuverlässig<br />

durchsichtig machen, ohne<br />

dass die menschliche Dramatik<br />

der Ereignisse dabei zu<br />

kurz kommt. Schöne Fotos und<br />

ein nützliches Namenregister<br />

ergänzen den Band. Man<br />

wünscht sich eine vergleichbare<br />

Darstellung auch für<br />

Schloss Hamborn, den zweiten<br />

Lieblingsort Ita Wegmans in<br />

Deutschland, und für andere<br />

Institutionen unserer heilpädagogischen<br />

Bewegung.<br />

60


Rezensionen<br />

Vor gut 20 Jahren war im Selbstverlag<br />

ein schmales Bändchen<br />

erschienen, das kaum über den<br />

Kreis von Kennern hinauswirkte.<br />

In der Zwischenzeit ist aber das<br />

Interesse gewachsen, Verbreitung<br />

und Rezeption der Anthroposophie<br />

und ihrer Impulse<br />

zurückzuverfolgen und ihre Träger<br />

wahrzunehmen und zu würdigen.<br />

Das ist auch das Anliegen<br />

des Büchleins ‹Ein Quell<br />

wird zum Strom›. Es gelingt der<br />

Autorin, in der Verbindung von<br />

geografischen und historischen<br />

Aspekten, liebevollen Blicken<br />

auf Land und Leute und persönlichen<br />

Erinnerungen an die alte,<br />

reiche Kulturlandschaft Schlesien<br />

als fruchtbaren Boden für<br />

die Anthroposophie aufleuchten<br />

zu lassen. Es wird erzählt<br />

von bedeutsamen Orten, die<br />

zugleich Synonyme sind für fortwirkende<br />

Impulse wie Koberwitz<br />

und Pilgramshain, aber auch<br />

von regen Initiativen in Breslau,<br />

von den Anfängen der Waldorfschule<br />

und der heilpädagogischen<br />

Arbeit, von der Eurythmieschule<br />

und dem Wirken der<br />

Christengemeinschaft. Es dürfte<br />

diese Schrift auch die einzige<br />

Stelle sein, wo an die bemer-<br />

Gertraud Bessert<br />

Ein Quell wird zum Strom<br />

Anthroposophisches Leben<br />

und heilpädagogische<br />

Impulse aus der Breslauer<br />

Zeit von 1924-1945<br />

Verlag Ch. Möllmann 2012<br />

EUR: 10,-<br />

CHF: 12,90<br />

Rezensentin: Katharina<br />

Mauser-Goller<br />

kenswerte Persönlichkeit von<br />

Margarete Bessert-Weinhold<br />

erinnert wird, die noch in widrigsten<br />

Vorkriegs- und Kriegsjahren<br />

den anthroposophischen<br />

pädagogischen und heilpädagogischen<br />

Impuls durchtrug und –<br />

zusammen mit ihrer Tochter Gertraud<br />

und Magdalena Stephan<br />

– schliesslich 1952 das Kinderheim<br />

Sonnenhalde gründete.<br />

Wer dieses Institut – heute in<br />

Görwihl im Hotzenwald – erlebt,<br />

kann vielleicht noch etwas spüren<br />

von dem starken, kulturell-künstlerischen<br />

Quell, der<br />

aus diesem «zehnfach interessanten<br />

Land» (so Goethe) im<br />

Herzen Europas hervorbrach. Es<br />

ist dem Verlag Christoph Möllmann/Hamborn<br />

zu danken,<br />

dass diese Aufzeichnungen<br />

jetzt in einer verbesserten Neuauflage<br />

herauskommen konnten.<br />

Da sich das Büchlein zweifellos<br />

auch als eine Liebeserklärung<br />

an das Land Schlesien<br />

liest, ist es ein signifikantes Zeichen<br />

für den heilenden Gang der<br />

Geschichte, dass noch vor dieser<br />

Neuauflage eine Übersetzung<br />

ins Polnische erschienen war<br />

(Gdynia 2011, Verlag GENESIS,<br />

hg. von M. und E. Wasniewska).<br />

Weitere Neuerscheinungen<br />

Karl König<br />

Kaspar Hauser<br />

Hrsg. Peter Selg und<br />

Richard Steel<br />

Verlag Freies Geistesleben<br />

2012<br />

ISBN 978-3-7725-2403-5<br />

Karl König<br />

Über die menschliche Seele<br />

Hrsg. von Kurt E. Becker<br />

und Richard Steel<br />

Verlag Freies Geistesleben<br />

2012<br />

ISBN 978-3-7725-2403-5<br />

Hans Dackweiler<br />

Dann brauchst due einen<br />

Freund<br />

Erlebnisse und Einsichten<br />

aus der Sozialtherapie<br />

Verlag Freies Geistesleben<br />

ISBN 978-3-7725-2369-4<br />

Steffen Richter<br />

Martin Kretschmer<br />

Gründer der Heilpädagogischen<br />

Einrichtung Bonnewitz<br />

Heilpädagogik Bonnewitz<br />

gemeinnützige Stiftung<br />

Bernhard Schmalenbach<br />

Von der ästhetischen Kraft<br />

in der Heilpädagogik<br />

in:<br />

Coincidentia<br />

Zeitschrift für europäische<br />

Geistesgeschichte<br />

Band 3/1 2012<br />

ISSN: 1869-9782<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 61


Seelenpfl ege in Heilpädagogik und Sozialtherapie 32. Jahrgang <strong>2013</strong> Heft 1<br />

Impressum<br />

Herausgegeben von der Konferenz für Heil pädagogik und<br />

Sozialtherapie in der Medizinischen Sektion der Freien<br />

Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum, Dornach<br />

(Schweiz)<br />

Redaktion<br />

Dr. Rüdiger Grimm<br />

Dr. Bernhard Schmalenbach<br />

Gabriele Scholtes<br />

Administration<br />

Regina Denzler<br />

Die Zeitschrift erscheint viermal jährlich.<br />

Abonnementspreise CHF Euro<br />

Abonnement 42.-- 32.00<br />

Studierende/Senioren 27-- 20.00<br />

Einrichtungsabonnement 34-- 25.50<br />

Einzelheft (zuzügl. Porto) 15.-- 10.00<br />

Das Abonnement ist mit einer Frist von sechs Wochen zum<br />

Jahresende kündbar.<br />

Einrichtungsabo: Preis bei Bestellung ab 10 Ex.<br />

Layout<br />

Roland Maus<br />

Satz<br />

Rüdiger Grimm, Gabriele Scholtes<br />

Druck<br />

Uehlin Print und Medien GmbH<br />

Hohe-Flum-Strasse 40<br />

DE-79650 Schopfheim<br />

Anschrift<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong><br />

Ruchti-Weg 9, CH-4143 Dornach<br />

Telefon: +41 61-701 84 85<br />

Telefax: +41 61-701 81 04<br />

eMail: zs@khsdornach.org<br />

Website: www.khsdornach.org<br />

Verlag der Konferenz für Heilpädagogik und<br />

Sozialtherapie, Dornach<br />

ISSN 1420-5564<br />

Mediadaten: www.khsdornach.org<br />

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Ich abonniere jetzt!<br />

die Zeitschrift Seelenpfl ege<br />

in Heilpädagogik<br />

und Sozialtherapie<br />

zum Preis von CHF 42.00 / Euro 32.00 (Studierende und Senioren 27.00 / 20.00) pro Jahr. Das Abonnement<br />

ist mit einer Frist von sechs Wochen zum Jahresende kündbar. Mein Abonnement beginnt mit<br />

der nächsten Ausgabe.<br />

Name<br />

Strasse<br />

Land | PLZ | Ort<br />

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Datum, Unterschrift


Verlag am goetheanum<br />

Heilpädagogik | edition antHropos<br />

AndreAs Fischer<br />

Zur Qualität der BeZiehungsdienstleistung<br />

in institutionen für menschen mit Behinderungen<br />

EinE EmpirischE studiE im ZusammEnhang<br />

mit dEm Qm-VErfahrEn «WEgE Zur Qualität»<br />

heilpädagogik und sozialtherapie gründen in ihrem Kern immer<br />

auf Beziehungen zwischen zwei Menschen. diese Beziehungen<br />

beinhalten die Gefahr der einseitigkeit, denn die Voraussetzungen<br />

der Beteiligten sind unterschiedlich. der eine<br />

benötigt hilfe und Unterstützung in der praktischen Lebensbewältigung,<br />

der andere versucht, ihm diese zu geben. der Autor<br />

untersucht die Frage nach einer adäquaten und dialogischen<br />

Beziehungsgestaltung, die größtmögliche selbstbestimmung<br />

ermöglicht. Bezugspunkt ist dabei das anthroposophisch orientierte<br />

Menschen- und Weltverständnis. es wird aufgezeigt,<br />

dass das Qualitätsmanagementverfahren «Wege zur Qualität»<br />

hilfestellungen bietet, die Beziehungsarbeit zu gestalten.<br />

288 S., Kt., Fr. 43 | € 32 | 978-3-7235-1459-7<br />

Edition Anthropos | In Kooperation mit dem Athena Verlag<br />

PiM BLoMAArd<br />

BeZiehungsgestaltung in der Begleitung<br />

Von menschen mit Behinderungen<br />

aspEktE Zur BErufsEthik dEr hEilpädagogik<br />

und soZialthErapiE<br />

die Beziehungsgestaltung in der heilpädagogik und sozialtherapie<br />

beruht auf Gleichwertigkeit und Anerkennung. Vorbild<br />

und Basis ist das «dialogische Prinzip», das sich auf Martin<br />

Buber und im weiteren auf rudolf steiner, carl rogers und<br />

andere bedeutende denker stützt. Auf seiner Grundlage kann<br />

eine Tugendethik begründet werden, die eine gelingende<br />

Praxis der Arbeit mit und für Menschen mit Behinderungen<br />

ermöglicht. die Verbindung von Menschenbild und Berufsbild<br />

ermöglicht das Verständnis einer persönlichen, an der Begegnung<br />

mit dem anderen Menschen impulsierten entwicklung<br />

aller am dialog Beteiligten.<br />

348 S., Kt., Fr. 46 | € 34 | 978-3-7235-1461-0<br />

Edition Anthropos | In Kooperation mit dem Athena Verlag<br />

JAn chrisToPher GöscheL<br />

der Biografische mythos als pädagogisches leitBild<br />

transdisZiplinärE fördErplanung auf grundlagE<br />

dEr kindErkonfErEnZ in dEr anthroposophischEn<br />

hEilpädagogik<br />

Als Antwort auf den zweckrationalen instrumentalismus einer<br />

positivistischen Behindertenpädagogik entwickelt der Autor<br />

aus den transdisziplinären Anlagen der anthroposophischen<br />

heilpädagogik einen Förderplanungsansatz, der das Leitmotiv<br />

der individuellen Biografie als integrales Prinzip der kindlichen<br />

Lebenswelt erschließt. dieser «biografische Mythos»<br />

wird als Leitbild für ein pädagogisches und therapeutisches<br />

handeln gesetzt, das der integrität der sich entwickelnden<br />

Biografie verpflichtet ist. Unter einbezug von elementen der<br />

Phänomenologie, der hermeneutik, der erzähl- und Bildtheorie<br />

sowie der kontemplativen Geisteswissenschaft schafft<br />

der Autor eine erkenntnistheoretische und methodologische<br />

Grundlage sowie einen Leitfaden zur praktischen Gestaltung<br />

transdisziplinärer Förderplanungsprozesse in heil- und behindertenpädagogischen<br />

Arbeitszusammenhängen.<br />

372 S., Kt., m. Abb., Fr. 49 | € 36 | 978-3-7235-1460-3<br />

Edition Anthropos | In Kooperation mit dem Athena Verlag

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