Seelenpflege 2013-1
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<strong>Seelenpflege</strong><br />
in Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie<br />
Die Frage des freien Willens<br />
Arbeit ermöglichen<br />
Tagungsimpressionen<br />
Erwachsenenbildung<br />
1 | <strong>2013</strong>
Editorial<br />
«Wie aus Schwierigkeiten Erfolgserlebnisse werden»<br />
ist ein schönes Motto, das man über jede heilpädagogische<br />
und sozialtherapeutische Situation schreiben könnte. In<br />
diesem Heft finden Sie es als Untertitel von Hein Kistners<br />
Beitrag, in dem er einmal mehr über das Feld der Arbeit mit<br />
Menschen mit schweren Behinderungen schreibt. Seine These<br />
stellt er eindrucksvoll am Beispiel des Bügelns unter Beweis.<br />
Von der sehr erfolgreichen Internationalen Tagung für Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie, die im letzten Oktober am<br />
Goetheanum stattgefunden hat, gibt es einige Nachklänge in<br />
diesem Heft: zum einen den Aufsatz von Bernd Kalwitz, der<br />
sich mit dem Tagungsthema «Wille» auseinandersetzt sowie<br />
einen Tagungsbericht von Michael Gehrke und last not least<br />
ein Porträt der Malerwerkstatt in der Camphill Gemeinschaft<br />
Vidaråsen, deren Ausstellung uns an der Tagung nachhaltig<br />
beeindruckt hat.<br />
Die Beiträge von Maximilian Buchka über Erwachsenenbildung<br />
und Marion Josek über Musiktherapie ergänzen den<br />
Schwerpunkt «Sozialtherapie» dieses Heftes.<br />
Bitte beachten Sie auch die Hinweise auf die neue Buchreihe<br />
«Edition Anthropos», in der einige gewichtige Neuerscheinungen<br />
zur anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie vorliegen.<br />
Wir wünschen Ihnen einen guten Start in ein gutes Neues Jahr!
Inhalt<br />
Seite 6<br />
Der freie Wille und die drei<br />
Blutstropfen im Schnee<br />
Bernd Kalwitz<br />
Seite 20<br />
Initiativ werden – Die Kunst des<br />
guten Handelns<br />
Bericht der internationalen<br />
Tagung<br />
Michael Gehrke<br />
Seite 13<br />
Arbeit ermöglichen!<br />
Wie aus Schwierigkeiten<br />
Erfolgserlebnisse werden<br />
Hein Kistner<br />
Seite 22<br />
Impressionen aus der<br />
Ausstellung «Rätsel»<br />
Jasminka Bogdanovic<br />
Von so ungeheurer Wichtigkeit ist nicht der Denkdefekt. Die meisten Defekte<br />
haben, müssen Sie sorgfältig hinschauen, inwieferne der Denkdefekt ein Will<br />
die Gedanken ganz richtig sein, es handelt sich nur darum, dass der Wille, de<br />
bis zu welchem Grade der Wille darinnen steckt. Eigentlich einen Denkdefekt<br />
der Gedanken auftreten, Sinnestäuschungen. Bei der Einstellung zur äusse<br />
selber unregelmässig. Oder aber wir haben etwas wie Zwangsvorstellungen<br />
Aber auf das muss man vor allem aufmerksam sein, ob man es mit einem Wille<br />
in das Gebiet des abgesonderten Heilens. Mit den Willensdefekten hat man<br />
<strong>Seelenpflege</strong><br />
in Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie<br />
4<br />
Die Frage des freien Willens<br />
Arbeit ermöglichen<br />
Tagungsimpressionen<br />
Erwachsenenbildung<br />
1 | <strong>2013</strong><br />
Herausgeber:<br />
Konferenz für Heilpädagogik und<br />
Sozialtherapie<br />
in der Medizinischen Sektion<br />
der Freien Hochschule für<br />
Geisteswissenschaften am Goetheanum<br />
Dornach (Schweiz)<br />
Redaktion:<br />
Rüdiger Grimm<br />
Bernhard Schmalenbach<br />
Gabriele Scholtes
Seite 29<br />
Seite 45<br />
Aktuelle Entwicklungslinien in<br />
der Arbeit mit erwachsenen<br />
Menschen mit Behinderung<br />
Maximilian Buchka<br />
Anthroposophische Musiktherapie<br />
für erwachsene Menschen mit<br />
Behinderung<br />
Marion Josek<br />
Seite 53<br />
Seite 55<br />
Seite 55<br />
Nachruf: Wolfgang Armbrüster<br />
Berichte:<br />
Fachtag an der HFHS<br />
Fachtag der HeileurythmistInnen und<br />
ÄrztInnen<br />
Rezensionen: Ruth-Ingrid Hesse<br />
Schloss Gerswalde 1929-1950. Ein heilpädagogisches<br />
Kinderheim in drei deutschen<br />
Staatsformen<br />
Gertraud Bessert<br />
Ein Quell wird zum Strom<br />
sind eigentlich Willensdefekte; denn auch wenn Sie im Denken einen Defekt<br />
ensdefekt ist. Denn, wenn Sie zu schnell oder zu langsam denken, so können<br />
r wirkt in der Ineinandersetzung, einen Defekt hat. Man muss hinschauen,<br />
können Sie nur konstatieren, wenn unabhängig vom Willen Deformationen<br />
ren Welt treten sie im ganz Unbewussten auf, da wird das Vorstellungsbild<br />
, und dass sie Zwangsvorstellungen sind, hebt sie aus dem Willen heraus.<br />
nsdefekt oder Denkdefekt zu tun hat. Die Denkdefekte fallen zumeist schon<br />
es meistens zu tun in der Erziehung von unvollständig entwickelten Kindern<br />
Rudolf Steiner im Heilpädagogischen Kurs<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 5
Bernd Kalwitz<br />
Der freie Wille und die drei Blutstropfen im Schnee<br />
Während der Begriff ‹Wille› im wissenschaftlichen Diskurs immer mehr verschwindet<br />
und immer weniger verstanden wird, schlagen Diskussionen um die Willensfreiheit<br />
regelmässig hohe Wellen. Dies ist nicht verwunderlich, denn zunächst würde jeder<br />
behaupten, er sei in seinen Willensentscheidungen frei. Auch die Ethik unserer<br />
Gesellschaft gründet sich auf die Vorstellung, dass jeder Mensch in der Regel verantwortlich<br />
ist für das, was er tut, da er sich zu seinen Handlungen entscheiden konnte.<br />
In heilpädagogischen und sozialtherapeutischen Arbeitsfeldern stellt sich die Frage<br />
nach der Freiheit des Willens – nach dem Wesen des Willens überhaupt – oft in besonderer<br />
Eindringlichkeit. Würden nicht alle kleinen und grossen Initiativen, die unser<br />
tägliches Handeln betreffen, in einem ganz anderen Licht erscheinen, wenn man sie<br />
nicht als freie Taten freier Individuen betrachten könnte? Wie wäre eine Begegnung<br />
freier Individuen möglich ohne freien Willen? Auch stehen wir in heilpädagogischen<br />
oder sozialtherapeutischen Situationen manchmal vor Phänomenen, die unser Verständnis<br />
von dem, was ‹Wille› eigentlich ist, in ganz besonderer Weise herausfordern.<br />
Ein Beispiel<br />
Tom, ein junger Mann mit Behinderung, den ich über viele Jahre kannte, wollte<br />
eigentlich immer nur eines: weg. Er wurde in einer Lebens- und Arbeitsgemeinschaft<br />
betreut, war dort ein angenehmer Mitbewohner und geschätzter Werkstattkollege,<br />
aber er strahlte stets durch sein ganzes Wesen aus, dass er eigentlich woanders sein<br />
wollte. Diese manchmal von ihm auch explizit vorgetragene Idee wurde zunächst<br />
überhaupt nicht ernst genommen, da es ihm offensichtlich gut ging und er selbst auch<br />
nicht wusste, was ihm eigentlich fehlte, geschweige denn, wo er denn hin wollte. Aber<br />
dieser Willensimpuls, der in ihm wirkte, wurde immer stärker und löste schliesslich<br />
auch zunehmend soziale Schwierigkeiten aus. Diese Entwicklung führte dann tatsäch-<br />
6
Beiträge<br />
lich dazu, dass er die Einrichtung und den Kreis der Menschen, mit denen er teilweise<br />
über Jahrzehnte verbunden gewesen war, verlassen musste.<br />
Niemand hätte sich damals vorstellen können, dass bei der komplexen Natur seiner<br />
vor allem psychischen Hilfsbedürftigkeit ein Ort gefunden werden könnte, der ihm<br />
besser angemessen wäre als die Einrichtung, deren Gründung er miterlebt und deren<br />
innere Entwicklung er durch seine Eigenschaften und seinen Unterstützungsbedarf<br />
massgeblich mit beeinflusst hatte. Er landete dann auch tatsächlich in einer Situation,<br />
die zunächst eher zu Besorgnis Anlass gab. Aber: Er fand dort die Liebe seines Lebens!<br />
Einen Menschen, mit dem er eine innige Beziehung einging und diese seitdem leben<br />
kann, wie es schöner kaum vorstellbar ist. Wie geht man mit dem Willensimpuls eines<br />
Menschen um, dem es kognitiv gerade an den entscheidenden Fähigkeiten zu fehlen<br />
scheint, auf die wir unsere Willensfreiheit zu stützen glauben? Toms Impuls schien<br />
‹unvernünftig›, aber er führte ihn dorthin, wo er sein Glück fand.<br />
Ein anderes Beispiel:<br />
Amy, eine seit ihrer Geburt vollständig spastisch gelähmte junge Frau, wurde stündlich<br />
von Krampfanfällen geschüttelt, konnte nicht sprechen und nicht essen. Selbst<br />
ihren Blick konnte sie nur in die Richtung wenden, die für ihren am Rollstuhl festgeschnallten<br />
Kopf gerade vorne lag: Sie war völlig davon abhängig, in welche Richtung<br />
der Rollstuhl gedreht wurde. Wegen ihres grossen Hilfebedarfs waren ihre Eltern die<br />
treibende Kraft bei Gründung einer Betreuungseinrichtung gewesen und bereits in<br />
ihrer Kindheit und Jugend hatten sich viele Menschen um sie herum eingefunden, um<br />
ihr zu helfen. Als sie im Alter von 24 Jahren starb, glich ihre Beerdigung dem Begräbnis<br />
einer ‹Prominenten›, und es wurde der unglaublich grosse Kreis von Menschen sichtbar,<br />
der sich mit ihr während ihres kurzen Lebens verbunden hatte. Auch hier wirkte<br />
der Wille eines Menschen, der zwar durch seinen Körper keinerlei aktive Impulse in<br />
die Welt tragen konnte, der aber den Anlass dazu gab, dass eine Einrichtung entstand<br />
und eine Gemeinschaft von Menschen.<br />
Der Wille in der Forschung<br />
Der Begriff des Willens verschwindet immer mehr aus dem Forschungsfeld der Psychologie<br />
und der Philosophie. Die Vorstellungen von dem, was man unter Wille verstehen<br />
will, verlieren mehr und mehr an Konturen, aber die Idee der Willensfreiheit wird<br />
dessen ungeachtet immer wieder heftig diskutiert. Waren es früher eher philosophische<br />
oder psychologische Argumente, die gegen einen freien Willen ins Feld geführt wurden,<br />
stammen diese heute – wie sollte es anders sein – meist aus der Hirnforschung.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 7
Beiträge<br />
Zunächst war es der kalifornische Neurophysiologe Benjamin Libet (1916-2007), der die<br />
Idee des freien Willens ins Wanken brachte, als er 1985 und 1987 in San Francisco die<br />
Ergebnisse seiner inzwischen berühmten Experimente vorstellte (Libet). Er hatte eine<br />
spezielle Form des schon in den 1960er Jahren von Helmut Kornhuber (1965, S. 281:1-<br />
17) entdeckten Bereitschaftspotentiales im Gehirn gefunden, bei dem sich zeigte, dass<br />
schon einige Zeit vor dem Bewusstwerden eines Willensimpulses in der Hirnaktivität Prozesse<br />
nachweisbar sind, die offensichtlich diesem Willensimpuls entsprechen.<br />
Eine grosse Zahl von Versuchspersonen sollte bei diesen Experimenten jeweils genau<br />
den Moment angeben, an dem sie den Impuls («Urge») zu einer Handbewegung in<br />
ihren Körper geschickt hatten, und es zeigte sich, dass ungefähr eine Drittelsekunde<br />
(300ms) vor diesem Moment das Gehirn die Bewegung bereits vorbereitete. Der Willensimpuls<br />
schien den Versuchspersonen also erst sekundär bewusst zu werden,<br />
nachdem ihr Gehirn bereits dabei war, die Bewegung einzuleiten. Natürlich gab es<br />
bald eine unermessliche Fülle von methodischen Einwänden gegen Aufbau und Auswertung<br />
der Experimente 1. und auch Libet selbst war mit seiner Interpretation eher<br />
vorsichtig. Dennoch wurden seine Ergebnisse fortan als Argumente für die These<br />
verwendet, dass der Wille im Grunde ein biochemischer Prozess sei, der uns erst im<br />
Nachhinein bewusst wird, wenn die Handlung bereits determiniert ist. Demzufolge<br />
wäre das innere Erlebnis einer freien Willensentscheidung bloss eine Illusion.<br />
Interessanterweise konnten spätere Untersuchungen mit ihren inzwischen epochal<br />
verbesserten technischen Möglichkeiten die Ergebnisse Libets nicht nur eindrucksvoll<br />
bestätigen, sondern die mit ihnen aufgeworfene Frage nach der Willensfreiheit<br />
tatsächlich noch erheblich verschärfen.<br />
Am überzeugendsten scheinen mir in dieser Hinsicht die Forschungen von John Dylan<br />
Haynes 2007 am Max-Planck-Institut in Leipzig zu sein. 2 Haynes zeigte nicht nur, dass<br />
sich aufgrund der nun wesentlich besser darstellbaren Hirnaktivität die Art und Weise<br />
einer getroffenen Willensentscheidung zuverlässig voraussagen lässt, bevor die Versuchsperson<br />
sich dieser Entscheidung bewusst wird. Er konnte zudem anhand der<br />
gemessenen Hirnaktivität vorhersagen, zu welcher Bewegung sich der Proband entschlossen<br />
hatte, bevor sich dieser überhaupt eines Entschlusses bewusst war. Noch<br />
überraschender war jedoch, dass dieses von ihm gemessene Bereitschaftspotential<br />
sage und schreibe bereits zehn Sekunden vor dem Moment auftrat, in dem die Versuchsperson<br />
glaubte, sich zu dem Willensimpuls entschieden zu haben. Zehn Sekunden<br />
sind eine sehr lange Zeit – und Haynes’ Experiment vermied auf sehr elegante<br />
Weise die methodischen Schwächen, die Libets Versuchen vorgeworfen wurden.<br />
Untersuchungen wie diese waren es, welche den Bremer Neurophysiologen Gerhard<br />
Roth zu der Aussage führten, Menschen seien eigentlich nicht für ihre Handlungen<br />
8
Beiträge<br />
verantwortlich zu machen, weil sich ihre Willensentscheidungen unbewusst und<br />
durch biochemische Prozesse gesteuert entwickeln (vgl. Pauen; Roth 2008). Roth plädiert<br />
folglich für eine Anpassung unseres Strafrechtes an diese biologische «Schuldunfähigkeit»<br />
des Menschen (vgl. Roth 2004).<br />
Der Wille in der Menschenkunde Rudolf Steiners<br />
Bei allen Fragen, die diese Forschungen aufwerfen, bestätigen sie doch zunächst<br />
etwas, worauf Rudolf Steiner schon vor fast einem Jahrhundert hingewiesen hat: Der<br />
Wille als Seelenfähigkeit lebt in einem Bewusstseinsraum, der dem tiefen, traumlosen<br />
Schlaf entspricht (Steiner 1992, S. 91 ff.). In unseren Gedanken und Vorstellungen,<br />
auch in unseren äusseren Wahrnehmungen können wir sehr bewusst ‹wach›<br />
sein. Auch wenn wir uns dafür sehr anstrengen müssen, können wir den Raum der<br />
Sinneswahrnehmungen und Gedanken überblicken und selbst gestalten. Wir können<br />
lernen, selbst zu bestimmen, wohin wir unseren Blick richten, welche Sinneseindrücke<br />
wir aufnehmen wollen und welche Gedanken unser Bewusstsein erfüllen.<br />
Mit unseren Gefühlen leben wir in einer Art traumhaften Bewusstseins: einiges<br />
kommt, der Spitze eines Eisberges gleich, uns zu Bewusstsein, das meiste aber verbleibt<br />
im Dunklen. Unsere Gefühle, ihre Ursachen und ihre Verwandlungen können<br />
wir nie ganz bewusst durchschauen.<br />
In einer noch tieferen Bewusstseinsebene spielt sich unser Willensleben ab. Es ist<br />
von unserem Tagesbewusstsein ebenso weit entfernt wie unser Bewusstsein während<br />
des tiefen, traumlosen Schlafes. Wenn wir unseren Arm bewegen, ist uns der<br />
Entschluss dazu als Gedanke bewusst, wir haben auch eine bewusste Vorstellung<br />
davon, was geschehen soll und können die Bewegung mit unseren Sinnesorganen<br />
im Verlauf verfolgen. Doch von der Kraft, die in unseren Gliedern wirksam wird und<br />
dort die Bewegung auslöst, haben wir kein Bewusstsein. Sie wirkt gleichsam in der<br />
tiefen Dunkelheit der Nacht. Dies eben zeigen auch die neurobiologischen Befunde:<br />
Nicht bewusste Prozesse sind es, die unsere Bewegungen auslösen, das Bewusstsein<br />
kommt erst im Nachhinein dazu.<br />
Kann im Willen Freiheit herrschen?<br />
Rudolf Steiner hat beschrieben, wie der Wille sich in den verschiedenen Ebenen<br />
unseres Wesens in unterschiedlicher Gestalt zeigen kann: als Instinkt, Trieb und<br />
Begierde in den tieferen Schichten unserer Leiblichkeit, als Motiv, Wunsch, Vorsatz<br />
und Entschluss in unseren höheren seelisch-geistigen Anteilen, in denen die Möglichkeit<br />
des Zugriffes durch unser Ich wächst (a.a.O., S. 62 ff.).<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 9
Beiträge<br />
Jeder weiss, wie sehr Triebe und Begierden die Freiheit unseres Willens einschränken<br />
können, man muss hier nur an dessen Schattenseiten wie beispielsweise Süchte<br />
denken. Doch nicht nur unsere leibgebundenen Impulse, auch unser Karma wirkt in<br />
der Nacht unseres Willenslebens und bindet dieses zunächst. Es ist dies eine Bindung<br />
an etwas, zu dem wir uns vorgeburtlich einmal entschlossen haben, wie dies in<br />
dem Herrmann Hesse zugeschriebenen Gedicht ‹Das Leben, das ich selbst gewählt›<br />
in bezaubernder Weise ausgesprochen wird:<br />
Ehe ich in dieses Erdenleben kam,<br />
ward mir gezeigt, wie ich es leben würde.<br />
Da war die Kümmernis, da war der Gram,<br />
da war das Elend und die Leidensbürde.<br />
Da war das Laster, das mich packen sollte,<br />
da war der Irrtum, der gefangen nahm.<br />
Da war der schnelle Zorn, in dem ich grollte,<br />
da waren Hass und Hochmut, Stolz und Scham.<br />
Doch da waren auch die Freuden jener Tage,<br />
die voller Licht und schöner Träume sind.<br />
Wo Klage nicht mehr ist und Plage<br />
und überall der Quell der Gaben rinnt.<br />
Wo Liebe dem, der noch im Erdenkleid gebunden,<br />
die Seligkeit des Losgelösten schenkt,<br />
wo sich der Mensch, der Menschenpein entwunden,<br />
als Auserwählter hoher Geister denkt.<br />
Mir ward gezeigt das Schlechte und das Gute,<br />
mir ward gezeigt die Fülle meiner Mängel.<br />
Mir ward gezeigt die Wunde, draus ich blute,<br />
mir ward gezeigt die Helfertat der Engel.<br />
Und als ich so mein künftig Leben schaute,<br />
da hört ein Wesen ich die Frage tun,<br />
ob ich dies zu leben mich getraute,<br />
denn der Entscheidung Stunde schlüge nun.<br />
Und ich ermass noch einmal alles Schlimme.<br />
‹Dies ist das Leben, das ich leben will!›<br />
Gab ich zur Antwort mit entschlossner Stimme.<br />
So war's, als ich ins neue Leben trat<br />
und nahm auf mich mein neues Schicksal still.<br />
So ward geboren ich in diese Welt.<br />
Ich klage nicht, wenn's oft mir nicht gefällt,<br />
denn ungeboren hab ich es bejaht.<br />
Die durch unseren Willen impulsierten Bewegungen sind es, die uns dorthin führen,<br />
wo wir den Menschen begegnen, die wir in diesem Leben treffen wollten. Wenn wir<br />
uns einmal rückblickend vergegenwärtigen, welche Schritte und Abirrungen manch-<br />
10
Beiträge<br />
mal nötig waren, um in einem zentralen Moment unseres Lebens zur richtigen Zeit am<br />
richtigen Ort zu sein und dort einem wichtigen Menschen zu begegnen, dann können<br />
wir einen Eindruck davon gewinnen, welche Weisheit in diesem Nachtbereich unseres<br />
Bewusstseins wirkt, der ja trotz seiner Verschiedenheit vom Tagesbewusstsein dennoch<br />
zu uns gehört. Mag dies auch eine Bindung an unsere eigenen vorgeburtlichen<br />
Entschlüsse sein: es handelt sich um eine Bindung.<br />
Wirklich frei sind wir nur in unserem Gedanken- und Vorstellungsleben: Das hat<br />
Rudolf Steiner in seiner Philosophie der Freiheit (Steiner 1962) dargestellt. Aber wir<br />
können das Freiheitselement unseres Gedankenlebens in beide Bereiche hineintragen,<br />
in denen unser Wille zunächst gebunden ist. Wir haben die Möglichkeit, unsere<br />
individuellen Entscheidungen in den Vordergrund unserer Willensmotive zu stellen<br />
und auf diese Weise etwa die Wirksamkeit von Instinkten oder Trieben zu blockieren.<br />
Wir können ebenso an einem Menschen oder einer Situation vorbeigehen, die wir mit<br />
der Nachtseite unseres Willens aufgesucht haben, weil wir uns dann bewusst gegen<br />
diese Begegnung entscheiden.<br />
Libet hatte bei seinen Versuchen Hinweise darauf gefunden, dass bis zu einer Zeitspanne<br />
von 100ms vor der Handlung eine durch das Bereitschaftspotential vorbereitete<br />
Willensbewegung bewusst wieder abgebrochen werden kann. Haynes<br />
überzeugten diese von Libet dargestellten Hinweise nicht. Er wollte überprüfen, ob ein<br />
ausgelöster Willensimpuls in seiner zehn Sekunden dauernden unbewussten Vorbereitungsphase<br />
durch ein bewusstes Veto wieder abgebrochen oder modifiziert werden<br />
kann. Man würde vermuten, diese Untersuchung könnte nicht mehr allzu schwer sein,<br />
aber bisher sind mir keine diesbezüglichen Ergebnisse bekannt geworden.<br />
Den Willen befreien<br />
Wie trägt man die Freiheit seines Gedankenlebens in den Willen? Auf ein intensives<br />
Bild hierfür hat Walter Johannes Stein in seinen Anmerkungen zu Wolfram von Eschenbachs<br />
Parzival hingewiesen (Stein 1986, S. 207 ff.). Beim Anblick von drei roten<br />
Blutstropfen, die eine von einem Falken verletzte Gans in der weissen Schneedecke<br />
des Waldes hinterlassen hat, versinkt Parzival in eine derart leidenschaftliche Sehnsucht<br />
nach Kondwiramur, dass sein Bewusstsein sich herabdämpft. Benommen und<br />
entrückt verliert er sich in dem Bild, das ihn an die helle Haut und die warmen Lippen<br />
seiner lange entbehrten, geliebten Frau erinnert und er handelt nur noch wie in tiefer<br />
Bewusstlosigkeit. Wenn er angerempelt wird und sein Pferd sich dreht, sodass sein<br />
Blick kurz etwas anderes sieht, wacht er ein wenig auf und greift in das um ihn herum<br />
tobende Kampfgeschehen ein. Doch wirklich zu Bewusstsein kommt er nicht, und<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 11
Beiträge<br />
immer wieder sucht er sogleich wieder die Blutstropfen im Schnee auf, um erneut in<br />
sie ‹hineinzuträumen›. Sein Wille ist an seine leidenschaftliche Sehnsucht gebunden.<br />
In dieser Situation kommt Gawan, der Helfer und Heiler der Gralssage, steigt vom<br />
Pferd und deckt ein Seidentuch über die Blutstropfen. Nun erwacht Parzival aus<br />
seiner tiefen Benommenheit und kann sich wieder der Wirklichkeit um sich herum<br />
zuwenden. Wir können die tief unbewussten Impulse unseres Willens nicht immer<br />
direkt beeinflussen. Aber wir können entscheiden, wohin wir unseren Blick wenden<br />
und mit welchen Gedanken wir unser Bewusstsein erfüllen: Auf diese Weise können<br />
wir unseren Willen den bindenden Kräften entziehen.<br />
Die Kraft des Willens hat ihren Ursprung nicht im zentralen Nervensystem des Kopfes.<br />
Das dort entstehende Bewusstsein unserer Willensimpulse ist ein sekundäres, ein<br />
gespiegeltes Bewusstsein. Die Willensimpulse dagegen entstehen an der Peripherie,<br />
in unseren Bewegungen, unserer Umgebung, unserem sozialen Umkreis. Sie kommen<br />
uns gleichsam aus der Zukunft unseres Schicksals entgegen, wie im Beispiel von Tom,<br />
und sie wirken oft im Umkreis, wie im Beispiel von Amy. Gegen eine Freiheit dieser<br />
Willenskräfte im Sinne einer bewussten Beliebigkeit von Entscheidungen sprechen<br />
auch alle bisherigen neurobiologischen Befunde. Wir können jedoch lernen, unseren<br />
Willen mehr und mehr an der Freiheit unseres Gedankenlebens zu orientieren und ihn<br />
damit aus seiner doppelten Bindung zu befreien.<br />
Bernd Kalwitz, langjährige Einrichtungs- und Seminarleitung der sozialtherapeutischen<br />
Lebens- und Arbeitsgemeinschaft Vogthof in Ammersbek bei<br />
Hamburg, heute stellvertretende Schulleitung der Fachschule Nord in Kiel<br />
und Dozent an der Fachhochschule Ottersberg; Schularzt der Rudolf Steiner<br />
Schule Bergstedt/Hamburg<br />
Anmerkungen<br />
(1) Z.B. Alfred R. Mele (2007): Decisions, Intentions, Urges, and Free Will: Why Libet Has Not Shown What He Says He<br />
Has. In: Joseph Keim Campbell, Michael O'Rourke und Harry S. Silverstein Explanation and Causation: Topics in Contemporary<br />
Philosophy. MIT Press, S.228 ff.<br />
(2) Z.B. in ‹Die Zeit› vom 17. April 2008: Der unbewusste Wille.<br />
Literatur<br />
Kornhuber, H.H.; Deecke, L. (1965): Hirnpotentialänderungen bei Willkürbewegungen und passiven Bewegungen des<br />
Menschen: Bereitschaftspotential und reafferente Potentiale. Pflügers Arch Physiol., 281: 1-17.Libet, B. (1985): Unconscious<br />
cerebral initiative and the role of conscious will in voluntary. Behavioral and Brain Sciences 8. S. 529-566.<br />
Pauen, M.; Roth, G. (2008): Freiheit, Schuld und Verantwortung – Grundzüge einer naturalistischen Theorie der Willensfreiheit.<br />
Edition Unseld, Suhrkamp Verlag, Berlin.<br />
Roth, G. (2004): Spiegel-Streitgespräch – «Das Hirn trickst das Ich aus». Neurobiologe Gerhard Roth und Moraltheologe<br />
Eberhard Schockenhoff über neue Zweifel an der Entscheidungsfindung des Menschen, umstrittene Erkenntnisse der<br />
Hirnforschung und die Folgen für das Strafrecht. Der Spiegel Nr. 52, S. 117-121.<br />
Stein, W. J. (1986): Weltgeschichte im Lichte des heiligen Gral (4. Auflage). J. CH. Mellinger Verlag, Stuttgart.<br />
Steiner, R. (1992): Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik (GA 293, 9. Aufl.). Rudolf Steiner Verlag,<br />
Dornach.<br />
Steiner, R. (1962): Philosophie der Freiheit (GA 4, 16. Aufl.). Rudolf Steiner Verlag, Dornach.<br />
12
Hein Kistner<br />
Arbeit ermöglichen!<br />
Wie aus Schwierigkeiten Erfolgserlebnisse werden<br />
Das Leben von Menschen mit schweren Behinderungen verändert sich grundlegend,<br />
wenn sie nicht nur eine Tages- oder Förderstätte besuchen, sondern wenn sie auch<br />
zur Arbeit gehen. Arbeit ist möglich. Sinnvolle Arbeit ist interessant, sie erweitert die<br />
Perspektive und sie kann die persönliche Entwicklung voranbringen.<br />
Um Arbeit zu ermöglichen, sollten Arbeitsbegleiter sich nicht primär mit den Schwierigkeiten<br />
beschäftigen, welche Menschen mit schweren Behinderungen überwinden<br />
müssen. Sie sollten vor allem die Schwierigkeiten in den Blick nehmen, die sie selbst<br />
zu bewältigen haben. Es gibt im Alltag meistens mehrere Wege, wie Arbeitsbegleiter<br />
dies erreichen können. Einen dieser Wege möchte ich an einem Beispiel aus der eigenen<br />
Praxis aufzeigen. Wenn es im Arbeitsprozess gelingt, Hindernisse aufzulösen,<br />
entsteht eine grosse Zufriedenheit und nicht selten auch ein Glücksgefühl auf beiden<br />
Seiten. Im folgenden nenne ich die Menschen mit schweren Behinderungen, die ich<br />
am Arbeitsplatz begleite, ArbeitskollegInnen.<br />
Mit der Arbeit beginnen<br />
Ich arbeite mit meiner Arbeitskollegin Nathalie Sol 1 an einem Arbeitsplatz in der Bügelwerkstatt.<br />
Wir bügeln gemeinsam Servietten. Frau Sol ist 25 Jahre alt. Aufgrund einer<br />
Paraplegie und einer schweren Skoliose liegt sie in ihrem Rollstuhl in einer Sitzschale.<br />
Frau Sol kann nicht sprechen. Hin und wieder gibt sie einen tiefen Ton von sich.<br />
Bevor ich mehr von Frau Sol und ihrer Arbeit berichte, möchte ich noch einen weiteren<br />
Kollegen vorstellen. Er ist der Kollege, der Recht hat. Manchmal ist der Kollege, der<br />
Recht hat, ein ganz realer Mensch. Meistens ist er eine Stimme in mir. Der Kollege, der<br />
Recht hat, ist ein hervorragender Beobachter. Er sagt oft zu mir: «Frau Sol schläft. Du<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 13
Beiträge<br />
kannst jetzt nicht mit ihr arbeiten.» Wenn Frau Sol aufwacht, sagt er meistens: «Jetzt<br />
muss Frau Sol etwas trinken. Wenn Sie weiterhin so wenig trinkt, dann bekommt sie<br />
wieder Nierenschmerzen.» Nach dem Trinken fordert mich der Kollege, der Recht hat,<br />
auf, Frau Sol im Bad zu pflegen. Dann kommt schon wieder das zweite Frühstück, das<br />
sie unbedingt zu sich nehmen muss, damit die Ernährung stimmt. Manchmal sagt<br />
mein Kollege: «Frau Sol hat gerade einen Anfall.» Hin und wieder fällt Frau Sol in tagelange<br />
Unruhezustände und hat dann vermutlich auch körperliche Schmerzen. Danach<br />
kommt der Kollege, der Recht hat, zu mir und meint: «Jetzt hat Frau Sol gerade alles<br />
überstanden, was sie geplagt hat. Jetzt braucht sie wirklich eine Pause.» In all diesen<br />
Fällen hat mein Kollege wirklich gut beobachtet. Deshalb hat er Recht, wenn er darauf<br />
verweist, dass Frau Sol in diesen Zeiten nicht arbeiten kann. Ich bestehe im Übrigen<br />
darauf, dass Frau Sol auch dann zu mir in die Werkstatt kommt, wenn es ihr nicht<br />
gut geht. Ich bin nicht nur ein Arbeitsbegleiter. Ich kann vieles für sie tun, damit sie<br />
besser in ihren Tag hinein findet. Nur an wenigen Tagen im Jahr muss Frau Sol zuhause<br />
bleiben, weil sie krank ist. Dann gehe ich in ihr Wohnhaus und begleite sie dort. Die<br />
beschriebene Situation ist voller Schwierigkeiten. Ganz entscheidend aber ist, dass<br />
dies keine Schwierigkeiten sind, die ich als Arbeitsbegleiter zu überwinden hätte. Das<br />
ist der Alltag meiner Arbeitskollegin. Es ist nicht meine Aufgabe, diesen zu verändern.<br />
Das kann und muss ich meiner Arbeitskollegin selbst überlassen. Dieser Alltag ist<br />
lediglich die Ausgangssituation, wenn wir zu arbeiten beginnen. Die Schwierigkeiten,<br />
die ich als Arbeitsbegleiter zu lösen habe, sind andere. Sie beginnen erst jetzt.<br />
Ich stelle noch einen weiteren Kollegen – eine weitere Stimme in mir – vor: Er ist<br />
dem Kollegen, der Recht hat, sehr ähnlich. Er könnte sein Zwillingsbruder sein. Er ist<br />
aber überhaupt kein guter Beobachter und er ist ein sehr oberflächlicher Denker. Er<br />
ist der Kollege, der verallgemeinert. Er sagt zu mir sehr bestimmend: «Mit Frau Sol,<br />
mit einem Menschen mit einer so schweren Behinderung, kannst Du einfach nicht<br />
arbeiten, das musst Du einsehen.» Ich kann mich im Umgang mit dem Kollegen, der<br />
verallgemeinert, nur behaupten, wenn ich selbst ein guter Beobachter bin.<br />
Gut beobachten<br />
Frau Sol hatte früher bis zu 20 Anfälle am Tag. Heute Nacht hatte sie wieder einmal<br />
fünf schwere Anfälle. Ich beobachte aber gerade in diesem Moment, dass sie keinen<br />
Anfall hat. Ich beobachte weiterhin: Frau Sol ist gerade wach, sie hat getrunken und<br />
sie ist auch nicht unruhig. Sie braucht jetzt auch keine Pause. Sie kann jetzt arbeiten,<br />
wenn ich es ihr ermögliche. Seit mehr als 20 Jahren begleite ich Menschen mit schwe-<br />
14
Beiträge<br />
ren Behinderungen bei der Arbeit. Ich konnte immer wieder staunen, wie viele Zeiten<br />
es gibt, an denen Arbeit möglich ist. Bei den meisten meiner ArbeitskollegInnen sind<br />
diese Zeiten zahlreicher und länger geworden, nachdem wir mit der Arbeit begonnen<br />
haben. Meine Arbeitskollegin Frau Sol hat anfangs in der Werkstatt oft und viel<br />
geschlafen. Schon lange schläft sie am Vormittag kaum noch. Zu dieser Zeit will sie<br />
jetzt etwas erleben. Mit einer guten Beobachtung habe ich meine erste Schwierigkeit<br />
gemeistert. Es kommen aber noch weitere.<br />
Ziele erreichen wollen<br />
Ein dritter Kollege – eine dritte Stimme – erscheint jetzt: Er ist ein recht unangenehmer<br />
Geselle. Er flüstert mir immer etwas ins Ohr. Er ist der Kollege, der verführt.<br />
Er sagt zu mir zum Beispiel: «Wenn Du Frau Sol ernährt, gepflegt, bewegt und ihre<br />
Unruhe ertragen hast, brauchst Du dann nicht eine Pause? Gönne Dir doch selbst mal<br />
etwas Gutes.» Oder er flüstert mir zu: «Jetzt hast Du doch nur 10, 15 oder höchstens<br />
20 Minuten zur Verfügung. Willst Du da wirklich mit der Arbeit beginnen? Das lohnt<br />
sich doch nicht.» Meistens fragt er mich auch: «Ist das wirklich sinnvoll, was Du da mit<br />
Frau Sol arbeiten willst? Willst Du das wirklich machen?» Ich kann diesem Verführer<br />
nur etwas entgegen setzen, wenn ich ein klares Ziel vor Augen habe und wenn ich<br />
den Wunsch habe, dieses Ziel auch zu erreichen. Klare Ziele können Arbeitsbegleiter<br />
bekommen, indem sie Erfahrungsberichte über die Arbeit von Menschen mit schweren<br />
Behinderungen hören. Sie können ihre Ziele noch besser finden und aufrechterhalten,<br />
wenn sie selbst über eigene Erlebnisse als Arbeitsbegleiter verfügen.<br />
Sich um Ehrlichkeit bemühen<br />
Ziele zu haben und zu verfolgen reicht allein noch nicht aus. Ich kann dem Kollegen,<br />
der verführt, nur entkommen, wenn ich bereit bin, meine eigenen Schwierigkeiten zu<br />
entdecken und aus ihnen zu lernen. Der Kollege, der verführt, spielt nämlich mit den<br />
persönlichen Problemen der Arbeitsbegleiter und er kennt sie oft viel besser als diese<br />
selbst. Ich bin ihm schon oft und auf unterschiedliche Weise erlegen. Ein Beispiel:<br />
Als ich mit Frau Sol zum ersten Mal gebügelt habe, war das ein wunderbarer Tag. Frau<br />
Sol hat sich von Anfang an aktiv in den Prozess eingebracht. Das bin ich überhaupt<br />
nicht gewohnt. Ich musste bisher immer damit umgehen, dass ich über Monate und<br />
manchmal auch Jahre Arbeitsversuche gestartet habe, ohne dass ich deutliche Rückmeldungen<br />
von meinen ArbeitskollegInnen erhalten habe. Der wunderbare Tag ist<br />
für mich noch zu einem ganz schwierigen Tag geworden. Mir ist nämlich nicht ent-<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 15
Beiträge<br />
gangen, dass Frau Sol mir in diesem Moment nicht nur gezeigt hat, dass sie arbeiten<br />
will, sondern auch, dass sie schon lange und bisher vergeblich darauf gewartet hat.<br />
Warum habe ich das nicht bemerkt? Mein ganzes Arbeitsleben begleite ich Menschen<br />
mit schweren Behinderungen bei der Arbeit. Ich entwickle auch unter schwierigen<br />
Bedingungen Arbeitsplätze und da fällt mir nicht auf, dass Frau Sol Interesse hat zu<br />
bügeln? Frau Sol ist eine sehr zarte Frau und ein ganz feiner Mensch. Sie ist immer<br />
sehr schick und modisch gekleidet. Eine pflegende Arbeit wie die Wäschepflege ist<br />
da naheliegend. Frau Sol hat oft kalte Hände. Das drängt eine Arbeit, die mit Wärme<br />
umgeht, geradezu auf. Im Rückblick weiss ich, dass mir Frau Sols Interesse nicht aufgefallen<br />
ist, weil ich selbst zu wenig Interesse am Bügeln hatte. Aber ich gebe doch<br />
nicht mir selbst oder meinen Kollegen gegenüber zu, dass ich keine Lust habe, auszuprobieren,<br />
ob Frau Sol gerne bügelt. Ich gebe natürlich andere Begründungen an.<br />
Die besten Begründungen flüstert mir der Kollege, der verführt, ins Ohr. Das klappt<br />
wunderbar. Die offizielle Begründung, warum ich mindestens ein Jahr lang nicht mit<br />
Frau Sol bügeln konnte, war, dass ich mich zuerst gründlich in die Kinästhetik einarbeiten<br />
musste. Ich wollte lernen, wie ich Frau Sol gut bewegen kann, ohne dass ich<br />
sie trage und hebe. Frau Sol und ich probierten tatsächlich mit grosser Freude neue<br />
Bewegungen aus. Wir haben viel geübt und waren auch sehr erfolgreich. Dafür hat<br />
Frau Sol aber auf ihren Arbeitsplatz warten müssen.<br />
Heute weiss ich: Wenn ich gleich Interesse für die Arbeit entwickelt hätte, die auch<br />
Frau Sol liegt, hätte ich beides gleichzeitig voranbringen können: die Kinästhetik und<br />
den Bügelarbeitsplatz. Hier wird deutlich, wie viel Arbeit ein Arbeitsbegleiter manchmal<br />
schon geleistet hat, bevor er ein einziges Mal mit seiner Arbeitskollegin ein Bügeleisen<br />
über eine Serviette bewegt.<br />
Selbstständig und mutig sein<br />
Am konkreten Arbeitsplatz tauchen dann andere Schwierigkeiten auf. Der Kollege,<br />
der Recht hat, sagt zu mir: «Das Bügeleisen ist für einen Faustgriff konstruiert<br />
worden. Frau Sol kann mit ihrer verkrümmten und verkrampften Hand keinen<br />
Faustgriff machen.» Da hat er Recht – wie immer. Der Kollege, der verallgemeinert,<br />
kommt hinzu und sagt: «Wenn Frau Sol das Bügeleisen mit einem Faustgriff nicht<br />
anfassen kann, ist die Bügelarbeit für sie nicht möglich.» Der Kollege, der verführt,<br />
ist auch zur Stelle: Er sagt: «Das sieht doch komisch aus, wenn Du versuchst, mit<br />
Frau Sol zu bügeln.» Selbst wenn meine Arbeitskollegin das Bügeleisen zunächst<br />
nur berührt und es noch nicht richtig anfassen kann, ist dies ein wichtiger Schritt.<br />
Das ist ein guter Anfang. Oft vollzieht sich innerlich etwas Grosses, während äusserlich<br />
nur eine kleine Veränderung sichtbar wird.<br />
16
Beiträge<br />
Kreativ sein<br />
An dieser Stelle sind jetzt frische Ideen und Lust auf Ungewöhnliches gefragt. Ich kann<br />
zum Beispiel den Griff des Bügeleisens mit einem Stück Filz so vergrössern, dass Frau<br />
Sol ihre flache Hand darauf legen kann. Wichtig ist, dass ich ein Material auswähle,<br />
welches Frau Sol gerne berührt. Ich kann auch das Bügeleisen mit Schnüren in die<br />
Mitte eines Gymnastikreifens hängen. Dann kann das Bügeleisen von meiner Arbeitskollegin<br />
und mir indirekt bewegt werden, indem wir den Gymnastikreifen anfassen.<br />
Der Abstand zwischen dem Bügeleisen und der Arbeitskollegin ist nun grösser. Manche<br />
ArbeitskollegInnen können auf diese Weise ihre Arbeit besser mit den Augen verfolgen.<br />
Ich kann damit die Verbrennungsgefahr verringern, wenn ich jemanden begleite,<br />
der unkontrollierbare Bewegungen macht. Noch weitere Varianten sind möglich: Ich<br />
habe einen jungen Mann begleitet, der immer hin- und hergeschaukelt ist. Er war sehr<br />
stolz und er wirkte auf mich wie ein Kapitän auf einem Schiff, der an seinem Steuerrad<br />
steht. Ich habe für ihn ein Steuerrad gebaut, das er drehen konnte. Am Arbeitsplatz<br />
des jungen Mannes bewegte sich das Bügeleisen mit Seilen über die Bügelwäsche.<br />
Nicht alles muss ein Arbeitsbegleiter selbst entwickeln. Diese Idee habe ich von Kollegen<br />
aus dem Humanus-Haus bei Bern 2 übernommen. Dort wurden mit einem Rad,<br />
in dessen Mitte ein Bohrer befestigt war, Löcher in Holz gebohrt. Wünsche ich eine<br />
ganz andere Arbeitsweise, kann ich das Bügeleisen an einen Hebel befestigen. Dann<br />
kann meine Arbeitskollegin bügeln, indem sie die Bewegungen eines Ruderers macht.<br />
Natürlich sind hier keine grossen Bewegungen gemeint. Sie können noch so klein<br />
sein. Es kommt dabei auf die Arbeitsgeste an.<br />
Unterschiede erforschen<br />
Die Bügelarbeit muss auf einem kleinen Tisch oder einem Bügelbrett stattfinden. Wo<br />
soll dieser Tisch stehen: über dem Rollstuhl, davor, links oder rechts davon? Auch<br />
hier ist nicht zu übersehen, dass ich immer über mehrere Möglichkeiten verfüge, wie<br />
ich die Arbeit ausführe. Sobald ich aber verschiedene oder sogar zahlreiche Varianten<br />
in meinem Repertoire habe, kann und muss ich mir Gedanken machen, welche<br />
ich wann einsetze. Jede Arbeitsbewegung hat eine bestimmte Geste und mit dieser<br />
Geste nimmt meine Arbeitskollegin jeweils unterschiedlichen Kontakt zu ihrer Umgebung<br />
auf. Sie erlebt sich in verschiedenen Arbeitsbewegungen in unterschiedlichen<br />
Verhältnissen zur Welt. Ich kann diese Erlebnisse meiner Arbeitskollegin am Arbeitsplatz<br />
ermöglichen. Dadurch wird die Arbeit zusätzlich interessant, abwechslungs- und<br />
erlebnisreich. Dieser entwicklungsfördernde Aspekt der Arbeit ist bereits an anderer<br />
Stelle beschrieben worden (Kistner 2005).<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 17
Beiträge<br />
Kraftvoll in die Zukunft gehen<br />
Nachdem der Start am Arbeitsplatz gelungen ist, kommt es darauf an, dass die Arbeit<br />
regelmässig ausgeführt wird und zur Gewohnheit werden kann. Das erfordert Treue zur<br />
Aufgabe, Festhalten am Ziel, Ausdauer und Durchhaltekraft. Nach meiner Beobachtung<br />
haben Arbeitsbegleiter damit mehr Schwierigkeiten als die ArbeitskollegInnen.<br />
Der Kollege, der verallgemeinert, und der Kollege, der verführt, legen manches Hindernis<br />
in den Weg, das auf die Seite geräumt werden muss. Aber es lohnt sich und<br />
die ArbeitskollegInnen sind dankbar dafür. Für mich ist der Moment, wenn die Arbeit<br />
zur Gewohnheit und damit selbstverständlich wird, beeindruckend. Das verändert<br />
meine Beziehung zu Frau Sol. Wir sind dann wirklich Arbeitskollege und Arbeitskollegin.<br />
Nach meiner Erfahrung sollten Arbeitsbegleiter nicht alle Kraft und Zeit für die<br />
aktuelle Arbeit verwenden. Sie sollten frühzeitig die Entwicklungsmöglichkeiten ihrer<br />
ArbeitskollegInnen in den Blick nehmen und sich nicht zu spät mit dem nächsten und<br />
übernächsten Schritt beschäftigen. Es ist gut, kraftvoll in die Zukunft zu gehen (Kistner<br />
2012). Ich ahne, dass Frau Sol mehr kann als bügeln und auch mehr erleben will. Frau<br />
Sols Bügelarbeitsplatz war ein Ergebnis ihrer ersten Zukunftskonferenz, welche Frau<br />
Sols Mutter, ihre Begleiter in der Werkstatt und im Wohnhaus durchgeführt haben.<br />
Eine Fortsetzung dieser Zukunftsarbeit steht nun für Frau Sol an. Arbeit soll nicht das<br />
einzige sein, was Frau Sol mit mir erleben kann. Sie bügelt im Moment bis zu drei Servietten<br />
am Tag. Sie schafft diese Arbeitsleistung nicht immer. Sie braucht schliesslich<br />
auch viel Zeit, um sich künstlerisch zu betätigen, sich fortzubilden, Spaziergänge zu<br />
machen, auf dem Markt einzukaufen und ins Cafe zu gehen.<br />
Sich an der Entwicklung freuen<br />
Indem ich Arbeit ermögliche, lerne ich viel über mich selbst und erweitere dabei<br />
meine Fähigkeiten. Ich kann mich zudem bei zahlreichen Gelegenheiten über die Entwicklung<br />
meiner Arbeitskollegin freuen. Bei Frau Sol erkenne ich an ihrem Hin- und<br />
Herbewegen des Kopfes und an einem tiefen Blick ihr Wohlbefinden und ihre Zufriedenheit.<br />
Ich bemerke ihre zunehmende Wachheit und das wachsende Interesse. Es<br />
gibt weiterhin noch viele kleine äusserliche Veränderungen, die Ausdruck von wichtigen<br />
inneren Entwicklungen sind. Frau Sols Arme zum Beispiel waren jahrelang nach<br />
aussen gestreckt. Inzwischen hat sie ihre Arme und Hände entdeckt und macht immer<br />
mehr mit ihnen. Sie hat sie jetzt neben oder vor sich liegen. An dieser Entwicklung<br />
haben viele mitgearbeitet, insbesondere ihre Physiotherapeutin.<br />
18
Beiträge<br />
Wenn ich mir vergegenwärtige, mit welcher Mühe ich mich entwickle, und dies damit<br />
vergleiche, wie meine Arbeitskollegin ihre oft viel grösseren Schwierigkeiten bearbeitet,<br />
dann werde ich bescheiden. Ich werde aufmerksamer auf das, was Frau Sol bisher<br />
schon geleistet hat, ohne dass ich es wahrgenommen oder gewürdigt habe. Entwicklung<br />
zu erleben – auf beiden Seiten – ist immer eine grosse Freude und kann sich<br />
manchmal zum Glückserlebnis steigern.<br />
Hein Kistner (Dipl. Heilpädagoge, Biografiearbeiter) ist langjähriger Begleiter<br />
von Menschen mit schweren Behinderungen am Arbeitsplatz. Ausbildung zum<br />
Biografieberater im Werkplatz für individuelle Entwicklung (WIE).<br />
Anmerkungen<br />
(1) Name geändert<br />
(2) Humanus-Haus Beitenwil: Im Internet unter http://www.humanushaus.ch<br />
Literatur<br />
Kistner, H. (2005): Arbeit und Bewegung. Entwicklungsfördernde Arbeit für Menschen mit schweren<br />
Behinderungen. Verlag Selbstbestimmtes Leben, Düsseldorf.<br />
Kistner, H. (2012): Kraftvoll in die Zukunft! Zukunftskonferenzen für Menschen mit schweren Behinderungen.<br />
In: <strong>Seelenpflege</strong> in Heilpädagogik und Sozialtherapie, 1/2012, S. 45-53.<br />
Weiterführende Literatur<br />
Bundesvereinigung Lebenshilfe (2006): Schwere Behinderung – eine Aufgabe für die Gesellschaft.<br />
Lebenshilfe-Verlag, Marburg<br />
Hagen, J. (2001): Ansprüche an und von Menschen mit einer geistigen oder mehrfachen Behinderung<br />
in Tagesstätten. Lebenshilfe-Verlag, Marburg.<br />
Leben mit Behinderung Hamburg (2011): Ich kann mehr! Berufliche Bildung für Menschen mit<br />
schweren Behinderungen. 53GradNord, Hamburg.<br />
Lelgemann, R. (1996): Arbeit ist möglich! Arbeitshilfen und Arbeitsplätze für Menschen mit schweren<br />
und mehrfachen Behinderungen.<br />
Bundesverband f. körper- u. mehrfachbehinderte Menschen, Düsseldorf.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 19
Berichte<br />
Michael Gehrke<br />
Initiativ werden – Die Kunst des guten Handelns<br />
Bericht von der internationalen Tagung für Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />
Nach dem Thema ‹Bewusstseinsbildung› vor<br />
zwei Jahren war es gar nicht so leicht, den Titel<br />
für die diesjährige Tagung zu finden. Zu abgedroschen<br />
oder moralinsauer klingen Formulierungen<br />
wie der Titel verheisst, so Rüdiger Grimm<br />
bei der Begrüssung zur internationalen Tagung<br />
für Heilpädagogik und Sozialtherapie.<br />
Doch damit ist man bereits bei einem wichtigen<br />
Aspekt des Themas angelangt, der damit zusammenhängt,<br />
dass beim menschlichen Handeln<br />
immer die handlungsleitende Moral oder<br />
das Wertsystem eine Rolle spielt.<br />
In zahlreichen Beiträgen wurde dann auch<br />
deutlich, dass ‹gut› oder ‹richtig› zu handeln,<br />
insbesondere im therapeutischen Kontext, tatsächlich<br />
eine Kunst ist. Denn der «Schatten des<br />
menschlichen Handelns», wie Rüdiger Grimm<br />
es formulierte, ist natürlich allgegenwärtig, wie<br />
auf der anderen Seite «Geistesgegenwärtigkeit»<br />
eine Voraussetzung des guten Handelns ist.<br />
Von Johannes Denger wurden die unterschiedlichen<br />
Ebenen der richtunggebenden Kräfte für<br />
das Handeln herausgearbeitet, von der triebgesteuerten<br />
Tat bis hin zu der von Rudolf Steiner<br />
in der Philosophie der Freiheit beschriebenen<br />
moralischen Intuition, Phantasie und Technik.<br />
Die Norwegerin Bente Edlund, die in Deutsch<br />
vortrug, wies darauf hin, dass der Wille heute<br />
‹out› sei. Sie erinnerte in diesem Zusammenhang<br />
an Steiners Ausführungen über den Philosophen<br />
Brentano: «Sind wir nicht alle Kinder<br />
Brentanos?» – «Denken heisst Vorstellungen<br />
bewegen, verknüpfen, festhalten, fokussieren.<br />
Das verlangt Willenskraft». Mit dieser Formulierung<br />
machte Bente Edlund den Zusammenhang<br />
von sogenannter geistiger Behinderung und der<br />
Willensentwicklung deutlich, der bei der frühkindlichen<br />
und kindlichen Entwicklung in reziproken<br />
Prozessen von «oben nach unten» bzw.<br />
«unten nach oben» verläuft.<br />
Mit der Wirksamkeit unfreier Willensimpulse beschäftigte<br />
sich Ron Dunselmann, der jahrzehntelange<br />
Erfahrung in der Drogentherapie gesammelt<br />
hat und Autor des Buches mit dem für sich<br />
sprechenden Titel ‹An Stelle des Ich› ist. «Sucht<br />
ist, wenn es in der Seele eine Begierde gibt, die<br />
unwiderstehlich ist». Hiermit sprach er die Frage<br />
nach dem freien Willen an und beschrieb einen<br />
siebenstufigen Entwicklungsweg, der die Ausbildung<br />
und Läuterung des Willens beinhaltet.<br />
Über Bedingungen einer gemeinschaftlichen<br />
Ich-Kultur, in der hinter dem Konflikt Gemeinschaftsformen<br />
aufleuchten, in denen sich der<br />
Gegensatz von Punkt und Kreis aufhebt, reflektierte<br />
Michaela Glöckler. Als Aufgabe anthropo-<br />
20
Berichte<br />
Beim Podiumsgespräch<br />
sophischer Initiativen sieht sie, den Willen zur<br />
Menschlichkeit individuell, institutionell-sozial<br />
und hinsichtlich des Menschheitsganzen zu wecken<br />
und zu pflegen.<br />
Mithilfe von beeindruckendem Bildmaterial<br />
über den Begriff der Seele in Comenius‘ berühmtem<br />
Orbis sensualium pictus und der Skizze<br />
auf einem Notizblatt von Joseph Beuys zur<br />
Frage der Seelenkräfte illustrierte Walter Kugler<br />
seine Ausführungen über die Anthroposophie<br />
als Willenskultur.<br />
Am Abend des ersten Tages präsentierten Volker<br />
Frielingsdorf, Brigitte Kaldenberg und Rüdiger<br />
Grimm einem sehr interessierten Publikum<br />
Streiflichter aus der Geschichte der Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie.<br />
Neben den Vorträgen spielte sich ein buntes<br />
Tagungsgeschehen ab. Die über 800 Teilnehmerinnen<br />
und Teilnehmer aus 32 Ländern<br />
fanden sich zu 48 Arbeitsgruppen und zahlreichen<br />
freien Initiativen zusammen.<br />
Daneben sorgten die verschiedensten Angebote<br />
der ‹Kunst um halb drei› für belebenden Ausgleich<br />
zu den Vorträgen und Arbeitsgruppen.<br />
Als ein Highlight der Tagung darf durchaus das<br />
Podiumsgespräch am Vormittag des letzten<br />
Tages genannt werden, bei dem Menschen mit<br />
und ohne Behinderung ihre innovativen und beeindruckenden<br />
Projekte vorstellten.<br />
An den Abenden wurde mit einer Eurythmie-Aufführung<br />
des Eurythmieensembles der Goetheanum<br />
Bühne, einem Chorprojekt über Kaspar<br />
Hauser von der Lebensgemeinschaft Le Béal aus<br />
Frankreich und der Compagnia Dimitri für Kulturgenuss<br />
und Kurzweil gesorgt.<br />
Die Ausstellung ‹Rätsel› der Malerwerkstatt der<br />
Lebensgemeinschaft Vidaråsen umrahmte das<br />
Tagungsgeschehen und führte den Betrachter in<br />
die geheimnisvolle Welt der Künstler.<br />
Ein wichtiger Teil war aber wieder die nicht organisierte<br />
Zeit. Das Wiedersehen von alten Bekannten<br />
aus allen Teilen der Welt und viele neue<br />
Begegnungen machten die Zusammenkunft lebendig<br />
und interessant.<br />
Wieder einmal zeigte sich, dass die internationale<br />
Tagung für Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />
als ein Ereignis gelten kann, an dem der Puls<br />
der Zeit zu spüren ist. Der Veranstaltung diese<br />
Prägung gegeben zu haben, dafür sei Rüdiger<br />
Grimm und seinen Mitstreitern bei der Vorbereitung<br />
der Tagung gedankt.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 21
Jasminka Bogdanovic<br />
Impressionen aus der Ausstellung «Rätsel»<br />
Am Goetheanum vom 9. – 21. Oktober 2012 der ‹Malerverksted› in Vidaråsen (Norwegen)<br />
mit Bildern von Tore Janicki, David Johansen, Reidun Larsen, Arnkjell Ruud, Hannes Weigert<br />
Tore Janicki: Der Mensch im Geiste<br />
Malerwerkstatt<br />
Seit drei Jahren kommt Hannes Weigert<br />
täglich in die Malerwerkstatt. An den Vormittagen<br />
arbeitet er an seinen eigenen Bildern,<br />
an den Nachmittagen sind jeweils vier<br />
andere Malende dabei: Tore Janicki, David<br />
Johansen, Reidun Larsen und Arnkjell Ruud.<br />
Man redet nicht viel miteinander, karge, mehr<br />
hinweisende Worte, es gilt zu malen. Tische,<br />
Farben, Papiere, Pinsel, Stifte und alles Nötige<br />
für ein Mal-Atelier sind vorhanden.<br />
Hier ist keine Schule, kein Therapeutikum,<br />
keine Atelier-Gemeinschaft, und doch von<br />
allem ein wenig, noch andere Nuancen zulassend,<br />
das eigentliche Anliegen, den Raum für<br />
die Möglichkeiten des Schaffens zu öffnen.<br />
In dieser Werkstatt gilt kein Klischee von<br />
Behinderung, die individuellen Einschränkungen<br />
werden zugleich als besondere<br />
Gaben angesehen.<br />
Nach Aussage von Arnkjell Ruud ist Hannes<br />
Weigert der Chef, denn Hannes leitet die<br />
Werkstatt, indem er die Anregungen und<br />
Hilfestellungen für die Arbeit gibt. Ganz so<br />
will er sich aber nicht sehen, er lässt sich<br />
selbst von Anderen auch anregen in den ewig<br />
bohrenden künstlerischen Fragen, welche<br />
Hannes über das Feld der reinen Malerei<br />
erforschen will. Er versteht seine Tätigkeit als<br />
einem Produzenten ähnlich. Aufmerksam ver-<br />
22
Beiträge<br />
folgt er, wie sich das Team zu einem gleichgewichtig-unverwechselbaren<br />
Zusammenklang,<br />
welchen alle Beteiligten prägen, findet. Mit<br />
der Zeit durchklingt eine Art Sound die Atmosphäre<br />
der entstandenen Werke.<br />
Ohne ein für alle gültig vorgegebenes Thema<br />
richtet sich die Intention auf das Malen<br />
selbst. Das schöpferische Potenzial, jedem<br />
Menschen innewohnend, ist das Verbindende.<br />
Die Motive sind handlungsleitend und<br />
werden individuell gefunden.<br />
Davon zeugen die ausgestellten Bilder hier im<br />
Terrassensaal des Goetheanums. Es sind einundzwanzig<br />
fein eingerahmte Papierarbeiten:<br />
alle mit denselben Massen von 84X59 cm,<br />
Acryl auf Papier. Eine gewisse Frische und<br />
kindliche Freude des Schaffens erstrahlt in<br />
dem Raum. Das, was zu sehen ist, ist authentisch,<br />
fragt nicht nach Korrektur oder Ergänzung.<br />
David Johansen<br />
David Johansen: König<br />
Die Bilder von David Johansen sind reine<br />
Spiegel willentlich gesetzter Spuren der aufgetragenen<br />
Farben: sie könnten z.B. Tore,<br />
eine Katze darstellen. So das Bild ‹König›<br />
(2011): auf weissem Papier aufgetragen,<br />
abwechselnd das Rot und Violett, die Form<br />
einer Tür andeutend, darin angelehnt eine<br />
Gestalt, nach David Johansen ein König;<br />
zum König macht ihn der feierliche Klang der<br />
Farben und seine Positionierung. Er steht an<br />
einer Schwelle, denn ein guter König ist ein<br />
Verbindender, Begleiter, Beschützer, Bewacher<br />
seiner Untertanen. Der obere Teil der<br />
Schwelle wirkt in der Fläche mächtig, durch<br />
diese wird die Gestalt gestärkt, «gekrönt».<br />
Aber die Abstraktheit und das labile Gleichgewicht<br />
der gemalten Konstruktion lassen<br />
dieser Erzählung keinen dauerhaften Halt zu.<br />
Es drängen sich erneut die Farben, Linien und<br />
Flächen als reine Willensäusserungen hervor:<br />
Sie sind so, wie sie sind – nicht mehr und<br />
nicht weniger. Das Bild lässt an die Konkrete<br />
Kunst denken.<br />
Reidun Larsen<br />
Die Werke von Reidun Larsen sind motivisch<br />
aufgefasst: unmittelbar erlebte und<br />
klar sprechend wiedergegebene Bilder der<br />
Eurythmiefiguren. Wer diese kennt, wird die<br />
Reinheit und die Treffsicherheit im Erfassen<br />
des Wesentlichen an diesen Darstellungen<br />
finden. Das Bild ‹Eurythmiefigur P›<br />
(2012) wirkt durchtanzt, der rötlich violette<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 23
Beiträge<br />
«Schleier» macht um den rechten Arm der<br />
Figur eine Drehung, etwas Typisches für den<br />
Laut P: das Innere in leiblicher Beziehung<br />
stülpt sich nach aussen.<br />
Von der kindlichen Unbeholfenheit, der kindlichen<br />
Wesenhaftigkeit und Unmittelbarkeit,<br />
welche diese Bilder ausstrahlen, würden viele<br />
Künstler gerne lernen.<br />
Tore Janicki<br />
Diesen Eindruck bestätigen auch die Bilder<br />
von Tore Janicki. Nach Skizzen Rudolf Steiners<br />
hat er das Motiv ‹Der Mensch im Geiste›<br />
(2012) zweimal gestaltet. Das eine der Bilder<br />
stellt einen sitzenden, blauen Menschen im<br />
Profil, mit dem Buch in der Hand dar, ‹Ich›<br />
(norwegisch: Jeg) ist auf dem Buch zu lesen;<br />
sein Kopf mit Aureole gekrönt berührt ein<br />
grünes Engelwesen mit dem Zipfel seines<br />
Kleides und schaut aus dem Bild den Betrachter<br />
an, darüber schwebt ein orange-roter<br />
Engel lächelnd, beide anderen beschützend,<br />
so als ob er an einem über ihm noch höheren<br />
Wesen hängen würde. Von ihm aus scheint<br />
der helle Hintergrund auszustrahlen und<br />
alle die gemalten Gestalten zu umhüllen. Sie<br />
wirken wie durch ein unsichtbares Band, in<br />
der Senkrechten miteinander verbunden und<br />
voneinander abhängig. Freudige Lebenszuversicht<br />
strahlen sie aus. Etwas wie ein Ich-<br />
Gefühl des sich Aufrichtens stellt sich ein.<br />
Die Dreigliedrigkeit dieser einfachen Kompositionen<br />
wirkt einheitlich. Die Empfindung,<br />
in der Ganzheit der Welt beheimatet zu sein,<br />
spiegeln diese Blätter wider.<br />
Arnkjell Ruud<br />
Arnkjell Ruud ist ein begabter Maler. Künstlerische<br />
Freiheit und Originalität zeigen alle<br />
seine Portraits. Mittels Zeichnung und Farbe<br />
gibt er den betreffenden Personen Ausdruck.<br />
Ob nach einer Fotografie, einer Abbildung,<br />
oder sich selbst vor dem Spiegel malend, ein<br />
jedes Gesicht ist unverwechselbar. ‹Selbstbildnis›<br />
(2011) zeigt einen durchgrauten<br />
Mann in Untersicht. Der Kopf scheint sich aus<br />
dem Körper heraus zu ziehen. Visionär und<br />
in sich gefangen wirkt sein durch die Brille<br />
gefasster Blick, schweigsam die Lippen, ein<br />
Ohr, das aufmerksam hört.<br />
Ruhe in der Körperhaltung, Unruhe im<br />
Gesicht – duldsam heroisch zeigt er sich<br />
selbst: das menschliche Antlitz als Imagination<br />
des Ich.<br />
Hannes Weigert<br />
Inmitten dieser Schöpfungen reihen sich zwei<br />
Bilder von Hannes Weigert ein. Man könnte<br />
sie übersehen, wenn man alle anderen,<br />
schon Beschriebenen in Augenschein nimmt:<br />
Weil sie alle auffallender platziert sind, farbiger<br />
und linear ausgeprägter. Bei ihnen stellt<br />
sich die Befriedigung sofort wie bei einem<br />
Kinde ein. An diesen Bildern ist etwas in sich<br />
selbst sich Spiegelndes, etwas, was keine<br />
bohrenden Fragen und Zweifel kennt.<br />
Hannes Weigerts Bilder dagegen in Grau<br />
und Inkarnat gehalten, mit nur angedeuteten<br />
«Gesichten», wo positive und negative<br />
Formen ineinander greifen, sind deutungs-<br />
24
Reidun Larsen: Eurythmiefigur nach Rudolf Steiner (P)<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 25
Hannes Weigert: ohne Titel (nr.17)<br />
Reidun Larsen: Eurythmiefigur nach Rudolf Steiner (S)<br />
26
Arnkjell Ruud: Selbstbildnis (nr.7)<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 27
Beiträge<br />
offen, durchweht vom Selbstverständnis des<br />
Künstlers, seiner Autonomie, bestimmt durch<br />
das Kreuz des ewig Fragenden, ausgesetzt<br />
dem zähen Spiel zwischen zwei Wirklichkeiten:<br />
des Künstlers und dem Bild.<br />
In ‹Ohne Titel›, Nr. 17 (2012) eine uneinheitliche,<br />
offene graue Fläche, unterbrochen von<br />
einer etwas einheitlicheren rosig farbigen,<br />
geschlossenen Form, welche von der linken<br />
Seite klarer als von der rechten begrenzt ist.<br />
An der schärferen Berührungskante beider<br />
Farben bildet sich etwas wie ein Gesicht im<br />
Halbprofil. Sofort entsteht die Frage ... ? ...<br />
welche aber noch unformulierbar inne hält.<br />
In der rechten Ecke des Bildes die Zahl 17.<br />
Ist das Bild eine Variation der langen Zahlenreihe<br />
der Fragen?<br />
Das Leben mit Bildern<br />
Das Bild weist immer über sich selbst hinaus,<br />
es ist die Manifestation dessen, was es darstellt.<br />
Einer Maske ähnlich verhüllt es den<br />
Träger, das heisst, den darzustellenden<br />
Weltinhalt und es zeigt, was dieser in seiner<br />
Ganzheit nicht von selbst zu zeigen vermag.<br />
Das Bild hat Offenbarungscharakter. Die Projektion<br />
(die Darstellungstätigkeit) ist ein Prozess,<br />
welcher das ursprüngliche Wesen (den<br />
darzustellenden Weltinhalt) in einem ihm<br />
fremden Medium an einem anderen Ort und<br />
zu einer anderen Zeit zur Darstellung bringt.<br />
Das Medium können Farben, Töne, Bewegungen,<br />
Sprache usw. sein; diese bestimmen<br />
die Art der Darstellung. Das Medium ist die<br />
Projektions- oder Darstellungsfläche mit dem<br />
Anspruch, das Dargestellte so zu zeigen, wie<br />
es in seiner Wahrheit und Wirklichkeit ist,<br />
aber im Bilde und nicht durch die Erkenntnis.<br />
Das Bild ist nicht definierbar, aber sinnlich<br />
wahrnehmbar und erlebbar. Das ist der Weg<br />
der Kunst.<br />
Kunst ist der Zugang zur Wirklichkeit. Der<br />
Künstler schafft aus sich selbst heraus, er<br />
macht die Weltinhalte durch die Darstellung<br />
erfahrbar für die Wahrheit der Welt. Durch<br />
seine Tätigkeit tritt das Verborgene in die<br />
Sichtbarkeit; ein Wesen, was in seiner Unmittelbarkeit<br />
nicht erfasst werden kann, wird<br />
mittels der Darstellung erfassbar. Das Bild ist<br />
eines der selbstverständlichsten Wunder der<br />
Welt.<br />
Bild als Zeitgestalt<br />
Die Ausstellung «Rätsel» zeigt eine als Gesamtbild<br />
anschaubar gewordene Bildentstehung,<br />
aufgefächert in verschiedenen Stufen. Einzelne<br />
dieser Stufen von einem Malenden angefangen<br />
und durch den anderen fortgesetzt nach dem<br />
Mass der individuellen Fähigkeiten.<br />
Die Ausstellung verrät das ‹Bild› in seiner Zeitgestalt,<br />
die Freude des Weges, das Licht der<br />
Hoffnung, die Nähe der möglichen Lösung: Tore<br />
– Spiegel – Schwelle – berührend und rätselhaft.<br />
Hannes Weigert, geboren in 1964 in Deutschland, studierte<br />
und unterrichtete von 1985-1995 an der Malschule<br />
am Goetheanum und lebt seitdem in Norwegen.<br />
Projekte: Kores Haus (mit Patrick Müllerschön, 1996-<br />
2003), The School of Nature (innerhalb der Anthroposophischen<br />
Gesellschaft in Norwegen, 2003-2010),<br />
Lichtgold (Loidholdhof, Österreich, 2009), Malerverksted<br />
(Vidaråsen, Norwegen, seit 2009).<br />
Jasminka Bogdanovic ist magistrierte Kunstmalerin,<br />
Eurythmistin und Dozentin für das Fach Malen an der<br />
«AfaP», Dornach. Sie macht regelmässige Ausstellungen<br />
und beteiligt sich an der Projektarbeit zu Goethes Farbenlehre<br />
«Experiment FARBE», leitet künstlerische Seminare<br />
und Kunstreisen, hält kunstgeschichtliche Vorträge.<br />
Diverse literarische Beiträge für Fachzeitschriften<br />
28
Maximilian Buchka<br />
Aktuelle Entwicklungslinien in der Arbeit mit<br />
erwachsenen Menschen mit Behinderung<br />
Einleitung<br />
Im Folgenden möchte ich die Entwicklungslinien der Arbeit mit Erwachsenen auf die<br />
Gruppe der Menschen mit geistiger Behinderung eingrenzen und mich dabei besonders<br />
der Frage der Erwachsenenbildung für diesen Personenkreis zuwenden. Die<br />
Begriffe Andragogik und Erwachsenenbildung werden synonym verwendet.<br />
Begriff der Erwachsenenbildung (Andragogik)<br />
Der Begriff der Andragogik, abgeleitet von «aner = Mann, Mensch» und «ago = ich<br />
führe, leite, ziehe» ist «die Bezeichnung für die wissenschaftliche Behandlung der<br />
Fragen der Erwachsenenerziehung und -bildung. Der Begriff Andragogik ist für J. Dolch<br />
erforderlich, wenn «das Unterschiedliche gegenüber der Erziehung und Bildung von<br />
Kindern und Jugendlichen betont wird» (1965, S. 22). Auch für H. Hanselmann (vgl.<br />
1951, S. 20) ist es aus systematischer Sicht notwendig, dass es einen von der Pädagogik<br />
unterschiedlichen Begriff für die Erwachsenenbildung gibt, «obwohl die Pädagogik<br />
und die Andragogik mit all ihren Bemühungen ein und dasselbe Ziel verfolgen, die Bildung<br />
des Menschen» (S. 91). Neben Andragogik ist auch der deutsche Begriff Erwachsenenbildung<br />
geläufig. Er hat sich nach W. Strzelewicz (vgl. 1984, S. 183f.) einerseits<br />
aus der angelsächsischen Bezeichnung «adult education» entwickelt und andererseits<br />
aus der in der Reformpädagogik gebräuchlichen Bezeichnung für die Volksbildung.<br />
Es muss aber betont werden, dass, im Gegensatz zum deutschen Verständnis von<br />
Erwachsenenbildung, der im angelsächsischen Kulturkreis verwendete Begriff «adult<br />
education» nicht für eine individualistische Bildungsidee (Bildung für mich) steht, son-<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 29
Beiträge<br />
dern das damit die soziale Idee der Bildung (Bildung durch und für die Gesellschaft)<br />
gemeint ist, oder anders ausgedrückt: «Adult education» bezeichnet die «Befähigung<br />
zum alltäglichen, mitmenschlichen Zusammenleben» (Pöggeler 1974, S. 29).<br />
Geschichte der Erwachsenenbildung (Andragogik)<br />
Die Anfänge der Andragogik lassen sich bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen.<br />
Die Idee der Aufklärung, die den gebildeten Menschen zum Ziel hatte,<br />
die politischen Umwälzungen im Rahmen der Freiheitskriege, die den Bürgern eine<br />
Demokratisierung ihrer politischen Systeme brachten, die totale Veränderung der<br />
Industrieproduktion und der damit einher gehende Wandel der Arbeits- und Berufswelt,<br />
die immer stärker zu beobachtende soziale Mobilität sowie die aktive Einbeziehung<br />
der Frauen in Politik, Beruf und Gesellschaft machten eine lebenslange Bildung<br />
erforderlich, ergänzend zu der sehr oft ungenügenden Schulbildung. Zu Beginn der<br />
Entwicklung der Andragogik war es ihre wichtigste Aufgabe, die noch mangelnde<br />
Schulbildung auszugleichen, im Sinne einer kompensatorischen Bildung. Nach der<br />
Verbesserung der Schulbildung wurde in der Erwachsenenbildung Wert gelegt auf<br />
eine komplementäre Bildung, die auf Dauer eine Neueinstellung auf die veränderte<br />
Situation in Familie, Beruf und Gesellschaft durch erwachsenengemässe Lernmethoden<br />
ermöglichen sollte («life long learning»).<br />
Mit der Aufwertung der Erwachsenenbildung zu einem tertiären Bildungsangebot<br />
wurden in Deutschland Gesetze auf den Weg gebracht, die diese zu einem integrierten<br />
Teil des öffentlichen Bildungswesens gemacht haben, auf der Basis der Empfehlungen<br />
des Deutschen Bildungsrats im Strukturplan zum Bildungswesen für die<br />
Bundesrepublik Deutschland von 1970, in der die Erwachsenenbildung als tertiäres<br />
Bildungsangebot beschrieben wurde (vgl. 1972, S. 199f.).<br />
Aufgaben der Erwachsenenbildung (Andragogik) bei Menschen mit geistiger Behinderung<br />
Die Forderung nach andragogischer oder Erwachsenen-Bildung für Menschen mit geistiger<br />
Behinderung schien nicht unumstritten zu sein. Hanselmann war z. B. noch<br />
der Meinung, dass nur Erwachsene, die durch die vorangegangene Erziehung und<br />
Bildung im Kindes- und Jugendalter sich voll entwickelt hätten, für eine Andragogik<br />
in Frage kämen. Menschen mit Behinderungen, die dieses Ziel nur mit wesentlichen<br />
Einschränkungen erreichen, «bedürfen nach Abschluss der ihnen angemessenen Bildungszeit<br />
als Erwachsene, an Stelle der Andragogik, einer organisierten, sachkundig<br />
und ‹lebenslänglich nachgehenden Fürsorge›, um ihr individuelles Lebensglück<br />
30
Beiträge<br />
(und) ihre beschränkte soziale Brauchbarkeit (…) zu sichern» (1951, S. 24). Vielleicht<br />
sind diese Vorbehalte Hanselmanns hinsichtlich der Andragogik bei Menschen mit<br />
geistiger Behinderung auf seinen unklaren Selbstbildungsbegriff zurückzuführen. Für<br />
ihn war eine Selbstbildung von Erwachsenen mit geistiger Behinderung noch sehr<br />
umstritten, da er sich für diesen Personenkreis nur eine geplante Bildung (im Sinne<br />
geplanter Lern- bzw. Unterrichtsprozesse) durch ausgebildete Lehrende vorstellen<br />
konnte.<br />
Diese negative Selbstbildungssicht von Hanselmann für erwachsene Menschen mit<br />
geistiger Behinderung blieb lange Zeit in der Heil- und Sonderpädagogik gültig. So<br />
war noch 1969 Kobi der Meinung, dass eine Andragogik bei Menschen mit geistiger<br />
Behinderung, er bezeichnete sie als Geistesschwache, sehr schwierig sei, insbesondere<br />
für schwer behinderte Menschen. Er führte aus: «Mit den Geistesschwachen<br />
haben wir Menschen vor uns, die in ihrem ganzen Wesen ‹anders› sind. Dieses<br />
Anderssein lässt sich nicht durch äussere Hilfen ganz oder teilweise kompensieren.<br />
Schwere Schwachsinnsgrade verunmöglichen die Verselbständigung und machen<br />
auch im Erwachsenenalter eine dauernde Betreuung (nachgehende Fürsorge) erforderlich.<br />
Die Möglichkeiten einer sonderpädagogischen Erwachsenenbildung sind<br />
daher, soweit es sich um Bildungsunfähige handelt, minimal» (Kobi 1969, S. 804).<br />
Wenn er auch bei dieser Personengruppe gewisse Vorbehalte hinsichtlich einer<br />
Erwachsenenbildung hatte, bejahte Kobi jedoch eine allgemeine sonderpädagogische<br />
Erwachsenenbildung und verstand sie als die Gesamtheit der Bemühungen<br />
um die Förderung psychisch oder physisch geschädigter Erwachsener mit dem Ziel,<br />
diesen die Anpassung innerhalb der Gesellschaft zu erleichtern und ihnen Wege zu<br />
zeigen, wie sie, trotz ihrer Behinderung, zu einem erfüllten Leben und zur Teilhabe am<br />
kulturellen Leben ihrer Mitwelt finden können (vgl. 1969, S. 802).<br />
Die Zurückhaltung in damaliger Zeit gegenüber einer Andragogik für erwachsene<br />
Menschen mit geistiger Behinderung führt Speck u. a. darauf zurück, dass erst eine<br />
solche Bildung als notwendig erkannt wurde, nachdem die personalen und sozialen<br />
Lebensmöglichkeiten durch neue heil- und sonderpädagogischen Massnahmen<br />
erweitert wurden in Verbindung mit einem Verständniswandel über den erwachsenen<br />
Menschen mit geistiger Behinderung, der jetzt nicht mehr als das «stehen gebliebene<br />
Kind» oder der «unmündiger Mensch» angesehen wurde (vgl. 1982, S. 11).<br />
In der Neuauflage des «Enzyklopädischen Handbuchs der Sonderpädagogik» wurde<br />
endlich der Anschluss an die gegenwärtige Bildungsdiskussion in der allgemeinen<br />
Andragogik oder Erwachsenenbildung hergestellt. Kerkhoff (vgl. 1992, S. 183f.) geht<br />
dabei, wie in der allgemeinen Andragogik üblich, von der spezifischen Sozialsituation<br />
und Bedürfnislage ihrer Teilnehmer aus, die sich für ihn bei der Personengruppe der<br />
Menschen mit Behinderung durch das Faktum ihrer Behinderung spezifiziert.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 31
Beiträge<br />
Der besondere Zuschnitt der Andragogik für erwachsene Menschen mit Behinderung liegt<br />
für Kerkhoff darin, dass auch ihnen die «Teilhabe, Mitgestaltung und Mitentscheidung an<br />
den Entwicklungs- und Umformungsprozessen in allen Lebensbereichen» (1992, S. 183)<br />
ermöglicht werden muss. Eine weitere Zielakzentuierung liegt darin, schulische Defizite<br />
auszugleichen oder dass die in der Schulzeit gelernten Inhalte und Fertigkeiten im Verlauf<br />
des Lebens nicht wieder verloren gehen (vgl. Kerkhoff 1992, S. 184).<br />
Ein Desiderat ist derzeit noch die Bildung erwachsener Menschen mit einer schweren<br />
geistigen Behinderung in Kombination mit weiteren Beeinträchtigungen. Es ist<br />
klar, dass diese Zielgruppe von der Andragogik nicht ausgeschlossen werden darf.<br />
Die Bildung der erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung darf sich nicht<br />
strukturell, sondern nur graduell unterscheiden von der Bildung der Menschen ohne<br />
Behinderung. Notwendig jedoch ist, dass das Verständnis von Bildung für diese Personengruppe<br />
geändert werden muss. Es orientiert sich nicht mehr am humanistischen<br />
Bildungsideal, sondern sie muss besonders die alltagsorientierte Bildung zum<br />
Ziel haben. Für Bühler und Schlienger (1991, S. 12) heisst das z. B.:<br />
- «Bilden heisst orientieren an den Bedürfnissen und am Lernwillen der betroffenen Person;<br />
- Bilden heisst erschliessen der kulturellen und individuellen Bedeutung von<br />
Gegenständen und Beziehungen;<br />
- Bilden heisst ausgehen von konkreten Situationen, die der Alltag bietet;<br />
- Bilden heisst ermöglichen von grundlegenden Erfahrungen;<br />
- Bilden heisst fördern von Eigenaktivitäten;<br />
- Bilden heisst gemeinsam handeln mit den Betroffenen.»<br />
Allgemeine Konzepte der Erwachsenenbildung (Andragogik) bei Menschen mit<br />
geistiger Behinderung<br />
Bei den didaktischen Entwürfen hinsichtlich einer allgemeinen Erwachsenenbildung<br />
(Andragogik) für Menschen mit geistiger Behinderung kann man drei bedeutende<br />
Konzepte unterscheiden:<br />
- Die heilpädagogische Erwachsenenbildung,<br />
- die systemische Erwachsenenbildung und<br />
- die integrative Erwachsenenbildung.<br />
Das Konzept der heilpädagogischen Erwachsenenbildung<br />
Für Theunissen (1991) ist die Erwachsenenbildung (Andragogik) bei Menschen mit<br />
geistiger Behinderung als eine heilpädagogische zu konzipieren. Mit dem Begriff des<br />
«Heilpädagogischen» möchte er das «Ganzheitliche» und den «ökologisch-systemischen<br />
Lebensvollzug» (Speck 1996) in seinem Konzept deutlicher hervorheben.<br />
32
Beiträge<br />
Weiterhin ist es sein Bestreben, diese Form der Erwachsenenbildung stärker im pädagogischen<br />
Raum zu verorten und ihre vorrangigen pädagogischen und didaktischen<br />
Leitlinien deutlicher zu machen. Das «Heilende» versteht er mit Kobi im umfassenden<br />
Sinne der Verganzheitlichung und Sinnerfüllung des Lebens. Die Aufgaben richten<br />
sich dabei auf «behindertenbezogene (Lern-)Hilfen und Gelegenheiten ‹zum beglückenden<br />
Miteinanderseins› (Speck), auf Momente wie Lebenssinn, Lebensfreude und<br />
Daseinsgestaltung» (Theunissen 1991, S. 28).<br />
Durch die Verortung seiner «Heilpädagogischen Erwachsenenbildung» im pädagogischen<br />
und therapeutischen Raum werden für Theunissen dabei Funktionen wichtig,<br />
die in der Tradition der Heilpädagogik liegen, z.B. die:<br />
- Emanzipatorische Funktion<br />
als Überwindung der Hindernisse bei der Verwirklichung der Selbstbestimmung<br />
durch mögliche Fremdbestimmungen. Diese Funktion gilt sowohl für die Betroffenen<br />
wie auch für das soziale und gesellschaftliche Umfeld;<br />
- Kompensatorische Funktion<br />
als Notwendigkeit des Nachholens und Ausgleichens von Defiziten und des Suchens<br />
nach einem Ausgleich für zu einschränkende Bedingungen (z. B. Wohnen, Arbeiten);<br />
- Komplementäre Funktion<br />
als Informationsvermittlung, Aufklärung, Lernhilfe und Unterstützung zur<br />
Bewältigung gesellschaftlicher Realität, um zur Partizipation und zur emanzipierten<br />
Beteiligung am kulturellen Erbe fähig zu sein;<br />
- Integrative Funktion<br />
als Vernetzung und Integration der verschiedenen Bildungsangebote der<br />
Institutionen (Werkstatt, Wohnheim, Freizeitclub);<br />
- Therapeutische Funktion<br />
als Hilfen zu physisch-psychischem Wohlbefinden, zum Abbau psychischer Krisen<br />
oder spezifischer Beeinträchtigungen, zur Beseitigung von Verhaltensauffälligkeiten,<br />
zur Ich-Findung, zum Aufbau eines positiven Selbstwertgefühls und<br />
Sozialverhaltens, Verbesserung einer realistischen Selbst- und Fremdwahrnehmung<br />
sowie Stabilisierung der Identität.<br />
Hier muss allerdings kritisch angefragt werden, ob diese therapeutische Funktion<br />
überhaupt dem oben genannten Bildungsgedanken zugeordnet werden kann.<br />
Die «Heilpädagogische Erwachsenenbildung» geht für Theunissen über die bisherige<br />
Erwachsenenbildung als Volkshochschulbildung hinaus und hat für ihn ihren Einsatzort<br />
in allen Lebensräumen des Erwachsenen mit geistiger Behinderung. Er nimmt auch<br />
keine weitere Einteilung nach Schweregraden und Ausprägungsformen der geistigen<br />
Behinderung vor, da sie grundsätzlich für alle Teilnehmenden zugänglich sein muss.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 33
Beiträge<br />
Grundsätzlich soll sich die «Heilpädagogische Erwachsenenbildung» bei allen ihren<br />
Angeboten und Aktivitäten am primären Lebensraum der Teilnehmerinnen und Teilnehmer<br />
orientieren, darüber hinaus aber auch zusätzliche Angebote zur gesellschaftlichen<br />
Integration machen (vgl. Theunissen 1991, S. 65f.).<br />
Kritisch muss vermerkt werden, dass die heilpädagogische Erwachsenenbildung sich<br />
explizit auf die Personengruppe der Menschen mit Behinderung richtet, zum Teil defizitorientiert<br />
ist und von der Grundanlage her auch nicht so konzipiert ist, dass auch<br />
nicht behinderte Mitglieder an dieser heilpädagogischen Erwachsenenbildung teilnehmen<br />
können.<br />
Weiterhin ist sie, didaktisch betrachtet, eine sog. zielgruppenorientierte Erwachsenenbildung<br />
(vgl. Albers et al. 1989). Diese wurde entwickelt, um für besonders<br />
benachteiligte Gruppen in der Gesellschaft den Anschluss an diese und die Teilnahme<br />
an ihr zu ermöglichen. In der sonderpädagogischen Andragogik wird das Konzept der<br />
zielgruppenorientierten Erwachsenenbildung insbesondere von Erika Schuchardt<br />
(1987) auf der Basis ihrer Biografieforschung vertreten. Das Zielgruppenkonzept ist<br />
nicht ohne Kritik geblieben, weil sie z. B. für Schwarte fast immer defizitorientiert<br />
ist. Dadurch kämen immer mehr Therapieangebote mit ins Bildungsprogramm, die<br />
seiner Meinung nach nichts in der Erwachsenenbildung zu suchen hätten (vgl. 1991,<br />
S. 19). Durch diese defizitorientierte Ausrichtung der heilpädagogischen Zielgruppen-<br />
Erwachsenenbildung «und der daraus folgenden Tendenz zur Homogenisierung der<br />
Bildungsangebote für verschiedene Zielgruppen des Adressatenkreises der ‹sozial<br />
Benachteiligten›» (Lindmeier 2000, S. 174) sowie durch die Exklusivität der Bildungsorte<br />
(z. B. Werkstatt oder Wohnheim für behinderte Menschen) finden diese Angebote<br />
der heilpädagogischen bzw. zielorientierten Erwachsenenbildung bei nicht behinderten<br />
Menschen wenig Zuspruch und bekommen dadurch einen integrations- bzw.<br />
inklusionsfeindlichen Charakter.<br />
Das Konzept der systemischen Erwachsenenbildung<br />
Das Systemische in der Erwachsenenbildung meint:<br />
- «einerseits, dass die Lernprozesse von den Lernbedürfnissen der zu den primären<br />
Bezugssystemen gehörenden Personen ausgehen müssen, und zwar unter<br />
Berücksichtigung der Bedingungen, die deren Entwicklungsmöglichkeiten<br />
bestimmen,<br />
- andererseits, dass bei der Organisation von Lernprozessen die Hilfsquellen<br />
mobilisiert werden, die in den Systemen zur Verfügung stehen, in denen der<br />
Behinderte mit seinen Angehörigen lebt» (Linden/Schwarte 1985, S. 178).<br />
Die «Systemische Erwachsenenbildung» (Linden/Schwarte 1965; Schwarte 1991)<br />
zeichnet sich dadurch aus, dass das soziale Umfeld mit in die Erwachsenenbildung<br />
34
Beiträge<br />
einbezogen wird. Die Autoren gehen dabei einerseits von einem umfassenden Lernbegriff<br />
und andererseits von dem Gedanken aus, dass «langfristig wirksame, erfahrungsbedingte<br />
Verhaltensänderung bei Menschen mit geistiger Behinderung nicht in Gang<br />
gebracht werden kann, wenn sich nicht das umgebende soziale Bezugssystem mit<br />
verändert» (1985, S. 174). Die allgemeine Zielsetzung der Erwachsenenbildung bei<br />
Menschen mit geistiger Behinderung wie Selbstständigkeit, Persönlichkeitsbildung<br />
und soziale Partizipation ist allein noch keine konkrete Bestimmung dessen, was eine<br />
systemische Erwachsenenbildung ausmacht, erst der emanzipatorische Ansatz, der<br />
sich aus ihrer Erwachsenenrolle ergibt, macht es möglich, die Beeinträchtigung durch<br />
die Behinderung zu minimieren. «Dazu bedarf es dringend der Einbeziehung des sozialen<br />
Umfeldes, das ja Behinderung im eigentlichen Sinne erst hervorbringt» (Linden/<br />
Schwarte 1985, S. 175).<br />
Aus der systemischen Arbeit heraus ergeben sich für diese Form der Erwachsenenbildung<br />
bei Menschen mit geistiger Behinderung drei Ansatzpunkte:<br />
1. Die Erwachsenenbildung soll die Selbstständigkeit der Teilnehmenden mit geistiger<br />
Behinderung unterstützen durch neu erworbene Handlungsmöglichkeiten, die<br />
diese in ihren Alltag einbringen können;<br />
2. Die Erwachsenenbildung soll möglichst in realen Situationen stattfinden,<br />
deshalb ist es wichtig, ein breites Spektrum realer Lebenssituationen zu finden, in die<br />
die Lernbegleiter einbezogen werden können;<br />
3. Laienhelfer aus dem sozialen Umfeld und auch Mitarbeiter aus anderen sozialen<br />
Netzwerken und Bezugssystemen sollen mit in der Erwachsenenbildung tätig werden<br />
(vgl. Linden/Schwarte 1985, S. 177f.).<br />
Beim konkreten Lernprozess müssen dann auf allen Entscheidungsebenen, die der<br />
Orientierung, der Analyse/Zielfindung, der Planung/Strategieentwicklung sowie der<br />
Überprüfung/Evaluation die verschiedenen sozialen Bezugssysteme immer mit einbezogen<br />
werden, damit nicht ausschliesslich der Mensch mit Behinderung, sondern<br />
stets auch das soziale Umfeld mit erfasst wird. Dabei ist die Frage der institutionellen<br />
Anbindung nachrangig, wenn bei den «Überlegungen die Kriterien des Normalisierungsprinzips<br />
und der Gemeinwesensorientierung mit bedacht werden» (Linden/<br />
Schwarte, 1985, S. 181).<br />
Das Konzept der integrativen Erwachsenenbildung<br />
In den letzten Jahren hat sich das Verständnis von Integration verändert. Sie «bedeutet<br />
jetzt nicht mehr Angleichung, Nivellierung, Verstehen um jeden Preis, sondern<br />
Anerkennung von kultureller, geschlechtlicher, altersspezifischer Differenz, von Vielfalt<br />
und Pluralität. Die Grenzen des Fremdverstehen werden erkannt und anerkannt»<br />
(Siebert zit. nach Lindmeier 2000, S. 177).<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 35
Beiträge<br />
Dieses neue Integrationsverständnis hat den Ansatz der «Zielgruppenorientierten<br />
Erwachsenenbildung» in Frage gestellt, in der die Lebensweltprobleme nur einer<br />
Zielgruppe zum Thema gemacht werden, die dann auch noch in der Regel in einer<br />
homogenen Gruppe der Mitglieder der jeweiligen (Sub-)Kultur abgehandelt wurden,<br />
selbst wenn es das Ziel dieses Ansatzes war, die Mitglieder der (Sub-)Kultur in die<br />
Gesellschaft zu integrieren. Als Revision dieses Ansatzes, in Verbindung mit dem<br />
erweiterten Begriff von Integration, beginnt sich für Lindmeier (vgl. 2000, S. 177f.)<br />
ein neuer Ansatz in der Erwachsenenbildung zu entwickeln, den er «integrative<br />
Erwachsenenbildung» nennt. In diesem Modell wird jede integrative Bildungssituation<br />
zu einem Interaktionsprozess, in der ein interkultureller Austausch stattfinden<br />
kann über die unterschiedlichen lebensweltlichen Erfahrungen der Teilnehmenden,<br />
die wechselseitig von ihnen als ‹fremd› erlebt werden. Das Thema des Fremd- und<br />
Selbstverstehens wird zur zentralen Aufgabe der integrativen Erwachsenenbildung,<br />
nicht nur in Bezug auf ausländische Teilnehmerinnen und Teilnehmer, sondern auch<br />
auf sog. ‹inländische› Repräsentanten einer fremden (Sub-)Kultur, wie z. B. die der<br />
Menschen mit geistiger Behinderung.<br />
Fremdheit wird nicht mehr als ein objektiver Tatbestand hingenommen, sondern «als<br />
eine die eigene Identität in positiver Hinsicht herausfordernde Erfahrung angesehen»<br />
(Lindmeier 2000, S. 178). In der «Integrativen Erwachsenenbildung» ist Fremdheit<br />
die Basis, um mit Mitgliedern anderer (Sub-)Kulturen in Beziehung zu treten, um sich<br />
mit ihnen über die jeweiligen eigenen Identitäten auszutauschen, die vielleicht vom<br />
Anderen als etwas «Fremdes» erlebt wird.<br />
Ziel ist es, «seine eigene Position und Sichtweise als eine Möglichkeit unter anderen<br />
zu erkennen und dabei zu sehen, dass das, was und wie ich es als fremd erlebe, sehr<br />
wesentlich von meinen eigenen Lebenserfahrungen und meiner Biografie abhängt»<br />
(Schäfter zit. nach Lindmeier 2000, S. 178). Zugleich lernen die Mitglieder auch, dass<br />
die anderen die eigenen Eigenheiten als «fremd» artikulieren, auch wenn das für die<br />
Betroffenen kaum nachvollziehbar ist, weil sie nicht verstehen können, dass jemand<br />
sie selbst als etwas «Fremdes» erlebt.<br />
Das «Fremde» selbst wird nach Schäfter (zit. nach Lindmeier 2000, S. 178f.) ganz<br />
unterschiedlich erlebt, z. B. als das Auswärtige, Fremdartige, Unbekannte und letztlich<br />
als das Unerkennbare. Didaktisch wird das Thema in der Dialektik von Gleichheit<br />
und Differenz aufgearbeitet. In der Bildungsmassnahme lernen die Teilnehmenden,<br />
dass man sich in Fragen des sozialen Lebens nicht einseitig am Phänomen der Gleichheit<br />
orientieren darf, sondern sie lernen in gemeinsamen Gruppenaktivitäten, dass<br />
man auch immer Zusammenhängendes und Überschneidendes erkennen muss, um<br />
das ganze Bild zu erhalten.<br />
36
Beiträge<br />
Mit diesem Ansatz reiht sich die integrative Erwachsenenbildung ein in das neue Verständnis<br />
einer Arbeit mit und bei Menschen mit geistiger Behinderung, die davon<br />
ausgeht, dass sie nicht mehr in Sonderinstitutionen geleistet werden darf. «Es geht<br />
vielmehr darum, in Kooperation und Erlebnisgemeinschaft mit den Menschen, die wir<br />
als (geistig) behindert bezeichnen, die dynamische Balance von Fremdheit und Nähe,<br />
Gleichheit und Verschiedenheit im Sinne einer Verlebendigung und Humanisierung<br />
unserer (Bildungs-)Kultur wirksam werden zu lassen» (Lindmeier 2000, S. 182).<br />
Das Konzept der sozialtherapeutischen Erwachsenenbildung<br />
Bevor wir auf die sozialtherapeutische Erwachsenenbildung eingehen, soll vorab<br />
geklärt werden, was wir unter Sozialtherapie, resp. unter solcher mit einem anthroposophischen<br />
Profil, verstehen.<br />
Zum Begriff der Sozialtherapie<br />
Der Begriff Sozialtherapie entwickelte sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts, in der<br />
«erste Gedanken über Zusammenhänge psychischer Erkrankungen mit den sozialen<br />
Lebensbedingungen und dem sozialen Umfeld der Patientinnen/Patienten formuliert»<br />
(Baer 1996, S. 9) wurden. In Deutschland wurde 1926 der Begriff ‹Sozialtherapie›<br />
von Elias Salomon in die Medizin eingeführt. Mit sozialtherapeutischen Massnahmen<br />
sollte das soziale Umfeld des Patienten verbessert oder verändert werden, um damit<br />
auch seine Befindlichkeit und Eingliederungsfähigkeit positiv zu verändern. Diese<br />
sozial- und heilpädagogischen Arbeitsansätze wurden anfangs noch als medizinische<br />
Methoden angesehen. Deshalb bezeichnete sie Victor von Weizäcker 1947 noch als<br />
eine psychotherapeutische Methode. Er schreibt: Mit Sozialtherapie wird «die soziale<br />
Mitwelt [...] gezielt beeinflusst und verändert, um damit dem psychisch und psychosomatisch<br />
kranken Menschen zu helfen» (zit. nach Baer 1996, S. 10).<br />
Wegen der disziplinübergreifenden Verortung der Sozialtherapie zwischen Medizin,<br />
Sozial- und Heilpädagogik fällt es nach wie vor schwer, eine eindeutige Definition zu<br />
finden. In Anlehnung an Petzold (1997) hat Sozialtherapie in unserem Verständnis<br />
einerseits die Aufgabe, bei Menschen mit geistiger Behinderung gefährdete oder<br />
beschädigte Beziehungen zwischen ihm und den Mitmenschen abzubauen und<br />
positive neu herzustellen, damit er wieder in geordnete soziale Bezüge und Kontexte<br />
kommen kann, andererseits wird durch Sozialtherapie ein Gemeinwesen von psychisch<br />
gefährdenden oder psycho-sozial krank machenden Faktoren befreit, damit sie<br />
auf den Menschen mit geistiger Behinderung einen heilenden Einfluss nehmen kann.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 37
Beiträge<br />
Zum Begriff der anthroposophischen Sozialtherapie<br />
Aus begrifflich-phänomenologischer Sicht kann die anthroposophische Sozialtherapie<br />
wie folgt beschrieben werden:<br />
- Sie befasst sich mit den sozialen Hintergründen somatischer, psychischer und<br />
sozialer Störungen (vgl. Gaertner 1982, S. 8);<br />
- sie will misslungene Sozialisationsprozesse verändern und dem sozial geschädigten<br />
Menschen zu einer ihm gerechten Lebensführung in Sinne einer sozialen<br />
Emanzipation befähigen (vgl. Haag o.J., S. 929);<br />
- sie schliesst, im Gegensatz zur klassischen Sozio- und Sozialtherapie, auch die<br />
sozioökologische Gestaltung der Lebenswelt (Natur, Technik, Kultur) des Menschen<br />
mit Behinderung mit in ihr Konzept ein (vgl. Stein 1983, S. 48);<br />
- sie ist ein intermethodisches Konzept, weil darin präventive, kurative, rehabilitative,<br />
sozialfürsorgerische und sozialökologische Methoden mit eingeschlossen sind (vgl.<br />
Melzer 1979, S. 213).<br />
Zusammenfassend kann man festhalten:<br />
Anthroposophische Sozialtherapie richtet sich an Menschen, die durch ein individuell-biografisches<br />
Schicksal in Form von Krankheit, Sozialbeeinträchtigung, psychosozialen<br />
Störungen oder Behinderungen in der Gesellschaft noch nicht integriert<br />
sind oder von ihr ausgegrenzt werden. «Menschen mit Behinderungen sind aufgrund<br />
ihrer leiblichen und seelischen Lebensbedingungen und durch die gesellschaftliche<br />
Wirklichkeit auf besondere Hilfe und Unterstützung angewiesen. Sie brauchen daher<br />
Lebensverhältnisse, in denen ihre besondere Situation berücksichtigt und in der sie<br />
als Persönlichkeiten wertgeschätzt werden» (Grimm o.J., S. 32).<br />
Ziele der anthroposophischen Sozialtherapie<br />
Es gibt verschiedene Zugänge zu den Zielbestimmungen der anthroposophischen<br />
Sozialtherapie. Man kann einerseits den Begriff der Bildung zur Unterscheidung<br />
wählen und darauf hinweisen, dass im Kindes- und Jugendalter die Fremdbildung<br />
vorrangig ist, im Gegensatz zur Selbstbildung im Erwachsenenalter. Andererseits<br />
kann auch die therapeutische Bedeutung des Sozialraumes herausgestellt werden,<br />
d. h., dass Ziele für das gemeinsame Leben, Arbeiten und Kulturschaffen formuliert<br />
werden, wie sie in klassischer Weise von den Dorf- und Lebensgemeinschaften angestrebt<br />
werden (König 1994).<br />
Wir wollen an das Paradigma der Sozialtherapie als ‹heilende Entwicklungsraumgestaltung›<br />
erinnern, dass der leider viel zu früh verstorbene Armin Küttner zu Beginn<br />
unseres Millenniums in die Diskussion eingeführt hat.<br />
38
Beiträge<br />
Um die heilende Intention in der anthroposophischen Sozialtherapie näher zu bestimmen,<br />
hat er Passagen zum Heilen aus dem Heilpädagogischen Kurs von Rudolf Steiner<br />
(1967) analysiert. Den Begriff des Heilens von Steiner interpretiert Küttner auch als<br />
einen sozialtherapeutischen, weil es darauf ankommt, «den Menschen in die Lage zu<br />
versetzen, ‹Ich› zu werden und das Gleichgewicht zu finden zwischen Verhärtung und<br />
Auflösung, Illusion und Zwang, Selbstüberschätzung und Resignation» (2000a S. 14).<br />
- Eine erste Aufgabe der Sozialtherapie sollte sein, dass der Mensch mit Behinderung<br />
fähig wird, «Moralität und Urteilsfähigkeit gegenüber sich selbst und der Umwelt zu<br />
entwickeln, um eigene geistige Impulse verwirklichen zu können» (S. 14). Mit dem<br />
‹Ich› wird in diesem Zusammenhang ein mehrschichtiges Phänomen verstanden, das<br />
sich als Selbst über mehrere Stufen durch körperliche und seelische Prozesse hinweg<br />
entwickelt, im Kern als geistiges ‹Ich› jedoch unversehrt ist, trotz einer sogenannten<br />
geistigen Behinderung (vgl. S. 15).<br />
- Zur zweiten Aufgabe der Sozialtherapie gehört es, die Umwelten des Menschen mit<br />
Behinderung als soziale Entwicklungsräume so zu gestalten, damit er «die grundlegenden<br />
Ich-Erfahrungen und die seelischen Gebärden der kindlichen Entwicklung<br />
nachvollziehen kann, um, wenn notwendig, sie nachreifen zu lassen. Dadurch wird<br />
die seelische Entwicklung nach dem 21. Lebensjahr wesentlich unterstützt und<br />
gefördert» (S. 15).<br />
- Eine dritte Aufgabe der Sozialtherapie im Zusammenhang mit dem Heilungsbegriff<br />
nach Steiner sieht Küttner darin, für den Menschen mit geistiger Behinderung spezalisierte<br />
Hilfen zur Selbsterziehung bzw. -bildung anzubieten. Es sind Hilfen zur Interpretation<br />
seiner Lebenswelt, da jeder Mensch darauf angewiesen ist, sich selbst und<br />
seine Lebenswelt zu interpretieren, um sich als eigenständiges Ich im Kontext seiner<br />
Umwelt erleben und identifizieren zu können. Diese spezialisierten sozialtherapeutischen<br />
Hilfen sind darauf angelegt, dass auch der Mensch mit geistiger Behinderung<br />
eine eigene Lebenswelt erhält, «unter Umständen eine ganz individuell angepasste<br />
kleine Welt, die es ermöglicht, sich selbst in der Mitte zu erleben. Gelingt dies, kann<br />
man auch Menschen mit schwerer geistiger Behinderung so ins Gleichgewicht bringen,<br />
dass sie uns – und sei es nur für Momente – in voller Präsenz als Ich gegenüber<br />
treten» (S. 16).<br />
Mit diesem Verständnis von Sozialtherapie, die auf den Heilungsbegriff von Steiner<br />
zurückgeht, gewinnt unserer Meinung nach die anthroposophische Sozialtherapie ein<br />
eigenständiges Profil im Kontext anderer sozialtherapeutischer Erklärungsmodelle.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 39
Beiträge<br />
Zum Konzept der sozialtherapeutischen Erwachsenenbildung<br />
Die sozialtherapeutische Erwachsenenbildung hat das Leitziel der Emanzipation<br />
oder Autonomie des erwachsenen und alten Menschen mit geistiger Behinderung.<br />
Sie korrespondiert konzeptionell mit der von Speck entwickelten emanzipatorischen<br />
Erwachsenenbildung. Dieser liegt die Leitidee des möglichst selbstständig lebenden<br />
erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung zu Grunde, «der zu einer gestärkten<br />
Identität gefunden hat, so dass er in seinen eigenen Lebensbedürfnissen in sozialer<br />
Eingegliedertheit nachkommen und sich im Rahmen seiner individuellen Möglichkeiten<br />
auch aktiv am gesellschaftlichen Leben beteiligen kann» (Speck 1982, S. 29).<br />
Das emanzipatorische Konzept der anthroposophisch-sozialtherapeutischen Erwachsenenbildung<br />
geht von einem Menschenbild aus, das den Menschen mit geistiger<br />
Behinderung als einen lernfähigen Erwachsenen mit eigenen Bedürfnissen und<br />
Kompetenzen ansieht, dem Entscheidungen zugetraut werden und dem ein Leben in<br />
normaler Daseinsgestaltung zusteht. Sie orientiert sich als pädagogisches Konzept<br />
an den Ideen der emanzipatorischen Pädagogik, deren Leitziel es ist, die sozialen<br />
Ungerechtigkeiten durch Bildung zu überwinden. Ihr Anliegen ist es, den Menschen<br />
zu befähigen, Ungleichheiten und Einschränkungen des persönlichen Lebens zu<br />
erkennen und ihn darin zu bestärken, dass er diese überwinden kann, letztlich ihn zu<br />
unterstützen, in aktiver Teilhabe am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können.<br />
Zu den Zielen der sozialtherapeutischen Erwachsenenbildung<br />
Aus dem o. a. Leitziel der Emanzipation können dann, in Verbindung mit der Konkretisierung<br />
des Heilungsgedankens von Rudolf Steiner im Heilpädagogischen Kurs<br />
(1967), mit seinen Angaben in der Anthroposophischen Menschenkunde (1982) und<br />
mit dem, was Armin Küttner (2000a und b), Rüdiger Grimm (o.J.) und Johannes Denger<br />
(1993) ausgeführt haben, zwei Teilzielbereiche der anthroposophisch geprägten<br />
sozialtherapeutischen Erwachsenenbildung benannt werden:<br />
1. Teilzielbereich: Persönlichkeits- bzw. Ichbildung (mit folgenden Bildungszielen):<br />
- Findung des Gleichgewichts zwischen Verhärtung und Auflösung, Illusion und Zwang,<br />
Selbstüberschätzung und Resignation mit dem Ziel der Ichbildung;<br />
- Fähig werden zu Moralität und Urteilsfähigkeit gegenüber sich selbst und der<br />
Umwelt, um eigene Entwicklungs- und Bildungsimpulse zu verwirklichen;<br />
- Nachvollzug der grundlegenden Ich-Erfahrungen und der seelischen Gebärden der<br />
kindlichen Entwicklung, um, wenn nötig, eine optimale Nachreifung zu ermöglichen.<br />
40
Beiträge<br />
2. Teilzielbereich: Öko-soziale und psycho-soziale Entwicklungsraumgestaltung<br />
(mit folgenden Bildungszielen):<br />
- Nutzen von spezialisierten/individualisierten Hilfen zur Selbsterziehung und Selbstbildung<br />
in sozialen Kontexten;<br />
- Nutzen von Bildungshilfen, die zu einer geistigen, sittlichen und wirtschaftlichen<br />
Selbstbestimmung führen, um sich in das Wirtschafts-, Rechts- und Geistesleben<br />
seiner Gemeinschaft integrieren zu können;<br />
- Finden von Interpretationshilfen für sich, d. h., für sein individuelles und soziales<br />
Leben im Kontext seiner sozialen Lebenswelten;<br />
- Erfahren der existenziellen Bedeutung des eigenen Ichs und seiner Lebenswelt als<br />
sinnhafte Werte und Qualitäten.<br />
Zur Didaktik der sozialtherapeutischen Erwachsenenbildung<br />
Ihr Ziel ist es, für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung «Entwicklungsprozesse<br />
[...] zu fördern und den dafür notwendigen Rahmen zur Verfügung zu stellen.<br />
Dazu gehört es, soziale Integration, Selbstfindung und Selbstverwirklichung und<br />
die Entwicklung von Mündigkeit zu fördern, die die Möglichkeit zur geistigen, sittlichen<br />
und wirtschaftlichen Selbstbestimmung schafft» (Küttner 2000b, S. 32). Diese<br />
anthroposophisch-sozialtherapeutischen Hilfen werden, das ist ihr Spezifikum, im<br />
sozialen Kontext angeboten. Sie wird in, für und durch eine Sozietät geleistet, damit<br />
der erwachsene Mensch mit geistiger Behinderung in das Wirtschafts-, Rechts- und<br />
Geistesleben seiner Gemeinschaft und Gesellschaft integriert werden kann.<br />
Eine besondere sozialtherapeutische Qualität sozialtherapeutischer Erwachsenenbildung<br />
auf anthroposophischer Grundlage ist es, «gerade auch jene Menschen, deren<br />
Lebens- und Entwicklungsalter auseinander klaffen, ihrem Lebensalter gemäss als<br />
Erwachsene anzusprechen. Dieses Bemühen schafft ein heilsames Gemeinschaftsklima,<br />
das dem Einzelnen seine Würde verleiht und lässt» (Denger 1993, S. 143).<br />
In einer solchen heilenden Gemeinschaftsatmosphäre kann der erwachsene Mensch<br />
mit geistiger Behinderung sein eigenes Ich entwickeln unter Zuhilfenahme der durch<br />
die Sozietät bereitgestellten sozialen Entwicklungsräume, in der er die existentielle<br />
Bedeutung des eigenen Ichs erfahren und seine Lebenswelt als eine sinnhafte erleben<br />
kann, die dadurch eine die Persönlichkeit stärkende Wirkung auf ihn hat.<br />
Zur Methodik der sozialtherapeutischen Erwachsenenbildung<br />
Methodisch gesehen bietet die anthroposophisch-sozialtherapeutische Erwachsenenbildung<br />
vorbeugende, unterstützende, ausgleichende, abbauende oder<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 41
Beiträge<br />
auch aufbauende Hilfen an, damit die erwachsenen Menschen mit geistiger<br />
Behinderung mit ihrer Schicksalsaufgabe individuell fertig werden können.<br />
In der Methodik des Lehrens und Lernens unterscheidet sich diese Form der Erwachsenenbildung<br />
nur graduell von der allgemeinen Andragogik, wenn auch sonderpädagogische<br />
Akzentuierungen (Bach) angebracht erscheinen.<br />
Die methodischen Leitideen können in Anlehnung an Tietgens wie folgt beschrieben werden:<br />
- «Ernstnehmen der Lerngewohnheiten und Lernschwierigkeiten der Teilnehmenden<br />
durch mögliche Differenzierungen;<br />
- vorhandene Lernerfahrungen bewusst machen, vorhandenes Wissen mobilisieren<br />
und mit dem neu zu lernenden Inhalt in Zusammenhang bringen (Anschlusslernen);<br />
- inhaltlich und methodisch Neuartiges dosiert einführen und stufenweise steigern,<br />
damit kein Widerstand entsteht und schrittweise Aneignung möglich ist;<br />
- von Zeit zu Zeit lernanregende Erfahrungen der Leistungsfähigkeit vermitteln;<br />
- einen Interaktionsstil anregen, der durch gegenseitige Hilfsbereitschaft ein soziales<br />
Klima entstehen lässt, das ein angstfreies Lernen erlaubt;<br />
- auf Grundlegendes konzentrieren, Anwendbares hervorheben und den Umgang mit<br />
dem Gelernten fördern» (1997, S. 135).<br />
Zusammengefasst kann man diese verschiedenen Interaktionsformen als: «lernzielbezogen<br />
– problemorientiert – gestaltungsbestimmt» (Tietgens 1977, S. 135)<br />
bezeichnen. Sie prägen, mehr oder weniger, auch die Didaktik und Methodik der<br />
sozialtherapeutischen Erwachsenenbildung auf anthroposophischer Grundlage.<br />
Ausblick<br />
Zusammenfassend kann man festhalten, wenn sich die sich konstituierende anthroposophisch-sozialtherapeutische<br />
Erwachsenenbildung orientiert<br />
- am Gedanken, dass die gebrochene oder gefährdete Individualität des Menschen<br />
mit geistiger Behinderung durch die Sozialtherapie in den heilenden Kontext seiner<br />
Sozietät gestellt werden kann,<br />
- wenn sie dabei die Möglichkeiten nutzt, die eine sozialtherapeutische Einrichtung<br />
durch die Gestaltung und Bereitstellung von öko-sozialen und psycho-sozialen Erfahrungs-,<br />
Erlebnis- und Begegnungsräumen bietet und<br />
- wenn sie sich auf den individuellen und sozialen Heilungsgedanken ausrichtet, den<br />
Steiner im Heilpädagogischen Kurs (1967), in der Interpretation von Küttner (2000a;<br />
2000b), dargelegt hat,<br />
dann kann dieses Konzept zu einem eigenen erwachsenenpädagogischen Profil<br />
gelangen und dadurch zu einer unübersehbaren Konzeptvariante in der sonderpädagogischen<br />
Andragogik bzw. Erwachsenenbildung werden.<br />
42
Beiträge<br />
Maximilian Buchka ist Professor an der Alanus Hochschule für Kunst und<br />
Gesellschaft/Alfter im Fachbereich Bildungswissenschaft. Zudem hat er<br />
seit fast zehn Jahren eine Gastprofessur für Heilpädagogik an der Comenius<br />
Universität Bratislava/Slowakei inne.<br />
Literatur<br />
Albers, R. et al. (1989): Erwachsenenbildung mit Menschen die als geistig behindert gelten. Erfahrungen<br />
an der Volkshochschule Oldenburg. Geistige Behinderung, 28, Einhefter, S. 1-28.<br />
Arnim, G. von (2000): Bewegung, Sprache, Denkkraft. Der geistige Impuls der Heilpädagogik. Hrsg.<br />
von R. Steel. Verlag am Goetheanum, Dornach.<br />
Baer, U. (1996): Sozialtherapie. Versuch einer Begriffsbestimmung. In: Baer, U. (Hg.): Kreative<br />
Sozialtherapie. Ausgewählte Artikel aus der Zeitschrift Sozialtherapie. LIT Verlag, Münster, S. 9-25.<br />
Bühler, T.; Schlienger, I. (1991): Erwachsenenbildung – auch für Menschen mit schwerster geistiger<br />
Behinderung? In: Erwachsenenbildung und Behinderung, 1, S. 9-11.<br />
Denger, J. (1993): Heilpädagogik und Sozialtherapie auf anthroposophischer Grundlage. In: Glöckler,<br />
M.; Schürholz, J.; Walker, M. (Hg.): Anthroposophische Medizin. Ein Weg zum Patienten. Verlag<br />
Freies Geistesleben, Stuttgart, S. 140-145.<br />
Deutscher Bildungsrat (1972): Strukturplan für das Bildungswesen. Empfehlungen der Bildungskommission<br />
(4. Aufl.), Stuttgart.<br />
Dolch, J. (1965): Grundbegriffe der pädagogischen Fachsprache (8. Aufl.), Ehrenwirth, München.<br />
Gaertner, A. (1982): Sozialtherapie. Hinweise zur Reorganisation therapeutischer Praxis . In: Gaertner,<br />
A. (Hg.): Sozialtherapie. Konzepte zur Prävention und Behandlung des psychosozialen Elends.<br />
Luchterhand, Neuwied/Darmstadt, S. 1-44.<br />
Grimm, R. (o.J.): Sozialtherapeutische Gemeinschaft. Normalisierung, Salutogenese und Individualisierung<br />
in der Lebensgestaltung. In: Gartenhof, L. (Hg.): Festschrift. St. Martin (Österreich), S. 29-36.<br />
Haag, F. (o.J.): Sozialtherapie. In: Hahn, P. (Hg.): Psychologie des 20. Jahrhunderts. Band IX: Ergebnisse<br />
der Medizin 1. Psychosomatik. Kindler Verlag, München, S. 929-946.<br />
Hanselmann, H. (1951): Andragogik. Wesen, Möglichkeiten, Grenzen der Erwachsenenbildung. Rotapfel,<br />
Zürich.<br />
Kerkhoff, W. (1992): Erwachsenenbildung. In. Dupuis, G.; Kerkhoff, W. (Hg.): Enzyklopädie der Sonderpädagogik,<br />
der Heilpädagogik und ihrer Nachbargebiete. Fundus, Berlin, S. 183f.<br />
Kobi. E.E. (1969): Sonderpädagogische Erwachsenenbildung. In: Heese, G.; Wegener, H. (Hg.): Enzyklopädisches<br />
Handbuch der Sonderpädagogik und ihrer Grenzgebiete. Band 1 (3. Aufl.). Marhold,<br />
Berlin, S. 802-805.<br />
König, K. (1994): Der Impuls der Dorfgemeinschaft. Menschenkundliche Grundlagen für das Zusammenleben<br />
von Erwachsenen mit und ohne Behinderung. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart.<br />
Küttner, A. (2000a): Sozialtherapie – Heilende Agogik. In: <strong>Seelenpflege</strong> in Heilpädagogik und Sozialtherapie,<br />
19. Jg., S. 13-16.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 43
Beiträge<br />
Küttner, A. (2000b): Sozialtherapie. Leben und Arbeiten mit erwachsenen Menschen mit Behinderung.<br />
In: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft, Nr. 6, S. 11-34.<br />
Linden, H.; Schwarte, N. (1985): Erwachsenenbildung für Menschen mit geistiger Behinderung,<br />
Überlegungen zu einem systemischen Ansatz. In: Geistige Behinderung. 25. Jg., Heft 3, S. 171-181.<br />
Lindmeier, C. (2000): Integrative Erwachsenenbildung im Interesse von Menschen mit (geistiger)<br />
Behinderung. In: Markowetz, R.; Cloerkes, G. (Hg.): Freizeit im Leben behinderter Menschen. Theoretische<br />
Grundlagen und sozialintegrative Praxis. Edition Schindele, Heidelberg, S. 171-184.<br />
Melzer, G. (1979): Sozialtherapie und die Sozialtherapeutische Anstalt. Erfahrungen in der Behandlung<br />
chronisch Krimineller. Stuttgart<br />
Petzold, H. G. (1997): Soziotherapie und SoziotherapeutInnen – ein Beruf ohne Chance? Grundsätzliche<br />
und programmatische Überlegungen. In: Sticht, U. (Hg.): Gute Arbeit in schlechten Zeiten.<br />
Suchtkrankenhilfe im Umbruch. Lambertus Verlag, Freiburg i. Br., S. 57-115.<br />
Pöggeler, F. (1974): Erwachsenenbildung. Einführung in die Andragogik. Kohlhammer, Stuttgart/<br />
Berlin/Köln/Mainz<br />
Schuchardt, H. (1987): Schritte aufeinander zu. Soziale Integration behinderter durch Weiterbildung.<br />
Zur Situation in der Bundesrepublik Deutschland. Klinkhardt, Bad Heilbrunn<br />
Schwarte, N. (1991): Erwachsenenbildung für Menschen mit geistiger Behinderung. In: Bundesvereinigung<br />
Lebenshilfe für geistig Behinderte e.V. (Hg.): Erwachsenenbildung für Menschen mit geistiger<br />
Behinderung. Referate und Presseberichte. Marburg, S. 11-35<br />
Speck, O. (1982): Erwachsenenbildung bei geistiger Behinderung eine Grundlegung. In: Speck, O.<br />
(Hg.): Erwachsenenbildung bei geistiger Behinderung. Grundlagen, Entwürfe, Berichte. Reinhardt<br />
Ernst Verlag, München, S. 11-42.<br />
Speck, O. (1996): System Heilpädagogik. Eine ökologisch-reflexive Grundlegung (3. Aufl.). Reinhardt<br />
Ernst Verlag , München.<br />
Stein, A. (1983): Sozialtherapeutisches Rollenspiel. Erfahrungen einer Methode der psychosozialen<br />
Behandlung im Rahmen der Sozialarbeit/Sozialpädagogik. Luchterhand, Frankfurt a.M./ Berlin/<br />
München.<br />
Steiner, R. (1967): Heilpädagogischer Kurs. Zwölf Vorträge, gehalten in Dornach vom 25. Juni bis 7.<br />
Juli 1924 vor Ärzten und Heilpädagogen (4. Aufl.). Rudolf Steiner Verlag, Dornach.<br />
Steiner, R. (1982): Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik. Menschenkunde und<br />
Erziehungskunst. Ein Vortragskurs bei der Begründung der Freien Waldorfschule in Stuttgart vom 21.<br />
August bis 5. September 1919 (Erster Teil). 21.-23. Tsd. (ungekürzte Ausgabe der 1. Aufl. von 1932).<br />
Rudolf Steiner Verlag, Dornach.<br />
Theunissen, G. (1991): Heilpädagogik im Umbruch. Über Bildung, Erziehung und Therapie bei geistiger<br />
Behinderung. Lambertus Verlag, Freiburg i. Br.<br />
Tietgens, H. (1997): Erwachsenenbildung. Volkshochschulen, Verbände, Initiativen, Bildungsstätten.<br />
In: Krüger, H.-H.; Rauschenbach, T. (Hg.): Einführung in die Arbeitsfelder der Erziehungswissenschaft<br />
(2. Aufl.). UTB - Leske + Budrich, Opladen, S. 125-139.<br />
Strzelewicz, W. (1984): Erwachsenenbildung. In: Wulf, C. (Hg.): Wörterbuch der Erziehung (6. Aufl.).<br />
Piper, München/Zürich, S. 183-186.<br />
44
«Edition Anthropos» – eine neue Buchreihe<br />
In der Kooperation des Verlags am Goetheanum, Dornach und des Athena Verlags, Oberhausen<br />
konnte erfreulicher Weise unter der Herausgeberschaft von Rüdiger Grimm eine neue Buchreihe –<br />
«Edition Anthropos» – konzipiert werden. Die ersten drei Bände sind bereits erschienen.<br />
Sie löst die seit einiger Zeit eingestellte «Dornacher Reihe» der Edition SZH ab, in der viele Jahre<br />
lang die Tagungsbände der Reihe «Heilen und Erziehen» wie auch Dissertationen erschienen sind.<br />
Auch die neue Reihe beginnt mit erfolgreich abgeschlossenen Dissertationen, die wertvolle Beiträge<br />
für die wissenschaftliche Weiterentwicklung der anthroposophischen Heilpädagogik darstellen.<br />
Den ersten Band bildet die umfassende Studie «Der biografische Mythos als pädagogisches Leitbild»,<br />
in dem Jan Göschel, leitender Mitarbeiter der heilpädagogischen Ausbildung in «Beaver Run»<br />
(USA) die Grundlagen der Kinderkonferenz als transdisziplinäre Förderplanung in ihren Schritten und<br />
Mikroschritten genauestens untersucht und sie methodisch als offenen Prozess im Sinne Scharmers<br />
«Theory U» darstellt.<br />
Der zweite Band stammt von Andreas Fischer, Leiter der heilpädagogischen Ausbildung in Dornach<br />
(Schweiz), der unter dem Titel «Zur Qualität der Beziehungsdienstleistung in Institutionen für Menschen<br />
mit Behinderungen» die Wirksamkeit des QM-Verfahrens «Wege zur Qualität» empirisch untersucht hat.<br />
Band drei beinhaltet die Arbeit «Beziehungsgestaltung in der Begleitung von Menschen mit Behinderung»<br />
von Pim Blomaard, Geschäftsführer der niederländischen Raphael-Stiftung, in der er der Frage<br />
einer beziehungsorientierten Heilpädagogik in umfassender Weise nachgeht.<br />
Auch Band vier und fünf stehen bereits am Horizont: <strong>2013</strong> erscheinen die Dissertation über «Integration<br />
und Waldorfpädagogik» von Ulrike Barth und darüber hinaus das Buch über die «Geschichte der anthroposophischen<br />
Heilpädagogik» von Volker Frielingsdorf, Rüdiger Grimm und Brigitte Kaldenberg.<br />
Redaktion<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 45
Marion Josek<br />
Anthroposophische Musiktherapie für erwachsene<br />
Menschen mit Behinderung<br />
Anthroposophische Musiktherapie bietet neben der eigentlichen Wirkung der Musik<br />
auch die therapeutische Beziehung als Mittel an. Diese findet ihren Ausdruck in der<br />
Art und Weise, wie Therapeut und Klient – auch nonverbal über Mimik, Gestik oder<br />
musikalische Dialoge – miteinander interagieren und ermöglicht somit vielfältige Ausdrucksmöglichkeiten<br />
für jeden. Das ist eine grosse Stärke, da sie damit ganz auf die<br />
verbale Sprache verzichten kann. Die Qualität der therapeutischen Beziehung hängt<br />
von einer adäquaten Kommunikationsaufnahme ab, die sich am Entwicklungsstand<br />
und den verbalen, intellektuellen und kognitiven Fähigkeiten des Klienten orientiert.<br />
Mit diesem Aufsatz möchte ich einen Beitrag zum Verständnis des Erstkontaktes in<br />
der Anthroposophischen Musiktherapie leisten und auf die Bedeutung einer erwachsengemässen<br />
Diagnostik hinweisen.<br />
Entstehung und Anfänge der anthroposophischen Musiktherapie<br />
Die Anthroposophische Musiktherapie für Menschen mit geistiger Behinderung entstand<br />
seit den 1950er Jahren wesentlich aus der musikalisch-therapeutischen Arbeit<br />
durch Julius Knierim und wurde so Teil des Therapieangebotes innerhalb der anthroposophischen<br />
Heilpädagogik (Beilharz 2004). Vertieft wurde sie durch Beiträge von<br />
Hans-Heinrich Engel (2005) zu einer musikalischen Anthropologie, die eine physischmusikalische<br />
Sichtweise bekräftigten, sowie Forschungen zu den Wirkkräften der<br />
Musik (Dörfler 1975, Oberkogler 1987, Pfrogner 1976). Einen weiteren Impuls setzte<br />
Maria Schüppel mit einer mehr am klinischen Bild orientierten Musiktherapie (Stückert<br />
1997).<br />
Zwei Akzente<br />
Es kristallisierten sich für mich in den letzten Jahren zwei Akzente heraus, die sich vor<br />
allem aus der Historie sowie den Erfordernissen der Klientel ergaben, nämlich eine<br />
«anthroposophisch begründete heilpädagogische Musiktherapie» (Lindenberg 2004)<br />
und eine mehr klinisch akzentuierte anthroposophische Musiktherapie (Felber 2003).<br />
46
Beiträge<br />
In diesem Zusammenhang stellten sich spezifische Fragen nicht nur nach diesen<br />
beiden Akzenten, sondern entstanden auch in meiner eigenen musiktherapeutischen<br />
Praxis mit erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung. Einen besonders wichtigen<br />
Punkt stellte dabei die Frage nach der angemessenen Diagnostik dar, denn<br />
daran orientieren sich die Therapieplanung und das weitere Vorgehen. Zwei Fragen<br />
sind in diesem Zusammenhang von zentraler Bedeutung:<br />
Welche Erkenntnisse will ich von einer Diagnostik gewinnen?<br />
Bei dem Ziel, einen Menschen möglichst genau in kurzer Zeit kennenzulernen, steht<br />
dem anthroposophischen Musiktherapeuten für die Diagnostik ausser der Dreigliederung<br />
des Menschen in Nerven-Sinnes-System, Rhythmisches System und Stoffwechsel-<br />
Gliedmassen-System (Steiner 1983) auch eine Orientierung an bipolaren Prozessen<br />
wie der Konstitution, der Schwingungsfähigkeit zwischen Innen und Aussen sowie der<br />
Handlungsfähigkeit zwischen Strukturieren und Fliessen (Pütz 2008) zur Verfügung.<br />
Zudem hat sich eine Ergänzung durch weitere diagnostische Verfahren aus der behindertenpädagogischen,<br />
der kindermusiktherapeutischen sowie der psychologischen<br />
Diagnostik als lohnenswert herausgestellt.<br />
In der Arbeit mit erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung ist es von zentraler<br />
Bedeutung, den Entwicklungsstand des Klienten zu berücksichtigen. Als dafür<br />
sehr hilfreich hat sich das Instrument zur Einschätzung der Beziehungsqualität (EBQ)<br />
nach Schumacher/Calvet (2007) gezeigt. Einen weiteren Aspekt bieten die aus anthroposophischer<br />
Betrachtung basierenden sogenannten ‹Krankheitsbilder›, die diagnostisch<br />
in dem Instrument zur Beurteilung der kindlichen Konstitution weiterentwickelt<br />
wurden (Baars/Niemeijer 2004). Sie erlauben eine Beurteilung nach den sechs polaren<br />
Krankheitsbildern aus dem Heilpädagogischen Kurs von Rudolf Steiner (1990).<br />
Was braucht der erwachsene Mensch mit Behinderung?<br />
Meine Erfahrung ist, dass erwachsene Menschen unabhängig von einer geistigen<br />
Behinderung das Bedürfnis sowie die Fähigkeit haben, sich selbst zu steuern. So<br />
stimme ich Rogers (1951) in dem zu, dass Therapie ganz allgemein ein Lernprozess<br />
ist, deren Lernerfolg primär vom Klienten abhängig ist. Der Therapeut kann als Wegbegleiter<br />
Sicherheit und Bindung geben, damit sich der Klient nach Maslows (1973)<br />
Prinzip zwischen den Polen Wachstum und Sicherheit bewegen kann.<br />
Darüber hinaus gehören auch Selbstbestimmung und Transparenz in ein musiktherapeutisches<br />
Setting, ganz den Richtlinien eines erwachsengemässen Lernens, wie den<br />
andragogischen Kernprinzipien nach Knowles et al. (2007) folgend.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 47
Beiträge<br />
Ich möchte mit der anschliessenden Tabelle einen Eindruck in diese Prinzipien aus<br />
musiktherapeutischer Sicht sowie einen praxisorientierten Ansatz in der Arbeit mit<br />
geistig behinderten Menschen darstellen.<br />
Eine weitere Sichtweise ist das Modell zur Entwicklung von Lebensepochen (Levinson<br />
1979, Steiner 1996), das den Erwachsenen befähigt, aus der eigenen Ich-Identität<br />
heraus zu leben. Greift man diese Lebensübergänge bewusst auf, können sie als<br />
zusätzliche Lernmotivation genutzt werden. Deshalb ist es für eine verstehende Diagnostik<br />
wichtig, dass Veränderungen und Übergänge im Leben eines Erwachsenen<br />
beachtet werden, da sie auch Anlass für Krisen sein können. Hierbei kann der Therapeut<br />
altersgemässe Entwicklungsthemen in Form von Interpretationshilfen anhand<br />
der individuellen Biographie anbieten.<br />
Therapiemotivation<br />
Für den Erfolg einer Therapie ist es ganz entscheidend, woher die Therapiemotivation<br />
kommt. In diesem Zusammenhang gibt es einen signifikanten Unterschied zwischen<br />
Erwachsenen ohne Behinderung gegenüber Erwachsenen mit geistiger Behinderung,<br />
für die meist Dritte, wie Eltern oder Betreuer aufgrund von etwa auffälligem Verhalten<br />
oder Krisen die Entscheidung zur Therapie fällen. Für den Erfolg einer Therapie ist es<br />
aber erforderlich, dass der Klient zustimmt. Daher ist es von elementarer Bedeutung,<br />
diese ‹Über-den-Kopf-hinweg-Entscheidung› schon im Erstkontakt aufzugreifen und<br />
nachzuvollziehen.<br />
Andragogische Kernprinzipien<br />
1. Wissensbedürfnis<br />
- Warum<br />
- Was<br />
- Wie<br />
Diagnostik mit Erwachsenen<br />
ohne Behinderung<br />
Informationen über Ziele und<br />
Absichten der Musiktherapie.<br />
Ablauf der TherapiestundeErwartungen,<br />
Musikalisches<br />
besprechen.<br />
Therapieziele oder Zwischenziele<br />
formulieren<br />
2. Selbstkonzept Lernender Welchem Lerntyp gehört der<br />
Klient an? Wieviel Selbstinstruktion<br />
ist möglich, wie<br />
viel Eigenverantwortung will er<br />
in Bezug auf das Lernen übernehmen,<br />
wie setzt er sich kritisch<br />
mit Veränderungen oder<br />
seiner Autonomie auseinander?<br />
Nimmt er Selbsthilfe an?<br />
Diagnostik mit Erwachsenen<br />
mit geistiger Behinderung<br />
Ziele und Absichten können<br />
oft nicht verbal besprochen<br />
werden. Somit ist es nützlicher,<br />
erlebnisorientiert zu<br />
arbeiten. Anleitung zum Spielen<br />
der Instrumente geben<br />
und Spielräume ermöglichen.<br />
Kann meist nur über das<br />
erlebnisorientierte Arbeiten<br />
erkannt werden.<br />
Oftmals entsteht im Erstkontakt<br />
noch kein Bild vom<br />
Selbstkonzept.<br />
48
3. Vorerfahrung des Lernenden Bei der Anamneseerhebung Oft verschleiern überangepasste<br />
nach Vorerfahrungen (ggf.<br />
Verhaltensweisen oder<br />
auch nach dem Therapiebereich)<br />
herausforderndes Verhalten<br />
fragen.<br />
die Identität. Bei Kommuni-<br />
kationsstörungen muss die<br />
Information von Dritten eingeholt<br />
werden. Das kann zu<br />
Fehleinschätzungen führen.<br />
4. Lernbereitschaft Wo ist die Frage, wo die Fragestellung kann meist<br />
Not? Soll eine Entwicklung nur musikalisch, auch durch<br />
stattfinden? Therapeutische erlebnisorientiertes Arbeiten,<br />
zum Ausdruck gebracht<br />
Sicherheit versus Wachstum<br />
berücksichtigen. Ermittlung werden. Beobachten der<br />
von Schwächen und Stärken nonverbalen Kommunikation<br />
in Bezug auf die Verbesserung reflektiert die Lernbereitschaft.<br />
von Selbstakzeptanz. Reflexion<br />
zeigt Entwicklungschancen<br />
Beobachten, ob Klient<br />
bereit ist, sich auf Entwick-<br />
auf. Transparenz stärkt lungen einzulassen. Grenzen<br />
die Therapie. Nicht unnötig des Klienten wahrnehmen<br />
ausdehnen.<br />
und akzeptieren.<br />
5. Lernorientierung Auseinandersetzung mit Erfahrungsorientiertes Lernen<br />
krankheitstypischen Gestaltungsphänomenen<br />
in Beziehung zum Alltag<br />
und -defi-<br />
setzen. Das systemische<br />
ziten. Herausfinden, was im Umfeld beachten. Hier kann<br />
Alltag behindert. Selbstregulationsfähigkeit<br />
auch ein klärendes Gespräch<br />
hinsicht-<br />
mit Dritten notwendig sein,<br />
lich einer Übertragung in die um belastende Situationen zu<br />
Lebensführung aufzeigen, verändern. Neue Erfahrungsspielräume<br />
Regression besprechen.<br />
erproben.<br />
6. Lernmotivation Empathische Grundhaltung Aufzeigen von Lern- und Entwicklungsstufen,<br />
in der therapeutischen Beziehung,<br />
wo will der Klient hin? meist musi-<br />
kalisch aufgegriffen.<br />
Zukunftsaspekte aufzeigen.<br />
Praxis des Erstkontaktes<br />
Die Diagnostik des Erstkontaktes, auf die sich meine Therapieplanung gründet, entsteht<br />
über vier Therapieeinheiten. So bezieht sie sowohl die Leitlinien des BVAKT (Pütz<br />
2008), als auch weitere Diagnostikverfahren ein und ist um eigene praxis- und klientenspezifische<br />
Aspekte erweitert:<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 49
Beiträge<br />
- Ärztliche Diagnose durch den Heimarzt,<br />
- Fremd- und Eigenanamnese: Vorgespräch mit Betreuern, parallele Therapien,<br />
Beschwerdebild, biografische Besonderheiten, Klärung, woher die Indikation für<br />
Musiktherapie kommt (will der Klient?), musikalische Vorerfahrungen,<br />
- Fragebogen zur Lebensqualität, ggf. als Leitfadeninterview gestellt,<br />
- phänomenologische Wahrnehmung: Ersteindruck, physisches Erscheinungsbild,<br />
Vitalität, Durchlebtheit der Gestalt, Äusserung im Seelischen,<br />
Persönlichkeitspräsenz, Intentionen und Motive, Temperament,<br />
- diagnostische Werk- und Prozessbetrachtung, das ist das ‹praktische Werk› des<br />
Klienten während der Therapiestunden,<br />
unter Berücksichtigung von<br />
- der Beurteilung der polaren Konstitutionsbilder (ermittelt aus dem Instrument zur<br />
Beurteilung der kindlichen Konstitution),<br />
- dem Entwicklungsstand (festgestellt aus dem EBQ-Befund).<br />
Methodischer Aufbau der therapeutischen Einheiten<br />
Im Erstkontakt halte ich mich, wenn möglich, an einen festen Ablauf, um mit dieser<br />
Struktur für eine Einschätzung einen vorzugsweise objektiven Rahmen zu bieten.<br />
Die Therapiestunde beginnt mit dem Begrüssen vor dem Therapieraum, einem<br />
Hereinführen in das Zimmer. Es stehen zwei Stühle in der Regel gegenüber und ein<br />
zusätzlicher neben dem Klienten bereit. Dieser dient als Ausweichstuhl, wenn die<br />
direkte Sitzhaltung als zu konfrontierend erlebt wird. Wir setzten uns und besprechen<br />
ggf. die Therapiesituation und die gegenseitigen Erwartungen. Das ist auch der<br />
Zeitpunkt für die Anamnese und den Fragebogen zur Lebensqualität. Dann beginne<br />
ich mit dem Eingangslied, das ich auf der Leier begleite und rege an, mitzumachen.<br />
Während ich die Leier zur Seite lege, singe ich weiter und ermuntere, mitzuklatschen,<br />
um mir ein Bild von den rhythmischen Fähigkeiten zu machen. Gerne setze ich zur<br />
Rhythmisierung Perkussion-Instrumente, wie Trommeln etc. ein, die ich auch dem<br />
Klienten anbiete. Anschliessend erkunden wir den Raum und die Instrumente, die<br />
spielbereit daliegen und probieren sie aus. Ab der zweiten Stunde einigen wir uns<br />
auf eine kleine Auswahl von Instrumenten und üben daran. Über diese musikalische<br />
Wahrnehmung kann ich sowohl an der therapeutischen Beziehung arbeiten als auch<br />
Frustrationstoleranz, Übertragungs- und Gegenübertragungssituationen betrachten.<br />
Zudem lerne ich den Klienten in seinem musikalischen und individuellen Ausdruck<br />
kennen. Den Abschluss bildet ein Bewegungslied im Raum. Am Ende reflektieren wir<br />
gegebenenfalls die Stunde und das weitere Vorgehen.<br />
50
Grundsätzlich habe ich gute Erfahrungen mit erlebnisorientierten und kontextgebundenen<br />
Interventionen, mit denen erfahrungsbedingtes Lernen im therapeutischen<br />
Kontext ausprobiert werden kann. Damit können neue Spielräume und Möglichkeiten<br />
erschlossen werden. Diese Erfahrungen biete ich als Wiederholungs- und Vertiefungsübungen<br />
an, damit sie sich auch körperlich verankern können und so weitere Kompetenzen<br />
ermöglichen.<br />
Ausblick<br />
Ich hoffe, dass die Qualität und meine Begeisterung, die Musiktherapie für erwachsene<br />
Menschen mit geistiger Behinderung bieten kann, verständlich geworden ist. So<br />
ist gerade der Aspekt, dass in dieser Therapieform Kommunikation auch ohne verbale<br />
Sprache geschehen kann, der meiner Erfahrung nach Wesentlichste. Denn eigentlich<br />
ist doch das grösste Anliegen, dass wir Menschen untereinander hegen:<br />
Verstanden zu werden.<br />
Marion Josek, M.A. Education (social care and music therapy) lebt und arbeitet<br />
in der Camphill Gemeinschaft Hausenhof. Im Rahmen ihres Masterstudiums<br />
(EIMO Plymouth/England) entwickelte sie in der Masters Dissertation ein Diagnostikportfolio<br />
für den Erstkontakt in der Anthroposophischen Musiktherapie.<br />
Literatur:<br />
Baars, E./Niemijer, M. (2004): Bild-gestaltende Diagnostik der kindlichen Konstitution. Die Entwicklung<br />
eines Messinstrumentes. Louis Bolk Instituut, Driebergen.<br />
Beilharz, G. (2004): Acht Jahrzehnte Musik in der anthroposophischen Heilpädagogik. In: Beilharz,<br />
G. (Hg.): Musik in Pädagogik und Therapie. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart.<br />
Dörfler, W. (1975): Das Lebensgefüge der Musik. Sektion für Redende und Musikzierende Künste der<br />
Freien Hochschule für Geisteswissenschaft Goetheanum, Dornach.<br />
Engel, H.-H. (2005): Musikalische Anthropologie. Medizinische Sektion der Freien Hochschule für<br />
Geisteswissenschaft Goetheanum, Dornach.<br />
Felber, R./Reinhold, S./Stückert, A. (2003): Anthroposophische Kunsttherapie 3. In: Arbeitsgruppe<br />
der Kunsttherapeuten in der Medizinischen Sektion am Goetheanum, Freie Hochschule für Geisteswissenschaft<br />
(Hg.), 2. Aufl. Verlag Urachhaus, Stuttgart.<br />
Knowles, M.S./Holton E.F./Swanson, R.A. (2007): Einführung. In: Jäger, S. (Hg.): Lebenslanges<br />
Lernen. Andragogik und Erwachsenenbildung. Elsevier, München.<br />
Levinson, D.J. (1979): Das Leben des Mannes. Werdenskrisen, Wendepunkte, Entwicklungschancen.<br />
Kiepenheuer & Witsch, Köln.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 51
Beiträge<br />
Lindenberg, Ch.A. (2004): Musiktherapie und heilpädagogische Krankheitsbilder. In: Beilharz, G.<br />
(Hg.): Musik in Pädagogik und Therapie. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart.<br />
Maslow, A.H. (1973): Psychologie des Seins. Ein Entwurf. Kindler Verlag, München.<br />
Oberkogler, F. (1987): Tierkreis- und Planetenkräfte in der Musik. Vom Geistgehalt der Tonarten.<br />
Novalis Verlag, Schaffhausen.<br />
Pfrogner, H. (1976): Lebendige Tonwelt. Verlag Müller GmbH, München.<br />
Schumacher, K./Calvet, C. (2007): Entwicklungspsychologisch orientierte Kindermusiktherapie –<br />
am Beispiel der ‹Synchronisation› als relevantes Moment. In: Stiff, U./Tüpker, R. (Hg.) Kindermusiktherapie<br />
Richtungen und Methoden. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen.<br />
Pütz, H. (2008): Leitlinie zur Behandlung mit Anthroposophischer Kunsttherapie für die Fachbereiche<br />
Malerei, Musik, Sprachgestaltung, Plastik. Berufsverband für Anthroposophische Kunsttherapie<br />
e.V. (Hg.): BVAKT, Herdecke.<br />
Rogers, C.R. (1951): Client-Centered Therapy. Houghton-Mifflin, Boston.<br />
Steiner, R. (1983): Von Seelenrätseln (GA 21, 5. Aufl.) Rudolf Steiner Verlag, Dornach.<br />
Steiner, R. (1990): Heilpädagogischer Kurs (GA 293, 1. Aufl.) Rudolf Steiner Verlag, Dornach.<br />
Steiner, R. (1996): Vom Lebenslauf des Menschen: Dreizehn Vorträge von 1909-1924. In: Fucke, E.<br />
(Hg.): Themen aus dem Gesamtwerk (Band 4). 5. Aufl. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben<br />
Stückert, A. (1997): Verschiedene Aspekte der Musiktherapie auf anthroposophischer Grundlage.<br />
Unveröffentlichte Diplomarbeit.<br />
Im Zwergenhaus<br />
ist Mittagsschmaus.<br />
Auf Wurzeltisch<br />
und Wurzelbank<br />
die Speis’ schmeckt frisch<br />
und wohl der Trank.<br />
In froher Ruh’<br />
ein Elfenkind<br />
schaut zu.<br />
MArie Steiner VerlAg<br />
75378 Bad Liebenzell, Burghaldenweg 12/1<br />
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»Sprüche und Lautspiele für Kinder«,<br />
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und Hin weisen zur Sprachpflege<br />
illustriert von Christiane Lesch<br />
j 34.– ISBN 978–3–9813255-3-9<br />
52
Nachrufe<br />
Nachruf auf Wolfgang Armbrüster<br />
Elterninitiative eine Einrichtung in Wuppertal,<br />
welche sieben Jahre bestand; anschliessend<br />
arbeitete er ambulant therapeutisch, vor allem<br />
einzeltherapeutisch sowie auf einer geschlossenen<br />
Station einer psychiatrischen Einrichtung.<br />
1991 wurde er von Eltern, deren Kinder zuvor in<br />
einer anthroposophischen Einrichtung betreut<br />
worden waren, aber dort nicht mehr bleiben<br />
Am 13. Mai des vergangenen Jahres verstarb<br />
überraschend nach kurzer Krankheit der Sozialtherapeut<br />
Wolfgang Armbrüster. Wolfgang<br />
wurde am 7. November 1953 in Völklingen/Saar<br />
geboren. Nach der Schule und verschiedenen<br />
Praktika studierte er Pädagogik an den Universitäten<br />
Köln und Bonn und fand schon früh sein<br />
Arbeitsfeld: die Begleitung erwachsener behin-<br />
Wolfgang Armbrüster<br />
derter Menschen in besonderen Notlagen, welche<br />
durch extreme Verhaltensweisen wie schwere<br />
Aggressionen oder Zwänge zum Ausdruck<br />
kommen. In den letzten Jahren seines Studiums<br />
hatte er die Verwahrlosung von Kindern und<br />
Erwachsenen in psychiatrischen Einrichtungen<br />
erlebt. Dies weckte in ihm das Bedürfnis, den<br />
Betroffenen eine Gemeinschaft zur Verfügung zu<br />
stellen, in der sie, wie er es einmal ausdrückte,<br />
«zur vollen Entfaltung ihrer Persönlichkeit – bei<br />
allen Schwierigkeiten – gelangen können.»<br />
1984 gründeten Wolfgang und seine Frau Dorothee<br />
mit weiteren Kollegen auf Anregung einer<br />
konnten, gebeten, seine ursprüngliche Arbeit<br />
wieder aufzunehmen. So kam es zur Begründung<br />
einer Lebensgemeinschaft in Wuppertal,<br />
welche drei Jahre später, 1994, in einen umgebauten<br />
Bauernhof nach Halverscheid im Sauerland<br />
umzog. Die Einrichtung wendete sich von<br />
Beginn an an behinderte Menschen, welche<br />
aufgrund schwerer ‹Verhaltensstörungen› dauerhaft<br />
in einer geschlossenen Abteilung einer<br />
Psychiatrie lebten oder vor einer Einweisung<br />
dorthin standen. In den folgenden Jahren kamen<br />
drei weitere Häuser hinzu, in einem Umkreis<br />
von 20 km. Im Zentrum des von Wolfgang<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 53
Nachrufe<br />
und seinen Mitarbeitern erarbeiteten Ansatzes<br />
stand eine unbedingte Orientierung an der Lebensgeschichte<br />
des betreuten Menschen und<br />
der Versuch, ihn vor dem Hintergrund seiner oft<br />
traumatischen Erfahrungen zu verstehen – und<br />
seine besonderen Verhaltensweisen als Ausdruck<br />
von Ängsten und Wünschen, als Suche<br />
nach Verständigung oder nach Konfrontation,<br />
als Sprache eines Menschen, der sich nur eingeschränkt<br />
äussern kann. Beispiele und eine<br />
Erläuterung dieses Vorgehens gab Wolfgang<br />
Armbrüster in einem bereits 1990 erschienenen<br />
Erfahrungsbericht sowie in zwei Interviews in<br />
dieser Zeitschrift in den Jahren 1999 und 2006.<br />
Erst in der Vergegenwärtigung dieser Beispiele<br />
wird deutlich, wie radikal und vorurteilslos dieser<br />
Versuch, zu verstehen und das Verstandene<br />
unbedingt ernst zu nehmen, praktiziert wurde –<br />
und wie innovativ er war, etwa im Umgang mit<br />
schweren Aggressionen oder Zwängen.<br />
So tiefgreifend dieser Impuls mit Blick auf den<br />
Einzelnen war, so bildete die Bemühung um<br />
Gemeinschaftsbildung seine Ergänzung – Gemeinschaft<br />
zunächst verstanden als Angebot<br />
und als Versprechen, den Erwachsenen aufzunehmen,<br />
zu ihm zu stehen und seinen Weg<br />
in ein Miteinander zu begleiten. Beide Säulen<br />
dieses Konzeptes verbanden sich in der Erfahrung,<br />
dass besonders das gemeinsame Leben<br />
ein Verstehen von Menschen ermöglicht, welche<br />
kaum oder nur in Fragmenten, und oft auch<br />
in widersprüchlicher Weise, sprachlich über<br />
sich Auskunft geben können. Die von Wolfgang<br />
begründete Gemeinschaft war von Beginn an<br />
offen konzipiert, es fanden sich Menschen,<br />
die vor Ort lebten, mit anderen zusammen,<br />
welche für bestimmte Zeiten kamen, ohne dass<br />
dieser Unterschied eine Wertung in sich trug.<br />
Gemeinsam war ihnen das Anliegen, sich von<br />
einem traditionellen Bild eines Arbeitsplatzes<br />
zu lösen und «unser Bild vom ‹Zuhause-sein›<br />
in die Einrichtung zu integrieren.» Zugleich war<br />
diese Auffassung von Gemeinschaft demokratisch<br />
und pluralistisch orientiert – alle sollten<br />
ihren Beitrag leisten, zugleich wurde jeder in<br />
seinem Standpunkt und in seinen Bedürfnissen<br />
respektiert und konnte die Formen des Gemeinschaftslebens<br />
mitbestimmen. Wolfgang und<br />
seine Mitarbeiter vertrauten darauf, dass diese<br />
Erfahrung gerade bei Menschen, welche Ausgrenzung<br />
und Entmündigung erfahren haben,<br />
besondere Kräfte und Intentionen freisetzt. Er<br />
sah sich in dieser Arbeit von der Anthroposophie<br />
inspiriert, als einem Weg, «die Menschen<br />
sich selbst entdecken zu lassen und ihnen zur<br />
Fähigkeit der Selbstschulung zu helfen», – dazu<br />
beizutragen und dem Einzelnen Entwicklung angesichts<br />
seines Schicksals zu ermöglichen, das<br />
sah er als Aufgabe von Gemeinschaftsbildung.<br />
In seine therapeutische Arbeit fanden psychotherapeutische<br />
Ansätze ebenso Eingang wie das<br />
gemeinsame Arbeiten: etwa das Renovieren der<br />
alten Häuser und die An- und Umbauten. Hier<br />
mitzuarbeiten machte Wolfgang grösste Freude.<br />
Ebenso gerne war er auf Reisen, zumeist in<br />
einem grossen Camping-Bus, der eine sichere<br />
Basis für die Gruppe bedeutete und so grösste<br />
Unabhängigkeit beim Reisen ermöglichte. Alleine<br />
war er gerne mit dem Motorrad unterwegs.<br />
Wenn man Wolfgang inmitten seiner Freunde<br />
und Freundinnen besuchte, so erlebte man bald<br />
sein unbändiges Vertrauen in die Menschen und<br />
ihre Entwicklungsmöglichkeiten, seinen Humor,<br />
seine Lebensfreude. Auch im Umgang mit den<br />
Mitarbeitern wirkte er – und verstand sich auch<br />
– eher als Berater denn als Leitungsperson.<br />
Man spürte, dass auch er sich getragen fühlte,<br />
von der Gemeinschaft und von seiner Familie.<br />
In den Monaten vor seinem Tod hatte er eine Erschöpfung<br />
verspürt, das Bedürfnis, sich stärker<br />
zurückzuziehen, auch hatte er das Gefühl, dass<br />
dies möglich ist. So mussten ihm diejenigen,<br />
die er so lange begleitet hatte, an einem warmen<br />
Frühlingstag das letzte Geleit geben. Die<br />
Einrichtung mit ihrem Konzept wird in seinem<br />
Sinne weiter geführt.<br />
Bernhard Schmalenbach<br />
54
Berichte<br />
«Anthroposophische Heilpädagogik im<br />
Diskurs»<br />
Fachtag in der Höheren Fachschule für anthroposophische<br />
Heilpädagogik, Sozialpädagogik<br />
und Sozialtherapie Dornach<br />
von Gabriele Scholtes<br />
Mit einem kleinen Feuerwerk an Vorträgen<br />
und Beiträgen aus der akademischen Fachwelt<br />
konnte der Schweizer Verband für anthroposophische<br />
Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />
(vahs) die Feierlichkeiten rund um sein 50.stes<br />
Jubiläum in gebührender Weise abrunden. Zugleich<br />
war die Veranstaltung am 23. November<br />
<strong>2013</strong> der Auftakt zum 40-jährigen Bestehen der<br />
Höheren Fachschule für anthroposophische<br />
Heilpädagogik, Sozialpädagogik und Sozialtherapie<br />
Dornach (HFHS, ursprünglich Rudolf<br />
Steiner Seminar für Heilpädagogik) im kommenden<br />
Jahr. Der Leiter der HFHS, Andreas Fischer,<br />
konnte somit neben den Gästen aus eigenen<br />
Reihen die nahezu gesamte Vertreterschaft des<br />
Verbandes der heilpädagogischen Ausbildungsinstitute<br />
der Schweiz (VHPA) auf das Herzlichste<br />
begrüssen.<br />
Dem einleitenden Überblick auf die Entwicklung<br />
der heilpädagogischen Ausbildung im nationalen<br />
und internationalen Kontext von Beatrice<br />
Kronenberg (Leiterin des Schweizerischen<br />
Zentrum für Heilpädagogik, Bern) folgten Beiträge<br />
von Barbara Jeltsch-Schudel (Universität<br />
Fribourg), Lars Mohr (Hochschule für Heilpädagogik,<br />
Zürich) und Johannes Denger (Referent<br />
für Bildung, Ethik und Öffentlichkeitsarbeit<br />
des deutschen Verbandes für Heilpädagogik)<br />
zu Schwerpunkten und Herausforderungen der<br />
heilpädagogischen Ausbildung. Dabei wurden<br />
historische Überschneidungen, die Vielfalt der<br />
Anforderungen, Schlüsselkompetenzen, Spannungsfelder<br />
als Lernziele und neben etlichen<br />
weiteren Aspekten die Verbindung von Wissenschaft,<br />
Theorie, Kunst und Praxis erörtert.<br />
Am Nachmittag stellte Christof Stamm mit sei-<br />
Andreas Fischer und Lars Mohr<br />
ner ethnografischen Studie zentrale Aspekte<br />
und Schlussfolgerungen über ‹Anthroposophische<br />
Sozialtherapie im Spiegel ausgewählter<br />
Lebensgemeinschaften› vor, die er im Rahmen<br />
seiner Dissertation erarbeitet hat.<br />
Schliesslich endete die Veranstaltung mit Beiträgen<br />
über das Menschenbild als Grundlage<br />
heilpädagogischer Tätigkeiten als ethische<br />
Frage hinsichtlich des Umgangs mit Nähe und<br />
Distanz. Gabriel Sturmy-Bossert (Pädagogische<br />
Hochschule Zentralschweiz, Luzern), Urs Strasser<br />
(Hochschule für Heilpädagogik, Zürich) und<br />
Rüdiger Grimm (Alanus Hochschule für Kunst<br />
und Gesellschaft Alfter, Deutschland) führten<br />
in diesem Kontext die immer wieder gestellte<br />
Frage des Menschenbildes als ethische Grundkategorie<br />
in der Heilpädagogik an, es wurde auf<br />
den Spannungsbogen von zu viel respektive zu<br />
wenig Distanz aufmerksam gemacht, um letztlich<br />
die Kompetenz einer harmonischen und<br />
‹gesunden Dialogfähigkeit› zu erwerben.<br />
Andreas Fischer und Greta Pelgrims ( Université<br />
de Genève und Präsidentin des VHPA) erachteten<br />
zum Abschluss die Veranstaltung als einen<br />
Tag voller wertvoller Anregungen und vor allem<br />
als einen Beitrag zur Stärkung des Miteinanders<br />
in der gemeinsamen Aufgabe.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 55
Berichte<br />
Psychiatrische Erkrankungen und ihre<br />
Erscheinungsformen in der Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie<br />
Fachtagung für HeileurythmistInnen und ÄrztInnen<br />
von Judith Oberndörfer<br />
Bei der dritten Fachtagung mit dem Schwerpunkt<br />
psychiatrische Erkrankungen beschäftigten sich<br />
die ca. 20 Teilnehmenden im Sonnenhof/Arlesheim<br />
mit Fragen zu Traumafolgestörungen, der<br />
Borderline-Persönlichkeitsstörung und Formen<br />
von Essstörungen.<br />
Die psychiatrischen Grundlagen referierte der<br />
Kinder- und Jugendpsychiater Walter Dahlhaus.<br />
Aspekte zu den Organen und ihren kosmischen<br />
Zusammenhang stellte Dr. med. Ingo Junge aus<br />
Oldenburg in seinem Vortrag dar. Ergänzt wurden<br />
diese Erläuterungen durch zwei sehr anschauliche<br />
Kindervorstellungen.<br />
Dahlhaus begreift die Diagnose einer Erkrankung<br />
als ‹Fenster›, das es ermöglicht, durch<br />
die Symptome hindurch auf das Wesen des<br />
Menschen zu schauen. Um daraus in eine therapeutische<br />
Tätigkeit zu kommen, ist es nötig,<br />
sich wirklich in die Befindlichkeit des Patienten<br />
einzuleben: «Man kann kaum einem Menschen<br />
seelisch etwas sein, in dessen Innenlage man<br />
sich nicht versetzen kann» (R. Steiner).<br />
Trauma<br />
Die allen modernen Erkrankungen gemeinsame<br />
Dissoziation (Verlust der Geschlossenheit) kann<br />
auf jeder Ebene der Wesensglieder auftreten.<br />
Wie sehr das jedoch auch auf seelenpflegebedürftige<br />
Menschen zutrifft, war lange Zeit nicht<br />
bekannt. Erst in den letzten fünf bis zehn Jahren<br />
wurde entdeckt, dass viele unter traumatischen<br />
Erfahrungen leiden, da sie aufgrund der<br />
heilpädagogischen Konstellation schneller von<br />
Eindrücken überwältigt sind, sodass sie sich<br />
ohnmächtig und hilflos fühlen. Diese Erfahrungen<br />
können sich tief in den Körper einprägen<br />
bis hin zu Veränderungen in der Gehirnstruktur.<br />
Menschen mit einem Trauma leben in ständiger<br />
Alarmbereitschaft und neigen bei Ängsten zu<br />
heftigen Reaktionen. So können Kleinigkeiten<br />
zu einer plötzlichen und heftigen Reaktion führen,<br />
die zunächst unverständlich scheint.<br />
Da die Prägung im Körpergedächtnis jedoch wieder<br />
verwandelt und aufgelöst werden kann, ist<br />
gerade die Heileurythmie als leib-gestaltendes<br />
Element zur Therapie geeignet.<br />
Borderline<br />
Das schillernde Bild eines Borderline-Patienten<br />
ist schwer zu fassen und pendelt zwischen Idealisierung<br />
und Abwertung anderer Menschen,<br />
aber auch sich selbst gegenüber. Aus Angst vor<br />
dem Alleinsein stürzt er sich in intensive, aber<br />
unstete Beziehungen und ringt um Anerkennung,<br />
die er aus Mangel an Vertrauen nicht wirklich<br />
annehmen kann. Freundliches Verhalten<br />
kann ganz plötzlich in Impulsivität und affektive<br />
Handlungen umschlagen. Wie beim traumatisierten<br />
Menschen können auch hier die Gefühle<br />
wie aus dem Nichts auftreten. Aus einer gestörten<br />
Selbstwahrnehmung heraus neigen die Patienten<br />
häufig zu selbstverletzendem Verhalten.<br />
Im Hintergrund steht jedoch der Wunsch, nach<br />
seinem himmlischen Wesen angesehen zu werden.<br />
Der Therapeut muss den Patienten darin<br />
begleiten, den Weg in die irdischen Verhältnisse<br />
zu gehen. Dazu muss er selbst innerlich lebendig<br />
sein, um immer wieder neue Schritte zu finden.<br />
Er kann kein fertiges Konzept haben. In der<br />
Haltung braucht er, als Antwort auf die Widersprüchlichkeit<br />
des Patienten, die Möglichkeit<br />
zur Strenge, aber auch zu Einfühlsamkeit und<br />
Verständnis. Aufgrund der hohen Anforderungen<br />
an das soziale Miteinander und die Toleranz<br />
ist es in den meisten sozialtherapeutischen<br />
Einrichtungen oftmals nicht möglich, mehr als<br />
einen Menschen mit einer Borderline-Störung<br />
mitzutragen.<br />
Heileurythmie<br />
In den Übungen mit der Heileurythmistin Ursula<br />
Langerhorst konnten wir den Wirkungen nachspüren<br />
und ahnen, welche Hilfe sie den seelisch<br />
so tief verletzten Menschen sein können. Wir<br />
übten die bereits in den Anfängen der Eurythmie<br />
56
Berichte<br />
entwickelte anregende und beruhigende Reihe.<br />
Besonders wichtig war hier, wie die Gesten aus<br />
Naturbildern nach innen führten. Ein Weg, der<br />
uns auch in der Beschreibung der Seelenverfassung<br />
dieser Erkrankungen begegnet war. Die<br />
seelisch verletzten Menschen hegen eine tiefe<br />
Sehnsucht nach Wahrbildern, die wir ihnen in<br />
der Heileurythmie geben können. Zugleich helfen<br />
die Übungen, sich mit dem als fremd empfundenen<br />
Leib zu versöhnen.<br />
Anders stellt sich die Toneurythmie für Patienten<br />
mit Borderline-Syndrom dar. In der Auseinandersetzung<br />
mit starken Gegensätzen (z.B. in<br />
der Tonhöhe oder Dur und Moll) wurde die Möglichkeit<br />
gegeben, die eigene Mitte als Identität<br />
zu erleben. Damit diese Patienten keine Langeweile<br />
entwickeln, die bis zu Verweigerung führen<br />
kann, bedarf es einer hohen Anforderung.<br />
Mit toneurythmischen Übungen führte uns Roswitha<br />
Schumm immer wieder an den inneren<br />
Quell heran, aus dem eurythmische Gestaltung<br />
erst möglich wird und sich erneuern kann.<br />
Grundlage war die ins Seelische gespiegelte<br />
Erfahrung der unteren Sinne: der Ruhe durch<br />
den Gleichgewichtssinn, der seelischen Freiheit<br />
durch den Bewegungssinn und als Ergebnis der<br />
beiden die Behaglichkeit aus dem Lebenssinn.<br />
Wir erforschten drei Ebenen des ‹Rhythmus'›<br />
und machten uns das Erlebnis der Qualitätsunterschiede<br />
von 1, 2 usw. bis 7 bewusst. Beim<br />
Üben der inneren Qualität des ‹vorne – hinten›<br />
im Bewegen von ‹Längen und Kürzen› erlebten<br />
wir die innere Regsamkeit, die den fortlaufenden<br />
Strom gliedert. Schließlich fanden wir einen<br />
neuen Zugang zu den Intervallformen als Rhythmusformen,<br />
die sich im Unterschied zum Melos<br />
in der Gebärde neu offenbarten, so dass in der<br />
Mitte ein freier Wahrnehmungsraum entstand.<br />
Nach den drei ereignisreichen Tagen trennten<br />
wir uns nur ungern voneinander.<br />
Unsere Gemeinschaft war im gemeinsamen Einfühlen<br />
in die Seelenproblematik auf besondere<br />
Weise zusammengewachsen.<br />
Nähe und Distanz – ein Balanceakt in<br />
jeder Beziehung<br />
In der Begleitung von Menschen mit einer Behinderung<br />
ist die Beziehungsgestaltung das wichtigste<br />
Arbeitsinstrument. Sie ist aber gleichzeitig<br />
auch die Achillesferse unserer Profession, da<br />
die Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse in Institutionen<br />
Grenzverletzungen begünstigen. Der<br />
Balanceakt zwischen Nähe und Distanz muss<br />
deshalb bewusst reflektiert und täglich geübt<br />
werden. Jede menschliche Beziehung pendelt<br />
zwischen Nähe und Distanz. Es kann nicht Ziel<br />
sein, einseitig für eine «professionelle Distanz»<br />
zu plädieren, welche für alle verheerende Wirkungen<br />
hat. Viel eher geht es darum, gemeinsam<br />
um eine «professionelle Nähe» zu ringen,<br />
die alle oben erwähnten Aspekte mitdenkt. Die<br />
Tagung hat zum Ziel, im Dialog mit den Teilnehmenden<br />
mögliche Wege für ein förderliches Miteinander<br />
zu skizzieren.<br />
Redaktion<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 57
Rezensionen<br />
Ruth-Ingrid Hesse<br />
Schloss Gerswalde 1929-1950.<br />
Ein heilpädagogisches Kinderheim<br />
in drei deutschen Staatsformen.<br />
Verlag Ch. Möllmann<br />
Borchen 2012<br />
Euro: 17,-<br />
CHF: 21,40<br />
Rezension: Johannes<br />
Kiersch<br />
Neue Bücher<br />
Ita Wegman, als Leiterin der<br />
Medizinischen Sektion am<br />
Goetheanum eng mit den<br />
heilpädagogischen Heimen<br />
der anthroposophischen Bewegung<br />
verbunden, verfolgte<br />
im Jahre 1933 mit Sorge und<br />
grösster Wachheit die Machtübernahme<br />
der Nationalsozialisten.<br />
Eine Zeitlang dachte sie<br />
daran, in England noch einmal<br />
ganz neu anzufangen. Nach<br />
ihrer schweren Krankheit im<br />
Jahre 1934, auf einer Reise ins<br />
Heilige Land, wurde ihr dann<br />
klar, dass sie Deutschland<br />
nicht im Stich lassen durfte.<br />
Ihre Hoffnungen richteten sich<br />
besonders auf die beiden Heime,<br />
die vom Ursprungsort Jena<br />
aus begründet worden waren:<br />
Schloss Hamborn bei Paderborn<br />
durch Siegfried Pickert<br />
und Gerswalde in der Uckermark<br />
durch Franz Löffler. Hier<br />
sah sie Kulturstätten aufblühen,<br />
die das Chaos nach dem<br />
Zusammenbruch der Diktatur<br />
überdauern würden.<br />
Von der «pädagogischen Provinz»<br />
Gerswalde hat Hermann<br />
Girke in seiner Biographie des<br />
Begründers eine lebendige<br />
Schilderung gegeben. Jetzt ist<br />
über die Geschichte dieses<br />
Ortes eine lesenswerte neue<br />
Studie von Ruth-Ingrid Hesse<br />
erschienen, die selbst ihre<br />
ersten Lebens- und Schuljahre<br />
dort verbracht hat. Noch deutlicher<br />
zeigen sich in diesem<br />
Buch die einundzwanzig Jahre<br />
vom Beginn der Arbeit in Gerswalde<br />
bis zur Schliessung als<br />
ein ungeheuer bewegtes, mit<br />
Enthusiasmus und Zuversicht<br />
durchgestandenes Abenteuer<br />
im Kampf mit der Ideologie<br />
und dem bürokratischen Zugriff<br />
zweier totalitärer Gesellschaftssysteme.<br />
Auffallend ist<br />
die Jugend der ersten Mitarbeiter:<br />
Ausser Franz Löffler und<br />
Frieda Heinze war niemand<br />
älter als dreissig Jahre. Die<br />
wenigen anthroposophischen<br />
58
Rezensionen<br />
Heime damals halfen sich<br />
gegenseitig in Notlagen, wodurch<br />
immer wieder Menschen<br />
ausschieden und neue einzuarbeiten<br />
waren. Besonders<br />
prekär war der häufige Wechsel<br />
der ärztlichen Betreuung.<br />
Für drei Jahre arbeitete das<br />
Heil- und Erziehungsinstitut<br />
für seelenpflege-bedürftige<br />
Kinder ohne amtliche Konzession,<br />
gefördert vom wachsenden<br />
Respekt der zuständigen<br />
Beamten und vieler Fachleute.<br />
In einem Bericht von Aussenstehenden<br />
heisst es:<br />
«Es handelt sich vorwiegend<br />
um moralisch schwache Jugendliche<br />
(Jugendgerichtsfälle),<br />
um geistig und körperlich<br />
unterentwickelte Kinder, die,<br />
wenn sie ausserhalb unter<br />
Altersgenossen gestellt würden,<br />
als Schwererziehbare,<br />
als Imbecille, als Halbidioten<br />
bezeichnet werden müssten.<br />
Hier fügen sie sich zu einer Gemeinschaft,<br />
die den Besucher<br />
gänzlich vergessen macht,<br />
dass es sich um irgendwelche<br />
schwierigen Kinder handelt.<br />
Es herrscht Ordnung, Fröhlichkeit,<br />
auffallende Freundlichkeit<br />
der Kinder untereinander.<br />
Vom Erwachsenen geht offenbar<br />
so viel Haltung und Humanität<br />
aus, dass indirekt der<br />
Ton der Kinder untereinander<br />
beeinflusst wird».<br />
Schon ein Jahr nach der Gründung<br />
wurde ein weitsichtiger<br />
Versuch mit Sozialwerkstätten<br />
für erwerbsbeschränkte Jugendliche<br />
unternommen. Die<br />
älteren Betreuten sollten bleiben<br />
dürfen und etwas Sinnvolles<br />
tun. In Zusammenarbeit<br />
mit der bekannten Initiative<br />
in Stuttgart wurde Waldorf-<br />
Spielzeug hergestellt, wenn<br />
auch ohne dauerhaften Erfolg.<br />
Die Betreuten kamen anfangs<br />
über öffentliche Wohlfahrtseinrichtungen.<br />
Als 1935 die Anthroposophische<br />
Gesellschaft<br />
verboten wurde, war man<br />
mehr und mehr auf Kinder aus<br />
wohlhabenden Familien angewiesen.<br />
Ständig befand sich<br />
das Heim unter wirtschaftlichem<br />
Druck. Schon Anfang<br />
1933 wurde der unmittelbar<br />
bevorstehende Konkurs nur<br />
verhindert durch das kompetente<br />
Eingreifen von Siegfried<br />
Palmer, der dann bis zu seiner<br />
Einberufung im Jahre 1941 Geschäftsführer<br />
blieb. Über ein<br />
Finanzloch im Sommer halfen<br />
dreissig Berliner Ferienkinder<br />
hinweg. Ab 1943 setzten dann<br />
Evakuierungen aus den Grossstädten<br />
ein, wodurch sich die<br />
Belegschaft von 100 auf 350<br />
Personen vermehrte.<br />
Ergreifend sind auch in dieser<br />
Studie die Schilderungen<br />
des Kampfes gegen den menschenverachtenden<br />
Darwinismus<br />
der staatlichen Organe. In<br />
zähen Verhandlungen werden<br />
Betreute vor der Sterilisation<br />
nach dem Gesetz zur Verhütung<br />
erbkranken Nachwuchses<br />
bewahrt, später vor der Euthanasie-Aktion.<br />
Jüdische Kinder<br />
werden umsichtig ausser Landes<br />
gebracht oder versteckt.<br />
Käthe Seiferth, die Gärtnerin,<br />
schreibt darüber:<br />
«Sobald ein Parteifahrzeug vor<br />
dem Schloss auftauchte, funktionierte<br />
unser Alarmsystem.<br />
Friedel Schmidt [die Ärztin]<br />
schickte einen der leichteren<br />
Fälle in die Gärtnerei und liess<br />
ausrichten, sie hätte keine<br />
Zeit, ich solle später zur Behandlung<br />
kommen. Das war<br />
unser Zeichen, ich wusste, sie<br />
sind wieder da. Mit Gemüsekorb<br />
oder Karre bewaffnet, es<br />
stand immer bereit, machte ich<br />
mich auf den Weg ins Schloss.<br />
So ging ich runter durch den<br />
Kücheneingang und von dort<br />
in den Heizungstrakt. Dorthin<br />
waren schon die Behinderten<br />
gebracht worden. Vor dem<br />
Heizungsausgang, der nicht<br />
einsehbar war, konnte man<br />
dann hinuntergelangen mit<br />
den Kindern (...) in die untere<br />
Gärtnerei und das Wäldchen.<br />
(...) Nur bei ganz schlechtem,<br />
kaltem Wetter wurden sie in<br />
den Einkochkeller unter dem<br />
Gärtnereihaus gebracht. Dort<br />
waren die Wände dick ausgepolstert,<br />
damit möglichst kein<br />
Lärm nach aussen drang.»<br />
Wie weiträumig und zukunftsorientiert<br />
Franz Löffler denken<br />
konnte, zeigte sich nach dem<br />
Ende des Krieges, als das<br />
Heim für seelenpflegebedürftige<br />
Kinder sich in ein Institut<br />
für Erziehungshilfe verwandelt<br />
hatte. Siegfried Palmer<br />
schreibt darüber im Juli 1946:<br />
«Löffler war gerade in Berlin,<br />
um an einer von amtlicher<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 59
Rezensionen<br />
Seite einberufenen Versammlung<br />
sämtlicher Heimleiter in<br />
der russischen Zone teilzunehmen.<br />
Er hat in letzter Zeit<br />
verschiedentlich Vorträge vor<br />
Wohlfahrtspflegerinnen und<br />
anderen Angehörigen sozialer<br />
Berufe gehalten. (...) Die Diskussionen<br />
waren sehr lebhaft<br />
und gingen bis tief in die Nacht<br />
hinein, und immer noch mehr<br />
wollten die Menschen wissen.<br />
Löffler meinte, wenn er jetzt<br />
genügend Menschen hätte,<br />
die ihn in diesem Wirken unterstützen<br />
können, so würde in<br />
Kürze eine ziemliche Breitenwirkung<br />
möglich sein.<br />
Daraus wurde nichts. Statt<br />
dessen trat ein anderes Ziel<br />
in den Vordergrund: Das Institut<br />
sollte zum Kulturzentrum<br />
für die dörfliche Umgebung<br />
werden. In der alten Burgruine<br />
sollte ein geeigneter<br />
Versammlungsraum ausgebaut<br />
werden. Möglich schien<br />
das wohl, weil in den letzten<br />
Kriegsjahren aus der zerbombten<br />
Hauptstadt eine Reihe<br />
profilierter Künstler nach<br />
Gerswalde gekommen waren.<br />
Helene Reisinger, die später<br />
mit ihrer Tochter Claudia ihre<br />
Eurythmieschule in Berlin aufbaute,<br />
der Komponist Hans<br />
Georg Burkhardt, die Pianistin<br />
Alexandra Graatz. Schon länger<br />
war der Maler Frans Copijn<br />
im Institut tätig. Zu dem lebendigen<br />
Bild, das Hermann Girke<br />
von dem künstlerischen Leben<br />
des Heims in der Nachkriegszeit<br />
entworfen hat, wird hier<br />
manches Detail nachgeliefert.<br />
Man kann den Mut, die energische<br />
Führungskraft und die<br />
Urteilskompetenz Franz Löfflers<br />
in kritischen Situationen<br />
nur bewundern. Zugleich wird<br />
in der Studie von Ruth-Ingrid<br />
Hesse aber auch deutlich,<br />
wie ihn sein aufbrausendes<br />
Temperament immer wieder<br />
in Konflikte mit seinen Mitarbeitern<br />
hineintrieb. Zeitweilig<br />
scheint er deshalb sogar die<br />
Heimleitung niedergelegt zu<br />
haben. Einmal musste Ita Wegman<br />
persönlich eingreifen.<br />
Käthe Seiferth berichtet von<br />
ernsten Meinungsverschiedenheiten<br />
sogar mit Olga<br />
Franke und Alois Künstler: «Er<br />
hätte sie am liebsten hinausgeworfen».<br />
Aber die Situation<br />
entschärfte sich wieder.<br />
Bei allen internen Krisen wird<br />
man den ungeheuren Druck<br />
berücksichtigen müssen, der<br />
durch die Zeitverhältnisse<br />
auf allen Beteiligten lastete.<br />
Und das gilt wohl auch für<br />
die befremdliche zwölfseitige<br />
Eingabe, die Löffler am 5. Juni<br />
1940 an den stellvertretenden<br />
Kreisleiter der NSDAP in der<br />
Kreisstadt Templin einreichte.<br />
Darin bekennt er sich, dem<br />
Anschein nach, rückhaltlos zu<br />
dem herrschenden System.<br />
Alle Umstände sprechen dafür,<br />
dieses peinliche Dokument als<br />
ein extrem opportunistisches<br />
Manöver zu verstehen. Für jeden<br />
Einsichtigen war damals,<br />
schon fast ein Jahr nach dem<br />
deutschen Überfall auf Polen,<br />
das Ende des Regimes in<br />
absehbarer Zeit zu erwarten.<br />
Löffler hat wohl versucht, die<br />
prekäre Lage des Heims mit<br />
dem problematischen Mittel<br />
eines Lippenbekenntnisses<br />
doch noch bis dahin irgendwie<br />
zu retten.<br />
Der Darstellung von Ruth-Ingrid<br />
Hesse liegen ausgedehnte<br />
Archiv-Studien zugrunde, die<br />
viele Abläufe besonders in den<br />
juristischen und wirtschaftlichen<br />
Einzelheiten zuverlässig<br />
durchsichtig machen, ohne<br />
dass die menschliche Dramatik<br />
der Ereignisse dabei zu<br />
kurz kommt. Schöne Fotos und<br />
ein nützliches Namenregister<br />
ergänzen den Band. Man<br />
wünscht sich eine vergleichbare<br />
Darstellung auch für<br />
Schloss Hamborn, den zweiten<br />
Lieblingsort Ita Wegmans in<br />
Deutschland, und für andere<br />
Institutionen unserer heilpädagogischen<br />
Bewegung.<br />
60
Rezensionen<br />
Vor gut 20 Jahren war im Selbstverlag<br />
ein schmales Bändchen<br />
erschienen, das kaum über den<br />
Kreis von Kennern hinauswirkte.<br />
In der Zwischenzeit ist aber das<br />
Interesse gewachsen, Verbreitung<br />
und Rezeption der Anthroposophie<br />
und ihrer Impulse<br />
zurückzuverfolgen und ihre Träger<br />
wahrzunehmen und zu würdigen.<br />
Das ist auch das Anliegen<br />
des Büchleins ‹Ein Quell<br />
wird zum Strom›. Es gelingt der<br />
Autorin, in der Verbindung von<br />
geografischen und historischen<br />
Aspekten, liebevollen Blicken<br />
auf Land und Leute und persönlichen<br />
Erinnerungen an die alte,<br />
reiche Kulturlandschaft Schlesien<br />
als fruchtbaren Boden für<br />
die Anthroposophie aufleuchten<br />
zu lassen. Es wird erzählt<br />
von bedeutsamen Orten, die<br />
zugleich Synonyme sind für fortwirkende<br />
Impulse wie Koberwitz<br />
und Pilgramshain, aber auch<br />
von regen Initiativen in Breslau,<br />
von den Anfängen der Waldorfschule<br />
und der heilpädagogischen<br />
Arbeit, von der Eurythmieschule<br />
und dem Wirken der<br />
Christengemeinschaft. Es dürfte<br />
diese Schrift auch die einzige<br />
Stelle sein, wo an die bemer-<br />
Gertraud Bessert<br />
Ein Quell wird zum Strom<br />
Anthroposophisches Leben<br />
und heilpädagogische<br />
Impulse aus der Breslauer<br />
Zeit von 1924-1945<br />
Verlag Ch. Möllmann 2012<br />
EUR: 10,-<br />
CHF: 12,90<br />
Rezensentin: Katharina<br />
Mauser-Goller<br />
kenswerte Persönlichkeit von<br />
Margarete Bessert-Weinhold<br />
erinnert wird, die noch in widrigsten<br />
Vorkriegs- und Kriegsjahren<br />
den anthroposophischen<br />
pädagogischen und heilpädagogischen<br />
Impuls durchtrug und –<br />
zusammen mit ihrer Tochter Gertraud<br />
und Magdalena Stephan<br />
– schliesslich 1952 das Kinderheim<br />
Sonnenhalde gründete.<br />
Wer dieses Institut – heute in<br />
Görwihl im Hotzenwald – erlebt,<br />
kann vielleicht noch etwas spüren<br />
von dem starken, kulturell-künstlerischen<br />
Quell, der<br />
aus diesem «zehnfach interessanten<br />
Land» (so Goethe) im<br />
Herzen Europas hervorbrach. Es<br />
ist dem Verlag Christoph Möllmann/Hamborn<br />
zu danken,<br />
dass diese Aufzeichnungen<br />
jetzt in einer verbesserten Neuauflage<br />
herauskommen konnten.<br />
Da sich das Büchlein zweifellos<br />
auch als eine Liebeserklärung<br />
an das Land Schlesien<br />
liest, ist es ein signifikantes Zeichen<br />
für den heilenden Gang der<br />
Geschichte, dass noch vor dieser<br />
Neuauflage eine Übersetzung<br />
ins Polnische erschienen war<br />
(Gdynia 2011, Verlag GENESIS,<br />
hg. von M. und E. Wasniewska).<br />
Weitere Neuerscheinungen<br />
Karl König<br />
Kaspar Hauser<br />
Hrsg. Peter Selg und<br />
Richard Steel<br />
Verlag Freies Geistesleben<br />
2012<br />
ISBN 978-3-7725-2403-5<br />
Karl König<br />
Über die menschliche Seele<br />
Hrsg. von Kurt E. Becker<br />
und Richard Steel<br />
Verlag Freies Geistesleben<br />
2012<br />
ISBN 978-3-7725-2403-5<br />
Hans Dackweiler<br />
Dann brauchst due einen<br />
Freund<br />
Erlebnisse und Einsichten<br />
aus der Sozialtherapie<br />
Verlag Freies Geistesleben<br />
ISBN 978-3-7725-2369-4<br />
Steffen Richter<br />
Martin Kretschmer<br />
Gründer der Heilpädagogischen<br />
Einrichtung Bonnewitz<br />
Heilpädagogik Bonnewitz<br />
gemeinnützige Stiftung<br />
Bernhard Schmalenbach<br />
Von der ästhetischen Kraft<br />
in der Heilpädagogik<br />
in:<br />
Coincidentia<br />
Zeitschrift für europäische<br />
Geistesgeschichte<br />
Band 3/1 2012<br />
ISSN: 1869-9782<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 1 | <strong>2013</strong> 61
Seelenpfl ege in Heilpädagogik und Sozialtherapie 32. Jahrgang <strong>2013</strong> Heft 1<br />
Impressum<br />
Herausgegeben von der Konferenz für Heil pädagogik und<br />
Sozialtherapie in der Medizinischen Sektion der Freien<br />
Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum, Dornach<br />
(Schweiz)<br />
Redaktion<br />
Dr. Rüdiger Grimm<br />
Dr. Bernhard Schmalenbach<br />
Gabriele Scholtes<br />
Administration<br />
Regina Denzler<br />
Die Zeitschrift erscheint viermal jährlich.<br />
Abonnementspreise CHF Euro<br />
Abonnement 42.-- 32.00<br />
Studierende/Senioren 27-- 20.00<br />
Einrichtungsabonnement 34-- 25.50<br />
Einzelheft (zuzügl. Porto) 15.-- 10.00<br />
Das Abonnement ist mit einer Frist von sechs Wochen zum<br />
Jahresende kündbar.<br />
Einrichtungsabo: Preis bei Bestellung ab 10 Ex.<br />
Layout<br />
Roland Maus<br />
Satz<br />
Rüdiger Grimm, Gabriele Scholtes<br />
Druck<br />
Uehlin Print und Medien GmbH<br />
Hohe-Flum-Strasse 40<br />
DE-79650 Schopfheim<br />
Anschrift<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong><br />
Ruchti-Weg 9, CH-4143 Dornach<br />
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Telefax: +41 61-701 81 04<br />
eMail: zs@khsdornach.org<br />
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Verlag der Konferenz für Heilpädagogik und<br />
Sozialtherapie, Dornach<br />
ISSN 1420-5564<br />
Mediadaten: www.khsdornach.org<br />
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die Zeitschrift Seelenpfl ege<br />
in Heilpädagogik<br />
und Sozialtherapie<br />
zum Preis von CHF 42.00 / Euro 32.00 (Studierende und Senioren 27.00 / 20.00) pro Jahr. Das Abonnement<br />
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Verlag am goetheanum<br />
Heilpädagogik | edition antHropos<br />
AndreAs Fischer<br />
Zur Qualität der BeZiehungsdienstleistung<br />
in institutionen für menschen mit Behinderungen<br />
EinE EmpirischE studiE im ZusammEnhang<br />
mit dEm Qm-VErfahrEn «WEgE Zur Qualität»<br />
heilpädagogik und sozialtherapie gründen in ihrem Kern immer<br />
auf Beziehungen zwischen zwei Menschen. diese Beziehungen<br />
beinhalten die Gefahr der einseitigkeit, denn die Voraussetzungen<br />
der Beteiligten sind unterschiedlich. der eine<br />
benötigt hilfe und Unterstützung in der praktischen Lebensbewältigung,<br />
der andere versucht, ihm diese zu geben. der Autor<br />
untersucht die Frage nach einer adäquaten und dialogischen<br />
Beziehungsgestaltung, die größtmögliche selbstbestimmung<br />
ermöglicht. Bezugspunkt ist dabei das anthroposophisch orientierte<br />
Menschen- und Weltverständnis. es wird aufgezeigt,<br />
dass das Qualitätsmanagementverfahren «Wege zur Qualität»<br />
hilfestellungen bietet, die Beziehungsarbeit zu gestalten.<br />
288 S., Kt., Fr. 43 | € 32 | 978-3-7235-1459-7<br />
Edition Anthropos | In Kooperation mit dem Athena Verlag<br />
PiM BLoMAArd<br />
BeZiehungsgestaltung in der Begleitung<br />
Von menschen mit Behinderungen<br />
aspEktE Zur BErufsEthik dEr hEilpädagogik<br />
und soZialthErapiE<br />
die Beziehungsgestaltung in der heilpädagogik und sozialtherapie<br />
beruht auf Gleichwertigkeit und Anerkennung. Vorbild<br />
und Basis ist das «dialogische Prinzip», das sich auf Martin<br />
Buber und im weiteren auf rudolf steiner, carl rogers und<br />
andere bedeutende denker stützt. Auf seiner Grundlage kann<br />
eine Tugendethik begründet werden, die eine gelingende<br />
Praxis der Arbeit mit und für Menschen mit Behinderungen<br />
ermöglicht. die Verbindung von Menschenbild und Berufsbild<br />
ermöglicht das Verständnis einer persönlichen, an der Begegnung<br />
mit dem anderen Menschen impulsierten entwicklung<br />
aller am dialog Beteiligten.<br />
348 S., Kt., Fr. 46 | € 34 | 978-3-7235-1461-0<br />
Edition Anthropos | In Kooperation mit dem Athena Verlag<br />
JAn chrisToPher GöscheL<br />
der Biografische mythos als pädagogisches leitBild<br />
transdisZiplinärE fördErplanung auf grundlagE<br />
dEr kindErkonfErEnZ in dEr anthroposophischEn<br />
hEilpädagogik<br />
Als Antwort auf den zweckrationalen instrumentalismus einer<br />
positivistischen Behindertenpädagogik entwickelt der Autor<br />
aus den transdisziplinären Anlagen der anthroposophischen<br />
heilpädagogik einen Förderplanungsansatz, der das Leitmotiv<br />
der individuellen Biografie als integrales Prinzip der kindlichen<br />
Lebenswelt erschließt. dieser «biografische Mythos»<br />
wird als Leitbild für ein pädagogisches und therapeutisches<br />
handeln gesetzt, das der integrität der sich entwickelnden<br />
Biografie verpflichtet ist. Unter einbezug von elementen der<br />
Phänomenologie, der hermeneutik, der erzähl- und Bildtheorie<br />
sowie der kontemplativen Geisteswissenschaft schafft<br />
der Autor eine erkenntnistheoretische und methodologische<br />
Grundlage sowie einen Leitfaden zur praktischen Gestaltung<br />
transdisziplinärer Förderplanungsprozesse in heil- und behindertenpädagogischen<br />
Arbeitszusammenhängen.<br />
372 S., Kt., m. Abb., Fr. 49 | € 36 | 978-3-7235-1460-3<br />
Edition Anthropos | In Kooperation mit dem Athena Verlag