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Leseprobe: Moderne Kunst verstehen - Vom Impressionismus ins 21. Jahrhundert

Wer bei 'Orphismus' nur an altgriechische Religion denkt, sollte dieses Überblickswerk der modernen Malerei zur Hand nehmen. Das Buch verrät klar und kompetent, was sich hinter dem Begriff noch verbirgt, und informiert über alle wichtigen Stile und Bewegungen, die weltweit seit dem Impressionismus bis heute entstanden sind. Zugleich stellt es die Hauptvertreter dieser Kunstströmungen mit ihren herausragenden Werken vor: von Robert Delaunay und Max Beckmann über Morris Louis und Marina Abramović bis hin zu Ai Weiwei und Jeff Koons.

Wer bei 'Orphismus' nur an altgriechische Religion denkt, sollte dieses Überblickswerk der modernen Malerei zur Hand nehmen. Das Buch verrät klar und kompetent, was sich hinter dem Begriff noch verbirgt, und informiert über alle wichtigen Stile und Bewegungen, die weltweit seit dem Impressionismus bis heute entstanden sind. Zugleich stellt es die Hauptvertreter dieser Kunstströmungen mit ihren herausragenden Werken vor: von Robert Delaunay und Max Beckmann über Morris Louis und Marina Abramović bis hin zu Ai Weiwei und Jeff Koons.

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104<br />

Prozesskunst<br />

2<br />

Unter diesen Begriff fallen <strong>Kunst</strong>werke,<br />

die die Aufmerksamkeit auf den<br />

Prozess ihrer Entstehung lenken. Ende der<br />

1960er- und in den 1970er-Jahren gab es<br />

<strong>ins</strong>besondere in Amerika einen Trend, experimentelle<br />

Prozesse und das Verhalten un -<br />

gewöhnlicher Materialien zum Gegenstand<br />

künstlerischer Arbeiten zu machen.<br />

1<br />

BARRY FLANAGAN (1941–2009), HANS<br />

HAACKE (*1936), EVA HESSE (1936–70),<br />

ROBERT MORRIS (*1931), RICHARD SERRA (*1939)<br />

3<br />

4<br />

Anti-Form, Schwerkraft, Eigenschaften,<br />

ungewöhnliche Materialien<br />

Mit Ausnahme von Plänen und Skizzen,<br />

die für eine spätere Ausstellung aufbewahrt<br />

wurden, hielt sich bis in die moderne<br />

Zeit die Konvention, die Prozesse, die ein <strong>Kunst</strong> -<br />

werk hervorbrachten, vor den Betrachtern zu<br />

verbergen. Wie Robert Morris, früher ein Vorreiter<br />

des Minimalismus, 1968 in seinem be -<br />

rühmten Aufsatz „Anti-Form“ in der Zeitschrift<br />

Artforum erklärte: „Die wohlgestaltete Form<br />

von Objekten ging allen Überlegungen über<br />

Mittel voraus. Die Materialien selbst wurden<br />

auf diejenigen beschränkt, die effizient die allgemeine<br />

Objektform schaffen.“ Im Fokus stand<br />

das vollendete Werk, und die Materialien und<br />

Prozesse, aus denen es entstand, waren zweitrangig<br />

gegenüber seiner gelungenen Fertigung.<br />

Die Prozesskunst untergrub dieses – so Mor -<br />

ris – „anti-entropische und konservative Unternehmen“,<br />

indem sie die Phänomene des Prozesshaften<br />

und des Materials zum Hauptthema des<br />

Werks machte. Ein Jahr vor seinem Artforum-<br />

Artikel hängte der Künstler dünne Filzstreifen<br />

mit einem Nagel an die Wand und überließ es<br />

dem Material, wie es sich anordnete. Indem er<br />

mit diesem Schritt – der an die Öffnung des<br />

Da daismus für den Zufall erinnerte – seine Verantwortung<br />

für das Arrangement des Materials<br />

aufgab, entstand das <strong>Kunst</strong>werk allein durch die<br />

Schwerkraft und die Eigenschaften des Filzes.<br />

A<br />

Sein Landsmann Richard Serra untersuchte<br />

die Schwerkraft in einer umfangreichen Folge<br />

von Arbeiten, in denen Bleirohre und -platten<br />

gegeneinander und an die Museumswände<br />

gelehnt und so im Gleichgewicht gehalten<br />

wurden. In Splashing (1968) schleuderte Serra<br />

in einem Lagerraum, den ihm sein <strong>Kunst</strong>händler<br />

zur Verfügung gestellt hatte, geschmolzenes<br />

Blei dorthin, wo die Wand auf den Boden<br />

stieß; das Ergebnis hing mehr vom Verfestigungsprozess<br />

des Metalls als vom Kalkül des<br />

Künstlers ab.<br />

Der Trend zur Prozesskunst lässt sich bis zu<br />

Jackson Pollocks abstrakt-expressionistischen<br />

Bildern zurückverfolgen, bei denen der Prozess<br />

des Ausgießens von Farbe das Wichtigste war.<br />

Doch bei Pollocks Gemälden blieb der menschliche<br />

Ausdruck im Fokus. Die „Tropfarbeiten“<br />

des Nachmalerischen Abstrakten Morris Louis<br />

standen der Prozesskunst <strong>ins</strong>ofern näher,<br />

als Louis jede gestische Bewegung vermied;<br />

seine Arbeiten zeugen von der Viskosität der<br />

Farbe und der Absorptionsfähigkeit des Untergrunds.<br />

Nach den damaligen Verfahren der Konzept -<br />

kunst bestand die Rolle des Künstlers oft darin,<br />

die Regeln für die Arbeit vorher festzulegen.<br />

Wenn diese einmal aufgestellt waren und der<br />

Prozess angestoßen worden war, ließen die<br />

Künstler die Materialien „ihre Arbeit tun“,<br />

ohne einzugreifen. Praktiker untersuchten die<br />

Effekte von immer schrägeren Materialien, von<br />

Neon (Keith Sonnier) bis Latex (Lynda Benglis)<br />

und Sand (Barry Flanagan), und experimentierten<br />

mit Prozessen bis hin zur Kondensation<br />

(Hans Haacke) und Zersetzung (Eva Hesse).<br />

Prozesskunst wird oft unter den weiteren<br />

Begriff Post-Minimalismus gefasst. Obwohl sie<br />

die glatten Formen des Minimalismus ab lehnte,<br />

teilte sie das Interesse an den augenscheinlichen<br />

Eigenschaften von Industriematerialien.<br />

Die Bewegung ist auch eng mit der Land Art<br />

verwandt, die natürliche Prozesse <strong>ins</strong> Blickfeld<br />

nahm, und der Arte povera in Italien.

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