F08 Interview Irfan Peci
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INTERVIEW
Was Europa betrifft, sehe ich im
richtigen Dschihadismus mittlerweile
immer weniger Gefahr. Das Prinzip
von kleinen Anschlägen ist natürlich
gefährlich, wenn es eine gewisse
Quantität erreicht, aber momentan
ist das nicht gegeben. Der Bereich, der
konstant wächst und stärker wird, sind
die „Legalisten“. Das sind Islamisten,
die ihre Gesinnung nicht ganz offen
nach außen tragen und gleichzeitig
versuchen, den Staat und alle Gesellschaftsbereiche
zu unterwandern, um
von innen heraus wirken. Diese Gruppe
wird meiner Meinung nach stärker,
und auf sie sollte sich auch vermehrt
der Fokus richten, denn langfristig gesehen
sind solche Islamisten natürlich
gefährlicher, weil sie Schritt für Schritt
vorgehen. Bei einem Anschlag zum
Beispiel reagiert die Gesellschaft insgesamt
entschlossen und entschieden
dagegen. „Legalisten“ jedoch arbeiten
leise, sodass die Gesellschaft es nicht
wahrnimmt.
Aber sie wirken trotzdem und versuchen,
ideologisch eine neue Generation
zu erziehen. Sie sind in den Bildungseinrichtungen,
sie knüpfen Kontakte zu
allen politischen Parteien, versuchen,
Entscheidungsträger in ihrem Sinne zu
beeinflussen, gehen gegen Gesetze vor.
Es gab jetzt zum Beispiel das Kopftuchverbot
für Minderjährige und in
Schulen. „Legalisten“ sind klar dagegen,
sie wollen das durchsetzen: Sie
kämpfen also für das Recht, Minderjährige
verhüllen zu dürfen. Das sind
in Europa die Gefährlicheren, langfristig
gesehen. Auch interessant und
ein Unterschied zu früher: Da haben
sich Legalisten, also Leute, die man der
Muslimbruderschaft zurechnet, und
Salafisten überhaupt nicht gemocht,
sich sogar gegenseitig bekämpft. Jetzt
sieht der Beobachter, dass sie teilweise
zusammenarbeiten. Warum sollen wir
uns gegenseitig zerfleischen, haben sie
erkannt, lasst uns gemeinsam marschieren.
Leute der Muslimbruderschaft
schauen sich Sachen bei den Salafisten
ab, etwa was die Missionierung betrifft.
Und Salafisten lernen, zum Beispiel
was Methoden der Unterwanderung
betrifft, von den Muslimbrüdern. Hier
findet eine Kooperation statt, das ist
mir gerade hier in Österreich aufgefallen,
betreffend die Muslime vom
Balkan. Vor allem bei den bosnischen
Organisationen haben sich früher Salafisten
und die legalistischen Islamisten
bekämpft; beide hatten ihre eigenen
Moscheen. Inzwischen arbeiten alle
zusammen und sind eine Einheit. Das
finde ich auch beunruhigend, wenn die
sich zusammentun.
International ist es für die dschihadistischen
Bewegungen schwieriger
geworden. Man erkennt natürlich, dass
sich der „IS“ in Afrika immer mehr
breitmacht, aber die Dschihadisten sind
schon sehr geschwächt, vor allem in
Syrien. Idlib ist ihre letzte Hochburg,
Assad kontrolliert eigentlich das ganze
Land. Der „IS“-Staat wurde komplett
zerschlagen, er ist allerdings nicht ganz
tot, führt hie und da Anschläge aus.
Aber trotzdem ist das eine Riesenniederlage,
weil die IS-Dschihadisten
ja gesagt haben: Wir sind jetzt in der
Endzeit, hier und jetzt findet die letzte
Schlacht statt. Alle Prophezeiungen
sind erfüllt, jetzt kommt unser Endsieg.
Und was ist stattdessen gekommen?
Kalif al-Baghdadi wurde von den Amerikanern
getötet, dazu noch – symbo-
ISLAM UND ISLAMISMUS
Der Islam ist eine Weltreligion mit rund 1,8
Milliarden Gläubigen. „Islamismus“ dagegen
bezeichnet eine Form des politischen
Extremismus.
Unter Berufung auf den Islam zielt der
Islamismus auf die teilweise oder vollständige
Abschaffung der freiheitlichen
demokratischen Grundordnung ab.
Der Islamismus basiert auf der Überzeugung,
dass der Islam nicht nur eine persönliche,
private Angelegenheit sei, sondern auch das
gesellschaftliche Leben und die politische
Ordnung bestimme oder zumindest teilweise
regele. Der Islamismus postuliert die Existenz
einer gottgewollten und daher „wahren“
und absoluten Ordnung, die über den von
Menschen gemachten Ordnungen stehe.
Ein wesentliches ideologisches Element des
Islamismus ist der Antisemitismus.
SALAFISMUS
Der Salafismus ist eine fundamentalistische
islamistische Ideologie und zugleich eine
extremistische moderne Gegenkultur mit
einem alternativen Lebensstil und markanten
Alleinstellungsmerkmalen (Kleidung und
Sprache). Der Salafismus will eine eingeschworene
Gemeinschaft mit intensivem
Zusammengehörigkeitsgefühl erzeugen.
Salafisten sehen sich als Verfechter eines
ursprünglichen, unverfälschten Islam,
ausgerichtet auf die rechtschaffenen Altvorderen
(arab. al-Salaf al-Salih). Salafisten
gibt es als friedliche Fundamentalisten, der
Weg zum militanten Dschihadismus ist aber
kurz.
DSCHIHADISMUS
Dschihadistische Gruppierungen, wie zum
Beispiel der „Islamische Staat“ (IS) und
„al-Qaida“, sehen in ihrem Kampf für einen
Gottesstaat in terroristischer Gewalt ein
unverzichtbares Mittel gegen Ungläubige
(ferner Feind) und korrupte Regime (naher
Feind). Ihre terroristische Agenda ist global
ausgerichtet und bedroht auf internationaler
Ebene alle Staaten.
Dschihad bedeutet „Anstrengung“, „Kampf“,
„Bemühung“ oder „Einsatz“. Unter Dschihad
wird allgemein eine Anstrengung „auf
dem Weg Gottes“ verstanden, womit alle
Bemühungen gemeint sind, die diesem Ziel
dienen. Dschihadisten sehen Gewalt als
legitimes Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele
an und halten den Heiligen Krieg für eine
individuelle Pflicht.
N° /08/ APRIL 2020 17