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Wild & Wissen
Sommerhirsche
Mit Heisshunger
äsen die Hirsche das
Frühlingsgras.
Fast fertig
geschoben
Kalb im Juli
Äsung im
Überfluss
Das Wiedererwachen der Natur
Am Ende des Winters sind die Feisteinlagerungen restlos
verbrannt, und gerade jetzt benötigen Hirsche viel
Energie, um den anfangs zögerlichen, dann aber in Fahrt
kommenden Aufbau des neuen Geweihs, die Regeneration
der atrophierten Muskulatur der Gliedmassen und
den Haarwechsel zu verkraften. Die winterlichen Anpassungen
des Verdauungsapparates an das verknappte
Nahrungsangebot werden rückgängig gemacht und der
Stoffwechsel gesteigert. Dank der jetzt überall im Überfluss
wachsenden, sehr gehaltvollen, zarten Grünäsung
kann der Organismus an allen Baustellen Wachstum
und Regeneration ankurbeln. Insbesondere für den jetzt
täglich bis zu 2 cm erreichenden Schub der Geweihkolben
bedarf es grosser Mengen an organischen und anorganischen
Bestandteilen, vornehmlich Eiweissen und
Kalzium- und Phosphorverbindungen, die in den jungen
Grünpflanzen in unterschiedlichem Mass vorhanden
sind. Alttiere tradieren ihr akkumuliertes Wissen an ihre
Jungen, wo und wann in gewissen Pflanzen die benötigten
Nährstoffe am reichlichsten enthalten sind. Unter
dem Sternenhimmel versammeln sich die Ausgehungerten
auf den gedüngten Talwiesen, bis die Bauern
dem Segen mit Gülle ein Ende bereiten. Tagsüber tritt
das Wild auf Blössen, Lichtungen, Waldwiesen und Lawinenzügen
aus, wohl wissend, dass es in diesen Wochen
wenig gestört wird. Im Gebirge ist das Wiedererwachen
der Natur gestaffelt und rückt allmählich in die
Höhe. Daher dauert der Frühling länger als im Unterland,
und das Schalenwild kann der Schneelinie folgen
und kommt so länger in den Genuss energiereicher
Nahrung. Die starke vertikale und horizontale Gliederung
und der wechselnde Bewuchs des alpinen Rotwildgebiets
offerieren viele schattige Stellen. Es geht fast
immer irgendwo ein Lüftchen, und an schönen Tagen
bläst der Wind im besonnten Gelände aufwärts, in Rinnen,
Gräben, Lawinenzügen und Bachtobeln zieht die
Luft wegen des Temperaturunterschieds abwärts. Bei
Sonnenuntergang setzt der Talwind ein. An den wenig
besonnten Standorten verzögert sich das Wachstum der
Äsungspflanzen und ist auch im Sommer noch frisch. In
trockenen Sommern sinkt der Nährwert in den Grünpflanzen
rasch, und das Gras verholzt. Spät gesetzte Kälber
müssen mit weniger Muttermilch auskommen und
gehen untergewichtig in den Winter. Vielleicht wird sich
der Fortpflanzungszyklus den veränderten klimatischen
Bedingungen anpassen und die Brunft vorverschieben.
Dazu müsste die innere Uhr anders programmiert werden,
die auf die sich ändernden Tag- und Nachtlängen
reagiert und die physiologischen Vorgänge steuert, unter
anderem den Geweihzyklus und die Fortpflanzung.
Das Kahlwild ist ebenfalls auf gehaltvolle Äsung erpicht.
Im Leib der beschlagenen Tiere reift die nächste
Generation heran, und im Mai/Juni ziehen sich die
hochträchtigen Kühe zurück, um im Verborgenen die
getupften Kälber zu setzen. Diese werden abgelegt und
zum Säugen aufgesucht. Die Mütter entfernen sich
nicht weit zum Äsen und sind bei drohender Gefahr
rasch zur Stelle. Nach ein bis zwei Wochen stossen sie
samt Anhang wieder zum Rudel. Ein wesentlicher Faktor
für das Gedeihen der Kälber ist die Milchproduktion
der Mutter. Eine langanhaltende Trockenheit im
Frühsommer kann die Milchleistung so beeinträchtigen,
dass das Überleben des Nachwuchses auf der Kippe
steht.
Bedürfnis nach Sicherheit und Ruhe
Stand nach dem Ende der kalten Jahreszeit bei den Hirschen
das Besänftigen des nagenden Hungers und das
Wiederherstellen einer guten körperlichen Verfassung
im Vordergrund, rückt mit dem Nahen des Hochsommers
wieder das Bedürfnis nach Sicherheit und Ruhe
an die erste Stelle. Der Rohbau des Geweihs ist bei den
reifen Hirschen abgeschlossen, jetzt kommt noch die
Feinarbeit, will heissen, der Umbau von Knorpel in Knochen
sowie die Mineralisierung und Härtung der Stangen-Ummantelung
und der Spitzen. Die nährende Basthaut
trocknet ein und wird durch Fegen an Ästen und
biegsamen Stämmchen, manchmal auch am Boden
entfernt. Erst jetzt ist der Hirsch wieder für einen Waffengang
gerüstet, doch steht ihm der Sinn noch nicht
nach Kampf und Minne, vielmehr nach beschaulicher,
ausgedehnter Siesta irgendwo im Schatten oder auf einem
windumspülten Kamm. An solche Örtlichkeiten,
aber auch auf Firnfelder, hatten sich schon die Kolbenhirsche
zurückgezogen, um den peinigenden, Blut saugenden
Insekten etwas zu entgehen. Auf dem Alt-
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