Harald Braem - Wälder meiner Kindheit (Blick ins Buch)
„Waldbaden“ vor 75 Jahren: Ein Flüchtlingsjunge wächst, zusammen mit einem Wolfshund und den Großeltern, unter ärmlichsten Bedingungen im Westerwald auf. Truda hat das „zweite Gesicht“, gilt als Hexe und Heilfrau. Der alte Mudri ist Freigeist, Ingenieur und Erfinder und träumt von einer besseren Welt. Unter diesen Bedingungen lernt der Junge die „Waldschule“ kennen.
„Waldbaden“ vor 75 Jahren: Ein Flüchtlingsjunge wächst, zusammen mit einem Wolfshund und den Großeltern, unter ärmlichsten Bedingungen im Westerwald auf.
Truda hat das „zweite Gesicht“, gilt als Hexe und Heilfrau.
Der alte Mudri ist Freigeist, Ingenieur und Erfinder und träumt von einer besseren Welt.
Unter diesen Bedingungen lernt der Junge die „Waldschule“ kennen.
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[Blick ins Buch]
Die Wälder meiner Kindheit
Harald Braem
Erzählung
Die Handlung und alle Personen des Textes sind frei
erfunden.
Alle möglichen Ähnlichkeiten mit tatsächlichen
Vorgängen oder Ereignissen bzw. mit lebenden oder
gestorbenen Personen sind rein zufällig.
»Rasch, greif das Glück und wünsch
dir was. Aber nicht zu viel, denn
Sterne sind schnell und vergesslich.«
(einer von Mudris Ratschlägen, die sich tief
in mein Gedächtnis eingeprägt haben)
»Ich der Wolf und du das Schaf.«
(einer von Trudas Zaubersprüchen)
Der Autor
Harald Braem, geboren 1944 in Berlin, war
Professor für Kommunikation und Design an der
Fachhochschule Wiesbaden und lebt heute in
Nierstein am Rhein und auf der Kanareninsel La
Palma. Jüngste Veröffentlichung: ›Die
abenteuerlichen Reisen des Juan G.‹ im Elvea Verlag
2020.
Weitere Informationen: www.haraldbraem.de
Das Buch
Manchmal duften die Pilze im Moos bis in meine
Träume hinein. Dann höre ich wieder die Stimmen
der Ahnen, meine Großeltern, ganz leise das Flüstern
der Geister.
Sie schlafen in der Speisekammer, die sie geschickt
mit Kissen, Decken und einem Teppich zur
Kemenate umgestaltet haben. Sie können die dünnen
Holzlattentüren von innen schließen wie Läden an
einem Haus. Das gibt Schutz und Wärme, besonders
im Winter. Aber nach dem Zubettgehen bleiben sie
stets noch einen Spalt weit offen. Dann beginnt für
mich die magische Nacht.
Ich höre den alten Mudri mit seinem sonoren Bass,
der brummen kann wie ein Bär, der schmachtende
Lieder der Donkosaken singt, der gern aus dem
Stegreif dramatisch klingende Ansprachen hält, die
meist dazu führen, dass die Anwesenden, zumal
wenn Wodka im Spiel ist, gerührt in Tränen
ausbrechen und ihre Gläser über die Schulter an die
Wand werfen und ein klirrendes Chaos anrichten.
Derselbe Mudri, der aber auch tagelang schweigen
kann, besonders bei der Arbeit in den Wäldern.
Und ich höre Truda, die Ahnfrau, die mit ihrem
Mund alle Geräusche der Welt nachahmen kann: den
Wind, die Stimmen der Tiere, alle Lieder, die sie
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irgendwann und irgendwo einmal aufgeschnappt hat
(»Bei mir biste scheen für eine Mark und zehn, für
eine Mark und acht die janze Nacht«). Truda, die die
Gabe (oder den Fluch) des Zweiten Gesichts besitzt
und manchmal in einer Sprache spricht, die außer ihr
niemand versteht.
Ich höre, wie sie in der Speisekammer rumoren
und halblaut miteinander reden, mitunter flüstern sie
oder kichern. Ich versuche einzelne Worte
aufzuschnappen, dem Sinn ihrer Unterhaltung zu
folgen. Es gelingt mir nicht, so sehr ich auch
angestrengt lausche. Zu undeutlich und verworren
bleiben die Stimmen. Und wenn ich etwas zu
verstehen glaube, das in mir Bilder erzeugt, wenn die
Unterredung intensiver wird und an Lautstärke
zunimmt, wenn Truda ein »Pscht« macht, das wie
ein ferner Peitschenknall klingt und ich schlagartig
begreife, dass dieses »Pscht« mir gilt, weil sie wohl
ahnt, dass ich noch wach bin auf dem Strohlager
neben dem Ofen, dann reden sie plötzlich nur noch
in der ›Blumensprache‹ miteinander, das heißt mit
bestimmten Worten und Andeutungen, die
wahrscheinlich für ganz andere Dinge stehen, oder
auf Russisch weiter, bis ich einschlafe.
Diese magischen Nächte, durch die mich die
Stimmen der Ahnen aus der Speisekammer tragen,
sind ungemein aufregend, aber nicht immer schön.
Mitunter schnappe ich Einzelheiten auf, gruselige
Details, die mit Sicherheit nicht für meine Ohren
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estimmt sind. Ich höre hemmungsloses Schluchzen
und Jammern von Truda, erlebe eine Trübsal, die
selbst Mudris beruhigend klingender Bass nicht
eindämmen kann. Aus Bruchteilen von Worten,
Sätzen, Reden und Gegenreden, verschwommen aus
dem Nebel auftauchenden Bildern versuche ich das
eben Erlauschte sinnvoll zusammenzufügen.
Manches davon erschreckt mich und ich schiebe die
schlimmen Bilder rasch beiseite, doch das klamme
Bauchgefühl bleibt haften. Wieder murmeln die
Ahnen, es ähnelt einem monotonen Gesang oder dem
Sprudeln von Wasser über runde Steine im Bachlauf.
Dieses Geräusch lässt mich ruhiger werden, ich
dämmere ein und schwebe schwerelos durch
Träume, in denen sich Personen bewegen, die mir
fremd, aber seltsam vertraut sind. Wer sind diese
Geister, was haben sie mit mir zu schaffen, was
wollen sie mir sagen?
Ich höre sie unentwegt flüstern, auf Deutsch und
auf Russisch und in anderen, unbekannten Sprachen.
Ihr Wispern gilt der Steppe, der Taiga, dem großen
Strom. Sie sind mit dem Wind unterwegs, Nomaden
der Nacht, auf der Suche nach Heimat, und tragen
ihre Erinnerungen mit sich wie kostbarste Schätze,
Geheimnisse, die sie hüten müssen und nur an
wenige weitergeben dürfen. Warum ausgerechnet an
mich?
Sie flüstern sehr leise, sie fordern meine Ohren
heraus. Es ist ein Spiel, das weiß ich. Und ich lasse
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mich darauf ein. Sie sind die Rufer, ich bin der
Fänger. Ich werde Nacht für Nacht besser.
Wenn ich die Augen fest schließe und zum
hingebungsvollen Zuhörer werde, zum
Gesamtkörper Ohr und nur noch wartende
Hörmuschel bin, wenn ich ruhig und gleichmäßig
atme, wie Truda es mir beigebracht hat, und mich
bemühe, an nichts zu denken, mich von nichts
ablenken zu lassen, entsteht in meinem Kopf die
innere Welt mit ihren fantastischen Bildern. Ein
Garten, in dem man sich verirren kann …
Ich habe seltsame Träume. Ich reite auf einem
kleinen, stämmigen Pferd und wundere mich, wie
leicht es mir fällt. In Wirklichkeit habe ich das noch
nie gemacht, die Tiere sind mir einfach zu groß.
Aber im Traum spielt das alles keine Rolle. Ich sitze
fest im Sattel und reite mit Männern, mit vielen
Männern, in einem Heer aus ledergepanzerten,
behelmten Reitern nach Westen. Das war schon
immer so, das haben wir seit Jahrhunderten so
gemacht. Wie ein Sturmwind galoppieren wir mit
donnernden Hufen über die Steppe. Dieser Traum
wiederholt sich lange Nacht für Nacht …
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Aber es gibt auch Nächte, in denen ich jedes Wort
ihrer Unterhaltung deutlich mithören kann. Am
besten ist, wenn Großvater von seiner masurischen
Heimat erzählt, jenem fernen Land, das wohl, glaubt
man dem alten Mudri, und ich zweifele nie an seinen
Worten, nur aus endlosen Wäldern besteht, in denen
es von Elchen, Bären und Wölfen nur so wimmelt.
Truda stammt von der baltischen Ostseeküste, was
ihr aber nicht anzumerken ist, denn sie benutzt selten
die breite ostische Mundart, höchstens wenn sie
etwas betonen will oder wenn sie sich ärgert oder
aufgeregt ist. Von der alten »Haimat« zu berichten,
das sei nicht ihre Sache, wehrt sie ab. Da solle ich
doch lieber Mudri fragen, der könne sowieso viel
besser erzählen als sie und sich Dinge merken, die
sie längst vergessen habe.
An der Kurischen Nehrung hatten sie sich
kennengelernt, und sie war ihm gefolgt, wohin auch
immer die Wirren der Zeit sie führten. Truda und
Mudri lieben sich. Diese Liebe überstand alles,
Hunger, Not und Vertreibung, den Tod des einzigen
Kindes, Ihres Sohnes, meines leiblichen Vaters, der
im letzten Jahr des Krieges an der Ostfront fiel. Sie
überstanden auch den Schmerz über den Verlust
ihrer einst so herzlich in die Familie aufgenommenen
Schwiegertochter Charlotte, meiner Mutter, die bei
der Flucht auf einem Bahnhof spurlos verschwand
und seitdem nicht mehr gesehen wurde. Andere
Verwandte leben nicht mehr oder sind wie Charlotte
verschollen.
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Truda und Mudri haben sich meiner angenommen.
Wir wohnen in einem winzigen Haus, eigentlich
mehr eine notdürftig eingerichtete Hütte, dicht am
Waldrand und ein gutes Stück weit vom Dorf
entfernt. Ein Mann von dort, dem mein Großvater
gelegentlich aushilft, hat uns die Unterkunft
überlassen. Vorübergehend nur, wie er betont. Viel
Kontakt zu den anderen Menschen im Dorf gibt es
nicht. Wir sind die Fremden, die Flüchtlinge, und
wer will hier im Westerwald mit solchen Leuten
unklarer Herkunft schon näher zu tun haben?
»Ich bin kein Deutscher, ich bin Masur«, pflegt
Großvater mitunter unvermittelt in solchen Nächten
zu äußern, und seine Stimme klingt traurig und
trotzig dabei.
»Pscht«, zischt Truda dann, weil sie weiß, dass,
wenn er in dieser Stimmung weitermacht, nichts
Erfreuliches dabei herauskommt. »Nu, bist du wohl
stille jetzt. Wenn dich die Laite hören!«
Ich schrecke jedesmal zusammen, wenn sie so
spricht. Was meint sie? Wir hausen doch ganz allein,
das Dorf liegt weit weg. Oder sollte sich jemand
angeschlichen haben, um uns heimlich zu
belauschen? Mit ans Holz gepresstem Ohr vor
unserer Haustür hocken?
»Doch, ich bin Masur«, wiederholt Großvater
halsstarrig. »Wer dort geboren ist und einmal die
Luft eingeatmet hat, der bleibt es für immer.«
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»Nein, du bist Daitscher, Reichsdaitscher, begreif
es endlich, so is es nu ma«, sagt meine Großmutter,
»und nu sei endlich stille und lass uns schlafen.«
Und da der alte Mudri am Abend ein paar Gläser
vom selbstgebrannten Kartoffelschnaps getrunken
hat, schläft er auch tatsächlich bald ein. Sein
Schnarchen dröhnt aus der Speisekammer und tönt
lauter als der Motor, der im Sägewerk ratternd läuft,
wo ich ihn einmal besucht habe, um ihm das
Mittagessen im Blecheimer zu bringen.
Ein anderes Mal fragt er: »Weißt du noch, wie wir
am Strand Bernstein gesammelt haben?«
»O ja, natürlich«, antwortet Truda. »Das war ein
wunderbarer Sommer damals, mein Lieber! Ich habe
ständig gebetet, er möge nie zu Ende gehen, so schön
war es damals. Besonders in den Dünen.«
Was sie mit der letzten Bemerkung meint, begreife
ich nicht recht. Ich hoffe nur, sie wird nicht weinen,
denn meine Großmutter neigt mitunter zu Wehmut
und Weltschmerz und hat dann dicht am Wasser
gebaut. Es ist furchtbar, sie in einem solchen Zustand
zu erleben, denn eigentlich ist sie ja ein durchaus
lebensfroher Mensch. Sie kann gurrend wie ein
Täubchen lachen, und mitunter trällert sie am
helllichten Tag frivole Lieder mit zweideutigem
Inhalt. Ich verstehe das meiste davon nicht richtig,
finde es aber schön, dass sie gute Laune hat.
»Alles hat ein Ende«, pflegt der alte Mudri dann
zu sagen, um das Gespräch in eine andere Richtung
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zu lenken, »nur die Leberwurst hat zwei.« Oder:
»Alles, alles ist vergänglich, nur der Kuhschwanz,
der bleibt länglich.«
Dann lacht sie wieder, und er setzt, um die
Wirkung zu verstärken, noch eins drauf, indem er
anfängt, eine Reihe von witzigen Begebenheiten zu
erzählen, die sie allesamt zum Prusten bringen.
»Da gab es doch die Beerdigung vom
Schnipkoweit, dem ollen Lorbas.« Es war Winter
und der Weg zum Friedhof hart gefroren und völlig
vereist. Sehr schwierig zu begehen bei dem Wetter,
besonders für die alten Leute. Weil es bitterkalt war,
wurde unterwegs reichlich Wodka getrunken, um
sich an diesem traurigen Tag wenigstens von innen
etwas aufzuwärmen. Das letzte Stück an den Gräbern
vorbei zur Friedhofskapelle war fürchterlich glatt, sie
kamen äußerst langsam und schwankend voran. »Da
kam jemand, ich weiß nicht mehr, wer es war, auf
die glorreiche Idee, die Urne zu öffnen und
Schnipkoweits Asche als Streugut zu nutzen.« Als
das Grüppchen schließlich beim Pfarrer ankam, war
die Urne leer. Schnipkoweit hatte, obgleich ihn im
Leben keiner so recht mochte, weil er ein
unausstehlicher Knickeböcker und Streithammel
war, zuletzt der Gemeinschaft doch noch einen
nützlichen Dienst erwiesen.
»Ja, so war das. Alle haben dichtgehalten und dem
Herrn Pfarrer nichts verraten. Wir haben dann das
Gefäß ohne Schnipkoweit beigesetzt. War harte
Arbeit bei dem gefrorenen Boden.«
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»Und niemand hat etwas verraten?«
»Nein, niemand. Aber später, im nächsten
Sommer, und auch noch Jahre danach nannten die
Leute diesen Weg nur noch Schnipkoweits Pfad.
Alle wussten davon, aber keiner sprach darüber mit
dem Pfarrer. Der Mann war streng in seinen
Ansichten und in der Bevölkerung nicht so beliebt,
wie er es gern gehabt hätte. Waren ja allesamt noch
halbe Heiden, man nahm es mit der Religion nicht so
genau.«
Und er fügt, spielerisch in den alten Dialekt
fallend, die Stimmen aus dem Gedächtnis hinzu:
»Laite, Laite, seid doch stille, dass euch nicht der
Pastor heert, ja was is mit meiner Brille? Is ja janz
mit Schmand beschmeert …«
»Wenn ich einmal tot bin, möchte ich, dass meine
Asche in der Ostsee verstreut wird«, sagt
Großmutter.
Und der alte Mudri weicht rasch, um sie
abzulenken und auf andere Gedanken zu bringen, auf
eine weitere schalkhafte Episode aus, die Geschichte
vom Dorftrottel Igor, der sich einmal eine lange
Holzleiter auslieh, sie aber nicht mehr zurück in die
Scheune bringen konnte, weil er stundenlang
vergeblich versuchte, das sperrige Ding quer anstatt
längs durch das Tor zu bringen. Großvater erzählt
die Sache stets anders, so dass es jedes Mal
spannend für mich wird, ihm zuzuhören. Vielleicht
ist das auch nie passiert, vielleicht hat er die
Begebenheit nur erfunden. Aber es macht ihm
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großen Spaß, sie immer wieder mit neuen
Ausschmückungen zu erzählen. Ich liebe seine
skurrilen, bildhaften Sätze.
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Truda und Mudri sitzen in Gedanken in Elbing an
der Promenade und essen Sprotten. »Kuck, ich kann
die Jräten mitessen, so zart sind die.« Und nachher
gibt es geräucherten Aal, den Truda aber nicht
vertragen kann, weil er ihr viel zu fett ist. Sie mag
lieber Seezunge oder Makrele, am meisten aber
Scholle nach Finkenwerder Art mit angebratenen
Speckkrümeln und viel Petersilie. Sie stöhnt
genüsslich, weil sie just daran denkt. »Und der
Weißwein«, sagt sie, »das reinste Vergnügen, so süß
wie der war. Hätte man im Keller bunkern sollen.«
»Hätte hätte Fahrradkette«, brummt Mudri. »Und
was hätt uns der Keller noch genützt, wo das ganze
Haus kaputt war? Nee, nee, da hätt uns der Wein
auch nicht mehr viel geholfen.«
»Warum denn nicht? Immer nobel geht die Welt
zugrunde«, widerspricht Truda, »hätten wir’s
wenigstens im Suff ertragen, den ganzen
Schlamassel.«
»Quatsch«, sagt Mudri, der immer noch an Aal
und Sprotten denkt und ohnehin lieber Bier trinkt
und gelegentlich Wodka. »Wir haben’s doch
ertragen. Und so isses nu ma im Leben: Man kann
nich alles kriegen, was man sich wünscht. Das ist
wie bei der Sache mit dem Gänsebraten …« Und er
fügt, sehr zum Vergnügen von Truda, mit verstellter
Stimme hinzu: »Gänsebraten ist ein feiner Braten.
Ich hab noch keinen gegessen, aber meines Vaters
Bruders Sohn, der kannte einen, der hat mal neben
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einem gesessen, und der sah einen Gänsebraten essen
…«
Truda prustet vor Lachen und wiehert wie ein
Pferd. »Den Abromeit«, ruft sie, »mach mir den
Abromeit!«
»Da kallerten ihm die Arpsen vons Mässär runter
und die Jabel half auch nicht ville … da war der
Lorbas janz von oben bis unten beklackert …«, sagt
Großvater mit fremder Stimme und muss selbst
lachen.
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Unsere Hütte mit Tür und zwei Fenstern ist winzig
klein nur, aber immerhin mit einem wärmenden Ofen
ausgestattet, der auch zum Kochen dient. Er wird mit
gesammeltem Bruchholz gefüttert und darf nie
ausgehen, vor allem im eisigen Winter. Ich sehe
Großvater vor der Ofenluke knien, trockenes Reisig
in die fast schon erloschene Restglut nachlegen und
die Flamme anblasen. Die Asche tragen wir in einem
Blecheimer in den Schuppen und sammeln sie in
einer alten, zerbeulten Tonne, sie dient als Kompost
für Trudas Gemüsebeete und als Streugut im Winter.
Jedes Mal wenn die Reihe an mir ist, (Mudri und ich
wechseln uns in einem genau festgelegten Rhythmus
bei den verschiedensten Arbeiten ab), wenn ich also
mit dem Blecheimer Asche aus der Sammeltonne
hole und den weißgrauen Flugstaub über das Eis
verteile, muss ich dabei an Schnipkoweit denken.
Wenn der wüsste, dass man selbst im fernen
Westerwald nach so langer Zeit noch an ihn denkt,
würden ihm die Ohren klingeln…
Wir schöpfen das Trinkwasser aus dem
nahegelegenen Bach und kochen es auf dem Ofen
ab, obgleich es sauber und genießbar scheint.
»Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste«, meint
Mudri, der weiß, wovon er spricht. Er hat auf dem
langen Treck unterwegs schlimme Dinge erlebt und
besteht darauf, ohne die geheimen Wirkkräfte der
Blutwurz, die Truda für den Fall eines Falles
beschwörend ins Spiel bringt, anzweifeln zu wollen.
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Größere Mengen an Bachwasser, die es dann in
Eimern zu schleppen gilt, werden zu Trudas
Waschtagen benötigt. Der große Kochbottich steht
bereits im Hof auf dem Feuer. Später wird sie
während der ausgedehnten Prozedur mit Inbrunst die
nassen, dampfenden Stoffe über das Waschbrett
schleifen, drücken, würgen und wringen, bevor sie,
noch triefend, mit Holzklammern an der Leine
aufgehängt werden. Außer bei Regen und Sturm
spielt das Wetter meistens mit, denn hier weht
ständig ein frisches Lüftchen und lässt die Wäsche
rasch trockenflattern.
»Du kannst dich ruhig mal wieder waschen und
saubere Kleider anziehen, du stinkst schon wie ein
Schmeerfink!«, ruft Truda und spritzt eine Handvoll
Seifenlauge in meine Richtung. Ich springe mit
einem empörten Aufschrei beiseite. Stimmt, ich trage
Tag für Tag dieselben Klamotten: eine kurze
Lederhose mit Gürtel, Sandalen und ein schmutziges
Hemd, das ich über dem Bauch zusammenknote im
Sommer. Im Winter besteht die Kluft aus langen
Wollstrumpfhosen unter der gefütterten Hose,
richtigen Stiefeln, die man innen mit Moos
auspolstern kann, dazu Pullover, Windjacke, Schal
und Fellmütze.
»Und du wie ein Geißbock!«, wendet sie sich zu
Mudri um und spritzt ihn neckisch nass. »Dich
braucht man nicht zu heeren, dich riecht man schon
von weitem. Los nu, runter zum Bach, heute is
Waschtag, das gilt für alle.«
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Autor: Harald Braem
Titelbilder: Katja Piolka
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Layout: Uwe Köhl
Projektleitung
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