Wertemanagement und diakonische Ethik - Evangelisches ...

Diakonie
Evangelisches Diakoniewerk
Gallneukirchen
Wertemanagement und diakonische Ethik
Fachbeiträge aus dem Diakoniewerk
Nr. 5/2004
Vortrag von Univ.-Prof. Dr. Ulrich H.J. Körtner, Vorstand des Instituts für Systematische Theologie an der
Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, anlässlich der Jahrestagung des Diakoniewerkes
vom 18. bis 19. Oktober in Bad Hofgastein.
Moralische Werte stehen in ethischen
und politischen Diskursen hoch im
Kurs. Auch die Kirchen, Diakonie und
Caritas werden gern als Agenturen der
Wertevermittlung verstanden. „Werte“,
so warnt freilich der Philosoph
Krysztof Michalski, „verbinden nicht,
Werte trennen.“ Die heute vordringlichste
Aufgabe der Ethik besteht nach
Ansicht des Soziologen Niklas Luhmann
(1927–1998) darin, vor zu viel
Moral – und das heißt eben auch vor
einer bestimmten Rhetorik der Werte
– zu warnen. Das gilt in besonderem
Maße für eine evangelisch-theologische
Ethik, die sich an der reformatorischen
Unterscheidung zwischen Gesetz
und Evangelium orientiert.
Kirche und Diakonie sollten daher die
ihnen zugeschriebene oder von ihnen
selbst beanspruchte Rolle als Instanzen
der Wertevermittlung kritisch
überdenken – und zwar im Licht des
biblisch bezeugten Evangeliums.
Die Zweideutigkeit moralischer
Werte
Eine wertethische Konzeption diakonischer
Ethik sieht sich nämlich mit
denselben Schwierigkeiten wie die
materiale Wertethik konfrontiert,
deren Ideen vor allem mit den Namen
Max Schelers (1874–1982) und Nikolai
Hartmanns (1882–1950) verbunden
sind. „Wert“ ist nämlich zunächst
ein Begriff der Ökonomie. Der Wert
einer Sache bestimmt ihren Preis, der
am Markt zu erzielen ist. „Wertschöpfung
durch Qualitätsmanagement“
und Fragen der Ökonomie spielen
heute auch in Diakonie und Diakoniewissenschaft
eine ganz zentrale Rolle.
Modernes Management in diakonischen
Unternehmen wird durch eine
entsprechende „Management-Theologie“
(Alfred Jäger) unterstützt.
Dr. Ulrich Körtner bei seinem Vortrag.
Bereits Friedrich Nietzsche (1844–
1900) hat freilich darauf hingewiesen,
dass alle Werte, auch solche der Moral,
gesetzt werden und konvertierbar
sind. Sie sind eine Sache der persönlichen
Wahl oder auch der gesellschaftlichen
Konvention. Die Idee einer vermeintlich
objektiven Hierarchie moralischer
Werte kann nicht über den
faktisch vorhandenen beständigen
Wertekonflikt in der modernen pluralistischen
Gesellschaft hinwegtäuschen.
So entpuppt sich selbst noch
die Idee eines metaphysischen Wertekosmos
als eine bloße Setzung.
Nun sollte die philosophische oder die
theologische Kritik am Wertbegriff
nicht übersehen, welche gewichtige
Rolle er im modernen Verfassungsrecht
spielt. In der deutschen Rechtsdogmatik
und in der Judikatur zu den
z. B. durch das österreichische Staatsgrundgesetz
garantierten Grundrechten
nimmt der Begriff der Grundwerte
eine zentrale Stellung ein. Schon deshalb
wäre es töricht, einseitig gegen
den Wertbegriff zu polemisieren und
dabei seine historische Bedeutung
außer acht zu lassen, die er nicht zuletzt
vor dem düsteren Hintergrund
der nationalsozialistischen Barbarei
gewonnen hat.
Freilich sind auch „Grundwerte“ wie
Menschenwürde und Menschenrechte
das Ergebnis historischer Prozesse
und beruhen auf einem gesellschaftlich-politischen
Konsens. Ihre konkrete
Ausdeutung führt immer wieder
in einen Konflikt der Interpretationen,
wie z.B. die bioethischen Auseinandersetzungen
um den ontologischen
und moralischen Status von Embryonen
und die ethische Zulässigkeit der
Forschung an embryonalen Stammzellen
oder der Präimplantationsdiagnostik
zeigen.
Daran vermag auch die Berufung auf
Immanuel Kant (1724–1804) nichts
zu ändern, der in seiner „Grundlegung
zur Metaphysik der Sitten“ zwischen
der Würde des Menschen als einem
unendlichen Wert, der sich jeder
ökonomischen Tauschlogik widersetze
und allen sonstigen möglichen
Werten unterschieden hat. Denn der
Verweis auf die von Kant behauptete
Selbstzwecklichkeit des Menschen,
welche nach biblischem Zeugnis in
der Gottebenbildlichkeit des Menschen
gründet, bietet z. B. keine hinreichende
Antwort auf die strittige
Frage, wann das menschliche Leben
beginnt bzw. ab wann menschliches
Leben das Leben eines neuen Menschen
ist. Selbst innerhalb von Theologie
und Kirche werden in bioethischen
Fragen unbeschadet der Berufung
auf ein gemeinsames christliches
Menschenbild unterschiedliche Positionen
vertreten.
Dass es überhaupt möglich sei, den
Wertbegriff von seiner ursprünglich

ökonomischen Logik zu befreien, wird
vom evangelischen Theologen Eberhard
Jüngel bezweifelt. „Wertethik
und christliches Ethos“, so lautet seine
provokante These, „sind einander
feind.“ Wer das bezweifelt, sollte sich
zunächst mit Krysztof Michalski daran
erinnern, dass „die frühen Christen,
soweit wir wissen, nicht von ‚Werten‘“
sprachen: „weder von ‚christlichen‘
noch von ‚Familienwerten‘ und erst
recht nicht von ‚europäischen‘ oder
‚nationalen‘ Werten“.
Wie schon der Rechtswissenschaftler
Carl Schmitt (1888–1985) kritisiert
auch Jüngel die „Tyrannei der Werte“,
weil jedes Wertdenken seiner Tendenz
nach eminent aggressiv sei. „Nicht das
Sein der Werte, wohl aber die Realisierung
der Werte führt leicht zum Rigorismus,
ja Fanatismus im Blick auf
einen bestimmten Wert.“ Schon der
Soziologe Max Weber (1864–1920)
kritisierte eine Rhetorik der Werte,
welche die Ethik als Mittel des „Rechthabens“
missbraucht. Die Berufung
auf Werte führt außerdem, wie Michalski
zeigt, immer zur Abgrenzung
gegenüber irgendwelchen „anderen“,
die aus der eigenen Gemeinschaft ausgeschlossen
werden; „erst durch diese
Ausschließung wird eine bestimmte,
wird jede menschliche Gemeinschaft
zu dem, was sie ist, bekommt sie ihren
spezifischen Charakter.“
Gerade die Diakonie sollte sich ein
Sensorium für die Gefahr einer Tyrannei
der Werte bewahren. Denn sie weiß
sich für jene Menschen verantwortlich,
die in unserer Gesellschaft abgewertet
und ausgegrenzt werden. Geschichte
und Gegenwart kennen genügend Beispiele
dafür, dass das menschliche Leben
selbst zum Gegenstand von Wertungen
gemacht und nach seiner Verwertbarkeit
und Nützlichkeit taxiert
wird. Der menschenverachtenden Logik
der Unterscheidung zwischen Wert
und Unwert von Menschenleben entkommt
man freilich nicht einfach dadurch,
dass man Gegenwerte etabliert
und eine Umwertung der Werte propagiert.
Das Evangelium von der Menschenfreundlichkeit
Gottes, die in Jesus
Christus sichtbar geworden ist, unterbricht
vielmehr auf heilsame Weise
die Logik des Wertens und Umwertens.
„Nicht Werte“, so Jüngel, „leiten das
Handeln des Christen, sondern allein
die aus der Wahrheit kommende Liebe,
Diakonie Fachbeiträge
die ebensowenig wie die Wahrheit
einen Wert hat oder darstellt. Wahrheit
und Liebe sind wertlos und jedweder
Tyrannei der Werte abhold.“
Der Beitrag von Diakonie und Kirche
zur gegenwärtigen Wertedebatte besteht
vielleicht gerade darin, den
Wertbegriff vom Evangelium her kritisch
zu beleuchten und seine Anwendung
im Bereich der Ethik zu begrenzen.
Es gehört zum Leitbild der Diakonie,
jeden Menschen unabhängig von
seinen Fähigkeiten, seiner körperlichen
und geistigen Verfassung, seiner
sozialen Herkunft und Stellung als
Person zu achten, die ihre Würde einzig
und allein von Gott empfängt. Die
Würde der Person ist aber kein Wert
und eben deshalb unantastbar, weil sie
sich nicht verwerten lässt. Wie die
Würde des Menschen so gilt es, auch
andere Güter, Ziele und Ideale gegen
ihre Umwandlung in marktförmige,
konvertierbare und verwertbare Werte
zu schützen.
Diakonisches Ethos
Wenn man schon von „Werten“ sprechen
will, die das diakonische Handeln
leiten, dann ist neben der Gottebenbildlichkeit
und Würde des Menschen
auf das Reich Gottes und seine
Gerechtigkeit, auf die Liebe und die
Barmherzigkeit zu verweisen. „Wirken
mit Werten“, das kann dann bei aller
Problematik des Wertbegriffes bedeuten,
mit diesen Pfunden zu wuchern
(vgl. Lukas 19,11–27). Diejenigen „Werte“,
welche das diakonische Handeln
bestimmen, verweisen auf den eschatologischen
Horizont christlicher Existenz.
Sie gründen in der Verheißung
eines neuen Himmels und einer neuen
Erde.
Wenn heute über die Grenzen des Solidarprinzips
und die Zumutbarkeit
von Eigenverantwortung im Sozialund
Gesundheitswesen diskutiert wird,
sollte von Kirche und Diakonie an den
christlichen „Wert“ der Barmherzigkeit
erinnert werden. Die Teilhabe am gesellschaftlichen
Leben oder an der Gesundheitsversorgung
ist weder allein
eine Frage der Verteilungs-, noch der
Tauschgerechtigkeit, sondern auch eine
solche der Barmherzigkeit. In der
Debatte um die Reform des Gesundheitswesens
und seiner künftigen Finanzierung
steht nicht nur eine Neubestimmung
des Solidaritätsprinzips
und seiner Reichweite im Verhältnis
zur individuellen Autonomie bzw. zur
Subsidiarität zur Diskussion. Auf der
Tagesordnung steht vielmehr auch
eine „Kultur des Erbarmens“, wie sie
von den beiden großen Kirchen in
Deutschland gefordert wird. In solch
einer Kultur des Erbarmens besteht die
christliche Antwort auf die tyrannische
Kultur des Wertens und Verwertens.
Diakonisches Handeln gründet in
einem Ethos des Helfens. Hilfsbereitschaft
ist eine Tugend, und zwar nicht
nur eine christliche, sondern eine allgemein
menschliche. Ein Mensch, der
in Not gerät, fragt nicht danach, ob
ihm aus christlicher, aus islamischer,
buddhistischer oder aus einer säkularhumanistischen
Motivation geholfen
wird. Und umgekehrt ist es nicht allein
ein Gebot des Glaubens, sondern
schlicht der Menschlichkeit, anderen
zu helfen.
Sofern Hilfsbereitschaft als gesellschaftlicher
Wert anerkannt ist, können
wir auch von einem Ethos des
Helfens sprechen. Unter Ethos versteht
man die sittliche Grundorientierung
menschlicher Lebensführung, die
grundlegenden Verhaltensnormen
einer Gruppe, z. B. einer Berufsgruppe,
einer Gemeinschaft oder einer ganzen
Gesellschaft. Vom Ethos ist nochmals
die Ethik zu unterscheiden. Bei ihr
handelt es sich um eine Theorie des
Ethos bzw. der Moral. Von einer bloßen
Beschreibung eines Ethos, von
einer Soziologie oder auch Psychologie
der Moral unterscheidet sich Ethik
dadurch, dass es sich um die selbstreflexive
Theorie der Moral handelt
(Niklas Luhmann).
Die Notwendigkeit einer Ethik des
Helfens ergibt sich zunächst daraus,
dass die helfenden Funktionen in unserer
Gesellschaft zunehmend an bestimmte
Berufsgruppen und gesellschaftliche
Systeme wie Diakonie, Caritas
und Wohlfahrtsverbände, an
Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienste
und Technisches Hilfswerk delegiert
und professionalisiert wurden. Dementsprechend
sind eine Ethik helfender
Berufe und eine Reihe von Bereichsethiken
wie die Medizinethik,
die Pflegeethik oder auch die diakonische
Ethik entstanden. Eine Ethik des
Helfens beschränkt sich also nicht auf
den individual- bzw. personalethi-
schen Bereich, sondern ist auch ein
Thema der Sozialethik. Als solches soll
es hier auch in den Blick genommen
werden. Hilfe, die von längerer Dauer
sein soll und belastbar ist, kann nicht
von einem allein auf sich gestellten
Individuum geleistet werden. Ein
Ethos und eine Kultur des Helfens bedürfen
daher immer auch der Unterstützung
durch eine soziale Gruppe.
Die Ethik tritt dann auf den Plan,
wenn sich das Gute, welches das Ethos
vom Bösen oder Schlechten unterscheidet,
nicht mehr von selbst versteht.
Ethik ist ein Krisenphänomen.
Ihre Stunde ist gekommen, wenn wir
in moralische Konflikte geraten und
nicht wissen, was wir tun sollen. Mehr
noch: Sie wird dann notwendig, wenn
bis dahin geltende Verhaltensnormen
und Prinzipien zweifelhaft werden.
Die heutige Frage nach einer Ethik des
Helfens weist dementsprechend auf eine
Verunsicherung des in unserer Gesellschaft
akzeptierten Ethos des Helfens
hin. Die gegenwärtige Diskussion
über eine Reform des Sozialstaats und
des Gesundheitswesens ist von der Sorge
geprägt, dass bis dahin für selbstverständlich
gehaltene ordnungspolitische
Grundsätze, dass die Prinzipien
der Solidarität und der sozialen Gerechtigkeit
zur Disposition gestellt
werden könnten. Schon vor einigen
Jahren warnte der Präsident des Diakonischen
Werkes der EKD, Jürgen
Gohde, vor einem Paradigmenwechsel
im sozialen Bereich, bei welchem der
gemeinwohlorientierte Ansatz zugunsten
einer reinen Marktorientierung
verdrängt und Humanitätsversprechen
auf Kundenorientierung reduziert
würden. Aus dem Helfen als
Beruf wird das Helfen als Geschäft.
Eine Ethik des Helfens hat sich an der
Diskussion darüber zu beteiligen, wieweit
der Bereich von Wohlfahrt und
organisierten Hilfsleistungen für Menschen
in elementarer Not marktförmig
organisiert werden kann bzw. darf und
wo die ethischen Grenzen einer
Durchökonomisierung von Hilfsangeboten
liegen. Gefordert wird daher mit
Recht eine Rückbesinnung auf die
Grundwerte einer Kultur des Helfens,
die nicht nur als Angelegenheit bestimmter
Berufsgruppen, sondern aller
Mitglieder der Gesellschaft begriffen
wird. Eine Kultur des Helfens, das sei
an dieser Stelle deutlich gesagt, redu-
Fachbeiträge
ziert sich freilich auch nicht auf die
Rehabilitierung des Ehrenamtes, die
womöglich nur aus Kostengründen
propagiert wird. Das aber wäre eine
Missachtung des Ehrenamtes, auf das
eine Kultur des Helfens allerdings
nicht verzichten kann.
Foto: Peter Lacher
Moralisches Handeln folgt nicht ausschließlich
verallgemeinerbaren sittlichen
Normen, sondern es ist auch von
Gefühlen, von Intuitionen und von
alle Moral transzendierenden Grundorientierungen
des Lebens geleitet.
Neben der Liebe ist auf das Mitleid zu
verweisen. Aber auch der Gerechtigkeitssinn
kann als moralische Intuition
gelten, weil Gerechtigkeitssinn als
besondere Sensibilität für Gerechtigkeit
und Ungerechtigkeit bzw. für
Fairness in konkreten Lebenssituationen
von einem allgemeinen Gerechtigkeitsprinzip
oder von allgemeinen
Gerechtigkeitsregeln nochmals zu unterscheiden
ist.
Auch ein diakonisches Ethos gründet
in vormoralischen Intuitionen, die
nicht mit moralischen Werten oder
Normen zu verwechseln sind. Dies
kann man sich an der Formel, Diakonie
sei organisierte Nächstenliebe, gut
verdeutlichen. Auch wenn der Begriff
der Organisation zu Recht einem lediglich
situationsethischen Verständnis
christlicher Nächstenliebe widerspricht,
ist Liebe als solche doch keine
ethische Norm, sondern eine transmoralische
Orientierung menschlichen
Handelns. Die praktische Vernunft
diakonischer Ethik wie aller christlichen
Ethik ist eine vom Geist der Liebe
geleitete Vernunft.
Diakonie
In der Geschichte der Ethik ist freilich
darüber immer wieder gestritten worden,
ob Mitleid eine hinreichende moralische
Orientierung für unser Handeln
gibt. Während die stoische Tradition
das Mitleid zu einer Krankheit der
Seele erklärt hat, wurde es im Gegensatz
dazu von A. Schopenhauer zum
Grundprinzip aller Moral erhoben. Das
deutsche Wort „Mitleid“ ist die Übersetzung
des lateinischen „compassio“
bzw. des griechischen sympátheia.
Mitleid, Sympathie und Empathie sind
die fürsorgende Weise, in der wir auf
die Verletzlichkeit des Menschen oder
auch anderer Lebewesen reagieren und
uns ihnen wohlwollend zuwenden.
Die christliche Tradition sieht das Mitleid
in die Agape, d.h. in die rechte
Gottes- und Nächstenliebe, eingeschlossen
und setzt es mit der Barmherzigkeit
gleich. Seinen tiefsten
Grund hat das Mitleid nach christlichen
Verständnis darin, dass es im
Mitleiden, in der „Compassion“ Christi
mit den notleidenden Menschen wurzelt,
die im Sinne von Mt 25,31 in den
Geringsten unter seinen Brüdern präsent
ist. Der gekreuzigte Christus ist
der Inbegriff menschlicher Verletzlichkeit.
Seine Compassion ist der Kompass,
der christlichem Handeln die
Richtung weist.
„Wer in der Liebe bleibt“ (I Joh 4,16b),
entkommt damit jedoch nicht jedem
ethischen Konflikt. Liebe ist zwar eine
grundlegende Orientierung für unser
Handeln, jedoch kein hinreichendes
Kriterium in Konfliktlagen. Man kann
aus Mitleid das Falsche tun oder vom
Mitleid derart überwältigt werden,
dass man am Ende selbst völlig hilflos
ist. Menschen können, wie eine einprägsame
Metapher sagt, vor Mitleid
zerfließen. Falsch verstandenes Mitleid
kann sogar, wie die Euthanasiedebatte
zeigt, tödlich sein.
Eben darum braucht es nicht nur ethische
Reflexion, z.B. in der Diakonie,
sondern als Konsequenz solcher Reflexion
auch Organisation und Prävention.
Eine Ethik des Helfens muss
außerdem darauf bestehen, dass unsere
Hilfsbereitschaft nicht auf den
persönlichen oder den familiären Nahbereich
beschränkt bleibt. Von Situationen
der persönlichen Befangenheit
abgesehen soll gelten, dass wir jedem
Menschen in vergleichbarer Notlage

ohne Ansehen der Person auf dieselbe
Art und Weise helfen. Ethik reflektiert
also nicht nur die Einzelsituation, sondern
die in ihr aktualisierte typische
Handlungsweise, von der wir überzeugt
sind, dass sie moralisch gut ist –
wenn wir für den Augenblick von den
bereits geschilderten Zweideutigkeiten
unserer Motive und auch der Moral
selbst absehen.
Diakonische Ethik als Bereichsethik
Fragen der Lebensführung und des
ethisch verantwortlichen Handelns
sind in der modernen, funktional ausdifferenzierten
Gesellschaft derart
komplex geworden, dass in den zurückliegenden
Jahrzehnten eine ganze
Reihe verschiedener Bereichsethiken
entstanden sind. Beispielhaft seien
Wirtschaftsethik, Umweltethik, Wissenschaftsethik,
Technikethik, Rechtsethik,
politische Ethik, Medienethik
oder medizinische Ethik aufgeführt. Es
entspricht dieser allgemeinen Entwicklung,
wenn auch für die Diakonie
eine eigene Form der Bereichsethik
entwickelt wird. Wichtige Impulse für
die Etablierung einer spezifischen
Ethik der Diakonie sind in den letzten
Jahrzehnten von unternehmensethischen
Konzeptionen für diakonische
Einrichtungen ausgegangen. Es ist
aber zu betonen, dass das Anliegen
einer diakonischen Ethik über die Fragestellungen
einer diakonischen Unternehmensethik
weit hinaus reicht.
Allerdings ist auch ein bereichsethischer
Ansatz diakonischer Ethik mit
Schwierigkeiten behaftet, wie man
sich abermals am Wertbegriff und seiner
Verwendung im diakonischen
Kontext verdeutlichen kann. Aus der
Frage nach dem moralischen und religiösen
Werteprofil der Diakonie
spricht nämlich die Sorge, dass der
Geist einer ungezügelten Ökonomie
den Geist der Nächstenliebe verdrängen
könnte. Diakonisches Handeln
steht in Spannung zwischen ökonomischer
und moralisch-religiöser Wertorientierung.
Es ist eben nicht von
vornherein ausgemacht, inwieweit das
Wirken mit ökonomischen Werten in
einem religiös-moralischen Wertehaushalt
sein Fundament besitzt oder
zu diesem im Widerspruch steht.
Derartige Fragen werden heute im
Rahmen einer diakonischen Unternehmensethik
diskutiert, die zu entspre-
Diakonie Fachbeiträge
chenden Leitbildprozessen geführt hat.
Die Grundfrage jeder Unternehmensethik
kann freilich in zwei Richtungen
gestellt werden. Einerseits lautet sie:
„Wie moralfähig ist die Ökonomie?“,
andererseits aber: „Wie ökonomiefähig
ist die Moral?“ Lassen sich ökonomische
Sachgerechtigkeit, Menschengerechtigkeit
und Umweltgerechtigkeit
in einer fruchtbaren
Spannung halten, oder dominiert einseitig
die Logik der Ökonomie mit
ihrer vermeintlichen Eigengesetzlichkeit?
Aus soziologischer Sicht fällt das Urteil
bei Niklas Luhmann einigermaßen
ernüchternd aus. Die Teilsysteme der
ausdifferenzierten modernen Gesellschaft
– und zu ihnen gehört auch die
Diakonie – werden zwar weiterhin
durch Moral gestützt, soweit sie nämlich
auf wechselseitiges Vertrauen angewiesen
sind, das sich weder durch
Recht erzwingen noch für Geld kaufen
lässt. Daraus lasse sich aber keinesfalls
schließen, dass die einzelnen Funktionssysteme
selbst oder gar die Gesellschaft
als ganze auf Moral oder auf
einen Grundbestand gemeinsamer
Werte gegründet sei. „Eher liegt der
umgekehrte Schluss nahe, dass das
fluide Medium der Moral dort ankristallisiert,
wo Funktionssysteme ihm
eine Funktion geben können“ (Luhmann).
Konkret bedeutet dies z. B.,
dass Unternehmensethik in einem
Wirtschaftsunternehmen soweit gefördert
wird, wie dies das Betriebsklima
fördert und zugleich die Akzeptanz der
Firma und ihrer Produkte am Markt
verbessert. „Ethische“ Produkte oder
eine auf Ökologie und Nachhaltigkeit
ausgerichtete „Unternehmensphilosophie“
können sich durchaus rechnen.
Jenseits einer fundamentalen Gesellschafts-
oder Kapitalismuskritik, wie
sie heute vor allem von den neuen sozialen
Bewegungen gegen die Globalisierung
formuliert wird, ist Ethik aus
unternehmerischer Sicht durchaus
ökonomisch interessant und willkommen.
Es gehört zu den brisanten Themen
diakonischer Ethik, inwiefern Luhmanns
Analyse auch auf die Diakonie
zutrifft. Konkret kann das Problem
nicht nur an den unterschiedlichen
Beispielen von Leitbildern, sondern
auch an der Stellung von Theologie
und Seelsorge in modernen diakoni-
schen Unternehmen durchgespielt
werden. Das beginnt schon bei der
Frage, aus welchem Budget die Seelsorge
bezahlt werden soll. Gelegentlich
ist vom „Soft-Management“ die
Rede, wenn die heutige Rolle von Unternehmensethik
und Seelsorge in
diakonischen Einrichtungen zur Diskussion
steht. Für die ökonomischen
Werte ist das „Hard-Management“ zuständig,
die Seelsorge für die „Seele“
des Betriebs, für religiöse und moralische
Werte, für die Klimapflege also,
die man braucht, um Vertrauen unter
den Mitarbeitern und auf Seiten der
„Kunden“ zu fördern. Wieweit aber
werden bei solcher Arbeitsteilung
christliche Werte und Normen nicht
nur als Faktor der Stabilisierung und
Optimierung des diakonischen Betriebs,
sondern auch noch als Quelle
möglicher Kritik und Selbstkritik begriffen?
Als funktionales System betrachtet ist
die Diakonie in sich derart komplex,
dass eine diakonische Bereichsethik
notgedrungen eine interdisziplinäre
Form der Querschnittsethik sein muss.
Diakonisches Handeln und seine institutionalisierten
Gestalten sind äußerst
vielfältig. Sie umfassen den pädagogischen
Bereich ebenso wie den Bereich
der Medizin, Sozialhilfe und Krisenintervention
ebenso wie Altenpflege
oder Flüchtlingsarbeit. Extramurale
Pflegeangebote stehen neben dem
akuten klinischen Bereich sowie der
Langzeitpflege, Ambulante Angebote
neben dem Heimbereich usw.
Ein bereichsethisches Verständnis von
diakonischer Ethik geht jedenfalls
davon aus, dass die besonderen Probleme,
mit denen das diakonische
Handeln sich konfrontiert sieht, eine
spezifische Art der ethischen Reflexion
erforderlich machen. Diakonische
Ethik kennt typische Situationen
diakonischen Handelns, die sich bis zu
einem gewissen Grade verallgemeinern
lassen. Diakonische Ethik als Bereichsethik
ist also das, was man in
der gegenwärtigen Diskussion als topische
Ethik bezeichnet. In diesem
Sinne versucht diakonische Ethik, die
unterschiedlichen Orte diakonischen
Handelns als Orte der ethischen Urteilsbildung
ernst zu nehmen.
O.Univ.Prof. Dr. Ulrich Körtner
E-Mail: ulrich.koertner@univie.ac.at;
Homepage: www.univie.ac.at/etf/systematik/
koertner/koertner.htm.