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Kirche in bewegten Zeiten - Bibli.com

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He<strong>in</strong>rich Grosse, Hans Otte,<br />

Joachim Perels (Hg.)<br />

<strong>Kirche</strong> <strong>in</strong> <strong>bewegten</strong> <strong>Zeiten</strong><br />

Proteste, Reformen und Konfl ikte <strong>in</strong> der<br />

hannoverschen Landeskirche nach 1968


Wir danken für die Bereitstellung der Abbildungen und Fotos auf den Seiten 421–446:<br />

– Kar<strong>in</strong> Berkemann, Frankfurt<br />

– Hermann Burchard, Ronnenberg<br />

–Ev.-Luth. Christophorusgeme<strong>in</strong>de, Gött<strong>in</strong>gen<br />

– Jürgen Prüser, Wolfsburg<br />

– Ev.-Luth. Paulusgeme<strong>in</strong>de, Burgdorf<br />

<strong>Bibli</strong>ografi sche Information Der Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation <strong>in</strong> der Deutschen Nationalbibliografi e;<br />

detaillierte bibliografi sche Daten s<strong>in</strong>d im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.<br />

© Lutherisches Verlagshaus GmbH, Hannover 2011<br />

www.lvh.de<br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

Umschlaggestaltung: Sybille Felchow, she-mediengestaltung, Hannover<br />

Titelfoto: Mit freundlicher Genehmigung von Susanne Bergengruen<br />

Satz: Medien- und Verlagsservice Seidl, Dießen a. A.<br />

Druck und B<strong>in</strong>dung: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach<br />

ISBN 978-3-7859-1036-8<br />

Pr<strong>in</strong>ted <strong>in</strong> Germany


Inhalt<br />

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9<br />

I. Politische und theologische Kontroversen<br />

Axel Schildt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11<br />

Die langen 1960er Jahre – im Schatten des Mythos von '68<br />

Gerhard L<strong>in</strong>demann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31<br />

Die hannoversche Landeskirche und die „Ostdenkschrift“ – Kontroversen<br />

um das Memorandum „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des<br />

deutschen Volkes zu se<strong>in</strong>en östlichen Nachbarn“<br />

He<strong>in</strong>rich Grosse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55<br />

Kompromiss als Ziel? – Politische Debatten der 60er und 70er Jahre<br />

<strong>in</strong> der hannoverschen Landessynode<br />

Fritz Erich Anhelm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87<br />

Das Antirassismusprogramm des Ökumenischen Rates der <strong>Kirche</strong>n<br />

und die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers –<br />

Geschichte e<strong>in</strong>er schwierigen Rezeption<br />

Karol<strong>in</strong>e Läger-Re<strong>in</strong>bold . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107<br />

Roter Hahn und grüner Fisch – Der Konfl ikt um die<br />

Evangelische Studentengeme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> Hannover<br />

He<strong>in</strong>rich Grosse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127<br />

Politisierung der <strong>Kirche</strong>? – E<strong>in</strong>e Kontroverse zwischen Hanns Lilje<br />

und Helmut Gollwitzer <strong>in</strong> den Jahren 1967/68


II. Konzeptionelle und strukturelle Neuorientierung<br />

1. Bildung und Information<br />

Fritz Erich Anhelm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145<br />

Übergänge – Die Evangelische Akademie Loccum<br />

<strong>in</strong> den 1960er und 1970er Jahren<br />

Günther Overlach/Werner Peter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187<br />

Neue Schülerarbeit: Die Anfänge der Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft christlicher<br />

Schüler<br />

Uta Schäfer-Richter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211<br />

Die Projektgruppe Soziale Gerechtigkeit der Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft<br />

christlicher Schüler – e<strong>in</strong> persönlicher Rückblick<br />

Joachim Perels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227<br />

Dualismus von Glauben und politischer Verantwortung?<br />

Kritische Anmerkungen zu dem Beitrag von Uta Schäfer-Richter über die<br />

Projektgruppe Dritte Welt der Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft christlicher Schüler<br />

Klaus Petzold . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239<br />

Die „Religionspädagogische Wende im Religionsunterricht 1968“<br />

Peter Ohnesorg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265<br />

Reform der Vikarsausbildung<br />

Rolf Koppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285<br />

Die Kritik nimmt zu – Die Entstehung der landeskirchlichen<br />

Pressestelle <strong>in</strong> den 70er Jahren<br />

Joachim Perels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299<br />

Subversive Lese-Erfahrungen mit der Bibel – Bericht über e<strong>in</strong><br />

Sem<strong>in</strong>ar „Altes und Neues Testament, marxistisch diskutiert“


2. Gruppenbildung<br />

Matthias Wöhrmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305<br />

Engagement für <strong>Kirche</strong>nreform <strong>in</strong> Synode und<br />

Landeskirche: die „Gruppe Offene <strong>Kirche</strong>“<br />

Mart<strong>in</strong> Cordes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325<br />

Die Gruppe „Aktionsgeme<strong>in</strong>schaft <strong>Kirche</strong> <strong>in</strong> der Gesellschaft “:<br />

Problemanzeiger oder l<strong>in</strong>ker Störenfried?<br />

Werner Wasmuth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353<br />

Position der Mitte? – Die Anfänge der „Lebendigen Volkskirche“<br />

Hans-Jürgen Benedict . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365<br />

Die „Celler Konferenz“ – E<strong>in</strong> Versuch radikaler<br />

<strong>Kirche</strong>nkritik von Theologiestudenten<br />

Otto Meyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383<br />

Die Freie Osnabrücker Pfarrkonferenz: E<strong>in</strong>übung <strong>in</strong><br />

Befreiungstheologie vor Ort – e<strong>in</strong>e persönliche Er<strong>in</strong>nerung<br />

He<strong>in</strong>z Behnken/Gudrun Held/Mart<strong>in</strong> Ostertag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401<br />

Das Gruppenpfarramt – e<strong>in</strong> Signal des Aufbruchs?<br />

3. <strong>Kirche</strong>nbau<br />

Kar<strong>in</strong> Berkemann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421<br />

„Die Himmel wechseln ihre Sterne.“ Begegnungen mit modernen<br />

Gottesdiensträumen der hannoverschen Landeskirche


III. Personen<br />

Doris Riemann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447<br />

Im Schatten der Frauenbewegung? Die Pfarrfrauen und die Frauenfrage<br />

Rajah Scheepers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467<br />

Das Jahr 1968 und die Diakonissen. Mehr als e<strong>in</strong> Abschied?<br />

Jens Gundlach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491<br />

He<strong>in</strong>z Brunottes Geschichtsbild vom „<strong>Kirche</strong>nkampf“<br />

und die Anfragen der 68er<br />

Gisela Fähndrich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503<br />

Klaus Rauterberg und die Friedensarbeit <strong>in</strong> Sievershausen<br />

Wolfgang Raupach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525<br />

Rufus Flügge – Stadtsuper<strong>in</strong>tendent <strong>in</strong> Hannover 1963-1979. E<strong>in</strong>e<br />

Er<strong>in</strong>nerung.<br />

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531<br />

Autoren und Autor<strong>in</strong>nen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543


KAROLINE LÄGER-REINBOLD<br />

Roter Hahn und grüner Fisch<br />

Roter Hahn und grüner Fisch<br />

– Der Konfl ikt um die Evangelische Studentengeme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> Hannover<br />

Im Foyer der Evangelischen Student<strong>in</strong>nen- und Studentengeme<strong>in</strong>de (ESG) <strong>in</strong><br />

Hannover liegt e<strong>in</strong> roter Backste<strong>in</strong>, der bei Veranstaltungen dafür benutzt wird,<br />

die E<strong>in</strong>gangstür für die Besucher<strong>in</strong>nen und Besucher weit offen zu halten. Dieser<br />

Ste<strong>in</strong> hat e<strong>in</strong>en Namen: Er ist der „Ste<strong>in</strong> des Anstoßes“, der anlässlich der Neubesetzung<br />

e<strong>in</strong>er Pfarrstelle vor etwa e<strong>in</strong>em Jahrzehnt dem zuständigen Dezernenten<br />

des Landeskirchenamts überreicht wurde – e<strong>in</strong>e Geste des Unmuts über die aus<br />

Sicht des Mitarbeiterkreises (MAK) mangelnde Beteiligung der Studierenden an<br />

der Auswahl der Bewerber.<br />

Die Frage nach der Herrschaft im Verfahren ist bei der Stellenbesetzung bis heute<br />

e<strong>in</strong> kritischer Punkt. Schließlich gilt für jede Geme<strong>in</strong>depfarrstelle, dass die<br />

Geme<strong>in</strong>deglieder, vertreten durch den <strong>Kirche</strong>nvorstand, zu hören s<strong>in</strong>d. Gerade<br />

die ehrenamtlich engagierten Mitarbeiter und Mitarbeiter<strong>in</strong>nen, die das Leben<br />

der Geme<strong>in</strong>de tragen und geme<strong>in</strong>sam mit dem Pfarramt verantworten, haben e<strong>in</strong><br />

vitales Interesse daran, <strong>in</strong> Besetzungsfragen gehört zu werden. Die ESG jedoch<br />

ist ke<strong>in</strong>e normale Geme<strong>in</strong>de: „<strong>Kirche</strong>nrechtliche Regelungen im strikten S<strong>in</strong>n<br />

gab es für die Studentengeme<strong>in</strong>den nicht“, 1 konstatiert Hans-Joachim Rauer,<br />

Ende der 1970er Jahre im Landeskirchenamt Hannover für die ESG-Arbeit verantwortlich.<br />

„Welche Formen der Mitwirkung gibt es bei der Berufung von Studentenpfarrern?<br />

Diese Fragen waren über lange Jahre h<strong>in</strong> überwiegend e<strong>in</strong>vernehmlich<br />

zwischen den Studentengeme<strong>in</strong>den und den Landeskirchen behandelt<br />

worden. Nach 1968 kam das <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Krise, waren doch die Studentengeme<strong>in</strong>den<br />

auch Träger des Aufbruchs und der Veränderungen.“ 2<br />

Um diese Veränderungen soll es gehen. Das E<strong>in</strong>fordern von Beteiligungsstrukturen,<br />

verbunden mit der Besorgnis, die <strong>Kirche</strong>nleitung könne versuchen, jemanden<br />

„unterzubr<strong>in</strong>gen“, ist bis <strong>in</strong> die Gegenwart e<strong>in</strong> Thema geblieben. Akteure und Zeitzeugen<br />

der damaligen Konfl ikte s<strong>in</strong>d den heute <strong>in</strong> der ESG Aktiven praktisch unbekannt.<br />

Doch auch wenn das Instrumentarium basisdemokratischer Selbstbestimmung<br />

längst nicht mehr greift, ist das Verlangen nach Mitbestimmung ungebrochen<br />

und als „gefühltes“ Recht im kollektiven Gedächtnis fest verankert. 3<br />

1 Hans-Joachim RAUER: Abbrüche – Umbrüche – Aufbrüche. Er<strong>in</strong>nerungen an e<strong>in</strong>en Berufsweg,<br />

Hannover 2 2005, S. 195. – Zur Sache vgl. Michael FEIST: Die rechtliche Situation der Evangelischen<br />

Studentengeme<strong>in</strong>den, 2 Bände, Frankfurt am Ma<strong>in</strong> 1982.<br />

2 Rauer (wie Anm. 1), S. 195.<br />

3 Die Mitwirkung von Studierenden und Hochschulangehörigen ist nach wie vor unterschiedlich<br />

geregelt; im Bereich der hannoverschen ESGen s<strong>in</strong>d es heute meist die Beiräte, über die e<strong>in</strong>e<br />

107


Karol<strong>in</strong>e Läger-Re<strong>in</strong>bold<br />

1. Vakanz <strong>in</strong> Hannover<br />

Wie kam es zum Konfl ikt zwischen der ESG und den Verantwortlichen <strong>in</strong> der<br />

Landeskirche, und was g<strong>in</strong>g diesem voran? Hermann Bergengruen, seit 1970<br />

Studentenpfarrer <strong>in</strong> Hannover, war nach eigener E<strong>in</strong>schätzung unvorbereitet und<br />

etwas ängstlich <strong>in</strong> diese Aufgabe gekommen. 4 Se<strong>in</strong>e Ernennung schrieb er e<strong>in</strong>em<br />

ganz normalen bürokratischen Vorgang oder Zufall zu: Damals jedenfalls wurde<br />

mir ke<strong>in</strong> Grund für den Vorschlag me<strong>in</strong>es Namens bekannt. 5 Hans-Helmut Flohr,<br />

Personaldezernent im Landeskirchenamt, muss allerd<strong>in</strong>gs gewusst haben, dass<br />

der junge Pastor schon <strong>in</strong> den 60er-Jahren e<strong>in</strong> wenig an der ordentlichen Verkrustung<br />

unserer <strong>Kirche</strong> gekratzt 6 hatte – und wird ihn gerade aus diesem Grund <strong>in</strong><br />

der ESG am rechten Ort gesehen haben.<br />

Die Studentengeme<strong>in</strong>de wird für Bergengruen zum Ort der theologischen wie<br />

politischen Reifung – um nicht zu sagen: Radikalisierung. Die Ausläufer der<br />

Studentenbewegung der 1960er Jahre waren ungebrochen zu spüren, die politische<br />

Landschaft der jungen Bundesrepublik war <strong>in</strong> voller Bewegung. Das<br />

Austauschen von Erfahrung und politischer E<strong>in</strong>schätzung wuchs auf der Basis<br />

gegenseitiger Gefühle. Wir lernten, sie uns zu zeigen. Das war sehr wichtig<br />

für die Praxis des hier und jetzt zu leistenden Widerstands. Die evangelische<br />

Studentengeme<strong>in</strong>de wurde e<strong>in</strong> offener und parteilicher Ort. Wir konnten uns<br />

von Gruppen- oder Überlegenheitszwängen freier halten als andere politische<br />

Hochschulgruppen. In unseren Versammlungen wurden Ghettosituationen von<br />

kommunistischen Gruppen, Schwulen, Lesben, ausländischen Vere<strong>in</strong>en aufgebrochen.<br />

Wir praktizierten das Verhältnis von Individuum und Kollektiv alttestamentlich:<br />

Gottes Heil geht dem Ganzen zu, dem Volk. Der e<strong>in</strong>zelne hat daran Teil<br />

als Glied des Ganzen. Das Ganze lebt aber aus der Freiheit jedes E<strong>in</strong>zelnen, der<br />

sich dem Ganzen ohne Angst und Vorurteile anschließt und spürt, alle werden<br />

nur so weit gehen, wie weit jeder folgt. Alle gehen auf jeden e<strong>in</strong>. 7 Diese geradezu<br />

vorbehaltlose Öffnung der ESG für die politischen und gesellschaftlichen Fragen<br />

der Zeit war für viele Vertreter der „Amtskirche“ nur schwer zu ertragen. Außerparlamentarische<br />

Opposition, Radikalenerlass und Berufsverbote, nicht zuletzt<br />

der Streit um die Atomenergie – das waren die Themen, die <strong>in</strong> den Studentengeme<strong>in</strong>den<br />

diskutiert wurden. Die faktische oder zu vermutende Nähe der ESG zu<br />

kommunistischen, ja staatsfe<strong>in</strong>dlichen Kräften war beunruhigend; sie löste Ärger<br />

und Ängste aus. Die Tatsache, dass man <strong>in</strong> Hannover im Jahre 1973 aufgrund<br />

Beteiligung sichergestellt ist.<br />

4 Hermann BERGENGRUEN: Seyt nuirg keck! Zwischen Studentenrevolte und <strong>Kirche</strong>nregiment,<br />

Stuttgart 1981, S. 7.<br />

5 Bergengruen (wie Anm. 4), S. 6.<br />

6 Bergengruen (wie Anm. 4), S. 6.<br />

7 Bergengruen (wie Anm. 4), S. 31f.<br />

108


Roter Hahn und grüner Fisch<br />

mangelnder Beteiligung auch ke<strong>in</strong>e Gottesdienste mehr feierte 8 , wird noch erschwerend<br />

h<strong>in</strong>zugekommen se<strong>in</strong>.<br />

Zu jener Zeit s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Hannover zwei Studentenpfarrer tätig. Im Januar 1973<br />

kündigt Pastor Eberhard Chappuzeau dem MAK für den Sommer des Jahres<br />

se<strong>in</strong>en Weggang an. Das R<strong>in</strong>gen um die Wiederbesetzung se<strong>in</strong>er Stelle und<br />

später die Grundsatzfrage nach der Ausrichtung der Arbeit <strong>in</strong> der ESG hat<br />

nicht nur die hannoversche Studentengeme<strong>in</strong>de, sondern die gesamte Landeskirche<br />

und e<strong>in</strong>e deutschlandweite Öffentlichkeit über mehr als e<strong>in</strong> Jahrzehnt<br />

beschäftigt. Denn für die freie Stelle fand sich ke<strong>in</strong> geeigneter Bewerber – aus<br />

Sicht des Landeskirchenamts. Anders sah das der MAK, der se<strong>in</strong>erseits die<br />

Suche nach potenziellen Kandidaten aufnahm. Bei e<strong>in</strong>em Treffen zwischen<br />

Vertretern von MAK und Landeskirchenamt im November 1973 spricht das<br />

Landeskirchenamt von zwei Bewerbern, die allerd<strong>in</strong>gs die Arbeit <strong>in</strong> der ESG<br />

nur zusammen antreten wollten. 9 Dieses war, da weder Hermann Bergengruen<br />

noch die Vertreter der Studentengeme<strong>in</strong>de e<strong>in</strong>en Wechsel Bergengruens im<br />

Blick hatten, ke<strong>in</strong>e ernsthaft zu erwägende Möglichkeit. Der MAK nimmt<br />

beide Kandidaten dennoch <strong>in</strong> Augensche<strong>in</strong> und schlägt anschließend dem<br />

Landeskirchenamt drei andere Personen vor, darunter die <strong>in</strong> Aarhus lebende<br />

Theolog<strong>in</strong> Gretchen Klotz, Ehefrau von Rudi Dutschke, und Lienhard Böhn<strong>in</strong>g,<br />

Diplompädagoge aus Lüneburg. Weil nach den Grundsätzen der Landeskirche<br />

für die Besetzung der Stelle jedoch nur solche Kandidaten <strong>in</strong> Betracht<br />

kommen, die die komplette Ausbildung für den Pfarrberuf durchlaufen haben,<br />

der Landeskirche angehören und auf e<strong>in</strong>e m<strong>in</strong>destens fünfjährige Geme<strong>in</strong>depraxis<br />

zurückblicken können, 10 reduziert sich die Bewerberzahl schnell. Der<br />

H<strong>in</strong>weis auf solche formalen Kriterien wirkt für die ESG wie e<strong>in</strong> Rückzug auf<br />

Äußerlichkeiten und führt unmittelbar zu der Vermutung, man wolle unliebsame<br />

Interessenten von vornhere<strong>in</strong> ausschließen. Die Stelle blieb also vakant;<br />

die Dienstwohnung Chappuzeaus im Haus der ESG <strong>in</strong> der Ludwig-Bruns-Str.<br />

9-11 stand leer.<br />

Dies ändert sich am 22. Mai 1974: Fünf Mitglieder des MAK ziehen <strong>in</strong> die<br />

Dienstwohnung e<strong>in</strong> und erklären: Angesichts der bekannten schlechten Wohnungssituation<br />

der Stundenten [sic] ist es unverantwortlich, e<strong>in</strong>e Wohnung <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Haus, das für Studenten da se<strong>in</strong> soll, noch länger leerstehen zu lassen.<br />

Wir selbst suchen schon seit e<strong>in</strong>iger Zeit e<strong>in</strong>e Wohnung. Indem wir nun direkt <strong>in</strong><br />

der ESG wohnen, ist uns e<strong>in</strong>e effektive Mitwirkung an der ESG-Arbeit möglich.<br />

8 Bergengruen (wie Anm. 4), S. 71.<br />

9 ESG Hannover Info Nr. 7, 12.12.1973, LkAH E 33a Nr. 319.<br />

10 So Hans-Joachim Rauer im mündlichen Bericht des Landeskirchenamts betr. die Situation <strong>in</strong><br />

der ESG Hannover, <strong>in</strong>: 19. LANDESSYNODE der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers, II. Tagung<br />

vom 22. bis 26. November 1977. Niederschrift über die 9. bis 18. Sitzung geschehen im großen<br />

Schwesternsaal des Henriettenstiftes zu Hannover, Band 3, S. 222.<br />

109


Karol<strong>in</strong>e Läger-Re<strong>in</strong>bold<br />

Das vor allem ist S<strong>in</strong>n und Zweck unserer Aktion. Denkbar wäre es, daß wir<br />

bestimmte Aufgaben zur Entlastung Hermann Bergengruens übernehmen. 11<br />

Das Landeskirchenamt reagiert schnell: Am 12. Juni 1974 wird den Besetzern<br />

per E<strong>in</strong>schreiben mitgeteilt, daß Sie damit gemäß § 123 des Strafgesetzbuches<br />

e<strong>in</strong>en Hausfriedensbruch begangen und sich strafbar gemacht haben. (…) Wir<br />

fordern Sie auf, die Wohnung unverzüglich wieder zu räumen, und behalten uns<br />

vor, andernfalls gegen Sie gerichtliche Schritte e<strong>in</strong>zuleiten. Wir s<strong>in</strong>d jedoch bereit,<br />

mit Ihnen über e<strong>in</strong>e eventuelle vorübergehende Nutzung der Wohnung als<br />

Studentenunterkünfte gegen Zahlung e<strong>in</strong>er angemessenen Nutzungsentschädigung<br />

zu sprechen. Das Gespräch fi ndet schon am 14. Juni im Landeskirchenamt<br />

statt und verläuft, wie die Studenten vermerken, <strong>in</strong> ruhiger, sachlicher Atmosphäre.<br />

12 Mit den neuen Bewohnern sollen Nutzungsverträge für die Zimmer abgeschlossen<br />

werden. Deutliches Unbehagen bereitet dem Landeskirchenamt die<br />

Vorstellung e<strong>in</strong>er gemischt-geschlechtlichen Wohngeme<strong>in</strong>schaft bei nur e<strong>in</strong>em<br />

Badezimmer; erleichtert wird der H<strong>in</strong>weis aufgenommen, dass Sab<strong>in</strong>es Zimmer<br />

über e<strong>in</strong> eigenes Waschbecken verfüge.<br />

2. Konfl ikte an allen Orten<br />

Die Arbeit der ESG geht weiter. Ihr Herzstück s<strong>in</strong>d die Arbeitskreise mit Diskussionsveranstaltungen<br />

zu Themen aus Theologie, Politik und Gesellschaft. Es<br />

geht um Internationalismus und Ausländerfragen, die ESG wird zur Anlaufstelle<br />

für Studierende aller Nationen. Auch Geselligkeit spielt e<strong>in</strong>e große Rolle: Die<br />

Tanzveranstaltungen s<strong>in</strong>d beliebt und sehr gut besucht. Allerd<strong>in</strong>gs sorgen Stellenwechsel<br />

und Personalveränderungen nicht nur <strong>in</strong> Hannover weiter für Unruhe.<br />

Am 22. März 1974 meldet der Evangelische Pressedienst unter Bezugnahme auf<br />

die Situation <strong>in</strong> Braunschweig: Proteste der Studentengeme<strong>in</strong>den häufen sich. 13<br />

Auch hier war es <strong>in</strong>folge des Wechsels von Pastor Friedrich Grotjahn zur Bundes-ESG<br />

<strong>in</strong> Stuttgart zum Konfl ikt um die Stellenbesetzung sowie um die <strong>in</strong>haltliche<br />

Ausrichtung der Arbeit gekommen.<br />

Als das hannoversche Landeskirchenamt unter H<strong>in</strong>weis auf die zeitliche Befristung<br />

des übergeme<strong>in</strong>dlichen Dienstes die Absicht äußert, die Studentenpfarrer <strong>in</strong><br />

Clausthal-Zellerfeld und Osnabrück abzuberufen und ihre Arbeit nebenamtlich<br />

11 „Erklärung an den Mitarbeiterkreis zum E<strong>in</strong>zug <strong>in</strong> die leerstehende Pastorenwohnung“, LkAH E<br />

33a Nr. 319.<br />

12 „Notiz über das Gespräch mit dem Landeskirchenamt betr. die von uns genutzte ESG-Wohnung<br />

am 14. Juni 1974, 10 Uhr“, LkAH E 33a Nr. 319.<br />

13 Epd Nr. 57/74, LkAH E 33a Nr. 319.<br />

110


Roter Hahn und grüner Fisch<br />

durch Geme<strong>in</strong>depastoren weiterführen zu lassen, erhebt sich offener Protest der<br />

Regionalkonferenz der ESG <strong>in</strong> Bremen, Niedersachsen und Nordhessen: ‚Es ist<br />

geradezu grotesk‘, (…) ‚daß ausgerechnet <strong>in</strong> dieser von wachsenden Schwierigkeiten<br />

gekennzeichneten Phase, die <strong>in</strong>sbesondere für Studenten <strong>in</strong> verstärktem<br />

Maße soziale und psychische Belastungen mit sich br<strong>in</strong>gt, erfahrene Studentenpfarrer<br />

abgezogen und die Stellen verkle<strong>in</strong>ert werden sollen.‘ 14<br />

Die plötzliche Häufung von Neubesetzungen an mehreren Orten wird als Umbruch<br />

und E<strong>in</strong>griff erlebt. Helmut Zeil<strong>in</strong>ger, Studentenpfarrer <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen, gibt<br />

<strong>in</strong> der Zeitschrift Junge <strong>Kirche</strong> 1975 unter der Überschrift Liquidierung der<br />

Evangelischen Studentengeme<strong>in</strong>de? 15 e<strong>in</strong>e Übersicht über das Ausmaß. Zeil<strong>in</strong>ger<br />

spricht von e<strong>in</strong>er abgesprochenen Strategie, mit der die <strong>Kirche</strong> (...) von außen<br />

autoritär e<strong>in</strong>gegriffen habe. 16 Besonderes Aufsehen hatte die Situation <strong>in</strong> Hamburg<br />

erregt, wo der <strong>Kirche</strong>nrat im Juli 1975 mit e<strong>in</strong>er Reihe von Beschlüssen die<br />

Beendigung der Tätigkeit der drei Studentenpfarrer sowie e<strong>in</strong>e radikale Kürzung<br />

von Räumen und Mitteln vorgesehen hatte. Den amtierenden Studentenpfarrern<br />

wurde dies während der Sommerpause im August lapidar mitgeteilt; e<strong>in</strong> Hochschulpastor<br />

sollte fortan ihre Arbeit ersetzen. 17 Hermann Bergengruen erklärte<br />

gegenüber der Presse, dies sei <strong>in</strong> Hannover undenkbar, da die hannoversche <strong>Kirche</strong>nleitung<br />

sich angemessener verhalte. Dem epd beschrieb Bergengruen das<br />

Anliegen der ESG Hannover als e<strong>in</strong> Bemühen, l<strong>in</strong>ke Außenseiter im Hochschulbereich<br />

zu <strong>in</strong>tegrieren, <strong>in</strong>dem sie ihnen die Möglichkeit biete, ihre Ziele darzustellen.<br />

Diese Integrationsaufgabe gehöre direkt zum Auftrag der <strong>Kirche</strong>. (…)<br />

Zu dem Vorwurf, die ESG habe sich isoliert und sei zur Sekte geworden, erklärte<br />

Bergengruen, es sei zu Fragen [sic], ob <strong>in</strong> Hamburg nicht vielmehr die <strong>Kirche</strong>nleitung<br />

die ESG isoliert und ‚<strong>in</strong> die Ecke gestellt‘ habe. 18<br />

Nicht nur über Sachfragen, vor allem über Personen wird gestritten. In Oldenburg<br />

engagiert sich im Mai 1974 Studentenpfarrer Hans-Dieter Hüttmann anlässlich<br />

der fristlosen Entlassung des Westersteder Lehrers und DKP-Mitglieds<br />

Hans-Joachim Müller aus dem Schuldienst zur Frage der Berufsverbote und<br />

sorgt damit für erhebliche Unruhe. 19 Auch im Blick auf den Pfarrberuf wird das<br />

14 Evangelische Zeitung vom 26.05.1974, LkAH E 33a Nr. 320.<br />

15 Helmut ZEILINGER: Liquidierung der Evangelischen Studentengeme<strong>in</strong>de?, <strong>in</strong>: Junge <strong>Kirche</strong><br />

36/1975, S.20-30; 91-98.<br />

16 Zeil<strong>in</strong>ger (wie Anm. 15), S. 21. – E<strong>in</strong>en Überblick über weitere Konfl ikte <strong>in</strong>: DER SPIEGEL Nr.<br />

48/1977, S. 119-124, LkAH E 33a Nr. 405; „Christen gegen Sozialismus?“, Frankfurter Rundschau<br />

3.4.1979, LkAH E 33a Nr. 406.<br />

17 „Dokumentation über die Maßnahmen des Hamburger <strong>Kirche</strong>nrats gegen die Evangelische Studentengeme<strong>in</strong>de<br />

Hamburg“, LkAH E 33a Nr. 134; Epd-Dokumentation Nr. 38a/75 „Hamburg:<br />

Hochschulpfarramt ersetzt Studentenpfarrer“, LkAH E 33a Nr. 320.<br />

18 Epd Nr. 141/75 vom 28.8.1975, LkAH E 33a Nr. 320.<br />

19 Schreiben der Evangelischen Studentengeme<strong>in</strong>de Oldenburg vom 20. Mai 1974, LkAH E 33a Nr. 382.<br />

111


Karol<strong>in</strong>e Läger-Re<strong>in</strong>bold<br />

Thema diskutiert. Gött<strong>in</strong>ger Professoren geben e<strong>in</strong>e Theologische Erklärung zur<br />

Frage der Vere<strong>in</strong>barkeit von Pfarrberuf und DKP-Mitgliedschaft ab: Es ist für<br />

uns unbestritten, daß es zu den Aufgaben e<strong>in</strong>er verantwortlichen <strong>Kirche</strong>nleitung<br />

gehört, angehenden und im Amt befi ndlichen Pfarrern die Problematik e<strong>in</strong>er<br />

Mitgliedschaft <strong>in</strong> der DKP, aber auch <strong>in</strong> jeder anderen Partei vor Augen zu stellen.<br />

Doch muß es jede <strong>Kirche</strong>nleitung respektieren, wenn e<strong>in</strong> ord<strong>in</strong>ierter oder zur<br />

Ord<strong>in</strong>ation bereiter Theologe trotz solcher H<strong>in</strong>weise auf se<strong>in</strong>e Parteimitgliedschaft<br />

nicht verzichtet. 20 In Osnabrück plant der Studentenpfarrer Velten Seifert<br />

für Januar 1975 e<strong>in</strong>e Vortragsveranstaltung mit Rudi Dutschke <strong>in</strong> der ESG. Er<br />

wird sowohl von Landesbischof D. Eduard Lohse als auch von Landessuper<strong>in</strong>tendent<br />

Dr. Kurt Schmidt-Clausen schriftlich aufgefordert, die E<strong>in</strong>ladung des<br />

Referenten zurückzunehmen: Die Evangelische <strong>Kirche</strong> <strong>in</strong> unserem Bereich, zu<br />

der auch die Evangelische Studentengeme<strong>in</strong>de zählt, darf nicht e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> den<br />

Ansche<strong>in</strong> des Verdachtes geraten, sie sympathisiere mit der Sache der Baader-<br />

Me<strong>in</strong>hof-Gruppe, heißt es im Schreiben des Landessuper<strong>in</strong>tendenten. 21 Seifert<br />

hielt an der Veranstaltung fest: Terroropfer Dutschke identifi ziert sich nicht mit<br />

Terrorpraktiken 22 – der Vortrag fi el dann krankheitshalber aus.<br />

3. Diskussionen <strong>in</strong> der Synode<br />

Die Welle der E<strong>in</strong>zelkonfl ikte erreichte schon bald die Debatte der Landessynode.<br />

In e<strong>in</strong>er Anfrage an das Landeskirchenamt zitiert der Synodale Dr. Günther<br />

Bartels im März 1974 den Hamburger Theologieprofessor Helmut Thielicke, der<br />

die Evangelischen Studentengeme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> der „Deutschen Zeitung/Christ und<br />

Welt“ als Kristallisationspunkte des Extremradikalismus charakterisiert hatte:<br />

Hier wird e<strong>in</strong> w<strong>in</strong>ziges Häufl e<strong>in</strong> völlig säkularer L<strong>in</strong>kspropagandisten mit kirchlichen<br />

Geldern ausgehalten. Was immer man hier gegen die <strong>Kirche</strong> und ihre<br />

Amtsträger unternimmt, wie sehr man sie auch durch den Dreck zieht: die Synoden<br />

sche<strong>in</strong>en entweder e<strong>in</strong> Zuwenig an Mut oder e<strong>in</strong> Zuviel an Masochismus zu<br />

haben, um diesem Schw<strong>in</strong>del endlich e<strong>in</strong> Ende zu bereiten. 23 Die hannoversche<br />

Landessynode ist alarmiert und beschließt, die Situation zu beobachten. Der Tä-<br />

20 LkAH N 147 Nr. 31.<br />

21 Brief des Landessuper<strong>in</strong>tendenten für den Sprengel Osnabrück an Studentenpfarrer V. Seifert<br />

vom 26. November 1974, LkAH E 33a Nr. 382.<br />

22 Schreiben Pastor Velten Seifert an den Landessuper<strong>in</strong>tendenten vom 3. Dezember 1974, LkAH<br />

E 33a Nr. 382.<br />

23 18. Landessynode der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers, VII. Tagung vom 4. bis 8. März 1974.<br />

Niederschrift über die 59. bis 66. Sitzung, geschehen im großen Schwesternsaal des Henriettenstiftes<br />

<strong>in</strong> Hannover, Band 10, S. 64. – Zur Person Helmut Thielickes vgl. Norbert FRIEDRICH:<br />

Helmut Thielicke als Antipode der sozialen Bewegungen, <strong>in</strong>: Umbrüche. Der deutsche Protestantismus<br />

und die sozialen Bewegungen <strong>in</strong> den 1960er und 70er Jahren, hrsg. v. Siegfried Hermle<br />

u.a., AKiZ B 47, Gött<strong>in</strong>gen 2007, S. 247-261.<br />

112


Roter Hahn und grüner Fisch<br />

tigkeitsbericht des Landessynodalausschusses zur folgenden Tagung im November<br />

1974 verweist auf e<strong>in</strong> erstes ausführliches Gespräch am 3. September 1974,<br />

das zunächst nur e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die Situation und Arbeit der Studentengeme<strong>in</strong>den<br />

dienen [konnte], wobei bereits vorher vorhandenes Misstrauen weitgehend<br />

abgebaut werden konnte und die anzusprechenden Fragen grundsätzlicher<br />

und praktischer Art offen andiskutiert wurden. 24 In der sich anschließenden Aussprache<br />

erklärt die Synodale Johanna L<strong>in</strong>z: Die Studentengeme<strong>in</strong>den sche<strong>in</strong>en<br />

mir e<strong>in</strong>e große Ähnlichkeit mit mißgeratenen K<strong>in</strong>dern zu haben. Hätte man vor<br />

25 Jahren gewußt, wie sie sich entwickeln, hätte man das K<strong>in</strong>d vielleicht nicht<br />

so lange an der langen Le<strong>in</strong>e laufen lassen. (...) Es waren kirchliche Stätten, die<br />

der <strong>Kirche</strong> nahestehende, wenn auch nicht unkritische, aufs Ganze gesehen aber<br />

angepaßte Akademiker hervorbrachten. Seit sich die Studenten aber politisch<br />

betätigen, reagieren die <strong>Kirche</strong>n weitgehend hilfl os, teilweise verärgert, teilweise<br />

verständnislos. E<strong>in</strong>er der Gründe liegt für mich dar<strong>in</strong>, daß die <strong>Kirche</strong> noch nicht<br />

gelernt hat, mit diesem Konfl ikt umzugehen. 25 Oberlandeskirchenrat Hans-Erich<br />

Creutzig entgegnet für das Landeskirchenamt: Es ist nicht gut, wenn wir von<br />

der Studentenarbeit hier ganz allgeme<strong>in</strong> sprechen. Die Studentenseelsorge ist<br />

auch im Rahmen unserer Landeskirche unterschiedlich. Nicht überall ist es so<br />

wie <strong>in</strong> Hannover. (...) Die Arbeit <strong>in</strong> den Studentengeme<strong>in</strong>den, wie sie 1968 sich<br />

darstellte und heute noch an e<strong>in</strong>igen Orten aussieht, ersche<strong>in</strong>t anderswo schon<br />

etwas antiquiert. So erleben wir z.B. <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen, daß der studentische Missionsdienst<br />

sich <strong>in</strong> erstaunlich starker Weise bemerkbar macht. An e<strong>in</strong>em anderen<br />

Ort sammelt sich e<strong>in</strong> immer größer werdender Bibelkreis um e<strong>in</strong>en Pastor, der<br />

nicht Studentenpfarrer ist. Deshalb müssen wir bei der Neue<strong>in</strong>stellung von Studentenpfarrern<br />

darauf achten, daß neue Bestrebungen nicht geh<strong>in</strong>dert werden. 26<br />

Um das Verhältnis von „antiquiert“ oder „neu“ g<strong>in</strong>g es freilich nicht, sondern<br />

um konträre Frömmigkeitsideale und Geme<strong>in</strong>dekonzeptionen. 27 So kommentierte<br />

bereits am 23. Juni 1974 das Deutsche Sonntagsblatt: Über all dem Hickhack<br />

verliert man leicht aus den Augen, worum es <strong>in</strong> Wirklichkeit geht. (… ) In Wirklichkeit<br />

geht es um das Bekenntnis: Woran wir glauben, worauf wir hoffen, was<br />

wir tun sollen. (…) In der Reformation g<strong>in</strong>g es um die Rechtfertigung aus diesem<br />

Glauben an Gott. Heute geht es um die ethischen und politischen Folgen aus<br />

diesem Glauben an Gott. Daß dieses Thema dran ist, wird <strong>in</strong> der EKD ebenso<br />

deutlich gesehen wie <strong>in</strong> der ESG. Freilich, der Ton macht die Musik. In der<br />

24 18. Landessynode der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers, XI. Tagung vom 12. bis 15. November<br />

1974. Niederschrift über die 76. bis 86. Sitzung, geschehen im großen Schwesternsaal des Henriettenstiftes<br />

<strong>in</strong> Hannover, Band 12, S. 479f.<br />

25 18. Landessynode (wie Anm. 24), S. 273f.<br />

26 18. Landessynode (wie Anm. 24), S. 283f.<br />

27 Grundsätzlichere Überlegungen dazu fi nden sich etwa bei Ernst KÄSEMANN: Urchristliche<br />

Konfl ikte um die Freiheit der Geme<strong>in</strong>de, <strong>in</strong>: Evangelium – <strong>Kirche</strong> – Institution. Loccumer Protokolle<br />

10/1979, S. 92-104.<br />

113


Karol<strong>in</strong>e Läger-Re<strong>in</strong>bold<br />

Studentengeme<strong>in</strong>de s<strong>in</strong>d die Töne meistens greller, nicht selten fast unerträglich<br />

schrill. Offenkundig erklären sich die grellen Töne daher, daß das Entsetzen der<br />

Jugendlichen vor den kommenden Katastrophen weitaus größer ist als die Angst<br />

der Älteren. 28<br />

Offene Worte und schrille Töne gab es auch <strong>in</strong> dem seit September 1974 <strong>in</strong>stitutionalisierten<br />

Gespräch zwischen Landessynode, Studentengeme<strong>in</strong>den und<br />

Landeskirchenamt. Die Atmosphäre war sehr angespannt und dennoch letztlich<br />

konstruktiv, wie aus dem Aktenstück Nr. 218 hervorgeht, das Super<strong>in</strong>tendent<br />

Hartmut Badenhop, Vorsitzender des Landessynodalausschusses, der Synode im<br />

November 1976 vorlegt. Deutlich spürbar ist das Bemühen um e<strong>in</strong>e differenzierte<br />

Wahrnehmung der Situation:<br />

Zum Zeitpunkt der Anfrage und der Gespräche waren mit der Studentenbewegung<br />

der ausgehenden 60er Jahre an den Universitäten und <strong>in</strong>nerhalb der Gesellschaft<br />

bereits Veränderungen <strong>in</strong> Gang gekommen, die von der kirchlichen<br />

Öffentlichkeit noch nicht genügend wahrgenommen und verarbeitet waren. Allerd<strong>in</strong>gs<br />

befand sich zum Beg<strong>in</strong>n des Gesprächs die Studentenbewegung, und<br />

damit auch die von ihr mitgeprägte Arbeit der Evangelischen Studentengeme<strong>in</strong>den,<br />

bereits fast <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Ghetto, zu dessen Entstehung die Situation der Universitäten<br />

und der Studenten <strong>in</strong> der Gesellschaft ihren Anteil beigetragen hatte.<br />

Dies erklärt, warum auch <strong>in</strong> der Landeskirche zur ESG e<strong>in</strong>e Distanz vorhanden<br />

war, die <strong>in</strong> der zu verhandelnden Problematik, <strong>in</strong> ihrer Gewichtung und <strong>in</strong> ihrer<br />

Begriffl ichkeit erhebliche Verständigungsschwierigkeiten auftreten ließ und nach<br />

wie vor erkennbar werden läßt. So wurden die Fragen an die Arbeit der ESG<br />

nicht immer als Fragen verstanden, die die Situation der ESG wirklich treffen.<br />

Und umgekehrt war nicht von vornhere<strong>in</strong> deutlich, <strong>in</strong>wiefern die Probleme und<br />

Erfahrungen der ESG auch andere Arbeitsfelder mit ihrem Auftrag <strong>in</strong> unserer<br />

Zeit betreffen. 29<br />

Die scheidende Landessynode beschließt im Februar 1977 für die kommende 19.<br />

Landessynode e<strong>in</strong>e Fortsetzung der Gespräche und Kontakte 30 ; so kommt es im<br />

November zur E<strong>in</strong>richtung der „Arbeitsgruppe für ESG“. 31 Die im landeskirchlichen<br />

Archiv befi ndlichen Handakten des LSA-Vorsitzenden Hartmut Badenhop 32<br />

28 LkAH E 33a Nr. 320.<br />

29 18. Landessynode der Ev-luth. Landeskirche Hannovers, XIII. Tagung vom 23. bis 27. November<br />

1976. Niederschrift über die 111. bis 122. Sitzung, geschehen im großen Schwesternsaal des<br />

Henriettenstiftes <strong>in</strong> Hannover, Band 16, S. 843.<br />

30 18. Landessynode der Ev-luth. Landeskirche Hannovers, XIV. Tagung vom 15. bis 19. Februar<br />

1977. Niederschrift über die 123. bis 132. Sitzung, geschehen im großen Schwesternsaal des<br />

Henriettenstiftes <strong>in</strong> Hannover, Band 17, S. 303.<br />

31 19. Landessynode (wie Anm. 10), S. 252.<br />

32 LkAH E 33a Nr. 318-321.<br />

114


Roter Hahn und grüner Fisch<br />

sowie des Rechtskundigen Vizepräsidenten Dr. Werner Knüllig 33 s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>drucksvolle<br />

Sammlung von Flugblättern, Statements, Erklärungen, Vermerken<br />

und Presseartikeln, aus denen die Mühsal des R<strong>in</strong>gens um e<strong>in</strong> gegenseitiges Verständnis<br />

deutlich hervorgeht.<br />

4. „Thomas-Münzer-Haus“ und Autonome ESG <strong>in</strong> Hannover<br />

Der Versuch e<strong>in</strong>er Wiederbesetzung der vakanten Stelle <strong>in</strong> Hannover g<strong>in</strong>g weiter.<br />

34 Das Landeskirchenamt verwies <strong>in</strong>zwischen auf schwierige Haushaltsberatungen<br />

<strong>in</strong> der Landessynode, die die Zahl der übergeme<strong>in</strong>dlichen Pfarrstellen für<br />

den Etat des Jahres 1976 kontrovers diskutierte. Im Mai 1976 ergreift der MAK<br />

die Initiative und schreibt an rund 600 jüngere Pastoren der Landeskirche – etwa<br />

e<strong>in</strong> Drittel der aktiven Pfarrerschaft – e<strong>in</strong>en Brief, mit dem diese auf die freie<br />

Stelle h<strong>in</strong>gewiesen werden. 35 Die Aktenordner füllen sich mit Antwortschreiben:<br />

verwunderte Nachfragen, freundliche Absagen und nicht wenige Interessemeldungen.<br />

Potenzielle Bewerber werden zum Gespräch e<strong>in</strong>geladen, die E<strong>in</strong>drücke<br />

des MAK werden fl eißig protokolliert. 36 Zum Ende des W<strong>in</strong>tersemesters, am 18.<br />

Februar 1977, muss Hermann Bergengruen dann auf Geheiß des Landeskirchenamts<br />

die ESG verlassen; er übernimmt zunächst für e<strong>in</strong>e begrenzte Zeit e<strong>in</strong>e<br />

Pfarrstelle <strong>in</strong> Großgoltern. 37 Super<strong>in</strong>tendent Dr. Gottfried Sprondel und Pastor<br />

Dieter Meyer aus De<strong>in</strong>sen werden als Vakanzvertreter e<strong>in</strong>gesetzt.<br />

Der MAK lehnt jede Zusammenarbeit mit den gegen unseren Willen e<strong>in</strong>gesetzten<br />

Vertretern ab. Die Aktivitäten der hannoverschen ESG sorgen auch weiter für er-<br />

33 LkAH N 147 Nr. 31-32.<br />

34 In e<strong>in</strong>em Brief an Super<strong>in</strong>tendent Badenhop vom 27. Februar 1976 spricht Hermann Bergengruen<br />

von 12 Personalvorschlägen seitens der ESG <strong>in</strong> den zurückliegenden drei Jahren, die<br />

durch das Landeskirchenamt mit wechselnden Begründungen abgelehnt worden seien, LkAH<br />

E 33a Nr. 319. – Zu den seitens der Studentengeme<strong>in</strong>de aufgebotenen Bewerbern zählte auch<br />

Herbert Erch<strong>in</strong>ger, der dem MAK im April 1974 von e<strong>in</strong>em Gespräch mit Landessuper<strong>in</strong>tendent<br />

Dr. Otto Schnübbe berichtete, <strong>in</strong> dem dieser „se<strong>in</strong>e ganzen Aggressionen gegen ESG und Neo-<br />

Marxisten geltend“ gemacht habe, LkAH E 33a Nr. 319.<br />

35 Vgl. den Ausschreibungstext vom 19.12.75, LkAH E 33a Nr. 137: Die ESG Hannover sucht<br />

e<strong>in</strong>e(n) Theolog<strong>in</strong>(en): STUDENTENPFARRERSTELLE. Die ESG versteht sich als politische<br />

und ökumenische Geme<strong>in</strong>de. Ihre Arbeitsschwerpunkte s<strong>in</strong>d z.Zt.: Demokratische Rechte, Glaube<br />

und <strong>Kirche</strong>, Internationales, Ausländerarbeit, Projekte im sozialpolitischen Bereich. Wir<br />

erwarten, daß der Bewerber bereit ist zur Kooperation <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er demokratisch strukturierten<br />

Geme<strong>in</strong>de, daß er se<strong>in</strong> theologisches Wissen, se<strong>in</strong>e Kritik- und Lernfähigkeit e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gt, <strong>in</strong> Frage<br />

stellen läßt und weiterentwickelt.<br />

36 Der diesbezügliche Ordner im Archiv der Studentengeme<strong>in</strong>de trug die schöne Bezeichnung „Popenscheiß“.<br />

Jetzt: LkAH E 33a Nr. 382.<br />

37 Hermann Bergengruen wechselte 1979 nach Sarstedt, kam 1983 <strong>in</strong> den Wartestand und war<br />

zuletzt <strong>in</strong> der <strong>Kirche</strong>ngeme<strong>in</strong>de Ahlem tätig.<br />

115


Karol<strong>in</strong>e Läger-Re<strong>in</strong>bold<br />

hebliche Unruhe: Im Februar 1977 tritt e<strong>in</strong>e Gruppe von 50 iranischen Studenten<br />

der CISNU (Conföderation Iranischer Studenten National Union) im Haus Ludwig-Bruns-Str.<br />

9-11 <strong>in</strong> den Hungerstreik, um gegen das Wirken des iranischen<br />

Geheimdienstes „Savak“ zu protestieren. Von dieser Aktion, aus Sicht der ESG<br />

e<strong>in</strong>e Aktion der demokratischen Opposition <strong>in</strong> der Bundesrepublik gegen das<br />

Schah-Regime im Iran 38 , erfährt Vakanzvertreter Dr. Sprondel aus der Zeitung.<br />

Das Landeskirchenamt macht se<strong>in</strong> Hausrecht geltend und bemüht sich gleichzeitig<br />

um e<strong>in</strong> Gespräch. Die Studenten brechen den Hungerstreik nach rund 100<br />

Stunden mit dem H<strong>in</strong>weis ab, dass ihre Forderungen bereits überregional Beachtung<br />

gefunden hätten. 39<br />

Mit Schreiben des Landeskirchenamts vom 16. März 1977 wird dem MAK mitgeteilt,<br />

dass das Büro der ESG nur noch den Vakanzvertretern zur Verfügung<br />

stehe und e<strong>in</strong>e Nutzung der Räume nur noch mit ihrer Zustimmung möglich<br />

sei. Aus der leer stehenden Pfarrdienstwohnung, <strong>in</strong> der nach wie vor e<strong>in</strong>e studentische<br />

Wohngeme<strong>in</strong>schaft besteht, wird das Telefon entfernt. Der MAK ruft<br />

daraufh<strong>in</strong> mit Flugblättern zur Unterstützung auf und erklärt: Unsere Arbeit als<br />

ESG Hannover geht weiter, so oder so. 40 Bei e<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>bruchsdiebstahl im ESG-<br />

Büro verschw<strong>in</strong>den Akten und E<strong>in</strong>richtungsgegenstände, die bald darauf unter<br />

Protest zurückgebracht werden. 41 Die Bürotechnik im ESG-Haus mit ihren Möglichkeiten<br />

für Druck und Vervielfältigung der Schriften und Flugblätter war für<br />

die Aktivitäten des MAK von besonderer Bedeutung.<br />

Am 20. März 1977 fi ndet <strong>in</strong> der ESG e<strong>in</strong>e Pressekonferenz der hannoverschen<br />

Bürger<strong>in</strong>itiativen gegen Atomkraftwerke statt, nachdem es am Vortag anlässlich<br />

e<strong>in</strong>er Großdemonstration <strong>in</strong> Grohnde heftigste Zusammenstöße zwischen den<br />

demonstrierenden Atomkraftgegnern, die unter anderem auch vom Kommunistischen<br />

Bund Westdeutschland (KBW) unterstützt wurden, und e<strong>in</strong>em massiven<br />

Aufgebot an Polizeikräften gegeben hatte. 42 Die Hannoversche Allgeme<strong>in</strong>e Zeitung<br />

spricht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Artikel vom 25. März 1977 von den ideologisch aufgeheizten<br />

Jüngern des <strong>in</strong>zwischen abgehalfterten Studentenpfarrers Bergengruen (…).<br />

Über ihren geistig-politischen Standort gibt es nichts zu rätseln. Das Gastrecht,<br />

das sie am Sonntag (widerrechtlich) dem Kommunistischen Bund Westdeutschlands<br />

zu e<strong>in</strong>er Pressekonferenz gewährten, und die kommunistischen Parolen,<br />

mit denen die Wände <strong>in</strong> der Studentengeme<strong>in</strong>de überfrachtet s<strong>in</strong>d, lassen Zweifel<br />

38 Epd Nr. 33/77 vom 23.2.1977, LkAH E 33a Nr. 320.<br />

39 Evangelische Zeitung vom 6.3.1977, LkAH E 33a Nr. 319.<br />

40 Freunde, das Landeskirchenamt Hannover will unsere Arbeit zerstören, wir brauchen eure Unterstützung,<br />

22.3.1977, LkAH E 33a Nr. 319.<br />

41 Hannoversche Allgeme<strong>in</strong>e Zeitung vom 25.3.1977, LkAH E 33a Nr. 404.<br />

42 Vgl. Dokumentation Zur Lage der Evangelischen Studenten Geme<strong>in</strong>de Hannover Thomas-Münzer-Haus,<br />

S. 2, LkAH S 9 Nr. 38.<br />

116


Roter Hahn und grüner Fisch<br />

nicht aufkommen. 43 An e<strong>in</strong>e Ause<strong>in</strong>andersetzung auf der Sachebene war auf diesem<br />

H<strong>in</strong>tergrund nicht mehr zu denken.<br />

Der MAK <strong>in</strong>dessen plant se<strong>in</strong> Programm für das Sommersemester, <strong>in</strong> dem für den<br />

26. Mai 1977 um 19 Uhr e<strong>in</strong> „Thomas-Münzer-Fest“ 44 angekündigt ist: Das Haus<br />

der ESG <strong>in</strong> der Ludwig-Bruns-Straße soll getauft werden. Das Landeskirchenamt<br />

erklärt sofort, dass dieser Namensgebung nicht zugestimmt werden kann;<br />

der Standpunkt der <strong>Kirche</strong>nleitung wird den ESG-Vertretern am 3. Mai 1977 <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Gespräch erläutert. Gleichzeitig wird mitgeteilt, dass die Absicht besteht,<br />

die Pastoren Dr. Wolfgang Günther, Dieter Meyer sowie den Leiter des Evangelischen<br />

Jugendzentrums <strong>in</strong> L<strong>in</strong>den, Pastor Peter Licht, zum 1. August 1977 zu<br />

Studentenpfarrern zu ernennen. Die neuen Studentenpfarrer hoffen, so heißt es <strong>in</strong><br />

der Mitteilung des Landeskirchenamtes, mit dieser Konstruktion der Dezentralisierung<br />

die verschiedenen E<strong>in</strong>zugsbereich [sic] der Hochschulen besser erfassen<br />

und unterschiedlich ausgerichtete Schwerpunkte anbieten zu können. Zugleich<br />

wollen sie versuchen, durch e<strong>in</strong>e engere Verb<strong>in</strong>dung von Studentengeme<strong>in</strong>- [sic]<br />

und Ortsgeme<strong>in</strong>de beziehungsweise Jugendarbeit e<strong>in</strong> gegenseitiges Verständnis<br />

zu fördern. 45 An diesem Punkt bricht der MAK das Gespräch ab.<br />

Der Konfl ikt erreicht se<strong>in</strong>en Höhepunkt, als die „Taufe“ des Hauses Ludwig-<br />

Bruns-Str. 9-11 zum vorgesehenen Term<strong>in</strong>, dem Vorabend des 452. Todestags<br />

des Thomas Müntzer, nach kirchlichem Ritus vollzogen wird – im Gedenken an<br />

den großen Sohn der <strong>Kirche</strong>, der sich im Bauernkrieg im 16. Jahrhundert auf die<br />

Seite der Unterdrückten stellte. 46 Die Feier der Namensgebung „Thomas-Münzer-Haus“<br />

mit Gebet, Schriftlesung und Segen wurde von mehreren Pastoren, die<br />

der AKiG (Aktionsgeme<strong>in</strong>schaft <strong>Kirche</strong> <strong>in</strong> der Gesellschaft) 47 angehörten sowie<br />

e<strong>in</strong>em Vertreter des Mitarbeiterkreises vorgenommen – dass die vom Landeskirchenamt<br />

benannten Vakanzvertreter nicht dabei s<strong>in</strong>d, kann nicht überraschen. 48<br />

Herbert Erch<strong>in</strong>ger, Studentenpfarrer <strong>in</strong> Braunschweig, beg<strong>in</strong>nt se<strong>in</strong>e Ansprache<br />

mit den Worten: Dies ist hier e<strong>in</strong> bißchen e<strong>in</strong>e schwierige Geschichte. (…) Zuerst<br />

habe ich e<strong>in</strong> bißchen e<strong>in</strong>en Schreck bekommen, als ich hörte, daß ihr Freunde aus<br />

43 Hannoversche Allgeme<strong>in</strong>e Zeitung vom 25.3.1977, LkAH E 33a Nr. 404.<br />

44 Die Schreibweise des Namens Thomas Müntzer wechselt <strong>in</strong> den Dokumenten zwischen „Münzer“<br />

und „Müntzer“. Sie wird hier quellengetreu wiedergegeben. – Für das komplette Semesterprogramm<br />

s. LkAH E 33a Nr. 405.<br />

45 Epd Nr. 74/77 vom 3.5.1977, S. 7, LkAH E 33a Nr. 319.<br />

46 ESG-Flugblatt vom 22. Juni 1977, LkAH E 33a Nr. 321.<br />

47 Beteiligt war Pastor He<strong>in</strong>rich Gellermann aus der Bethlehem-<strong>Kirche</strong>ngeme<strong>in</strong>de Hannover-L<strong>in</strong>den,<br />

der auch Sprecher der AKiG war. Das Landeskirchenamt verhängte gegen ihn e<strong>in</strong> Amtszuchtsverfahren<br />

und erteilte später e<strong>in</strong>e Warnung (Verfügung des Landeskirchenamts vom 3. April<br />

1978, LkAH E 33a Nr. 384). Anwesend war auch der frühere Osnabrücker Studentenpfarrer<br />

Pastor Velten Seifert, jetzt Vertreter der Bundes-ESG <strong>in</strong> Stuttgart. – Zur AKiG siehe auch den<br />

Beitrag von Mart<strong>in</strong> Cordes <strong>in</strong> diesem Band.<br />

48 Epd Nr. 91/77 vom 27. Mai 1977, LkAH E 33a Nr. 321.<br />

117


Karol<strong>in</strong>e Läger-Re<strong>in</strong>bold<br />

Hannover neben allen Schwierigkeiten, die ihr sonst noch habt, neben Pfarrstellenbesetzungen,<br />

Bürosperrungen usw. Euer Haus Thomas Münzer-Haus nennen<br />

wolltet. Aber dann habe ich, als ich mich damit beschäftigte, doch gemerkt, daß<br />

das e<strong>in</strong>e wichtige Sache ist, denn so wie e<strong>in</strong> Psychotherapeut e<strong>in</strong>em Patienten<br />

e<strong>in</strong> frühk<strong>in</strong>dliches Erlebnis bewußtmacht und ihm dadurch hilft, so ist glaube ich<br />

für unsere <strong>Kirche</strong> da etwas <strong>in</strong> der frühk<strong>in</strong>dlichen Phase schiefgelaufen, nämlich<br />

<strong>in</strong> der Ause<strong>in</strong>andersetzung mit Thomas Münzer. 49 Im Folgenden werden Berührungspunkte<br />

zwischen der Arbeit der ESG und der Theologie Müntzers aufgezeigt:<br />

Wir verkünden auch den bitteren Christus, wenn wir uns gegen die Foltermethoden<br />

der Savak wenden, wenn wir uns mit Chile solidarisieren, wenn wir<br />

gegen Berufsverbote und gegen Unrecht und Unterdrückung <strong>in</strong> unserem Land<br />

kämpfen. Gleichzeitig wird davor gewarnt, dem Hitzkopf Müntzer nachzueifern:<br />

Er hat die Konfl ikte bewußt eskaliert. Seid nur Keck! Das kann ich, auch gerade<br />

zu Euch Freunden <strong>in</strong> der ESG Hannover nciht [sic] nachsprechen. Sondern ich<br />

me<strong>in</strong>e, daß wir nüchtern unsere realen Kräfte e<strong>in</strong>schätzen sollten und daß wir<br />

genau wissen sollten, was wir leisten können und was wir nicht leisten können.<br />

(…) Ich sehe bei Thomas Münzer e<strong>in</strong>e Unfähigkeit zum Kompromiß, und ich<br />

me<strong>in</strong>e, daß wir bei aller Radikalität auch reale E<strong>in</strong>schätzung der Möglichkeiten<br />

und Kompromißfähigkeit lernen sollten. 50<br />

Die Umbenennung des Hauses wird durch Vertreter der Landeskirche wie Landessuper<strong>in</strong>tendent<br />

Dr. Otto Schnübbe und den Vorsitzenden des Landessynodalausschusses,<br />

Super<strong>in</strong>tendent Hartmut Badenhop, umgehend und entschieden<br />

abgelehnt. Der Namenszug, <strong>in</strong> roter Farbe gehalten, wird noch vor dem bevorstehenden<br />

Pfi ngstfest entfernt. Das Haus wird dann am 31. Mai 1977 durch Vertreter<br />

des Landeskirchenamts geschlossen. In e<strong>in</strong>em Flugblatt des MAK vom 1.<br />

Juni 1977 heißt es: Gegen all diese Schikanen haben wir unsere Arbeit fortgesetzt,<br />

weil uns wichtig ist, daß Atomenergie und der Widerstand dagegen gründlich<br />

weiter diskutiert wird; weil wir uns <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Situation, <strong>in</strong> der die Bundesrepublik<br />

die Grundrechte ihrer eigenen Verfassung untergräbt (…), die Diskussion<br />

darüber nicht verbieten lassen; weil wir die Fragen zu Theologie und <strong>Kirche</strong><br />

diskutieren, die unserem Interesse entsprechen; weil die Diskrim<strong>in</strong>ierung ausländischer<br />

Studenten solidarische Unterstützung für sie notwendig macht. Wegen<br />

dieser Arbeit greift uns dieses Landeskirchenamt an, die <strong>Kirche</strong>nfunktionäre aus<br />

der Roten Reihe setzen gegen unsere Inhalte ihren studentenfe<strong>in</strong>dlichen bürokratischen<br />

Machtapparat. 51<br />

49 Herbert ERCHINGER: Ansprache <strong>in</strong> der ESG Hannover am 26.5.77, Tonbandnachschrift, LkAH<br />

N 147 Nr. 31. Die Ansprache wurde auch dokumentiert <strong>in</strong> dia 3/1977, S.36-43, LkAH E 33a Nr.<br />

321.<br />

50 Erch<strong>in</strong>ger (wie Anm. 49).<br />

51 ESG-Flugblatt vom 1. Juni 1977, LkAH E 33a Nr. 321.<br />

118


Roter Hahn und grüner Fisch<br />

Am 7. Juni 1977 kehren die Studenten zurück, um e<strong>in</strong>e Veranstaltung über die<br />

„Studentenbewegung <strong>in</strong> Italien“ durchzuführen: Sie verschaffen sich Zutritt zum<br />

Haus, und rund 70 Personen besetzen die ESG <strong>in</strong> der Ludwig-Bruns-Straße.<br />

Das Landeskirchenamt fordert umgehend zur Räumung auf und besteht auf der<br />

Entfernung der erneut angebrachten Aufschrift „Thomas-Münzer-Haus“. Die<br />

Studenten erklären, man werde die Besetzung beenden, wenn zuvor e<strong>in</strong>e Reihe<br />

von Bed<strong>in</strong>gungen erfüllt würden – allem voran die Besetzung der Pfarrstellen<br />

im E<strong>in</strong>vernehmen mit dem MAK. Das Landeskirchenamt erstattet Strafanzeige<br />

gegen unbekannt wegen Hausfriedensbruchs und E<strong>in</strong>bruchs. Am 15. Juni 1977<br />

wird das Haus von den Studenten geräumt – die polizeiliche Räumung wird auf<br />

diese Weise vermieden. 52 Für die Aktiven der alten ESG bleibt das Haus nun<br />

endgültig geschlossen, wogegen sich auf breiter Front Protest erhebt, auch über<br />

die Grenzen der Landeskirche h<strong>in</strong>aus.<br />

E<strong>in</strong>e Woche später fi nden sich über Nacht die Schlüssellöcher an den Türen des<br />

Landeskirchenamts verstopft. Zwölf rote Hähne prangen am Landeskirchenamt,<br />

weitere Hähne an <strong>in</strong>sgesamt 22 <strong>Kirche</strong>n und kirchlichen Gebäuden. Die Jakobi-<br />

und die Aegidienkirche s<strong>in</strong>d zusätzlich mit der Aufschrift „Thomas-Müntzer-<strong>Kirche</strong>“<br />

versehen. 53 In e<strong>in</strong>er „Bekanntmachung“ vom 22. Juni 1977 erklärt<br />

die ESG <strong>in</strong> Adaption kirchenamtlicher Rhetorik: In Erwägung, daß das LKA<br />

ohneh<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>richtung geworden ist, die von den <strong>Kirche</strong>nmitgliedern lediglich<br />

Steuern e<strong>in</strong>treibt, ohne ihnen zu nutzen, haben wir uns daher nach reiflichen<br />

[sic] Überlegen entschlossen, das LKA mit Wirkung vom 22. Juni 1977<br />

zu schließen und es so aus se<strong>in</strong>er politischen Engführung herauszuführen. Das<br />

LKA ist heute früh versiegelt worden, und zur Bekanntmachung s<strong>in</strong>d Rote Hähne<br />

– das Symbol der ESG – an den <strong>Kirche</strong>n Hannovers angebracht worden.<br />

Wir bedauern diese Maßnahme ausdrücklich, die alle<strong>in</strong> durch das une<strong>in</strong>sichtige<br />

Verhalten des LKA notwendig geworden ist und fordern das LKA auf, nunmehr<br />

endgültig auf se<strong>in</strong>em verderblichen Weg umzukehren. Wir weisen ausdrücklich<br />

darauf h<strong>in</strong>, daß wir andernfalls auch die Zweckbestimmung des Hauses ändern<br />

werden. In diesem Fall würde die Arbeit des LKA <strong>in</strong> Hannover räumlich auf<br />

andere Weise sichergestellt. Wir erklären jedoch, daß wir auf e<strong>in</strong>e Strafanzeige<br />

wegen widerrechtlicher Besetzung des Thomas-Münzer-Hauses verzichten<br />

werden, da wir e<strong>in</strong> solches Mittel der kirchlichen Ause<strong>in</strong>andersetzung für nicht<br />

adäquat halten. 54<br />

52 Über die Frage e<strong>in</strong>es Polizeie<strong>in</strong>satzes hatte es bereits Gespräche zwischen dem Präsidenten des<br />

Landeskirchenamts, Dr. Johann Frank, und Regierungsdirektor Dr. M<strong>in</strong>nier, dem Vertreter des<br />

Polizeipräsidenten gegeben, s. landeskirchenamts<strong>in</strong>terner Vermerk vom 15. Juni 1977, LkAH N<br />

147 Nr. 31.<br />

53 Vgl. Berichterstattung der Hannoverschen Allgeme<strong>in</strong>en Zeitung vom 23.06.1977, LkAH N 147<br />

Nr. 31.<br />

54 LkAH E 33a Nr. 321.<br />

119


Karol<strong>in</strong>e Läger-Re<strong>in</strong>bold<br />

Das Ausmaß der Entrüstung und Verstörung unter den Mitgliedern und Mitarbeitenden<br />

des LKA war erheblich. Hans-Joachim Rauer schreibt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Er<strong>in</strong>nerungen<br />

an diese Zeit:<br />

Was hier mit dürren Worten referiert wird, hat uns alle sehr aufgeregt, wirkte<br />

selbst <strong>in</strong> jenen Jahren, da 1968 noch nicht allzu sehr zurücklag, sehr weitgehend.<br />

Auch darf der zeitliche Zusammenhang, <strong>in</strong> dem das geschah, nicht übersehen<br />

werden. Das Jahr 1977 war unruhig. Die Ermordung des Generalbundesanwalts<br />

Siegfried Buback, des leitenden Bankiers Jürgen Ponto und des Präsidenten der<br />

Deutschen Arbeitgeberverbände Hanns Mart<strong>in</strong> Schleyer wie der Selbstmord der<br />

zu lebenslanger Haft verurteilten RAF-Mitglieder <strong>in</strong> Stuttgart-Stammheim bestimmten<br />

das Klima <strong>in</strong> Deutschland. Und nun konnten die Mitarbeiter des Landeskirchenamts<br />

morgens ihre Dienststelle nicht betreten! Wann hatte es das je<br />

gegeben? Das war weit weniger, und doch gehörte es <strong>in</strong> den allgeme<strong>in</strong>en Zusammenhang.<br />

55<br />

Die Arbeitsbed<strong>in</strong>gungen der neuen Studentenpfarrer – Dr. Wolfgang Günther,<br />

Dieter Meyer und Peter Licht – waren also denkbar ungünstig. Der MAK akzeptiert<br />

die Pastoren nicht und formiert sich unter dem Zeichen des roten Hahns 56<br />

mit der Kontaktadresse „M.(echthild) Menge, Lärchenstr. 7“ zur autonomen<br />

ESG. So bestehen im Sommer 1977 <strong>in</strong> Hannover plötzlich zwei Studentengeme<strong>in</strong>den.<br />

57 Mit e<strong>in</strong>er „Dokumentation Zur Lage der Evangelischen Studenten<br />

Geme<strong>in</strong>de Hannover Thomas-Münzer-Haus“ 58 , die zum Solidaritätspreis von<br />

3 DM verkauft wird, veröffentlicht die alte ESG die e<strong>in</strong>schlägigen Flugblätter,<br />

Texte und Zeitungsartikel, <strong>in</strong>klusive der Schreiben des Landeskirchenamts.<br />

Die Organisationsform der autonomen ESG ist für die Landeskirche kaum zu<br />

durchschauen, man bleibt nach außen anonym und achtet auf Abstand. 59 Pas-<br />

55 Rauer (wie Anm. 1), S. 196f.<br />

56 Zur Geschichte des roten Hahns vgl. Dieter WACKERBARTH: Der ESG-Hahn, <strong>in</strong>: ansätze<br />

6/2008, S. 1-7 (http://www.bundes-esg.de/downloads/ansaetze/ansaetze_2008-6.pdf).<br />

57 Auch <strong>in</strong> Marburg konstituierte sich nach Ause<strong>in</strong>andersetzungen mit der Landeskirche 1979 e<strong>in</strong>e<br />

autonome ESG, s. dazu He<strong>in</strong>z-Werner KUBITZA: Geschichte der Evangelischen Studentengeme<strong>in</strong>de<br />

Marburg, Marburger Wissenschaftliche Beiträge 1, Marburg 1992, S. 298ff.<br />

58 Enthalten <strong>in</strong> LkAH S 9 Nr. 38; LkAH E 33a Nr. 321 und Nr. 406.<br />

59 Vgl. den Bericht des Landeskirchenamts, 19. Landessynode (wie Anm. 10), S. 224: „Der Mitarbeiterkreis<br />

der ESG, dessen Zusammensetzung oder Abgrenzung dem Landeskirchenamt nicht<br />

bekannt ist (…).“ – Dazu das Votum des Synodalen Malte Haupt, später als Pastor der Friedenskirchengeme<strong>in</strong>de<br />

unmittelbarer Nachbar der ESG, ebd. S. 236: Wer da als Vertreter der alten<br />

ESG auftritt, vertritt nur sich selber und e<strong>in</strong>en selbsternannten Mitarbeiterkreis ohne jede Legitimation.<br />

Das müßte auch <strong>in</strong> der Öffentlichkeit, me<strong>in</strong>e ich, noch stärker herausgestellt werden,<br />

damit ke<strong>in</strong>e Verwirrung entsteht“ Vizepräsident Meyer, ebd. S. 247: wir wussten, solange e<strong>in</strong><br />

Studentenpfarrer im Amt war hier <strong>in</strong> Hannover, daß er wußte, wer zum Mitarbeiterkreis gehörte,<br />

und haben uns um die Abgrenzung nicht weiter gekümmert. Von dem Tage an, als er nicht mehr<br />

120


Roter Hahn und grüner Fisch<br />

tor Meyer berichtet dem Landeskirchenamt von Störaktionen: der von ihm neu<br />

gegründete Ausländerkreis habe Besuch von sechs Studenten erhalten, darunter<br />

e<strong>in</strong> Mitglied des alten MAK. Auf die Frage nach ihren Namen hätten sie sich als<br />

„Albert E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>“ und „Thomas Münzer“ vorgestellt und versucht, den Kreis zu<br />

sprengen, der sich jedoch zu Pastor Meyer gehalten habe. 60<br />

Nicht nur der Mitarbeiterkreis, auch die Kollegen im Studentenpfarramt halten<br />

zur Landeskirche Distanz. Auf der Ebene der Bundes-ESG <strong>in</strong> Stuttgart wird, wie<br />

das Landeskirchenamt feststellt, den neuen Studentenpfarrern <strong>in</strong> Hannover gegenüber<br />

weiterh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e große Zurückhaltung geübt 61 – ihr neuer Generalsekretär<br />

ist der <strong>in</strong> Osnabrück gerade abgelöste Studentenpfarrer Velten Seifert. Die Regionalkonferenz<br />

der Evangelischen Studentengeme<strong>in</strong>den Niedersachsen/Bremen<br />

stellt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Schreiben an die drei hannoverschen Studentenpfarrer plakativ<br />

fest: Sie verweigern das Gespräch mit der Regionalkonferenz. Sie haben sich<br />

gegen den Willen der Studentengeme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> Hannover e<strong>in</strong>setzen lassen. Sie bauen<br />

e<strong>in</strong>e Gruppe gegen die Evangelische Studentengeme<strong>in</strong>de auf. (...) Sie s<strong>in</strong>d<br />

an e<strong>in</strong>er Zusammenarbeit mit den Geme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> der Region nicht <strong>in</strong>teressiert. 62<br />

Mit e<strong>in</strong>em Gottesdienst im Evangelischen Jugendzentrum L<strong>in</strong>den am 18. Oktober<br />

1977 werden die neuen Studentenpfarrer durch Landesbischof D. Eduard<br />

Lohse <strong>in</strong> ihr Amt e<strong>in</strong>geführt. Die landeskirchliche ESG, deren Logo bald die<br />

Buchstaben ESG <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>es grünen Fisches 63 werden, versucht e<strong>in</strong>en Neubeg<strong>in</strong>n<br />

und ist gleichzeitig durchaus bemüht, den Kontakt zu den Vertretern der alten,<br />

jetzt autonomen ESG zu halten. Oberlandeskirchenrat Rauer, seit April 1977<br />

als Dezernent im Landeskirchenamt für die Studentengeme<strong>in</strong>den zuständig, berichtet<br />

der neu konstituierten 19. Landessynode im November 1977 vom Stand<br />

der D<strong>in</strong>ge: Die neuen Studentenpfarrer haben immer wieder ihre Bereitschaft<br />

zu Gesprächen mit den Mitgliedern des ehemaligen Mitarbeiterkreises erklärt,<br />

ohne daß diese Bereitschaft bisher aufgenommen worden wäre. Die Angehörigen<br />

des bisherigen Mitarbeiterkreises lehnen nach wie vor jede Zusammenarbeit<br />

mit den neuen Studentenpfarrern ab. Der ehemalige Mitarbeiterkreis hat e<strong>in</strong> eigenes<br />

Semesterprogramm herausgegeben und beansprucht dar<strong>in</strong>, weiterh<strong>in</strong> die<br />

ESG Hannover zu vertreten. 64 Der Synodale Dr. Axel von Campenhausen stellt<br />

<strong>in</strong> der folgenden Aussprache fest: Es ist ganz klar, Herr Oberlandeskirchenrat<br />

amtierte, bekamen wir die Schreiben des Kreises selten mit e<strong>in</strong>er Unterschrift, meist ohne Unterschrift.<br />

(…) Es wurde nicht geklärt, wer zum Mitarbeiterkreis gehörte, und es ergab sich e<strong>in</strong>e<br />

immer wechselnde Zusammensetzung.<br />

60 Landeskirchenamts<strong>in</strong>terner Vermerk von Vizepräsident Meyer vom 27. Juni 1977, LkAH N 147<br />

Nr. 31.<br />

61 19. Landessynode (wie Anm. 10), S. 226.<br />

62 Schreiben der Regionalkonferenz (Renate Kallweit) vom 1.10.77, LkAH E 33a Nr. 405.<br />

63 Vgl. das (rote) Fisch-Logo der ESG Marburg, www.esg-marburg.de.<br />

64 19. Landessynode (wie Anm. 10), S. 225.<br />

121


Karol<strong>in</strong>e Läger-Re<strong>in</strong>bold<br />

Rauer, daß es nach dem, was Sie gesagt haben, e<strong>in</strong>e Evangelische Studentengeme<strong>in</strong>de<br />

<strong>in</strong> Hannover gibt und nur e<strong>in</strong>e zu Recht sich so nennen kann. Das<br />

hat auch fi nanzielle Auswirkungen, wobei man nicht knieweich werden darf. (...)<br />

Wir bitten das Landeskirchenamt, e<strong>in</strong>e feste Hand zu haben 65 – e<strong>in</strong>e Forderung,<br />

die sich nicht zuletzt gegen jene Stimmen richtet, die die Verb<strong>in</strong>dung zur autonomen<br />

ESG nicht völlig abbrechen wollen. In der sich anschließenden Debatte<br />

wird deutlich: es geht um tiefergreifende Fragen, es geht um das Verhältnis von<br />

Religion und Politik, von Staat und <strong>Kirche</strong> <strong>in</strong> der noch jungen Bundesrepublik,<br />

um das Mite<strong>in</strong>ander von „l<strong>in</strong>ks“ und „rechts“, von K<strong>in</strong>der- und Elterngeneration,<br />

von traditioneller und moderner Geme<strong>in</strong>dekonzeption. Super<strong>in</strong>tendent Badenhop<br />

macht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Votum deutlich, dass man von e<strong>in</strong>fachen Lösungen weit<br />

entfernt ist: (…) mit der festen Hand (…) ist es nicht getan. (…) Die Unbequemlichkeit<br />

wird also bleiben, und wir werden sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Ausschuß wieder auf<br />

uns nehmen müssen. 66 Der Synodale Prof. Wilhelm Fahlbusch, Prorektor und<br />

später Rektor der Evangelischen Fachhochschule Hannover, weist auf die fatale<br />

Außenwirkung h<strong>in</strong>: Ich sehe nur, daß es e<strong>in</strong>e gespaltene Studentengeme<strong>in</strong>de<br />

hier <strong>in</strong> Hannover gibt und daß diese Tatsache, daß diese beiden Gruppen der<br />

gespaltenen Studentengeme<strong>in</strong>de auftreten und ihre Veranstaltungen a[n]bieten,<br />

Verwirrung unter den Studenten schafft. Hier gilt es, so me<strong>in</strong>e ich, Schaden von<br />

der <strong>Kirche</strong> abzuwenden. Hier gilt es aber auch zu verh<strong>in</strong>dern, daß junge Menschen<br />

e<strong>in</strong>e Neurose gegen die verfaßte <strong>Kirche</strong> entwickeln, die dann letzten Endes<br />

zur völligen Abkehr führt. 67 Die autonome ESG schließlich er<strong>in</strong>nert mit e<strong>in</strong>em<br />

Flugblatt zur Synodentagung daran, dass siebzig hannoversche Hochschullehrer<br />

(…) die ESG bezeichnen als ‚e<strong>in</strong>e Stätte, <strong>in</strong> der brennende gesellschaftliche Fragen<br />

offen diskutiert werden, Fragen, die e<strong>in</strong>er <strong>Kirche</strong>, die an die Erniedrigten<br />

und Beleidigten verwiesen ist, nicht gleichgültig se<strong>in</strong> können‘. 68<br />

Der Versuch, die Ause<strong>in</strong>andersetzungen auf e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltliche oder theologische<br />

Ebene zu heben, löst e<strong>in</strong>e aus heutiger Sicht rührend anmutende Debatte über<br />

Person und Theologie Thomas Müntzers aus. In e<strong>in</strong>er „dia“-Ausgabe 69 dokumentiert<br />

die Landeskirche ihrerseits das Geschehen und zitiert Spitzensätze aus<br />

Müntzers Schriften. Doch wem geht es tatsächlich um den Theologen Müntzer? 70<br />

Der Gött<strong>in</strong>ger Theologieprofessor Götz Harbsmeier, Mitglied der 18. Landessy-<br />

65 19. Landessynode (wie Anm. 10), S. 228.<br />

66 19. Landessynode (wie Anm. 10), S. 234.<br />

67 19. Landessynode (wie Anm. 10). S. 239.<br />

68 LkAH S 9 Nr. 38.<br />

69 Daten, Informationen, Argumente: dia 3/1977, LkAH E 33a Nr. 321. Dia, später: Dialog, ist die<br />

von der Pressestelle herausgegebene Zeitschrift für die Mitarbeitenden <strong>in</strong> der hannoverschen<br />

Landeskirche.<br />

70 E<strong>in</strong>e Diskussionsveranstaltung über Müntzer im November 1977, bei der Vertreter der „alten“ wie<br />

der landeskirchlichen ESG sowie des Landeskirchenamts zugegen waren, verlief nach Ansicht der<br />

Presse enttäuschend, Hannoversche Allgeme<strong>in</strong>e Zeitung vom 8.11.77, LkAH E 33a Nr. 405.<br />

122


Roter Hahn und grüner Fisch<br />

node, schreibt: Das Komische liegt (...) dar<strong>in</strong>, daß man von <strong>Kirche</strong> wegen die<br />

Nerven zu verlieren droht, wenn e<strong>in</strong>e Studentengeme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> der Stadt Hannover<br />

ausgerechnet Thomas Müntzer zum protestantischen Schutzpatron ihres Hauses<br />

ernennen will. Auch das ist natürlich unvere<strong>in</strong>bar mit dem Evangelium. Und<br />

ebenso unvere<strong>in</strong>bar mit dem Evangelium ist die dezidierte Humorlosigkeit im<br />

Umgang mit solchen Studenten, die im Zweifel von diesem Müntzer nicht mehr<br />

wissen, als dass es mal rote Mode war, den Veteran des Bauernkrieges und den<br />

Großvater aller Revolutionen der Neuzeit ähnlich als Person zu verkulten, wie<br />

das schon immer blutige Aufbrüche getan haben. Das ist sehr konservativ. 71<br />

Auch die Wochenzeitung „DIE ZEIT“ kommentiert am 17. Juni 1977 die Situation:<br />

Obwohl die Amtskirche es energisch bestreitet, läßt sich die Evangelische<br />

Studentengeme<strong>in</strong>de nicht davon abbr<strong>in</strong>gen, daß der Streit um das Münzer-Haus<br />

lediglich als Vorwand herhalten müsse, um die Studenten des von ihnen beanspruchten<br />

politischen Mandats zu berauben. In der Tat hat Pastor Isermann, der<br />

Pressesprecher des <strong>Kirche</strong>namts, die Katze aus dem Sack gelassen: Man müsse<br />

die ‚politische Engführung‘ der studentischen Arbeit aufheben. Kurzum, die<br />

Evangelischen Studentengeme<strong>in</strong>den s<strong>in</strong>d der <strong>Kirche</strong> – hier und anderswo – zu<br />

l<strong>in</strong>ks. Man ist zwar immer noch stolz auf den Widerstand, den sie <strong>in</strong> der Nazi-Zeit<br />

geleistet haben, aber will ihnen nicht verzeihen, daß sie sich seit der Studentenrevolte<br />

vor zehn Jahren auf die Seite der L<strong>in</strong>ksradikalen geschlagen haben. 72<br />

Mit e<strong>in</strong>em geme<strong>in</strong>samen Gottesdienst zum Semesterschluss <strong>in</strong> der Friedenskirche<br />

Hannover versucht der Berl<strong>in</strong>er Altbischof D. Kurt Scharf im Juli 1978 e<strong>in</strong><br />

Zeichen der Versöhnung zu setzen. 73 E<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Gottesdienstvorbereitung<br />

gehört ebenso dazu wie Lesung e<strong>in</strong>es Schuld- und Verständigungsbekenntnisses.<br />

74 Nachhaltig war dies offenbar noch nicht. Am 29. März 1979 berichtet die<br />

Evangelische Zeitung: Unabhängige ESG-Gruppe eröffnete Laden <strong>in</strong> der Asternstraße:<br />

Der ‚rote Hahn‘ kräht vor der Uni. Mit der Unterstützung e<strong>in</strong>es 1978<br />

eigens gegründeten Freundeskreises 75 führt e<strong>in</strong> Teil des ehemaligen MAK die<br />

durch gesellschaftspolitisches Engagement geprägte Arbeit weiter. Auch der<br />

Arbeitsausschuss der Evangelischen Studentengeme<strong>in</strong>den der Bundesrepublik<br />

Deutschland und Berl<strong>in</strong> (W), der als Kontaktadresse die Geschäftsstelle der<br />

Bundes-ESG <strong>in</strong> Stuttgart angibt, fordert die Studentengeme<strong>in</strong>den bundesweit zur<br />

71 Götz HARBSMEIER: Christusglaube oder Personenkult <strong>in</strong> der <strong>Kirche</strong>, Junge <strong>Kirche</strong> 38/1977, S.<br />

437 (Hervorhebung im Orig<strong>in</strong>al).<br />

72 LkAH N 147 Nr. 31.<br />

73 Bergengruen (wie Anm. 4), S. 61.<br />

74 Epd Nr. 113/78, LkAH E 33a Nr. 406.<br />

75 „Vere<strong>in</strong> der Freunde und Förderer der ESG Hannover (Freundeskreis der ESG)“, 10.7.78, LkAH<br />

E 33a Nr. 406. Zu den Initiatoren gehörte He<strong>in</strong>rich Gellermann sowie weitere Pastoren der<br />

AKiG; unter den Mitgliedern waren auch Angehörige der Universität.<br />

123


Karol<strong>in</strong>e Läger-Re<strong>in</strong>bold<br />

fi nanziellen Unterstützung des „Geme<strong>in</strong>dezentrums“ <strong>in</strong> der Asternstr. 16 auf. 76<br />

E<strong>in</strong>e Annäherung von autonomer und landeskirchlicher ESG sche<strong>in</strong>t unter diesen<br />

Bed<strong>in</strong>gungen kaum möglich. Pastor Dieter Meyer schildert mit e<strong>in</strong>em Schreiben<br />

vom 16. Juli 1979 die Situation: Allgeme<strong>in</strong> ist zum Verhältnis zur anderen<br />

Gruppe zu sagen: Wir Studentenpfarrer und später der neue Mitarbeiterkreis<br />

haben (…) wiederholt Zusammenarbeit (…) angeboten und s<strong>in</strong>d nach wie vor zu<br />

e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>samen Arbeit bereit. Wir haben uns unlängst auch für e<strong>in</strong>en weiteren<br />

Pfarrer e<strong>in</strong>gesetzt, der auch das Vertrauen der ESG-Asternstraße hat (wirkungsvoller<br />

wäre allerd<strong>in</strong>gs sicher e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>samer Antrag). Wenn das alles der<br />

Asternstraße aber als nicht genug ersche<strong>in</strong>t, können und wollen wir ihr ke<strong>in</strong>e<br />

Zusammenarbeit aufnötigen. Ich möchte aber deutlich machen, daß <strong>in</strong> Hannover<br />

andere Wege möglich gewesen wären und noch s<strong>in</strong>d, als sie z. Zt. beschritten<br />

werden. Andererseits wäre es schon e<strong>in</strong> Fortschritt, wenn wir aus e<strong>in</strong>er unfruchtbaren<br />

Konfrontation zu e<strong>in</strong>er friedlichen Koexistenz kämen. 77<br />

Mit der E<strong>in</strong>richtung e<strong>in</strong>er Filiale an der Lutherkirche im Jahre 1981 sucht auch<br />

die landeskirchliche ESG die räumliche Nähe zur Universität <strong>in</strong> der Nordstadt. 78<br />

Die autonome ESG verlegt ihren Sitz im Frühjahr 1983 <strong>in</strong> die Hahnenstr. 12. 79<br />

Beide Studentengeme<strong>in</strong>den bestehen jahrelang nebene<strong>in</strong>ander, und oft wird der<br />

Zufall darüber bestimmt haben, wo <strong>in</strong>teressierte Studenten und Student<strong>in</strong>nen ihren<br />

Anlaufpunkt fanden. 80<br />

5. Besondere Aufgaben und bleibende Fragen<br />

Unter dem Titel „Evangelium – <strong>Kirche</strong> – Institution“ fand im März 1979 <strong>in</strong> Loccum<br />

e<strong>in</strong>e Tagung statt, die Teilnehmer und Teilnehmer<strong>in</strong>nen unterschiedlicher<br />

Herkunft zum offenen Gespräch im geschützten Raum der Evangelischen Akademie<br />

zusammenführte: Hochschullehrer und Vertreter der Universität, Mitglieder<br />

des Rates der EKD, Mitglieder e<strong>in</strong>er von der EKD-Synode berufenen Gruppe<br />

für Angelegenheiten der ESG 81 , der Landessynodalausschuss der hannoverschen<br />

Landeskirche sowie Vertreter der ESG-Gremien und Studentengeme<strong>in</strong>den. Der<br />

76 Schreiben vom 15. Mai 1979, LkAH E 33a Nr. 384.<br />

77 LkAH N 147 Nr. 32. – Vgl. auch Schreiben des Mitarbeiterkreises vom 4. Mai 1979 an das Landeskirchenamt,<br />

LkAH E 33a Nr. 135; Thesen zu e<strong>in</strong>er eventuellen Aufnahme von Gesprächen<br />

mit der ESG/ Asternstraße, 19. Juni 1980, LkAH E 33a Nr. 406.<br />

78 Vgl. dazu <strong>in</strong>terne Vermerke der ESG aus dem Jahr 1983, E 33a Nr. 137.<br />

79 LkAH E 33a Nr. 406.<br />

80 Vgl. epd Nr. 67/81 vom 8.4.1981: Verwirrung für Neul<strong>in</strong>ge: Wo ist die Studentengeme<strong>in</strong>de?,<br />

LkAH E 33a Nr. 321.<br />

81 Auch die EKD-Synode hatte e<strong>in</strong>e Kommission e<strong>in</strong>gesetzt, die die Situation der Studentengeme<strong>in</strong>de<br />

untersuchen sollte. Vgl. dazu Gerhard ISERMANN: In Spannungen e<strong>in</strong>s bleiben. Welche<br />

ESG soll gelten?, <strong>in</strong>: LM 12/1981, S. 662-663, LkAH E 33a Nr. 406.<br />

124


Roter Hahn und grüner Fisch<br />

Tagungsband dokumentiert die unterschiedlichen Zugänge der Teilnehmenden.<br />

Präses i.R. D. Hans Thimme weist <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en abschließenden Bemerkungen auf<br />

fünf Bereiche h<strong>in</strong>, <strong>in</strong> denen die Diskussion fortzusetzen wäre 82 : 1. die Wahrnehmung<br />

der Situation an den Hochschulen durch die <strong>Kirche</strong>, 2. die Situation<br />

der Studenten, 3. die Lage des Studentenpfarrers. Hierzu schreibt Thimme: Er<br />

befi ndet sich (…) gewissermaßen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Vorpostensituation besonderer Art<br />

und bedarf deswegen dr<strong>in</strong>glich der tragenden Hilfe des Verständnisses und des<br />

Vertrauens se<strong>in</strong>er Landeskirche. (…) Es muß verh<strong>in</strong>dert werden, daß e<strong>in</strong> Studentenpfarrer<br />

<strong>in</strong> der exponierten Situation se<strong>in</strong>es Dienstes an der Hochschule<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Zwielicht gerät, das sich allzuleicht auch daraus ergeben kann, daß<br />

se<strong>in</strong>e Sondersituation nicht h<strong>in</strong>reichend verstanden und gewürdigt wird. 83 Unter<br />

4. wird die Studentengeme<strong>in</strong>de beschrieben als Geme<strong>in</strong>de Jesu Christi an der<br />

Hochschule. Das schließt auf der e<strong>in</strong>en Seite e<strong>in</strong> unheimliches Risiko und auf der<br />

anderen Seite e<strong>in</strong>e große Chance e<strong>in</strong>. Mit der Situation e<strong>in</strong>er Ortsgeme<strong>in</strong>de ist<br />

die Studentengeme<strong>in</strong>de kaum vergleichbar. In der ökumenischen Diskussion hat<br />

man im Unterschied zur Parochialgeme<strong>in</strong>de zur Kennzeichnung ihrer Sonderexistenz<br />

den Begriff der Parageme<strong>in</strong>de e<strong>in</strong>geführt. Wichtig ist, daß der Studentengeme<strong>in</strong>de<br />

<strong>in</strong> dieser Lage e<strong>in</strong> besonderer Freiraum des Experimentierens und<br />

des Wagnisses zugestanden wird. 84 Schließlich wird 5. die Notwendigkeit e<strong>in</strong>er<br />

vertrauensvollen Kommunikation zwischen Landeskirchen, EKD und Studentengeme<strong>in</strong>den<br />

festgestellt.<br />

Damit s<strong>in</strong>d die wesentlichen Aspekte genannt, die bis heute <strong>in</strong> der Arbeit der<br />

Studierenden- und Hochschulgeme<strong>in</strong>den zu bedenken s<strong>in</strong>d. Die Orientierung an<br />

der spezifi schen Lebens- und Arbeitssituation der Studierenden und Hochschulangehörigen<br />

ist die besondere Aufgabe und Herausforderung dieser Arbeit. Dort,<br />

wo sie verantwortungsbewusst wahrgenommen wird, entsteht Geme<strong>in</strong>de – auch<br />

jenseits der Parochie.<br />

Die autonome ESG <strong>in</strong> Hannover stellt im November 1985 ihre Arbeit e<strong>in</strong>. E<strong>in</strong><br />

Flugblatt mit der Überschrift „ESG Roter Hahn Hannover verabschiedet sich“<br />

erklärt: Seit 1977 gibt es <strong>in</strong> Hannover e<strong>in</strong>e autonome evangelische Studentengeme<strong>in</strong>de.<br />

Damals wurde die ESG von landeskirchlicher Gewalt aus ihrem Haus<br />

geworfen und gezwungen, ohne Unterstützung, fi nanziell und personell, als autonome<br />

Geme<strong>in</strong>de weiterzuarbeiten. Es erwies sich jedoch auch als Vorteil, daß die<br />

Mitarbeiter, Studenten und Nicht-Studenten, Christen, Anders- und Ungläubige,<br />

evangelische Studentenarbeit ohne Bevormundung durch die <strong>Kirche</strong>nleitung<br />

verwirklichen konnten, auf sich gestellt, nach eigenen Vorstellungen. Sie konnten<br />

82 Hans THIMME: Folgerungen für die christliche Geme<strong>in</strong>de, Folgerungen für die Hochschule, <strong>in</strong>:<br />

Evangelium – <strong>Kirche</strong> – Institution (wie Anm. 27), S. 134-140.<br />

83 Thimme (wie Anm. 82), S. 137.<br />

84 Thimme (wie Anm. 82), S. 138.<br />

125


Karol<strong>in</strong>e Läger-Re<strong>in</strong>bold<br />

das tun, was sie für wichtig und richtig hielten, sich dafür engagieren, wofür<br />

das Evangelium steht, Gerechtigkeit, Friede, Solidarität. (...) Die Mitarbeit <strong>in</strong><br />

der ESG dauert normalerweise 1, 2, vielleicht 4 Jahre. Daß viele bei uns länger<br />

s<strong>in</strong>d, spricht für den stets spannenden Versuch, autonome ESG zu se<strong>in</strong>. Aber<br />

die ESG als Zusammenschluß von Leuten muß sich stets erneuern, sie ist ke<strong>in</strong>e<br />

permanente Institution. Und wenn ke<strong>in</strong>e neuen Leute mehr mitarbeiten, gibt es<br />

auch ke<strong>in</strong>e ESG mehr. 85<br />

Kurze Zeit später fi ndet der Hahn e<strong>in</strong>e neue Heimat unter dem Dach der Landeskirche<br />

und ist bis heute das Symbol der Evangelischen Studenten- und Student<strong>in</strong>nengeme<strong>in</strong>den.<br />

Die hohe personelle Fluktuation und die Tatsache, dass für<br />

Studierende und Hochschulangehörige meist nur e<strong>in</strong> temporäres, ja fl üchtiges<br />

Engagement <strong>in</strong> Frage kommt, prägt die Arbeit <strong>in</strong> der ESG nach wie vor und<br />

sogar <strong>in</strong> zunehmenden Maß. Die Tatsache, dass sich <strong>in</strong> den Studentengeme<strong>in</strong>den<br />

dennoch immer wieder Menschen versammeln, die <strong>in</strong> der klassischen Ortsgeme<strong>in</strong>de<br />

ke<strong>in</strong>e Heimat haben, sich hier jedoch <strong>in</strong> ihren Fragen ernst genommen<br />

wissen und sich als Geme<strong>in</strong>schaft verstehen, belegt die Unverzichtbarkeit dieser<br />

Arbeit. 86<br />

85 Von Sigmar Pollak anlässlich me<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>führung als Hochschulpastor<strong>in</strong> im Oktober 2008 überreicht.<br />

86 Herrn Dr. Florian Hoffmann vom Landeskirchlichen Archiv Hannover danke ich für se<strong>in</strong>e Hilfe<br />

bei den Recherchen zu diesem Beitrag.<br />

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