Gesangstexte - WDR 3
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Mord in der Lagune<br />
Als Alessandro Scarlatti mit 47 Jahren in Venedig das vielleicht wichtigste<br />
Debüt seiner Karriere gibt, steht dem vielfachen Vater sozusagen<br />
das Wasser bis zum Hals. Fünf Jahre zuvor hatte er seinen<br />
Posten als königlicher Kapellmeister in Neapel Hals über Kopf gekündigt,<br />
um für sich und für seinen hochbegabten Sohn Domenico<br />
neue musikalische Entfaltungsmöglichkeiten zu suchen. Doch Ferdinando<br />
de’ Medici, Großherzog der Toskana, für den Scarlatti eine<br />
ganze Reihe von Opern komponiert und an dessen Hof er sich eine<br />
lukrative Anstellung erhofft hat, bevorzugt inzwischen andere Komponisten<br />
und beendet das langjährige lose Dienstverhältnis 1706.<br />
In Rom stehen indes mit Glück lediglich mäßig bezahlte Kirchenmusiker-Posten<br />
zur Verfügung, aber in Rom ist auch immer noch<br />
Kardinal Pietro Ottoboni, Scarlattis langjähriger Gönner, Librettist<br />
und Mäzen. Er sorgt u. a. dafür, dass Scarlatti 1706 in der Arcadia<br />
aufgenommen wird, dem damals wichtigsten kulturellen Netzwerk<br />
Italiens, und der gebürtige Venezianer ist wohl auch bei Scarlattis<br />
erstem und einzigem Gastspiel in der Lagunenstadt (nur einmal,<br />
1680, war in privatem Rahmen dort seine Erstlingsoper Gli equivoci<br />
nel sembiante aufgeführt worden) die treibende Kraft. Ottobonis<br />
guter Beziehung zur Familie Grimani – Kardinal Vincenzo Grimani<br />
ist sein enger Freund – dürfte es zu verdanken sein, dass Scarlattis<br />
Venedig-Debüt nicht an irgendeiner Bühne, sondern am Teatro<br />
S. Giovanni Grisostomo, dem größten und wichtigsten Theater stattfindet,<br />
das sich im Besitz der Grimani befindet. Gleich zwei Opern<br />
präsentiert Scarlatti dort in der Karnevalssaison 1706/07, dazu<br />
ein Oratorium in der darauf folgenden Fastenzeit im nicht weniger<br />
prestigeträchtigen Ospedale della Pietà, einem der vier Mädchenkonservatorien<br />
der Stadt. Dort ist wiederum seit 1701 Francesco<br />
Gasparini, Scarlattis Freund und Lehrer seines Sohnes Domenico,<br />
als maestro del coro tätig (für den Violinunterricht der Mädchen<br />
zeichnet der damals 29-jährige Antonio Vivaldi verantwortlich; er<br />
kommt als Erstinterpret der Soloviolinpassagen in dem Oratorium<br />
ebenso in Frage wie Domenico Scarlatti für den Cembalopart). Nicht<br />
wenige Venezianer dürften diese mehr als hervorragenden Debüt-<br />
Bedingungen, trotz Scarlattis langer Karriere und seiner nationalen<br />
und internationalen Berühmtheit, mit dem Prädikat ›Vitamin B‹ bzw.<br />
raccomandato (›Günstling‹) belegt haben. Bislang hatte die Serenissima<br />
nämlich ihre städtischen Bühnen und Ospedali ebenso vehement<br />
wie erfolgreich gegen die stetig wachsende Konkurrenz aus<br />
dem tiefen Süden abgeschottet; eine Blockade, die hier von Grimani<br />
und Gasparini erfolgreich umgangen ist (erst 1725, in Scarlattis<br />
Todesjahr, wird der Widerstand endgültig fallen). Zum anderen muss<br />
der Name Scarlatti für das venezianische Opernsystem immer noch<br />
ein rotes Tuch gewesen sein, war er es doch, der die mehr als drei<br />
Jahrzehnte währende venezianische Dominanz in der Musikwelt<br />
Neapels 1683 fast staatsstreichartig beendet hatte.<br />
Am 5. Januar 1707, mit mehr als einem Monat Verspätung, hat Scarlattis<br />
Oper Mitridate Eupatore Premiere (ausgerechnet die liberale<br />
venezianische Zensur hatte »mit der katholischen Religion nicht<br />
konforme« Spuren im Text Girolamo Frigimelica Robertis entdeckt,<br />
dem Hauslibrettisten des S. Giovanni Grisostomo); am 11. Februar<br />
folgt Il trionfo della libertà. Beide Premieren sind ein absolutes<br />
Fiasko. Offenbar hatte Scarlatti – zu seiner Zeit ein selbstmörderischer<br />
Fehler – den Geschmack des bunt gemischten venezianischen<br />
Publikums völlig außer Acht gelassen und die Partitur mit seiner<br />
ganzen Kompositionskunst sprichwörtlich überfrachtet. So giftete<br />
der Satiriker Bartolomeo Dotti in einem langen Pamphlet: »Krebs<br />
und Tollwut sollen den heimsuchen, der es wagt, den ›Gott‹ Scarlatti<br />
zu lästern; er gehört tatsächlich eingesperrt in einen Narrenkäfig.<br />
Wie kann man bloß etwas Negatives über einen so gelehrten Mann<br />
sagen? […], diesen zweiten Orpheus? […] Beim Klang seiner Oper<br />
über Eupatore schien tatsächlich jeder Stein bewegt und jedes Tier<br />
zu ihm hingezogen. Selbst böse Zungen können nicht verleugnen,<br />
dass diese Musik süß ist – hat sie doch alle in süßesten Schlaf versetzt.<br />
Ich konnte gar nicht mehr aufhören zu schlafen. Diese Oper ist<br />
zehnmal stärker als Tonios bester Wein und ihre betäubende Wucht<br />
derart, dass sich niemand am Ende erinnern konnte, sie gehört zu<br />
haben.« Dotti wird übrigens wenige Jahre später in Venedig auf offener<br />
Straße erstochen und ein anonymes Epitaph sein gewaltsames<br />
Ende u. a. als Rache dafür bezeichnen, dass Dotti »auf die Arien<br />
Scarlattis gespuckt« habe …<br />
Zwischen den beiden Opern-Premieren schließt Scarlatti die Kom-<br />
position seines neuen Oratoriums ab: »Fine dell’Oratorio – 7 Genn.o<br />
1707 – L.D.M.V.«, ›Ende des Oratoriums – 7. Januar 1707 –Gelobt sei<br />
Gott und die Jungfrau Maria‹, notiert er am Ende des erst 1964 in<br />
Kalifornien wieder aufgetauchten Partiturautographs. Sein Libretto<br />
dazu stammt von Antonio Ottoboni, dem Vater Kardinal Pietro Ottobonis,<br />
und behandelt jene berühmte, schon mehrfach verwendete<br />
und (u. a. von Carissimi, Marazzoli, Pasquini und von Alessandro<br />
Scarlattis eigenem Bruder Francesco) vertonte Episode aus dem<br />
Buch Genesis über die Ermordung Abels durch seinen Bruder Kain.<br />
Ottoboni hält sich eng an die alttestamentliche Vorlage und schafft<br />
eine Abfolge von kurzen Rezitativen, Arien und überraschend vielen<br />
Duetten, die durch atmosphärische Sinfonien aufgelockert werden.<br />
Den ersten Teil dominieren dabei zunächst Adam und Eva, deren<br />
Erinnerung an den Sündenfall, in direkte Beziehung zur folgenden<br />
Handlung gesetzt, die fatalen Brandopfer Kains und Abels zu Wiedergutmachungsversuchen<br />
für die Untat ihrer Eltern werden lässt.<br />
Anders als in der Bibel hat hier Abel, der Mustersohn, als erster die<br />
Idee und erregt damit Kains Eifersucht, und anders als in der Episode<br />
im Alten Testament tritt Luzifer (wie beim Sündenfall) als Gegenpol<br />
zu Gott auf. Er spricht ausschließlich zu Kain, allerdings erst, als<br />
dieser bereits Mordgedanken hegt. Dann ist ›die Stimme Luzifers‹<br />
sofort zu Stelle (siegue sinfonia subbito, ›Sinfonia folgt sofort‹ ist<br />
auch die Anweisung Scarlattis, der dazu ein Instrumentalstück komponiert,<br />
das nach den Parametern seiner Zeit in allen Punkten der<br />
›Harmonie‹ zuwiderläuft: ›schwer und grausig und staccato‹, voller<br />
Dissonanzen, Querstände und mit unablässigen Tempowechseln).<br />
Gottes Stimme spricht zu allen; zu Kain jedoch erst im zweiten Teil<br />
nach dem Mord, wodurch unberücksichtigt bleibt, dass Gott Kain<br />
– laut Genesis – vor allem dazu hatte bringen wollen, dem Bösen<br />
| 102 Samstag, 10. November 2012, 20:00 | 103