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Der Freskenzyklus von Ambrogio Lorenzetti über die gute und die ...

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<strong>Der</strong> <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>von</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> <strong>über</strong> <strong>die</strong> <strong>gute</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> schlechte Regierung<br />

Eine danteske Vision im Palazzo Pubblico <strong>von</strong> Siena<br />

D I S S E R T A T I O N<br />

der Universität St. Gallen,<br />

Hochschule für Wirtschafts-,<br />

Rechts- <strong>und</strong> Sozialwissenschaften (HSG)<br />

zur Erlangung der Würde einer<br />

Doktorin der Staatswissenschaften<br />

vorgelegt <strong>von</strong><br />

Dagmar Schmidt<br />

<strong>von</strong><br />

Reinach (Basel-Landschaft)<br />

Genehmigt auf Antrag der Herren<br />

Prof. Dr. Alois Riklin<br />

<strong>und</strong><br />

Dr. Daniel Brühlmeier<br />

Dissertation Nr. 2656<br />

(DIFO-DRUCK GmbH)


Meinen Grossmüttern


Internet-Link zum <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>von</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong><br />

(zu den Fresken: rechte Navigation)<br />

Internet-Link zum <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>von</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong><br />

(zu den Fresken: rechte Navigation)


Vorwort<br />

Diese Dissertation hat einen interdisziplinären Ansatz. Sie ist auf der Gr<strong>und</strong>lage<br />

des staatswissenschaftlichen Studiums an der Universität St. Gallen entstanden. Auf<br />

<strong>die</strong>ser Gr<strong>und</strong>lage war aufzubauen, um das notwendige Wissen für <strong>die</strong><br />

Auseinandersetzung mit einem <strong>Freskenzyklus</strong> im 14. Jahrh<strong>und</strong>ert zu erwerben. Will<br />

eine einzelne Person interdisziplinär arbeiten, ist der Nachteil, dass sie in einem<br />

bestimmten Zeitraum nie <strong>die</strong>selbe Tiefenkenntnis erzielen kann, wie jemand, der sich<br />

auf ein einzelnes Fachgebiet spezialisiert. <strong>Der</strong> Vorteil ist, dass vernetztes Denken<br />

möglich wird. Das vernetzte Denken hatte mein Studium an der Universität St. Gallen<br />

geprägt <strong>und</strong> lag insbesondere auch dem staatswissenschaftlichen Lehrgang zugr<strong>und</strong>e.<br />

Die Jahre der Dissertation habe ich in Erinnerung als <strong>die</strong> Umsetzung <strong>die</strong>ses<br />

Denkansatzes mit dem Bild im Zentrum <strong>von</strong> Gedankensträngen, <strong>die</strong> immer klarer vom<br />

Werk weg <strong>und</strong> zu ihm zurück führten.<br />

Für <strong>die</strong> Auseinandersetzung mit dem Bild war es ganz wesentlich, in seiner Nähe<br />

zu sein. Sowohl der Schweizerische Nationalfonds als auch der italienische Staat<br />

haben mir Forschungsaufenthalte in Siena <strong>und</strong> Florenz ermöglicht. Sie erlaubten mir,<br />

in den Jahren 1991/92 sowie 1995/96 vor Ort zu sein. Ich hatte damit insbesondere<br />

auch Zugang zum Staatsarchiv <strong>und</strong> der Kommunalbibliothek in Siena sowie zum<br />

Deutschen Kunsthistorischen Institut <strong>und</strong> zur Nationalbibliothek in Florenz. Für <strong>die</strong><br />

Finanzierung <strong>die</strong>ser Forschungsaufenthalte sei hier mein Dank ausgesprochen. Dem<br />

Schweizerischen Nationalfonds sei auch gedankt, dass ich eine kurze Forschungsreise<br />

nach London ans Warburg Institut unternehmen konnte <strong>und</strong> dort <strong>die</strong> Möglichkeit hatte,<br />

mit den Professoren Nicolai Rubinstein <strong>und</strong> Daniel Waley zu sprechen. Ich empfinde<br />

heute noch Dank für ihre Anregungen <strong>und</strong> ihre Bereitschaft, mich zum Gespräche zu<br />

empfangen.<br />

Während meiner Arbeit an der Dissertation hatte ich immer wieder das Glück auf<br />

Menschen zu stossen, <strong>die</strong> mir mit Rat <strong>und</strong> Tat beiseite standen. Für ihre Unterstützung<br />

<strong>und</strong> anregenden Gespräche möchte ich mich in Florenz besonders bei Prof. Dr. Franek<br />

Sznura <strong>und</strong> Dr. Roberta Manetti bedanken. Dank geht auch an Rosaria Ferro <strong>und</strong> Prof.<br />

Dr. Giuliano Parigi, bei denen ich in Florenz auch in der Zeit nach meinen<br />

Forschungsaufenthalten immer ein zweites Zuhause fand. Für ihre wichtigen<br />

Kommentare sei insbesondere auch Prof. Dr. Peter Koslowski, Dr. Daniel Brühlmeier,<br />

Dr. Christoph Frei, Dr. Rüdiger Schmidt in Weimar sowie Birgit Gudat in der Schweiz<br />

gedankt. Am meisten Dank verpflichtet bin ich aber Prof. Dr. Alois Riklin, der <strong>die</strong><br />

III


Arbeit wissenschaftlich begleitet hat, <strong>und</strong> bei dem ich schon als Assistentin am Institut<br />

für Politikwissenschaft in St. Gallen gearbeitet hatte.<br />

Abschliessend möchte ich aber mit ganzem Herzen meinen Eltern Helga <strong>und</strong><br />

Andreas Schmidt sowie meinem Bruder Roger danken. Ohne ihre Unterstützung wäre<br />

<strong>die</strong> Arbeit schliesslich nicht doch noch zu einem Ende gekommen. Meinem Bruder bin<br />

ich insbesondere auch für das Korrekturlesen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Informatikhilfe verpflichtet, <strong>die</strong><br />

er beide mit grosser Sorgfalt erledigt hat.<br />

IV<br />

Bern, 27. Januar 2003


Einleitung<br />

TEIL I: UMFELD, BESCHREIBUNG UND FORSCHUNGSSTAND<br />

1. Siena im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

1.1. Historischer Einblick<br />

1.2. Das politische System der Kommune unter den Nove<br />

1.3. Machtbeteiligung<br />

1.4. Die Republik der Kaufleute oder der gente media<br />

1.5. Die Republik im Spiegel der Stadt<br />

2. <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong><br />

2.1. <strong>Der</strong> Maler <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong><br />

2.2. <strong>Der</strong> Bürger <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong><br />

2.3. <strong>Der</strong> Auftrag an <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> im Palazzo<br />

Pubblico <strong>von</strong> Siena<br />

3. Die Beschreibung des <strong>Freskenzyklus</strong><br />

3.1. Die Allegorie des Buon Governo<br />

3.2. Die Auswirkungen der Buon Governo auf Stadt <strong>und</strong> Land<br />

3.3. Die Allegorie des Mal Governo<br />

3.4. Die Auswirkungen des Mal Governo auf Stadt <strong>und</strong> Land<br />

3.5. <strong>Der</strong> Fries<br />

4. Bisherige Deutungen des <strong>Freskenzyklus</strong><br />

4.1. Darstellung des rechtzentrierten Stadtstaates<br />

4.2. Porträt des Sieneser Staates<br />

4.3. Politische Propaganda<br />

4.4. Republikanisches Programm<br />

4.5. Republikanische Ideologie - Griechenland oder Rom?<br />

4.6. Religiös-biblische Deutung<br />

4.6. Summe, Enzyklopä<strong>die</strong> <strong>und</strong> Spiegel des göttlichen Kosmos<br />

4.7. Politische Summe des stadtrepublikanischen Weltbildes im frühen<br />

Trecento<br />

4.8. Wie verhalten sich <strong>die</strong> Verslegenden zum Bildprogramm?<br />

4.9. Danteske Deutungen<br />

V<br />

1<br />

4<br />

5<br />

5<br />

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125<br />

130<br />

135


TEIL II: DANTESKE DEUTUNG DES FRESKENZYKLUS<br />

5. Dante, Siena <strong>und</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong><br />

5.1. Dante als Bürger einer italienischen Kommune<br />

5.2. Die Commedia als politische Dichtung<br />

5.3. <strong>Der</strong> <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s: Ein Läuterungsweg im<br />

Diesseits nach Dantes Commedia<br />

5.4. Sieneser Verfassung <strong>und</strong> Caleffo: Urtexte des dantesken<br />

Bildprogramms <strong>und</strong> der Verslegenden<br />

5.5. <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>, Dante <strong>und</strong> Siena<br />

6. Das Inferno des Mal Governo<br />

6.1. <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s città dolente<br />

6.2. Gewaltherrschaft<br />

6.3. Klage <strong>über</strong> Krieg, Laster <strong>und</strong> Tyrannen<br />

6.4. Politische Klage in Siena<br />

6.5. Die Krise der italienischen Kommunen<br />

7. Das Purgatorium in der Allegorie des Buon Governo<br />

7.1. Politische Reformansätze <strong>und</strong> individuelle Läuterung<br />

7.2. Justitia: politische Reformen in Siena<br />

7.3. Tugenden: individuelle Läuterung<br />

7.4. Die göttliche Liebe als Urkraft <strong>von</strong> Tugend <strong>und</strong> Gemeinsinn<br />

7.5. Pax: Spiegel der Glückseligkeit<br />

8. Vivere civile im irdischen Para<strong>die</strong>s der Sieneser Kommune<br />

8.1. Das Porträt Sienas <strong>und</strong> seines Contado<br />

8.2. Irdisches Para<strong>die</strong>s<br />

8.3. Die Stadt der Gerechtigkeit<br />

8.4. Die Stadt der Eintracht<br />

8.5. Die Stadt der Liebe<br />

8.6. Vivere civile<br />

8.7. <strong>Der</strong> Makrokosmos des vivere civile<br />

9. Republikanisches Selbstbewusstsein im <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s<br />

9.1. Civitas<br />

9.2. Römische Geschichte<br />

9.3. Seelenadel<br />

VI<br />

137<br />

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270<br />

275<br />

284


9.4. Aristotelesrezeption<br />

9.5. Tolomeo da Lucca<br />

9.6. Tolomeo da Lucca, Dante <strong>und</strong> der <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s<br />

10. Schluss<br />

LITERATURVERZEICHNIS<br />

VII<br />

289<br />

297<br />

306<br />

312<br />

323


Einleitung<br />

„Visibile parlare“ – „sichtbares Sprechen“ nennt Dante das Ideal der Malerei im<br />

frühen Trecento. 1 Diese Arbeit geht da<strong>von</strong> aus, dass <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s<br />

<strong>Freskenzyklus</strong> Ausdruck ist für <strong>die</strong>ses Streben nach der „sprechenden Malerei“. 2<br />

Gleichzeitig argumentiert sie, dass dem <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s <strong>die</strong><br />

Auseinandersetzung mit der göttlichen Komö<strong>die</strong> Dantes zugr<strong>und</strong>e liegt. Mit Dantes<br />

Commedia geht der Betrachter den Weg vom Inferno <strong>über</strong> das Purgatorium zum<br />

irdischen Para<strong>die</strong>s, während ihn <strong>die</strong> Bilder direkt in <strong>die</strong> irdische Welt <strong>und</strong> politische<br />

Umgebung der Sieneser Kommune versetzen. Die drei Wandbilder verarbeiten <strong>und</strong><br />

bilden den Teil des in der Commedia vorgezeichneten Läuterungsweges ab, der für das<br />

politische Leben massgeblich ist. Nachdem <strong>die</strong> Hölle auf Erden bildhaft Wirklichkeit<br />

geworden ist, folgen Läuterung <strong>und</strong> das Glück des zoon politikon. Die Läuterung<br />

besteht aus der politischen Läuterung durch institutionelle Reformen, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

Durchsetzung der Gerechtigkeit auf Erden garantieren sollen, sowie aus der<br />

individuellen Läuterung durch Tugend.<br />

Zur Darstellung <strong>die</strong>ses Arguments ist <strong>die</strong> Arbeit in zwei Teile geteilt: <strong>Der</strong> erste<br />

Teil setzt den <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s in Zeit <strong>und</strong> Raum, beschreibt ihn<br />

<strong>und</strong> deutet ihn zunächst „mit fremden Augen“, das heisst auf der Gr<strong>und</strong>lage all der<br />

Beiträge, <strong>die</strong> schon ihre Sicht auf das Sieneser Rathausbild dargelegt haben. Gerade in<br />

den letzten Jahren ist der <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s in den Blickpunkt der<br />

Forschung gerückt.<br />

Kapitel eins befasst sich mit Siena im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert. Geschildert wird <strong>die</strong><br />

historische <strong>und</strong> politische Situation, <strong>und</strong> ein besonderes Augenmerk wird auf <strong>die</strong><br />

damalige Verbindung <strong>von</strong> Sienas Politik zur Urbanistik, Architektur <strong>und</strong> Kultur gelegt.<br />

Siena war damals eine Kommune; heute würden wir sagen eine Stadtrepublik. Das<br />

zweite Kapitel wendet sich dem Maler des <strong>Freskenzyklus</strong> zu: <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>. Es<br />

setzt sich sowohl mit seinem Werk auseinander als auch mit seinem Leben, das er<br />

schliesslich als angesehener Bürger Sienas beendet hat. Besondere Beachtung wird<br />

den Wechselbeziehungen geschenkt, <strong>die</strong> damals zwischen Künstlern <strong>und</strong> ihren<br />

Auftraggebern bestanden. Konkret wird auch versucht, den Auftrag des hier<br />

besprochenen <strong>Freskenzyklus</strong> so weit wie möglich zu rekonstruieren. Kapitel drei<br />

schliesslich hat das Sieneser Rathausbild selbst zum Gegenstand. Hier findet sich eine<br />

erste ausführliche Beschreibung des Kunstwerks. Die Abfolge der Beschreibung der<br />

drei Wandbilder richtet sich bewusst noch nicht nach der Sichtweise, <strong>die</strong> dann <strong>die</strong><br />

1 Purgatorio X.95<br />

2 BELTING (1998), S. 38 f.<br />

1


These <strong>die</strong>ser Arbeit fordern wird; sie beginnt also nicht mit der dunklen Längswand,<br />

beschreibt dann <strong>die</strong> Mittelwand <strong>und</strong> schliesslich das helle Panaromabild. Die erste<br />

Beschreibung des <strong>Freskenzyklus</strong> in <strong>die</strong>ser Arbeit gehorcht in der Reihenfolge noch<br />

dem Titel, der heute allgemein dem <strong>Freskenzyklus</strong> gegeben wird: Die Allegorie des<br />

Buon Governo <strong>und</strong> <strong>die</strong> Auswirkungen des Buon Governo auf Stadt <strong>und</strong> Land, <strong>die</strong><br />

Allegorie des Mal Governo <strong>und</strong> <strong>die</strong> Auswirkungen des Mal Governo auf Stadt <strong>und</strong><br />

Land. Gleichzeitig hält sich <strong>die</strong>se Beschreibung mit Interpretationen zurück. Sie zielt<br />

vielmehr darauf ab, das Abbild der Figuren <strong>und</strong> <strong>die</strong> narrativen Szenen in Worte zu<br />

fassen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Inschriften wiederzugeben. Die Deutungsmöglichkeiten der Figuren<br />

<strong>und</strong> narrativen Szenen, ihr Verhältnis zueinander sowie <strong>die</strong> Beziehung unter den drei<br />

Wandbildern oder jene zwischen Bild- <strong>und</strong> Textelementen im <strong>Freskenzyklus</strong> kommen<br />

erst im letzten Kapitel des ersten Teils zur Sprache. Kapitel vier ordnet <strong>und</strong><br />

rekapituliert <strong>die</strong> verschiedenen, teils sich auch ergänzenden Sichtweisen bisheriger<br />

Deutungen <strong>und</strong> zeigt <strong>die</strong> Diskussionen auf, <strong>die</strong> sich hieraus ergeben haben.<br />

<strong>Der</strong> zweite Teil ist dann der eigentlichen These gewidmet, das heisst der Deutung<br />

des <strong>Freskenzyklus</strong> nach der Commedia Dantes. Das fünfte Kapitel klärt <strong>die</strong><br />

Voraussetzungen für <strong>die</strong>se Deutung <strong>und</strong> entwickelt ihre Gr<strong>und</strong>züge. Sie setzt nämlich<br />

voraus, dass <strong>die</strong> Commedia auf Konzepten beruht, <strong>die</strong> geeignet sind, im öffentlichen<br />

Raum der Sieneser Kommune dargestellt zu werden. Als Ganzes ist <strong>die</strong> Commedia ein<br />

Weltgedicht, das in der Anschauung Gottes gipfelt. Im einzelnen ist sie jedoch ein<br />

eminent politisches Werk, das stark in der Wirklichkeit der italienischen Kommunen<br />

verhaftet ist. Im ersten Kapitel wird deshalb zunächst Dantes politisches Engagement<br />

als Bürger der Florentiner Kommune geschildert, um dann auf <strong>die</strong> Deutung der<br />

Commedia als politische Dichtung einzugehen. Anschliessend wird aufgezeigt, wie im<br />

<strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s der Läuterungsweg der Commedia in den<br />

irdischen Bereich der italienischen Stadtstaaten bildhaft <strong>über</strong>tragen <strong>und</strong> Dantes<br />

universeller Entwurf auf den politischen Raum des sich herausbildenden Sieneser<br />

Territorialstaates reduziert wird.<br />

Da mit der dantesken Deutung des <strong>Freskenzyklus</strong> eine Idee Randolph Starns 3<br />

aufgegriffen, jedoch in eine andere Richtung weiterentwickelt wird, geht das fünfte<br />

Kapitel ebenfalls näher auf <strong>die</strong>sen Aspekt ein. Im Unterschied zu Starn werden <strong>die</strong><br />

Bilder als eigenständiges Medium begriffen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> politische Konzeption der<br />

Commedia ins Diesseits transponieren. Durch das Loslösen des Bildprogramms <strong>von</strong><br />

den Verslegenden wird es möglich, anzunehmen, dass <strong>die</strong> Bilder das politische<br />

Gedankengerüst der Commedia in der für Siena geeigneten Form wiedergeben.<br />

Gleichzeitig wird mit Hans Belting ein Urtext angenommen, der ausserhalb des<br />

3 STARN (1992), S. 58 in Verbindung mit S. 19 ff., S. 28 ff., S. 48 ff.<br />

2


eigentlichen Bildprogramms existiert <strong>und</strong> auf den sich <strong>die</strong> Bilder wie <strong>die</strong> Verslegende<br />

beziehen. Konkret sind es in <strong>die</strong>sem Fall zwei Urtexte, beides Gr<strong>und</strong>lagen der Sieneser<br />

Kommune: <strong>die</strong> Verfassung <strong>von</strong> 1337/39 <strong>und</strong> der Caleffo dell'Assunta <strong>von</strong> 1334.<br />

Zuletzt wird im fünften Kapitel auch noch der für <strong>die</strong> These unerlässliche<br />

Nachweis erbracht, dass eine direkte Auseinandersetzung <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s <strong>und</strong><br />

seiner Auftraggeber mit der Commedia Dantes möglich war. Diese<br />

Auseinandersetzung offenbart sich nicht nur als Konstante im Werk des Malers,<br />

sondern auch in der Auftragsvergabe der Sienesen für ihren Palast der Kommune, dem<br />

Palazzo Pubblico.<br />

Die Kapitel sechs bis acht sind dann im einzelnen den drei Wandbildern, Inferno,<br />

Purgatorium <strong>und</strong> irdisches Para<strong>die</strong>s gewidmet. Die Commedia gilt im frühen 14.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert als gelehrte Summe, in der sich antikes <strong>und</strong> christliches Bildungsgut mit<br />

zeitgenössischen Betrachtungen vereinen, um den Weg zur Glückseligkeit<br />

aufzuzeigen. Wie Dantes Commedia ist auch <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s <strong>Freskenzyklus</strong><br />

eine Summe. Er transponiert <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>konzeption des Läuterungsweges Dantes ins<br />

Diesseits - politische <strong>und</strong> individuelle renovatio zwischen Inferno <strong>und</strong> irdischem<br />

Para<strong>die</strong>s - gestaltet <strong>die</strong> einzelnen Elemente aber auch mit einiger Freiheit aus. In der<br />

eingehenden Behandlung der Wandbilder wird deshalb der Blick <strong>von</strong> Dante auf das<br />

Umfeld der italienischen Stadtkultur im frühen Trecento erweitert, <strong>die</strong> sowohl Dante<br />

wie auch <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> repräsentieren. Ausführlich wird dargelegt, wie Dantes<br />

Universalschau im Sieneser Rathausbild auf <strong>die</strong> Ebene der italienischen Stadtstaaten<br />

<strong>über</strong>tragen wird.<br />

Kapitel neun schliesslich behandelt ein spezifisches Element der Summe<br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s, das republikanische Denken. Durch <strong>die</strong> Übertragung <strong>von</strong><br />

Dantes Läuterungsweg in den politischen Raum einer italienischen Kommune nimmt<br />

<strong>die</strong>ses einen besonderen Stellenwert im Bildprogramm ein.<br />

Die Kapitel fünf bis neun ergänzen sich somit zu einer Gesamtschau, <strong>die</strong> entlang<br />

des Läuterungsweges vom Inferno zum irdischen Para<strong>die</strong>s voranschreitet <strong>und</strong> versucht,<br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s "politische Summe des stadtrepublikanischen Weltbilds im<br />

frühen Trecento" 4 auszuleuchten.<br />

4 RIKLIN (1996), S. 119<br />

3


TEIL I<br />

Umfeld, Beschreibung <strong>und</strong><br />

Forschungsstand<br />

4


1. Siena im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

1.1. Historischer Einblick<br />

Es ist Freitag, den 29. August 1337, ungefähr ein Jahr bevor <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong><br />

den Auftrag zu den Fresken im Palazzo Pubblico erhält. Diesen Freitag verlassen in<br />

Siena, wie jede Woche, r<strong>und</strong> 300 Bürger ihr Rathaus <strong>und</strong> strömen hinaus auf den<br />

Campo, den Markt- <strong>und</strong> Hauptplatz der Stadt. Heute haben sie im Grossen Rat, dem<br />

Consiglio generale, beschlossen, <strong>die</strong> schleppende Verfassungsrevision endlich zu<br />

einem raschen Ende zu führen. Die Verfassung, <strong>die</strong> alle in Siena verabschiedeten<br />

Gesetze enthält, soll in den letzten Jahrzehnten so un<strong>über</strong>sichtlich geworden sein, dass<br />

selbst Juristen <strong>und</strong> Richter den Überblick verloren haben. Es sind derart viele Gesetze<br />

erlassen worden, dass <strong>die</strong> Rechtslage bei den Gelehrten oft umstritten <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Rechtssicherheit deshalb nicht gewährleistet war. Um das geltende Recht wieder für<br />

alle erkennbar zu machen, soll es <strong>von</strong> allen Widersprüchen befreit <strong>und</strong> in einem<br />

einzigen Kodex <strong>über</strong>sichtlich zusammengefasst werden; <strong>von</strong> einer kurzen <strong>und</strong><br />

aussagekräftigen Verfassung versprechen sich <strong>die</strong> Sienesen <strong>die</strong> Durchsetzung <strong>und</strong><br />

Verwirklichung <strong>von</strong> Gerechtigkeit <strong>und</strong> Frieden in ihrem Stadtstaat. 1<br />

Die Verfassungsrevision, <strong>die</strong> in <strong>die</strong>ser Ratssitzung diskutiert wurde, ist Teil einer<br />

vollständigen Neuordnung der rechtlichen Gr<strong>und</strong>lagen Sienas, mit der man im Jahre<br />

1334 begonnen hatte. In jenem Jahr hat der Consiglio generale <strong>die</strong> Überarbeitung des<br />

Caleffo verordnet. 2 Als Caleffo wird in Siena der Kodex bezeichnet, in dem <strong>die</strong><br />

Unterwerfungs- <strong>und</strong> Kaufverträge gesammelt sind, <strong>die</strong> der Stadt Rechte ausserhalb der<br />

Mauern sichern. Ausserdem enthält er auch kaiserliche Privilegien <strong>und</strong> päpstliche<br />

Dekrete sowie Bündnisse <strong>und</strong> Waffenstillstandsabkommen mit Nachbarstädten. Auch<br />

<strong>die</strong>ser Kodex, in den <strong>die</strong> Dokumente seit 1203 chronologisch kopiert werden, hat in<br />

den Dreissiger Jahren des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts einen solchen Umfang erreicht, dass er neu<br />

nach geographischen <strong>und</strong> sachlichen Gesichtspunkten geordnet werden muss.<br />

Verfassung <strong>und</strong> Caleffo sind beide Ausdruck der Anstrengungen in Siena, in der Stadt<br />

wie im Contado, also dem Territorium r<strong>und</strong> um das engere Stadtgebiet, eine<br />

öffentliche Ordnung zu errichten, <strong>die</strong> auf der Durchsetzung rechtlicher Gr<strong>und</strong>lagen<br />

beruht.<br />

1 ASCHERI / OTTAVIANO (1990); ASCHERI / FUNARI (1989); ASCHERI / OTTAVIANO (1981),<br />

Einleitung <strong>von</strong> Ascheri in CIAMPOLI (1984); BOWSKY (1967a), S. 238 f.<br />

2 PAOLI (1866), S. 64; s. a. CAMMAROSANO (1988)<br />

5


Die Sieneser Gesetzgebung <strong>und</strong> ihre Kodifizierung gehen auf das 12. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

zurück, als <strong>die</strong> Bewohner der Stadt sich in einem neuen politischen Verband - der<br />

Kommune - zusammenschliessen <strong>und</strong> beginnen, <strong>die</strong> Ausübung <strong>von</strong> Herrschaft sowie<br />

<strong>die</strong> Wahrung <strong>von</strong> Frieden <strong>und</strong> Recht auf <strong>die</strong> Übereinkunft der Gemeinschaft zu<br />

gründen. 3 In einer Zeit, als Fehde <strong>und</strong> Selbstjustiz <strong>die</strong> Gesellschaft prägten <strong>und</strong> eine<br />

<strong>über</strong>geordnete Macht, <strong>die</strong> <strong>die</strong> lokalen Kräfte hätte zähmen können, durch <strong>die</strong> Kämpfe<br />

zwischen Kaiser <strong>und</strong> Papst faktisch nicht existierte, entstanden in vielen Regionen<br />

Europas Kommunen als genossenschaftliche Schwurverbände. Aus dem Eid der<br />

Amtsträger sowie aus der schriftlichen Fixierung des Gewohnheitsrechts <strong>und</strong> der<br />

Schiedsgerichtsbarkeit entwickelt sich in Siena wie auch in den meisten Städten<br />

Mittel- <strong>und</strong> Oberitaliens ein ausgefeiltes Gesetzeswerk. 4 Im Jahr 1262 werden <strong>die</strong><br />

vielen Bestimmungen erstmals in einem einzigen Kodex, der Constitutum Comunis et<br />

Populis Senensis, zusammengefasst. 5 In den Jahren danach wird <strong>die</strong>se Verfassung in<br />

Folge <strong>von</strong> Regierungswechseln <strong>und</strong> Gesetzgebungstätigkeit verändert <strong>und</strong> ergänzt. Im<br />

Jahr 1310 wird erstmals eine volkssprachliche Version aufgelegt, 6 <strong>die</strong> in den<br />

folgenden Jahren <strong>von</strong> Beschlüssen des Consiglio generale so sehr erweitert wird, 7 dass<br />

im Jahr 1337 schliesslich eine Neuordnung dringend notwendig scheint. Treibende<br />

Kräfte <strong>von</strong> Gesetzgebung <strong>und</strong> Gesetzesrevision sind in Siena Forderungen nach mehr<br />

Gerechtigkeit, Machtbeteiligung <strong>und</strong> Machtkontrolle.<br />

Hand in Hand mit der Ausgestaltung der inneren Ordnung geht der Aufbau eines<br />

Staatsgebietes: Die Stadt zögert nicht lange, <strong>die</strong> anarchischen Verhältnisse zu nutzen,<br />

3 KELLER / BUSCH (1991); Keller (1988), S. 286 ff.. Allgemein zur Entstehung <strong>und</strong><br />

Entwicklung der Kommunen siehe JONES (1997), CRACCO (1987), TABACCO (1979), HYDE (1973)<br />

<strong>und</strong> WALEY (1969). Für <strong>die</strong> Ablehnung des Kontintuitätsgedankens aus der römischen<br />

Munizipalverfassung: LEICHT (1943), S. 337 <strong>und</strong> GOETZ (1944). Die Entstehung der Kommunen als<br />

abendländisches Phänomen: ENNEN (1972), bes. S. 135 <strong>und</strong> DILCHER (1993). Da <strong>die</strong> Kommunen<br />

gegründet wurden, um den Frieden zu sichern, nennen sie sich in öffentlichen Dokumenten auch gerne<br />

"Pax" oder "Concordia", vgl. VALERIO (1967), S. 87 ff. Die Kommune ist aber kein privater Friede<br />

oder private Eidgenossenschaft, sondern sie umfasst immer "alle". Dazu CAPITANI (1981), S. 30 <strong>und</strong><br />

TABACCO (1979), S. 228. Für <strong>die</strong> Kommunen <strong>und</strong> <strong>die</strong> mittelalterliche Genossenschaftsbewegung siehe<br />

MICHAUD-QUANTIN (1970). Für den Zusammenhang der kommunalen Bewegung mit der<br />

Gottesfriedensbewegung im Zug der Kirchenreform, siehe KELLER (1976), S. 168 ff. Für <strong>die</strong><br />

Entstehung der Kommunen in einer Zeit der allgemeinen politischen <strong>und</strong> geistigen<br />

Orientierungslosigkeit während der Kirchenreform <strong>und</strong> des Investiturstreits siehe MARTINES (1979),<br />

S. 3 ff. Für <strong>die</strong> sprengende Kraft der Kirchenreform in Italien <strong>und</strong> ihre Auswirkung auf <strong>die</strong><br />

kommunale Bewegung <strong>über</strong> <strong>die</strong> sozialen Grenzen hinaus in Verbindung mit der Idee der christlichen<br />

Urgemeinde siehe ebenfalls KELLER (1976), S. 194. Vergleiche auch PREVITÉ-ORTON (1929), S. 219.<br />

Für <strong>die</strong> Zustände in der Toskana <strong>und</strong> <strong>die</strong> Aufwühlung der Massen zur Zeit der Kirchenreform vgl.<br />

DAVIDSOHN (1896), S. 138ff. Zur Rolle des Bischofs bei der Kommunenbildung siehe DILCHER<br />

(1964). Für <strong>die</strong> Kommunenbildung im ländlichen Raum siehe REDON (1979), S. 149 ff. <strong>und</strong> S. 619 ff.<br />

sowie TABACCO (1979), S. 251. Hier geht es vor allem auch um eine Selbstorganisation der ländlichen<br />

Bevölkerung gegen ihren Signore.<br />

4 Dazu ASCHERI (1991), s. a. ZDEKAUER, 1897, S. XIII ff.; CELLI (1976), S. 250<br />

5 ZDEKAUER (1897)<br />

6 LISINI (1903)<br />

7 z. B. Gesetze des Statutenkodex Statuti 23. Dazu siehe ASCHERI / OTTAVIANO (1981)<br />

6


um ihren Einfluss im Territorium auszubauen <strong>und</strong> ihre Rechte vertraglich zu sichern 8 -<br />

ein stufenweiser Prozess, der <strong>von</strong> zahlreichen Kämpfen begleitet wird; denn <strong>die</strong><br />

Dynamik, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Kommune <strong>von</strong> Siena entfaltet, prallt sowohl mit den lokalen Familiendynastien<br />

zusammen, <strong>die</strong> im Begriff sind, am Land ihre eigene Herrschaft zu<br />

konsoli<strong>die</strong>ren, 9 als auch mit den urbanen Zentren der Nachbarschaft, <strong>die</strong> das gleiche<br />

Ziel wie Siena verfolgen. 10 Erzrivalin der Sieneser Kommune wird schon Mitte des 12.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>die</strong> Kommune <strong>von</strong> Florenz, <strong>die</strong> sich erfolgreich im Norden der Toskana<br />

der eigenen Machtkonsoli<strong>die</strong>rung <strong>und</strong> -ausdehnung widmet. Spiegelbild der Sieneser<br />

Machtexpansion wird der Caleffo, in den <strong>die</strong> Sienesen ihre teilweise durch<br />

Waffengewalt, teilweise aber auch durch finanzielle Abgeltung oder freiwillige<br />

Unterwerfung erzielten Friedensverträge einordnen.<br />

Kaiser <strong>und</strong> Papst sind in den lokalen Konflikten gewissermassen dritte Partei.<br />

Sowohl der Kaiser als auch der Papst bemühen sich erfolglos im Laufe des 12. <strong>und</strong> 13.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts, Macht in Mittel- <strong>und</strong> Oberitalien zu gewinnen. Im Jahr 1304 verlegt <strong>die</strong><br />

Kurie ihren Sitz nach Avignon. Das Unternehmen der deutschen Kaiser, das<br />

Unabhängigkeitsbestreben der italienischen Städte zu stoppen, endet 1250 mit dem<br />

Tod des Staufers Friedrich II.. Zu Beginn des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts werden <strong>die</strong> Kaiser in<br />

Italien nur noch während ihren unglücklichen Krönungszügen nach Rom gesichtet, in<br />

den Jahren 1310/13 Heinrich VIII. <strong>von</strong> Luxemburg, 1327/29 Ludwig der Bayer. Nicht<br />

anders als ihre Vorgänger stehen auch sie in Opposition zum Papsttum, das weltliche,<br />

<strong>von</strong> den Kaisern nicht zu akzeptierende Machtansprüche geltend macht. Die<br />

italienischen Städte, teilweise auch Oppositionsparteien innerhalb der Städte,<br />

verbünden sich jeweils mit dem Kaiser oder dem Papst, je nach dem, welche Allianz<br />

für sie lokalpolitisch günstiger ist. Die dem Kaisertum zuzurechnende Partei nennt sich<br />

<strong>die</strong> Partei der Ghibellinen; <strong>die</strong>, welche <strong>die</strong> Schlüssel des Papsttums im Wappen führt,<br />

<strong>die</strong> Partei der Guelfen. 11<br />

8 Dieser Prozess spiegelt sich im Caleffo wider. <strong>Der</strong> neu geordnete Caleffo vom Jahr<br />

1334/1336 enthält z.B. im ersten Kapitel <strong>die</strong> Verträge aus den Jahren 1137-1237, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Sieneser<br />

Rechte auf Montieri <strong>und</strong> seine Silberminen definieren <strong>und</strong> <strong>die</strong> dem Bischof <strong>von</strong> Volterra abgerungen<br />

wurden; Kapitel zwei enthält <strong>die</strong> Verträge 1151-1335, <strong>die</strong> den Aldobrandeschi <strong>und</strong> der Kommune <strong>von</strong><br />

Grosseto abgerungen wurden u. s. w. Siehe PAOLI (1866), S. 63ff; CAMMAROSANO (1988); DE<br />

VERGOTTINI (1929) <strong>und</strong> DERS. (1953).<br />

9 Zur postkarolingischen Anarchie <strong>und</strong> Zersetzung der öffentlichen Ordnung, <strong>die</strong> erst mit dem<br />

Zeitalter der Kommunen beendet wird siehe TABACCO (1973) <strong>und</strong> TABACCO (1979), S. 205 <strong>und</strong> S.<br />

240ff.<br />

10 Zur aggressiven Expansionspolitik der Kommunen siehe JONES (1978), S. 213 <strong>und</strong> 215ff.<br />

Illustratives Beispiel: Die erste Tat der Florentiner Kommune war <strong>die</strong> Zerstörung des benachbarten<br />

Fiesole: DAVIDSOHN (1896), I, S. 392ff.<br />

11 WALEY (1969), S. 70ff.; CRACCO, 1987, S. 607ff.; siehe auch DAVIDSOHN (1896/1908),<br />

Band I <strong>und</strong> Band II.<br />

7


Siena ist bis kurz nach dem Tod des letzten Staufersprösslings Konradin, der<br />

Enkel Friedrichs II., ghibellinisch. Schon im 12. Jahrh<strong>und</strong>ert hat <strong>die</strong> Sieneser<br />

Kommune gegen das aufstrebende Florenz im kaiserlichen Lager Unterstützung<br />

gesucht. Dennoch hat sie mehrere Niederlagen einstecken müssen, <strong>und</strong> nach dem Tod<br />

Friedrichs II. 1250 muss Siena mit Poggibonsi, Montepulciano <strong>und</strong> Montalcino einige<br />

grössere Gebiete seines Einflussbereiches an <strong>die</strong> Nachbarin abgeben. Nachdem<br />

Florenz aber Sienas Unterwerfung verlangt hat, gelingt den Sienesen 1260 bei<br />

Montaperti der Sieg <strong>und</strong> <strong>die</strong> Kommune wird während knapp zehn Jahren zum<br />

toskanischen Zentrum des stauferschen Widerstands gegen den Papst <strong>und</strong> <strong>die</strong> Anjou.<br />

Letztere hatten mit dem Segen des Papstes den Tod Friedrichs II. genutzt, um Neapel<br />

<strong>und</strong> das Königreich beider Sizilien an sich zu reissen. Nachdem aber Manfred 1266 in<br />

der Schlacht <strong>von</strong> Benevent <strong>und</strong> sein Sohn Konradin 1268 in Tagliacazzo fällt,<br />

wechselt auch Siena in das guelfische Lager. 12<br />

Im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert ist Siena eine selbstbewusste, politisch unabhängige<br />

Stadt, <strong>die</strong> eine Verfassung hat, auf einer grossen Zahl rechtlicher Gr<strong>und</strong>lagen beruht<br />

<strong>und</strong> verschiedene politische Institutionen kennt. <strong>Der</strong> Bischof, der in der<br />

Entstehungszeit der Kommune ein integrierendes Element dargestellt hat, ist schon<br />

Mitte des 12. Jahrh<strong>und</strong>erts aus der Regierung verdrängt worden. Entlang der<br />

wichtigsten Verkehrswege hat Siena seine Macht bis weit in den Süden ans Meer<br />

ausgedehnt <strong>und</strong> seine Rechte vertraglich verbrieft. Nicht nur kleinere Stadtkommunen<br />

wie Montepulciano, Montalcino, Grosseto oder Massa Marittima haben sich den<br />

Sienesen schliesslich unterwerfen müssen, sondern auch Grafengeschlechter wie <strong>die</strong><br />

Scialenghi oder Aldobrandeschi, <strong>die</strong> sich seinerzeit rühmten, mehr Burgen <strong>und</strong><br />

Kastelle als Tage im Jahr zu besitzen. Und mit Florenz, das mehr als ein Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

lang <strong>die</strong> Sienesen immer wieder bekämpft hat, ist in der zweiten Hälfte des 13.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert eine stabile Einigung zustandegekommen, <strong>die</strong> es der Stadt erlaubt, im<br />

Süden der Toskana seine Macht zu festigen. Während <strong>die</strong> Sienesen <strong>die</strong> führende Rolle<br />

der Arnostadt in der guelfischen Liga anerkennen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Allianz mit dem Papst <strong>und</strong><br />

dem Haus Anjou mittragen, verzichtet <strong>die</strong>se auf aggressives Verhalten <strong>und</strong> <strong>über</strong>lässt<br />

Siena <strong>die</strong> Machtausdehnung im Süden.<br />

Im Zuge der politischen Emanzipation ist auch <strong>die</strong> Bevölkerung der Stadt<br />

gewachsen. Sie zählt im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert 50'000 Einwohner. In Italien, wo sich<br />

<strong>die</strong> meisten Städte Europas befinden, sind nur Mailand, Florenz, Genua <strong>und</strong> Venedig<br />

mit je 100'000 Einwohnern grösser. Siena ist so bevölkerungsreich wie Bologna, Pisa<br />

oder Palermo. Nördlich der Alpen können nur Paris, London <strong>und</strong> Gent<br />

konkurrenzieren. Während <strong>die</strong> französische Metropole r<strong>und</strong> 200'000 Einwohner hat,<br />

12 DAVIDSOHN (1896 / 1908), Band I <strong>und</strong> Band II; WALEY (1991); SESTAN (1961); MARTINI<br />

(1961)<br />

8


sind London <strong>und</strong> Gent nicht grösser als Siena. 13 So besitzt <strong>die</strong> Stadt auch international<br />

Rang <strong>und</strong> Namen, obwohl sie zur Zeit der Römer nur eine kleine unbedeutende<br />

Militärkolonie ausserhalb der grossen Verkehrswege war. Ihr Glück ist <strong>die</strong> günstige<br />

Lage an der Via Francigena, der wichtigsten Verkehrsachse, <strong>die</strong> Rom mit dem Norden<br />

verbindet, nachdem <strong>die</strong> alte römische Via Cassia, <strong>die</strong> <strong>über</strong> Arezzo <strong>und</strong> Chiusi entlang<br />

des Chiana-Flusses lief, wegen der Kämpfe der Langobardenzeit an Bedeutung<br />

eingebüsst hatte. 14 Entlang der neuen Verkehrsachse haben sich am Fuss des alten<br />

Siedlungsgebiets, der Città, wo seit dem 4. Jahrh<strong>und</strong>ert auch eine Bischofskirche steht,<br />

Sienas neue Stadtteile San Martino <strong>und</strong> Camollia entwickelt. Im frühen 14.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert werden sie schon <strong>von</strong> einem vierten Mauerring umschlossen, nachdem<br />

<strong>die</strong>ser erstmals im 12. Jahrh<strong>und</strong>ert erweitert wurde. 15 Dieser Mauerring umfasst nun<br />

auch Grünflächen <strong>und</strong> einen Park; denn nicht nur Händler <strong>und</strong> Pilger sollen nach Siena<br />

gelockt werden, sondern auch “Fremde, <strong>die</strong> in andere Städte wegen der Vergnügungen<br />

<strong>und</strong> Lustbarkeiten ziehen.” 16 Im Sieneser Contado, in dem r<strong>und</strong> weitere 100'000 Leuten<br />

wohnen, sind indessen <strong>die</strong> warmen Bäder <strong>von</strong> Petriolo <strong>und</strong> Macereto den Reisenden<br />

eine Freude, während sie der Kommune als willkommene Einnahmequelle <strong>die</strong>nen. 17<br />

Seit dem Jahr 1246 besitzt <strong>die</strong> Stadt auch eine Universität, ein studium generale, <strong>und</strong><br />

in den Jahren 1321/22 gelingt es der Regierung, Professoren <strong>und</strong> Studenten aus der<br />

berühmten Universitätsstadt Bologna in <strong>die</strong> eigene Stadt zu locken, <strong>die</strong> Gelegenheit<br />

nutzend, dass dort zwischen der Universität <strong>und</strong> der Kommune ein Streit ausgebrochen<br />

ist. 18<br />

Doch ihren internationalen Ruf verdankt Siena seinen Bankiers <strong>und</strong><br />

Handelshäusern. Diese sind schon Ende des 12. Jahrh<strong>und</strong>erts an der päpstlichen Kurie<br />

in Rom zu finden. Die Sieneser Kompanie der Bonsignori hat <strong>die</strong> päpstliche<br />

Schatzkammer reorganisiert <strong>und</strong> sie zum bestfunktionierenden Finanzsystem des<br />

Abendlandes gemacht. Mit Hilfe schriftlicher Geschäftskorrespondenz <strong>und</strong> der Erfindung<br />

des Wechselbriefes haben sich Sieneser Bank- <strong>und</strong> Handelskompanien in<br />

Frankreich, Flandern, Deutschland, England <strong>und</strong> Spanien niedergelassen. Es werden<br />

Geld-, Spekulations- <strong>und</strong> Kreditgeschäfte durchgeführt, gehandelt wird vorwiegend<br />

mit Getreide, orientalischen Gewürzen <strong>und</strong> kostbarem Tuch aus Flandern <strong>und</strong><br />

England. 19 Weitere Stütze des wirtschaftlichen Wohlstands ist neben dem Handel das<br />

Tuchgewerbe. Jährlich werden bis 10'000 Ballen Stoff produziert, auch wenn <strong>die</strong><br />

13 BOWSKY (1981), S. 3 ff. sowie (1964), S. 5 ff.; CHERUBINI (1991), S. 15 ff. <strong>und</strong> S. 127 ff.<br />

14 TABACCO (1973), S. 166f.; SESTAN (1961), S. 31<br />

15 Zur Stadtentwicklung: BALESTRACCI / PICCINI (1977)<br />

16 Costituto 1309/10, III. 291; s.a. BRAUNFELS (1953), S. 208<br />

17 BOWSKY (1970), S. 18 ff.<br />

18 PRUNAI (1949); DERS. (1950)<br />

19 .WALEY (1991), S. 26; CARDINI et al. (1987); MARTINI (1961), S. 103; CHIAUDANO (1935);<br />

MAZZI (1923); ZDEKAUER (1924); SENIGAGLIA (1907/08);interessant auch REDON (1973)<br />

9


Sieneser Ware es schwer hat, sich international gegen das edlere Tuch aus dem<br />

Norden, Florenz oder der Seidenstadt Lucca durchzusetzen. 20 Die Tuchherstellung <strong>und</strong><br />

-veredelung benötigt sehr viel Wasser, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Hügelstadt Siena spürt das Fehlen eines<br />

schiffbaren Flusses. Mit der Ausdehnung der städtischen Macht bis ans Meer <strong>und</strong> mit<br />

dem Kauf des Hafens Talamone im Jahre 1303 versuchen <strong>die</strong> Bürger, der Schwierigkeit<br />

teilweise Herr zu werden. 21 Gleichzeitig entwickeln sie für <strong>die</strong> Wasserversorgung<br />

ihrer Hügelstadt ein erstaunliches Geschick im Brunnenbau. 22 Auch geben sie <strong>die</strong><br />

Hoffnung nicht auf, einen unterirdischen Fluss zu finden, dem sie, auch wenn ihre<br />

Suche letztlich nicht <strong>von</strong> Erfolg gekrönt wird, den Namen Diana geben. 23<br />

1.2. Das politische System der Kommune unter den Nove<br />

Das politische System der Kommune, das sich in den Städten <strong>und</strong> Gemeinden<br />

Italiens seit dem 12. Jahrh<strong>und</strong>ert entwickelt hat, zeichnet sich durch <strong>die</strong> Bindung aller<br />

Amtshandlungen an <strong>die</strong> <strong>von</strong> der Versammlung der Bürger verabschiedeten Gesetze<br />

sowie durch Machtteilung <strong>und</strong> Ämterrotation aus <strong>und</strong> beruht auf einem<br />

Zusammenspiel <strong>von</strong> mehreren Institutionen <strong>und</strong> Räten. Ihre Beratungen <strong>und</strong><br />

Beschlüsse werden durchgehend <strong>von</strong> einem protokollierenden Notar festgehalten <strong>und</strong><br />

sind somit auch für <strong>die</strong> folgenden Amtsträger nachvollziehbar. Wer Regierungs- <strong>und</strong><br />

Verwaltungsverantwortung trägt, muss deshalb des Lesens <strong>und</strong> Schreibens mächtig<br />

sein. Ämterkumulationen innerhalb einer Amtsperiode sind verboten <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Amtszeiten sind generell äusserst kurz. In Siena betragen sie höchstens sechs Monate<br />

<strong>und</strong> können gr<strong>und</strong>sätzlich nicht verlängert werden. So ist in der Regel 18 Monate bis<br />

fünf Jahre zu warten - sogenannte Vakationsfristen -, bevor <strong>die</strong> gleiche Person in<br />

dasselbe Amt gewählt werden kann. Dabei wird auch kaum ein Amt einer<br />

Einzelperson <strong>über</strong>lassen, es sei denn, man betraut einen Fremden, der <strong>von</strong> ausserhalb<br />

der eigenen Stadt kommt, für eine beschränkte Frist mit gewissen Machtkompetenzen.<br />

Die Ämter aber, <strong>die</strong> <strong>von</strong> den Bürgern selbst besetzt werden, sind jeweils<br />

Kollegialorgane, <strong>die</strong> als Räte funktionieren <strong>und</strong> ihre Beschlüsse durch einen<br />

Mehrheitsentscheid fällen. In Siena bedeutet <strong>die</strong>s auch, dass alle drei Stadtteile - Città,<br />

20 TORTOLI (1975/76)<br />

21 BOWSKY (1981), S. 6<br />

22 BRAUNFELS (1952), S. 182 ff.; BARGAGLI-PETRUCCI (1906); BALESTRACCI / PICCINNI<br />

(1977), S. 145 ff.<br />

23 Bsp. für einen Beschluss des Grossen Rates betreffend <strong>die</strong> "Diana" (aus dem Jahr<br />

1295):...deliberatum fuit et provisum quod acqua que dicebatur Diana debeat cercari et invenire...per<br />

operarium Sancte Marie. Zitiert bei BRAUNFELS (1952), S. 183 <strong>und</strong> BERGAGLI-PETRUCCI (1906), II,<br />

S. 157. Dante machte sich sowohl <strong>über</strong> <strong>die</strong> Sienesen aufgr<strong>und</strong> ihrer Suche nach <strong>die</strong>sem Fluss lustig als<br />

auch <strong>über</strong> ihren Hafen Talamone, der in einem Malaria versuchten Gebiet liegt: Purgatorio XIII.151-<br />

154<br />

10


San Martino <strong>und</strong> Camollia - in <strong>die</strong>sen Organen gleichermassen berücksichtigt werden.<br />

So ist <strong>die</strong> Zahl der Ratsmitglieder <strong>und</strong> Träger desselben Amts entweder durch drei<br />

teilbar oder ein vierter Sitz rotiert unter den drei Terzi. Ausserdem wird darauf<br />

geachtet, dass Verwandte <strong>und</strong> Geschäftspartner nicht gleichzeitig oder nacheinander in<br />

wichtigen Ämtern zu finden sind. Ist der Sohn besser als der Vater, so schreiben <strong>die</strong><br />

Statuten vor, sei der Sohn zu wählen. Einerseits sollen durch <strong>die</strong>se Amtsvorschriften<br />

familiäre Machtstrukturen durchbrochen <strong>und</strong> Machtkonzentrationen verhindert<br />

werden. Andererseits <strong>die</strong>nen sie aber auch dem einzelnen Bürger - namentlich <strong>die</strong><br />

kurzen Amtszeiten <strong>und</strong> Vakationsfristen -, da Amtspflicht besteht. 24 Manche Ämter<br />

sind sehr zeitaufwendig <strong>und</strong> behindern damit <strong>die</strong> eigene Geschäftstätigkeit. So ist zum<br />

Beispiel Motiv für eine Verlängerung der Vakationsfrist eines der Ämter, dass es mit<br />

grosser Mühe <strong>und</strong> Sorge, fatiga <strong>und</strong> angoscia, verb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> es nicht möglich sei,<br />

während der Amtsausübung den eigenen Geschäften nachzugehen. 25<br />

Lag <strong>die</strong> Vollversammlung aller waffenfähigen Männer ursprünglich dem System<br />

der Kommune zu Gr<strong>und</strong>e, wird sie schon in der zweiten Hälfte des 12. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

vom Consiglio generale als oberstem Legislativ-, Entscheidungs- <strong>und</strong> teils auch<br />

Wahlorgan abgelöst. Sein ursprünglicher Name ist Consiglio della Campana, Rat der<br />

Glocke, weil er durch das Läuten der Stadtglocken einberufen wird. 26 Seine<br />

Mitgliedschaft erreicht Ende des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts 300 Bürger, 100 pro Terzo, kann<br />

jedoch durch <strong>die</strong> zusätzliche Einberufung <strong>von</strong> 50 pro Terzo erweitert werden.<br />

Entscheide fallen durch geheime Abstimmung. Die Ja-Stimmen werden in eine weisse<br />

Schachtel, <strong>die</strong> Nein-Stimmen in eine schwarze geworfen, ab 1339 wird in Siena nach<br />

dem Vorbild <strong>von</strong> Florenz für ein Ja eine weisse Bohne <strong>und</strong> für ein Nein eine schwarze<br />

Bohne in <strong>die</strong> Abstimmungsurne gelegt. 27 Je nach Wichtigkeit der Angelegenheit ist für<br />

<strong>die</strong> Gültigkeit eines Beschlusses ein einfaches oder qualifiziertes Mehr (2/3-Mehrheit)<br />

notwendig, jedoch müssen mindestens 200 Abgeordnete anwesend sein. 28 Da es - trotz<br />

Erscheinungspflicht - im Laufe der Zeit immer schwieriger wird, <strong>die</strong> notwendige<br />

Quote für eine Beschlussfassung zu versammeln, wird 1319 entschieden, dass der<br />

andere mitgliedstarke Rat in Siena, der Consiglio del Popolo, sowie <strong>die</strong> Offiziere der<br />

Stadtmiliz an den Sitzungen des Consiglio generale teilnehmen sollen. 29 Im Jahr 1332<br />

werden ausserdem <strong>die</strong> Sitzungen auf eine pro Woche - am Freitag - beschränkt <strong>und</strong> der<br />

24 Siehe dazu <strong>die</strong> Bestimmungen in der Costituto 1309/10, <strong>die</strong> ebenfalls in der Constitutum<br />

1337/39 zu finden sind, v. a. Costituto 1309/10, VI.4 ff.<br />

25 Statuto della Mercanzia, IV. 59, S. 171: "anche considerando la fatiga e l'angoscia<br />

sostengono non potendo durante el loro offitio fare la loro arte ... "; s. a. SENIGAGLIA (1907), S. 224<br />

26 BOWSKY (1981), S. 85 ff.; WALEY (1991), S. 49 ff.<br />

27 BOWSKY (1981), S. 95<br />

28 BOWSKY, 1981, S. 98 f.<br />

29 Statuti 8, c. 192v; Constitutum 1337/39, I. 217, c. 55r: "Quod Consilium campane, populi,<br />

sotietatum et vexiliferorum et vicariatuum sit unum et voceter Consilium Generale."<br />

11


Modus für <strong>die</strong> Verabschiedung <strong>von</strong> Gesetzen vereinfacht. 30 Denn ein häufiges Tagen,<br />

so heisst es, sei für <strong>die</strong> Mitglieder umständlich geworden <strong>und</strong> "vor allem <strong>die</strong><br />

Handwerker <strong>und</strong> Ladenbesitzer <strong>und</strong> andere <strong>gute</strong> Bürger der besagten Stadt, <strong>die</strong> ihre<br />

Geschäfte tätigen müssen, würden geschädigt ... weshalb <strong>die</strong>se sich öfters beklagen." 31<br />

Mit dem kontinuierlichen Ausbau der staatlichen Administration verlagern sich<br />

Beratung <strong>und</strong> Gesetzgebungsarbeit vermehrt in kleinere, <strong>über</strong>sichtlichere Organe.<br />

Trotzdem bleibt der Consiglio generale das oberste legislative Organ. 32 Durch <strong>die</strong><br />

Steuergesetzgebung behält er auch das letzte Wort in der kommunalen<br />

Finanzverwaltung <strong>und</strong> bleibt ausschliesslich dafür zuständig, <strong>über</strong> Krieg <strong>und</strong> Frieden<br />

zu bestimmen.<br />

Jeder Beschluss, der rechtsgültig vom Consiglio generale gefasst wird, ist für <strong>die</strong><br />

Amtsträger verbindlich <strong>und</strong> wird gr<strong>und</strong>sätzlich Teil des Sieneser Gesetzeskorpus, der<br />

gleichzeitig auch Sienas Verfassung ist. Um jedoch zu verhindern, dass <strong>die</strong> Verfassung<br />

allzu un<strong>über</strong>sichtlich wird, entscheidet der Consiglio generale jährlich im April, ob es<br />

nötig sei, eine Kommission <strong>von</strong> 13 Emendatoren der Statuten einzusetzen,<br />

sogenannte Verbesserer der Statuten. 33 Sie haben den Auftrag, für <strong>die</strong> Verfassung zu<br />

sorgen <strong>und</strong> bestimmen im Einzelfall, ob ein vom Rat verabschiedeter Beschluss in <strong>die</strong><br />

Statuten aufgenommen werden soll oder nicht. Diesbezüglich festgelegte Kriterien gibt<br />

es nicht; im Allgemeinen bringen <strong>die</strong> 13 Emendatoren solche Beschlüsse in <strong>die</strong><br />

Statuten ein, <strong>die</strong> langfristige Wirkung entfalten sollten. Im weiteren hat das Gremium<br />

<strong>die</strong> Aufgabe, wünschenswerte Änderungen im Räderwerk der Staatsverwaltung zu<br />

beantragen. Die Ergebnisse der Beratung werden dem Consiglio generale vorgelegt,<br />

der offen dar<strong>über</strong> abstimmt.<br />

Die 13 Emendatoren tagen während maximal zwölf Tagen in Klausur. Ihren<br />

Sitzungsort dürfen sie nur bei Todesfällen in der Familie verlassen. Zutritt haben<br />

neben den Dienern, <strong>die</strong> <strong>von</strong> der Kommune bezahlt werden, nur <strong>die</strong> Personen in Siena,<br />

<strong>die</strong> Institutionen repräsentieren, <strong>über</strong> welche <strong>die</strong> Verfassung legiferiert: <strong>Der</strong> Bischof,<br />

der Erzdiakon, der Probst, <strong>die</strong> Rektoren der zwei grossen kommunalen Spitäler, des<br />

Spitals Santa Maria della Scala <strong>und</strong> der Casa della Misericordia, sowie auch <strong>die</strong><br />

wichtigsten Amtsträger <strong>und</strong> Ordini der Stadt, <strong>die</strong> weiter unten vorgestellt werden. Von<br />

den Zünften haben nur <strong>die</strong> Konsuln der zwei wichtigsten Zünfte Zutritt, das heisst <strong>die</strong><br />

Konsuln der Mercanzia, <strong>die</strong> das internationale Handels- <strong>und</strong> Bankgeschäft<br />

repräsentieren, sowie <strong>die</strong> Konsuln <strong>und</strong> <strong>die</strong> Zunftmitglieder der Arte della Lana, der<br />

Tuchherstellung. Ihnen allen ist jedoch verboten, <strong>die</strong> 13 Emendatoren zu irgend einem<br />

Gesetzesvorschlag zu zwingen.<br />

(1981), S. 92 f.<br />

30 BOWSKY (1981), S. 98 ff.<br />

31 Consiglio Generale, 111, cc. 8r-13r; zitiert nach BOWSKY (1981), S. 98<br />

32 BOWSKY (1981), S. 85/96/101; v.a. Fn. 1, S. 85<br />

33 Constitutum 1337/39 , I. 211, S. 219 ff.; Costituto 1309/10, I. 145, I, S. 132 ff.; BOWSKY<br />

12


Während der Consiglio generale <strong>über</strong> <strong>die</strong> Wahl der 13 Emendatoren jährlich im<br />

Mai entscheidet, ist indessen <strong>die</strong> Totalrevision der Verfassung <strong>von</strong> 1337/39, <strong>die</strong><br />

eingangs erwähnt wurde, ein besonderer Fall der Verfassungrevision. Hierfür hat der<br />

Consiglio generale zusätzlich einen auswärtigen Juristen nach Siena gerufen <strong>und</strong> mit<br />

der Aufgabe betraut, den Inhalt der Verfassung <strong>und</strong> aller rechtskräftig verabschiedeten<br />

Gesetze in eine neue Ordnung zu giessen, so dass ein <strong>über</strong>sichtliches, kurzes <strong>und</strong><br />

widerspruchsfreies Gesetzbuch entsteht. Diese Aufgabe zieht sich mindestens <strong>über</strong><br />

zwei Jahre hin, wird <strong>von</strong> kleineren Bürgerkommissionen ständig begleitet, <strong>von</strong><br />

Sieneser Professoren des Zivilrechts kontrolliert <strong>und</strong> vom Consiglio generale<br />

<strong>über</strong>wacht <strong>und</strong> schliesslich in Kraft gesetzt. 34<br />

Seit 1289 stehen in Siena <strong>die</strong> Nove governatori et difenditori del comune e del<br />

popolo an der Spitze des politischen Systems der Sieneser Kommune, ein Kollegium<br />

<strong>von</strong> neun Sieneser Bürgern, drei pro Terzo, das alle zwei Monate mit neuen<br />

Amtsträgern besetzt wird. Die Wahl in das Amt der Nove ist laut Verfassung den<br />

mercatores oder gente media bzw. meza gente vorbehalten, d.h. tatsächlich der oberen<br />

Mittelschicht. 35 Sie sind Ausdruck des wirtschaftlichen Wachstums, das Siena im 12.<br />

<strong>und</strong> 13. Jahrh<strong>und</strong>ert erfasst hat. In ihren Reihen finden sich vorwiegend Bankiers,<br />

Gewürz-, Farben- <strong>und</strong> Tuchhändler sowie Tuchfabrikanten. Nach unten ist das Amt<br />

gegen das Handwerk, <strong>die</strong> einfacheren Geschäftsinhaber <strong>und</strong> <strong>die</strong> Besitzlosen<br />

abgeschlossen. Nach oben geschieht dergleichen gegen <strong>die</strong> mächtigen Geschlechter<br />

der Stadt, den sogenannten Magnaten oder Casaten. Keinen Zugang zum Neuner-<br />

Kollegium haben <strong>über</strong><strong>die</strong>s Ritter, Richter <strong>und</strong> Ärzte 36 sowie Notare. 37<br />

34 Siehe publizierte Dokumente bei ASCHERI / OTTAVIANO (1990); ASCHERI / FUNARI (1989),<br />

S. 352 f.; ASCHERI / OTTAVIANO (1981), S. 213 ff.<br />

35 "De hiis qui possint essere de novem. Item quod domini Novem qui sunt esse debent<br />

defensores coumunis et populi sen. et civitatis et districtus eiusdem sint et esse debeant de<br />

mercatoribus et de numero mercatorum civitatis sen. vel de media gente." Regelung seit der Rückkehr<br />

der Guelfen 1271, Statuti 3, c. 45v zitiert nach MARTINI (1961), S. 25 f. Dieses Gesetz bleibt bis zum<br />

Sturz der Neun in Kraft. Volgareversion in der Costituto 1309/10, VI. 5: "Anco, che li signori Nove, e'<br />

quali sono et essere debono difenditori del comune et popolo di Siena et del contado et distretto d'essa,<br />

sieno et essere debiano de' mercatanti de la città di Siena o vero de la meza gente. Siehe BOWSKY<br />

(1981), S. 54 ff., WALEY (1991), S. 45 ff., CHERUBINI (1987), S. 116 ff.<br />

36 BOWSKY meint, der Ausschluss der Ritter habe mit deren Verbindung zu den Magnaten zu<br />

tun. <strong>Der</strong> Beruf des Richter <strong>und</strong> Juristen war sehr prestigeträchtig; viele Richter stammten aus<br />

Magnatenfamilien oder hatten enge Verbindungen zu ihnen. Auch <strong>die</strong> Ärzte wurden aufgr<strong>und</strong> ihres<br />

sozialen Status, der sie mit den Magnaten in Verbindung brachte, <strong>von</strong> den Reihen der Neun<br />

ausgeschlossen. Gemäss dem Gesetz <strong>von</strong> 1324 betreffend Kleidervorschriften waren <strong>die</strong> Ritter,<br />

Richter <strong>und</strong> Aerzte <strong>die</strong> einzigen, <strong>die</strong> Kleider aus doppelter Seide <strong>und</strong> spitze Schuhe tragen durften. Für<br />

<strong>die</strong> anderen war es verboten, weil es sich nicht ziemte, als inferiores, <strong>die</strong> Gewohnheiten <strong>und</strong> <strong>die</strong> Mode<br />

der maiores nachzuäffen. Gemäss dem Gesetz eine Abart, <strong>die</strong> sich in Siena breit gemacht habe.<br />

BOWSKY (1981), S. 69 f.<br />

13


Seit dem Jahr 1277 kennt Siena eine Liste, <strong>die</strong> eindeutig festhält, wer zu den<br />

Mächtigen der Stadt zählt <strong>und</strong> damit für <strong>die</strong> Ordnung der Kommune eine Gefahr<br />

darstellt. Aufgezählt werden knapp 70 Familien, <strong>die</strong> sich alle durch einen mächtigen<br />

Geschlechterverband auszeichnen, sich meist auf eine Gefolgschaft im Contado<br />

stützen <strong>und</strong> sich aufgr<strong>und</strong> ihrer Stellung <strong>und</strong> tatkräftigen Beteiligung an<br />

Familienfehden nur schwer einer öffentlichen Ordnung beugen. Typischerweise<br />

wohnen sie auch in burgähnlichen Anlagen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> ganze Sippe beherbergen <strong>und</strong><br />

deren Stolz einer <strong>die</strong>ser hohen Türme ist, <strong>die</strong> heute noch im benachbarten San<br />

Gimignano bew<strong>und</strong>ert werden können. Manche <strong>die</strong>ser Familien sind Nachkommen<br />

feudaler Adelsgeschlechter, wie <strong>die</strong> Ugurgieri, Aldobrandeschi, Cacciaconti oder<br />

Berardenghi, <strong>die</strong> <strong>von</strong> der Sieneser Kommune gezwungen wurden, sich in der Stadt<br />

anzusiedeln <strong>und</strong> <strong>die</strong> Gesetze <strong>und</strong> Verträge Sienas zu befolgen. Andere wiederum sind<br />

Familien städtischer Herkunft, <strong>die</strong> durch Handel <strong>und</strong> Bankwesen grosse Reichtümer<br />

anhäuften, in Landerwerb investierten <strong>und</strong> an den Rändern des Sieneser Contado <strong>von</strong><br />

verarmten Feudalherren Rechte erwarben. Zu nennen sind hier <strong>die</strong> Salimbeni,<br />

Tolomei, Gallerani, Bonsignori oder Piccolomini. 38 Meist führen sich <strong>die</strong>se Familien<br />

auf eine adlige Herkunft zurück, auch wenn der Begriff "adlig", nobile, im frühen 14.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert noch nicht abschliessend definiert ist. 39 Viele ihrer männlichen<br />

Nachkommen lassen sich jedoch zu Rittern schlagen oder sie stu<strong>die</strong>ren <strong>und</strong> werden<br />

Richter, Rechtsprofessoren oder Ärzte.<br />

An <strong>die</strong> Macht gelangt ist <strong>die</strong> obere Mittelschicht in Siena dank den politischen<br />

Reformen, <strong>die</strong> in der ersten Hälfte des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>von</strong> der Organisation des<br />

Popolo ausgelöst wurden, der sich zunächst in Opposition zur alten Kommune formiert<br />

hatte. Dieser Popolo organisierte sich in den Strukturen der Stadtmiliz, den pedites, im<br />

Unterschied zu den milites oder Rittern. Aufsteigende Kaufleute <strong>und</strong> Geldhändler<br />

verbündeten sich damals mit erfolgreichen Geschäftsinhabern <strong>und</strong> Handwerkern <strong>und</strong><br />

kämpften um <strong>die</strong> Mitsprache in der Kommune, nachdem sich im Laufe des 12.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts alteingesessene Familien <strong>und</strong> zugezogener Feudaladel als herrschende<br />

Schicht etabliert hatten. 40 Die Ausschliesslichkeit der gente media im<br />

Regierungskollegium der Nove, das sich sowohl gegen den popolo minuto als auch<br />

gegen <strong>die</strong> maiores abgrenzt, gründet dann nicht zuletzt in den politischen Unruhen, <strong>die</strong><br />

der Sieg <strong>von</strong> Montaperti gegen <strong>die</strong> Guelfen 1260 in der Stadt ausgelöst hat. Nach dem<br />

Siegesruhm der Ghibellinen folgte bald der Bannstrahl des Papstes, der vor allem <strong>die</strong><br />

Kaufleute Sienas traf, da er ihre Bank- <strong>und</strong> Handelsbeziehungen gefährdete. Die<br />

37 Die Notare waren so stark in der Verwaltung des Staatsapparates vertreten, dass <strong>die</strong><br />

Regierung der Nove sich veranlasst sah, ihre Macht zu beschränken.<br />

38 Besonders WALEY (1991), S. 35 ff.<br />

39 BOWSKY (1981), S. 67 f..<br />

40 ZDEAKUAUER (1897), Dissertazione, S. XXXXII ff.; CAMMAROSANO (1988), S. 68 f.;<br />

WALEY (1991), S. 101 ff.; BOWSKY (1981), S. 34 ff.; MONDOLFO U. G. (1911)<br />

14


päpstliche Ächtung führte 1263 zum Exodus zahlreicher Geschäftsleute, darunter viele<br />

Angehörige mächtiger Geschlechter, <strong>die</strong> aus Handelsinteressen zur Partei der Guelfen<br />

wechselten. Ausserdem belastete <strong>die</strong> Allianz mit den Staufersprösslingen zunehmend<br />

<strong>die</strong> Finanzen der Kommune. Zwar erlebte Siena damals militärisch seine glorreichste<br />

Zeit, doch stiegen <strong>die</strong> jährlichen Ausgaben um das Fünffache. Als das Ghibellinentum<br />

im Jahr 1270 zusammenbrach <strong>und</strong> <strong>die</strong> Stadt sich dem guelfischen Bündnis anschloss,<br />

wurde <strong>die</strong> Regelung eingeführt, dass <strong>von</strong> nun an hauptsächlich Kaufleute des<br />

Mittelstands <strong>die</strong> Regierungspolitik bestimmen sollen. Die vorhergehende<br />

Koalitionsregierung der Vier<strong>und</strong>zwanzig Prioren, <strong>die</strong> sowohl <strong>die</strong> grossen Familien der<br />

Stadt als auch den Popolo minuto berücksichtigte, war gescheitert. Sie hatte Siena in<br />

eine finanz- <strong>und</strong> aussenpolitische Sackgasse geführt <strong>und</strong> <strong>die</strong> Mächtigen der Stadt in<br />

Ghibellinen <strong>und</strong> Guelfen gespalten. Anfangs schwankte das Regierungskollegium der<br />

gente media noch zwischen 36 <strong>und</strong> sechs Personen, bis dann im Jahr 1289 <strong>die</strong> Zahl auf<br />

Neun, nove, festgesetzt wurde.<br />

Diese Nove governatori et difenditori del comune et del popolo werden <strong>die</strong> erste<br />

Regierung Sienas, <strong>die</strong> sowohl ihren Amts- als auch ihren Wohnsitz im Palast der<br />

Kommune hat. Bis dahin gab sich <strong>die</strong> Kommune zufrieden, <strong>die</strong> einzelnen Räte <strong>und</strong><br />

Ämter in Kirchen zu versammeln oder in Privatpalästen einzumieten. <strong>Der</strong> Gr<strong>und</strong>stein<br />

des Palasts wird 1298 gelegt, nachdem mehrere Jahre dafür aufgewendet worden sind,<br />

das Terrain inmitten der drei Stadtterzi, am campus fori, zu kaufen, schon gebaute<br />

Häuser abzureissen <strong>und</strong> das steil abfallende Gelände zu sichern. Die Arbeiten schreiten<br />

anschliessend rasch voran <strong>und</strong> im Mittelpunkt der Stadt, wo am Fuss des Domhügels<br />

<strong>die</strong> drei Terzi aufeinandertreffen, entsteht Anfang des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts ein<br />

mehrgeschossiger Palastbau mit Mitteltrakt, zwei Seitenflügeln <strong>und</strong> einem hohen<br />

Turm für <strong>die</strong> Stadtglocke. Während <strong>die</strong> Fassadengestaltung dem Bau einen Hauch<br />

Orient verleiht, wird der Palast selbst mit architektonischen Elementen ausgestattet,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong> Kommune als eine sich durchsetzende Macht anklingen lassen: Er erhält einen<br />

trutzigen Oberbau, Zinnenkronen <strong>und</strong> einen Turm, der alle Geschlechtertürme der<br />

Stadt <strong>über</strong>ragt. Als Baumaterial wird für das Gr<strong>und</strong>geschoss der teurere, weisse<br />

Travertin verwendet, während der Rest des Gebäudes aus rotem Ziegelstein errichtet<br />

wird, aus dem auch <strong>die</strong> Stadtmauer <strong>und</strong> viele der einfacheren Häuser Sienas gebaut<br />

sind.<br />

Sobald einzelne Bauetappen abgeschlossen sind, werden <strong>die</strong> Räume <strong>von</strong> den<br />

Institutionen der Kommune genutzt. Den Nove wird der gesamte rechte Seitentrakt<br />

zugewiesen, wo sich auch der Haupteingang in den Palast befindet. Damit sie sich<br />

während ihrer Amtszeit ausschliesslich den Regierungsgeschäften widmen, wird<br />

ausserdem verordnet, dass sie den Palast auch bei Nacht nicht verlassen dürfen.<br />

Ausnahmen werden nur bei Todesfällen in der engeren Verwandtschaft erteilt.<br />

15


Während einer Zeit <strong>von</strong> zwei Monaten tauschen also jeweils neun Sieneser Bürger ihr<br />

Eigenheim mit den Räumlichkeiten im Palast der Kommune, an <strong>die</strong> Stelle <strong>von</strong> Familie<br />

<strong>und</strong> beruflicher Tätigkeit treten Regierungsaufgaben. Gemeinsam mit ihnen ziehen<br />

auch jeweils drei Notare in den Palast ein, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Sitzungen des Kollegiums<br />

protokollieren, Briefe, Reden <strong>und</strong> Depeschen schreiben <strong>und</strong> das Archiv nachführen.<br />

Ausserdem stehen ihnen auch Leibwächter, Trompeter <strong>und</strong> Pfeifer, sowie Boten,<br />

Diener, ein Koch <strong>und</strong> Barbier zur Verfügung.<br />

Entsprechend dem System der Kommune <strong>und</strong> ihren vielen Institutionen sind <strong>die</strong><br />

Nove jedoch nicht <strong>die</strong> alleinigen Herren des Palasts: In das Erdgeschoss des<br />

Mittelbaus zieht <strong>die</strong> Münzprägestelle ein sowie das Schatz- <strong>und</strong> das Steueramt der<br />

Kommune, <strong>die</strong> Biccherna <strong>und</strong> Gabella. Ihre Amtsräume sind, wenn <strong>die</strong> schweren<br />

Holztüren geöffnet werden, direkt vom Campo, dem Marktplatz, zugänglich. Gleich<br />

dar<strong>über</strong>, im grossen Saal des ersten Stocks, trifft sich wöchentlich der Consiglio<br />

generale della Campana. <strong>Der</strong> linke Flügel schliesslich wird dem Podestà zugewiesen,<br />

dem offiziellen Staatsoberhaupt <strong>und</strong> oberstem Richter.<br />

Die Nove sind zur Zeit <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s zwar Sienas Regierung, sie sind “der<br />

Kopf der Kommune, caput communis” <strong>und</strong> ihr Amt der “Lebensnerv”, der der “Stadt<br />

Leben, Wohlstand <strong>und</strong> Ruhe verschaffen soll <strong>und</strong> dafür zu sorgen hat, dass <strong>die</strong><br />

Kommune <strong>und</strong> der Popolo in seinen Rechten geschützt werde.” 41 Offizielles<br />

Staatsoberhaupt ist aber der Podestà. 42 Sein Amt ist der Inbegriff der richterlichen <strong>und</strong><br />

herrschaftlichen Gewalt der Kommune. Das Amt wird alle sechs Monate neu <strong>von</strong><br />

einem Fremden besetzt, der jeweils im Dezember <strong>und</strong> Juni mit einem Tross <strong>von</strong><br />

Rittern, Knappen, Richtern <strong>und</strong> Notaren in <strong>die</strong> Stadt einzieht <strong>und</strong> den <strong>die</strong> Kommune<br />

für seine Dienste bezahlt. Gewählt wird er <strong>von</strong> den Nove <strong>und</strong> weiteren Ordini der<br />

Stadt, zu denen auch <strong>die</strong> Leiter des Schatzamts gehören. Die Würde seines Amts<br />

verlangt <strong>die</strong> Wahl eines Ritters, der mindestens 30 Jahre alt <strong>und</strong> des Lesens <strong>und</strong><br />

Schreibens mächtig ist. Er soll Guelfe sein <strong>und</strong> aus einer befre<strong>und</strong>eten Stadt kommen,<br />

<strong>die</strong> mindestens 40 Meilen <strong>von</strong> Siena entfernt ist; <strong>die</strong> meisten stammen aus Umbrien,<br />

der Mark oder Emilia Romagna, aus Städten jedenfalls, <strong>die</strong> kleiner sind als Siena.<br />

Dieses Amt kennt Siena schon seit Beginn des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts. Damals trat der<br />

Podestà an <strong>die</strong> Stelle der ersten Regierung der Kommune, den Konsuln, <strong>die</strong> im Laufe<br />

des 12. Jahrh<strong>und</strong>erts den Bischof aus der weltlichen Macht verdrängt hatten. Das Amt<br />

des Podestà geht ursprünglich auf Rechtserlasse der deutschen Kaiser Ende des 12.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts zurück, <strong>die</strong> damit in den Städten Italiens ihre Souveränitätsrechte<br />

41 "Et offitium dominorum Novem gubernator et defensor comunis et populi civitatis sen. sit<br />

vita salus et quies totius comunis et populi civitatis et comitatus sen. ipsamque comune et populum<br />

iusta suum tutelum protegat et gubernat." Statuti 18, c. 459r-460v (23. Februar 1323 gemäss Consiglio<br />

generale-Sitzung vom 27. Januar). Für <strong>die</strong> Nove als Kopf der Kommune siehe BOWSKY (1981), S. 55<br />

42 BOWSKY (1981), S. 24 ff.; WALEY (1991), S. 42 ff.<br />

16


auszuüben trachteten. Die italienischen Städte sind jedoch bereits so stark, dass sie<br />

ihren Podestà nicht vom Kaiser ernennen lassen, sondern selbst bestimmen. Und wie<br />

<strong>über</strong>all setzt sich auch in Siena bald nach Einführung <strong>die</strong>ses Amts <strong>die</strong> Regel durch,<br />

einen Fremden dafür zu wählen, damit er <strong>über</strong> den Parteien stehe. Während der<br />

Podestà in den Anfangszeiten sowohl als oberster Richter fungierte als auch <strong>die</strong><br />

eigentliche Leitung der Kommune innehatte, wird ihm <strong>von</strong> den Bürgern <strong>die</strong> Befugnis<br />

zur persönlichen Initiative allmählich entzogen. Im Jahr 1236 stellt man ihm in Siena<br />

mit den Vier<strong>und</strong>zwanzig Prioren erstmals ein städtisches Kollegium zur Seite, das<br />

zunehmend <strong>die</strong> Regierungsaufgaben an sich zieht, <strong>die</strong> dann auf <strong>die</strong> Nove <strong>über</strong>gehen.<br />

Doch bleibt der Podestà Sinnbild des politischen Systems der Kommune, seine freie<br />

Wahl Ausdruck städtischer Unabhängigkeit.<br />

In seiner Funktion als das formelle Staatsoberhaupt leitet er zur Zeit der Nove <strong>die</strong><br />

Sitzungen des Consiglio generale <strong>von</strong> Siena, ohne jedoch <strong>die</strong> Möglichkeit zu haben,<br />

eigene Vorschläge einzubringen. Seine wichtigste Aufgabe ist jedoch der Vorsitz im<br />

Sieneser Gerichtshof, der sich im linken Seitentrakt des Kommunalpalasts befindet.<br />

Dabei ist er strengstens an <strong>die</strong> Verfassung geb<strong>und</strong>en. Noch am Tag seiner Ankunft hat<br />

er <strong>die</strong> Pflicht, sich in den Dom zu begeben, um dort einen Eid auf <strong>die</strong> Verfassung<br />

Sienas <strong>und</strong> das Evangelium abzulegen. 43 Von ihm wird erwartet, dass er sich schon 15<br />

Tage vor Amtsbeginn, jeweils am 15. Dezember <strong>und</strong> 15. Juni, nach Siena begibt, um<br />

sich mit Hilfe seines Vorgängers mit den Geschäften der Stadt vertraut zu machen.<br />

Begleitet wird er dabei <strong>von</strong> zwölf Rittern, acht Knappen, sieben Richtern <strong>und</strong> zwei<br />

Notaren 44 sowie einer Truppe <strong>von</strong> 100 Waffenmännern mit ihrem Kapitän, <strong>die</strong> als seine<br />

Leibwächter <strong>und</strong> als Polizeigarde <strong>die</strong>nen, da<strong>von</strong> sechzig fürs Contado <strong>und</strong> vierzig für<br />

<strong>die</strong> Stadt. 45 Wie er, sind auch sie alles Fremde, <strong>die</strong> mindestens während 10 Jahren kein<br />

Amt in Siena besetzt hatten. 46<br />

Rechtsprechung <strong>und</strong> Rechtsdurchsetzung des Podestà erstrecken sich sowohl <strong>über</strong><br />

<strong>die</strong> Stadt als auch <strong>über</strong> den Contado <strong>von</strong> Siena. Die sieben Richter üben <strong>die</strong> Zivil- <strong>und</strong><br />

Strafgerichtsbarkeit in Siena aus, während <strong>von</strong> den zwölf Rittern zehn im Contado<br />

stationiert werden. Ihre Aufgabe ist es, nebst Eintreibung der Steuern, Raub <strong>und</strong> Mord<br />

aufzuklären, <strong>die</strong> Strassen zu sichern <strong>und</strong> <strong>die</strong> Straffälligen vor den städtischen<br />

Gerichtshof nach Siena zu führen. 47 Straffälle dürfen nur im Contado selbst angehört<br />

werden, wenn <strong>die</strong> Strafe nicht ein bestimmtes Mass <strong>über</strong>schreitet. Die Appellation am<br />

43 <strong>Der</strong> Eid, den der Podestà ablegte sowie auch jene der anderen fremden Beamten (der<br />

Richter, Notare, Ritter etc. des Podestà, der Notare der Strafgerichtsbarkeit, des Maggior Sindaco, des<br />

Capitano del Popolo) finden sich am Anfang eines Kodex, der <strong>die</strong> Consiglio generale-Protokolle<br />

enthält: Consiglio generale 98, cc. 1r ff.; siehe auch Costituto 1309/10, I.192 f., I, S. 169 f.<br />

44 Constitutum 1337/39, I. 47<br />

45 Constitutum 1337/39, I 49<br />

46 Constitutum 1337/39, I. 46<br />

47 Constitutum 1337/39, I. 54<br />

17


städtischen Gerichtshof ist immer möglich. 48 Zivilfälle werden auch in den Kommunen<br />

des Contado, <strong>von</strong> besonders dafür gewählten Sieneser Notaren entschieden, doch<br />

besteht für jeden Contado-Bewohner theoretisch <strong>die</strong> Möglichkeit, auch an den<br />

städtischen Gerichtshof zu gelangen. Für Sieneser Bürger, <strong>die</strong> drei Jahre regelmässig<br />

in Siena Steuern bezahlt haben, ist der Gerichtsstand, auch wenn Eigentum im<br />

Contado betroffen ist, ausschliesslich <strong>die</strong> Stadt Siena. Sie dürfen nicht vor ein Gericht<br />

im Contado zitiert werden. 49 Die anderen zwei Ritter bleiben beim Podestà in der Stadt<br />

als seine Gefährten. Zwei der Richter haben ausserdem <strong>die</strong> Aufgabe, den Podestà zu<br />

den Sitzungen des Consiglio generale zu begleiten. Sie lesen ihm <strong>die</strong> Statuten vor <strong>und</strong><br />

helfen ihm, dafür Sorge zu tragen, dass <strong>die</strong> Beschlüsse des Rates in <strong>die</strong> Tat umgesetzt<br />

werden. 50<br />

Die Machtkontrolle des Podestà allein durch Verfassung <strong>und</strong> Gesetze des<br />

Consiglio generale wird im Sieneser System der Kommune jedoch als ungenügend<br />

erachtet. An seine Seite werden deshalb weitere Organe gestellt, <strong>die</strong> ihn in seinem<br />

Aufgabenbereich sowohl konkurrenzieren als auch kontrollieren. Dazu gehört der<br />

Capitano del Popolo, dessen Gerichtshof in einem der Paläste am Campo, den <strong>die</strong><br />

Kommune hierfür mietet, eingerichtet wird, der Capitano di Guerra als Söldnerführer,<br />

der ebenfalls Rechtsprechungsfunktionen erhält, sowie der Maggior Sindaco, der für<br />

<strong>die</strong> Überprüfung der Verfassungs- <strong>und</strong> Gesetzmässigkeit aller Amtshandlungen in<br />

Siena verantwortlich ist. Alle drei sind wie der Podestà Fremde, der Capitano del<br />

Popolo <strong>und</strong> der Capitano di Guerra müssen gemäss Sieneser Statuten auch Ritter sein.<br />

Die Amtszeiten sind ebenfalls auf sechs Monate beschränkt <strong>und</strong> können, mit<br />

Ausnahme jene des Capitano di Guerra, nicht verlängert werden.<br />

Mit dem Gerichtshof des Capitano del Popolo verfügt Siena <strong>über</strong> eine<br />

Appellationsinstanz für <strong>die</strong> Entscheide des Gerichtshofs des Podestà. 51 Ausserdem<br />

werden hier Straffälle, <strong>die</strong> am Gerichtshof des Podestà hängig sind, untersucht, falls<br />

sie nicht rechtzeitig behandelt werden. Wie <strong>die</strong>ser hat der Capitano del Popolo deshalb<br />

mit einem Tross <strong>von</strong> Richtern, Notaren, Rittern, Knappen <strong>und</strong> Waffenmännern in<br />

Siena einzuziehen, der jedoch bedeutend kleiner ist als jener des Podestà. Seine<br />

besondere Aufgabe ist der Rechtsschutz der Schwachen gegen <strong>die</strong> Gewalttaten der<br />

Magnaten, das heisst, er hat dafür zu sorgen, dass gewalttätige Übergriffe <strong>von</strong><br />

Magnaten an jene, <strong>die</strong> nicht auf den Rückhalt eines mächtigen Geschlechterverbands<br />

zählen können, auch bestraft werden. Für <strong>die</strong>se Aufgabe steht ihm auch Sienas Miliz<br />

48 Constitutum 1337/39, III.225<br />

49 Constitutum 1337/39, III.77<br />

50 BOWSKY (1981), S. 107<br />

51 Zum Capitano del Popolo siehe: BOWSKY (1981), S. 34 ff.; WALEY (1991), S. 42 ff.. In<br />

CIAMPOLI (1984) sind alle einschlägige Bestimmungen zum Capitano del Popolo zusammengestellt<br />

auf der Gr<strong>und</strong>lage des Statuts, das für das Amt des Capitano del Popolo speziell zusammengestellt<br />

wurde (Capitano del Popolo 1). Siehe auch Constitutum 1337/39, III. 337, III. 356 ff., IV. 158 ff.<br />

18


zur Verfügung, <strong>die</strong> sich aus den compagnie del popolo der Stadt sowie den<br />

militärischen Einheiten des Contado zusammensetzt <strong>und</strong> aus der <strong>die</strong> Magnaten<br />

ausgeschlossen sind. Mit den Offizieren der Miliz durchleuchtet er deshalb alle zwei<br />

Monate <strong>die</strong> Mitglieder der mächtigen Geschlechter, ob sie ungesühnt Gewalttaten<br />

verübt haben. Ausserdem berät er mit ihnen mindestens einmal während seiner<br />

Amtszeit, im Beisein der Nove, was Nützliches zu tun ist, “um den starken Zustand<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Freiheit der Kommune <strong>von</strong> Siena aufrecht zu erhalten (pro conservatione boni<br />

status et libertatis comunis senarum).” 52 Wird ein Beschluss gefasst, ist <strong>die</strong>ser aber<br />

dem Consiglio generale vorzulegen. Nebst <strong>die</strong>sen Aufgaben, <strong>die</strong> in Konkurrenz <strong>und</strong><br />

Ergänzung zum Podestà <strong>die</strong> Rechtsprechung <strong>und</strong> <strong>die</strong> innere Sicherheit der Sieneser<br />

Kommune betreffen, sind ihm auch besondere Aufgaben zugewiesen, <strong>die</strong> das Gewerbe<br />

betreffen: Die Durchsetzung wirtschaftlicher Förderungsmassnahmen, <strong>die</strong> das<br />

Wachstum der Zünfte <strong>und</strong> besonders <strong>die</strong> Tuchherstellung begünstigen, <strong>die</strong> Kontrolle<br />

des Fleisch-, Fisch- <strong>und</strong> Getreidehandels sowie des Geldumlaufs, <strong>die</strong> Oberaufsicht<br />

<strong>über</strong> das staatliche Salzmonopol, das Wirtshauswesen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Benutzungsrechte des<br />

kommunalen Waldes (Selva del Lago, südlich der Stadt). Ausserdem hat er auch dafür<br />

zu sorgen, dass <strong>die</strong> Steuergesetze eingehalten werden <strong>und</strong> neue Bürger ihrer Pflicht<br />

nachkommen, den Wohnsitz nach Siena zu verlegen, Steuern zu zahlen <strong>und</strong> ein Haus<br />

zu bauen.<br />

Das Amt des Capitano del Popolo geht wie jenes des Podestà ebenfalls schon auf<br />

<strong>die</strong> Zeit vor den Nove zurück. Es ist Ausdruck des Popolo, der sich in Konkurrenz zur<br />

alten Kommune Anfang des 13. Jahrh<strong>und</strong>ert formiert hatte. Zur Durchsetzung seiner<br />

Forderungen hat er sich schliesslich einen eigenen “Podestà” gewählt, den er Capitano<br />

del Popolo nannte, <strong>und</strong> einen eigenen gesetzgebenden Rat geschaffen, den Consiglio<br />

del Popolo. Hauptsächliches Anliegen des Popolo war <strong>die</strong> Stärkung der öffentlichen<br />

Rechtsprechung <strong>und</strong> das Zurückdrängen persönlicher Vergeltungsmassnahmen, <strong>die</strong><br />

Durchsetzung einer Steuergerechtigkeit, <strong>die</strong> auch “<strong>die</strong> reichen Säcke” berücksichtigt<br />

<strong>und</strong> der Ausbau der kommunalen Administration im Sieneser Contado. 53 Zur Zeit der<br />

Nove sind <strong>die</strong>se Ziele des Popolo Teil des Sieneser Regierungsprogramms,<br />

gleichzeitig hat der Popolo aber seine selbständige Organisation verloren. <strong>Der</strong><br />

Capitano del Popolo hat <strong>die</strong> Aufgabe, <strong>die</strong> Regierung der gente media zu verteidigen,<br />

während <strong>die</strong> Nove auch <strong>die</strong> Offiziere der Sieneser Miliz bestimmen. Ausserdem hat<br />

der Consiglio del Popolo nur noch beratende Funktion, ist Teil des Consiglio generale<br />

52 "Capitaneus et defensor populi singulis duobus mensibus consilium faciat cum dominis<br />

Novem, in quo intersint capitanei, vexilliferi sotietatum et vicariatum et alii boni homines de gente<br />

media, 30 per Terzium diligenti pacifici et boni status civitatis senarum per dominos novem eligendi.<br />

In quo proponat si quis utile faciendum sit pro conservatione boni status et libertate comunis<br />

senarum." Constitutum 1337/39, III. 335, c. 181 rv; s. a. Capitano del Popolo 1, (Bestimmung aus dem<br />

Jahr 1313). Zum Begriff der politischen Freiheit: SKINNER (1978), I, S. 3 ff.; BENSON (1985);<br />

RUBINSTEIN (1986); MUNDY (1989)<br />

53 ZDEKAUER (1897), Dissertazione, S. LXXVII<br />

19


<strong>und</strong> seine 150 Mitglieder, 50 pro Terzo, werden ebenfalls <strong>von</strong> den Nove ernannt.<br />

Geblieben aber ist das Amt des Capitano del Popolo als oberster Kapitän der Sieneser<br />

Miliz, rechtlicher Beschützer der “Schwachen” <strong>und</strong> Kontrollorgan des städtischen<br />

Gerichtshofs, der vom Podestà geleitet wird. Gleichsam widerspiegeln seine Aufgaben<br />

im Wirtschaftsbereich <strong>die</strong> wirtschaftlichen Interessen, auf deren Durchsetzung der<br />

Popolo seit Anfang des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts innerhalb der Kommune drängt.<br />

<strong>Der</strong> Capitano di Guerra indessen ist ein Amt, das sich erst im Jahr 1323 definitiv<br />

in Siena etabliert <strong>und</strong> zur dauernden Anwesenheit eines stehendes Söldnerheers in der<br />

Stadt führt. 54 Kapitän <strong>die</strong>ses Söldnerheers ist der Capitano di Guerra, der <strong>von</strong> der<br />

Kommune in Vertrag genommen wird <strong>und</strong> jeweils 50 Reiter, 100 Fusssoldaten sowie<br />

Musikanten mitzubringen hat. Direkter Anlass für <strong>die</strong> längerfristige Dienstnahme<br />

ganzer Söldnerheere <strong>und</strong> ihres Capitano, dessen Vertrag vom Consiglio generale<br />

abgesegnet <strong>und</strong> alle sechs Monate entweder verlängert oder durch einen neuen Vertrag<br />

ersetzt wird, ist <strong>die</strong> aggressive Machtpolitik des Signore <strong>von</strong> Lucca, Castruccio<br />

Castracciani. Pistoia <strong>und</strong> Pisa sind schon seinen Angriffen erlegen, während er<br />

versucht, sich zum Herrn der Toskana aufzuschwingen. 55 So ist auch <strong>die</strong> wichtigste<br />

Aufgabe des Capitano di Guerra, das Sieneser Territorium vor einfallenden Truppen<br />

zu schützen <strong>und</strong> zu verhindern, dass Signori oder Kommunen des Contado rebellieren<br />

<strong>und</strong> zur feindlichen Macht <strong>über</strong>laufen. Mit der Zeit werden dem Capitano di Guerra,<br />

dessen Amt im Unterschied zum Podestà oder Capitano del Popolo nicht zwingend<br />

nach sechs Monaten neu besetzt werden muss, auch Aufgaben der Staatssicherheit<br />

innerhalb der Mauern <strong>von</strong> Siena anvertraut <strong>und</strong> sein Gefolge um einen Richter <strong>und</strong><br />

zwei Notare ergänzt. Er erhält Gerichtsbarkeit bei Rebellionen <strong>und</strong> innerstädtischen<br />

Parteikonflikten. Gemeinsam mit dem Podestà <strong>und</strong> dem Capitano del Popolo lässt man<br />

ihn Staatsverräter aufspüren, <strong>die</strong> Stadt zweimal täglich nach unerlaubten Waffen<br />

durchsuchen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Nachtwache organisieren. Ausserdem hat er mit seinen Söldnertruppen<br />

zunehmend sowohl den Podestà als auch den Capitano del Popolo in der<br />

Durchsetzung ihrer Gerichtsbarkeit zu unterstützen. So erhält er <strong>die</strong> Verantwortung<br />

sowohl für <strong>die</strong> Tier<strong>die</strong>bstähle im Contado als auch für <strong>die</strong> strafrechtlichen Übertritte<br />

<strong>von</strong> Bürgern des Contado gegen<strong>über</strong> Sienesen 56 <strong>und</strong> hat dem Capitano del Popolo in<br />

der Untersuchung der Gewalttaten <strong>von</strong> Magnaten beizustehen. Sein vergleichsweise<br />

grosser Erfolg auf <strong>die</strong>sem Gebiet schlägt sich im Jahr 1341 in einer Petition <strong>von</strong><br />

kleineren Magnaten nieder, <strong>die</strong> beantragen, dass <strong>von</strong> nun an der Capitano di Guerra<br />

auch sie <strong>und</strong> nicht nur <strong>die</strong> Popolani vor Gewaltakten der mächtigen Familien schützen<br />

54 BOWSKY (1981), S. 45 ff.; Constitutum 1337/39, II. 44; III. 332 f.; III. 153-160; IV. 86 ff.<br />

55 GREEN (1986)<br />

56 Statuti 23, cc. 471r-472v (Consiglio Generale am 2. Juni 1335); Constitutum 1337/39 ,<br />

IV.142, c. 221r, Constitutum 1337/39 , III.154 - 159; s. a. SEIDEL (1997), S. 60<br />

20


soll. 57 Die Erfolge <strong>die</strong>ses Amts, das aufgr<strong>und</strong> seiner grossen Machtbefugnis auch auf<br />

Misstrauen in Sienas Bürgerschaft stösst, widerspiegelt auch das berühmte Fresko mit<br />

dem Reiterporträt <strong>von</strong> Guidoriccio dei Fogliani, das Simone Martini im Jahr 1333 im<br />

Saal des Consiglio ausführt. 58 Es zeigt den Capitano di Guerra, der sechseinhalb Jahre<br />

1328 bis 1333 als Söldnerführer im Dienst der Kommune steht <strong>und</strong> <strong>die</strong> ihm<br />

letztendlich aus Dank für seine Leistungen <strong>die</strong> Ritterwürde verleiht. Das Bild zeigt ihn<br />

während der Belagerung des Kastells Montemassi im Süden des Sieneser Contado,<br />

dessen Burgherrn mit Hilfe der Truppen Castruccios Castracciani gegen Siena<br />

rebelliert hatten. Guidoriccios Sieg war rückblickend für Siena auch der Beginn einer<br />

Anzahl <strong>von</strong> militärischen Siegen <strong>über</strong> <strong>die</strong> Grafen Pannochieschi <strong>und</strong> Aldobrandeschi<br />

gewesen, <strong>die</strong> Anfang der Dreissiger Jahre in <strong>die</strong> Kommune integriert werden <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

als Herrscher <strong>über</strong> <strong>die</strong> Maremma lange <strong>die</strong> Verbindungswege <strong>von</strong> Siena zum Meer<br />

verunsicherten.<br />

<strong>Der</strong> Maggior Sindaco schliesslich ist ein fremder Beamter, dessen Amt unter der<br />

Regierung der Nove schon 1290 eingeführt wird <strong>und</strong> zwei wesentliche Aspekte des<br />

politischen Systems der Kommune personifiziert: Achtung auf Gesetzmässigkeit des<br />

öffentlichen Handelns <strong>und</strong> <strong>die</strong> starke Betonung der Kontrolle <strong>von</strong> jeglicher<br />

Amtstätigkeit. 59 Sein Amt wird zwar erst definitiv unter den Nove ständig besetzt, doch<br />

kannte <strong>die</strong> Kommune <strong>die</strong>se Art <strong>von</strong> Amtshandlung auch schon früher. So hat sich in<br />

Siena schon bis 1262 <strong>die</strong> Tradition herausgebildet, alle Handlungen aller Beamten<br />

nach Ablauf ihrer Amtszeit auf deren Verfassungs- <strong>und</strong> Gesetzmässigkeit zu prüfen -<br />

eine Revision, <strong>die</strong> sich nicht auf den administrativen Bereich beschränkt, sondern auch<br />

<strong>die</strong> politischen Aktivitäten einbezieht. Dieser Kontrolle der Verwaltung gab man den<br />

Namen "Sindicamento". Vor der Schaffung des Maggior Sindaco wurden <strong>die</strong> sindicati<br />

aber bei Bedarf vom Consiglio generale gewählt. 60<br />

Wie der Podestà, der Capitano del Popolo <strong>und</strong> der Capitano di Guerra ist auch der<br />

Maggior Sindaco in Siena ein Fremder. Als oberster Verfassungshüter <strong>und</strong> Leiter der<br />

Verwaltungskontrolle hat er jedoch nicht Ritter, sondern Jurist zu sein. Meistens<br />

kommt er auch aus der Toskana, weil man dort aufgr<strong>und</strong> regionaler Ähnlichkeiten mit<br />

dem Rechtssystem Sienas einigermassen vertraut ist. Für seine Kontrolltätigkeit kann<br />

er bei Bedarf zusätzliche Geheimankläger <strong>und</strong> andere Beamte ernennen, doch ist er<br />

verpflichtet, <strong>die</strong> Überprüfung des Podestà, des Capitano del Popolo <strong>und</strong> ihrer Beamten<br />

persönlich vorzunehmen. Besonders zu <strong>über</strong>wachen hat er auch <strong>die</strong> Tätigkeit der Straf-<br />

57 Consiglio Generale 129, cc. 57r-50r; zitiert <strong>von</strong> BOWSKY (1981), S. 52 f. [<strong>über</strong>setzt auf<br />

Englisch]<br />

58 SEIDEL (1982); MARTINDALE (1988), S. 40 <strong>und</strong> S. 208 ff.; dort auch Diskussion betreffend<br />

Echtheit des Bildes.<br />

59 BOWSKY (1981), S. 42 ff.<br />

60 Guida, S. 292. Genaue Beschreibung des Sindicamento in Costituto 1309/10, VI., Anhang,<br />

II, S. 538 ff.; Constitutum 1337/39 , IV. 294<br />

21


ichter sowie der Beamten der Biccherna <strong>und</strong> Gabella, des Schatz- <strong>und</strong> Steueramts.<br />

Die Kontrolle des Capitano di Guerra fällt indessen weniger scharf aus, da viele seiner<br />

Funktionen <strong>die</strong> Staatssicherheit <strong>und</strong> <strong>die</strong> Untersuchung <strong>von</strong> Gewalttaten durch<br />

Magnaten betreffen, zwei Gebiete, <strong>die</strong> vom Sindicamento ausgenommen sind. Beim<br />

Maggior Sindaco können auch Beschwerden gegen Beamte, selbst gegen den Podestà,<br />

eingereicht werden. Falls er es unterlässt, <strong>die</strong> fehlbaren Beamten zu bestrafen, wird er<br />

seinerseits vom Capitano del Popolo zu einer Busse verurteilt. 61 Zur Stärkung der<br />

Verfassungskontrolle nimmt der Maggior Sindaco auch an jeder Versammlung des<br />

Consiglio generale teil. Er hat <strong>die</strong> Pflicht, jedesmal das Wort zu ergreifen, wenn<br />

Massnahmen in Erwägung gezogen wurden, <strong>die</strong> den Interessen der Kommune<br />

entgegenlaufen, das heisst, wenn sie entweder einem schon verabschiedeten Gesetz<br />

widersprechen oder finanzielle Verpflichtungen damit verb<strong>und</strong>en sind. Doch kann er<br />

<strong>von</strong> einer zwei Drittel Mehrheit des Consiglio generale <strong>über</strong>stimmt werden. Ihm<br />

obliegt auch <strong>die</strong> Überwachung der jährlichen Revision sowohl der Statuten der Zünfte<br />

als auch der Kommunen des Contado. Schliesslich werden dem Maggior Sindaco auch<br />

einige polizeiliche Funktionen <strong>über</strong>tragen. 62 So hat er <strong>über</strong> <strong>die</strong> Einhaltung der Vorschriften<br />

für Kleidung, Festausgaben, Fleischverkauf, Gastbetriebe, Hygiene,<br />

Prostitution, <strong>die</strong> zwar eingeschränkt wird, aber gr<strong>und</strong>sätzlich erlaubt ist, <strong>und</strong> anderes<br />

zu wachen.<br />

Abgesehen <strong>von</strong> der Gerichtsbarkeit <strong>und</strong> dem Sindicamento - zwei Kernaufgaben<br />

der fremden Amtsträger - in <strong>die</strong> sich <strong>die</strong> Nove gemäss Verfassung keines Falls<br />

einmischen dürfen, gibt es aber kaum eine öffentliche Handlung, in <strong>die</strong> das Neuner-<br />

Kollegium nicht verwickelt gewesen wäre: Es kümmert sich um <strong>die</strong> Förderung der<br />

Universität, <strong>die</strong> Vorbereitung der wichtigsten diplomatischen Missionen, Steuern <strong>und</strong><br />

Gr<strong>und</strong>stückverkäufe, um Fragen der inneren Sicherheit, Ernennung <strong>von</strong> ad hoc-<br />

Kommissionen, Petitionen <strong>von</strong> Bürgern <strong>und</strong> viele andere wichtige <strong>und</strong> weniger<br />

wichtige Geschäfte. 63 Auch bei der Wahl der fremden Amtsträger <strong>und</strong> wichtigen<br />

Beamten, der Mitglieder des Consiglio generale <strong>und</strong> der Offiziere der Stadtmiliz haben<br />

<strong>die</strong> Nove stets ihre Hand im Spiel. Die wesentlichen Gr<strong>und</strong>züge sind in ihrem Amtseid<br />

festgehalten: 64 Die Aufrechterhaltung <strong>von</strong> Friede <strong>und</strong> Eintracht, <strong>die</strong> Gewährleistung<br />

<strong>von</strong> Rahmenbedingungen, <strong>die</strong> eine unparteiische Rechtsprechung <strong>und</strong> effiziente<br />

Rechtsdurchsetzung in der Stadt <strong>und</strong> im Contado <strong>von</strong> Siena erlauben, der Schutz <strong>von</strong><br />

Person <strong>und</strong> Eigentum der Bürger <strong>und</strong> <strong>von</strong> erworbenen Rechten der Kommune sowie<br />

<strong>die</strong> Vergrösserung des Contado <strong>und</strong> der Jurisdiktion <strong>von</strong> Siena. Ausserdem haben sie<br />

61 Guida, S. 295<br />

62 Guida, S. 295; Constitutum 1337/39, IV. 315 ff.<br />

63 BOWSKY (1981), S. 56<br />

64 Statuti 21, cc. 27r-28r, zitiert bei BOWSKY (1981), S. 55 f.<br />

22


<strong>die</strong> Kirche, Spitäler <strong>und</strong> frommen Einrichtungen sowie <strong>die</strong> Witwen, Waisen <strong>und</strong><br />

Mündel zu schützen <strong>und</strong> sich um <strong>die</strong> Magnifizenz, das internationale Ansehen, der<br />

Sieneser Regierung zu kümmern. Eidesrechtlich sind sie an <strong>die</strong> Erlasse des Consiglio<br />

generale geb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> müssen schwören, sich weder in Straf- <strong>und</strong> Zivilprozesse noch<br />

in Sindicamenti einzumischen. Bei Wahlen haben sie <strong>die</strong> gesetzlich festgehaltenen<br />

Amtszeitbeschränkungen ausnahmslos einzuhalten <strong>und</strong> dürfen auch niemanden in ein<br />

Amt wählen, der zu Wucherpreisen Geld ausleiht oder unrechtmässige Verträge<br />

abgeschlossen hat.<br />

Die Sitzungen der Nove finden im Concistoro statt, einem kleinen Raum im<br />

Mitteltrakt des Palasts der Kommune, der an den Saal des Consiglio generale grenzt. 65<br />

Obwohl sie als Kollegium zwei Monate lang Tag <strong>und</strong> Nacht gemeinsam im Palast der<br />

Kommune verbringen, fassen sie kaum einen Beschluss alleine. Die Führung der<br />

Kommune teilen sie sich mit den anderen Ordini der Stadt, <strong>die</strong>, wie auch sie, für eine<br />

beschränkte Zeit in ihr Amt gewählt werden. Zu ihnen gehören <strong>die</strong> vier Provveditori<br />

der Biccherna, <strong>die</strong> vier Konsuln der Mercanzia, <strong>die</strong> drei Konsuln der Cavalieri oder<br />

Guelfenpartei sowie zunehmend auch <strong>die</strong> drei Esecutori der Gabella, <strong>die</strong> jedoch den<br />

vier Provveditori der Biccherna zugeordnet sind. 66 Entscheide fallen in <strong>die</strong>sem<br />

Gremium durch einfaches Mehr. Abgesehen <strong>von</strong> den Konsuln der Cavalieri, <strong>die</strong> wie<br />

<strong>die</strong> Nove nur zwei Monate im Amt bleiben, dauert <strong>die</strong> Amtszeit der anderen Ordini<br />

jeweils sechs Monate. In der Aufgabenteilung haben <strong>die</strong> Nove <strong>die</strong> generelle Leitung<br />

der Sieneser Regierung inne, während den einzelnen Ordini spezifische Kompetenzen<br />

zugewiesen sind.<br />

Die Leiter des Sieneser Schatzamts, das sich im Erdgeschoss des Palasts der<br />

Kommune befindet, sind <strong>die</strong> vier Provveditori der Biccherna. 67 Sie sind für <strong>die</strong><br />

gesamte Finanzverwaltung der Kommune verantwortlich, führen <strong>die</strong> Buchhaltung,<br />

zahlen <strong>die</strong> Löhne der Beamten, Söldner <strong>und</strong> Universitätsprofessoren, <strong>die</strong> Ausgaben für<br />

<strong>die</strong> Infrastruktur sowie <strong>die</strong> Beiträge der Kommune an <strong>die</strong> Spitäler, karitativen<br />

Einrichtungen <strong>und</strong> religiösen Orden in Siena, haben <strong>die</strong> Oberaufsicht <strong>über</strong> <strong>die</strong> <strong>von</strong> der<br />

Kommune aufgenommenen Kredite <strong>und</strong> ziehen <strong>die</strong> Steuern, Gerichtstaxen <strong>und</strong><br />

Geldstrafen ein. Dabei darf <strong>die</strong> Staatsschatulle nicht ohne Anwesenheit des<br />

Camarlingo geöffnet werden, der gemeinsam mit den vier Provveditori ernannt wird.<br />

Dieser Camarlingo ist nicht selten ein Mönch aus dem Zisterzienserkloster San<br />

Galgano, das nicht weit <strong>von</strong> Siena entfernt im Süden der Stadt liegt. Indirekt mit der<br />

Verwaltung des kommunalen Geldes hängt eine weitere, wesentliche Aufgabe der vier<br />

Provveditori der Biccherna zusammen: Sie haben <strong>die</strong> Oberaufsicht <strong>über</strong> <strong>die</strong><br />

Statutenkodizes in Siena, deren Anfertigung auch Ausgaben der Kommune nach sich<br />

65 Zum Ort des Concistoro: BRANDI (1983), S. 119<br />

66 BOWSKY (1981), S. 56 u. S. 78; WALEY (1991), S. 56 ff.<br />

67 BOWSKY (1970), S. 1 ff.<br />

23


zieht. So haben sie dafür zu sorgen, dass genügend Kopien für <strong>die</strong> Amtsträger<br />

vorhanden sind <strong>und</strong> <strong>die</strong>se nach Ablauf der Amtszeit auch wieder zurückgegeben<br />

werden. Besonders wird ihnen auch <strong>die</strong> Sorge anvertraut, dass ein Exemplar der<br />

Verfassung, das in grossen, schönen Buchstaben geschrieben ist, für alle zugänglich in<br />

der Biccherna aufliegt. 68 1309 wird ausserdem vom Consiglio generale verordnet, dass<br />

<strong>die</strong>ses Exemplar in <strong>die</strong> Volkssprache zu <strong>über</strong>setzen ist, damit auch jene, <strong>die</strong> kein<br />

Latein verstehen, sich <strong>über</strong> <strong>die</strong> Gesetze in Siena informieren können.<br />

Die Einnahmen der Kommune setzen sich sowohl aus Krediten als auch aus<br />

indirekten <strong>und</strong> direkten Steuern zusammen. 69 Für <strong>die</strong> Kredite, für <strong>die</strong> <strong>die</strong> Kommune <strong>die</strong><br />

Sieneser Bankhäuser teils gesetzlich verpflichtet, bezahlt <strong>die</strong> Stadt einen Zinssatz<br />

zwischen 10% <strong>und</strong> 15%. <strong>Der</strong> Satz der direkten Steuern, <strong>die</strong> auch mehrmals jährlich, je<br />

nach Bedarf <strong>und</strong> Entscheid des Consiglio generale erhoben werden, schwankt<br />

zwischen weniger als einem Prozent bis zwanzig Prozent. Teils <strong>die</strong>nt das<br />

Gesamtvermögen als Berechnungsgr<strong>und</strong>lage, teils nur das laufende Einkommen,<br />

manchmal haben alle Steuern zu bezahlen <strong>und</strong> manchmal nur <strong>die</strong> Reichen. 70 Besteuert<br />

werden auch Frauen, <strong>die</strong> <strong>über</strong> das Vermögen ihrer Aussteuer verfügen <strong>und</strong> auch an der<br />

Seite <strong>von</strong> Männern als Weberinnen, im Gast- <strong>und</strong> Baugewerbe sowie als<br />

Wasserträgerinnen tätig sind. Bemessungsgr<strong>und</strong>lage ist sowohl der mobile als auch der<br />

immobile Besitz. Dieser wird für jeden einzelnen Stadtbewohner vor der<br />

Steuererhebung <strong>von</strong> einem der Beamten der Biccherna geschätzt. Die Bürger des<br />

Contado werden <strong>über</strong> ihre Landkommunen besteuert, <strong>die</strong> je nach Grösse unterschiedliche<br />

Beträge an <strong>die</strong> Sieneser Staatskasse abzuliefern haben. Zur Objektivierung<br />

<strong>die</strong>ses Schätzverfahrens <strong>und</strong> Verbesserung der Steuergerechtigkeit wird 1317 <strong>die</strong><br />

Tavola dei possessioni eingeführt, <strong>die</strong> den gesamten Gr<strong>und</strong>stücks- <strong>und</strong><br />

Immobilienbesitz aller Stadtbewohner, Zünfte, Korporationen <strong>und</strong> Institutionen, z. B.<br />

des grossen kommunalen Spitals Santa Maria della Scala, in der Stadt <strong>und</strong> im<br />

gesamten Contado auflistet. 71 Die Tavola muss jedoch im Jahr 1328 wieder aufgegeben<br />

werde, da man Schwierigkeiten hat, <strong>die</strong> Handänderungen nachzuführen, <strong>und</strong> man kehrt<br />

zum alten System zurück.<br />

Nebst <strong>die</strong>sen direkten Steuern gibt es auch sehr viele indirekte Steuern, <strong>die</strong> auf den<br />

Güteraustausch <strong>und</strong> auf Dienstleistungen, wie zum Beispiel das Ausstellen <strong>von</strong><br />

Verträgen, erhoben werden. Um dem Verwaltungsaufwand zu minimieren, wird das<br />

Eintreiben <strong>die</strong>ser Steuern meist an private Geschäftsleute versteigert. Verantwortlich<br />

für <strong>die</strong> Verwaltung <strong>die</strong>ser Steuermasse sind <strong>die</strong> drei Esecutori der Gabella, <strong>die</strong>,<br />

zunächst der Biccherna unterstellt, sich immer mehr <strong>von</strong> den vier Provveditori<br />

68 Bestimmung schon in Constitutum 1262, I. 504, S. 181; für <strong>die</strong> Bestimmung eine<br />

Volgarefassung anzufertigen: Costituto 1309/10, I. 134, I, S. 126<br />

69 BOWSKY (1970), S. 47 ff.<br />

70 Ebd., S. 103 ff. MARTINDALE (1988), S. 40 <strong>und</strong> S. 208 ff.;<br />

71 Dazu siehe auch CHERUBINI (1977), S. 231 ff.<br />

24


emanzipieren <strong>und</strong> deshalb immer öfters an <strong>die</strong> Sitzungen der Ordini eingeladen<br />

werden. Auch sie haben ihre Amtsräume im Erdgeschoss des Palasts der Kommune.<br />

Gleichzeitig wird jedoch darauf geachtet, ihre Bedeutung nicht grösser als <strong>die</strong> der<br />

Provveditori werden zu lassen, auch wenn der geldmässige Umsatz der Gabella oft<br />

viel grösser ist als jener der Biccherna. 72<br />

Für <strong>die</strong> Wirtschaftspolitik in Siena sind <strong>die</strong> Konsuln der Mercanzia zuständig.<br />

Diese Konsuln werden direkt <strong>von</strong> ihrer Zunft, der Mercanzia, gewählt, <strong>und</strong> nehmen als<br />

Vertreter des internationalen Bank- <strong>und</strong> Handelsgeschäfts an allen Sitzungen der Nove<br />

wie auch des Consiglio generale teil. Ihr Amtssitz, der Palast der Gallerani, befindet<br />

sich ebenfalls am Campo, gegen<strong>über</strong> dem Palast der Kommune. Während <strong>die</strong><br />

politische Bedeutung der Zünfte in Siena eher klein ist, gewinnen im Laufe des 13.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts jedoch zwei Zünfte - <strong>die</strong> der Mercatores <strong>und</strong> der Pizzicaiuoli - an<br />

Einfluss. Als Mercatores bezeichnen sich <strong>die</strong> Tuchhändler <strong>und</strong> Bankiers, als<br />

Pizzicaiuoli <strong>die</strong> Grossisten. Gegen Ende des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts schliessen sich beide<br />

Zünfte zur Duplice Mercanzia zusammen. 73 Gleichzeitig wird zur Zeit der Nove, deren<br />

Amtsträger zu einem grossen Teil der Mercanzia angehören, der Kreis der Mitglieder<br />

auf das gesamte Gewerbe in Siena ausgedehnt. 74 Nebst ihrer eigenen Zunft sollen alle<br />

Handwerker <strong>und</strong> Gewerbetreibenden in Siena, ob Meister, Lehrling, Geschäftsführer<br />

oder gar Fremder, der in Siena nur zeitweise tätig ist, auf <strong>die</strong> Statuten der Mercanzia<br />

schwören <strong>und</strong> Mitglied werden; Mitgliedsbeitrag wird keiner erhoben. Ausserdem<br />

haben sie <strong>die</strong> Statuten aller Zünfte auf Massnahmen zu prüfen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> freie Ausübung<br />

des Gewerbes oder den freien Wirtschaftsaustausch behindern, das<br />

Wirtschaftswachstum also negativ beeinflussen könnten. Die Mercanzia <strong>über</strong>wacht das<br />

gesamte Wirtschaftsleben der Stadt, kontrolliert im Ges<strong>und</strong>heitsbereich <strong>die</strong> Apotheker<br />

<strong>und</strong> Heilmittelhersteller, achtet darauf, dass <strong>die</strong> Ärzte keine zu hohen Löhne fordern<br />

<strong>und</strong> ist oberster Wirtschaftsgerichtshof der Zünfte. Seine Urteile können nicht an ein<br />

anderes Gericht in Siena gezogen werden. Die Konsuln der Mercanzia haben<br />

ausserdem Aufgaben im Bereich der Sieneser Münzprägung, setzen <strong>die</strong> Wechselkurse<br />

der Sieneser Silberwährung gegen<strong>über</strong> dem Florentiner Goldflorin fest, der in jener<br />

Zeit eines der wichtigsten, international anerkannten Zahlungsmittel ist <strong>und</strong> kümmern<br />

sich um <strong>die</strong> Vorlagen der Repressaliengesetzgebung. Diese soll verhindern, dass<br />

Sieneser Kaufleute im Ausland für Mitbürger haftbar gemacht werden, <strong>die</strong> ihren<br />

wirtschaftlichen Verpflichtungen nicht nachkommen konnten. Für <strong>die</strong> Durchsetzung<br />

der Wirtschaftsinteressen ausserhalb <strong>von</strong> Siena können <strong>die</strong> Konsuln im Namen der<br />

Kommune auch eigene Botschafter ernennen. 75<br />

72 BOWSKY (1970), S. 114 ff.<br />

73 Guida, S. 214 f.; BOWSKY (1981), S. 185 ff.<br />

74 SENIGAGLIA (1907); Statuto della Mercanzia, I. 18; S. 96, IV proemio, S. 141; für <strong>die</strong><br />

Datierung des Statuts nicht 1342/43, sondern 1338 siehe ASCHERI (1985), S. 115<br />

75 BOWSKY (1981), S. 78<br />

25


Die Konsuln der Cavalieri oder Guelfenpartei sind schliesslich im Kreis des<br />

Regierungskollegiums, das sich im Concistoro trifft, besonders für <strong>die</strong> innere<br />

Sicherheit zuständig. Sie sind <strong>die</strong> direkten Vertreter der ritterlichen Gesellschaft, das<br />

heisst der Sieneser Magnaten. Ihre Funktion ist <strong>die</strong> Politik der Nove in den Kreis der<br />

grossen Familien der Stadt zu tragen <strong>und</strong> dafür zu sorgen, dass der "<strong>gute</strong> <strong>und</strong> friedliche<br />

Zustand der Kommune <strong>von</strong> Siena" aufrechterhalten bleibt. 76 So ist ihre besondere<br />

Aufgabe, Rebellen <strong>und</strong> Staatsfeinde ausfindig zu machen; bei Verdacht auf Verrat<br />

oder Unruhestiftung haben sie sich an den Podestà <strong>und</strong> <strong>die</strong> Nove zu wenden. 77<br />

Andererseits pflegen sie als Kapitäne der Guelfenpartei <strong>die</strong> internationale Allianz, in<br />

der sich Siena namentlich mit Florenz, dem Haus Anjou <strong>und</strong> dem Papsttum befindet.<br />

<strong>Der</strong> Modus für <strong>die</strong> Wahl der Nove ändert sich im Laufe der Zeit. Werden sie<br />

anfänglich <strong>von</strong> den abgehenden Nove <strong>und</strong> den Konsuln der Mercanzia zusammen mit<br />

dem Podestà <strong>und</strong> dem Capitano del Popolo (ab 1299) bestimmt, so hat nach 1318 78<br />

auch der Consiglio generale ein Wort mitzureden. <strong>Der</strong> Wahlmodus, wie er auch in <strong>die</strong><br />

Verfassung <strong>von</strong> 1337/39 <strong>über</strong>nommen wird, räumt dem Rat Mitentscheidungsrecht ein<br />

<strong>und</strong> kombiniert Wahl- mit Losverfahren. 79<br />

<strong>Der</strong> Einbezug des Consiglio generale in <strong>die</strong> Wahl der Nove ist <strong>die</strong> Konsequenz<br />

einer Rebellion, <strong>die</strong> im Jahr 1318 <strong>die</strong> Regierung der Nove zu stürzen <strong>und</strong> durch <strong>die</strong><br />

Herrschaft eines Mitglieds der Familie Tolomei zu ersetzen drohte. Folge <strong>die</strong>ser<br />

Rebellion wird auch, dass der Consiglio generale jährlich im Januar oder Februar eine<br />

Sitzung dem Thema zu widmen hat, "was zum Wohl, zur Sicherheit <strong>und</strong> zum Schutz<br />

des Amts der Nove" zu tun ist, damit niemand, der im Amt der Nove Einsitz hat<br />

aufgr<strong>und</strong> <strong>von</strong> rechtmässigen Amtshandlungen oder abgeschlossenen Verträgen nach<br />

Ablauf der Amtszeit angegriffen werde. 80 Dies führt unter anderem dazu, dass alle, <strong>die</strong><br />

im Amt der Nove waren, <strong>die</strong> Erlaubnis erhalten, sich zu bewaffnen. 81 Ausserdem wird<br />

der Podestà beauftragt, um <strong>die</strong> Nove gegen falsche Anschuldigungen zu schützen,<br />

innerhalb <strong>von</strong> drei Tagen <strong>die</strong> Amtsführung eines jeden, der aus dem Amt der Nove<br />

scheidet, auf Unrechtmässigkeiten <strong>und</strong> Verrat zu <strong>über</strong>prüfen. 82 Zur besseren<br />

Durchsetzung der Rechtsordnung in der Stadt wird den Nove ausserdem ab dem Jahr<br />

1334 eine eigene Polizeieinheit unterstellt, sogenannte quattrini, <strong>die</strong>, wie auch <strong>die</strong><br />

76 Eine Formulierung, <strong>die</strong> sich öfters in den Statuten findet.<br />

77 Constitutum 1337/39 , Dist. IV, 157; vgl. auch Costituto 1309/10, I, 368 <strong>und</strong> VI, 68 sowie<br />

Statuti 16, VI, 27, cc.. 254v-255r <strong>und</strong> Statuti 21, c. 17v (post 1313); Concistoro 1, c. 3r, 1. <strong>und</strong> 2. Jan.<br />

1339.<br />

78 In dem betreffenden Jahr hatte ein gefährlicher Aufstand gegen das Regime der Neun<br />

stattgef<strong>und</strong>en, siehe unten.<br />

79 BOWSKY (1981), S. 59 f.; Constitutum 1337/39, II. 216<br />

80 Statuti 18, 459r-460v; Constitutum 1337/39, III. 182<br />

81 Statuti 18, 426r-427r; Constitutum 1337/39, III. 183 ff.<br />

82 Constitutum 1337/39 , III. 189<br />

26


Polizei oder berrovarii des Podestà <strong>die</strong> Stadt nach Übeltätern zu durchsuchen <strong>und</strong> dem<br />

Gerichtshofe auszuliefern haben. Diese Polizei besteht aus r<strong>und</strong> 100 Mann <strong>und</strong> wird<br />

entsprechend den Söldnertruppen gemeinsam mit einem Kapitän angeheuert. 83<br />

1.3. Machtbeteiligung<br />

Für alle Ämter, <strong>die</strong> <strong>von</strong> Einheimischen besetzt werden, ist gr<strong>und</strong>sätzlich das<br />

Sieneser Bürgerrecht Voraussetzung. Doch, wer ist Bürger in Siena mit seinen r<strong>und</strong><br />

50'000 Einwohnern in der Stadt <strong>und</strong> weiteren 100'000 im Contado? Von vornherein<br />

auszuschliessen sind alle Frauen, Kinder <strong>und</strong> Bürger <strong>von</strong> Landkommunen; bei<br />

letzteren ausgenommen sind einige wenige für Siena bedeutende Landkommunen, <strong>die</strong><br />

bei ihrer Unterwerfung auszuhandeln vermochten, als Bürger <strong>von</strong> Siena zu gelten.<br />

Auszuschliessen sind ausserdem alle Besitzlosen <strong>und</strong> Fremden sowie Einwohner, <strong>die</strong><br />

nicht dem christlichen beziehungsweise katholischen Glauben angehören. Wieviele<br />

<strong>von</strong> den 50'000 Stadtbewohnern nach Abzug <strong>die</strong>ser Kategorien als Bürger übrig<br />

bleiben, kann aufgr<strong>und</strong> des <strong>über</strong>lieferten Datenmaterials nicht genau beziffert werden.<br />

Geht man <strong>von</strong> den Besitzenden aus, <strong>die</strong> in <strong>die</strong> Steuerliste aufgenommen sind, zählt<br />

r<strong>und</strong> <strong>die</strong> Hälfte der Sieneser Stadtbevölkerung dazu, wenn auch manche oft nur<br />

entweder ein Haus in der Stadt oder ein kleines Stück Land oder einen Weinberg im<br />

Contado ihr eigen nennen. Bürger in Siena sind schliesslich all jene, <strong>die</strong> entweder als<br />

Sohn eines Sienesen das Bürgerrecht <strong>über</strong> <strong>die</strong> väterliche Linie erhalten haben oder<br />

solche, <strong>die</strong> es erworben haben. Nicht zu vergessen ist hier, dass sich Sienas<br />

Bevölkerungszahl vom Anfang des 12. Jahrh<strong>und</strong>erts bis ins frühe 14. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

mehr als vervierfacht hat.<br />

Für den Erwerb des Bürgerrechts braucht es in Siena ein steuerbares Einkommen<br />

oder Vermögen, der nachweisliche Eintrag in <strong>die</strong> Steuerliste, <strong>die</strong> Bezahlung einer<br />

Gr<strong>und</strong>gebühr (2,5 % auf <strong>die</strong> Vermögenssumme; mind. aber 25 lira) sowie <strong>die</strong> 2/3-<br />

Mehrheit des Consiglio generale, der der Aufnahme ins Sieneser Bürgerrecht<br />

zustimmen muss. Ausserdem muss sich der neue Bürger dazu verpflichten, innerhalb<br />

eines Jahres ein Haus zu bauen 84 <strong>und</strong> seinen Hauptwohnsitz in <strong>die</strong> Stadt Siena zu<br />

verlegen. Nur während der Zeit der Wein- <strong>und</strong> Getreideernte darf er mit seiner Familie<br />

aufs Land ziehen. Will ein neuer Bürger, nachdem er das Bürgerrecht erhalten hat,<br />

eine Weile ausserhalb des Contado <strong>von</strong> Siena tätig sein, muss er seine Familie in Siena<br />

zurücklassen. 85 Periodisch fordert der Consiglio generale <strong>die</strong> Neuzuzüger immer<br />

wieder auf, ihre Stellung in der Stadt zu bereinigen <strong>und</strong> das Bürgerrecht zu erwerben.<br />

83 Constitutum 1337/39 , IV. 66 ff.<br />

84 Zum Sieneser Bürgerrecht siehe BOWSKY (1967a), bes. S. 201 ff.; PICCINI (1977);<br />

Constitutum 1337/39, I. 223, I. 243 - 258<br />

85 Constitutum 1337/39, I. 248<br />

27


Die Kommune ist sowohl an den finanziellen Einnahmen interessiert als auch an einer<br />

geregelten Entwicklung des städtischen Wohnungsangebotes. 86 Durch Vergabe <strong>von</strong><br />

Steuerprivilegien <strong>und</strong> der Befreiung vom Heeres<strong>die</strong>nst fördert sie ausserdem den<br />

Zuzug <strong>von</strong> einzelnen Berufsgruppen, <strong>die</strong> zum Ansehen <strong>und</strong> zur Entwicklung der Stadt<br />

beitragen, wie <strong>von</strong> Lehrern <strong>und</strong> Universitätsgelehrten oder <strong>von</strong> einzelnen<br />

Persönlichkeiten, zum Beispiel dem Bildhauer Giovanni Pisano, den <strong>die</strong> Sienesen<br />

Ende des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts als Dombaumeister verpflichten. 87 <strong>Der</strong> Vorteil für einen<br />

Mann, der das Sieneser Bürgerrecht erwirbt, ist der umfassende Schutz seines<br />

Eigentums durch <strong>die</strong> Kommune, der Zugang zur Sieneser Zivilgerichtsbarkeit, <strong>die</strong><br />

zwar auch den Bürgern der Kommunen des Contado offensteht, sowie das passive<br />

Wahlrecht, das heisst, <strong>die</strong> Möglichkeit in eines der Ämter der Kommune gewählt zu<br />

werden.<br />

Obwohl das Bürgerrecht gr<strong>und</strong>sätzlich <strong>die</strong> Machtbeteiligung erschliesst, bedeutet<br />

es nicht ohne weiteres politische Partizipation durch ein allgemeines aktives<br />

Wahlrecht. So beruht <strong>die</strong> Kommune seit ihrer Gründerzeit zwar auf der Idee, dass <strong>die</strong><br />

gesamte Bürgerschaft <strong>die</strong> politische Gemeinschaft konstituiert, <strong>und</strong> der Consiglio<br />

generale gilt als Nachfolgeorgan der Heeresversammlung aller Bürger <strong>und</strong> damit als<br />

das politische Organ, das <strong>die</strong> Gesamtheit der Bürger vertritt. Doch ist Sienas<br />

Wahlsystem im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert nicht so ausgestaltet, dass jeder Bürger an den<br />

Wahlen des Consiglio generale <strong>und</strong> damit am politischen Entscheidungsprozess<br />

beteiligt ist; denn der Consiglio generale wird nicht <strong>von</strong> der Gesamtheit der Bürger<br />

gewählt, sondern <strong>von</strong> einer Auswahl des Sieneser Bürgertums. Wahlen finden in Siena<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich in kleineren Wahlgremien statt, in denen jene Bürger wesentlichen<br />

Einfluss haben, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Ämter der Ordini besetzen, also in erster Linie <strong>die</strong> Nove, aber<br />

auch <strong>die</strong> Konsuln der Mercanzia, <strong>die</strong> Provveditori der Biccherna <strong>und</strong> <strong>die</strong> Konsuln der<br />

Cavalieri. Erste Voraussetzung, damit ein Bürger <strong>von</strong> den Ordini in den Consiglio<br />

generale oder als Nachfolger in eines ihrer Ämter gewählt wird, ist der katholische<br />

Glaube, <strong>die</strong> Erfüllung der Steuerpflichten <strong>und</strong> der Besitz des Bürgerrechts seit 10<br />

Jahren. Ausgenommen <strong>von</strong> <strong>die</strong>ser Frist sind <strong>die</strong> Rechtsgelehrten. Wer in den Consiglio<br />

generale gewählt wird, muss mindestens 25 Jahre alt sein; für <strong>die</strong> Ordini gilt ein<br />

Mindestalter <strong>von</strong> 30 Jahren. Als einer der Ordini muss der Bürger ausserdem Lesen<br />

<strong>und</strong> Schreiben können <strong>und</strong> Guelfe sein. 88<br />

Die Konsuln der Mercanzia, <strong>die</strong> all jene repräsentieren, <strong>die</strong> durch internationalen<br />

Geld- <strong>und</strong> Warenhandel wesentlich zur Blüte Sienas beitragen, spielen bei der Wahl<br />

PICCINI (1977)<br />

86 Für <strong>die</strong> Einbürgerung <strong>von</strong> ärmeren Neuzuzüglern aus dem Landgebiet <strong>von</strong> Siena siehe<br />

87 Dokumente betreffend Gioanni Pisano publiziert bei BRAUNFELS (1952), S. 259 f.<br />

88 BOWSKY (1981) für <strong>die</strong> einzelnen Institutuionen <strong>und</strong> den Consiglio generale; für <strong>die</strong><br />

Konsuln der Mercanzia siehe auch Statuto della Mercanzia, I. 5, S. 87<br />

28


der Ordini, einschliesslich der Nove, <strong>und</strong> des Consiglio generale letztlich <strong>die</strong><br />

bedeutsamste Rolle. So haben sie einen wesentlichen Einfluss auf <strong>die</strong><br />

Zusammensetzung der Neuner-Kollegien, <strong>über</strong> <strong>die</strong> der Consiglio generale zu<br />

entscheiden hat. Bis 1318 bestimmten sie das neue Neuner-Kollegium gar gemeinsam<br />

mit den abtretenden Nove. Die Provveditori der Biccherna werden alle sechs Monate<br />

<strong>von</strong> den Nove <strong>und</strong> den Konsuln der Mercanzia gewählt, <strong>die</strong> Konsuln der Cavalieri alle<br />

zwei Monate <strong>von</strong> den Nove, den Konsuln der Mercanzia <strong>und</strong> den Provveditori der<br />

Biccherna. Sie werden also nicht <strong>von</strong> der ritterlichen Gesellschaft selbst bestimmt.<br />

Alle Ordini gemeinsam, <strong>die</strong> sich als Regierungskollegium im Concistoro treffen,<br />

entscheiden dann <strong>über</strong> <strong>die</strong> Zusammensetzung des Consiglio generale. Chancen in den<br />

Consiglio generale gewählt zu werden, haben vor allem Mitglieder der Mittelschicht,<br />

der media gente, aber auch Magnaten sowohl guelfischer wie ghibellinischer Tradition<br />

<strong>und</strong> einfachere Handwerker. 89 Von Amtes wegen nehmen <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> ehemals im<br />

Amt der Nove ge<strong>die</strong>nt haben, Einsitz sowie <strong>die</strong> Konsuln der Mercanzia, <strong>die</strong> Rektoren<br />

der Arte della Lana <strong>und</strong> <strong>die</strong> Offiziere der Stadtmiliz.<br />

In den Kreis der Ordini stossen vor allem Bürger vor, <strong>die</strong> durch Handel <strong>und</strong> Finanz<br />

zum Reichtum <strong>und</strong> Wachstum Sienas beigetragen haben. Typischerweise sind sie<br />

Inhaber oder Partner einer der grossen Bank- <strong>und</strong> Handelsgesellschaften Sienas. Hier<br />

sind sowohl Bürger der sogenannten Mittelschicht zu finden, <strong>die</strong> keiner der grossen<br />

Familien Sienas angehören als auch Bürger aus eben <strong>die</strong>sen Familien, wie zum<br />

Beispiel <strong>die</strong> Tolomei, Salimbeni, Piccolomini, Gallerani oder Bonsignori.<br />

Innerhalb der Ordini ist das Regierungsamt der Nove den Kaufleuten <strong>und</strong> Bürgern<br />

der oberen Mittelschicht vorbehalten, laut Verfassung den mercatori oder meza gente 90<br />

Wie gross der Prozentsatz <strong>die</strong>ses Bevölkerungsanteils ist, kann nur geschätzt werden.<br />

Die beste Gr<strong>und</strong>lage hierfür sind <strong>die</strong> Steuerdokumente, <strong>die</strong> seit dem 13. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

<strong>die</strong> Bevölkerung auf der Gr<strong>und</strong>lage ihres Vermögens in maiori, mediocri <strong>und</strong> minori<br />

einteilen. 91 Doch sind uns <strong>die</strong>se Dokumente nur bruchstückhaft <strong>über</strong>liefert, nicht zuletzt<br />

weil vor jeder neuen Vermögensschätzung <strong>die</strong> alten vernichtet werden mussten. Zur<br />

Verfügung steht jedoch <strong>die</strong> Tavola dei possessioni, <strong>die</strong> erhalten geblieben ist <strong>und</strong><br />

Einsicht in <strong>die</strong> Besitzstrukturen Sienas <strong>und</strong> seines Contado erlaubt. Gestützt auf <strong>die</strong><br />

ausgewerteten Daten 92 kann <strong>die</strong> Mittelschicht aller Besitzenden, aus der <strong>die</strong> Nove<br />

89 BOWSKY (1981), S. 87<br />

90 Mit der Regierung der Guelfen <strong>und</strong> der gente media wurden <strong>die</strong> Magnaten ausdrücklich <strong>von</strong><br />

dem obersten Regierungskollegium ausgeschlossen. Um sicher zu gehen, wer zu den Magnaten zu<br />

zählen ist, wurde 1277 eine Liste mit ungefähr sechzig Familiennamen veröffentlicht. Diese Liste wird<br />

1313 revi<strong>die</strong>rt, teils werden Namen gestrichen, doch wird sie vor allem um 25 Familien erweitert. Die<br />

Liste <strong>von</strong> 1313 findet sich auch in der Verfassung <strong>von</strong> 1337/39. BOWSKY (1981), S. 66.<br />

91 BOWSKY (1970), S. 82; ZDEKAUER (1897), Dissertazione, S. LXVIII<br />

92 CHERUBINI (1977), S. 241 ff., umfassenden Auswertung; BOWSKY (1960) für <strong>die</strong> gente<br />

media.<br />

29


hervorgehen, mit r<strong>und</strong> 20% angegeben werden. Ihr Eigentum wird zwischen 1000 <strong>und</strong><br />

5000 Lire bemessen. Über ihnen stehen 5%, <strong>die</strong> maiori, deren Vermögen in<br />

Einzelfällen bis <strong>über</strong> 60'000 Lire betragen kann <strong>und</strong> <strong>die</strong> zusammen 50% des gesamten<br />

Besitzes in Siena <strong>und</strong> in seinem Contado auf sich vereinen - je grösser der Besitz in<br />

der Stadt, desto grösser auch auf dem Land. Die minori, <strong>die</strong> weniger als 1000 Lire<br />

Eigentum aufweisen, machen 75% aus, da<strong>von</strong> besitzt ein grosser Teil nicht mehr als<br />

Eigentum im Wert <strong>von</strong> 200 Lire. Die Gesamtzahl derjenigen, <strong>die</strong> in der Kategorie bis<br />

200 Lire erscheinen, beträgt 50% der Besitzenden. Sie nennen entweder nur ihr Haus,<br />

vielleicht auch eine Werkstatt in der Stadt, oder ein kleines Stück Land im Contado ihr<br />

eigen. Auch wenn knapp <strong>die</strong> Hälfte des gesamten Eigentums in Siena sich in den<br />

Händen der obersten 5% konzentriert, zeigt <strong>die</strong> Tavola aber auch, dass nicht nur das<br />

Eigentum in der Stadt, sondern auch dasjenige auf dem Land sehr fragmentiert ist.<br />

Nebst grossen Anwesen gibt es im Contado eine Unzahl <strong>von</strong> kleineren Parzellen, auf<br />

denen Wein, Obst oder Gemüse angebaut wird. Will man nun, um ein Gesamtbild zu<br />

erhalten, <strong>die</strong> Relation der Besitzenden zur Gesamtbevölkerung bestimmen, kann da<strong>von</strong><br />

ausgegangen werden, dass ein Drittel der Bevölkerung ohne Eigentum ist. 93 Dazu<br />

gehören Tagelöhner <strong>und</strong> Gesellen, aber auch Bettler sowie Ordensleute, Schwestern<br />

<strong>und</strong> Brüder, <strong>die</strong> in den zahlreichen karitativen <strong>und</strong> kirchlichen Institutionen Sienas<br />

tätig sind. Die gente media umfassen also r<strong>und</strong> 15% der Bevölkerung. 94<br />

Obwohl den Magnaten <strong>die</strong> Wahl in den Rat der Nove versperrt bleibt, können sie<br />

ihren Einfluss <strong>über</strong> <strong>die</strong> anderen Ämter der Ordini geltend machen. Besonders häufig<br />

findet man sie als Provveditori della Biccherna, als Leiter des Sieneser Schatzamts.<br />

Das hängt mit der Regelung zusammen, dass <strong>die</strong> vier Provveditori für alle Kredite, <strong>die</strong><br />

sie für <strong>die</strong> Kommune <strong>von</strong> Siena aufnehmen, mit ihrem eigenen Vermögen haften<br />

müssen; grosser Landbesitz garantiert hier besondere Sicherheit. Ihr<br />

aussergewöhnliches Vermögen, das potentiell Gefahren birgt, wird so in den Dienst<br />

der Kommune gestellt. Aus den Reihen der Magnaten stammen typischerweise auch<br />

<strong>die</strong> Konsuln der Cavalieri. Sie tragen <strong>die</strong> Politik der Nove in <strong>die</strong> ritterliche<br />

Gesellschaft, <strong>die</strong> zwar zu einem grossen Teil in den internationalen Handel<br />

eingeb<strong>und</strong>en ist, gleichzeitig aber ein Lebensideal vertritt, für das wirtschaftlicher<br />

Erfolg <strong>und</strong> Gesetzestreue weniger zählen als Werte wie Freigebigkeit <strong>und</strong><br />

Familienehre. Als Konsuln der Mercanzia schliesslich finden sich neben jenen<br />

Bürgern, <strong>die</strong> der Mittelschicht zuzurechnen sind, eben auch Angehörige der Magnaten,<br />

<strong>die</strong> Sienas internationalen Ruf als Bank- <strong>und</strong> Handelszentrum mitbegründet haben.<br />

93 CHERUBINI (1977), S.<br />

94 20% <strong>von</strong> 75% der Bevölkerung entsprechen 15% <strong>von</strong> 100% der Bevölkerung.<br />

30


Sienas Regierung gilt im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert als Oligarchie, das heisst als eine<br />

Regierung der Wenigen. 95 Zurückzuführen ist <strong>die</strong>se Einschätzung aus der Mitte des 14.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts auf <strong>die</strong> Tatsache, dass in Siena für <strong>die</strong> Zusammensetzung <strong>von</strong> Regierung<br />

<strong>und</strong> Consiglio generale fast vollständig auf das korporatistische Element verzichtet<br />

wird, das eine Repräsentation der verschiedenen Teile der Bürgerschaft <strong>von</strong> unten her<br />

garantiert hätte. Die einzigen Mitglieder der Ordini, <strong>die</strong> nicht durch Amtsträger der<br />

Ordini bestimmt werden, sind <strong>die</strong> Konsuln der Mercanzia. Sie werden alle sechs<br />

Monate, im Mai <strong>und</strong> November, durch <strong>die</strong> Generalversammlung der Mercanzia<br />

gewählt, <strong>die</strong> nicht nur all jene vereint, <strong>die</strong> im internationalen Finanz- <strong>und</strong><br />

Handelsgeschäft tätig sind, sondern auch <strong>die</strong> Mitglieder aller anderen Zünfte <strong>und</strong> alle,<br />

<strong>die</strong> ein Handwerk oder ein Gewerbe in Siena ausüben, sei es als Meister, Lehrling oder<br />

gar nur als Fremder, der sich eine Weile in Siena aufhält. 96 Im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

sind <strong>die</strong>s 5000 bis 6000 Personen in Siena, 97 bei einer Gesamtbevölkerung <strong>von</strong> 50'000<br />

Einwohnern, also grob 11'500 Familienvätern, ein sehr hoher Prozentsatz. Doch<br />

verläuft auch <strong>die</strong> Wahl der vier Konsuln der Mercanzia nicht im Sinne eines<br />

demokratischen Wahlprozesses, wie wir ihn heute kennen. Die Generalversammlung<br />

der Mercanzia, <strong>die</strong> wie einst <strong>die</strong> Heeresversammlung parlamentum genannt wird <strong>und</strong><br />

manchmal auch im Palast der Kommune zusammenkommt, 98 ist vielmehr Zuschauer<br />

eines mehrstufigen Wahl- <strong>und</strong> Auslosungsprozesses, an dessen Anfang <strong>die</strong><br />

Nomination einer Kommission durch <strong>die</strong> abtretenden Amtsträger steht. Nachdem<br />

mehrmals das Los <strong>die</strong> Wahlkommission verkleinert hat <strong>und</strong> <strong>von</strong> jenen, <strong>die</strong> jeweils das<br />

Los gezogen haben, neue andere Wahlmänner ernannt worden sind, entscheiden am<br />

Schluss sechs, ab 1345 zwölf Personen, wer einer der neuen vier Konsuln <strong>und</strong><br />

Camarlingo der Mercanzia wird. Abgesehen da<strong>von</strong>, dass <strong>die</strong> Generalversammlung <strong>die</strong><br />

Wahl legitimiert, ist sie auch <strong>die</strong> Masse, aus denen <strong>die</strong> Amtsträger der Mercanzia<br />

erkoren werden, <strong>die</strong> typischerweise aber immer zu jenen gehören, <strong>die</strong> Sienas Handel<br />

<strong>und</strong> Geldgeschäfte bestimmen. Von den vier Konsuln müssen mindestens drei auch<br />

selbst <strong>die</strong> Geschäfte führen, dass heisst dauernd in einer botthega di mercatanti tätig<br />

sein, während einer der Konsuln meist ein Mitglied der grossen Familien ist. Diese<br />

grossen Familien haben zwar zu einem wesentlichen Teil ihr Vermögen durch den<br />

internationalen Handel aufgebaut, <strong>über</strong>lassen im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert den Betrieb<br />

aber zunehmend einem Geschäftsführer, während sie den Aufenthalt auf ihren<br />

95 BARTOLUS DA SASSOFERRATO (1355/57), S. 163; zur Charakterisierung <strong>von</strong> Sienas<br />

Regierung als Olgarchie durch <strong>die</strong> moderne Geschichtsschreibung: BOWSKY (1981), S. 61 ff. <strong>und</strong> S.<br />

78; WALEY (1991), S. 71 ff., CAMMAROSANO (1988), S. 73 ff.<br />

96 Statuto della Mercanzia, I. 4, IV. 39, IV. 42<br />

97 ASCHERI (1985), S. 115<br />

98 Statuto della Mercanzia, IV. 42, S. 163: "... si faccia et fare si debba ne la generale<br />

convocatione de la detta universià nel palazzo del Comune di Siena ..."<br />

31


Landsitzen, <strong>die</strong> Jagd, <strong>die</strong> Bäder im Contado oder auch <strong>die</strong> Herrschaftsausübung für <strong>die</strong><br />

Sieneser Kommune auf dem Land vorziehen. 99<br />

Eine politische Beteiligung der anderen Zünfte, <strong>die</strong> aufgr<strong>und</strong> eines hohen<br />

selbständigen Organisationsgrads nur schwer zu kontrollieren sind, versucht <strong>die</strong><br />

Regierung der Nove so weit wie möglich auszuschliessen. Eine besondere Stellung hat<br />

hier nur <strong>die</strong> Arte della Lana, das Tuchgewerbe, das als Exportindustrie wesentlich zur<br />

Wirtschaftskraft Sienas beiträgt <strong>und</strong> deren Mitglieder oft auch in <strong>die</strong> Nove gewählt<br />

werden. Ihre Konsuln sind automatisch auch Mitglieder des Consiglio generale. Zwar<br />

haben auch <strong>die</strong> Offiziere der Stadtmiliz ex officio Einsitz im Consiglio generale <strong>und</strong><br />

garantieren dadurch <strong>die</strong> Vertretung <strong>von</strong> 37 Stadtkompanien <strong>und</strong> 9 Contado-Einheiten;<br />

doch kommt auch hier das korporatistische Element nicht zum Tragen, da <strong>die</strong><br />

einzelnen Einheiten nicht selbst ihre Offiziere - Kapitän, Standartenträger <strong>und</strong> Berater<br />

- wählen, sondern <strong>von</strong> den Nove bestimmt werden. 100<br />

Obwohl sich <strong>die</strong> Regierung der Nove dem korporativen Element verschliesst <strong>und</strong><br />

den städtischen Korporationen keine politische Mitverantwortung <strong>von</strong> unten her<br />

gestattet, arbeitet sie jedoch mit <strong>die</strong>sen zusammen, um das Gewaltpotential, das <strong>von</strong><br />

den grossen Familien ausgeht, zu dämmen. So werden jede sechs Monate <strong>die</strong> Rektoren<br />

aller Zünfte zu einer Sitzung des Consiglio generale geladen, in der <strong>über</strong> <strong>die</strong><br />

Gewalttaten der Magnaten gesprochen wird. 101 Unter Ausschluss der grossen Familien<br />

treffen sich <strong>die</strong> Nove mit den Offizieren der Stadtmiliz, um Massnahmen zu<br />

besprechen, <strong>die</strong> zur Aufrechterhaltung der Regierung der Mittelschicht beitragen<br />

sollen. Ausserdem bemühen sie sich, in der Ausarbeitung <strong>von</strong> heiklen<br />

Gesetzesvorlagen - vor allem solche, welche <strong>die</strong> Steuern betreffen - jeweils<br />

Expertenkommissionen einzusetzen, in denen alle drei Bürgergruppen repräsentiert<br />

werden: magnates, gente media <strong>und</strong> popolari minuti. 102<br />

1.4. Die Republik der Kaufleute oder der gente media<br />

Die Regierung der Nove beruht in Siena letztlich auf einer dünnen, relativ reichen<br />

Mittelschicht, <strong>die</strong> sowohl Interessen mit den mächtigen Familien als auch mit jenen<br />

der einfachen Popolaren teilt. Von ihnen erwartet man eine Politik, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

99 Statuto della Mercanzia, I. 5, S. 87: "... Et d'essi consoli almeno tre sieno assidui bottighai et<br />

usati di stare a la botthiga." Für das ritterliche Lebensideal der Magnaten: PICONE (1988), JONES<br />

(1978) 100 Vgl. hingegen Florenz: NAJEMY (1982)<br />

101 Capitano del Popolo 1, r. 140, cc. 43v-44r [Rubrik nach Index CIAMPOLI (1984), S. 55];<br />

Constitutum 1337/39, IV. 176<br />

102 BOWSKY (1970), S. 83<br />

32


wirtschaftliche Entwicklung Sienas fördert, zwischen den Mächtigen ausgleicht <strong>und</strong><br />

den Rechtsschutz der Kleinen garantiert. Die Selbstbeschränkung der grossen Familien<br />

verhindert, dass sie sich gegenseitig <strong>die</strong> Macht streitig machen <strong>und</strong> zügelt <strong>die</strong><br />

anarchischen Tendenzen, <strong>die</strong> in ihrem Lebensstil, geprägt <strong>von</strong> persönlicher Ehre <strong>und</strong><br />

Treuebündnissen, angelegt sind. Unter der Herrschaft der Nove wird <strong>die</strong> kommunale<br />

Administration weiter ausgebaut, auf eine Steuergesetzgebung geachtet, <strong>die</strong> auch <strong>die</strong><br />

Mächtigen <strong>und</strong> Reichen trifft, <strong>die</strong> Integration des Contado vorangetrieben <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Gerichtsbarkeit im gesamten Hoheitsgebiet Sienas straffer organisiert. <strong>Der</strong> fehlende<br />

Rückhalt der Nove in einem mächtigen Geschlechterverband mag ausserdem<br />

Sicherheit bieten, dass der gente media das Wohl der Kommune wesentlicher ist als<br />

<strong>die</strong> Macht der eigenen Familie, während ihre eigene Geschäftstätigkeit sie mit den<br />

hauptsächlichen Wirtschaftsinteressen in der Kommune verbindet. Das spezifische<br />

republikanische Element verlangt eine Vielzahl <strong>von</strong> gewählten Machtträgern,<br />

befristete Amtszeiten sowie vor allem <strong>die</strong> Bindung der Herrschaft an Recht <strong>und</strong><br />

Gesetze, <strong>die</strong> <strong>von</strong> einer, <strong>die</strong> Gesamtheit der Bürger repräsentierenden Auswahl<br />

verabschiedet werden. 103<br />

Die grossen Geschlechter der Stadt, <strong>die</strong> Magnaten, fühlen sich, auch wenn ihnen<br />

das Amt der Nove verschlossen bleibt, im Consiglio generale <strong>und</strong> den anderen hohen<br />

Ämtern, den Ordini, <strong>die</strong> <strong>die</strong> meisten Entscheide gemeinsam mit den Nove fällen,<br />

genügend repräsentiert <strong>und</strong> ziehen <strong>die</strong> Regierung der gente media der Herrschaft einer<br />

einzigen Familie vor. Das Volk der Popolaren <strong>und</strong> <strong>die</strong> Bürger des Contado sind<br />

ebenfalls im Grossen <strong>und</strong> Ganzen mit der Kommune zufrieden, weil sie <strong>die</strong> Magnaten<br />

im Schach zu halten weiss, das wirtschaftliche Wachstum fördert <strong>und</strong> sich bemüht,<br />

einen Raum der Rechtssicherheit zu begründen. Hungersnöte, <strong>die</strong> aufgr<strong>und</strong> der stetig<br />

wachsenden Bevölkerung in den Jahren 1300 bis 1330 durchschnittlich alle vier Jahre<br />

vorkommen <strong>und</strong> <strong>die</strong> besonders <strong>die</strong> Armen treffen, begegnet <strong>die</strong> Regierung mit<br />

Exportrestriktionen <strong>und</strong> der Einfuhr sowie öffentlichem Ankauf <strong>und</strong> Verteilung <strong>von</strong><br />

Getreide. Den Ausschreitungen aufgr<strong>und</strong> der schrecklichen Hungersnot 1329, <strong>die</strong> am<br />

Ende der Kriege gegen Castruccio Castracciani in Stadt <strong>und</strong> Contado ausbricht, ist <strong>die</strong><br />

Regierung jedoch nur noch durch Gewalteinsatz des Capitano di Guerra gewachsen.<br />

In den r<strong>und</strong> 80 Jahren, in denen <strong>die</strong> Regierung der Nove an der Macht bleibt,<br />

erlebt sie zwei offene Rebellionen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Herrschaft der gente media zu stürzen<br />

drohen. Beide scheitern jedoch an der zu geringen Beteiligung der Bevölkerung.<br />

Treibende Kraft hinter der Rebellion <strong>von</strong> 1318 sind Angehörige der Magnatenfamilie<br />

der Tolomei, jene <strong>von</strong> 1345 solche der Piccolomini. Gefährlich wird den Nove<br />

103 TOLOMEO DA LUCCA (ca. 1302), siehe hinten, Teil II, Kapitel 5. Zu dem damit<br />

zusammenhängenden Begriff der politischen Freiheit: SKINNER (1978), I, S. 3 ff.; BENSON (1985);<br />

RUBINSTEIN (1986); MUNDY (1989)<br />

33


namentlich der Aufstand <strong>von</strong> 1318, als zwei Repräsentanten des Clans der Tolomei<br />

versuchen, in Siena gewaltsam <strong>die</strong> Macht zu <strong>über</strong>nehmen. Als Motiv nicht ganz<br />

unbedeutend mag gewesen sein, dass <strong>die</strong> Bank- <strong>und</strong> Handelsgesellschaft der Tolomei<br />

in jener Zeit Zahlungsunfähigkeit anmelden musste <strong>und</strong> Konkurs ging. 104 Unterstützung<br />

für ihren Plan finden Messer Sozzo <strong>und</strong> Messer Guccio Guelfo di Deo Tolomei ausser<br />

bei einigen anderen Magnatensprösslingen vor allem bei den Metzgern, Juristen <strong>und</strong><br />

Notaren. Als relativ reiche <strong>und</strong> wichtige Mitglieder der Kommune gehören sie zu<br />

jenen, <strong>die</strong> mit der Regierung der mercatores am ehesten unzufrieden sind. So sind ihre<br />

Zünfte unter den Nove ausgesprochen kontrolliert <strong>und</strong> es wird darauf geachtet, dass<br />

sowohl <strong>die</strong> Preise für Fleisch als auch <strong>die</strong> Gebühren der Advokaten <strong>und</strong> Notare tief<br />

gehalten werden. Die Folge <strong>die</strong>ser Rebellionen sind jeweils <strong>die</strong> Vergrösserung der<br />

Rekrutierungsbasis für das Amt der Nove, um “Liebe, Einheit <strong>und</strong> Eintracht” unter den<br />

Bürgern herzustellen. 105 Diese Vergrösserung bleibt jedoch weiterhin restriktiv<br />

gegen<strong>über</strong> den Juristen <strong>und</strong> Notaren, <strong>die</strong> aufgr<strong>und</strong> ihres Gewerbes in den<br />

Gerichtshöfen <strong>und</strong> der Sieneser Verwaltung schon ausgesprochen stark vertreten sind.<br />

Auch hält sie sich insgesamt in Grenzen, so dass der zeitgenössische Chronist Agnolo<br />

di Tura del Grasso behaupten kann, dass “sie nur dazu <strong>die</strong>ne, <strong>die</strong> Handwerker<br />

hinzuhalten, damit sie sich nicht dar<strong>über</strong> aufregen <strong>und</strong> ihnen <strong>die</strong> Hoffnung zu geben,<br />

auch einst in Zukunft einer der Nove sein zu können.” 106<br />

Gefährlich wird der Regierung der Nove auch jeweils das Nahen eines deutschen<br />

Kaisers, der für seine Krönung nach Rom zieht. Die Stadt ist Teil der Guelfenallianz,<br />

doch Sienas militärischer Ruhm als Königin der Toskana gehört in <strong>die</strong> Zeit der<br />

Ghibellinen, <strong>und</strong> noch mancher Sienese scheint mit einer gewissen Wehmut an <strong>die</strong>se<br />

Zeit zurückgedacht zu haben. Als sich im Oktober 1311 das Heer Kaisers Heinrich<br />

VII. Siena nähert, will eine Verschwörung <strong>die</strong> Stadt an ihn ausliefern. 107 Im<br />

kaiserlichen Gefolge findet sich einer der Grossen Sienas, Bonifazio di Niccolò<br />

Bonsignori, der <strong>die</strong> Macht <strong>über</strong> <strong>die</strong> Stadt erhalten hätte. <strong>Der</strong> Verrat wird rechtzeitig<br />

aufgedeckt, doch sind so viele Bürger der Stadt <strong>und</strong> des Contado daran beteiligt, dass<br />

<strong>die</strong> Nove beim Consiglio generale beantragen, <strong>die</strong> vom Podestà begonnene<br />

Untersuchung einzustellen, aus Angst, wenn mit Strenge vorgegangen würde, “könne<br />

leicht Skandal <strong>und</strong> <strong>die</strong> grösste Zwietracht entstehen, was Gott verhüten möge.” 108<br />

104 Zum Konkurs der Gesellschaft der Tolomei siehe BOWSKY (1981), S. 254 ff.<br />

105 Statuti 18, c. 404r (13. September 1318) ; Statuti 23, c. 512r (Juli 1336): "... de maiori<br />

numero dictum offitium reformare et augmentare ad hoc ut inde inter cives senenses amor, unitas et<br />

concordia consequatur ita quod dicta civitas et eius cives in quiete et pace auctore domino perpetuo<br />

conserventur ..."<br />

106 “per dare pastura agli artefici e tenerlic in isperanza, accioché non si dolessero, e tenerli a<br />

speranza d’essare per la’avenire de’ Nove.” AGNOLO DI TURA DEL GRASSO: Cronica, S. 373 f.<br />

107 Zum Unternehmen Heinrich VII. in Italien: BOWSKY (1960 a)<br />

108 Consiglio generale 79, c. 106r; s. a. DAVIDSOHN (1912), Band III, S. 450 <strong>und</strong> BOWSKY<br />

(1972), S. 242 f.<br />

34


Gleichzeitig wird aber, um vor weiteren Rebellionen abzuschrecken, <strong>die</strong> Gesetzgebung<br />

zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit verschärft. Nachdem aber der junge<br />

Heinrichs VII. noch in Italien im Jahr 1313 in Bonconvento stirbt, nicht weit <strong>von</strong> Siena<br />

entfernt, findet der reumütige Bonifazio di Niccolò Bonsignori wiederum Aufnahme in<br />

der Stadt. In der Folge hat auch <strong>die</strong> Ghibellinentreue nicht mehr <strong>die</strong>selbe Zugkraft in<br />

Siena. Als knapp 15 Jahre später der neue deutsche Kaiser, Ludwig IV. <strong>von</strong> Bayern,<br />

plant, <strong>über</strong> <strong>die</strong> Alpen nach Rom zu ziehen, unterstellen sich Siena wie auch Florenz zu<br />

ihrem Schutz temporär den Anjou in Neapel, dem Königshaus der Guelfen in Italien. 109<br />

<strong>Der</strong> wichtigste Verbündete des Kaisers südlich der Alpen ist Castruccio Castracciani,<br />

der Kriegsherr aus Lucca. 110 Seit Anfang der Zwanziger Jahre strebt <strong>die</strong>ser danach, sich<br />

an <strong>die</strong> Spitze der gesamten Toskana zu stellen, seine Dienste, <strong>die</strong> er dem Kaiser<br />

anbietet, erringen dem Bürgersohn aus Lucca einen Reichsherzogstitel. Als <strong>die</strong><br />

Sienesen dann im Jahr 1326 formell <strong>die</strong> Oberhoheit des Hauses Anjou anerkennen,<br />

tritt ein Vikar an <strong>die</strong> Stelle des Podestà. Doch achten <strong>die</strong> Nove <strong>und</strong> der Consiglio<br />

generale darauf, mit dem Königshaus einen Vertrag auszuhandeln, der den Sienesen<br />

das Vorschlagsrecht für den Vikaren lässt <strong>und</strong> ihm verbietet, <strong>die</strong> Institutionen der<br />

Kommune anzurühren oder eigene Chefmagistrate zu ernennen. Sobald aber im Jahr<br />

1328 <strong>die</strong> äussere Gefahr für Siena mit dem Tod Castruccios Castracciani gebannt ist,<br />

wird in Siena wie in Florenz <strong>die</strong> erste Gelegenheit, <strong>die</strong> sich bietet, wahrgenommen,<br />

sich der Oberherrschaft der Anjou zu entledigen. Gleichzeitig beschliesst der<br />

Consiglio generale, dass “das Amt des Podestà <strong>von</strong> Siena wieder seinen <strong>von</strong> alters her<br />

benützten Titel zu erhalten hat <strong>und</strong> <strong>von</strong> nun an <strong>und</strong> in Zukunft nur noch unverfälscht<br />

<strong>und</strong> ursprünglich unter dem Titel Podestà geführt werden darf.” 111<br />

<strong>Der</strong> Sturz der Nove erfolgt schliesslich im Jahr 1355, als der Popolo minuto <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> Magnaten Kaiser Karl IV. <strong>die</strong> Tore Sienas öffnen. <strong>Der</strong> Kaiser, der sich auf seinem<br />

Weg nach Rom befindet, trifft damals auf eine <strong>von</strong> der schrecklichen Pest des Jahres<br />

1348 ausgedünnte Stadt. <strong>Der</strong> schwarze Tod hat <strong>die</strong> Zahl der Einwohner <strong>von</strong> <strong>über</strong><br />

50'000 auf 15'000 reduziert. 112 <strong>Der</strong> zeitgenössische Jurist Bartolus da Sassoferrato<br />

kommentiert den Sturz der gente media, <strong>die</strong> Nove hätten zwar als eine Regierung der<br />

Wenigen dem Gemeinwohl ge<strong>die</strong>nt, doch sei <strong>die</strong> Einwohnerzahl Sienas für eine solche<br />

Oligarchie zu klein: 113 Die absolute Zahl jener, <strong>die</strong> der Mittelschicht angehören, ist<br />

109 BOWSKY (1981), S. 176 ff.; RUBINSTEIN (1952)<br />

110 GREEN (1986); siehe auch MACHIAVELLI: La vita di Castruccio Castracciani da Lucca<br />

111 Consiglio generale, 106, cc. 101r-103v, 26. November 1328; siehe BOWSKY (1981), S. 177<br />

112 BOWSKY (1964)<br />

113 BARTOLUS DA SASSOFERRATO (1355/57): "Nec expedit tali populo [in primo gradu magnitudinis]<br />

regi per paucos, ut per divites civitatis. Nam contingit in hiis civitatibus divites esse in parvo numero. Continget<br />

alterum de duobus: quia aut multitudo populi de illorum paucorum regimine indignabitur quantuncunque bene<br />

regant, ut fuit in civitate Senarum. Fuit enim in annis fere lxxx. quidam ordo divitum hominum regentium civitatem<br />

bene et prudenter: tamen quia populi multitudo indignabatur oportebat eos semper stare cum magna fortia militari;<br />

qui ordo depositus est in adventu domini Karoli iiii., illustrissimi Romanorum imperatoris nunc regnantis. Ipsius<br />

prinicipis factum comprobat, quod talis regendi modus in talibus civitatibus non est bonus... "<br />

35


nach der Pest zu gering geworden, um <strong>von</strong> den Bürgern als Regierende akzeptiert zu<br />

werden. In den Jahren nach 1355 öffnet sich Sienas oberster Regierungsrat dann auch<br />

den Magnaten <strong>und</strong> dem Popolo minuto, jedoch in wechselnden Koalitionen, <strong>die</strong> sich in<br />

der zweiten Hälfte des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts öfters ablösen. 114<br />

Die Regierung der Nove ist eine Oligarchie der oberen Mittelschicht, <strong>die</strong> auf dem<br />

Konsens <strong>und</strong> der differenziert ausgestalteten Machtbeteiligung der Magnaten <strong>und</strong><br />

beschränkt auch des Popolo minuto, beruht. Bis zur Pest 1348 sind <strong>die</strong> mercatores<br />

oder gente media auch zahlenmässig so stark, um sicherzustellen, dass innerhalb des<br />

Kreises der Berechtigten <strong>die</strong> Regierungsmacht genügend oft in andere Hände<br />

<strong>über</strong>geht, um <strong>von</strong> der Masse der Bewohner akzeptiert zu werden. Gleichzeitig haben<br />

<strong>die</strong> Nove es auch geschafft, in einer Zeit, wo sich in Italien <strong>die</strong> Alleinherrschaft<br />

durchsetzt, das System der Kommune zu bewahren. Von den vielen Kommunen, <strong>die</strong><br />

im 12. Jahrh<strong>und</strong>ert in ganz Mittel- <strong>und</strong> Norditalien gegründet wurden <strong>und</strong> danach<br />

strebten, sich als unabhängige Macht durchzusetzen, sind bis Ende der Dreissiger<br />

Jahre des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts nur Florenz, Siena <strong>und</strong> Perugia übrig geblieben - abgesehen<br />

<strong>von</strong> der Seerepublik Venedig, <strong>die</strong> ebenfalls ein auf Machtteilung beruhendes<br />

politisches System kennt, das sich aber mit einem auf Lebenszeit gewählten Dogen<br />

schon immer <strong>von</strong> den Kommunen Nord- <strong>und</strong> Mittelitaliens unterschieden hat.<br />

Ansonsten regieren in allen grossen Städten Einzelherrscher, <strong>die</strong> meist mit Gewalt an<br />

<strong>die</strong> Macht gelangt sind <strong>und</strong> sich anschliessend mit Vehemenz der Aufgabe widmen,<br />

das Territorium der <strong>von</strong> ihnen beherrschten Stadt zu vergrössern. Als Beispiele seien<br />

<strong>die</strong> Visconti in Mailand oder <strong>die</strong> della Scala in Verona genannt, <strong>die</strong> ihre Herrschaft<br />

schon Mitte des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts begründeten. Die Toskana bedroht als Kriegsherr<br />

zunächst während drei Jahren, 1313-1316, der in der Kriegskunst ausgewiesene<br />

Ghibellinenführer Uguccione della Faggiuola, den <strong>die</strong> Pisaner zu ihrem Signore küren,<br />

anschliessend bis 1328 dessen bester Feldherr, Castruccio Castracciani aus Lucca. 115<br />

<strong>Der</strong> Aufstieg der Signori, <strong>die</strong> sich zunächst vor allem dank ihrer militärischen<br />

Schlagkraft durchsetzen, hat aber auch in Siena zur Militarisierung der Kommune<br />

geführt. Zwar wird auch auf <strong>die</strong> traditionelle Miliz gesetzt, doch immer wichtiger wird<br />

der Kriegsherr im Dienst der Kommune, in Siena der Capitano di Guerra <strong>und</strong> sein<br />

Söldnerheer: Mächte, <strong>die</strong> in Zeiten der Krise - wie in der zweiten Hälfte des 14.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts, als der Stadt <strong>die</strong> Finanzen fehlen, ein grosses, stehendes Söldnerheer zu<br />

bezahlen - teils in wilde Horden mutieren <strong>und</strong> sich gegen <strong>die</strong> Kommune wenden. 116<br />

114 WAINWRIGHT (1983)<br />

115 u. a. WALEY (1969), S. 128 ff.; TABACCO (1979), S. 352 ff., MARTINES (1979), S. 62 ff;<br />

ebd. S. 94 ff.; siehe auch JONES (1997), CRACCO (1987), SALZER (1900)<br />

116 CAFERRO (1998)<br />

36


1.5. Die Republik im Spiegel der Stadt<br />

Bis zur Pest 1348 ist Siena eine relativ wohlhabende Stadt, <strong>die</strong> auch <strong>die</strong> steigenden<br />

Militär- <strong>und</strong> Sicherheitskosten finanziell zu tragen vermag. Ihre Einwohnerzahl wächst<br />

ständig <strong>und</strong> baulich nimmt sie zur Zeit der Nove das Aussehen an, das schon damals<br />

Aufmerksamkeit erregte <strong>und</strong> <strong>über</strong> Generationen hinweg bew<strong>und</strong>ert wurde. Dieses<br />

Stadtbild ist nicht ein Produkt des Zufalls, sondern beruht auf einem Ordnungsprinzip,<br />

das darauf ausgerichtet ist, <strong>die</strong> Kommune auch visuell als <strong>die</strong> herrschende Macht der<br />

Stadt darzustellen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> anarchischen Tendenzen in der Gesellschaft zu zügeln<br />

vermag. 117<br />

Deutlich wird <strong>die</strong>s zunächst in den Ordnungs- <strong>und</strong> Strassenbaugesetzen, <strong>die</strong><br />

nirgends so zahlreich sind wie in Siena. Sie zeugen <strong>von</strong> den Bemühungen, aus den drei<br />

Stadtteilen, <strong>die</strong> wild auf den drei Hügeln Città, Camollia <strong>und</strong> San Martino gewachsen<br />

sind, eine Einheit zu schaffen <strong>und</strong> <strong>die</strong>se räumlich zu gestalten, so dass sie zur<br />

Schönheit der Stadt gereichen. Gleichzeitig wird darauf hingearbeitet, das ursprünglich<br />

chaotische Zusammenwirken <strong>von</strong> Feudalburgen mit einfachen Häusern, Kirchen <strong>und</strong><br />

Klosterkomplexen ins Ganze einzugliedern, <strong>und</strong> Ende des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts auf ein<br />

neues Zentrum auszurichten: Campo <strong>und</strong> Palast der Kommune. 118 Obwohl mehr als<br />

zehn Jahre <strong>über</strong> Finanzierung, Planung <strong>und</strong> Bau des Palasts <strong>und</strong> des Platzes im<br />

Consiglio generale debattiert wird, scheut <strong>die</strong> Kommune unter den Nove schliesslich<br />

keine Kosten, das politische Zentrum dort zu errichten, wo es am meisten Symbolkraft<br />

besitzt, aber auch am schwierigsten zu verwirklichen ist: Am Schnittpunkt der drei<br />

Hügelrücken, wo das Gelände unregelmässig <strong>über</strong> mehrere Plätze hin steil abfällt <strong>und</strong><br />

daher äusserst schwierig zu befestigen ist, <strong>und</strong> schon vorhandene Gebäude <strong>und</strong> eine<br />

alte Kirche niedergerissen werden müssen. Ausserdem wird mit dem Bauplatz am<br />

tiefsten Punkt der Stadt ein Ort gewählt, wo es grosser Baumeisterkunst bedarf, einen<br />

den Palast flankierenden Turm in <strong>die</strong> Höhe zu ziehen, der all <strong>die</strong> anderen Türme<br />

Sienas <strong>über</strong>ragt. Doch schliesslich gelingt das Unternehmen <strong>und</strong> der Campo öffnet<br />

sich im Zentrum der Stadt als grosse, halbkreisförmige politische Arena, am Fuss<br />

abgeschlossen durch den mächtigen zinnenbekrönten Palastbau mit Seitenflügeln <strong>und</strong><br />

schlankem, hohen Turm, dem Torre della Mangia. 1344 erhält er eine Krone aus<br />

weissem Travertin, der weit <strong>über</strong> <strong>die</strong> Dächer <strong>und</strong> Türme der Stadt in <strong>die</strong> Landschaft<br />

hinausleuchtet. Es folgt <strong>die</strong> strahlenförmige, auf den Palast zulaufende Pflasterung des<br />

Platzes, in der sich <strong>die</strong> Zahl “Neun” verbirgt, während alle Ingenieurkunst gefordert<br />

ist, um <strong>die</strong> Gestaltung des Platzes durch einen Brunnen zu vervollständigen. Zierde des<br />

117 BALESTRACCIO / PICCINI (1977), BRAUNFELS (1952), S. 9 ff.; BURCKHARDT (1961); Lob<br />

Petrarcas der Schönheit Sienas in Familiarum rerum libri, IX, 13, 39, zitiert <strong>von</strong> CHERUBINI (1987), S.<br />

116:<br />

118 DONATI (1904); BRAUNFELS (1952), S. 193 ff.; PAUL (1963); BALESTRACCIO / PICCINI<br />

(1977); BRANDI (1983)<br />

37


Brunnens wird eine antike Venusstatue des Lysipp, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Sienesen bei Bauarbeiten<br />

finden <strong>und</strong> 1343 auf einen ersten kleinen Brunnen setzen. Schon 1297, ein Jahr bevor<br />

mit dem Bau des Palasts begonnen wurde, hat der Consiglio generale verordnet, dass<br />

am Campo alle Paläste in Zukunft <strong>die</strong>selbe Fassade mit den zierlichen weissen<br />

Travertinsäulchen in den Fenstern aufzuweisen haben wie der Palast der Kommune.<br />

Dieselbe Aufmerksamkeit wie der Gestaltung des politischen Zentrums, Campo<br />

<strong>und</strong> Palazzo Pubblico, widmet <strong>die</strong> Sieneser Kommune unter der Regierung der Nove<br />

auch dem Dombau. 119 Für <strong>die</strong> Sienesen ist <strong>die</strong> Kathedrale mehr als <strong>die</strong> Bischofskirche,<br />

sie ist das alte Symbol der civitas - ein Begriff der ursprünglich Bischofssitzen<br />

vorbehalten <strong>und</strong> damit auch <strong>die</strong> erste Legitimation der Macht ihrer Kommune war, <strong>die</strong><br />

sich ausserhalb der traditionellen Feudalhierarchie gebildet hatte. Während <strong>die</strong> Person<br />

des Bischofs der Kommune in den Anfangszeiten jedoch erlaubte, sich in <strong>die</strong> feudale<br />

Lehenshierarchie einzuordnen <strong>und</strong> damit auch <strong>die</strong> eigene Machtexpansion zu<br />

legitimieren, 120 entfällt <strong>die</strong>ses Gedankenspiel Mitte des 12. Jahrh<strong>und</strong>ert mit der<br />

Verdrängung des Bischofs aus der weltlichen Macht. An seine Stelle tritt in Siena, wie<br />

auch in anderen Kommunen, der Stadtheilige, dem der Hochaltar der Kathedrale<br />

geweiht ist. 121 In Siena ist es seit Alters her <strong>die</strong> Jungfrau Maria. So wird ihr auch<br />

jährlich an ihrem Fest Maria Himmelfahrt, dem 15. August, ein Kerzenopfer<br />

dargebracht. Von der Ehrbezeugung gegen<strong>über</strong> dem Bischof wandelt sich <strong>die</strong>ses zum<br />

Treuebeweis, den <strong>die</strong> Sieneser Bevölkerung der Kommune entgegenbringt. 122 Es wird<br />

Teil der Unterwerfungsverträge <strong>und</strong> Symbol <strong>von</strong> Sienas Machtexpansion, während <strong>die</strong><br />

Jungfrau als oberste Lehensträgerin auf dem Stadtsiegel <strong>und</strong> den Silbermünzen Sienas<br />

erscheint 123 <strong>und</strong> <strong>die</strong> Stadt an ihrem Fest eigene Ritter schlägt, <strong>die</strong> aus der Hand des<br />

Podestà Schwert <strong>und</strong> goldene Sporen erhalten. 124 Dies geschieht alles in Einverständnis<br />

mit dem Bischof, der meist aus einer der grossen Familien Sienas kommt, sehr oft aus<br />

dem Geschlecht der Malavolti. Während in anderen Kommunen <strong>die</strong> Rolle der<br />

Stadtheiligen verblasst, wächst indessen in Siena <strong>die</strong> Verehrung der Jungfrau Maria als<br />

“Regentin, Verteidigerin, Beschützerin <strong>und</strong> Helferin der Kommune <strong>und</strong> des Popolo<br />

119 KEMPERS (1989); BRAUNFELS (1952), S. 151 ff<br />

120 SZABÒ (1993), S. 56; KURZE (1967); DILCHER (1964)<br />

121 Peyer (1955), S. 46 ff.; s. a. KURZE (1972), S. 96<br />

122 Bsp. 1176 Unterwerfung der Grafen Scialenghi, Kerzentribut für Asciano, Mt. S. Maria,<br />

Chisura, Rapolano, Petroio, Asinalonga, Montisi (Regestum Senense 240, <strong>von</strong> DAVIDSOHN auf 1176<br />

datiert, auch im Caleffo Vechio). Im Dezember 1178 unterwerfen sich <strong>die</strong> Grafen <strong>von</strong> Frosini, zahlen<br />

der Kommune Kerzentribut am Fest Maria Himmelfahrt. (Regestum Senense 286, auch im Caleffo<br />

Vechio). Vgl. auch Redon, 1982, S. 213. <strong>Der</strong> Bischof verlor seine weltliche Macht in Siena im Jahr<br />

1168.<br />

123 BASCAPÈ (1953), MIDDELDORF-KOSEGARTEN (1970), S. 82<br />

124 Constitutum 1262, I, 20 <strong>und</strong> III, 55 (<strong>die</strong> Bestimmung stammt aus der Zeit vor 1226,<br />

ZDEKAUER (1897), Dissertazione, S. XXXIX Fn. 6.<br />

38


sowie des Contado <strong>und</strong> der Jurisdiktion <strong>von</strong> Siena”. 125 Dies hängt einerseits mit dem in<br />

jener Zeit allgemein zu beobachtenden Anstieg der Marienverehrung zusammen,<br />

andererseits hat in der kollektiven Erinnerung Sienas <strong>die</strong> Jungfrau der Stadt zum<br />

glorreichen Sieg <strong>von</strong> Montaperti 1260 verholfen; denn <strong>die</strong> Sienesen hatten ihr in ihrer<br />

grossen Bedrängnis am Abend vor der Schlacht <strong>die</strong> Stadtschlüssel auf dem Hochaltar<br />

geweiht. 126<br />

Doch bereits seitdem <strong>die</strong> Kommune Anfang des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>die</strong><br />

Verantwortung für den Dombau <strong>über</strong>nommen hat, wird <strong>die</strong> alte Bischofskirche<br />

zunehmend ein Marientempel. 127 Äusseres Zeichen ist <strong>die</strong> Errichtung der Domkuppel,<br />

unter welcher der Hauptaltar Marias eingerichtet <strong>und</strong> in einen sechseckigen<br />

Säulenkranz gesetzt wird; 128 eine weitere Kapelle wird ihr im Seitenschiff nach dem<br />

Sieg <strong>von</strong> Montaperti gewidmet. Dieser Trend wird auch unter den Regierungen der<br />

gente media weitergeführt. Im Jahr 1284 wird der berühmteste Steinmetz jener Zeit in<br />

<strong>die</strong> Stadt gerufen, Giovanni Pisano. Man verleiht ihm <strong>die</strong> Sieneser Bürgerschaft <strong>und</strong><br />

befreit ihn <strong>von</strong> den Steuern <strong>und</strong> dem Kriegs<strong>die</strong>nst. Ihm wird <strong>die</strong> Gestaltung der<br />

Skulpturenfassade am Hauptportal <strong>über</strong>tragen, <strong>die</strong> am Eingang das Hohelied auf <strong>die</strong><br />

Jungfrau singt: Lebensgrosse Säulenfiguren verkünden auf steinernen Tafeln<br />

Marienprophezeiungen <strong>und</strong> mystische Lauden. Unter <strong>die</strong>sen Figuren finden sich nicht<br />

nur Propheten, Sybillen <strong>und</strong> Könige des Alten Testaments, Evangelisten <strong>und</strong> Aposteln<br />

sondern auch heidnische Philosophen, selbst Plato <strong>und</strong> Aristoteles verheissen <strong>die</strong><br />

Geburt der Gottesmutter. 129 Höhepunkt der Marienverehrung wird im Jahr 1311 jedoch<br />

<strong>die</strong> neue, freistehende Hochaltartafel aus der Werkstatt des Sieneser Meister Duccio,<br />

<strong>die</strong> auf beiden Seiten bemalt ist <strong>und</strong> <strong>über</strong> 25m² misst. 130 Gleichzeitig heisst der<br />

Consiglio generale im Jahr 1316 auch den waghalsigen Plan gut, zur Vergrösserung<br />

der Kirche an der steil abfallenden Chorseite ein neues Baptisterium hochzuziehen. 131<br />

Doch <strong>die</strong>ses Unternehmen, das aufgr<strong>und</strong> der Topographie wiederum äusserst<br />

schwierig zu verwirklichen ist, scheint im Vergleich zu jenem, das der Consiglio<br />

generale im Jahr 1339 verabschiedet, noch bescheiden: In jenem Jahr beginnen unter<br />

der Leitung <strong>von</strong> Giovanni da Agostino <strong>und</strong> Lando di Pietro <strong>die</strong> Vorbereitungen für den<br />

Erweiterungsbau der Kathedrale. 132 Es soll ein neues Langschiff errichtet werden,<br />

während geplant ist, das alte neu als Querschiff in <strong>die</strong> Anlage einzubeziehen. Die<br />

Masse <strong>die</strong>ses Doms, wenn er verwirklicht worden wäre, hätten jene <strong>von</strong> St. Peter in<br />

125 Beispiele unter vielen: Consiglio generale, 87, c. 239v. "caput, defensatrix, protectrix et<br />

adiutrix comunis et populi, comitatus et iurisdictionis Senarum"<br />

126 DAVIDSOHN (1896-1927), II, S. 432 ff.; ebd., S. 449 ff.<br />

127 KEMPERS (1989)<br />

128 MIDDELDORF-KOSEGARTEN (1970)<br />

129 CARLI (1977), S. 48 ff.<br />

130 BELTING (1991), S. 452<br />

131 BRAUNFELS (1978), S. 159<br />

132 BALESTRACCIO / PICCINI (1977), S. 110; BRAUNFELS (1952), S. 159<br />

39


Rom bei weitem <strong>über</strong>schritten. Das Projekt muss jedoch nach der Pest 1348<br />

aufgegeben werden, doch sind ein Teil der bis dahin schon errichteten Mauern bis<br />

heute stehen geblieben.<br />

Die bauliche Entwicklung des Doms findet ihre Parallele im Fest Maria<br />

Himmelfahrt, das immer glänzender gefeiert <strong>und</strong> unter den Nove gewissermassen<br />

Sienas “Staatsfeiertag” wird. 133 Wenn am Abend des 14. Augusts <strong>die</strong> Stadtbewohner im<br />

Verb<strong>und</strong> mit ihrem Nachbarschaftsbezirk, jeder <strong>die</strong>selbe einfache Kerze in der Hand,<br />

zum Hauptaltar schreiten, wird <strong>die</strong> Prozession <strong>von</strong> einer immer grösseren Kerze der<br />

Kommune angeführt, <strong>die</strong> bis zu 100 Pf<strong>und</strong> wiegt. Gezogen wird sie auf einem stets<br />

reicher verzierten Karren, den Tamburen, Trompeter <strong>und</strong> Kesselpauker begleiten, <strong>die</strong><br />

jedesmal prunkvoller <strong>von</strong> der Kommune ausgestattet werden. Am nächsten Tag, dem<br />

eigentlichen Fest, wenn der Aufmarsch der Abgesandten der unterworfenen Kastelle,<br />

Städtchen <strong>und</strong> Landkommunen sowie derjenigen Feudalherren folgt, <strong>die</strong><br />

ausschliesslich auf dem Land leben, ist Siena mit Girlanden <strong>und</strong> seidenen Wimpeln<br />

geschmückt. Während der Wein für alle kostenlos fliesst, unterhalten Jongleure,<br />

Sänger <strong>und</strong> Possenreisser das Volk. Seit 1310 spendet <strong>die</strong> Kommune auch einen Palio<br />

für den Sieger eines Pferderennens, das am 15. August zu Ehren der Jungfrau Maria<br />

durchgeführt wird. Auch der Palio, ein grosses Stück Tuch zwischen zwei bunt<br />

bemalten Fahnenstangen, wird <strong>von</strong> Jahr zu Jahr edler. In den 30er Jahren des 14.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts werden hierfür bis zu 16 Ellen feinster scharlachroter Samt <strong>und</strong> 400<br />

Fehpelzchen verarbeitet. Unterdessen verwandeln <strong>die</strong> Kerzen, <strong>die</strong> der Jungfrau <strong>und</strong><br />

Kommune <strong>von</strong> Siena dargebracht wurden, den Dom während zwei Tagen in ein<br />

Lichtermeer. Die Kerze der Kommune <strong>und</strong> jene des Contado, deren Grösse sich<br />

entweder nach dem Steueraufkommen der Landkommunen oder den<br />

Unterwerfungsverträgen bemisst, bleiben bis zum nächsten Fest auf dem Hauptaltar<br />

stehen <strong>und</strong> visualisieren so <strong>über</strong> das ganze Jahr <strong>die</strong> Herrschaft der Sieneser Kommune<br />

als <strong>die</strong> ordnende Macht sowohl in der Stadt wie auch im Contado.<br />

Die Verbindung <strong>die</strong>ses Feiertags mit Sienas Staatsmacht als einer Republik, in der<br />

nicht ein einzelner Herrscher oder König regiert, sondern an dessen Stelle <strong>die</strong> Jungfrau<br />

getreten ist, wird sowohl in der Hochaltartafel des Doms als auch in der Ausmalung<br />

des Saals des Consiglio generale im Palast der Kommune deutlich: Duccios<br />

Hochaltartafel zeigt <strong>die</strong> Jungfrau Maria in noch nie dagewesener Weise als<br />

Himmelskönigin, umgeben <strong>von</strong> ihrem heiligen Hofstaat, ein Ansatz, der <strong>von</strong> Simone<br />

Martini im Saal des Consiglio generale 1315/21 weitergeführt wird: Auf der<br />

133 CECCHINI, 1958, S. 16 ff. Im Anhang sind auch <strong>die</strong> Dokumente publiziert. Das älteste<br />

Dokument, das das Kerzenopfer der Stadteinwohner regelt, stammt aus dem Jahr 1200. Siehe auch<br />

Costituto 1309, I. 26, I, S. 64; Constitutum 1337/39, I. 7; Statuto della Mercanzia, IV. 61, S. 172 f.<br />

Regelung für das Contado <strong>und</strong> <strong>die</strong> Jurisdiktion <strong>von</strong> Siena besonders noch im Libro dei Censi<br />

aufgeführt.<br />

40


Schmalseite des Saals erscheint sie im Stil der französischen Gotik als Königin des<br />

Himmels, als ob sie auf einem weltlichen Thron sässe, während sich <strong>über</strong> ihr ein<br />

Baldachin spannt, der <strong>über</strong>sät ist mit den Wappen der Kommune <strong>und</strong> des Sieneser<br />

Popolo. Gemeinsam mit ihrem Sohn ruft sie <strong>die</strong> Bürger, <strong>die</strong> sich im Saal versammeln,<br />

zur Achtung <strong>von</strong> Gerechtigkeit <strong>und</strong> Gemeinwohl auf, während der Saal an den<br />

restlichen Wänden Bilder zeigt, <strong>die</strong> Sienas Machtexpansion <strong>und</strong> Vergrösserung des<br />

Contado verdeutlichen. 134 Diese Stellung der Jungfrau Maria wiederholt sich ausserdem<br />

in den beiden gr<strong>und</strong>legenden Rechtstexten, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Herrschaft der Kommune<br />

widerspiegeln: Die erste Seite des 1336 neu editierten Caleffo, der <strong>die</strong> gesamten<br />

Rechte der Kommune im Contado <strong>und</strong> Herrschaftsraum festhält, schmückt eine<br />

prachtvolle Miniatur, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Himmelfahrt Marias zeigt <strong>und</strong> dem Kodex den Namen<br />

Caleffo dell'Assunta gibt. 135 Die Verfassung <strong>von</strong> 1337/39 bezieht sich, nach Anrufung<br />

der Dreieinigkeit Gottes, auf <strong>die</strong> Jungfrau Maria <strong>und</strong> den himmlischen Hofstaat,<br />

indessen <strong>die</strong> Stadt <strong>die</strong> Augen zum Gipfel der Gerechtigkeit emporhebt, “damit sie<br />

aufgr<strong>und</strong> der Erhaltung der Republik majestätisch werde - reipublice preservando<br />

foret augusta.” 136<br />

Während <strong>die</strong> sienesische Republik im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert in der Politik den<br />

Ausgleich <strong>und</strong> den Konsens der Bürger sucht, um <strong>die</strong> Kommune als Ordnungsmacht<br />

durchzusetzen, umgibt sie sich in Architektur, Kunst <strong>und</strong> feierlichen<br />

Selbstdarstellungen, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se Ordnungsmacht widerspiegeln sollen, mit dem<br />

Aussergewöhnlichen: Duccios Altartafel ist das grösste Gemälde jener Zeit, das<br />

damals alle bis anhin gekannte Formen sprengt, der Campo wird einer der prächtigsten<br />

Plätze Italiens, der Bau des Torre della Mangia scheint so kühn, dass <strong>die</strong> Baumeister<br />

sich verpflichten müssen, für <strong>die</strong> Schäden, <strong>die</strong> durch den Bau entstehen könnten, selbst<br />

zu haften. Ohne <strong>die</strong> Pest <strong>von</strong> 1348 hätte Siena vielleicht auch <strong>die</strong> grösste Kirche des<br />

Abendlandes erhalten, während das Fest der Jungfrau Maria unter den Nove einen<br />

solchen Glanz erreicht, dass der Palio zu ihren Ehren, wenn auch in veränderter Form,<br />

bis heute <strong>über</strong>lebt hat. Diese Aussergewöhnlichkeit in der Selbstdarstellung findet<br />

seine Fortsetzung auch in der Aufmerksamkeit, <strong>die</strong> Siena unter der Regierung der<br />

Nove den gesetzlichen Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> ihren Kodizes entgegenbringt, eine Tradition<br />

fortsetzend, <strong>die</strong> sich in der Sieneser Kommune schon mit dem Caleffo Vecchio 1202<br />

<strong>und</strong> der Verfassung <strong>von</strong> 1262 deutlich abgezeichnet hat: <strong>Der</strong> Caleffo dell’Assunta mit<br />

der säuberlich, geographisch geordneten Darstellung <strong>von</strong> Sienas Rechten im Contado<br />

beinhaltet eine der prachtvollsten Miniaturen, <strong>die</strong> einen säkularen Rechtstext zieren,<br />

134 MARTINDALE (1988), S. 40; ebd. S. 208 ff.<br />

135 DE BENEDICTIS (1974), S. 53; Miniatur <strong>von</strong> Niccolò di Ser Sozzo (ca. 1338)<br />

136 "Deo auctore antiqua Senarum civitas gloriose virginis Dei matris nomini dedicata, ut<br />

Reipublice perseverando foret augusta ... ad apicem montis iustitie mentis oculos elevavit ...",<br />

Prohemium constituti Comunis Senarum in ASCHERI / FUNARI (1989), S. 352<br />

41


während <strong>die</strong> Verfassung <strong>von</strong> 1337/39 mit solcher Sorgfalt editiert <strong>und</strong><br />

zusammengestellt wird, dass Teile da<strong>von</strong> fast bis zum Ende der Republik 1555 in<br />

Kraft bleiben. Als Herzschlag des kommunalen Systems sind <strong>die</strong> Kodizes auch für <strong>die</strong><br />

Öffentlichkeit im Erdgeschoss des Palasts der Kommune aufgelegt, das heisst in den<br />

Gewölbehallen der Biccherna, <strong>die</strong> direkt vom Campo aus zugänglich sind.<br />

Die Zeit der Sieneser Republik unter den Nove ist in Siena gleichzeitig auch eine<br />

Epoche, <strong>die</strong>, während sie in der Politik <strong>die</strong> herausragende Persönlichkeit verhindern<br />

will, in Kunst <strong>und</strong> Architektur Männer schätzt, <strong>die</strong> sich an Neues <strong>und</strong> Grossartiges<br />

wagen. So kann der Maler Duccio auf der Maestà nicht nur für Sienas Frieden,<br />

sondern auch für sein eigenes langes Leben bitten, weil er der Meister <strong>die</strong>ses Werks<br />

ist. Giovanni Pisano wird, wie <strong>von</strong> ihm gewünscht, unter seiner Domfassade begraben<br />

<strong>und</strong> der Goldschmied Lando di Pietro, der auch als Architekt tätig ist, wird gerade<br />

deshalb gepriesen, “weil er nicht nur in seiner eigenen Kunst, sondern in vielen<br />

Künsten, ein Mann grosser Geschicklichkeit <strong>und</strong> voller Erfindungen ist ....” 137 <strong>Der</strong><br />

Augenblick ist gekommen, sich dem Maler <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> zuzuwenden.<br />

137 MILANESI (1854), I, S. 228; s. a. BRAUNFELS (1952), S. 234<br />

42


2. <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong><br />

2.1. <strong>Der</strong> Maler <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong><br />

<strong>Der</strong> erster Biograph <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s, der Florentiner Bildhauer Lorenzo<br />

Ghiberti, der um 1420 <strong>die</strong> Kunst des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts in Italien kommentiert, zollt ihm<br />

besondere Verehrung. Er nennt ihn famosissimo, singularissimo <strong>und</strong> perfectissimo<br />

maestro <strong>und</strong> einen huomo di grande ingegno, einen Mann grosser Erfindungsgabe, der<br />

äusserst produktiv gewesen sei. Für Ghiberti ist <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> der grösste<br />

Sienese im Trecento gewesen, gar bedeutender als Simone Martini, der im Palazzo<br />

Pubblico <strong>die</strong> Maestà <strong>und</strong> das Reiterstandbild des Guidoriccio malte <strong>und</strong> den damals<br />

viele als den besten Künstler Sienas bezeichneten. 1<br />

Geboren ist <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> in Siena um das Jahr 1295. 2 Von den Eltern ist<br />

nichts bekannt, ausser dass der Vater Lorenzo hiess. Von den Geschwistern<br />

<strong>Ambrogio</strong>s ist ein Bruder namhaft, Pietro, der ebenfalls als angesehener Maler<br />

Anerkennung findet. Bei Pietro, der r<strong>und</strong> 15 Jahre älter ist, wird <strong>Ambrogio</strong> <strong>die</strong> ersten<br />

Erfahrungen gesammelt haben, später, nachdem er sich einen eigenen Namen errungen<br />

hat, werden <strong>die</strong> Brüder Seite an Seite in Siena als Meister tätig sein.<br />

Als der junge <strong>Ambrogio</strong> Anfang des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts heranwächst <strong>und</strong> das<br />

Malerhandwerk erlernt, ist <strong>die</strong> Schaffenskraft in der italienischen Kunst gross. Das<br />

Wachstum der Städte hat eine lebhafte Nachfrage auf dem Kunstmarkt entstehen<br />

lassen <strong>und</strong> einen immensen Reichtum an Malern <strong>und</strong> Bildhauern hervorgebracht. In<br />

kleineren <strong>und</strong> grösseren Städten der Toskana, Umbriens, der Lombardei, in Bologna,<br />

Rimini <strong>und</strong> Rom beginnen sich neue Stilrichtungen zu entfalten, gleichzeitig werden<br />

auch neue Bildme<strong>die</strong>n geschaffen. 3 Zum einen bewirkt der stete Bau <strong>von</strong> Kirchen,<br />

öffentlichen <strong>und</strong> privaten Palästen den Ruf nach Skulpturen- <strong>und</strong> Bilderschmuck 4 ; als<br />

Folge wird <strong>die</strong> traditionelle Mosaikkunst schon bald <strong>von</strong> der schnellen <strong>und</strong> billigeren<br />

Freskomalerei verdrängt, <strong>die</strong> zu einer der bestimmenden Trägerinnen italienischer<br />

Kunstentwicklung wird. Zum anderen hat <strong>die</strong> Zunahme der städtischen Bevölkerung<br />

1 GHIBERTI (1447/48): I commentarii, I, S. 40 f.<br />

2 Zu <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> siehe abgesehen <strong>von</strong> der unten zitierten Litaratur zuletzt<br />

CASTELNUOVO (1995)<br />

3 PRÉVITALI (1967), S. 12<br />

4 MEISS (1970), S. 13; LARNER (1971), S. 8 mit Literaturngaben im Anhang; BORSOOK<br />

(1980), S. XVIII<br />

43


neue Geisteshaltungen provoziert, <strong>die</strong> dazu verleiten, nach neuartigen Bild- <strong>und</strong><br />

Formentypen zu suchen. 5<br />

Hier spielen zunächst <strong>die</strong> Bettelorden <strong>und</strong> <strong>die</strong> ihnen angegliederten Laienverbände<br />

eine wesentliche Rolle. Ausserhalb der kirchlichen Hierarchie begründet, um mit<br />

Predigt, Seelsorge <strong>und</strong> Krankenpflege dem Volk der rasch anwachsenden Städte zu<br />

<strong>die</strong>nen, 6 setzen sie im Laufe des 12. <strong>und</strong> 13. Jahrh<strong>und</strong>erts einen neuen Ansatz in der<br />

Religion durch, der <strong>die</strong> menschliche Seite der Christusgeschichte betont. Im Zuge<br />

dessen werden <strong>von</strong> der Kunst naturalistische Formen verlangt, <strong>die</strong> geeignet sind, dem<br />

Betrachter <strong>die</strong> menschlichen Gefühle der heiligen Akteure zu vermitteln. 7 Besonders<br />

<strong>die</strong> Franziskaner drängen auf eine naturalistische <strong>und</strong> epische Darstellung der<br />

Geschichte ihres Ordensgründers, des heiligen Franz <strong>von</strong> Assisi, dessen Lebensführung<br />

in evangelischer Vollkommenheit <strong>und</strong> Armut sie mit dem Leben Christi<br />

vergleichen. 8 <strong>Der</strong> grosse Meister der Freskomalerei <strong>und</strong> des monumentalen Erzählstils<br />

wird um 1300 der Florentiner Giotto (1266 - 1336). Er ist eine Generation älter als<br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> <strong>und</strong> wird ihn nicht unwesentlich beeinflussen.<br />

Die Laienbrüderschaften, <strong>die</strong> in den Kapellen der Bettelorden zu Gast sind, legen<br />

ihrerseits Wert auf eine neue Art <strong>von</strong> Marienbildnissen. Diese sollen nicht wie <strong>die</strong><br />

byzantinischen Ikonen das symbolische Verhältnis zwischen Mutter <strong>und</strong> Sohn Gottes<br />

in den Vordergr<strong>und</strong> rücken, sondern <strong>die</strong> zwischenmenschliche Beziehung einer Mutter<br />

zu ihrem Kind. 9 Sie sehen Maria als <strong>die</strong> sanfte Mutter Gottes, <strong>die</strong> sich für den Gläubigen<br />

"als Advokatin einsetzt, wenn er sich fürchtet, <strong>die</strong> göttliche Majestät<br />

anzurufen." 10 Sie beginnen deshalb in noch nie dagewesener Grösse Bildtafeln zu<br />

bestellen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Bettelmönche mit eigenen gross angelegten Bilderwänden für ihren<br />

Hochaltar beantworten. 1112 Die sich so generierende Nachfrage lässt schon Mitte des 13.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>die</strong> Bildgattung der Altartafeln <strong>und</strong> Polyptichone entstehen. Neben der<br />

Freskomalerei tragen sie Wesentliches zur Stilentwicklung bei <strong>und</strong> werden auch für<br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> wichtiges Medium seiner künstlerischen Entfaltung.<br />

Im Reigen der um bildlichen Ausdruck <strong>und</strong> Schönheit rivalisierenden Institutionen<br />

wird schliesslich <strong>die</strong> politische Gemeinschaft der Bürger, <strong>die</strong> Kommune, ein dritter<br />

grosser Akteur. 13 Die tiefen religiösen Gefühle, <strong>die</strong> einen grossen Teil der<br />

Stadtbevölkerung im 13. Jahrh<strong>und</strong>ert erfassen, finden ihren Widerpart in einem<br />

5 BLUME (1989), S. 14<br />

6 LARNER (1971), S. 8; BORSOOK (1980), S. XIX; WHITE (1966), S. 91 f.<br />

7 BELTING (1977; BLUME (1989), S. 14; BLUME (1989a), S. 149<br />

8 BELTING (1977); BLUME (1989), S. 14; BLUME (1989a), S. 149<br />

9 VAN OS (1984), S. 14<br />

10 Zitat des heiligen Bernhard <strong>von</strong> Clairveaux (12. Jh.), zitiert in SMART (1978), S. 4<br />

11 BELTING (1991), S. 433 ff.<br />

12 BELTING (1991), S. 446 ff.; vgl. auch VAN OS (1984)<br />

13 WIERUSZOWSKI (1944), S. 14ff. ; WALEY (1969), S. 87ff; LARNER (1971), S. 65 ff.; BLUME<br />

(1989), S. 14; KEMPERS (1989a), S. 114 ff.<br />

44


fortschreitenden Säkularisierungsprozess der gesellschaftlichen Institutionen. Bürger<br />

<strong>und</strong> Beamte <strong>über</strong>nehmen nicht nur in Politik <strong>und</strong> Verwaltung <strong>die</strong> Amtsleitung, sondern<br />

dringen auch in den Bereich der Kirche vor, z. B. dem Dombau. 14 Einerseits fördert<br />

<strong>die</strong>se Entwicklung <strong>die</strong> Darstellung neuer, nicht religiöser Motive, andererseits treten<br />

<strong>die</strong> städtischen Behörden im Ausdruck der Frömmigkeit in direkten Wettbewerb mit<br />

den Bettelorden <strong>und</strong> Brüderschaften. 15<br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s eigene Kommune, Siena, ist hier besonders aktiv. 1308<br />

erteilt sie dem Sienesen Duccio (um 1255 - 1319), der sich schon Ruhm als Maler <strong>von</strong><br />

Marientafeln erworben hat, den Auftrag zur Hochaltartafel der Maestà, <strong>die</strong> alle bis<br />

anhin gekannten Grössen <strong>und</strong> Formen sprengt. Es vereint <strong>die</strong> <strong>von</strong> den<br />

Laienbrüderschaften bevorzugte Marientafel mit den Bilderwänden oder<br />

Polyptichonen der Bettelmönche. 16 Die Haupttafel wird <strong>von</strong> vielen kleinen<br />

Holzpredellen mit Abbildungen <strong>von</strong> Aposteln <strong>und</strong> der Lebensgeschichte Marias<br />

umrahmt. Ein völlig neues Phänomen ist auch <strong>die</strong> Bemalung der Rückseite, <strong>die</strong> anhand<br />

<strong>von</strong> 36 zusammengesetzten Bildtafeln <strong>die</strong> Passion Christi erzählt. 17 Als Duccio nach<br />

knapp dreijähriger Arbeit im Jahre 1311 das Werk vollendet hat, ist <strong>die</strong> Begeisterung<br />

so gross, dass sich <strong>die</strong> Bevölkerung Sienas vor der Werkstatt des Malers versammelt,<br />

um im Triumphzug zu Klängen <strong>von</strong> Posaunen <strong>und</strong> Trompeten das Bild zum Dom zu<br />

geleiten. 18 <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> ist damals r<strong>und</strong> 16 Jahre alt, wahrscheinlich befindet<br />

sich auch er im Gefolgszug des Bildes. Dokumentiert ist, dass er r<strong>und</strong> 24 Jahre später,<br />

im Jahr 1335, Gesicht, Hände <strong>und</strong> Kleid <strong>die</strong>ser Maestà restaurieren wird.<br />

Duccio, der das grossartige Werk gemalt hat, ist wie kein anderer ein Meister der<br />

Liebeslyrik. Linienführung <strong>und</strong> Farbgebung treffen den Ton zeitgenössischer Poesie,<br />

<strong>die</strong> das Thema der Liebe in der menschlichen wie religiösen Spielart veredelt. 19 Als<br />

Maler interessieren ihn, wie auch schon den Florentiner Giotto, Licht, Schatten <strong>und</strong><br />

Perspektive, um den Eindruck der erzählten Geschichte zu steigern. Ist Giotto jedoch<br />

der Meister des konzentrierten Erzählens, der <strong>die</strong> Umgebung dem Verhalten der<br />

Akteure unterordnet, 20 prägt Duccio <strong>die</strong> sienesische Schule, <strong>die</strong> durch Wiedergabe <strong>von</strong><br />

Details den Betrachter in eine für ihn wiedererkennbare Welt versetzt. 21<br />

Die Werke Giottos <strong>und</strong> Duccios werden <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>, wie auch seinem<br />

Bruder Pietro, <strong>die</strong> beide sowohl in der Fresko- wie Tafelbildmalerei Hervorragendes<br />

leisten, zu Lehrmeistern. Beiden Brüdern gemeinsam ist auch ihre Beschäftigung mit<br />

14 BRAUNFELS (1979), S. 151 ff. <strong>und</strong> KEMPERS (1989a), S. 136 ff.<br />

15 BELTING (1991), S. 445<br />

16 BELTING (1991), S. 452; Carli (1981), S. 49<br />

17 WHITE (1979), S. 102; SMART (1988)<br />

18 AGNOLO DI TURA DEL GRASSO: Cronaca Senese, ad annum<br />

19 BELTING (1991), S. 422 f.<br />

20 BERENSON zitiert <strong>von</strong> LARNER (1971), S. 9; PRÉVITALI (1967), S. 77<br />

21 BORSOOK (1980), S. XXI f., S. 45, S. 47<br />

45


der Skulptur, insbesondere mit Giovanni Pisano (geb. um 1250 - 1319),<br />

Dombaumeister in Siena Ende des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts, <strong>und</strong> seinem Sieneser Schüler Tino<br />

da Cammaino, der zeitgleich mit den <strong>Lorenzetti</strong>s arbeitet. <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> schlägt<br />

in der Auseinandersetzung mit Motiv <strong>und</strong> Raum jedoch auch neue Wege ein, <strong>die</strong> ihn<br />

rückblickend schon aus der Sicht des frühen 15. Jahrh<strong>und</strong>erts zum innovativsten Maler<br />

der Generation nach Giotto werden lassen. Zeugnis hier<strong>von</strong> legt <strong>die</strong> anfangs erwähnte<br />

Verehrung durch Lorenzo Ghiberti (1378-1455) ab, nebst Donatello der bedeutendste<br />

Bildhauer der Florentiner Frührenaissance.<br />

Selbst Themen, für <strong>die</strong> sich schon bestimmte Darstellungsweisen herausgebildet<br />

haben, begegnet <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> mit Einfallsreichtum. In einer seiner Altartafeln,<br />

<strong>die</strong> er für ein Priesterseminar in der Nähe Sienas herstellt, erscheint <strong>die</strong> Jungfrau Maria<br />

erstmals als stillende Mutter mit entblösster Brust, an <strong>die</strong> sich das Jesuskind mit<br />

kindlicher Gier klammert. 22 Nicht Unschuld <strong>und</strong> Lieblichkeit herrschen bei <strong>Lorenzetti</strong><br />

in der Darstellung des Weiblichen vor, sondern Reife <strong>und</strong> Monumentalität. Seine<br />

Marien sind starke Frauen, <strong>die</strong> das Leid ihres Kindes erahnen <strong>und</strong> <strong>die</strong>ses auch zu<br />

ertragen wissen.<br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s grösstes Interesse liegt in der Erforschung des Raumes. Die<br />

Erzeugung <strong>von</strong> Raumillusion durch Dreidimensionalität <strong>und</strong> der realistischen<br />

Wiedergabe <strong>von</strong> Details ist ihm stete Herausforderung. Ghiberti <strong>und</strong> später, im 16.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert auch Giorgio Vasari sind für ihn deshalb des Lobes voll. So sei <strong>Ambrogio</strong><br />

nicht nur äusserst erfahren <strong>und</strong> fachk<strong>und</strong>ig in der Kunst <strong>und</strong> Theorie des Zeichnens,<br />

sondern auch ein ausgezeichneter componitore, d. h. es gelinge ihm, "seine Figuren in<br />

wohlerwogenen Kompositionen glücklich anzuordnen." 23 Ghiberti ist vor allem <strong>von</strong><br />

seinem erzählerischem Talent hochbegeistert, <strong>von</strong> seinem lebhaften Stil <strong>und</strong> seiner<br />

Erfindungsgabe. 24 Tatsächlich scheut <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> nicht davor zurück,<br />

meteorologische Phänomene darzustellen, führt <strong>die</strong> Dreiviertel-Ansicht seiner Figuren<br />

ein <strong>und</strong> entwickelt schliesslich als erster <strong>die</strong> perspektivische Komposition mit einem<br />

einzigen Fluchtpunkt. Auch wird <strong>Ambrogio</strong> sich seit der Antike als erster wieder daran<br />

wagen, das Panorama einer Stadt <strong>und</strong> einer Landschaft darzustellen, letzteres in den<br />

Fresken <strong>über</strong> <strong>die</strong> <strong>gute</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> schlechte Regierung im Palazzo Pubblico.<br />

Ein Merkmal der Kunst <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s ist auch seine Anlehnung an antike<br />

Formen in manch seiner Figuren. Tatsächlich <strong>über</strong>liefert uns Ghiberti auch <strong>die</strong><br />

Existenz einer Zeichnung <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s, <strong>die</strong> eine Venusstatue des Lysipp<br />

22 "Madonna del Latte", hing früher im Priesterseminar <strong>von</strong> Lecceto, jetzt im erzbischöflichen<br />

Palast <strong>von</strong> Siena. <strong>Ambrogio</strong> reinterpretierte hier ein Motiv des alten byzantinischen Themas der<br />

stillenden Jungfrau: FRUGONI (1988), S. 39. Die menschliche Darstellungsweise in der Art <strong>Ambrogio</strong>s<br />

war schon Mode bei den Bildhauern, hier taucht sie aber das erste Mal in der Malerei auf: BORSOOK<br />

(1966)<br />

23 VASARI (1568), S. 62<br />

24 GHIBERTI (1447/48): I commentarii, I, S. 40 f.<br />

46


festhält. 25 Ein greiser Mönch, der als Junge vielleicht <strong>die</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s noch kannte,<br />

selbst auch Goldschmied <strong>und</strong> Zeichner war, hat Ghiberti <strong>die</strong>se gezeigt. Von dem<br />

greisen Mönch soll Ghiberti auch erfahren haben, dass <strong>die</strong>se Venusstatue,<br />

wahrscheinlich eine antike Kopie des Originals, <strong>von</strong> den Sienesen während<br />

Bauarbeiten gef<strong>und</strong>en wurde <strong>und</strong> ihre Schönheit solche Begeisterung auslöste, dass sie<br />

begleitet <strong>von</strong> Festklängen auf den Brunnen des Campo gestellt wurde. Erst nach der<br />

Pest 1348 soll sie zerstört worden sein, da <strong>die</strong> Sienesen das Unglück, das <strong>über</strong> ihre<br />

Stadt einbrach, nun ihrer Verehrung zuschrieben. 26<br />

Im Sieneser Ambiente des frühen Trecento wird <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s innovativer<br />

Geist hoch geschätzt. Doch der künstlerische Durchbruch gelingt ihm zunächst nicht in<br />

seiner Heimatstadt, sondern im benachbarten Florenz. Erst, nachdem er dort das<br />

Publikum, das eher an <strong>die</strong> kargen Worte Giottos gewöhnt ist, mit seiner reichen<br />

Erzählkunst hat faszinieren können, hinterlässt er auch Spuren in Siena.<br />

Am Anfang seiner Laufbahn sind seine Aussichten in Siena nicht einfach; denn<br />

<strong>die</strong> Kunst seiner Heimatstadt wird zu Beginn des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>von</strong> Duccio<br />

dominiert <strong>und</strong> nach dessen Tod 1319 <strong>von</strong> seinen älteren Schülern, vor allem <strong>von</strong><br />

Simone Martini (um 1285 - 1347), der der Kunst Duccios eine zarte französische<br />

Hofpoesie verleiht. 27 Die meisten jungen Maler Sienas schaffen es nicht, sich <strong>von</strong><br />

Duccio zu lösen oder geraten in den Bann Simone Martinis. Dieser führt alle grossen<br />

Aufträge der Kommune oder der Bettelorden aus, nicht nur in Siena, auch in San<br />

Gimignano, Pisa, Orvieto <strong>und</strong> Assisi, inbegriffen <strong>die</strong> Aufträge des Hofs in Neapel, der<br />

sich während der Regierungszeit Roberts <strong>von</strong> Anjou (1309 - 1343) zu einem Zentrum<br />

des Mäzenatentums entwickelt. In <strong>die</strong>ser Situation trifft <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> <strong>die</strong><br />

Wahl, Siena zu verlassen. Unterstützung hierfür findet er vielleicht bei seinem älteren<br />

Bruder Pietro, der sich ebenfalls der vorherrschenden Stilrichtung in Siena entzieht.<br />

Als Pietro in den Jahren 1312 - 1319 in der Unterkirche <strong>von</strong> Assisi mehrere Aufträge<br />

für <strong>die</strong> Franziskaner ausführt, begegnet der junge <strong>Ambrogio</strong> dort vielleicht erstmals<br />

dem Florentiner Milieu; denn auch Schüler Giottos sind zur gleichen Zeit in anderen<br />

Teilen der Kirche beschäftigt. 28 Im Jahre 1319, im Alter <strong>von</strong> etwa 24 Jahren, ist<br />

25 Ebd., S. 63<br />

26 Ebd., S. 63; s.a. Ratsprotokoll des Consiglio generale am 7. November 1357: „Pro statua<br />

fontis Campi. Item quod statua marmorea ad presens in Fonte Campi posita, quam citius potest tollatur<br />

ex inde eum inhonestum videatur.“ Zitiert n. SEIDEL (1997), S. 49<br />

27 Für <strong>die</strong> Sieneser Künstler siehe zusammenfassend MAGINNIS (1977), S. 276ff.; siehe auch<br />

CARLI (1981); für Simone Martini im speziellen MARTINDALE (1988); BAGNOLI / BELLOSI (1985);<br />

Die Basis der Berufsgruppe der Maler in Siena waren ungefähr dreissig Meister: KEMPERS (1989a), S.<br />

189<br />

28 Pietro <strong>Lorenzetti</strong> arbeitete im Transept der Kirche, Simone Martini in der Martinskapelle<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Giotto-Schüler in der Kapelle der Maria Magdalena. Siehe HISASHI (1992); BORSOOK (1980).<br />

Für <strong>die</strong> Datierung des Zyklus <strong>von</strong> Pietro siehe MAGINNIS (1984), S. 183ff.<br />

47


<strong>Ambrogio</strong> dann in der florentinischen Provinz in der Nähe <strong>von</strong> Greve in Chianti zu<br />

finden. Hier führt er für einen eher unbedeutenden Auftraggeber das uns erste <strong>von</strong> ihm<br />

bekannte Werk aus, eine kleine Marientafel. Acht Jahre später, im Jahre 1327, ist er<br />

schliesslich als Meister in der Florentiner Zunft der Medici e Speciali verzeichnet, 29 der<br />

<strong>die</strong> Maler in Florenz aufgr<strong>und</strong> ihrer grossen Nachfrage nach Farbpigmenten<br />

zugeordnet sind. Im Jahr 1332 schliesslich scheint <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> mit einem<br />

Auftrag für <strong>die</strong> Kirche San Procolo ein erster grosser Publikumserfolg gelungen zu<br />

sein. 30 Vier Tafeln - wahrscheinlich Reste eines einstigen Polyptychons - schildern<br />

Episoden aus dem Leben des heiligen, aus Kleinasien stammenden Nikolaus.<br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> entführt dabei den Betrachter in das Innere einer exotischen<br />

Kirche, an eine Meeresbucht sowie in ein städtisches Ambiente. Nach 1332 jedenfalls,<br />

also im Alter <strong>von</strong> ca. 37 Jahren, häufen sich <strong>die</strong> grossen Aufträge für unseren Maler,<br />

<strong>die</strong> ihn letztlich auch wieder nach Siena führen.<br />

Von den Auftraggebern, <strong>die</strong> dem Maler mit grossen Projekten entgegentreten, ist<br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> zunächst vor allem bei den Augustinern beliebt, ein Bettelorden,<br />

der aus dem Zusammenschluss verschiedener Eremiten hervorgegangen war. Für sie<br />

führt er gleich drei grosse Aufträge aus. Noch in Florenz, während den<br />

Nikolausgeschichten, entstehen <strong>die</strong> später verlorengegangenen Fresken für den<br />

Kapitelsaal der Augustiner in Santo Spirito. 1333 rufen Ordensgefährten <strong>Ambrogio</strong><br />

nach Massa Marittima im südlichen Einzugsgebiet Sienas <strong>und</strong> vertrauen ihm ihre<br />

Hochaltartafel an. <strong>Ambrogio</strong> erzeugt hier eine neue Version der Sieneser Maestà. Den<br />

Zugang zur Königin des Himmels eröffnen in neuartiger Weise <strong>die</strong> drei theologischen<br />

Tugenden Fides, Spes <strong>und</strong> Caritas; gleichzeitig wird durch nie dagewesene Anhäufung<br />

<strong>von</strong> Heiligenscheinen r<strong>und</strong> um den Thron Marias unendliche Raumillusion<br />

vorgetäuscht. 31 Den dritten Auftrag für <strong>die</strong> Augustiner führt dann <strong>Ambrogio</strong> um 1338<br />

in Siena selbst aus. Für ihren Kapitelsaal malt er einen, später teilweise<br />

verlorengegangenen <strong>Freskenzyklus</strong>, in dem das Thema der Maestà mit Christi<br />

Kreuzigung <strong>und</strong> Szenen aus dem Leben der heiligen Katharina <strong>von</strong> Alexandria<br />

verb<strong>und</strong>en wird. Auch hier wählt <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> eine unübliche Ikonographie<br />

<strong>und</strong> integriert in <strong>die</strong> Maestà Symbole <strong>von</strong> Katharinas Martyrium. Die Heilige wurde<br />

gerädert <strong>und</strong> geköpft, nachdem sie in einem theologischen Streitgespräch zwar <strong>die</strong><br />

heidnischen Philosophen Ägyptens, aber nicht deren Herrn, den Kaiser Maxentius, <strong>von</strong><br />

29 HUECK (1972), S. 114 ff. Eventuell war <strong>Ambrogio</strong> zwischendurch auch für längere Zeit<br />

wieder in Siena. Er verkaufte dort 1324 ein Stück Land (Dokument siehe ROWLEY (1958), I, S.129).<br />

Für <strong>die</strong> Altartafeln, <strong>die</strong> er für uns unbekannte Auftraggeber ausführte siehe SKAUG (1976), S. 310 in<br />

Verbindung mit BORSOOK (1966)<br />

30 Die Tafeln hängen heute in den Uffizien in Florenz.<br />

31 VAN OS (1984), S. 59 f. Heute befindet sich <strong>die</strong> Tafel im Gemeindegebäude (municipio) <strong>von</strong><br />

Massa-Marittima.<br />

48


der Wahrheit der Passion Christi hat <strong>über</strong>zeugen können. Im Bild Marias bietet sie ihr<br />

abgeschlagenes Haupt dar. Andere Heilige, Frauen <strong>und</strong> Männer, <strong>die</strong> sich mit ihr um<br />

den Thron Marias versammelt haben, spielen entweder auf <strong>die</strong> Geschichte des<br />

Augustinerordens an oder bieten, Katharina gleich, Symbole ihres eigenen grausamen<br />

Martyriums an. Hier wird <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> ungewöhnlich anschaulich <strong>und</strong><br />

schreckt selbst nicht zurück, amputierte Brüste darzustellen. Ausgefallen, doch im<br />

Zusammenhang verständlich, ist auch <strong>die</strong> Darstellung des Jesuskindes. Es erscheint als<br />

kleiner furchtsamer Junge im Schoss der Mutter. 32<br />

Während <strong>die</strong> Augustiner <strong>Ambrogio</strong>s Einfallsreichtum zu schätzen wissen, scheint<br />

seine Originalität <strong>und</strong> Tendenz, <strong>die</strong> heilige Geschichte zu vermenschlichen für andere<br />

zu weit zu gehen. Als <strong>Ambrogio</strong> zwischen 1334 <strong>und</strong> 1336 für <strong>die</strong> Zisterzienser in San<br />

Galgano, im Landgebiet Sienas, eine Kapelle ausschmückt, lassen <strong>die</strong> Mönche Teile<br />

<strong>von</strong> seinem Werk kurz nach der Fertigstellung <strong>über</strong>malen. Auf wenig Gunst stiess<br />

<strong>Ambrogio</strong>s Verkündigungszene, wo Maria, erschreckt <strong>über</strong> <strong>die</strong> Nachricht des Engels,<br />

sich angsterfüllt an eine Säule klammert. Wenig erfreut scheinen <strong>die</strong> Mönche auch<br />

<strong>über</strong> sein Bild der Maria zu sein, <strong>die</strong> er als Königin ohne das Jesuskind, dafür mit<br />

Handschuhen, Zepter, Krone <strong>und</strong> Weltkugel dargestellt hat. Die definitive Version gibt<br />

Maria das Kind zurück; anstelle der Krone trägt <strong>die</strong> Jungfrau wieder den traditionellen<br />

Heiligenschein. Gleichzeitig lassen <strong>die</strong> Mönche jedoch eine ebenfalls recht atypische<br />

Darstellung Evas gelten: Sie erscheint in einer Figur, <strong>die</strong> den Schoss der Fruchtbarkeit<br />

betont, zu Füssen <strong>von</strong> Marias Thron. 33<br />

Grosse Begeisterung löst <strong>Ambrogio</strong> in Siena nun aber auch bei den Franziskanern<br />

aus, <strong>die</strong> ihn 1336 gemeinsam mit seinem Bruder Pietro für <strong>die</strong> Ausmalung ihres<br />

Kapitelsaals engagieren <strong>und</strong> ihm in der Folge auch einen Auftrag zu einem grösseren<br />

<strong>Freskenzyklus</strong> im Kreuzgang erteilen. 34 Im Kapitelsaal verwirklichen <strong>die</strong> Brüder je<br />

zwei Szenen aus dem Leben Christi <strong>und</strong> der Geschichte des Ordens. Während Pietro<br />

<strong>die</strong> Kreuzigungs- <strong>und</strong> Auferstehungsszene <strong>über</strong>nimmt, widmet sich <strong>Ambrogio</strong> den<br />

Franziskanerszenen. Eine stellt <strong>die</strong> Heiligsprechung Ludwigs <strong>von</strong> Toulouse durch<br />

Bonifaz VIII. dar. Ludwig, der als Junge sich den Franziskanern anschloss <strong>und</strong> deshalb<br />

auf den Thron verzichtete, war der ältere Bruder Roberts <strong>von</strong> Anjou, dem König in<br />

Neapel. Das zweite, <strong>von</strong> <strong>Ambrogio</strong> gestaltete Fresko hat <strong>die</strong> Hinrichtung <strong>von</strong> sieben<br />

Ordensbrüdern in Asien zum Gegenstand. Unter einem Pavillon thront grimmig ein<br />

32 MEISS (1970), S. 84. Für <strong>die</strong> Rekonstruktion des gesamten ikonographischen Programms:<br />

SEIDEL (1978), S. 185ff. Die Maestà ist heute noch in der Piccolomini-Kapelle des Augustinerklosters<br />

in Siena zu sehen.<br />

33 BORSOOK (1969); MEISS (1970), S. 80; FRUGONI (1988), S. 44 f. Nach MEISS ist eventuell<br />

der Bruder <strong>Ambrogio</strong>s, Pietro, mit der Übermalung beauftragt worden.<br />

34 SEIDEL (1979), S. 10 ff.<br />

49


mongolischer Herrscher, der <strong>die</strong> Hinrichtung angeordnet hat. 35 Die Geschichte des<br />

Märtyrertods <strong>von</strong> Franziskanern in Asien ist auch Inhalt der Fresken, <strong>die</strong> <strong>Ambrogio</strong> im<br />

Kreuzgang des Klosters ausführt. <strong>Der</strong> Zyklus, der in sieben Szenen <strong>die</strong> Geschichte des<br />

Bruder Pietro Petroni <strong>und</strong> seiner Gefährten Thomas, Jakob <strong>und</strong> Demetrio erzählt, ist<br />

heute nicht mehr erhalten, doch ist sein Inhalt nicht zuletzt dank Ghiberti bekannt, bei<br />

dem <strong>die</strong> anschauliche Erzählkunst der Fresken unauslöschlichen Eindruck<br />

hinterliessen. Hier hat <strong>Ambrogio</strong> sich als erster Maler wieder gewagt,<br />

Naturphänomene wie Beben, Sturm, Hagel, Blitz <strong>und</strong> Donner abzubilden.<br />

Die Aufträge, <strong>die</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> für <strong>die</strong> grossen Bettelorden in Siena<br />

ausführt, fallen in eine Zeit, in der sich nun auch <strong>die</strong> Kommune als Auftraggeberin für<br />

ihn zu interessieren beginnt. Zunächst erhält <strong>Ambrogio</strong> 1335 gemeinsam mit Pietro<br />

einen Auftrag des <strong>von</strong> der Kommune verwalteten Spitals Santa Maria della Scala 36 . An<br />

<strong>die</strong>sem Auftrag beteiligt ist auch der bis anhin für öffentliche Aufträge bevorzugte<br />

Maler Simone Martini. Gemeinsam stellen <strong>die</strong> drei Maler an der Fassade des Spitals<br />

<strong>die</strong> Lebensgeschichte Marias dar, ein Werk das in späteren Jahrh<strong>und</strong>erten durch<br />

Umbauten leider zerstört wird. 37 <strong>Der</strong> Zyklus soll insgesamt fünf Szenen umfasst haben,<br />

<strong>von</strong> denen wahrscheinlich <strong>die</strong> Geburt der Jungfrau <strong>und</strong> <strong>die</strong> Präsentation im Tempel<br />

<strong>von</strong> <strong>Ambrogio</strong> ausgeführt wird.<br />

Nachdem Simone Martini 1336 beschliesst, <strong>die</strong> Stadt zu verlassen <strong>und</strong> an den<br />

päpstlichen Hof nach Avignon zu ziehen, treten <strong>die</strong> Gebrüder <strong>Lorenzetti</strong> an seine<br />

Stelle, <strong>Ambrogio</strong> namentlich als bevorzugter Maler im Bereich der Aufträge für den<br />

Palazzo Pubblico. 1337 soll er gemäss dem Chronist Agnolo di Tura del Grasso den<br />

Palazzo Pubblico mit römischen Geschichten dekoriert haben, <strong>die</strong> verloren gingen. 38 Im<br />

April 1338 beginnt er schliesslich mit den Fresken <strong>über</strong> <strong>die</strong> <strong>gute</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> schlechte<br />

Regierung im rechten Flügel des Hauptgebäudes. 39 Weitere Aufträge für den Palazzo<br />

Pubblico folgen: 1340 eine Madonna mit den vier Kardinaltugenden Gerechtigkeit,<br />

Klugheit, Stärke <strong>und</strong> Mässigkeit in der Loggia im zweiten Stock des Mitteltrakts, 1344<br />

für das Concistoro eine Verkündigungstafel; es wird das älteste Werk der westlichen<br />

Kunst mit linearer Perspektive <strong>und</strong> einem einzigen Fluchtpunkt. 40 Im Jahr 1345 führt<br />

35 Die Fresken im Kapitelsaal beweisen <strong>Ambrogio</strong>s gründliche Stu<strong>die</strong>n der Fresken Giottos in<br />

Santa Croce in Florenz: BORSOOK (1966). <strong>Ambrogio</strong>s wie Pietros Fresken befinden sich heute nicht<br />

mehr im Kapitelsaal, sondern sind in <strong>die</strong> Kirche des Klosters gebracht worden.<br />

36 Das Spital, das ursprünglich vom Domkapitel gegründet wurde, wird wie der Dom <strong>von</strong> der<br />

Kommune verwaltet: Costituto 1309/10, I. 9, I, S. 50. Dem Spital ist <strong>die</strong> Kompanie der Jungfrau Maria<br />

angeschlossen, einer der reichsten Laienbruderschaften Sienas.<br />

37 <strong>Ambrogio</strong> war mit ziemlicher Sicherheit für <strong>die</strong> Geburt der Jungfrau sowie den Tempelgang<br />

verantwortlich. Wie sich <strong>die</strong> anderen drei Szenen, Heirat, Rückkehr der Maria sowie Himmelfahrt<br />

unter Pietro <strong>und</strong> Simone aufteilten ist unklar, siehe MARTINDALE (1988), S. 203.<br />

38 AGNOLO DI TURA DEL GRASSO, zitiert bei ROWLEY (1958), I, S. 132<br />

39 Einträge der Biccherna, zitiert bei ROWLEY (1958), I, S. 130<br />

40 PANOFSKY (1927)<br />

50


<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> schliesslich den letzten grossen Auftrag für den Palazzo Pubblico<br />

aus: eine drehbare Weltkarte für den Saal des Consiglio generale. 41 In den späten<br />

Dreissiger <strong>und</strong> frühen Vierziger Jahren, <strong>die</strong> für <strong>Lorenzetti</strong> eine Periode grosser<br />

Produktivität bedeuten, folgen auch weitere Aufträge für das Spital Santa Maria della<br />

Scala <strong>und</strong> <strong>die</strong> Domopera. Für das Spital führt er unter anderem eine<br />

Verkündigungsszene an der Fassade der Kirche San Pietro di Castelvecchio aus, <strong>die</strong><br />

sich unter dessen Patronat befindet. 42 Im Auftrag der Domopera beteiligt er sich<br />

wiederum gemeinsam mit seinem Bruder an einem Zyklus <strong>über</strong> <strong>die</strong> Geschichte Marias,<br />

an dem auch schon Simone Martini mitgewirkt hat. 1333 hat <strong>die</strong>ser gemeinsam mit<br />

seinem Schwager Lippo Memmi <strong>die</strong> Tafel mit der Verkündigungsszene geschaffen,<br />

1342 folgen <strong>die</strong> Tafeln der Gebrüder <strong>Lorenzetti</strong>, Pietro mit der Geburt Marias,<br />

<strong>Ambrogio</strong> mit der Präsentation im Tempel. 43 <strong>Ambrogio</strong> entwickelt hier <strong>die</strong><br />

perspektivische Innenansicht einer exotischen Kirche weiter, <strong>die</strong> er schon in den<br />

Nikolausgeschichten gewagt hat <strong>und</strong> hat damit solch grossen Erfolg, dass<br />

Generationen <strong>von</strong> Malern in Siena wie in Florenz sie wieder <strong>und</strong> wieder kopieren<br />

werden. 44<br />

Im Jahr 1348 beendet jäh der schwarze Tod den Schaffensgeist der beiden Brüder<br />

<strong>Lorenzetti</strong>. Die Pest wütet schrecklich in Siena <strong>und</strong> weniger als <strong>die</strong> Hälfte der<br />

städtischen Einwohner sind dem schwarzen Tod entronnen. 45 Mit ins Grab nimmt <strong>die</strong><br />

Seuche auch den innovativen Geist <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s, der sich an Probleme<br />

gewagt hat, <strong>die</strong> erst wieder h<strong>und</strong>ert Jahre später den Intellekt der grossen Künstler der<br />

Renaissance beschäftigen sollen. 46 Mit der zweiten Hälfte des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts bricht<br />

eine Zeit wirtschaftlicher <strong>und</strong> politischer Krisen an; es steht eine Epoche bevor, in der<br />

für <strong>die</strong> Sieneser Künstler <strong>die</strong> Tage der grossen Auftragsvergaben für eine Weile vorbei<br />

zu sein scheinen. Arbeit findet man nur noch in bescheidenem Ausmass <strong>und</strong> dann<br />

meist in der Provinz, wo weniger Innovation als Kopie der städtischen Meisterwerke<br />

gefragt ist. 47<br />

41 Auch <strong>die</strong>se Weltkarte ist zerstört, nur noch Spuren, <strong>die</strong> durch <strong>die</strong> Drehung verursacht<br />

wurden, sind erhalten, zuletzt KUPFER (1996)<br />

42 Sowohl <strong>die</strong> Fresken der Friedhofskapelle wie <strong>die</strong> der Kirchenfassade sind nicht mehr<br />

erhalten.<br />

43 <strong>Ambrogio</strong>s Tafel befindet sich heute in den Uffizien, Florenz. Die Tafel Pietros mit der<br />

Geburt der Jungfrau im Museum der Domopera in Siena.<br />

44 BORSOOK (1966)<br />

45 BOWSKY (1964), S. 1 ff.<br />

46 Vgl. ROWLEY (1958); BORSOOK (1966); WHITE (1966), S. 201 f.<br />

47 VAN OS (1981), S. 242ff.<br />

51


2.2. <strong>Der</strong> Bürger <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong><br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> wächst im Siena der Nove auf. Er ist Sieneser Bürger, als<br />

Sohn wahrscheinlich eines einfachen Handwerkers, vielleicht auch Malers, gehört<br />

seine Familie jedoch eher zum popolo minuto. Aus den <strong>über</strong>lieferten Dokumenten lässt<br />

sich rekonstruieren, dass er im Popolo San Egidio aufwächst, in der Contrada<br />

Camporeggio. Dieser Nachbarschaftsbezirk im Terzo Camollia grenzt an <strong>die</strong> Via<br />

Francigena, ist jedoch schon in der Nähe des Stadtzentrums zu finden, weshalb hier<br />

nebst sehr vielen einfachen Häusern auch solche zu finden sind, <strong>die</strong> auf einen relativen<br />

Wohlstand deuten. Die Nähe der Handelsstrasse spiegelt sich in mehreren botteghe<br />

wider, <strong>die</strong> <strong>die</strong>ser Popolo aufweist, während er auch vom Magnatengeschlecht der<br />

Malavolti geprägt ist, <strong>die</strong> hier ihren Familienpalast <strong>und</strong> mehrere andere Häuser<br />

besitzen. 48<br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s Werdegang zeigt, dass der junge <strong>Ambrogio</strong> gewillt ist, sich<br />

eine eigene Laufbahn aufzubauen. Für das Malen verlässt er sowohl seine Heimatstadt<br />

als auch <strong>die</strong> schützende Obhut des älteren Bruders <strong>und</strong> begibt sich in <strong>die</strong> damalige,<br />

<strong>von</strong> Giotto beherrschte Kunstmetropole Florenz. Wie seinem älteren Bruder Pietro<br />

gelingt es auch ihm, aus der Masse der Maler hervorzutreten. 1327 ist er in der<br />

Matrikelliste der grossen Florentiner Maler an der Seite <strong>von</strong> Giotto <strong>und</strong> Taddeo Gaddi<br />

(gest. nach 1366) als Ambroxius Lorenzii de Senis eingetragen. 49 Als Meister<br />

beschäftigt er Assistenten <strong>und</strong> zählt zu der kleinen Gruppe der Künstler, <strong>die</strong><br />

schliesslich mit grossen öffentlichen Aufträgen betraut werden. Die meisten seiner<br />

Zeitgenossen müssen sich mit der Herstellung kleinerer Altartafeln begnügen,<br />

verzieren Kirchenbanner, Militärfahnen <strong>und</strong> Wappenschilder, Pferdedecken <strong>und</strong><br />

Sattelzeug oder spezialisieren sich auf Truhen, Schränke <strong>und</strong> <strong>die</strong> dekorative<br />

Innenausstattung privater Paläste. 50 Nach dem sprunghaften Anstieg der<br />

Auftragseingänge in den Dreissiger Jahren, der <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> schliesslich nach<br />

Siena zurückführt, muss er eine Werkstatt grösseren Ausmasses sein eigen nennen.<br />

Denn in den Vierziger Jahren verlassen auch viele Altartafeln minderer Qualität seine<br />

Bottega, was auf eine rege Mitarbeit <strong>von</strong> Gehilfen schliessen lässt. 51 Diese befindet<br />

48 BALESTRACCI / PICCINNI (1977), S. 123 f.<br />

49 HUECK (1972), S. 114ff<br />

50 Einen <strong>gute</strong>n Überblick <strong>über</strong> <strong>die</strong> Bedingungen für <strong>die</strong> meisten Maler liefert LARNER (1971),<br />

S. 285ff.; vgl. auch KEMPERS, (1989a), S. 189 <strong>und</strong> ANTAL (1958), S. 224. Bei besonderen Gelegenheiten<br />

werden auch berühmte Werkstätten mit <strong>die</strong>ser Art <strong>von</strong> Aufgabe betraut. So erhält z. B.<br />

Simone Martini anlässlich des Besuchs des napolitanischen Königssohns den Auftrag zu Bemalung<br />

<strong>von</strong> Bannern: MARTINDALE (1988), S. 39. Auch <strong>Ambrogio</strong> führt kleinere Verzierungsarbeiten im<br />

Palazzo Pubblico aus: ROWLEY (1958), I, S. 131. Ev. <strong>von</strong> einer Schrankbemalung <strong>Ambrogio</strong>s<br />

stammen zwei Holztafeln, <strong>die</strong> u.a. als erste reine Landschaftsmalerei der europäischen Malerei gelten:<br />

CARLI (1981).<br />

51 "In den letzten Jahren sind sich <strong>die</strong> Kunstwissenschaftler immer mehr im Klaren geworden,<br />

wie bedeutend es ist, dass in der Zeit <strong>Ambrogio</strong>s in Wahrheit es <strong>die</strong> übliche Praxis war, dass ein<br />

52


sich aber nicht mehr in Sant' Egidio, sondern, wie auch jene des Bruders, im Terzo<br />

Città in der kleinen dicht bebauten Nachbarschaft San Pietro di Castelvecchio. Es ist<br />

derselbe Popolo, wo <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> <strong>die</strong> Kirchenfassade mit einer<br />

Verkündigungsszene geschmückt hat. Südlich des Doms, im ältesten Teil der Stadt<br />

gelegen, weist <strong>die</strong>se Nachbarschaft eine recht homogene <strong>und</strong> relative wohlhabende<br />

Besitzstruktur auf, ohne <strong>die</strong> sozialen Differenzen <strong>von</strong> Sant' Egidio. 52 Vielleicht schon<br />

in Florenz, oder später in Siena, wird <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> auch geheiratet haben.<br />

Überliefert ist der Name seiner Frau, Monna Simona, sowie seiner drei Töchter Lisa,<br />

Tommasa <strong>und</strong> Catheranna. 53<br />

Aber auch für <strong>Ambrogio</strong>, der als Lehrling <strong>und</strong> einfacher Handwerker begonnen<br />

hat, müssen <strong>die</strong> ersten Jahre in Florenz nicht einfach gewesen sein: Am 30. Mai 1321<br />

klopft der Bote der Florentiner Mercanzia 54 im Auftrag eines Gläubigers bei seinem<br />

Vermieter an, um vom Besitz des jungen Malers ein seidenes Damenkleid zu<br />

beschlagnahmen. 55 Ein Eintrag der Sieneser Gabella drei Jahr später zeigt jedoch, dass<br />

<strong>Ambrogio</strong> in Siena auf eine gewisse Vermögensreserve zurückgreifen konnte, um<br />

auch finanziell schwierigere Zeiten zu <strong>über</strong>brücken. 1324 verkauft er in seinem Namen<br />

für 200 Lire <strong>die</strong> Hälfte eines Stück Landes. <strong>Der</strong> ursprüngliche Gesamtwert des<br />

Gr<strong>und</strong>stücks <strong>von</strong> 400 Lire zeigt gleichzeitig, dass <strong>die</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s <strong>von</strong> Haus aus eher zu<br />

den Gutsituierten des popolo minuto gehörten.<br />

Nachdem im Mai 1348 das grosse Sterben in Siena begonnen hat, setzen am 9.<br />

Juni <strong>Ambrogio</strong> <strong>und</strong> seine Frau Simona angesichts des sicheren Todes eigenhändig ein<br />

Testament auf. 56 Sie hinterlassen ihren drei Töchtern all ihren Besitz: ein Haus, eine<br />

Werkstatt <strong>und</strong> Bargeld, wo<strong>von</strong> 50 Lire - der Betrag entspricht einem kleinen Stück<br />

Weinberg 57 - an <strong>die</strong> Mutter der Monna Simona oder ihren vier Schwestern ausbezahlt<br />

werden soll. Das Haus wird nach der Pest für 275 Lira verkauft, einen Wert, den man<br />

ungefähr am unteren Rand des obersten Drittels aller Wohnhäuser in Siena ansiedeln<br />

kann. 58<br />

So reich wie Giotto oder Simone Martini ist <strong>Ambrogio</strong> schliesslich aber nicht<br />

geworden. Giotto besitzt <strong>die</strong> grösste <strong>und</strong> effizienteste Malerwerkstatt des ganzen<br />

Meister mit diversen Mitarbeitern zusammen arbeitete, <strong>die</strong> auf verschiedene Weise <strong>und</strong> auf<br />

unterschiedlichen Ebenen an der Verwirklichung des Auftrags teil hatten, den der Meister erhielt."<br />

BORSOOK (1966), S. 23; ebenso SKAUG (1976), S. 310<br />

52 BALESTRACCI / PICCINNI (1977), S. 116<br />

53 WAINWRIGHT (1975)<br />

54 Die Mercanzia war auch in Florenz der Wirtschaftsgerichtshof.<br />

55 Dokument bei ROWLEY (1958), I, S. 129<br />

56 WAINWRIGHT (1975)<br />

57 Die Geldsumme betrug 50 lire. Simone Martini hinterliess 1344 in seinem Testament u.a. ein<br />

kleines Stück Weinberg im Wert <strong>von</strong> 50 lire, siehe MILANESI (1854), S. 234.<br />

58 BALESTRACCI / PICCINNI (1977), S. 128 f.<br />

53


Trecento <strong>und</strong> ist der erste, der <strong>die</strong> eigene Unterschrift als Markenzeichen seiner<br />

Bottega verwendet, um bei zweifelhaften Werken jeder Reklamation vorzubeugen. 59<br />

Als Simone 1344 in Avignon kinderlos stirbt, versorgt er mit seinem Erbe nicht nur<br />

<strong>die</strong> gesamte Familie seiner Schwester wie seines Bruders mit Bargeld, Häusern <strong>und</strong><br />

Weinbergen, sondern hinterlässt auch seiner Frau Johanna einen solch grossen Besitz,<br />

dass, als sie 1347 nach Siena zurückkehrt, sich ein Haus in der Grössenordnung leisten<br />

kann, das wertmässig zu den obersten 10% gehört. 60 Altmeister Duccio hingegen,<br />

dessen Werkstatt an <strong>die</strong> dreissig Sieneser Künstler geformt hat, 61 ist alles andere als<br />

geschäftstüchtig. Er gilt als notorischer Schuldner, 62 ist bekannt für seinen Jähzorn 63<br />

<strong>und</strong> wird öfters straffällig, unter anderem auch weil er sich weigert, Militär<strong>die</strong>nst zu<br />

leisten. 64 Als er im Jahr 1319 stirbt, bitten seine sieben Kinder den Consiglio generale<br />

in Siena, wegen den hohen Schulden auf ihr Erbe verzichten zu dürfen, was ihnen auch<br />

bewilligt wird. 65<br />

<strong>Ambrogio</strong> seinerseits hat es nicht nur zu einem bescheidenen Wohlstand gebracht,<br />

sondern ist in Siena sowohl als Maler wie auch als Bürger geschätzt. So finden wir ihn<br />

im Jahr 1347 unter den 74 Paciarii, den sogenannten Friedensstiftern. Diese haben eine<br />

besondere Funktion im Rahmen der Sieneser Stadtmiliz: Pro Kompanie - insgesamt<br />

sind es 37 - werden zwei Paciarii gewählt, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Aufgabe haben, dafür zu sorgen,<br />

dass Streitigkeiten innerhalb der Kompanie friedlich beigelegt werden. Gleichzeitig<br />

sollten sie auch den generellen politischen Frieden Sienas im Auge behalten. In ihrer<br />

Funktion werden <strong>die</strong> Paciarii alle zwei Monate <strong>von</strong> den neu gewählten Nove in den<br />

Palast der Kommune gerufen, um <strong>über</strong> den Zustand <strong>von</strong> Frieden <strong>und</strong> Eintracht in den<br />

Militäreinheiten Bericht zu erstatten <strong>und</strong> zu beraten, was getan werden kann, "um den<br />

starken Zustand <strong>und</strong> <strong>die</strong> Freiheit der Sieneser Kommune aufrechtzuerhalten." 66 Als<br />

59 PRÉVITALI (1967), S. 37<br />

60 Testament publiziert in MILANESI (1854), S. 234; für weitere Informationen siehe<br />

MARTINDALE (1988), S. 5ff.; für relativen Wert BALESTRACCI / PICCINNI (1977), S. 128 f.<br />

61 STUBBLEBINE (1979)<br />

62 Im April/Mai 1302 z. B. wird Duccio gleichzeitig <strong>von</strong> drei Gläubigern verfolgt, siehe WHITE<br />

(1979).<br />

63 1279 betritt er das Stück Land seines Nachbarn <strong>und</strong> verwüstet es; 1302 greift er auf der<br />

Strasse Passanten an, ebd.<br />

64 1289 weigert sich Duccio in der Stadtmiliz zu schwören <strong>und</strong> 1302 erscheint er nicht zum<br />

Militär<strong>die</strong>nst, ebd.<br />

65 Ebd.<br />

66 Die Paciarii nehmen an <strong>die</strong>sem, alle zwei Monate <strong>über</strong> <strong>die</strong> Freiheit der Kommune<br />

diskutierenden Rat teil, der im vorhergehenden Kapitel im Zusammenhang mit dem Capitano del<br />

Popolo beschrieben wurde. Für den Rat, an dem <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> 1347 teilgenommen hat sowie<br />

<strong>die</strong> Nennung seines Namens: Concistoro 2, cc. 8r-9r. Besonderes Thema das <strong>die</strong> Paciarii besprechen:<br />

"si quod imminet agendum vel faciendum vel dicendum ad fortificationem dictarum sotietatum et<br />

singularum personarum. Et circa paces et concordias dictorum hominum. Et ad corroborationem offitii<br />

dominorum Novum. Et ad conservationem boni et pacifici status comunis senarum et omnium<br />

54


Paciario bespricht <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> mit den Nove einen äusserst heiklen<br />

Sachbereich. Frieden <strong>und</strong> politische Freiheit gehören in den italienischen Städten des<br />

frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>erts zu den aktuellsten Themen; denn fehlender Frieden hat<br />

vielerorts zum Verlust der politischen Freiheit geführt. 67 Entweder haben <strong>die</strong> Städte<br />

ihre politische Unabhängigkeit verloren, sind Teil des Hoheitsgebiets einer anderen<br />

Stadt geworden oder haben das republikanische System zugunsten der<br />

Einzelherrschaft aufgegeben. Siena gehört im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert noch zu den<br />

wenigen Städten, <strong>die</strong> sich ihre Unabhängigkeit <strong>und</strong> <strong>die</strong> Selbstverwaltung durch <strong>die</strong><br />

Bürger bewahrt haben. Wenn im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert italienische Bürger <strong>von</strong> der<br />

Verteidigung politischer Freiheit sprechen, bedeutet <strong>die</strong>s, dass sie sich für <strong>die</strong><br />

Unabhängigkeit <strong>und</strong> Aufrechterhaltung ihrer Kommune einsetzen, in Siena für eine<br />

unabhängige Republik der gente media.<br />

In enger Verbindung scheint <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> ausserdem mit dem<br />

kommunalen Spital Santa Maria della Scala gestanden zu haben, in dessen nächster<br />

Nachbarschaft er wohnt. Als 1340 in Siena der Weizen knapp wird <strong>und</strong> sich Hunger in<br />

der Stadt ausbreitet, erhält <strong>Ambrogio</strong> vom Spital sechs Star Getreide, <strong>die</strong> er später mit<br />

verlorengegangenen Fresken in der Friedhofskapelle des Spitals bezahlt. Und in<br />

seinem Testament taucht <strong>die</strong> Compagnia della Vergine Maria del Duomo auf. Sie ist<br />

<strong>die</strong> Laienbrüder- <strong>und</strong> schwesternschaft, <strong>die</strong> dem Dom <strong>und</strong> Spital angeschlossen ist <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> zu den reichsten <strong>und</strong> angesehensten Laienorganisationen Sienas zählt. Das Ehepaar<br />

<strong>Lorenzetti</strong> setzt sie als letzte Erbin ein, <strong>die</strong> den Erlös aus dem Verkauf des Besitzes an<br />

<strong>die</strong> Armen verteilen soll, falls <strong>die</strong> Pest auch <strong>die</strong> drei Töchter hinwegrafft - eine düstere<br />

Ahnung, <strong>die</strong> leider Wirklichkeit wird. 68 Ein Jahr nach der Pest, 1349 <strong>und</strong> 1350, werden<br />

<strong>die</strong> Güter der <strong>Lorenzetti</strong>s <strong>von</strong> der Compagnia veräussert.<br />

2.3. <strong>Der</strong> Auftrag an <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> im Palazzo Pubblico <strong>von</strong> Siena<br />

Die Gr<strong>und</strong>lage für grössere Aufträge, wie derjenige den <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> für<br />

<strong>die</strong> Fresken im Palazzo Pubblico erhält, sind Verträge, <strong>die</strong> zwischen dem Maler <strong>und</strong><br />

dem Auftraggeber geschlossen werden, in <strong>die</strong>sem Fall zwischen <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong><br />

<strong>und</strong> der Sieneser Kommune. Diese hat sich für <strong>die</strong>sen Vertragsabschluss<br />

wahrscheinlich vom Operaio des Kommunalpalasts vertreten lassen, eher<br />

unwahrscheinlich <strong>von</strong> den Nove selbst, da <strong>die</strong> Arbeiten im Palast der Kommune in <strong>die</strong><br />

Zuständigkeit des Operaio fallen. Leider ist uns keiner der Verträge, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Kommune<br />

singulorum volentum bene vivere et in pace et quiete stare ...." Ebd., c. 8v. Zu den Paciarii siehe auch<br />

Constitutum 1337/39, III. 411 <strong>und</strong> Capitano del Poplo 1.<br />

67 Siehe unten Kapitel 6 <strong>und</strong> 9.<br />

68 WAINWRIGHT (1975), S. 543 f.<br />

55


in der ersten Hälfte des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts für den säkularen Bereich eingegangen ist,<br />

erhalten geblieben. Überliefert sind ausschliesslich Verträge, <strong>die</strong> der Operaio der<br />

Domopera für den Bau <strong>und</strong> <strong>die</strong> Verschönerung der Kathedrale abgeschlossen hat, so<br />

zum Beispiel jener mit Duccio aus dem Jahr 1308 für seine Maestà. Ein solcher<br />

Vertrag enthält einerseits <strong>die</strong> Arbeitskonditionen wie Preis des Werkes oder Lohn des<br />

Malers, wer für das Material aufkommt, <strong>und</strong> ob sich der Maler verpflichten muss, bis<br />

zum Abschluss der Arbeit keinen anderen Auftrag anzunehmen. Andererseits enthält<br />

<strong>die</strong>ser Vertrag aber auch Thema <strong>und</strong> Motiv des Bildes. Diese können allgemein gefasst<br />

sein, recht detailliert aufgeführt werden oder sie können auch einen Hinweis enthalten,<br />

dass <strong>die</strong> Präzisierung später noch folgen wird. 69<br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s Vertrag ist uns weder in <strong>die</strong>sem Fall noch für eine seiner<br />

anderen Arbeiten hinterlassen worden. Noch einzusehen sind aber <strong>die</strong> Auszahlungen,<br />

<strong>die</strong> er für <strong>die</strong> Fresken im Palast der Kommune erhalten hat. So hat <strong>Ambrogio</strong><br />

<strong>Lorenzetti</strong> <strong>von</strong> der Biccherna vom April 1338 bis Februar 1339 regelmässig sechs bis<br />

zehn Goldflorinen ausbezahlt erhalten <strong>und</strong> nach Abschluss der Arbeit, im Mai 1339,<br />

vom Operaio der Kommune, Namens Bono Campuglia, den Rest seines Lohns <strong>von</strong> 55<br />

Goldflorinen. Insgesamt hat er also für eine Arbeit, <strong>die</strong> etwas mehr als ein Jahr<br />

dauerte, 109 Goldflorinen erhalten, was ca. 350 Sienesischer Lira entspricht.<br />

<strong>Ambrogio</strong>s Lohn ist somit etwas höher als der Jahreslohn des hoch gepriesenen<br />

Dombaumeisters Lando di Pietro, doch sind wahrscheinlich im Preis <strong>die</strong><br />

Materialkosten enthalten. 70<br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> ist uns als innovativer <strong>und</strong> origineller Geist begegnet, der<br />

sich nicht scheut, Unbekanntes anzugehen oder herkömmliche Themen neu zu<br />

gestalten. Anfang des 16. Jahrh<strong>und</strong>erts hat ihn Vasari deshalb zum philosophisch<br />

geschulten Renaissancemaler stilisiert, "dessen Sitten ... eigentlich mehr <strong>die</strong> eines<br />

Edelmannes <strong>und</strong> Philosophen als eines Künstlers waren." 71 Doch haben wir uns<br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> weder als Malerfürsten noch als Gelehrten vorzustellen. 72 Er ist<br />

Bürger in Siena, gehört zur reicheren Handwerkerschicht, <strong>die</strong> jedoch nicht den<br />

Wohlstand der gente media erreicht, während er, wie <strong>die</strong> Dokumente belegen, sich<br />

politisch mit seiner Stadt <strong>und</strong> der Sieneser Kommune verb<strong>und</strong>en fühlt. Gleichzeitig<br />

zeigt sein innovativer Geist in der Malerei, dass er neugierig ist. Diese Kombination<br />

aus Neugier <strong>und</strong> Anteilnahme für sein Umfeld werden wohl dazu geführt haben, dass<br />

er sich auch der volkssprachlichen Literatur jener Zeit zugewandt hat, <strong>die</strong> nicht selten<br />

gerade für politisch interessierte Bürger geschrieben wurde <strong>und</strong> sich in der Toskana<br />

69 LARNER (1971), S. 326 ff.<br />

70 Dokumente publiziert bei ROWLEY (1958), I, IS. 130 f.; s.a. SEIDEL (1997), S. 35<br />

71 VASARI: Lebensbeschreibungen, S. 65<br />

72 LARNER (1971), S. 264 ff.<br />

56


Ende des 13. <strong>und</strong> Anfang des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts grösster Beliebtheit erfreut. Sicher ist,<br />

dass <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> Lesen <strong>und</strong> Schreiben konnte, doch wird er kaum mehr als<br />

rudimentäre Lateinkenntnisse gehabt haben. So ist nachgewiesen, dass seinem Bruder<br />

Pietro, damit er <strong>die</strong> Geschichte des heiligen Severinus abbilden konnte, dessen<br />

Heiligenlegende vom Lateinischen ins italienische Volgare <strong>über</strong>setzt worden ist.<br />

Mit <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> hat <strong>die</strong> Kommune letztlich aber einen Maler in Auftrag<br />

genommen, der sich durch sein Werk schon ausgezeichnet <strong>und</strong> einen eigenen Stil <strong>und</strong><br />

Ausdruck entwickelt hat, der ihn <strong>von</strong> seinen Kollegen unterscheidet. Obwohl als Maler<br />

noch gr<strong>und</strong>sätzlich dem Bereich des Handwerks zuzurechnen, ist er nicht nur eine<br />

ausführende, manuelle Kraft. Wir können deshalb da<strong>von</strong> ausgehen, dass das<br />

Programm des <strong>Freskenzyklus</strong> im Wechselspiel zwischen Maler <strong>und</strong> Auftraggeber<br />

entstanden ist. Deutlich wird eine solche Vorgehensweise zum Beispiel auch in der<br />

Kapelle <strong>von</strong> San Galgano, wo <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> seinen ursprünglichen Entwurf zu<br />

<strong>über</strong>malen hatte. Die Person des Auftraggebers, der <strong>die</strong> Sieneser Kommune<br />

repräsentiert, haben wir uns ausserdem kaum als einen Einzelnen in der Figur des<br />

Operaio vorzustellen. Wahrscheinlicher ist, dass hier, wo Sienas Politik zum<br />

Gegenstand eines Bildes wird, sich mehrere am Diskurs mit dem Maler beteiligten,<br />

entsprechend der üblichen Vorgehensweise in der Kommune. Unter <strong>die</strong>se können<br />

sowohl <strong>die</strong> wechselnden Nove fallen, in deren Flügel des Kommunalpalasts das Bild<br />

sich befindet, als auch <strong>die</strong> anderen Ordini sowie Professoren, Juristen <strong>und</strong> Notare, <strong>die</strong><br />

für Beratungen zugezogen werden oder auch Mönche der Bettelorden, mit denen<br />

Sienas Politik durch Predigt <strong>und</strong> Dienstleistungen - zum Beispiel <strong>die</strong> Archivierung <strong>von</strong><br />

offiziellen Dokumenten - in enger Verbindung steht. 73<br />

73 SZABÓ-BECHSTEIN (1977); VAUCHEZ (1977); s. a. Statuto dei giudici e notai, I. 5, S. 49<br />

57


3. Die Beschreibung des <strong>Freskenzyklus</strong><br />

3.1. Die Allegorie des Buon Governo<br />

Vor uns erhebt sich das Kernstück der politischen Allegorie <strong>Lorenzetti</strong>s. Auf<br />

einem Podium thront in fürstlicher Pose ein Regent, der durch seine Körpergrösse<br />

alles, was ihn umgibt, <strong>über</strong>ragt. Er ist edel gekleidet in Schwarz <strong>und</strong> Weiss – den<br />

Farben der Kommune <strong>von</strong> Siena. Goldbordüren säumen sein Gewand. Sein Haar, das<br />

schon ergraut ist, fällt in weichen Wellen <strong>über</strong> <strong>die</strong> Schultern. Eine rote Mütze mit<br />

Fellbesatz <strong>und</strong> goldener Kuppe ziert das fürstliche Haupt Ein gelockter Vollbart<br />

verleiht seinem Antlitz Ernsthaftigkeit <strong>und</strong> unterstreicht <strong>die</strong> Würde, <strong>die</strong> seine Person<br />

umgibt. R<strong>und</strong> um sein Haupt zieht sich der Schriftzug der Majuskeln C. S. C. V. 1 . Es<br />

ist <strong>die</strong> Abkürzung für Comune Senarum Civitatis Virginis – <strong>die</strong> Kommune <strong>von</strong> Siena,<br />

der Stadt der Jungfrau. Aus der rechten Hand des alten Regenten ragt ein goldenes<br />

Zepter empor, seine Linke hält einen ebenfalls goldenen, r<strong>und</strong>en Schild, auf dem <strong>die</strong><br />

Konturen der Madonna mit dem Kind <strong>und</strong> zwei Engeln zu erkennen sind. Den Rand<br />

des Schildes entlang liest man eine Inschrift, aus der hervorgeht, dass das Motiv auf<br />

dem Schild dem Siegel <strong>von</strong> Siena entspricht: Salvet Virgo Senam Veteram Quam<br />

Signat Amenam – "Die Jungfrau möge Siena bewahren, das sie als Altes <strong>und</strong><br />

Liebliches segnet." Die Füsse des Regenten ruhen auf einer Wölfin. Sie hat sich vor<br />

den Thron auf einen Vorsprung des Podiums hingelegt. Liebkosend beugt sie sich <strong>über</strong><br />

zwei Zwillingsknaben, <strong>die</strong> gierig an den Zitzen ihrer Brust saugen.<br />

Um sich hat der Regent Ratgeberinnen versammelt. Fünf junge <strong>und</strong> eine ältere<br />

Dame haben sich zu ihm auf <strong>die</strong> Thronbank gesellt, <strong>die</strong> mit kostbarem Tuch <strong>über</strong>zogen<br />

ist. Auf jeder Seite sitzen drei <strong>von</strong> ihnen. Inschriften in goldenen Lettern identifizieren<br />

<strong>die</strong> Frauen als Tugenden. Ganz links sitzt <strong>die</strong> Pax – der Friede, neben ihr <strong>die</strong> Fortitudo<br />

– <strong>die</strong> Stärke, <strong>und</strong> gleich neben dem Regenten <strong>die</strong> schon etwas ältere Prudentia – <strong>die</strong><br />

Klugheit. Rechts <strong>von</strong> ihm sitzen <strong>die</strong> Magnanimitas – <strong>die</strong> Grossgesinntheit, <strong>die</strong><br />

Temperantia – <strong>die</strong> Mässigkeit, aussen <strong>die</strong> Justitia – <strong>die</strong> Gerechtigkeit.<br />

Die junge blonde Pax ist lässig entspannt. Sie hat ihre Rüstung ausgezogen, nur<br />

ein durchscheinendes Untergewand umspielt <strong>die</strong> sanften Züge ihrer weiblichen Figur.<br />

<strong>Der</strong> ausge<strong>die</strong>nte Waffenrock ruht unter einem seidenen Kissen, auf das sie sich<br />

behaglich zurückgelehnt hat. Helm <strong>und</strong> Schild sind zu Boden geworfen, ihre blossen<br />

Füsse stellt sie darauf ab. Ein Olivenkranz krönt ihr goldenes Haar <strong>und</strong> untermalt<br />

feierlich ihr hübsches Gesicht. In ihrer Hand hält sie einen frischen Zweig desselben<br />

Baumes.<br />

1 Heute: C. S. C. C. V. Nach 1800 wurde noch ein "C" eingefügt.<br />

58


Die Fortitudo rechts neben ihr blickt hingegen ernst <strong>und</strong> ist schwer bewaffnet.<br />

Über ihren roten Rock hat sie sich ein dunkles, bronze schimmerndes Kleid gestreift,<br />

das weit <strong>über</strong> das Knie hinabfällt. Ein Brustharnisch bedeckt ihren Oberkörper. Sie ist<br />

mit einem schweren Schild sowie einem schwarzen Schlagstock ausgerüstet, den sie in<br />

ihrer rechten Faust umschliesst. Auf ihrem Kopf sitzt ein Helm, der mit Diamanten<br />

besetzt <strong>und</strong> mit einer Strahlenkrone verziert ist.<br />

Ihre Nachbarin, <strong>die</strong> Prudentia, ist in ein blaues, brokatbesticktes Kleid gehüllt.<br />

Auf ihrem Kopf trägt sie eine goldene, reich geschmückte Krone. Sie hat ihr Haar mit<br />

einem weissen Tuch bedeckt, das sie sich um Kopf <strong>und</strong> Schultern geschlungen hat –<br />

ein Zeichen ihrer Reife. In der Hand hält sie eine Öllampe mit drei hellen Flammen.<br />

Die Lichtquelle beleuchtet drei Wörter, <strong>die</strong> auf einen Fächer gemalt sind, der in ihrem<br />

Schoss ruht: "Praeteritum Praesens Futurum" – "Vergangenheit Gegenwart<br />

Zukunft" ist zu entziffern. Prudentia macht uns mit ihrem Zeigefinger auf <strong>die</strong>se<br />

Botschaft aufmerksam.<br />

Wie Prudentia tragen auch <strong>die</strong> drei Damen rechts vom Regenten königliche<br />

Gewänder. Ihre bunten, eher schlicht geschnittenen, langen Kleider sind mit edlen<br />

Bordüren verziert. Offene Umhänge oder Mäntel betonen ihre herrschaftliche Ausstattung.<br />

Goldene, mit Edelsteinen besetzte Kronen zieren ihr blondes, fein frisiertes<br />

Haar.<br />

Gleich rechts vom Regenten sehen wir <strong>die</strong> Magnanimitas. In der einen Hand hält<br />

sie eine Krone. Mit der anderen greift sie in eine Schale, <strong>die</strong> in ihrem Schoss ruht <strong>und</strong><br />

reichlich gefüllt ist mit goldenen Münzen.<br />

Daneben sitzt <strong>die</strong> Temperantia. Sie zeigt auf eine Sanduhr, <strong>die</strong> sie auf ihre rechte<br />

Handfläche gestellt hat. <strong>Der</strong> Sand ist im Augenblick zur Hälfte in das untere<br />

Glasgefäss gerieselt.<br />

Rechts aussen sitzt <strong>die</strong> Justitia. Streng <strong>und</strong> ernsthaft hält sie das Schwert aufrecht.<br />

<strong>Der</strong> abgeschlagene Kopf eines bärtigen Mannes liegt unterhalb des Griffes auf ihrem<br />

Knie, während sie in ihrer anderen Hand eine Krone hält.<br />

Über dem Haupt des ehrwürdigen Regenten schweben geisterhaft drei himmlische<br />

Wesen: <strong>die</strong> Fides – der Glaube, <strong>die</strong> Caritas – <strong>die</strong> Liebe, <strong>die</strong> Spes – <strong>die</strong> Hoffnung.<br />

Gefiederte Flügel zeugen <strong>von</strong> der göttlichen Abstammung der drei schwerelosen<br />

Frauen. Alle drei tragen Kronen auf ihrem Kopf.<br />

Zuoberst schwebt <strong>die</strong> Caritas. Sie gleicht dem Feuer. Ihr Körper glüht.<br />

Orangefarben leuchtet ihr wehendes Haar. Die Silhouette ihres nackten Oberkörpers<br />

zeichnet sich deutlich durch den hauchzarten Schleier ab, den sie, <strong>über</strong> ihre Brust<br />

geworfen, nach hinten wegflattern lässt. Ein Pfeil ragt aus ihrer rechten Hand, in ihrer<br />

linken trägt sie ein rotes, brennendes Herz.<br />

59


Links unter ihr erscheint <strong>die</strong> Fides. Verschleiert <strong>und</strong> ganz in weiss, drückt sie<br />

inbrünstig das Kreuz Christi an ihr Herz.<br />

Das Kleid <strong>und</strong> <strong>die</strong> Flügel der lieblichen Spes sind in zartes Rosa getaucht. Sie hat<br />

ihre Hände zum Gebet erhoben <strong>und</strong> den Blick nach oben gerichtet; denn Jesus Christus<br />

schaut durch eine Öffnung des Himmels auf sie herab.<br />

Auf derselben Höhe, weiter links, fällt der Blick auf ein anderes göttliches Wesen:<br />

Mit goldenen Flügeln, Krone <strong>und</strong> goldenem Kleid schwebt <strong>die</strong> Sapientia – <strong>die</strong><br />

Weisheit. Dass sie nicht mehr ganz jung ist, verrät uns der zarte Gesichtsschleier, der<br />

ihr Kinn verhüllt. In ihrer Hand trägt sie ein rotes, schweres Buch, das sie an ihren<br />

Körper presst.<br />

Die Sapientia gehört zu einer Figurengruppe links <strong>von</strong> der Thronbank des<br />

Regenten. Unter ihr hat in rot-goldenem Gewand eine Dame auf ihrem eigenen, reich<br />

dekorierten Thron Platz genommen, der auf der Verlängerung des Podiums steht.<br />

Auch <strong>die</strong>se Dame trägt eine Krone in ihrem blonden Haar. Sie ist etwas kleiner als der<br />

Regent, doch grösser als dessen Ratgeberinnen. Ein Vers, dem Buch der Weisheit<br />

Salomos entnommen, umrahmt ihre Figur <strong>und</strong> kennzeichnet sie als weitere Justitia –<br />

eine weitere Gerechtigkeit: Diligite Iustitiam qui iudicatis terram – "Liebt <strong>die</strong><br />

Gerechtigkeit, ihr, <strong>die</strong> ihr <strong>die</strong> Welt regiert". Ihren Kopf hat sie nach hinten geneigt <strong>und</strong><br />

blickt hoch zur Sapientia: Diese hält den Griff ihrer Balkenwaage in der Hand. Links<br />

<strong>und</strong> rechts <strong>von</strong> der Figur der Justitia hängen an roten Seilen <strong>die</strong> beiden Schalen der<br />

Waage herunter. Sie werden <strong>von</strong> der Justitia mit den Daumen im Gleichgewicht<br />

gehalten.<br />

Justitia handelt mit Hilfe <strong>von</strong> zwei weiblichen, goldblonden Engeln, <strong>die</strong> auf den<br />

Waagschalen sitzen.<br />

Auf der linken Schale kniet ein Engel, der ein rotes Kleid trägt. Zwei Männer<br />

haben sich vor ihm niedergekniet. Den einen krönt er, während er den anderen köpft.<br />

Blut fliesst aus dem Genick des Mannes, der seinen Kopf verliert. Neben ihm liegen<br />

Waffen auf dem Boden. <strong>Der</strong>jenige, der vom Engel gekrönt wird, hat einen Palmwedel<br />

in der Hand. Diese kleine Szene ist mit Distributiva angeschrieben. Auf der anderen<br />

Schale kniet ein Engel in weissem Kleid. Über seinen Schauplatz zieht sich der<br />

Schriftzug Comutativa. Zwei Männer sind vor ihm in <strong>die</strong> Knie gesunken <strong>und</strong> scheinen<br />

ihm etwas anzubieten. <strong>Der</strong> eine streckt ihm einen Topf entgegen, in den der Engel<br />

hineingreift. <strong>Der</strong> andere erweckt den Eindruck, als <strong>über</strong>gebe er seine Waffen. <strong>Der</strong><br />

Mann reicht dem Engel gerade eine Lanze, <strong>die</strong> er zusammen mit einem Speer in den<br />

Händen hält.<br />

Von den beiden Engeln löst sich jeweils ein Band, ein rotes <strong>und</strong> ein weisses,<br />

entsprechend den Farben ihres Gewandes. Die Bänder fallen <strong>über</strong> <strong>die</strong> Waagschalen ins<br />

60


Leere hinab, um weiter unten in der Hand einer jungen Frau zu einer rot-weissen<br />

Kordel vereint zu werden. Die junge Frau sitzt unmittelbar unterhalb der Justitia auf<br />

einem hölzernen Lehnstuhl, der vor dem Podium auf der Erde steht. Ihr Name ist<br />

Concordia – Eintracht. In goldenen Lettern wurde der Name auf einen Hobel gemalt,<br />

den sie auf ihre Knie gelegt hat. Concordia ist gleich gross wie <strong>die</strong> Beraterinnen des<br />

Regenten. Sie trägt jedoch weder eine Krone, noch eine andere Kopfbedeckung. Nur<br />

ein goldener Haarreif ziert ihr anmutiges Gesicht. Das weisse, einfach geschnittene<br />

Kleid ist mit Goldstickereien geschmückt.<br />

Ihr sanfter Blick ruht auf einer Reihe <strong>von</strong> vier<strong>und</strong>zwanzig Männern, <strong>die</strong> mit<br />

ernsthafter Miene paarweise <strong>von</strong> links nach rechts zum Regenten hin schreiten.<br />

Concordia <strong>über</strong>reicht dem hintersten <strong>die</strong> Kordel, der sie an seine Gefährten weitergibt.<br />

Alle Männer halten sich mit einer Hand an der Kordel fest: Die Männer, <strong>die</strong> links in<br />

der Kolonne laufen, mit ihrer rechten Hand, <strong>die</strong> Männer, <strong>die</strong> rechts laufen, mit ihrer<br />

linken. Die Kordel verläuft so durch <strong>die</strong> Mitte der zwölf Paare. Vor dem Vorsprung<br />

des Podiums, auf dem <strong>die</strong> Wölfin mit den Zwillingen liegt, bleibt der Zug der Männer<br />

stehen. Die ersten zwei Paare blicken der Kordel nach hoch zum Regenten, um dessen<br />

Handgelenk ihr Ende geknüpft ist.<br />

Von der Ferne betrachtet, bilden <strong>die</strong> vier<strong>und</strong>zwanzig Männer eine Einheit. Im<br />

Gleichschritt schreiten sie feierlich voran; <strong>die</strong> meisten haben uns ihr Profil zugewandt.<br />

Sie sind fast alle gleich gross. Sie tragen ungegürtete, einfarbige Kleider, <strong>die</strong> parallel<br />

<strong>über</strong> ihre Körper hinabfallen. Auf ihrem Kopf sitzt jeweils eine Stoffmütze.<br />

Tritt man näher heran <strong>und</strong> verharrt eine Weile bei <strong>die</strong>sen Männern, dann erkennt<br />

man viele Details, <strong>die</strong> das Gleichförmige auflockern. Als ob der Maler <strong>die</strong>se Männer<br />

im wirklichen Leben gekannt hätte, hat er jedem eigene, charakteristische Züge verliehen.<br />

Sie haben grosse oder kleine Nasen, eine hohe Stirn oder ein r<strong>und</strong>es Gesicht.<br />

Manche Männer sind dicker, andere schlanker, manchen ist das Haar schon ergraut<br />

<strong>und</strong> andere wiederum zeigen sich noch in jugendlicher Frische.<br />

Es scheint, das alle <strong>die</strong>selben bis zu den Knöcheln reichenden Kleider <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

dazugehörenden Schlappmützen tragen, wie es der damaligen Mode in der Stadt<br />

entsprach 2 . Doch <strong>die</strong> vordere Hälfte der Männer ist edler gekleidet als <strong>die</strong> hintere. Die<br />

ersten vier Männer sind am würdevollsten ausgestattet. Sie sind <strong>die</strong> einzigen, <strong>die</strong><br />

Handschuhe tragen. Die zwei Männer ganz vorne tragen auf ihrem Leib dunkle,<br />

schwere <strong>und</strong> wertvolle Stoffe. Über dem unteren Rock hängt ein fester, ärmelloser<br />

Überwurf mit gestärktem Stehkragen, der ihren Hals gänzlich bedeckt. Die beiden sind<br />

2 Zur Kleidung der damaligen Zeit vgl. Kühne, Harry. Bilderwörterbuch der Kleidung <strong>und</strong><br />

Rüstung, Stuttgart 1992; das Kapitel "Moda e costume negli affreschi pisani e loro datazione" in:<br />

BELLOSI (1974), S. 41-54; Siehe auch LISINI (1930).<br />

61


im gleichen Stil gekleidet, aber in den Farben unterscheiden sich ihre Gewänder.<br />

Während <strong>die</strong> rechte Figur vollständig in Saphirblau gekleidet ist, trägt <strong>die</strong> linke <strong>über</strong><br />

ihren schwarzen Rock einen purpurnen Überwurf. Beide haben auf dem Kopf Mützen<br />

mit Pelzrand; <strong>die</strong> rechte eine schwarze <strong>und</strong> <strong>die</strong> linke eine rote. Beim Paar dahinter<br />

trägt der rechte Mann eine schwarze Robe mit pelzbesetztem Schulterkranz, der linke<br />

ein rotes Kleid mit steifem Kragen. Auch ihre Mützen sind mit Pelzrändern<br />

geschmückt. Die vier machen in ihrer aufwendigen Tracht den Eindruck <strong>von</strong><br />

Berufsmagistraten 3 . Sie scheinen auch mit der ritterlichen Würde ausgezeichnet zu<br />

sein 4 . Die zwei hinter den ersten vier Männern sind in ein Gespräch vertieft. Sie tragen<br />

ebenfalls eine pelzbesetzte Mütze <strong>und</strong> dazu ein einfacheres rotes Kleid. Das rote<br />

Gewand mit fellbesetzter Mütze war vor allem <strong>die</strong> Tracht der Juristen sowie der<br />

Universitätsprofessoren. Hinter <strong>die</strong>sen zwei Gelehrten folgt ein eher jüngeres Paar, das<br />

durch seine kurzen, in sich gemusterten Röcke aus der Reihe sticht. Sie haben sich<br />

nach der neuesten Mode, <strong>die</strong> vom Hof <strong>von</strong> Neapel kommt, gekleidet. Ein Einstecktuch<br />

hängt verspielt aus ihrer Tasche, Seidenstrümpfe bedecken <strong>die</strong> Beine. Anstelle der<br />

glatten Rasur trägt einer <strong>von</strong> ihnen einen kurz gestutzten Kinnbart. Die beiden gehören<br />

wahrscheinlich zur reichen Oberschicht, <strong>die</strong> sich am höfischen Leben orientiert.<br />

Dahinter schreiten zwei Paare, welche sich <strong>von</strong> den folgenden sechs nicht gross unterscheiden.<br />

Weil aber ihr Gewand aus fülligerem Stoff ist <strong>und</strong> auch ihre Mützen<br />

aufwendiger mit feinem Tuch drapiert sind, erwecken sie den Eindruck, wohlhabender<br />

zu sein als jene verbliebenen zwölf Stadtleute, <strong>die</strong> hinter ihnen folgen <strong>und</strong> wie<br />

Stadtbürger aus der Mittelschicht gekleidet sind.<br />

Spiegelbildlich zur Reihe der Bürger sind zwei Ritter mit ihrer schweren Rüstung<br />

zu sehen. Sie knien vor dem Podest der Wölfin <strong>und</strong> blicken zum Regenten hoch. Den<br />

Helm haben sie weggelegt. Ihr rötlich blondes Haar fällt wellig auf ihre Schultern.<br />

Auch sie tragen beide einen gepflegten, fein gestutzten Bart. Auf Knien bieten sie dem<br />

Regenten ehrfurchtsvoll ihre Burgen an.<br />

Die Thronbank des Regenten wird <strong>von</strong> Soldaten bewacht. Sie haben sich vor dem<br />

Podium aufgereiht. Einige sind hoch zu Ross <strong>und</strong> tragen schwere Rüstungen. Andere<br />

sind Fusssoldaten. Eine Gruppe <strong>von</strong> ihnen trägt eine leichte, helle Uniform <strong>und</strong> einen<br />

spitzen Helm. Lanzenartige lange Stäbe <strong>die</strong>nen ihnen als Waffen. Eine andere zahlreiche<br />

Gruppe ist mit Helm, Schild <strong>und</strong> Speer ausgerüstet. Auf der Vorderseite der<br />

Schilder ist ein rotes Wappen gemalt mit dem Motiv eines weissen, sich aufbäumenden<br />

Löwen. Es ist das Wappen der Stadtmiliz <strong>von</strong> Siena.<br />

3 Im "Triumph des Todes" im Camposanto <strong>von</strong> Pisa ist ein Mann in ähnlicher Tracht als<br />

Vertreter der Berufsmagistraten angeschrieben.<br />

4 In den Zeichnungen der "Documenti d'amore" <strong>von</strong> Francesco da Barberino ist ein Mann in<br />

solcher Tracht als ehrwürdiger Ritter angeschrieben. Hrsg. <strong>von</strong> F. Egidi in: L'Arte (V), 1902<br />

62


Rechts aussen, in erster Reihe vor den Soldaten stehen Sträflinge, <strong>die</strong> <strong>von</strong> einem<br />

Strick zusammengehalten werden. Unter ihnen sehen wir einen einfachen Mann mit<br />

gedrungenem Körperbau <strong>und</strong> struppigem Haar. Sein ausgefranstes Hemd hängt offen<br />

<strong>über</strong> seinen dicken Wanst <strong>und</strong> macht den Blick auf seinen Lendenschurz frei. Zusammengehalten<br />

wird das Hemd nur vom Sträflingsseil, das sich in seinen fettleibigen<br />

Bauch geschnürt hat. Seine Beinkleider sind zerrissen, seine nackten Füsse stecken in<br />

Ledersandalen. Die vier restlichen Männer, mit denen er dasselbe Los teilt, sind sehr<br />

gut gebaut. Das Sträflingsseil schlingt sich um ihre schlanke Taille. Die feingewobene<br />

Unterwäsche, <strong>die</strong> das einzige ist, was sie noch am Leib tragen, lässt <strong>die</strong> durchtrainierten<br />

Muskeln erahnen. Ihre edlen Gesichter werden <strong>von</strong> einem gepflegten,<br />

spitzig zugeschnittenen Bart umrahmt. Diese Männer scheinen Vertreter jener reichen<br />

Oberschicht zu sein, <strong>die</strong> dem höfischen <strong>und</strong> ritterlichem Leben nachgeht. Drei <strong>von</strong><br />

ihnen wurde eine Haube <strong>über</strong>gestreift: Es ist das Zeichen dafür, dass sie ein<br />

Kapitalverbrechen begangen haben.<br />

Zwischen den Sträflingen, der Stadtmiliz <strong>und</strong> den Soldaten zu Ross drängt sich<br />

eine Ansammlung <strong>von</strong> Männern. Sie sind teils ärmlich gekleidet, haben gröbere<br />

Gesichtszüge <strong>und</strong> sind unrasiert. Andere tragen, der städtischen Mode folgend, lange<br />

Gewänder <strong>und</strong> Schlappmütze, sind jedoch weniger gepflegt als <strong>die</strong> Reihe der Bürger<br />

auf der linken Seite des Podests. <strong>Der</strong> vorderste <strong>die</strong>ser Gruppe <strong>von</strong> Männern, <strong>die</strong> sich<br />

auf der rechten Seite des Podests befindet, bietet der Sieneser Kommune den Schlüssel<br />

eines Stadttores an. Es scheint sich also um Vertreter einer ländlichen Kommune zu<br />

handeln, <strong>die</strong> sich der Stadt Siena unterwerfen.<br />

Das Kernstück der Allegorie <strong>Lorenzetti</strong>s ist nun vollständig beschrieben worden.<br />

Da dabei sehr viele Figuren aufgetaucht sind, soll der Bildinhalt in groben Zügen<br />

rekapituliert werden. Die grösste Figur der Allegorie ist der Regent, der mit seinen<br />

Beraterinnen, den weltlichen Tugenden, darunter auch <strong>die</strong> Pax, auf einer Thronbank<br />

sitzt. Über <strong>die</strong> himmlische Sphäre, wo <strong>die</strong> drei göttlichen Tugenden <strong>und</strong> <strong>die</strong> Sapientia<br />

schweben, gelangt man nach links zur Justitia, <strong>die</strong> unter dem Balken ihrer Waage auf<br />

einem eigenen Thron Platz genommen hat. Unter ihr, vor dem Podium trifft man <strong>die</strong><br />

Concordia an. Sie windet <strong>die</strong> Bänder, <strong>die</strong> sich <strong>von</strong> den Kleidern der Engel der Justitia<br />

lösen, zu einer Kordel. Die Kordel reicht sie weiter an vier<strong>und</strong>zwanzig Männer, <strong>die</strong><br />

sich alle daran halten <strong>und</strong> <strong>von</strong> links nach rechts zum Regenten hin schreiten. Von<br />

ihnen steigt <strong>die</strong> Kordel hoch zum Regenten, wo sie um sein Handgelenk geschlungen<br />

endet. Rechts unten vor dem Regenten knien zwei Ritter, <strong>die</strong> ihm ihre Burgen<br />

darbieten, während dahinter Bürger einer ländlichen Kommune Siena den Schlüssel<br />

ihres Stadttores präsentieren. Vor dem Podium, auf dem <strong>die</strong> Thronbank steht, begegnet<br />

man ausserdem Soldaten, <strong>die</strong> das Podium bewachen sowie rechts aussen einer Reihe<br />

<strong>von</strong> Sträflingen, <strong>die</strong> mit einem Strick zusammengeknotet sind.<br />

63


Unterhalb des Bildes, in der Gegend der Justitia mit den Waagschalen, entdecken<br />

wir ein rechteckiges Schild, das einen Text enthält, der <strong>die</strong> Allegorie der <strong>gute</strong>n<br />

Regierung kommentiert:<br />

"Wo <strong>die</strong>se heilige Tugend [Gerechtigkeit] regiert,<br />

führt sie <strong>die</strong> vielen Seelen zur Einheit,<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong>se, so vereint,<br />

setzen das Gemeinwohl als ihren Herrn ein.<br />

Dieser, um seinen Staat zu regieren, entscheidet sich,<br />

niemals <strong>die</strong> Augen abzuwenden<br />

vom Glanz der Antlitze<br />

der Tugenden, <strong>die</strong> ihn umgeben.<br />

Deshalb werden ihm im Triumph<br />

Steuern, Abgaben <strong>und</strong> Landherrschaften <strong>über</strong>reicht.<br />

Deshalb, ohne Krieg,<br />

tritt jegliche bürgerliche Wirkung ein,<br />

nützlich, nötig <strong>und</strong> freudig. 5<br />

Am unteren Bildrand zieht sich ein weisser Streifen mit schwarzen Lettern: Hier<br />

hat <strong>Lorenzetti</strong> sein Werk signiert – Ambrosius Laurentii de Senis hic pinxit utrinque:<br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> aus Siena hat hier beiderseits gemalt.<br />

Lassen wir unseren Blick noch einmal <strong>über</strong> das Fresko gleiten, so wird uns eine<br />

Figur besonders auffallen: <strong>die</strong> Pax. Sie besticht durch ihre Schönheit <strong>und</strong> ihre<br />

anmutige Pose. In ihrem durchschimmernden, fliessenden Gewand, das ihren Körper<br />

5 Für den Originaltext vgl. Stefanini, Ruggero. "Inscription in the Sala dei Nove". In: STARN<br />

(1992), S. 261-266 sowie vor allem BRUGNOLO (1995) in CASTELNUOVO (1995), S. 318 ff.. Deutsche<br />

Übersetzung siehe RIKLIN (1996), S. 126 ff.<br />

Questa santa virtù, là dove regge,<br />

induce ad unità gli animi molti,<br />

e questi, a cciò ricolti,<br />

un ben comun per lor signor si fanno.<br />

lo qual, per governar suo stato, elegge<br />

di non tener giamma' gli ochi rivolti<br />

da lo splendor de' volti<br />

de le virtù che 'ntorno a llui si stanno.<br />

Per questo con triunfo a llui si danno<br />

censi, tributi e signorie di terre,<br />

per questo senza guerre<br />

seguita poi ogni civile effetto,<br />

utile, necessario e di diletto.<br />

Für <strong>die</strong> Übersetzung "Un ben comun per lor signor si fanno" siehe BRUGNOLO (1995), S. 386.<br />

Bedeutet wörtlich auf Italienisch: "si costituiscono, istituiscono per sé il Bene Comune".<br />

64


umhüllt, lenkt sie alle Blicke auf sich. Sie schaut hin<strong>über</strong>, zur rechten Längswand, wo<br />

<strong>die</strong> Auswirkung der <strong>gute</strong>n Regierung auf Stadt <strong>und</strong> Land dargestellt ist. Auch wir<br />

wenden uns nach rechts, <strong>die</strong>ser Längswand zu.<br />

3.2. Die Auswirkungen des Buon Governo auf Stadt <strong>und</strong> Land<br />

Vor uns entfaltet sich auf der gesamten Länge der Wand ein buntes Treiben <strong>von</strong><br />

Menschen in der Stadt <strong>und</strong> auf dem Land. Den Hintergr<strong>und</strong> dafür liefern <strong>die</strong> Stadt<br />

Siena selbst <strong>und</strong> ihr Umland. Das Zentrum der Komposition ist der Marktplatz vor<br />

dem Rathaus, der Campo <strong>von</strong> Siena. Links oben erkennt man <strong>die</strong> Kuppel <strong>und</strong> den<br />

markanten, schwarz-weissen Turm des Domes, der einen der drei Hügel Sienas krönt.<br />

<strong>Lorenzetti</strong> hat seine eigene Stadt porträtiert. Entlang den engen Gassen reihen sich<br />

gotische Stadtpaläste mit ihren hohen Fensterbögen <strong>und</strong> weissen Travertinsäulen an<br />

einfachere Stadthäuser <strong>und</strong> trotzige, burgähnliche Bauten. Balkone <strong>und</strong> Veranden,<br />

unter denen Vögel ihre Nistplätze finden, lockern spielerisch <strong>die</strong> Häuserfronten auf,<br />

während Zinnenkränze <strong>die</strong> Erinnerung an ländliche Befestigungsanlagen wachrufen.<br />

Viele der Häuser sind in dem für Siena charakteristischen roten Ziegelstein gebaut. In<br />

der warmen roten Farbe erstrahlen auch <strong>die</strong> in Zacken angelegte Stadtmauer sowie das<br />

mächtige Stadttor, dessen Türen offenstehen. Die Wölfin mit den Zwillingen, <strong>die</strong> wir<br />

schon vorhin angetroffen haben, wacht <strong>über</strong> dem Eingang der Stadt. Ihre marmorne<br />

Statue wurde oberhalb des Tores angebracht. Die Wölfin blickt hinab in <strong>die</strong> Weite auf<br />

eine fruchtbare, <strong>von</strong> Wasserläufen durchzogene Ebene. Diese wird <strong>von</strong> Hügeln<br />

begrenzt, <strong>die</strong> mit Wein, Oliven, Zypressen <strong>und</strong> Steineichen bewachsen sind. Im<br />

Hintergr<strong>und</strong> steigen <strong>die</strong> sanft gewellten Hügellinien zu rauhen Bergketten an. Am<br />

Horizont bricht ein Meeresarm in <strong>die</strong> Landschaft ein, an dem <strong>die</strong> Stadt Talamone liegt.<br />

In der rauhen Gegend liegen verstreut auf den Bergkuppen Burgen <strong>und</strong> Festungen,<br />

während man in der sanften Hügellandschaft <strong>und</strong> in der Ebene einfache<br />

Streusiedlungen, luxuriöse Landvillen, Kirchen <strong>und</strong> Dörfer findet. Auch in der<br />

Landschaftsgestaltung hat <strong>Lorenzetti</strong> das Sienesische zum Vorbild genommen: Er hat<br />

Ausschnitte jener Landschaft porträtiert, welche sich südlich seiner Heimatstadt<br />

dahinzieht. Man sieht <strong>die</strong> Hügel der Krete mit den heckenumrandeten Weinbergen,<br />

Olivenhainen <strong>und</strong> Äckern, man sieht <strong>die</strong> Kornkammer der Sienesen, <strong>die</strong> Maremma, wo<br />

auch herrliche Jagdgebiete liegen, man sieht das rauhansteigende Amiata-Massiv <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> Hafenstadt Talamone an der Grenze des sienesischen Herrschaftsgebietes.<br />

Im Mittelpunkt <strong>von</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s Fresko steht aber der Mensch. Zentrum des<br />

Lebens ist der Marktplatz. In grelles Sonnenlicht getaucht, gehen <strong>die</strong> Menschen eifrig<br />

65


ihrem Tagewerk nach. Doch auch für Freuden hat man Zeit. In den offenen Fenstern<br />

stehen <strong>über</strong>all Blumentöpfe, ab <strong>und</strong> zu streift der Blick eine Voliere. Den Platz<br />

dominiert eine Szene <strong>von</strong> jungen Männern <strong>und</strong> Frauen, <strong>die</strong> sich elegant zu den<br />

Rhythmen der Musik bewegen. Zu neunt tanzen sie einen Reigen, während der zehnte<br />

das Tambourin schlägt. Sie fallen durch ihre buntscheckige, mit Fransen verzierte<br />

Kleidung auf, zu der alle ein Stirnband tragen. Aber nicht nur ihr farbenfrohes Gewand<br />

<strong>und</strong> ihre geschmeidigen Bewegungen machen sie zum Mittelpunkt des Geschehens,<br />

denn <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> hat sie betont grösser als alle anderen Menschen gemalt:<br />

Sie sind so stattlich <strong>und</strong> hochgewachsen wie <strong>die</strong> Concordia <strong>und</strong> <strong>die</strong> weltlichen<br />

Tugenden in der Allegorie, <strong>die</strong> wir vorhin betrachtet haben. Ein Mädchen lehnt sich<br />

aus dem Fenster, um <strong>die</strong> fröhlichen Tänzer zu beobachten. Im Hintergr<strong>und</strong>, wo der<br />

Platz sich in den Gassen verliert, schaut ein Tuchhändler zu ihnen her<strong>über</strong>.<br />

<strong>Der</strong> Tuchhändler, der sich <strong>von</strong> den jungen Leuten hat ablenken lassen, sitzt<br />

inmitten <strong>von</strong> Stoffbahnen <strong>über</strong> seinen Büchern, wie unter einem Baldachin. Neben ihm<br />

steht sein Geschäftspartner, der <strong>die</strong> Angestellten beobachtet, <strong>die</strong> an einer langen, bunt<br />

bemalten Theke den feinsäuberlich zusammengelegten Stoff verkaufen. Im<br />

Nachbargeschäft arbeitet ein Goldschmied. Auf der anderen Strassenseite, uns den<br />

Rücken zugekehrt, sitzt ein Schneider auf einer Bank. Die fertigen, eher einfachen<br />

Kleidungsstücke hängen an einer Leine, <strong>die</strong> er <strong>über</strong> <strong>die</strong> Gasse gespannt hat.<br />

Hinter der ersten Häuserzeile verschwinden gerade zwei berittene Männer, auf<br />

deren Köpfen hohe Hüte sitzen. Sie tragen Handschuhe. <strong>Der</strong> eine hält einen kurzen<br />

Stock in der Hand. Ihre Art, sich zu kleiden, weist auf Edelmänner hin. In ihrer<br />

uniformartigen Ausstattung gleichen sie aber eher Ordnungshütern.<br />

Am Marktplatz, links neben den Tänzern, haben sich fünf Männer in der offenen<br />

Loggia eines Hauses versammelt. Zwei Gelehrte halten Privatst<strong>und</strong>en ab. <strong>Der</strong> eine hat<br />

seinen Schüler am Arm zu sich herangezogen <strong>und</strong> gibt ihm Unterricht. Erläuternde<br />

Gesten begleiten seine Ausführungen. <strong>Der</strong> andere sitzt gemeinsam mit den anderen<br />

zwei Schülern auf einer Bank. Gefesselt <strong>von</strong> seinen Worten, beugen sich <strong>die</strong> beiden<br />

<strong>über</strong> seine Aufzeichnungen. Zwei spielende Kinder haben sich zu der Gruppe gesellt.<br />

Auf dem Balken, der sich <strong>über</strong> <strong>die</strong> Loggia spannt, hockt eine Eule. Sie hat schon das<br />

Interesse einer herumstreunenden Katze geweckt, <strong>die</strong>, nur ein Stück weiter oben, dem<br />

Gesimse entlang schleicht.<br />

Auf der Dachterrasse des gleichen Hauses giesst eine Frau <strong>die</strong> Blumen. Ein<br />

Mädchen guckt aus dem Fenster im ersten Stock hinab auf <strong>die</strong> Strasse: Sie schaut<br />

einem Hochzeitszug nach, der ein Mädchen zur Vermählung begleitet <strong>und</strong> am Platz<br />

vor<strong>über</strong>zieht. Aus dem Nachbarhaus lehnen sich <strong>die</strong> Kinder <strong>über</strong> <strong>die</strong> Balkonbrüstung<br />

66


<strong>und</strong> bew<strong>und</strong>ern <strong>die</strong> Hochzeitsgesellschaft. Zwei Schwestern sind vor <strong>die</strong> Tür getreten,<br />

um <strong>die</strong> schöne Braut zu betrachten. Stolz, den Blick nach vorne gerichtet, sitzt <strong>die</strong>se<br />

auf ihrem festlich aufgezäumten Schimmel, den ein junger Mann am Zügel führt. Ihr<br />

rotes Kleid fällt locker <strong>über</strong> <strong>die</strong> Flanken des Tieres. In ihrem goldblonden Haar sitzt<br />

eine leichte, mit Edelsteinen besetzte Krone. Sie wird begleitet <strong>von</strong> zwei edel<br />

gekleideten, stattlichen Männern, <strong>die</strong> hinter ihr reiten. Am Ende der Kolonne schreiten<br />

zwei Jünglinge, <strong>die</strong> sich fre<strong>und</strong>schaftlich den Arm um <strong>die</strong> Schultern legen.<br />

Rechts <strong>von</strong> den jungen Tänzern herrscht betriebsames Markt- <strong>und</strong> Geschäftsleben.<br />

Die Bauern – erkenntlich an ihren eher farblosen Kutten <strong>und</strong> schmucklosen Kappen –<br />

führen reichlich Ware in <strong>die</strong> Stadt. Einer <strong>von</strong> ihnen hat Brennholz auf seine beiden<br />

Esel geladen, <strong>die</strong> er mit dem Stock antreibt. An seinem Arm baumelt ein Korb voller<br />

Eier. Ein Apotheker <strong>und</strong> Gewürzhändler hat schon auf <strong>die</strong> Ladung gewartet <strong>und</strong> winkt<br />

ihm zu, dass er halte. <strong>Der</strong> Arzneik<strong>und</strong>ige steht hinter seiner Ladentheke, <strong>die</strong> vollgestellt<br />

ist mit Fässern, Krügen <strong>und</strong> unterschiedlichsten Gefässen, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

heilbringenden Elixiere <strong>und</strong> kostbaren Gewürze aus dem Orient enthalten. Über ihm<br />

hängen an einem Balken allerlei Spezereien. Sein Geschäft ist, wie viele der Läden, in<br />

einer offenen Loggia untergebracht.<br />

Ganz rechts am Platz lenkt ein Müller seine schwer bepackten Maultiere direkt in<br />

<strong>die</strong> Strasse, wo <strong>die</strong> Bäcker zu Hause sind. In <strong>die</strong>ser Gasse haben <strong>die</strong> Häuser auf den<br />

Giebeldächern verspielte, weisse Schornsteine, <strong>die</strong>, sobald in der Backstube angefeuert<br />

wird, zu qualmen beginnen. An der Strassenecke ist ein Metzgerladen, vor dessen Tür<br />

saftige Schinken hängen. <strong>Der</strong> Eingang ist mit einem Tuch verhängt, damit der Raum<br />

schön kühl bleibt. Gegen<strong>über</strong>, dem Platz zugekehrt, arbeiten drei Leute in einer<br />

Tuchwerkstatt. Einer der Männer sitzt am Webstuhl, während ein anderer <strong>die</strong> Wolle<br />

zupft, <strong>die</strong> er aus dem Korb neben sich nimmt. <strong>Der</strong> Dritte ist damit beschäftigt, <strong>die</strong><br />

Qualität der fertigen Stoffe zu prüfen.<br />

Ein Schäfer <strong>über</strong>quert gerade den Platz; gemeinsam mit seinem H<strong>und</strong> treibt er <strong>die</strong><br />

Schafe zur Stadt hinaus. <strong>Der</strong> Strohhut, der ihn vor der Sonne auf der Weide schützen<br />

soll, sitzt ihm im Nacken. Eine blonde Schönheit in ländlicher Tracht kreuzt seinen<br />

Weg; sie ist gerade zum Tor hereinspaziert. Auf ihrem Kopf balanciert sie gekonnt<br />

einen Korb, gefüllt mit Daunen. Hinter ihr folgt eine ältere Frau, <strong>die</strong> ein Huhn in ihren<br />

Armen trägt.<br />

In der Mitte des Platzes steht vor einem Schusterladen ein Bauer, der einen<br />

unbepackten Esel am Zaum führt. Er scheint all seine Ware erfolgreich verkauft zu<br />

haben <strong>und</strong> nützt den Aufenthalt in der Stadt, um sich ein Paar neue Schuhe zu kaufen.<br />

<strong>Der</strong> Meister reicht sie ihm <strong>über</strong> <strong>die</strong> Theke, während zwei Gesellen an der Arbeit sind.<br />

Unter <strong>die</strong> drei Handwerker hat sich auch ein Junge gemischt, dessen blonder Schopf<br />

gerade noch hinter der Ladentheke hervorschaut.<br />

67


Von dem bunten Markttreiben am Platz lassen sich ein Magister <strong>und</strong> seine Schüler<br />

nicht stören. Zwischen Schuster- <strong>und</strong> Apothekerladen wird in der Loggia eines Hauses<br />

doziert. In der roten Tracht mit pelzbesetzter Mütze blickt der Gelehrte vom Katheder<br />

hinab auf eine Reihe <strong>von</strong> Studenten, <strong>die</strong> seinen Worten lauschen. Seine Lektionen<br />

scheinen sehr beliebt zu sein: Einer der Zuhörer hat nur noch einen etwas unbequemen<br />

Platz an der Seite des Katheders erwischt.<br />

In <strong>die</strong>ser Stadt blühen der Handel, das Handwerk <strong>und</strong> <strong>die</strong> Wissenschaften. Und <strong>die</strong><br />

Stadt wächst. Hoch <strong>über</strong> den Dächern sehen wir eine Baustelle, wo Maurer <strong>und</strong><br />

Zimmerleute am Werk sind.<br />

Aus dem Stadttor hinaus führt eine Strasse durch Weinberge den Hügel hinab ins<br />

weite Land. Die Strasse ist anfangs gepflastert <strong>und</strong> Blumen säumen den Weg. Unter<br />

dem Tor herrscht ein lebhaftes Kommen <strong>und</strong> Gehen. Gerade hat ein Edelmann hoch zu<br />

Ross <strong>die</strong> Stadt verlassen, um mit seiner Gefährtin auf <strong>die</strong> Falkenjagd zu gehen. Die<br />

schöne Adelsdame reitet ihm voraus. Kerzengerade sitzt sie auf ihrem Pferd, <strong>über</strong><br />

dessen Rücken sie ihren wallenden Rock gerafft hat. Unter dem Schirm ihrer<br />

Jagdmütze blickt sie hinab ins Tal, während sie ihre rote, zierliche Peitsche schwingt.<br />

Ihr Begleiter hat seine linke Hand, auf der der Falke sitzt, <strong>von</strong> sich gestreckt, während<br />

er nach hinten gewandt mit seinem Knappen spricht. Dieser folgt zu Fuss dem edlen<br />

Paar <strong>und</strong> trägt <strong>die</strong> Schatulle mit den Fleischbrocken für <strong>die</strong> Falken. Zwei Jagdh<strong>und</strong>e<br />

laufen neben den Pferden her.<br />

Am Randstein hockt im Schneidersitz ein armer Mann mit Stock, der blind ist <strong>und</strong><br />

der den Vorbeiziehenden einen Korb entgegenstreckt. Obwohl der Blinde um Almosen<br />

betteln muss, macht er keinen verwahrlosten Eindruck. Er trägt eine saubere, weisse<br />

Kutte - wahrscheinlich das Kleid eines Pilgers auf dem Weg nach Rom -, seine<br />

ledernen Schuhe sind ohne Löcher <strong>und</strong> sein Bart ist nicht zersaust. Die Adelsdame<br />

reitet an ihm vorbei, ohne auch nur einen Blick an ihn zu verschwenden. Ihr Gefährte<br />

aber scheint gerade seinen Knappen anzuweisen, dem Armen ein paar Münzen zu<br />

spenden.<br />

Ein Ordensmann <strong>und</strong> sein Diener sind gerade am Bettler <strong>und</strong> an der<br />

Jagdgesellschaft vorbeigezogen. Sie sind auf dem Weg in <strong>die</strong> Stadt. <strong>Der</strong> Geistliche hat<br />

seine rechte Hand zum Zeichen des Kreuzes erhoben, während sein Diener den Blick<br />

<strong>von</strong> der schönen Adligen nicht wenden möchte <strong>und</strong> sich deshalb den Kopf nach hinten<br />

verrenkt. <strong>Der</strong> Ordensmann, der weisse Handschuhe <strong>und</strong> eine Kette trägt, muss ein<br />

kirchlicher Würdenträger sein, vielleicht der Bischof. Seine Tracht ist jedoch eine<br />

einfache schwarz-blaue Kutte mit Kapuze, unter der das weisse Ordenskleid<br />

hervorschaut.<br />

In den Rebhängen vor der Stadtmauer tummeln sich junge Leute, <strong>die</strong> sich ihre Zeit<br />

mit Bogenschiessen <strong>und</strong> Vogeljagd vertreiben. Einer <strong>von</strong> ihnen schaut verträumt in <strong>die</strong><br />

68


Luft, während er seine Hand in ein Netztäschchen steckt, das er sich um <strong>die</strong> Hüften<br />

geb<strong>und</strong>en hat.<br />

Bauern nähern sich der Stadt, um ihre Ware auf dem Markt zu verkaufen. Mit<br />

schwer bepackten Eseln <strong>und</strong> einem Schwein erklimmen sie den Hügel zum Eingang<br />

der Stadt.<br />

Weiter unten, wo <strong>die</strong> Strasse schon in der Ebene verläuft <strong>und</strong> nicht mehr<br />

gepflastert ist, zieht eine junge Familie mit ihrem Hab <strong>und</strong> Gut durchs Land. Die Frau<br />

kümmert sich um ein kleines Kind. Es sitzt auf einem der Gepäckstücke, <strong>die</strong> <strong>von</strong> zwei<br />

Lasttieren getragen werden. <strong>Der</strong> Mann folgt mit dem Vieh: eine Kuh, ein Esel <strong>und</strong> ein<br />

Schaf. Bald werden sie, vorbei an Stoppelfeldern <strong>und</strong> Ackerland, eine gemauerte<br />

Brücke erreichen, <strong>die</strong> <strong>über</strong> einen Bach führt. Dort hat gerade ein Bauer mit seinen<br />

beladenen Maultieren den Bach <strong>über</strong>quert <strong>und</strong> kommt ihnen entgegen. Am<br />

Brückenkopf aber wird er <strong>von</strong> einem Reitersmann angehalten, der nach Sitte der<br />

Edelleute Handschuhe <strong>und</strong> einen hohen Hut trägt. In dessen Begleitung befindet sich<br />

ein junger Gehilfe, der mit einem Speer bewaffnet ist. Wahrscheinlich sind <strong>die</strong> beiden<br />

ein Kontrollposten auf dem Weg in <strong>die</strong> Stadt. Gleich wird bei ihnen ein weitere Mann<br />

eintreffen, der noch dabei ist, seinen störrischen Esel <strong>über</strong> <strong>die</strong> Brücke zu ziehen.<br />

Am rechten Ufer des Baches wird <strong>die</strong> Gegend hügeliger. Man sieht zwei Jäger mit<br />

ihrem H<strong>und</strong>, <strong>die</strong> im Laufschritt der Fährte eines Wildtiers folgen <strong>und</strong> weiter oben, auf<br />

einer lichten Hügelkuppe, pflügt ein Bauer den Acker.<br />

Blickt man stromaufwärts, sieht man, idyllisch am Waldrand gelegen, eine Mühle,<br />

durch <strong>die</strong> der Bach braust. <strong>Der</strong> Müller lässt seine Arbeit ruhen <strong>und</strong> ist aus dem Haus<br />

getreten, um sich des warmen Sonnenstrahls zu erfreuen. Er hat sich am Ufer an ein<br />

Steinmäuerchen gelehnt, um dem Tosen des Wassers zu lauschen. Hinter der Mühle,<br />

wo das Land anzusteigen beginnt, haben sich zwei Rehböcke eingef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> liefern<br />

sich in einer Waldlichtung einen Revierkampf.<br />

<strong>Der</strong> Oberlauf des Flusses verliert sich am Fuss der Hügelkette, <strong>die</strong> <strong>die</strong> fruchtbare<br />

Ebene, durch welche <strong>die</strong> Landstrasse geführt hat, vom Meer trennt.<br />

Betrachten wir eine Weile das fleissige <strong>und</strong> vergnügliche Leben, das sich in <strong>die</strong>ser<br />

Ebene unterhalb der Stadt abspielt. Vorne reiten Edelmänner <strong>über</strong> abgeerntete<br />

Stoppelfelder, um mit H<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Falken ihrer Beute nachzujagen. Daneben haben<br />

Bauern mit der neuen Saat begonnen: Einer pflügt das Feld mit dem Ochsen, während<br />

ein anderer das Saatgut auswirft <strong>und</strong> ein dritter es mit der Hacke in <strong>die</strong> Erde bringt.<br />

Vögel haben <strong>die</strong> leichte Nahrung entdeckt <strong>und</strong> picken sich <strong>die</strong> Samen aus dem Boden.<br />

Säcke, <strong>die</strong> mit Getreide gefüllt sind, stehen am Rande des Ackers. Ein Bauer ist<br />

dabei, sie auf <strong>die</strong> Rücken <strong>von</strong> Maultieren zu laden. Er hat <strong>die</strong>se Tätigkeit kurz<br />

unterbrochen, um eines der Tiere am Bach zu tränken. Jenseits des Baches, entlang der<br />

69


Hügelkette, kommt ein Wandersmann des Weges entlang. Er ist mit einem Dolch<br />

ausgerüstet <strong>und</strong> trägt einen Stoffballen auf seinem Rücken. Am Hang, der hinter ihm<br />

aufsteigt, plaudert ein Schäfer mit einem Fre<strong>und</strong>, der sich zu ihm unter einen<br />

Olivenbaum gesetzt hat. Oberhalb <strong>von</strong> ihnen liegt ein Kastell; ein Bauersmann verlässt<br />

es soeben mit seinem Maultier, um hinab in <strong>die</strong> Ebene zu steigen.<br />

In der Ebene, auf einem Feld, bearbeiten Leute <strong>die</strong> Ernte. Das schon geschnittene<br />

Getreide wird <strong>von</strong> einem Mann mit einem Esel aufgesammelt <strong>und</strong> wird nacher<br />

kreuzweise zum Trocknen ausgelegt. Andere Landarbeiter schlagen mit den Dreschflegeln<br />

auf <strong>die</strong> trockenen Ähren ein. Das Korn wird in eine Hütte gelegt, während das<br />

anfallende Stroh in Haufen gesetzt wird. Mit weisser Kleidung <strong>und</strong> Strohhüten<br />

schützen sich <strong>die</strong> Bauern vor der sengenden Hitze. Hühner stolzieren durchs Feld <strong>und</strong><br />

hoffen, etwas vom Korn zu ergattern. Am Rande des Feldes steht ein Gehöft, hinter<br />

dem eine Landstrasse durchzieht. Zum Anwesen gehört auch ein kleines<br />

Gemüsegärtchen. Hinter einem Gebäude, das gegen<strong>über</strong> auf der anderen Strassenseite<br />

liegt, sind einige Reben <strong>und</strong> Olivenbäume gepflanzt. Die Pflanzen stehen inmitten<br />

eines grossen Getreidefeldes. Dort sind Bauern mit der Ernte beschäftigt: In gebeugter<br />

Haltung wandern sie mit der Sense durchs Feld <strong>und</strong> schneiden <strong>die</strong> reife Frucht. Am<br />

linken Rande des Ackers, wo sich ein Weg nach hinten wegschlängelt, hat sich ein<br />

Mädchen hingesetzt <strong>und</strong> beobachtet sie bei der Arbeit. Auf der Landstrasse, <strong>die</strong><br />

entlang der Felder zwischen den Häusern vorbeiführt, läuft ein Bauersmann mit<br />

seinem Maultier, das mit Getreidesäcken bepackt ist. Gleich wird er rechts hinter<br />

einem Hügel verschwinden, an dessen Abhang ein Schäfer seine Herde hütet.<br />

Hinter dem letzten Getreidefeld fliesst ein Fluss, der seine Fluten träge in Richtung<br />

des Meeres wälzt. Er bildet <strong>die</strong> Grenze der fruchtbaren Ebene, denn an seinem<br />

jenseitigen Ufer steigt ein Hügelmassiv an. Durch <strong>die</strong> Hügel schlängelt sich <strong>von</strong> oben<br />

herab ein Bergbach, der, unten angelangt, in den Strom mündet. <strong>Der</strong> Bach trennt auf<br />

seinem letzten Stück eine sanfte Hügellandschaft <strong>von</strong> einer eher rauhen Gegend. Links<br />

<strong>von</strong> ihm, der Stadt zu, wechseln sich Weinberge mit lieblichen Villen, Dörfern <strong>und</strong><br />

Gehöften ab, während rechts karge Flächen <strong>und</strong> dichte Wälder das Landschaftsbild<br />

beherrschen. Unten an der Mündung steht ein Mann vor seinem Haus <strong>und</strong> beobachtet,<br />

wie eine Gruppe <strong>von</strong> Jägersleuten mit dem Pferd oder zu Fuss am Bach entlang aufsteigen.<br />

Eine Brücke führt sie hin<strong>über</strong> zur anderen Seite, wo steppenartige Vegetation<br />

eine <strong>gute</strong> Hasenjagd verspricht. Ein Teil der Jäger hat sich dort schon im Gras<br />

versteckt <strong>und</strong> <strong>die</strong> H<strong>und</strong>e auf <strong>die</strong> Beute losgehetzt.<br />

Im Hintergr<strong>und</strong>, sich zum Meer hinziehend, werden <strong>die</strong> Hügel immer spitzer <strong>und</strong><br />

steigen zu Bergketten an. Ausser einem finsteren Wald in einem höher gelegenen Tal<br />

wachsen nur noch bescheidene Gräser <strong>und</strong> Büsche. Das Gebiet ist fast völlig<br />

70


unbewohnt; frei stehende Gehöfte <strong>und</strong> Dörfer gibt es hier nicht, nur vereinzelt erblickt<br />

man auf den Hügelkuppen eine Burg oder ein stark befestigtes Kastell.<br />

Wo das Bergland steil ins Meer abfällt, liegt <strong>die</strong> Festung Talamone, <strong>die</strong> Hafenstadt<br />

der Sienesen. Am Meeresufer, in der Nähe der Stadt, weidet ein Wildtier oder ein<br />

Pferd. Von einem Mann, der vorbeirennt <strong>und</strong> ein Reh verfolgt, lässt das Tier sich nicht<br />

stören. Hirsche <strong>und</strong> Rehe weiter vorne haben <strong>die</strong> Gefahr erkannt <strong>und</strong> hetzen den Hang<br />

hinauf. Am Strand in der nächsten Bucht erkennt man <strong>die</strong> Silhouette eines Mannes, der<br />

ein wildes Fohlen eingefangen hat <strong>und</strong> heftig am Seil zieht, um es zu zähmen. Sein<br />

eigenes Pferd grast friedlich daneben. Hier sind wir am rechten Rand des Bildes<br />

angelangt <strong>und</strong> gleichzeitig haben wir <strong>die</strong> südliche Grenze des sienesischen<br />

Herrschaftsgebietes erreicht.<br />

In <strong>die</strong>ser Welt, <strong>die</strong> sich hier vor unseren Augen bis ins kleinste Detail entfaltet,<br />

schwebt <strong>die</strong> Securitas – <strong>die</strong> Sicherheit. Gleich einem Engel mit Flügeln gleitet sie<br />

durch <strong>die</strong> Lüfte <strong>über</strong> Stadt <strong>und</strong> Land, unter ihr das muntere Leben. Sie ist nackt, nur<br />

ein hauchzarter Schleier umspielt ihre marmorweissen Schenkel <strong>und</strong> fliesst sanft <strong>über</strong><br />

ihre Füsse hinweg, <strong>die</strong> sie leicht auf <strong>und</strong> niederschlägt. Oberhalb des Stadttores hat sie<br />

ein Pergament entrollt, während ihre Hand einen Galgen festhält, an dem der tote Leib<br />

eines Mannes baumelt. Auf der Schriftrolle steht ein Vers:<br />

"Ohne Angst, gehe jedermann frei seines Weges<br />

<strong>und</strong> es wird gesät <strong>und</strong> <strong>die</strong> Felder werden bestellt<br />

solange <strong>die</strong> Kommune <strong>die</strong> Herrschaft <strong>die</strong>ser Dame [Justitia]<br />

aufrecht erhält,<br />

denn sie hat <strong>die</strong> Bösen aller Macht beraubt." 6<br />

Am unteren Rande des Bildes zieht sich ein weisser Streifen, wo ein langer Vers<br />

den Zusammenhang zwischen der <strong>gute</strong>n Regierung <strong>und</strong> ihrem friedlichen<br />

Herrschaftsgebiet noch genauer erklärt:<br />

"Ihr Regierende, richtet <strong>und</strong> heftet euren Blick<br />

auf sie [Justitia], <strong>die</strong> hier versinnbildlicht ist,<br />

<strong>die</strong> gekrönt ist aufgr<strong>und</strong> ihrer Vortrefflichkeit,<br />

<strong>die</strong> jedem sein Recht widerfahren lässt.<br />

Seht wie viel Gutes <strong>von</strong> ihr kommt,<br />

<strong>und</strong> wie süss <strong>und</strong> friedlich das Leben ist<br />

in jener Stadt, wo ihr gehuldigt wird,<br />

<strong>die</strong>ser Tugend, <strong>die</strong> mehr als alles andere leuchtet.<br />

Sie behütet <strong>und</strong> verteidigt<br />

6 Senza paura ogn'uom franco camini,<br />

e lavorando semini ciascuno,<br />

mentre che tal comuno<br />

manterrà questa donna in signoria,<br />

ch'el à levata a' rei ogni balia.<br />

71


jene, <strong>die</strong> sie verehren, nährt sie <strong>und</strong> sorgt für sie;<br />

aus ihrer Ausstrahlung<br />

wächst <strong>die</strong> Belohnung der Guten<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> angemessene Bestrafung der Bösen. 7<br />

3.3. Die Allegorie des Mal Governo<br />

Rechts resi<strong>die</strong>rt der Hof des schlechten Regiments. Da für <strong>die</strong> Darstellung der<br />

Allegorie der schlechten Regierung sowie deren Auswirkung auf Stadt <strong>und</strong> Land nur<br />

noch eine Längswand übrig blieb, hat <strong>Lorenzetti</strong> den Regierungssitz in das Leben der<br />

Stadt integriert: Das Podium, auf dem sich <strong>die</strong> Thronbank des Regenten befindet, steht<br />

innerhalb der Stadtmauer. Doch an <strong>die</strong> Stelle des ehrwürdigen Regenten ist ein<br />

satanischer Herrscher getreten. Mit gezücktem Dolch, am Leib den Waffenrock, sitzt<br />

er kriegslüstern auf seinem Thron. Sein Aussehen ist grässlich: Auf beiden Augen<br />

schielt er, sein Gesicht ist grausam verzerrt, wie bei einem Wildschwein ragen zwei<br />

Hauer aus seinem Unterkiefer <strong>und</strong> auf dem Kopf sind ihm zwei spitze Teufelshörner<br />

gewachsen. Sein langes, pechschwarzes Haar hat er sich in Zöpfen um das Haupt<br />

gelegt. Über seine Rüstung fällt <strong>von</strong> den Schultern eine lange scharlachrote Schleppe,<br />

<strong>die</strong> mit Gold bestickt <strong>und</strong> mit Pelz gefüttert ist <strong>und</strong> deren samtener Stoff in Falten auf<br />

das Podium fällt. In der linken Hand hält er eine goldene, hochstielige Schale. Seinen<br />

Fuss, der sich beim näheren Hinschauen als Kralle entpuppt, hat er auf einen<br />

Ziegenbock gestellt. Das Tier hat es sich auf dem Podium bequem gemacht <strong>und</strong> schaut<br />

treu zu seinem Besitzer hoch. Hinter dem Hals des furchterregenden Regenten zieht<br />

sich eine erklärende Inschrift: Tyramnides – <strong>die</strong> Gewaltherrschaften.<br />

<strong>Der</strong> Tyrann hat ebenfalls Ratgeber versammelt. Doch es sind zwielichtige Wesen,<br />

mit denen er sich umgibt. Sie weisen teils menschliche, teils tierische Züge auf.<br />

7 Vogliete gli occhi a rimirar costei,<br />

vo' che reggete, ch'è qui figurata<br />

e per su' eciellenzia coronata,<br />

la qual sempr' a ciscun suo [dritto rende.<br />

Guardate quanti ben' vengan da lei<br />

e come è dolce vita e riposata<br />

quella] della città du' è servata<br />

questa virtù ke più d'altra risprende.<br />

Ella guarda e difende<br />

chi lei onora e lor nurtrica e pascie;<br />

Da la suo lucie nascie<br />

el meritar color c'operan bene<br />

e agl'iniqui dar debite pene.<br />

72


Inschriften kennzeichnen sie als Laster. Auf der linken Seite, <strong>von</strong> links nach rechts,<br />

sitzen Crudelitas – <strong>die</strong> Grausamkeit, Proditio – der Verrat, <strong>und</strong> Fraus – der Betrug.<br />

Rechts besteht seine Gefolgschaft aus Furor – der Aufruhr, Divisio – <strong>die</strong> Zwietracht,<br />

<strong>und</strong> Guerra – der Krieg.<br />

Crudelitas ist eine alte Frau. Ihr langes, graumeliertes Haar fällt lose <strong>und</strong><br />

ungekämmt auf ihre Schultern hinab. Mit ihrer rechten Hand hat sie einen Säugling<br />

gepackt, den sie in <strong>die</strong> Luft streckt. Hilflos zappelt er in der Leere <strong>und</strong> schlägt heftig<br />

mit seinen kleinen Beinchen <strong>und</strong> Ärmchen um sich. Er schreit erbärmlich vor Angst,<br />

denn es nähert sich ihm eine Schlange. Wie hypnotisiert, mit weit aufgerissenen<br />

Augen, starrt er auf das Schreckensbild. Die Schlange befindet sich in der Hand der<br />

Crudelitas, <strong>die</strong> sich des grausamen Spiels erfreut.<br />

Neben ihr sitzt ein Mann, Proditio. Er ist in der Art eines <strong>gute</strong>n Stadtbürgers<br />

gekleidet <strong>und</strong> trägt das übliche weite Gewand mit der dazu passenden Stoffmütze.<br />

Alles ist aus feinem Tuch gewebt. In seinem Schoss hat er ein süsses Lämmchen –<br />

doch der Schein trügt; denn wo sich gewöhnlich der wollene Hinterteil befindet,<br />

krümmt sich der giftige Stachel des Skorpions.<br />

Fraus ist ein komisches Wesen. Mit dem langen blonden Zopf ähnelt es einer<br />

Frau, doch <strong>die</strong> Gesichtszüge sind recht grob <strong>und</strong> hart <strong>und</strong> eher männlich. Bartkotletten<br />

scheinen schon gar nicht zu einer Frau zu passen. Fraus ist weder Frau noch Mann.<br />

Dieses Wesen gehört nicht der Menschenrasse an, sondern ist eine Kreuzung zwischen<br />

Mensch <strong>und</strong> Tier. Das Bestialische sollte unter dem wallenden Gewand verborgen<br />

bleiben. Am Rockzipfel aber offenbart es sich mit Krallenfüssen <strong>und</strong> anstatt der<br />

menschlichen Hand schaut ein brauner, pelziger Huf aus dem Armloch. Am Rücken<br />

verraten Fledermausflügel <strong>die</strong> höllische Herkunft. Mit seinem gespreizten Huf hält das<br />

Wesen einen goldenen Stab, während es den Blick auf den Tyrannen richtet.<br />

Gleich rechts neben dem Tyrannen erblickt man ein anderes dämonenhaftes<br />

Phantasiegeschöpf: Furor. Es ist mehr Tier als Mensch. Sein Körper ist mit braunem<br />

Fell bewachsen. Es sitzt nicht auf der Bank, sondern steht mit allen vier Beinen darauf.<br />

<strong>Der</strong> Unterleib ähnelt dem eines Pferdes. An den Vorderbeinen, <strong>von</strong> denen eines steif<br />

ist, hat es Hufe, hinten aber wie ein Wolf zwei Pfoten. Anstelle des bauschigen<br />

Schwanzes rollt sich ein spitzer Stachel. <strong>Der</strong> Oberkörper mit zwei Armen ist menschlich<br />

<strong>und</strong> wächst senkrecht, wie beim Zentaur, aus dem Pferdeleib empor. <strong>Der</strong> Kopf<br />

stammt weder vom Menschen, noch vom Pferd, sondern vom Wildschwein. Das Biest<br />

hat sich bewaffnet: Mit einem kurzen Dolch <strong>und</strong> einem Stein zum Schleudern.<br />

Divisio ist eine junge Dame mit langem blondem Haar, das sie offen trägt. Ihr<br />

einfaches Kleid, das lose an ihrem Körper herunterhängt, ist zweifarbig. Die eine<br />

Hälfte ist weiss, <strong>die</strong> andere schwarz. Auf der weissen Seite ist das Wort Si appliziert,<br />

auf der schwarzen No. Divisio sägt gerade an einem Holzstück, das sie sich auf <strong>die</strong><br />

Knie gelegt hat.<br />

73


Guerra, ebenfalls eine junge Dame, sitzt rechts neben ihr. Ausgerüstet mit Helm,<br />

Schwert <strong>und</strong> r<strong>und</strong>em Schild ist sie bereit zum Kampf. Sie hat schon zum Streich<br />

ausgeholt. Den Schild, auf dem ihr Name prangt, hat sie in Erwartung des<br />

Gegenschlags hochgezogen.<br />

Zu der gewalttätigen <strong>und</strong> niederträchtigen Gesellschaft an den Seiten des<br />

Tyrannen stossen drei geflügelte Wesen. Sie schweben <strong>über</strong> dem Haupt des teuflischen<br />

Herrschers - gleich den drei Engeln <strong>über</strong> dem Haupt des ehrwürdigen Regenten. Doch<br />

<strong>die</strong>smal sind <strong>die</strong> drei schwebenden Damen nicht göttlicher, sondern satanischer<br />

Abkunft: Mit Fledermausflügeln gleiten sie durch <strong>die</strong> Luft.<br />

Über allen fliegt Superbia – der Hochmut. Sie ist eine junge Frau mit blondem,<br />

fein frisiertem Haar. Auf ihrem Kopf sitzen zwei gebogene Hörner. Zu ihrem<br />

purpurroten, prächtigen Kleid gehört eine Schleppe, <strong>die</strong> reichlich mit Gold bestickt ist.<br />

Sanft wellt sich der schwere Stoff im Lufthauch des Flügelschlags. Haltung <strong>und</strong> Blick<br />

der Superbia sind stolz. Mit geschwellter Brust fasst sie ihr Schwert am Griff, das sie<br />

sich um <strong>die</strong> Hüfte geschnallt hat. An einem Seil, das sie in der anderen Hand hält,<br />

baumelt ein Joch.<br />

Links <strong>von</strong> ihr schwebt <strong>die</strong> Avaritia – der Geiz. Sie ist ein greises Weib. Aufgr<strong>und</strong><br />

der kärglichen Nahrung, <strong>die</strong> sie sich bloss zugesteht, sind ihre Wangen tief eingefallen.<br />

<strong>Der</strong> Stoff ihres Kleides ist so dünn, dass ihre hängenden Brüste durchschimmern. Sie<br />

trägt eine aschgraue Kutte mit Kapuze. Die Kapuze ist nicht hochgezogen, sondern<br />

fällt locker <strong>über</strong> <strong>die</strong> Schultern hinab. Auf dem Kopf sitzt eine gelblichweisse Kappe, in<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong> Alte ihr spärliches Haar unsorgfältig hineingesteckt hat. Aus ihrer knöchernen<br />

Hand ragt eine lange, vorne gebogene Hacke. Mit spitzen, eher raubvogel- als<br />

menschenähnlichen Fingernägeln, krallt sie sich an eine handliche Presse, <strong>die</strong> sie sich<br />

um <strong>die</strong> Schultern gehängt hat <strong>und</strong> durch <strong>die</strong> sie zwei Geldbeutel quetscht.<br />

Die dritte im B<strong>und</strong>e der dämonischen Frauen, <strong>die</strong> das Haupt des Tyrannen krönen,<br />

ist Vanagloria – <strong>die</strong> Eitelkeit oder der eitle Ruhm. Die junge Vanagloria ist eine sehr<br />

feine Dame. Sie reist in einem goldenen Wagen. Ihr rotes Kleid, das sie trägt, ist<br />

prachtvoll <strong>und</strong> so raffiniert geschnitten, wie sonst keines das wir bis anhin gesehen<br />

haben. Überall ist es mit Goldbordüren gesäumt, <strong>und</strong> Edelsteine zieren <strong>die</strong> Nähte <strong>und</strong><br />

Armpartien. Unterhalb der Brust ist es geschlitzt <strong>und</strong> <strong>die</strong> spitz zulaufenden Enden<br />

fallen wie eine Jacke <strong>über</strong> ein rotes Gewand, das sie darunter trägt. Das brunette Haar<br />

der Vanagloria ist aufwendig frisiert <strong>und</strong> wird <strong>von</strong> einem goldenen, mit Rubinen <strong>und</strong><br />

Smaragden besetzten Reif geschmückt. Selbstverliebt betrachtet sie sich in ihrem<br />

goldenen Taschenspiegel <strong>und</strong> ist so tief in den Anblick ihrer Schönheit versunken,<br />

dass sie vergisst, auf das Schilfrohr zu achten, das, leise vor sich hinwelkend, in ihrer<br />

linken Hand schon ganz grau geworden ist.<br />

74


Zu Füssen des Tyrannen, auf der blossen Erde, erblicken wir eine uns schon<br />

bekannte Dame. Es ist Justitia, <strong>die</strong> wir am Hof des ehrwürdigen Regenten angetroffen<br />

haben. Dort sass sie, umgeben <strong>von</strong> ihrer Waage, einer Königin gleich auf ihrem<br />

eigenen Thron. Hier indessen bietet sie einen jämmerlichen Anblick. Vom Thron<br />

gestossen, gefesselt <strong>und</strong> ihrer Kleider bis aufs Unterhemd beraubt, liegt <strong>die</strong> Arme mit<br />

aufgelöstem Haar vor dem Podium. Nicht nur <strong>die</strong> Hände sind ihr gefesselt, auch <strong>die</strong><br />

Beine sind <strong>von</strong> einem Tuch umwickelt, so dass sie ihre Glieder nicht mehr bewegen<br />

kann. Die Stirn hat sie in Falten gezogen; ihr Blick ist sorgenvoll. Ihre Waage ist<br />

zerbrochen: Links <strong>und</strong> rechts neben ihr liegen <strong>die</strong> zu Boden gefallenen Schalen. Die<br />

roten Seile, an denen sie früher hingen, winden sich unnütz auf der Erde. Ein Mann,<br />

der zum Tyrannen hochschaut, hat so ein rotes Seil in der Hand. Seine andere Hand ist<br />

in der Schlinge einer schwarzen, schweren Eisenkette, mit der <strong>die</strong> Justitia gefangen<br />

gehalten wird.<br />

Rechts der Justitia sieht man – heute nur noch bruchstückhaft – <strong>die</strong> Fortsetzung<br />

der schwarzen Kette. Ihr anderes Ende beginnt bei zwei Männern, <strong>die</strong> sich gerade um<br />

etwas, nicht mehr genau zu erkennendes, reissen. Vor ihren Füssen liegen zwei tote<br />

Frauen. Die eine ist vor kurzem erstochen worden; denn Blut fliesst noch aus ihrer<br />

Brust. Quer <strong>über</strong> ihrem leblosen Körper liegt der nackte Leichnam der anderen. Eine<br />

Gruppe <strong>von</strong> Adligen, in kurzen Röcken kombiniert mit Seidenstrümpfen, ziehen<br />

unbekümmert <strong>und</strong> ohne Interesse an der blutigen Szene vorbei.<br />

Rechts hinten befindet sich ein Stadttor, das <strong>die</strong> Stadtmauer abschliesst, vor der<br />

das Podium des Tyrannen steht. Ein Ritter <strong>und</strong> zwei Fusssoldaten bewachen <strong>die</strong> halbgeöffnete<br />

Pforte.<br />

Auch links <strong>von</strong> der gefesselten Justitia herrscht Mord- <strong>und</strong> Totschlag. Zwei<br />

stattliche Männer mit Bart in bunt-gemusterten Waffenröcken stechen auf zwei<br />

unbewaffnete Stadtbewohner ein. Während der eine mit gezogenem Dolch einen<br />

harmlos dreinschauenden Bürger bedroht, stösst der andere einer hilflosen, blonden<br />

jungen Frau das Messer in <strong>die</strong> Brust.<br />

Die grausamen Szenen unterhalb der Thronbank des Tyrannen setzen sich fort in<br />

Richtung des Hauptplatzes der Stadt, breiten sich aus <strong>und</strong> erfüllen das gesamte<br />

städtische Leben <strong>und</strong> auch dasjenige des Landes, das vor den Toren des<br />

Despotensitzes liegt. Doch bevor wir <strong>die</strong>ses Bild der Zerstörung <strong>und</strong> des Verbrechens<br />

betrachten, lesen wir den Kommentar, der unterhalb der gefesselten Justitia steht:<br />

"Wo <strong>die</strong> Gerechtigkeit gefesselt ist,<br />

wird sich nie jemand auf das Gemeinwohl einigen,<br />

noch sich am Band des Rechts halten,<br />

so dass <strong>die</strong> Tyrannia <strong>die</strong> Oberhand gewinnt.<br />

Diese, um ihrer Schlechtigkeit zu genügen,<br />

will niemals <strong>und</strong> wird niemals in Uneinstimmigkeit<br />

75


mit dem schmutzigen Wesen<br />

der Laster handeln, <strong>die</strong> hier mit ihr zusammen sind.<br />

Sie verbannt jene, <strong>die</strong> bereit sind, Gutes zu tun<br />

<strong>und</strong> umgibt sich mit all denen, <strong>die</strong> Schlechtes vorhaben.<br />

Sie verteidigt immer<br />

den, der nötigt oder raubt <strong>und</strong> all jene, <strong>die</strong> den Frieden hassen,<br />

so dass ihr gesamtes Land verwüstet daliegt." 8<br />

3.4. Die Auswirkung des Mal Governo auf Stadt <strong>und</strong> Land<br />

Es ist düster in <strong>die</strong>ser Stadt <strong>und</strong> auf dem Land. Nicht ein Sonnenstrahl dringt in<br />

<strong>die</strong>sen dunklen Ort des Grauens. Es gibt kein Merkmal, das <strong>die</strong> Stadt des Tyrannen<br />

genauer bezeichnet. Mit den turmartigen Wohnhäusern, den Zinnenkränzen <strong>und</strong><br />

gotischen Kirchen trägt <strong>die</strong> Stadt Charakterzüge, <strong>die</strong> zur Zeit <strong>Lorenzetti</strong>s das Bild der<br />

Städte in der Toskana, aber auch in Umbrien oder Oberitalien prägten. Das Umland ist<br />

hügelig, steigt aber schon in der Nähe der Stadt zu unsanften Bergkuppen an.<br />

Zwischen den Hügeln tost ein Fluss ins Tal. Dörfer <strong>und</strong> Kastelle gibt es kaum. Fast<br />

alles ist zerstört. Ruinen <strong>und</strong> unkultivierte Felder dominieren <strong>die</strong> Landschaft. Das<br />

einzige Gebäude, das noch unbeschädigt erscheint, ist eine schwer befestigte Burg, <strong>die</strong><br />

auf der höchsten Bergspitze steht.<br />

Ein Teil der Stadt liegt schon in Trümmern. Die Mauern zeigen Risse. Gerade<br />

wird ein weiteres Haus niedergerissen. Einige Männer haben sich gewaltsam Zutritt in<br />

das obere Stockwerk verschafft, brechen wahllos Ziegelsteine aus der Mauer <strong>und</strong><br />

werfen <strong>die</strong>se auf den Hauptplatz der Stadt.<br />

In <strong>die</strong>ser Stadt wird kein Markt abgehalten. Handel, Lehre <strong>und</strong> Handwerk können<br />

hier nicht gedeihen. Die einzigen Waren, <strong>die</strong> noch Absatz finden, sind Waffen <strong>und</strong><br />

8 Là dove sta legata la iustitia,<br />

nessuno al ben comun già mai s'acorda<br />

né tira a dritta corda;<br />

però convien che tirannia sormonti,<br />

la qual, per adempir la sua nequitia,<br />

nullo voler né operar discorda<br />

dalla natura lorda<br />

de' vitii che con lei son qui congionti.<br />

Questa caccia color c'al ben son pronti<br />

e chiama a sé ciascun c'a male intende;<br />

questa sempre difende<br />

chi sforza o robba o chi odiasse pace,<br />

<strong>und</strong>e ogni terra sua inculta giace.<br />

76


Rüstungsteile. Hämmernd sitzt der Schmied in seiner Werkstatt <strong>und</strong> bietet das Kriegswerkzeug<br />

feil.<br />

Vorne rechts steht eine junge Frau fassungslos vor dem Eingang ihres Hauses. <strong>Der</strong><br />

Leichnam ihres Mannes liegt zu ihren Füssen. Er wurde erstochen. Sein Hut ist auf den<br />

Boden gefallen. Das Blut, das noch aus der frischen W<strong>und</strong>e strömt, färbt <strong>die</strong> Erde rot.<br />

An der Seite der Unglücklichen plaudert ein Paar miteinander, unberührt vom<br />

schweren Los ihrer jungen Nachbarin. Zwei Knaben stehen in der Nähe des Tatortes.<br />

Sie tuscheln miteinander <strong>und</strong> zeigen auf <strong>die</strong> erstochene Leiche.<br />

Daneben haben zwei mit Dolch <strong>und</strong> Schild bewaffnete, edel gekleidete Männer<br />

eine junge Frau an den Oberarmen gepackt. Sie trägt ein rotes, mit Stickerei verziertes<br />

Kleid <strong>und</strong> auf dem Kopf hat sie ein goldenes Krönchen. Die Frisur ihrer blonden<br />

Haare hat sich aufgelöst. Strähnen hängen ihr ins Gesicht. Ängstlich <strong>und</strong> abwehrend,<br />

mit hochgezogener Stirn, blickt sie ihren Peinigern in <strong>die</strong> Augen.<br />

Dahinter versammelt sich eine Gruppe <strong>von</strong> Uniformierten, <strong>die</strong> mit Dolch <strong>und</strong><br />

Schild bewaffnet sind. <strong>Der</strong> rote Faltenrock reicht kaum <strong>über</strong> <strong>die</strong> Oberschenkel, so dass<br />

bei einem der Lendenschurz zum Vorschein kommt.<br />

In der Mitte des Platzes haben zwei Männer in buntscheckigem kurzen Gewand<br />

mit Helm <strong>und</strong> Dolch einen Mann <strong>über</strong>fallen, der <strong>die</strong> übliche Kleidung eines<br />

Stadtbürgers trägt. Die Hände haben sie ihm gefesselt. <strong>Der</strong> eine packt das Opfer am<br />

Kragen, während der andere <strong>die</strong> geraubten Silber- <strong>und</strong> Goldmünzen auf einem r<strong>und</strong>en<br />

Tablett ungestört auftürmt.<br />

Es werden keine Nahrungsmittel in <strong>die</strong> Stadt gebracht. Es kann nichts angebaut<br />

werden, denn <strong>über</strong> <strong>die</strong> Äcker wütet der Krieg. In Begleitung zweier Fusssoldaten<br />

verlässt ein Ritter <strong>die</strong> Stadt auf der Landstrasse. Die Gruppe wird sich wahrscheinlich<br />

dem Kampf anschliessen, der gerade oben in den Hügeln tobt.<br />

Rauchschwaden steigen auf. Ein feindliches Heer ist bis zum Fluss vorgestossen<br />

<strong>und</strong> hat ein Dorf in Brand gesteckt. Die Häuser brennen lichterloh. Aus fast allen<br />

Fenstern schlagen Flammen. Ein Ritter galoppiert in Kampfhaltung <strong>und</strong> mit ausgestreckter<br />

Lanze <strong>über</strong> <strong>die</strong> Brücke. Zwei Soldaten erwarten ihn. <strong>Der</strong> Hauptharst der<br />

feindlichen Truppen stürmt hinterher den Hügel hinab <strong>und</strong> möchte den Fluss <strong>über</strong>queren.<br />

Diesseits des Flusses wartet das städtische Heer auf den Feind. Es wird <strong>von</strong><br />

einem Capitano mit prächtiger Rüstung angeführt. Ein Federbusch schmückt seinen<br />

Helm. <strong>Der</strong> Capitano hat sein Pferd hochgerissen <strong>und</strong> befiehlt den Angriff. Gleich wird<br />

<strong>die</strong> blutige Schlacht beginnen.<br />

Krieger beherrschen <strong>die</strong>ses Land. Zivilbevölkerung ist keine mehr zu sehen. Alles<br />

liegt in Schutt <strong>und</strong> Asche.<br />

77


Über <strong>die</strong>ser Stadt <strong>und</strong> ihrem Umland schwebt Timor – <strong>die</strong> Furcht. Sie ist eine<br />

grässliche Alte mit strähnigem Haar. Die Farbe ihres Körpers <strong>und</strong> ihres Gesichtes ist<br />

gräulich braun. Das dünne Kleid hängt ihr in Fetzen am hageren Leib. Mit weit<br />

aufgerissenen Augen <strong>und</strong> grimmig vorgeschobenem Unterkiefer richtet sie ihr Schwert<br />

gegen <strong>die</strong> Erdbewohner. Unerbittlich, gleich dem Tod, dem sie ähnlich sieh, 9 befällt sie<br />

Land <strong>und</strong> Leute.<br />

Drohend hat sie sich am Ausgang der Stadt <strong>über</strong> der Landstrasse postiert. In ihrer<br />

klauenartigen Pranke hält sie eine Schriftrolle mit einem Vers, der ihre Gegenwart<br />

erklärt:<br />

"Weil jeden nur sein eigenes Wohl auf <strong>die</strong>ser Erde interessiert,<br />

wurde Justitia der Tyrannei unterworfen.<br />

Deshalb kann auf <strong>die</strong>ser Strasse<br />

niemand mehr gehen, ohne für sein Leben fürchten zu müssen;<br />

denn sowohl innerhalb als auch ausserhalb der Stadttore wird<br />

geraubt." 10.<br />

Den Zusammenhang zwischen schlechter Regierung <strong>und</strong> verwüstetem<br />

Herrschaftsgebiet kommentiert nochmals ein Vers, der sich auch hier in einem<br />

schmalen Streifen am unteren Rand des Bildes hinzieht:<br />

"....................................................<br />

.....................................<strong>und</strong> als Wirkung,<br />

wo Tyrannei herrscht, gibt es Argwohn,<br />

Krieg, Raub, Verrat <strong>und</strong> Betrug.<br />

Man muss <strong>die</strong> Herrschaft <strong>über</strong> sie [Tyrannei] erringen<br />

<strong>und</strong> immer den Geist <strong>und</strong> Intellekt darauf richten,<br />

dass jeder Justitia untertan ist,<br />

damit man solch dunklen Rechtsverletzungen entgeht,<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Tyrannnen muss man niederschlagen.<br />

Und jeder, der sie [Justitia] verletzt,<br />

soll entsprechend seines schlechten Ver<strong>die</strong>nstes weggejagt <strong>und</strong><br />

verbannt werden,<br />

mit all seinen Gefolgsleuten, wer sie auch immer sind,<br />

damit sie [Justitia] für euren Frieden gestärkt wird." 11<br />

9 Es besteht eine gewisse Ähnlichkeit mit der Figur des Todes im Campo Santo <strong>von</strong> Pisa.<br />

10 Per voler el ben proprio, in questa terra<br />

sommess' è la giustitia a tyrannia,<br />

<strong>und</strong>e per questa via<br />

non passa alcun senza dubbio di morte,<br />

ché fuor si robba e dentro da le porte.<br />

11 .................................[-ei].<br />

........................... e per effetto<br />

che dove è tirannia è gran sospetto,<br />

guerre, rapine, tradimenti e 'nganni,<br />

78


Hier haben wir <strong>die</strong> Betrachtung des <strong>Freskenzyklus</strong> schon fast beendet. Sie begann<br />

bei der Schmalwand, wo sich vor unseren Augen <strong>die</strong> Allegorie der <strong>gute</strong>n Regierung<br />

erhebt mit dem ehrwürdigen Regenten, gekleidet <strong>und</strong> angeschrieben als Kommune <strong>von</strong><br />

Siena, mit der verführerisch wirkenden Pax <strong>und</strong> den anderen politischen <strong>und</strong><br />

göttlichen Tugenden sowie der Justitia, <strong>die</strong> unter ihrer Waage auf ihrem eigenen<br />

Thron sitzt. Vier<strong>und</strong>zwanzig Männer – Berufsmagistraten, Juristen <strong>und</strong> Stadtbürger –<br />

sowie Soldaten, Sträflinge <strong>und</strong> Ritter vervollständigten das Bild. Die segensreiche<br />

Wirkung <strong>die</strong>ser <strong>gute</strong>n Regierung sieht man auf der rechten Längswand, wo <strong>die</strong><br />

geflügelte Securitas <strong>über</strong> Stadt <strong>und</strong> Land schwebt – <strong>über</strong> einer Welt, <strong>die</strong><br />

Charakterzüge <strong>von</strong> Siena trägt. Links auf der gegen<strong>über</strong>liegenden Längswand sieht<br />

man das Gegenstück: <strong>die</strong> Allegorie der schlechten Regierung sowie deren Auswirkung<br />

auf Stadt <strong>und</strong> Land. Anstelle des ehrwürdigen Regenten sitzt ein Tyrann auf dem<br />

Podest, angeschrieben als Vertreter <strong>von</strong> Gewaltherrschaften. Anstatt mit Tugenden<br />

umgibt er sich mit Lastern, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Justitia liegt gefesselt, <strong>von</strong> ihrem Thron gestossen.<br />

Auf derselben Wand äussert sich in grässlichen <strong>und</strong> kriegerischen Szenen <strong>die</strong> Wirkung<br />

<strong>die</strong>ses schlechten Regimes, wo <strong>die</strong> alte, hässliche Timor Stadt <strong>und</strong> Land befällt.<br />

Inschriften, <strong>die</strong> sich entweder unterhalb der Bilder entlangziehen oder als Epigramme<br />

darunter stehen, kommentieren <strong>die</strong>se Fresken.<br />

Noch ist indessen <strong>die</strong> Betrachtung unvollständig, denn das Bildprogramm wird<br />

<strong>von</strong> einem Fries umrahmt.<br />

3.5. <strong>Der</strong> Fries<br />

Entlang des gesamten <strong>Freskenzyklus</strong> zieht sich, sowohl unten als auch oben, ein<br />

breiter Fries, der mit Ranken <strong>und</strong> anderen Zierleisten reich gemustert ist. Medaillons<br />

unterbrechen in regelmässigen Abständen das Ornamentenband. Kleine Rauten mit<br />

den Wappen Sienas – sowohl das schwarz-weisse der Kommune als auch der Löwe<br />

des Popolo – sind in <strong>die</strong> Muster integriert oder flankieren <strong>die</strong> Medaillons.<br />

Prendansi signoria sopra di lei,<br />

e pongasi la mente e lo intelletto<br />

[in tener sempre a iustizia suggietto<br />

ciascun, per ischifar sì scuri danni,<br />

abbattendo e' tiranni;<br />

e c]hi turbar la vuol sie per suo merto<br />

disciacciat' e diserto<br />

insieme con qualunque sia seguacie,<br />

fortificando lei per vostra pace.<br />

79


Die Medaillons des oberen Frieses<br />

Im oberen Fries wechseln sich Darstellungen der Planeten mit jenen der vier<br />

Jahreszeiten ab. Zusätzlich finden sich in der Reihe der Medaillons zwei Wappen<br />

sowie vier Darstellungen, <strong>die</strong> heute schwer zu identifizieren sind, denn sie werden <strong>von</strong><br />

später eingezogenen Dachbalken verdeckt.<br />

Sieben Planeten sind dargestellt. Es sind <strong>die</strong> sieben Planeten, <strong>von</strong> denen man<br />

damals glaubte, dass sie sich um <strong>die</strong> Erde drehen: Mond, Merkur, Venus, Sonne, Mars,<br />

Jupiter <strong>und</strong> Saturn.<br />

Mond, Merkur <strong>und</strong> Venus erscheinen oberhalb der Auswirkung der <strong>gute</strong>n<br />

Regierung, <strong>die</strong> Sonne oberhalb der Allegorie der <strong>gute</strong>n Regierung <strong>und</strong> Mars, Jupiter<br />

<strong>und</strong> Saturn <strong>über</strong> der Längswand mit der Allegorie <strong>und</strong> Auswirkung der schlechten<br />

Regierung.<br />

<strong>Der</strong> Mond besteht aus einem pausbäckigen Gesicht, das umrahmt wird <strong>von</strong> einer<br />

silbernen Sichel. Er leuchtet in einem goldenen Strahlenkranz. Getragen wird er auf<br />

dem Rücken zweier Pferde, <strong>die</strong> ebenfalls ganz golden sind.<br />

Merkur, ein junger Mann mit wehendem Haar, ist in Eile. Er hält einen<br />

Wanderstab in der Hand, <strong>und</strong> unter seinen Arm hat er sich ein schweres Buch<br />

geklemmt. Das Medaillon des Merkur flankieren anstelle der sienesischen Wappen<br />

zwei Tierkreiszeichen. Links erscheint das Zeichen des Zwillings, dargestellt als Frau,<br />

<strong>die</strong> Zwillinge in den Armen trägt; rechts das der Jungfrau, einer Figur mit zwei<br />

Füllhörnern.<br />

Venus ist eine blonde, junge Frau in rosafarbigem Gewand. Graziös wie beim<br />

Tanz, bewegt sie ihre Arme nach oben. Sie ist dargestellt auf einer meeresgrünen<br />

Scheibe, hinter der das Profil eines springenden Stiers zum Vorschein kommt.<br />

Die Sonne ist r<strong>und</strong>, strahlend <strong>und</strong> golden. Zwei heissblütige Pferde, ebenfalls in<br />

Gold getaucht, tragen sie auf ihrem Rücken. – Heute sieht man aufgr<strong>und</strong> der<br />

eingezogenen Balken nur noch <strong>die</strong> Hälfte des Medaillons.<br />

Mars ist kriegerisch. Die Rüstung, <strong>die</strong> er trägt, ist feuerrot <strong>und</strong> klassisch<br />

geschnitten. Mit grimmiger Miene <strong>und</strong> gezücktem Schwert galoppiert er auf seinem<br />

Pferd voran. Auch das Medaillon des Mars flankiert ein Zeichen des Zodiakus: <strong>Der</strong><br />

Widder ist zu beiden Seiten abgebildet.<br />

Als König ist Jupiter dargestellt. Sein wertvolles Gewand ist aus Goldbrokat. Auf<br />

dem Kopf trägt er eine Krone, in seinen Händen hat er ein Zepter <strong>und</strong> eine goldene<br />

Kugel. Links flankiert sein Medaillon das Tierkreiszeichen des Schützen, dargestellt<br />

als Zentaur, der galoppierend seinen Pfeilbogen spannt. Rechts ist das Zeichen des<br />

Fisches.<br />

80


Saturn, ein wilder Mann mit Bart <strong>und</strong> nacktem Oberkörper, macht einen finsteren<br />

Eindruck. Sein dunkles Haar ist lang <strong>und</strong> ungebändigt. Kranzartig begrenzt es seine<br />

kahle Schädelkuppe. An der Seite seines Medaillons sieht man links <strong>und</strong> rechts das<br />

Abbild eines goldenen Kruges, aus dem gerade Wasser ausgeschüttet wird – <strong>die</strong><br />

Darstellung des Tierkreiszeichens Wassermann.<br />

Alle vier Jahreszeiten sind abgebildet. Frühjahr <strong>und</strong> Sommer sehen wir oberhalb<br />

der Längswand mit der Auswirkung der <strong>gute</strong>n Regierung, Herbst <strong>und</strong> Winter oberhalb<br />

der gegen<strong>über</strong>liegenden Längswand mit den Darstellungen <strong>über</strong> <strong>die</strong> schlechte<br />

Regierung.<br />

<strong>Der</strong> Frühling erscheint als junges Mädchen. Ein Kranz bunter Blumen ziert ihre<br />

Stirn <strong>und</strong> ihr feines, goldblondes Haar. Ein Meer <strong>von</strong> Blüten <strong>und</strong> Knospen füllt ihre<br />

weit ausgestreckten Arme. 12<br />

Auch der Sommer erscheint als blondes junges Mädchen. Anmutig hat sie ihren<br />

Kopf zur Seite geneigt. Ihr Haar ist geschmückt <strong>von</strong> einem saftiggrünen Blätterkranz.<br />

In der einen Hand hält sie eine Sichel, in der anderen das geschnittene Korn.<br />

<strong>Der</strong> Herbst ist dargestellt als ein älterer Mann mit Glatze <strong>und</strong> lockigem Vollbart.<br />

Sein Oberkörper ist nackt. Den Blick hat er schräg nach unten gerichtet. Je eine grüne<br />

<strong>und</strong> eine blaue Weintraube hängt aus seiner rechten Hand, während er in der linken<br />

einen Busch Steineichenzweige hält.<br />

<strong>Der</strong> Winter erscheint als feingekleideter Herr mit gepflegtem Spitzbart. Ein weiter<br />

Mantel mit Kapuze <strong>und</strong> farblich abgestimmtem, langgezogenem Hut schützen ihn vor<br />

dem Schnee, der in dicken Flocken auf ihn niederfällt. Aus frischem Schnee hat er<br />

einen Schneeball geformt, den er in seiner Hand hält.<br />

Im oberen Fries tauchen auch zwei Medaillons mit Wappen auf, deren Motive<br />

nicht direkt sienesisch sind. Zwischen Merkur <strong>und</strong> Venus sieht man ein Medaillon mit<br />

einem Wappen, das auf rotem Gr<strong>und</strong> ein Paar goldene Schlüssel zeigt, deren Ringe mit<br />

einer Kordel zusammengeb<strong>und</strong>en sind. Es ist das Zeichen des Papstes. Gegen<strong>über</strong>,<br />

zwischen dem Winter <strong>und</strong> Jupiter, ist das Wappen des französischen Königshauses<br />

<strong>und</strong> jenes der Anjou in Neapel mit der goldenen Lilie auf blauem Gr<strong>und</strong>.<br />

Vier – heute aufgr<strong>und</strong> der eingezogenen Dachbalken kaum mehr sichtbare –<br />

Medaillons befinden sich links <strong>und</strong> rechts der Sonne oberhalb der Allegorie der <strong>gute</strong>n<br />

Regierung. Unter dem Medaillon links der Sonne ist noch <strong>die</strong> Inschrift Piviere –<br />

12 <strong>Der</strong> Frühling ist heute nicht mehr zu sehen; seine Darstellung ist aber rekonstruierbar<br />

aufgr<strong>und</strong> eines Freskos in Asciano aus der Mitte des 14. Jh. Für <strong>die</strong> Darstellung der vier Jahreszeiten<br />

in Asciano <strong>die</strong>nte das Fresko <strong>Lorenzetti</strong> als Vorbild; siehe DONATO (1988).<br />

81


Pfarrgemeinde – zu lesen. Rechts <strong>von</strong> der Sonne erkennt man das rote Kleid eines<br />

laufenden Mannes.<br />

Die Medaillons des unteren Frieses<br />

Im unteren Fries werden Männer <strong>und</strong> Frauen in den Medaillons abgebildet.<br />

Unterhalb der beiden Wände mit der <strong>gute</strong>n Regierung sieht man sieben Frauen, <strong>die</strong><br />

durch Inschriften als Darstellungen <strong>von</strong> Wissenschaften bezeichnet sind. Es sind <strong>die</strong><br />

sieben freien Künste – Grammatica, Dialectica, Rhetorica, Arithmetica, Geometria,<br />

Musica <strong>und</strong> Astrologia – gemeinsam mit der Philosophia. Die Männer befinden sich<br />

unterhalb der Längswand mit der schlechten Regierung. In fünf Medaillons sind<br />

Tyrannen aus der Geschichte dargestellt, <strong>die</strong> alle eines unnatürlichen, gewaltsamen<br />

Todes starben.<br />

Die ersten drei der genannten Künste – Grammatica, Dialectica <strong>und</strong> Rhetorica –<br />

befinden sich unterhalb der Allegorie der <strong>gute</strong>n Regierung, <strong>die</strong> restlichen vier <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Philosophia unter der Auswirkung der <strong>gute</strong>n Regierung. – Heute ist Rhetorica<br />

aufgr<strong>und</strong> einer später in <strong>die</strong> Wand gebrochenen Tür nicht mehr zu sehen <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Darstellungen der Arithmetica <strong>und</strong> Musica sind im Laufe der Zeit so verblasst, dass sie<br />

nicht mehr erkennbar sind.<br />

Die Grammatica erscheint als junge Frau, <strong>die</strong> mit einem noch kleinen Knaben auf<br />

einer Bank sitzt. Sie liest mit ihm gemeinsam ein Buch <strong>und</strong> erteilt ihm Unterricht.<br />

Die Dialectica ist etwas älter <strong>und</strong> trägt ein Kopftuch. Sie hält in ihren zwei<br />

Händen jeweils eine Gesichtsmaske.<br />

Die junge Geometria hat eine Scheibe auf ihrem Knie, auf der sie mit einem Zirkel<br />

<strong>die</strong> Linien eines Kreises nachzieht.<br />

Auch <strong>die</strong> Astrologia ist jung. Sie betrachtet einen Globus mit den Planetenbahnen.<br />

Die wieder etwas ältere Philosophia ist eine Königin. Sie trägt eine Krone auf<br />

ihrem Kopf, in ihrer Hand hält sie ein Zepter. Drei schwere Bücher liegen in ihrem<br />

Schoss.<br />

Von den Tyrannen ist heute leider nur noch Nero zu sehen <strong>und</strong> mit Namen<br />

beschriftet. Er hat gerade Selbstmord begangen: Sein lebloser Körper hängt schlaff<br />

<strong>über</strong> den Speer, mit dem er sich umgebracht hat. Aus der frischen W<strong>und</strong>e in seiner<br />

Brust strömt das Blut. Im Medaillon links <strong>von</strong> ihm erkennt man <strong>die</strong> Konturen eines<br />

Mannes, der <strong>über</strong> einen Toten triumphiert. – Wer aber der getötete Tyrann ist, muss<br />

ungewiss bleiben, da <strong>die</strong> Inschrift nicht mehr zu lesen ist. Und <strong>von</strong> den restlichen drei<br />

82


Tyrannendarstellungen ist <strong>über</strong>haupt nichts mehr zu sehen. Frühere Betrachter hatten<br />

noch Getus <strong>und</strong> Antiochus ausmachen können. 13<br />

Wenden wir uns nun im nächsten Kapitel der kritischen Literatur zu, <strong>die</strong> <strong>die</strong>sen<br />

<strong>Freskenzyklus</strong> schon mehrfach gedeutet hat.<br />

13 ROWLEY (1958), S. 103<br />

83


4. Bisherige Deutungen des <strong>Freskenzyklus</strong><br />

4.1. Darstellung des rechtzentrierten Stadtstaates<br />

Mehrere Autoren beziehen den <strong>Freskenzyklus</strong> auf <strong>die</strong> Herausbildung <strong>von</strong><br />

Staatsstrukturen, <strong>die</strong> sich während des 12. <strong>und</strong> 13. Jahrh<strong>und</strong>erts im Abendland zu<br />

konkretisieren begann. 1 Ihre Deutungen konzentrieren sich deshalb auf <strong>die</strong> beiden<br />

Gerechtigkeitsfiguren, <strong>die</strong> Caritas <strong>und</strong> <strong>die</strong> Figur der Kommune auf der Schmalwand<br />

sowie <strong>die</strong> Abbildung <strong>von</strong> Stadt <strong>und</strong> Land auf der Längswand des Buon Governo. Die<br />

<strong>von</strong> ihnen in den Blickpunkt gerückte historische Entwicklung löste in weiten Teilen<br />

Europas <strong>die</strong> postkarolingische Anarchie ab, 2 <strong>und</strong> sollte letztlich <strong>die</strong> Gestaltung der<br />

politischen Landkarte Europas bestimmen. 3 Dem Kaisertum wie dessen Gegenspieler,<br />

dem Papsttum, war es versagt geblieben, ihre universellen Machtansprüche<br />

institutionell zu untermauern. "Im Zusammenprall verloren schliesslich beide Mächte<br />

<strong>die</strong> Unbedingtheit, <strong>die</strong> sie ein halbes Jahrtausend besassen: Interregnum (1250-1273)<br />

<strong>und</strong> Avignon (1309-1377) sind des Mittelalters <strong>und</strong> der christlichen Weltherrschaft<br />

Ende." 4 An <strong>die</strong> Stelle der alten, sich an Kaiser <strong>und</strong> Papst orientierenden Ordnung, <strong>die</strong><br />

massgeblich <strong>von</strong> persönlichen Schutz- <strong>und</strong> Treueverhältnissen geprägt war, 5 traten<br />

zunehmend Strukturen, <strong>die</strong> den Keim moderner Staatlichkeit in sich trugen. Dazu<br />

gehörten <strong>die</strong> Intensivierung der öffentlichen Gewalt, <strong>die</strong> ideelle Einbindung des<br />

einzelnen in <strong>die</strong> Gemeinschaft sowie <strong>die</strong> Tendenz zur Verschriftlichung des Rechts. In<br />

manchen Teilen Europas, zum Beispiel in Frankreich, England oder auch Süditalien,<br />

spielte das Königtum eine wesentliche Rolle in der Ausformung <strong>von</strong> staatlichen<br />

Strukturen. In Mittel- <strong>und</strong> Oberitalien waren es aber <strong>die</strong> Städte, <strong>die</strong> den<br />

Staatsbildungsprozess in Gang setzten <strong>und</strong> der sich für manchen Betrachter im<br />

<strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> widerspiegelt.<br />

1 Vgl. KELLER (1988a), S. 577 ff.<br />

2 TABACCO (1979)<br />

3 ULLMANN (1977), S. 77: "Indeed, it was the fusion of this still largely embryonic<br />

nationalism in the thirteenth century with the emerging concept of the State as a natural unit which<br />

was to yield the national State. This combination of nationalism and etatism was to seal the demise of<br />

me<strong>die</strong>val universality, totality <strong>und</strong> unipolarity, and to provide the scaffolding of the modern European<br />

structure." Siehe auch CANNING (1988), S. 350 f.<br />

4 KANTOROWICZ (1927), S. 430<br />

5 U. a. STRAYER (1975), TABACCO (1979), ULLMANN (1977)<br />

84


Die herausragende Stellung der Gerechtigkeit interessierte <strong>die</strong> ersten Interpreten<br />

des Bildes, <strong>die</strong> eine ausführlichere Deutung hinterlassen haben. Sowohl für Lodovico<br />

Zdekauer (1913) 6 <strong>und</strong> Ernst H. Kantorowicz (1957) 7 als auch später für Wolfgang<br />

Schild (1988) 8 ist ihre isolierte Abbildung in der Allegorie des Buon Governo ein<br />

frühes visuelles Beispiel dafür, dass <strong>die</strong> Gerechtigkeit als Tugend wieder auf <strong>die</strong><br />

politische Sphäre bezogen wird <strong>und</strong> zwar auf eine Weise, wie es in den Jahrh<strong>und</strong>erten<br />

nach dem Zusammenbruch des Römischen Reichs nicht mehr vorgekommen war. 9 Sie<br />

ist nicht mehr gänzlich in das ethisch-religiöse System des Mittelalters eingeb<strong>und</strong>en,<br />

sei es als eine Tochter Gottes (Justitia, Pax, Misericordia) oder als Kardinaltugend<br />

(Justitia, Prudentia, Fortitudo, Magnanimitas), 10 sondern erscheint wieder als <strong>die</strong><br />

Tugend, <strong>die</strong> <strong>die</strong> menschliche Gemeinschaft zusammenbindet. Gleichzeitig erhält auch<br />

<strong>die</strong> Tugend der Caritas, <strong>die</strong> göttliche Liebe, einen zusätzlichen Sinngehalt, der <strong>die</strong><br />

Liebe auf das unpersönliche Vaterland lenkt, ein Gefühl, das das feudale Mittelalter<br />

nicht gekannt hatte. 11 Kantarowicz führt in <strong>die</strong>sem Zusammenhang eine um 1300<br />

allgemein geltende Formel an, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Vaterlandsliebe auf <strong>die</strong> göttliche Liebe<br />

zurückführt: Amor patriae in radice caritatis f<strong>und</strong>atur - <strong>die</strong> Vaterlandsliebe wurzelt in<br />

der göttlichen Liebe. 12<br />

Für Lodovico Zdekauer ist sowohl das neue Verständnis der Gerechtigkeit als<br />

auch das neue Gefühl der Vaterlandsliebe eng mit der Kommune als gesellschaftliche<br />

Organisationsform verb<strong>und</strong>en. Denn auf der Gr<strong>und</strong>lage einer wachsenden politischen<br />

Basis wandte sich <strong>die</strong>se zunehmend gegen <strong>die</strong> feudale, auf persönliche Treue- <strong>und</strong><br />

Schutzverhältnissen beruhende "Unordnung". Erst <strong>die</strong> Kommune erlaubte es wieder,<br />

ein auf Gleichheit beruhendes Gerechtigkeitsideal herauszukristallisieren <strong>und</strong> einen<br />

Gerechtigkeitsbegriff zu definieren, der sich auf <strong>die</strong> politische Gemeinschaft als<br />

Ganzes bezog 13 <strong>und</strong> damit ermöglichte, <strong>die</strong>se Gemeinschaft im politischen Sinne als<br />

Heimat zu begreifen. 14 Nur so waren wieder <strong>die</strong> Voraussetzungen geschaffen, um<br />

Justitia isoliert darzustellen, wie es <strong>die</strong> Antike, aber nicht <strong>die</strong> Kunst des christlichen<br />

6 ZDEKAUER (1913), S. 396 ff., bes. S. 402 ff.<br />

7 KANTOROWICZ (1957), S. 125 ff., bes. S. 129 f.<br />

8 SCHILD (1988), S. 130 ff., bes. S. 137 ff.<br />

9 ZDEKAUER (1913), S. 396 ff., bes. S. 403<br />

10 Ebd., S. 397 f., für <strong>die</strong> Spezifizierung der <strong>von</strong> ZDEKAUER genannten "Schwestern der<br />

Justitia", siehe SCHILD (1988), S. 86 ff.<br />

11 WALEY (1969); CANNING (1988), S. 352<br />

12 KANTOROWICZ (1957), S. 130<br />

13 ZDEKAUER (1913), S. 399<br />

14 Ebd., S. 404<br />

85


Mittelalters gekannt hatte. 15 Partikulare Gerichtsbarkeiten, Selbstjustiz <strong>und</strong> Fehde, <strong>die</strong><br />

<strong>die</strong> vorhergehende Epoche auszeichnen, erhalten im <strong>Freskenzyklus</strong> nun einen<br />

negativen Sinngehalt. 16 Ziel <strong>und</strong> Aufgabe der Gerechtigkeit wird <strong>die</strong> Verwirklichung<br />

des Buon Governo, des <strong>gute</strong>n Regiments, das gedanklich mit dem Gemeinwohl der<br />

Bürger verknüpft ist: 17 "Die Idee der <strong>gute</strong>n Regierung wird so Gr<strong>und</strong>lage der Gerechtigkeit,<br />

was <strong>die</strong> Justitia an das sich neu herausbildende Konzept des Staates<br />

heranrücken lässt, den sie letzten Endes personifizieren wird." 18<br />

Während Zdekauer das in der Justitia zum Ausdruck kommende neue<br />

Gerechtigkeitsideal an <strong>die</strong> kommunale Ordnung bindet, bezieht es Ernst H.<br />

Kantorowicz auf ein sich damals generell neu herausbildendes<br />

Herrschaftsverständnis. 19 Für ihn verdeutlicht Justitia das um <strong>die</strong> wissenschaftliche<br />

Jurisprudenz zentrierte Herrschertum, das seit dem 12. Jahrh<strong>und</strong>ert das liturgische,<br />

christozentrische, mit Gottesgnaden verb<strong>und</strong>ene Königtum abzulösen begonnen hatte.<br />

Gr<strong>und</strong>lage hierfür war das neue Studium der Rechtswissenschaften, das seit dem 12.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert in mehreren italienischen Städten zu Universitätsgründungen führte, mit<br />

einer herausragenden Stellung Bolognas. Ausgangspunkt <strong>die</strong>ser neuen<br />

Rechtswissenschaften war das römische Recht, das auf der Gr<strong>und</strong>lage der<br />

wiederentdeckten Kodizes <strong>von</strong> Kaiser Justinian stu<strong>die</strong>rt wurde. Das <strong>von</strong> den Juristen<br />

ausformulierte rechtzentrierte Herrschaftsverständnis definiert <strong>die</strong> Gerechtigkeit als<br />

iustitia mediatrix, als heilige Gerechtigkeit, <strong>die</strong> zwischen dem göttlichen Recht <strong>über</strong><br />

ihr <strong>und</strong> den <strong>von</strong> den Menschen erlassenen Gesetzen unter ihr vermittelt. 20 Im<br />

<strong>Freskenzyklus</strong> wird <strong>die</strong>se Zwischenstellung der Justitia dargestellt einerseits durch<br />

Sapientia oberhalb <strong>von</strong> ihr, der göttlichen Weisheit, andererseits durch Concordia<br />

unterhalb <strong>von</strong> ihr, der Eintracht als Folge der <strong>von</strong> den Menschen verordneten<br />

gerechten Gesetze. Gegenstück der iustitia mediatrix ist der Herrscher als lex animata<br />

oder iustitia animata, als lebendes Gesetz oder lebendige Gerechtigkeit. 21 Dies<br />

bedeutet, dass der Herrscher durch Rechtsetzung <strong>und</strong> Rechtdurchsetzung ebenfalls<br />

eine Mittlerfunktion zwischen dem göttlichen Recht <strong>und</strong> menschlichem Recht zu<br />

erfüllen hat. Ausgehend vom römischen Recht, das in der Überlieferung Justinians<br />

kaiserlich geprägt war, wird <strong>die</strong>se Mittlerfunktion zunächst vor allem in der Person<br />

15 Ebd., S. 399 f.<br />

16 Ebd., S. 402<br />

17 Ebd., S. 402<br />

18 Ebd., S. 404<br />

19 KANTOROWICZ (1957), S. 106 ff., bes. S. 129 ff.<br />

20 Ebd., S. 125 ff.<br />

21 Ebd., S. 145 ff., bes. S. 152<br />

86


des Kaisers gesehen, der <strong>von</strong> Gott <strong>die</strong> Erlaubnis erhalten hat, Gesetze zu erlassen <strong>und</strong><br />

"lebendes Gesetz" in menschlicher Gestalt zu sein. Dieser rechtswissenschaftlichen<br />

Tradition verpflichtet, hat für Kantorowicz <strong>die</strong> Figur der Kommune im <strong>Freskenzyklus</strong><br />

deshalb auch eine kaiserähnliche Gestalt. 22<br />

Wolfgang Schild lenkt dann <strong>die</strong> Aufmerksamkeit auf <strong>die</strong> Betonung der Strafgewalt<br />

in den Bildern des <strong>Freskenzyklus</strong>. Sie ist Teil einer Entwicklung des<br />

Gerechtigkeitsverständnisses, <strong>die</strong> dazu führte, dass Justitia eine ausschliesslich auf<br />

den Staat bezogene Tugend wurde. Subjekt der Strafgewalt konnte nur der Staat selbst<br />

sein, denn der Bürger hatte sich jeder Gewalt zu enthalten. 23 Für Schild ist deshalb<br />

nicht nur <strong>die</strong> grosse Justitia links aussen im <strong>Freskenzyklus</strong> auf <strong>die</strong> staatliche Ordnung<br />

bezogen, sondern auch <strong>die</strong> kleine Justitia in der Reihe der Kardinaltugenden. Sie sei<br />

hier nicht als persönliche Tugend abgebildet, sondern als konkretes Bild des Rechts<br />

als Strafgewalt. Denn <strong>die</strong> Vorstellung, das für <strong>die</strong> Durchsetzung der Gerechtigkeit<br />

allein <strong>die</strong> Machtträger des Staates verantwortlich sind, hob <strong>die</strong> Gerechtigkeit als<br />

eigenständige Tugend im Sinne <strong>von</strong> Rechtschaffenheit, Menschenfre<strong>und</strong>lichkeit oder<br />

Freigebigkeit auf. 24 Das gerechte Handeln der Bürger entspricht ihrem<br />

Gesetzesgehorsam. Justitia in <strong>die</strong>ser Bedeutung tritt für Schild auch in Beziehung zur<br />

Pax. Diese sei im <strong>Freskenzyklus</strong> nicht als Friedfertigkeit zu verstehen, sondern als<br />

“ein Zustand der staatlichen Ordnung”, der ebenfalls mit Gehorsam gegen<strong>über</strong> den<br />

Gesetzen sowie Verzicht auf Gewalt, Selbstjustiz <strong>und</strong> ähnlichem verb<strong>und</strong>en sei. 25<br />

Nebst der Auseinandersetzung mit der Gerechtigkeit wird auch <strong>die</strong> Figur der<br />

Kommune selbst als ein deutliches Zeichen dafür gesehen, dass sich im <strong>Freskenzyklus</strong><br />

<strong>die</strong> Idee des rechtzentrierten Stadtstaates offenbart. Mario Ascheri (1991) hebt in<br />

<strong>die</strong>sem Zusammenhang <strong>die</strong> Veranschaulichung des Souveränitätsgedankens hervor. 26<br />

Inspiriert <strong>von</strong> der Rechtslehre an den Universitäten Italiens, hätten <strong>die</strong> Sienesen<br />

bewusst eine Personifikation der Kommune gewollt, <strong>die</strong> eine kaiserliche Erscheinung<br />

hat. Die Kommune tritt an <strong>die</strong> Stelle des Kaisers <strong>und</strong> erhält <strong>die</strong>selbe<br />

Herrschaftsfunktion, <strong>die</strong> damals <strong>die</strong> Juristen auf der Gr<strong>und</strong>lage des Justitianischen<br />

Kodex dem Kaiser zusprachen. 27 Die Kommune sieht sich als "sibi princeps", als ihr<br />

eigener Fürst, der, unabhängig <strong>von</strong> jeglicher Obrigkeit, legitimiert ist, Gesetze zu<br />

22 Ebd., S. 130<br />

23 SCHILD (1988), S. 136<br />

24 Ebd., S. 137<br />

25 Ebd., S. 140 f.<br />

26 ASCHERI (1991), S. 164 ff.<br />

27 Ebd., S. 164<br />

87


erlassen. 28 Das Bild nimmt hiermit <strong>die</strong> Souveränitätslehre der italienischen Stadtstaaten<br />

voraus, <strong>die</strong> wenig später der Jurist Bartolus de Sassoferrato um <strong>die</strong> Mitte des 14.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts schriftlich festhalten wird. In <strong>die</strong>sem Zusammenhang lenkt Ascheri auch<br />

<strong>die</strong> Aufmerksamkeit auf <strong>die</strong> Römische Wölfin zu Füssen der Kommune: Er erblickt in<br />

ihr nicht nur einen Hinweis auf <strong>die</strong> Gründungslegende Sienas, sondern das Symbol<br />

Roms in bewusster Anspielung auf <strong>die</strong> Römische Gesetzessammlung des Kaisers<br />

Justinian. Sie hat ihre Entsprechung in der Sieneser Verfassung. Jene aus den Jahren<br />

1337/39 beruft sich explizit auf <strong>die</strong> römische Gesetzessammlung, indem sie ihre<br />

Einleitung mit den zwei selben Worten - Deo auctore - beginnt wie jene Justinians.<br />

Diese Gleichsetzung der eigenen Gesetze mit jenen Roms zeugen nicht nur vom<br />

Selbstbewusstsein der kommunalen Rechtsautorität, sondern verneinen auch <strong>die</strong><br />

Autorität eines dar<strong>über</strong> stehenden zeitgenössischen Kaisertums, das sich in der<br />

Rechtsnachfolge der römischen Kaiser definiert.<br />

Thomas Szabò (1993) schliesslich ergänzt <strong>die</strong> Deutung des <strong>Freskenzyklus</strong> als eine<br />

Darstellung des rechtzentrierten, souveränen Stadtstaates um den Aspekt der Territorialität:<br />

Für ihn visualisiert sich in den Auswirkungen des Buon Governo das Abbild<br />

des staatlichen Territoriums der Kommune <strong>von</strong> Siena. 29 <strong>Der</strong> <strong>Freskenzyklus</strong> lege <strong>die</strong><br />

Tatsache offen, dass <strong>die</strong> Kommune <strong>von</strong> Siena sich im frühen Trecento nicht mehr als<br />

Herrschaftsträger innerhalb der in der kaiserlichen Macht gipfelnden Lehenspyramide<br />

verstehe, 30 sondern schon als ein souveränes Gebilde. Festgehalten werde dabei, dass<br />

sich <strong>die</strong> Herrschaft der Kommune <strong>über</strong> ein grösseres Territorium erstreckt, das sich<br />

dem Einfluss des Imperiums entzieht. <strong>Der</strong> <strong>Freskenzyklus</strong> ist für Szabò deshalb das<br />

"Abbild einer neuen politischen Realität", also <strong>die</strong> "Visualisierung des spätmittelalterlichen<br />

Territorialstaates <strong>und</strong> der <strong>von</strong> ihm garantierten Ordnung." 31<br />

28 Ebd., S. 165<br />

29 SZABÒ (1993), S. 65<br />

30 .Ebd., S. 56 f.<br />

31 Ebd., S. 65<br />

88


4.2. Porträt des Sieneser Staates<br />

Während <strong>die</strong> bisher besprochenen Deutungen den Freskenyzklus in den<br />

allgemeinen Prozess der Staatsbildung stellen, der sich seit dem 12. Jahrh<strong>und</strong>ert im<br />

Abendland abzeichnete, rücken andere Autoren <strong>die</strong> spezifisch sienesische<br />

Auseinandersetzung mit <strong>die</strong>ser allgemeinen Entwicklung in den Blickpunkt ihrer<br />

Deutung. So setzt sich Enrico Guidoni (1971) erstmals mit der in den Auswirkungen<br />

des Buon Governo dargestellten Stadt auseinander <strong>und</strong> erkennt darin eine Darstellung<br />

Sienas. Die Stadt erscheint als veduta dal vero, ein wenig vereinfacht, doch inspiriert<br />

<strong>von</strong> der Sicht auf den Campo, wie er sich im Jahr 1338 darstellt. Aussichtspunkt ist<br />

der Palast der Kommune selbst, wo sich der <strong>Freskenzyklus</strong> befindet. Guidoni geht so<br />

weit, dass er einzelne Gebäude der Stadt identifizieren kann, nicht nur links oben den<br />

Dom, sondern auch weitere Kirchen <strong>und</strong> Paläste grosser Familien, so zum Beispiel <strong>die</strong><br />

Kirche San Cristoforo hinten rechts, den Palazzo Accarigi vorne im Bild sowie ein<br />

kleines Eck der Rocca Salimbeni. 32 Uta Feldges (1980) dehnt <strong>die</strong> Ansicht Sienas dann<br />

auf das Landschaftsbild aus <strong>und</strong> sieht darin ein “topographisches Porträt”, das<br />

grossflächig den Sieneser Stadtstaat wiedergibt. 33 Stadt <strong>und</strong> Land <strong>von</strong> Siena sind als<br />

Panorama dargestellt, eine Mischung <strong>von</strong> Poträt <strong>und</strong> summarischer Darstellung, um<br />

eine Gesamtschau des Gebietes zu geben, <strong>über</strong> das <strong>die</strong> Gute Regierung herrscht. Diese<br />

Gesamtschau basiert gemäss Feldges einerseits auf echter Beobachtung, andererseits<br />

zwang ein so grosses Spektrum zur Vereinfachung <strong>und</strong> Komprimierung, um alle<br />

wesentlichen Bestandteile des gesamten sienesischen Territoriums vor Augen zu<br />

führen. Feldges stellt <strong>die</strong> These auf, dass <strong>die</strong> Abbildung unter <strong>die</strong>sen Voraussetzungen<br />

im wesentlichen dem R<strong>und</strong>blick entspricht, der sich damals dem Betrachter <strong>von</strong> dem<br />

im Bau befindenden Turm des Palazzo Pubblico eröffnete. 34<br />

Nach Guidoni (1971) <strong>und</strong> Feldges (1980) stellten sehr viele Autoren <strong>die</strong> konkrete<br />

Verbindung des <strong>Freskenzyklus</strong> mit dem Sieneser Stadstaat her. Dabei rückt<br />

zunehmend <strong>die</strong> Sieneser Verfassung als Gr<strong>und</strong>lage des Bildprogramms in den<br />

Vordergr<strong>und</strong>. Schon erwähnt wurde in <strong>die</strong>sem Zusammenhang <strong>die</strong> Deutung Mario<br />

Ascheris (1991), der in der Allegorie des Buon Governo Sienas Souveränitätsanspruch<br />

wiedergegeben sieht, wie ihn explizit auch <strong>die</strong> Verfassung <strong>von</strong> 1337/39 festhält. Eine<br />

ausführliche Untersuchung der Sieneser Verfassungen, Gesetzestexte, Amtseide <strong>und</strong><br />

32 GUIDONI (1971), Schaubild 67, S. 86<br />

33 FELDGES (1980), S. 60 ff.<br />

34 Ebd., S. 64 f.<br />

89


Ratsprotokolle zur Zeit der Regierung der Nove (1287-1355) wurde <strong>von</strong> Lauretta<br />

Carbone (1977) durchgeführt <strong>und</strong> im Hinblick auf <strong>die</strong> positiven <strong>und</strong> negativen Werte,<br />

<strong>die</strong> im <strong>Freskenzyklus</strong> dargestellt sind, ausgewertet. Chiara Frugoni (1983) hat <strong>die</strong><br />

Untersuchung Carbones herangezogen, um <strong>die</strong> propagandistische Note des<br />

<strong>Freskenzyklus</strong> für <strong>die</strong> Regierung der Nove herauszustellen. 35 Quentin Skinner (1986)<br />

sieht im <strong>Freskenzyklus</strong> auf der Gr<strong>und</strong>lage der Sieneser Verfassung <strong>die</strong> Wiedergabe<br />

des republikanischen Denkens in der Tradition des Prähumanismus. 36 Konkret<br />

widerspiegelt <strong>die</strong> Figur des Regenten, der als alter Herr – persona sena – dargestellt<br />

ist, sowohl <strong>die</strong> Stadt als auch <strong>die</strong> Regierung <strong>von</strong> Siena, <strong>die</strong> gemäss republikanischer<br />

Lehre des Prähumanismus nur eine Regierung der Vielen sein kann. 37 Randolph Starn<br />

(1987/92) verbindet <strong>die</strong> Schriftlichkeit der Sieneser Gesetztestexte, Ratsprotokolle<br />

<strong>und</strong> Amtseide mit den vielen Inschriften in der Allegorie des Buon Governo <strong>und</strong> sieht<br />

<strong>die</strong>se öffentliche Schriftlichkeit als Ausdruck <strong>von</strong> Sienas republikanischen Staatsform<br />

im Gegensatz zur Monarchie. 38 Hans Belting (1989) betrachtet <strong>die</strong> Sieneser<br />

Verfassung als Urtext für den <strong>Freskenzyklus</strong>. Sowohl <strong>die</strong> Bilder als auch <strong>die</strong><br />

Verslegenden würden sich wie ein Kommentar auf <strong>die</strong> Sieneser Verfassung beziehen. 39<br />

Bram Kempers (1989) schliesslich will <strong>die</strong> Sieneser Verfassung als den Text<br />

verstanden wissen, der ausschliesslich das Bildprogramm des <strong>Freskenzyklus</strong><br />

beeinflusst hat. Für ihn bieten <strong>die</strong> drei Wände des <strong>Freskenzyklus</strong> zusammen ein<br />

"Panorama, in dem <strong>die</strong> Ideale der Professionalisierung, Staatsbildung <strong>und</strong><br />

Zivilisation" auf der Gr<strong>und</strong>lage der Sieneser Gesetzessammlung zum Ausdruck<br />

gebracht wurden." 40 Diese enthalte sowohl <strong>die</strong> Führungsziele des Staates als auch <strong>die</strong><br />

Aufzählung <strong>von</strong> Negativa, <strong>die</strong> als kontrastierende Folie für <strong>die</strong> positiven Werte<br />

<strong>die</strong>nten. Konkret sieht Kempers in der Figur der Kommune <strong>und</strong> der grossen Justitia<br />

links aussen <strong>die</strong> Quellen der Staatsmacht. In der Sapientia oberhalb der Justitia<br />

erkennt er eine Anspielung auf <strong>die</strong> Expertenkommissionen oder Savi, <strong>die</strong> in Siena für<br />

<strong>die</strong> Ausarbeitung der Gesetzesvorlagen ernannt wurden. 41 Die Tugenden in der<br />

Allegorie des Buon Governo sind für ihn wie ein Index der in den Gesetzen <strong>und</strong><br />

Amtseiden zum Ausdruck kommenden politischen Ideale zu lesen. Und <strong>die</strong> Soldaten,<br />

35 Zur Deutung FRUGONIS siehe unten.<br />

36 Zur Deutung SKINNERS siehe unten.<br />

37 Siehe unten sowie besonders SKINNER (1999), S. 11 ff.<br />

38 Zur Deutung STARNS siehe unten.<br />

39 Siehe zu BELTING unten.<br />

40 Ebd., S. 78<br />

41 Ebd., S. 76 u. S. 81 n.45<br />

90


<strong>die</strong> das Podium bewachen, veranschaulichen für ihn schliesslich <strong>die</strong> militärische<br />

Macht der Kommune, den Frieden gegebenenfalls auch mit Gewalt durchzusetzen. 42<br />

Die Auswirkungen des Buon Governo zeigten indessen das Regierungsprogramm der<br />

Nove, wie es <strong>die</strong> Vielzahl der Sieneser Bestimmungen zur Handels-, Gewerbe- <strong>und</strong><br />

Agrarpolitik, zur städtebaulichen Ordnung, Infrastruktur-, Bildungs- <strong>und</strong> Sicherheitspolitik<br />

festhalte. Das Strafrecht komme im Gegenzug im Mal Governo zum<br />

Ausdruck, für Kempers "eine suggestive Abbildung der Zügellosigkeit, <strong>die</strong> entsteht,<br />

wenn das Gesetz nicht eingehalten wird. Es ist eine Darstellung <strong>von</strong> dem, was im<br />

Strafrecht verboten wird <strong>und</strong> <strong>von</strong> dem, was passieren wird unter dem Regiment <strong>von</strong><br />

Rebellen." 43<br />

<strong>Der</strong> verfassungsgeschichtlichen Deutung geht Riklin (1996) in der Allegorie des<br />

Buon Governo ausführlicher nach. 44 Für ihn „wäre es unbegreiflich, wenn im<br />

Zeitpunkt der Totalrevision der Verfassung 45 <strong>die</strong> Idee gerechter Gesetze nicht in <strong>die</strong><br />

Allegorie des <strong>gute</strong>n Regiments eingegangen wäre.“ 46 In direktem Bezug zur Sieneser<br />

Verfassung sieht er deshalb <strong>die</strong> Justitia links aussen, <strong>die</strong> er als Gesetzesgerechtigkeit<br />

deutet. Das Band, das <strong>von</strong> ihr ausgeht, sei das Band der Gesetzesgerechtigkeit, das <strong>die</strong><br />

Bürger bindet <strong>und</strong> an das Legalitätsprinzip der Sieneser Kommune erinnert. Das<br />

Proemium zur Verfassung <strong>von</strong> 1337/39 vermittle ausserdem durch seinen religiösen<br />

Bezugsrahmen den Zusammenhang zwischen göttlicher Weisheit <strong>und</strong><br />

Gesetzesgerechtigkeit, wie es <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> in der Figur der Sapientia<br />

oberhalb Justitias zum Ausdruck gebracht habe. <strong>Der</strong> religiöse Bezugsrahmen des<br />

Proemium widerspiegelt sich für Riklin ferner in den religiösen Symbolen r<strong>und</strong> um<br />

<strong>die</strong> grosse Regentenfigur des „Gran Vecchio“. 47 Die drei Figuren Justitia, Pax <strong>und</strong><br />

Concordia entsprächen den prioritären Staatsideale Sienas, das heisst jenen, <strong>die</strong> am<br />

häufigsten in den Stadtgesetzen, Ratsprotokollen, Petitionen <strong>und</strong> Chroniken genannt<br />

werden. Sie stehen für Riklin in einer Dreieck-Beziehung. Wenig ergiebig seien <strong>die</strong><br />

Gesetzestexte für <strong>die</strong> Deutung der politischen Tugenden im Sinne persönlicher<br />

Eigenschaften der Amtsträger <strong>und</strong> Bürger. 48<br />

42 KEMPERS (1989), S. 77 u. S. 82 n.60<br />

43 Ebd., S. 77; s.a. S. 83 n.65 für <strong>die</strong> angegebenen Gesetzesrubriken.<br />

44 RIKLIN (1996), S. 72 ff.<br />

45 Siehe oben, S. 4 ff.<br />

46 RIKLIN (1996), S. 76<br />

47 Zur religiös-biblischen Deutung RIKLINS siehe unten.<br />

48 RIKLIN (1996), S. 82<br />

91


Im einzelnen setzt sich Riklin mit den 24 Bürgern auseinander, <strong>die</strong> sich am Band<br />

der Gesetzesgerechtigkeit halten. Während manche Autoren, zum Beispiel Bowsky,<br />

Greenstein, Frugoni <strong>und</strong> Starn sie für <strong>die</strong> 24 Prioren gemäss der Verfassung <strong>von</strong> 1262<br />

halten, haben Kempers, Rubinstein <strong>und</strong> ebenso Frugoni sie mit den Chefmagistraten<br />

oder Ordini zur Zeit der Nove gleichgesetzt. Sie kamen aber nur schwer auf <strong>die</strong> Zahl<br />

24. 49 Riklin schlägt folgende Zusammensetzung vor: Podestà, Capitano del Popolo,<br />

Capitano di Guerra, Maggior Sindaco, vier Provveditori der Biccherna, vier Konsuln<br />

der Mercanzia, drei Konsuln der Cavalieri <strong>und</strong> <strong>die</strong> neun Nove. 50 Als Chefmagistraten<br />

sind <strong>die</strong> 24 nicht nur dem Legalitätsprinzip verpflichtet, sondern auch an ihren<br />

Amtseid als ein spezifischer Ausdruck der Gesetzesgerechtigkeit geb<strong>und</strong>en.<br />

Nebst den 24 Bürgern bergen noch weiter Figuren in der Allegorie des Buon<br />

Governo konkrete Siena-Bezüge: Die Figur des Regenten, <strong>die</strong> Spiegelung der<br />

Stadtgesetze in der Konstellation der Staatsideale <strong>und</strong> teilweise der Tugenden, <strong>die</strong><br />

Unterwerfung der Feudalherren, <strong>die</strong> Illustration der wehrhaften Republik, <strong>die</strong><br />

Abstufung der sozialen Schichten. Deutlich werden <strong>die</strong>se Hinweise dann in den<br />

Auswirkungen des Buon Governo. Siena-Bezüge gebe es aber auch im Mal Governo,<br />

mindestens in der Figur der Divisio (schwarz-weiss, <strong>die</strong> Farben der Sieneser<br />

Republik), vielleicht auch in dem ideengeschichtlich unüblichen Lasterkatalog, der<br />

spezifische sienesische Erfahrungen bündle. „Richtig ist, dass <strong>Lorenzetti</strong> durch <strong>die</strong><br />

Idealisierung des <strong>gute</strong>n Regiments das reale Siena in <strong>die</strong> allgemeingültige Utopie<br />

einer Stadtrepublik integriert <strong>und</strong> <strong>die</strong>se Utopie mit einem Zerrbild des realen Sienas<br />

konfrontiert.“ 51<br />

Diese Ansätze weiterführend, hat Max Seidel (1997/1999) <strong>die</strong> Auswirkungen des<br />

Buon Governo als ein Porträt des Sieneser Staates bezeichnet. Damit stelle es sowohl<br />

<strong>die</strong> konkrete Sieneser Politik dar als auch ihre Idealisierung. Gleichzeitig enthalte<br />

<strong>die</strong>ses Porträt als Idealbild aber auch <strong>die</strong> symbolische Wiedergabe der<br />

zeitgenössischen Staatstheorie sowie <strong>die</strong> mythologisch-astrologische Überhöhung<br />

einer politischen Doktrin. 52<br />

49 Vgl. Zusammensetzung KEMPERS: Nove, Podestà, Capitano del Popolo, Maggior Sindaco, 4<br />

Provveditori der Biccherna, 3 Esecutori der Gabella, 3 Konsuln der Mercanzia, 2 Camerarii (der<br />

Biccherna <strong>und</strong> der Gabella). Dies sind 25. Ausserdem waren es immer 4 Konsuln der Mercanzia. Vgl.<br />

andere Zusammensetzung RUBINSTEIN (1997) <strong>und</strong> Diskussion bei SKINNER (1999). Siehe auch<br />

FRUGONI (1983), S. 136, <strong>die</strong> weiter unten besprochen wird.<br />

50 Vgl. zu den einzelnen Magistraten oben Kapitel 1.2.<br />

51 RIKLIN (1996), S. 87<br />

52 SEIDEL (1999), S. 7<br />

92


Als Darstellung <strong>von</strong> Sienas Politik sieht Seidel im Panoramabild <strong>die</strong> Sieneser<br />

Innen- <strong>und</strong> Sicherheits-, Agrar-, Fiskal-, Handels-, Universitäts-, Verkehrs-, <strong>und</strong><br />

Baupolitik festgehalten. 53 Ausserdem sieht er Sienas Kleiderverordnung abgebildet, <strong>die</strong><br />

auch einen Hinweis auf Sienas Standesordnung zur Zeit <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s gebe. 54<br />

Die Gesprächsprotokolle der kommunalen Räte, <strong>die</strong> Sieneser Statuten, <strong>die</strong><br />

Kleiderverordnung <strong>von</strong> 1332 sowie insbesondere <strong>die</strong> Verfassung <strong>von</strong> 1337/39<br />

analysierend, geht Seidel <strong>die</strong>sen einzelnen Politikbereichen nach <strong>und</strong> zeigt auf, wie sie<br />

das Porträt des Sieneser Staates beeinflusst haben. 55 Die Idealisierung, <strong>die</strong> mit <strong>die</strong>sem<br />

Stadtporträt gleichzeitig stattgef<strong>und</strong>en hat, setzt Seidel schliesslich mit der Gattung<br />

der zeitgenössischen Städtelaudes in Beziehung. 56 Sie nimmt ausserdem Modeerscheinungen<br />

auf, seien es solche der Kleidung oder der Lebensart wie zum Beispiel der<br />

damalige Wunsch der Reichen, zum Vergnügen aufs Land in eine anmutige Villa zu<br />

ziehen. 57 Die Ideale Eintracht <strong>und</strong> Frieden zeigen sich indessen sowohl im Bild der 10<br />

Tanzenden als auch in der Reihe der 24 Bürger. Seidel weist darauf hin, dass sowohl<br />

<strong>die</strong> Zahl Zehn 58 als auch <strong>die</strong> Zahl Vier<strong>und</strong>zwanzig 59 den tieferen Bedeutungsgehalt <strong>von</strong><br />

Einheit in Vielheit hätten. <strong>Der</strong> Tanz kennzeichne ferner <strong>die</strong> Stadt nochmals als Siena,<br />

da sich <strong>die</strong> Tänzer in Form eines S, dem Anfangsbuchstaben Sienas, bewegten. Einst<br />

soll <strong>die</strong>ses Zeichen auch im Kleid der Jungfrau Maria zu sehen gewesen sein, <strong>die</strong> <strong>von</strong><br />

Giovanni Pisano in <strong>die</strong> Domfassade gemeisselt wurde. 60<br />

Nebst Sienas Politik <strong>und</strong> seinen Idealen verbergen sich für Seidel im<br />

Panoramabild <strong>von</strong> Stadt <strong>und</strong> Land aber auch <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>züge der zeitgenössischen<br />

Staatstheorie. 61 Dabei greift er vor allem auf Thomas <strong>von</strong> Aquin <strong>und</strong> seine Schüler<br />

Egidio Romano <strong>und</strong> Tolomeo da Lucca zurück, <strong>die</strong> unter Berufung auf Aristoteles in<br />

der zeitgenössischen Philosophie eine positive Sicht auf <strong>die</strong> Stadt begründet haben.<br />

Ihre <strong>gute</strong> Ordnung verwirkliche das glückliche <strong>und</strong> <strong>gute</strong> Leben, das Tolomeo da<br />

Lucca mit der Harmonie <strong>von</strong> Tönen vergleicht <strong>und</strong> dessen Ausgestaltung Egidio<br />

Romano im einzelnen aufzählt. Im Bild erkennt Seidel den Tanz als Ausdruck <strong>die</strong>ser<br />

<strong>gute</strong>n Ordnung 62 sowie auch <strong>die</strong> einzelnen <strong>von</strong> Egidio Romano aufgezählten Güter: 63<br />

53 Ebd., S. 6 ff.<br />

54 SEIDEL (1997), S. 37 f., S. 55 ff. <strong>und</strong> S. 84 f.<br />

55 SEIDEL (1999), S. 17 ff.<br />

56 Ebd., S. 16 f.<br />

57 Ebd., S. 45 f. <strong>und</strong> DERS. (1997), S. 37 f.<br />

58 SEIDEL (1997), S. 53<br />

59 Ebd., S. 72<br />

60 Ebd., S. 53; Seidel zitiert MILNER (1992/94)<br />

61 SEIDEL (1999), S. 7 ff.<br />

62 DERS. (1997), S. 52<br />

63 DERS. (1999), S. 12 ff.<br />

93


das Glück des Zusammenlebens, <strong>die</strong> wirtschaftlichen Realien, <strong>die</strong><br />

Verteidigungsbereitschaft, Handel <strong>und</strong> Markt, Hochzeiten <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>schaften sowie<br />

das Strafrecht. Thomas <strong>von</strong> Aquin indessen beschreibt <strong>die</strong> ideale Lage einer Stadt, <strong>die</strong><br />

ges<strong>und</strong>, in der Höhe angesiedelt <strong>und</strong> auf eine fruchtbare Ebene schauen soll. 64 Die<br />

zeitgenössische Rechtslehre zieht Seidel indessen als <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>lage für <strong>die</strong><br />

Lichtmetaphorik im Panoramabild heran, das <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> durchgehend nicht<br />

<strong>von</strong> rechts, vom Fenster im Raum, der natürlichen Lichtquelle beleuchtet habe,<br />

sondern <strong>von</strong> links. Denn <strong>die</strong> Lichtquelle sei <strong>die</strong> grosse Justitia im Bild der Allegorie<br />

des Buon Governo, <strong>die</strong> Gerechtigkeit also, <strong>die</strong> <strong>von</strong> den zeitgenössischen Juristen als<br />

ein Licht beschrieben werde, das stärker sei als das Licht aller Himmelskörper. 65<br />

Schliesslich wird für Seidel <strong>die</strong> politische Doktrin im Porträt des Sieneser Staates<br />

astrologisch-mythologisch <strong>über</strong>höht. Besonders weist er auf <strong>die</strong> Venus im Fries<br />

oberhalb des Bildes hin. 66 Sie ist der Stern <strong>von</strong> Sienas Stadtgründung <strong>und</strong> hat im<br />

frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert einen Venuskult ins Leben gerufen, der sich auch im Bild des<br />

Tanzes wiederspiegelt. Als Stern der Liebe mystifiziere sie gemäss damaliger<br />

Astrologie, für <strong>die</strong> Seidel Cecco Ascoli zitiert, <strong>die</strong> politische Doktrin Sienas:<br />

"In Städten <strong>die</strong> [im Zeichen des Stiers unter dem Einfluss der Venus] gegründet<br />

beziehungsweise erbaut wurden, wie Bologna oder Siena, …. regiert das Volk<br />

<strong>und</strong> wird auch in Zukunft regieren ... Wo das Volk regieren wird, werden <strong>die</strong><br />

Adligen unterdrückt, es herrschen Tanz <strong>und</strong> Gesang, <strong>und</strong> Bologna wird niemals<br />

zerstört werden .... Venus bedeutet nämlich <strong>die</strong>s alles; deshalb sind [<strong>die</strong><br />

Bewohner] alle Sänger, Tänzer <strong>und</strong> suppositores <strong>und</strong> <strong>die</strong> Frauen sind schön,<br />

denn Venus bedeutet Frauen; <strong>und</strong> in der Stadt Siena verwirklicht sich <strong>die</strong>s alles,<br />

besonders <strong>die</strong> Schönheit der Frauen, weshalb <strong>die</strong>se Stadt <strong>von</strong> Cino da Pistoia<br />

[Dichterfre<strong>und</strong> Dantes <strong>und</strong> berühmter zeigenössischer Jurist, der in Siena um<br />

1321 gelehrt hat] <strong>die</strong> Stadt der Göttinnen genannt werde." 67<br />

Dieser positiven astrologischen Überhöhung auf der Seite des Buon Governo setzt<br />

Seidel ausserdem <strong>die</strong> negative der gente saturnina gegen<strong>über</strong>, <strong>die</strong> er auf der Wand des<br />

Mal Governo erblickt. Dem Bild des Sieneser locus amoenus unter dem günstigen<br />

Einfluss der Venus ist der locus horribilis des Tyrannenstaates gegen<strong>über</strong>gestellt. Er<br />

befindet sich unter dem Einfluss des Saturn. Seidel weist im einzelnen nach, dass<br />

Saturn in der mittelalterlichen Astrologie als der Inbegriff aller Laster gilt <strong>und</strong> der<br />

Prototyp für den Tyrannen ist, der das Gute meidet <strong>und</strong> das Böse erhält. 68<br />

64 Ebd., S. 36 ff.<br />

65 Ebd., S. 62 ff.<br />

66 SEIDEL (1997), S. 39 ff.<br />

67 CECCO D’ASCOLI: Commento all’Alcabizzo, zitiert nach SEIDEL (1997), S. 47<br />

68 SEIDEL (1999), S. 58 f.<br />

94


Zuletzt soll noch auf den Beitrag William Bowskys (1981) hingewiesen werden,<br />

der in der Tugend der Magnanimitas (Grossgesinntheit), deren gemeinsames Auftreten<br />

mit den Kardinaltugenden in der Kunst des Dugento <strong>und</strong> frühen Trecento eher<br />

ungewöhnlich ist, ein Charakteristikum des Sieneser Stadtstaates erblickt. 69 Die<br />

Tugend der Magnanimitas bezieht sich für ihn auf <strong>die</strong> Eigenheit der Sieneser<br />

Kommune, mehr öffentliche Mittel für <strong>die</strong> Kunst- <strong>und</strong> Kulturförderung bereit zu stellen<br />

<strong>und</strong> sich stärker in den Bereichen Religion, Bildung <strong>und</strong> Stadtplanung zu engagieren<br />

als <strong>die</strong> anderen Kommunen Mittel- <strong>und</strong> Oberitaliens. So war beispielsweise schon<br />

Mitte des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>die</strong> Sieneser Universität eine staatliche Institution. 70<br />

Während in anderen Städten <strong>die</strong> Universitäten sich vorwiegend selbst finanzierten, bezahlte<br />

in Siena <strong>die</strong> Kommune <strong>die</strong> Löhne der Professoren, mietete <strong>die</strong> Lokalitäten <strong>und</strong><br />

organisierte <strong>die</strong> Verträge zwischen den Professoren <strong>und</strong> Studenten. Auch <strong>die</strong><br />

Schönheit der Stadt war eine staatliche Aufgabe: Planung, Architektur <strong>und</strong><br />

Stadthygiene wurden immer stärker reglementiert. 71 Ausdruck der reziproken<br />

Beziehung <strong>von</strong> Religion <strong>und</strong> Weltlichkeit, <strong>von</strong> Kirche <strong>und</strong> Staat, sei einerseits <strong>die</strong><br />

Huldigung der Jungfrau Maria als Sienas Stadtregentin, andererseits <strong>die</strong> Symbiose<br />

zwischen Kultur <strong>und</strong> Staat in der darstellenden Kunst. Die grossen Sieneser Meister,<br />

Duccio di Buoninsegna, Simone Martini <strong>und</strong> schliesslich <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> sind<br />

alles Künstler, <strong>die</strong> <strong>von</strong> der Kommune grosse, ihr Wirken herausfordernde Aufträge<br />

erhalten. 72 Noch mehr als in anderen Kommunen seien in Siena Religion, Schönheit,<br />

Nützlichkeit <strong>und</strong> Politik unzertrennlich miteinander verb<strong>und</strong>en. 73 Dieses<br />

staatsbürgerliche Ideal, getragen <strong>von</strong> der Freigebigkeit der öffentlichen Hand, dem<br />

Willen zu Glanz <strong>und</strong> Herrlichkeit sowie zur öffentlichen Prachtentfaltung, habe sich<br />

unter anderem im <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s niedergeschlagen <strong>und</strong> im<br />

besonderen in der aristotelischen Tugend der Magnanimitas. 74<br />

69 BOWSKY (1981), S. 288 u. S. 293<br />

70 Ebd., S. 277<br />

71 Ebd., S. 294 ff.<br />

72 Ebd., S. 284 ff.<br />

73 Ebd., S. 298<br />

74 Ebd., S. 288, S. 293, S. 298<br />

95


4.3. Politische Propaganda<br />

Die eben genannte Symbiose <strong>von</strong> Politik <strong>und</strong> Kunst in Siena während des frühen<br />

Trecento führt Alexander Perrig (1981) zum Schluss, dass <strong>die</strong> Sienesische Kunst in<br />

jener Epoche zu einem grossen Teil als politische Propaganda zu deuten ist. Auch<br />

Chiara Frugoni verbindet den <strong>Freskenzyklus</strong> in erster Linie mit politischer<br />

Propaganda, 75 tut <strong>die</strong>s aber in Verbindung mit einer detaillierten ikonographischen<br />

Analyse des <strong>Freskenzyklus</strong>. Für sie ist er <strong>die</strong> Darstellung einer Welt der "zu schönen<br />

Bilder": 76 Siena unter der Regierung der Nove oder gente media werde absichtlich<br />

idealisiert dargestellt, um der zunehmenden Kritik aus den Reihen des popolo minuto<br />

<strong>und</strong> der Magnaten zu begegnen. So hätten <strong>die</strong> Nove bewusst <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> den<br />

Auftrag gegeben, zwei entgegengesetzte Welten darzustellen: Während <strong>die</strong> Bilder des<br />

Buon Governo <strong>die</strong> Vorteile der gegenwärtigen Regierung vor Augen führen, sollen <strong>die</strong><br />

Bilder des Mal Governo <strong>die</strong> Betrachter vor dem riskanten Versuch warnen, <strong>die</strong><br />

aktuelle Regierung zu stürzen. 77 Denn vom Standpunkt der Nove aus könnte allein<br />

ihrer Regierung <strong>die</strong> Gerechtigkeit verwirklichen, <strong>die</strong> Wohlstand <strong>und</strong> Frieden sichert. 78<br />

Die Alternative wäre <strong>die</strong> Tyrannei, <strong>die</strong> als politische Absurdität auf der Seite des Mal<br />

Governo abgebildet ist. 79 So erscheinen auf der einen Seite in "allzu schönen Bildern"<br />

<strong>die</strong> günstigen Wirkungen ihrer Regierung im Rahmen einer stilisierten Realität, <strong>die</strong><br />

unverkennbar <strong>die</strong> Züge Sienas <strong>und</strong> seiner Umgebung trägt, während <strong>die</strong> andere Seite<br />

anschaulich <strong>und</strong> in sehr konkreter <strong>und</strong> exakter Weise <strong>die</strong> Gefahren aufzeigt, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

politische Stabilität einer Regierung bedrohen - einer Regierung, <strong>die</strong> sich als <strong>die</strong> beste<br />

<strong>von</strong> allen verstehe. 80 Auf der Schmalseite, so meint Frugoni, stelle <strong>die</strong>se Regierung<br />

sich <strong>und</strong> ihre Werte allegorisch dar. Ihre Betonung des militärischen Siegs offenbare<br />

sich konkret in der Pax; denn sie hat <strong>die</strong> Gestalt der Victoria, <strong>die</strong> an der Seite der<br />

Fortitudo <strong>über</strong> ihre Feinde triumphiert. Sich auf Waffen ausruhend, hält sie in der<br />

Hand den Olivenzweig der Siegerin. 81<br />

75 FRUGONI (1983), S. 161<br />

76 Ebd., S. 119; der Titel des Kapitels, das in ihrem Buch den <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong><br />

<strong>Lorenzetti</strong>s behandelt, lautet "Immagini troppo belle: la realtà perfetta". In der englischen<br />

Übersetzung (1991) entsprechend "Images Too Beautiful: Reality Perfected".<br />

77 Ebd., S. 135<br />

78 Ebd., S. 153 f.<br />

79 Ebd., S. 145<br />

80 Ebd., S. 154<br />

81 Ebd., S. 151<br />

96


Propagandazwecken <strong>die</strong>ne auch <strong>die</strong> konkrete Darstellung der Prozession der<br />

Bürger, <strong>die</strong> aber nicht aus erwartungsgemäss neun, sondern aus vier<strong>und</strong>zwanzig<br />

Männern bestehe. 82 Mit der Zahl 24 aber, so scheint es Frugoni, haben <strong>die</strong> Neun<br />

absichtlich in <strong>die</strong> Vergangenheit zurückgegriffen, nämlich in <strong>die</strong> Zeit Mitte des 13.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts, als mit dem Regierungskollegium der 24 erstmals der Popolo an der<br />

Regierung beteiligt wurde. Sie würden einen Mythos vergangener Wirklichkeit<br />

wiedergeben, um <strong>die</strong>sen als Modell des eigenen zukünftigen Programmes zu verwenden.<br />

Gleichzeitig stellen <strong>die</strong> 24 Bürger laut Frugoni aber auch den direkten Bezug<br />

zur politischen Gegenwart des frühen Trecento her: Indem sich <strong>die</strong> Neun nicht alleine<br />

abbilden liessen, sondern gemeinsam mit anderen Regierungsorganen (u.a. nennt<br />

Frugoni <strong>die</strong> vier für <strong>die</strong> kommunalen Finanzen zuständigen Provveditori der<br />

Biccherna, <strong>die</strong> Konsuln der Mercanzia sowie <strong>die</strong> Konsuln der Cavalieri oder<br />

Guelfenpartei) zeichneten sie ein Bild, "das den Anschein zu erwecken sucht, als seien<br />

an der Regierung eine Vielzahl <strong>von</strong> 'Stimmen' beteiligt." 83<br />

Eingebettet in <strong>die</strong> politische Propaganda enthält der <strong>Freskenzyklus</strong> auch einen<br />

Aufruf zur Eintracht. 84 In den Auswirkungen des Buon Governo spiegle sich <strong>die</strong><br />

Eintracht nicht nur in der Gruppe der tanzenden Mädchen. 85 Auch <strong>die</strong> einzelnen<br />

Szenen in Stadt <strong>und</strong> Land würden auf das einträchtige Zusammenleben der Einwohner<br />

hinweisen. 86 Eine besondere Anspielung auf <strong>die</strong> Concordia sei hier das Hochzeitspaar:<br />

Die private Gemeinschaft der Brautleute soll ein Beispiel jener perfekten<br />

Gemeinschaft sein, <strong>die</strong> auf öffentlicher Ebene <strong>die</strong> Bürger vereint. 87<br />

Ein weiteres Element <strong>die</strong>ser harmonisch geordneten Welt ist <strong>die</strong> emsige<br />

Betriebsamkeit der Bewohner. Diese positive Darstellung der wirtschaftlichen<br />

Tätigkeiten verbindet Frugoni mit der neuen Wertschätzung der Arbeit, <strong>die</strong> sich im<br />

Laufe des 12. <strong>und</strong> 13. Jahrh<strong>und</strong>erts innerhalb der städtischen Gesellschaft<br />

herauszukristallisieren begonnen habe <strong>und</strong> <strong>die</strong> gerade <strong>von</strong> jener Schicht der<br />

wohlhabenden <strong>und</strong> erfolgreichen Kaufleute getragen werde, aus denen sich <strong>die</strong><br />

Mitglieder des Regierungskollegiums der Nove rekrutierten. 88 Im <strong>Freskenzyklus</strong><br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s erscheint <strong>die</strong> Arbeit nicht mehr als eine Folge des Sündenfalls<br />

Adams, sondern als sozial nützlich, da sie auf der Gr<strong>und</strong>lage der geteilten Mühsal <strong>die</strong><br />

82 Ebd., S. 136<br />

83 Ebd., S. 136<br />

84 Ebd., S. 159 ff.<br />

85 Ebd., S. 162<br />

86 Ebd., S. 185<br />

87 Ebd., S. 185<br />

88 Ebd., S. 169 ff.<br />

97


Gemeinschaft verbindet. So sind alle Komponenten der Gesellschaft, Männer <strong>und</strong><br />

Frauen, Arme <strong>und</strong> Reiche <strong>und</strong> jene aus der Mittelschicht in lebhafter, schöpferischer<br />

Eintracht widergegeben. Das Leben in der <strong>von</strong> den Nove geführten Stadt ist utile,<br />

necessario e di diletto, ist erfüllt <strong>von</strong> Nützlichkeit, Notwendigkeit <strong>und</strong> Vergnügen. 89<br />

Nützlicher als <strong>die</strong> anderen Bürger, als utiliores homines civitatis, würden sich aber <strong>die</strong><br />

Nove selbst sehen oder, besser gesagt, jene Männer aus der Schicht der wohlhabenden<br />

Kaufleute, <strong>die</strong> in der Regierung der gente media Einsitz nahmen. Denn gemäss ihrer<br />

Vorstellung, <strong>die</strong> der <strong>Freskenzyklus</strong> zum Ausdruck bringe, ermögliche nur ihre<br />

Herrschaft allen Schichten der Gesellschaft – Bauern, Handwerkern, Kaufleuten <strong>und</strong><br />

Adligen - <strong>die</strong> Früchte ihres Daseins <strong>und</strong> ihrer Arbeit zu ernten. 90<br />

4.4. Republikanisches Programm<br />

Wie Chiara Frugoni vertreten auch Thomas Fröschl (1988) <strong>und</strong> Randolph Starn<br />

(1987/1992) <strong>die</strong> Meinung, dass <strong>die</strong> Aussage des <strong>Freskenzyklus</strong> im Wesentlichen mit<br />

der Regierung der Nove zusammenhängt. 91 Thomas Fröschl stellt das Kunstwerk aber<br />

in den grösseren Zusammenhang der republikanischen Staatskunst in Rathäusern. 92<br />

Auch Randolph Starn betont den republikanischen Aspekt des Bildes. Für ihn ist es<br />

deshalb unzulässig, das Werk <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s nur aus dem Blickwinkel der<br />

politischen Propaganda der Nove zu betrachten. 93 Denn <strong>die</strong>se Sichtverengung vernachlässige,<br />

dass Sienas Regierung der Nove Mitträgerin des, wenn auch auf Grenzen<br />

stossenden, republikanischen Experimentes der mittelalterlichen, italienischen Stadtkommunen<br />

war. 94 Sowohl <strong>die</strong> innere Organisationsform der Kommunen als auch ihr<br />

Unabhängigkeitsstreben hatten <strong>die</strong> herkömmlichen Vorstellungen politischer Autorität<br />

herausgefordert <strong>und</strong> ins Wanken gebracht. Mit ihrem Anspruch auf rechtmässige<br />

politische Identität missachteten <strong>die</strong> Kommunen nicht nur <strong>die</strong> auf persönlichen<br />

Banden beruhende Feudalordnung, sondern widersetzten sich auch den <strong>von</strong> der<br />

monarchischen Hierarchie ausgehenden Gesetzesnormen. Die Regierung der Nove<br />

musste deshalb vor allem zwei besorgniserregenden Gefahrenquellen ins Auge<br />

blicken: zum einen den Forderungen der traditionellen Hierarchie; zum anderen dem<br />

89 Ebd., S. 187<br />

90 Ebd., S. 187 f.<br />

91 STARN (1992), S. 14 ff.<br />

92 FRÖSCHL (1988), S. 239 ff.<br />

93 Ebd., S. 12<br />

94 Ebd., S. 58 f.<br />

98


Zwist innerhalb der Stadt, weshalb den Bürgern selbst Zweifel aufzusteigen drohte ob<br />

der Legitimität ihrer Kommune. 95 Für Starn weht der Wind <strong>die</strong>ser spannungsgeladenen<br />

republikanischen Politik durch den kleinen Saal mit den Fresken <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s.<br />

96 Als ein republikanisches Programm. beginnt es an der Westwand mit der<br />

Konfrontation durch das Böse. Es folgt <strong>die</strong> Schmal- oder Mittelwand, wo <strong>die</strong> Läuterung<br />

durch <strong>die</strong> Tugenden stattfindet, um letztlich an der Ostwand das republikanische<br />

Panorama als Bild des irdischen Para<strong>die</strong>ses vor Augen zu führen. 97<br />

Die Darstellung des Bösen durch den Tyrannen <strong>und</strong> sein Gruselkabinett erfüllt für<br />

Starn eine zweifache Funktion: Zum einen verkörpere es in der Gestalt des dunklen<br />

Prinzen den monarchischen Gedanken <strong>und</strong> legitimiere im Kontext republikanischer<br />

Politik das Prinzip der Nichtunterordnung. 98 Zum anderen projizierten <strong>die</strong><br />

Horrorerscheinungen der Laster Triebe <strong>und</strong> Regungen, vor denen sich <strong>die</strong> Sienesen in<br />

ihrem Innern selbst fürchteten. So war ihre politische Ordnung durchsetzt <strong>von</strong> einem<br />

verschlungenen System gegenseitigen Verdachtes, das dem Einzelnen als Mahnung<br />

erscheinen musste, in jedem Bürger der Stadt schlummere ein Potential zum<br />

Tyrannen. 99 Demzufolge deutet Starn in <strong>die</strong>sem Bild der Laster <strong>die</strong> kanonischen<br />

Sünden Hochmut, Geiz <strong>und</strong> Eitelkeit als <strong>die</strong> bewusste Darstellung politischer Triebkräfte,<br />

gegen <strong>die</strong> der einzelne zur Vermeidung der Tyrannei zu kämpfen habe,<br />

während <strong>die</strong> finsteren Gesellen auf der unteren Ebene <strong>die</strong> politischen Gefahren in der<br />

Arena des öffentlichen Lebens abbildeten. Ausser der Grausamkeit, <strong>die</strong> auch <strong>die</strong> Seele<br />

eines Menschen vergiften kann, infizierten <strong>die</strong> restlichen Höflinge des Tyrannen -<br />

Verrat, Betrug, Kampfwut, Zwist <strong>und</strong> Krieg - vorwiegend eine politische Gemeinschaft.<br />

100<br />

Selbst den <strong>gute</strong>n Sieneser Bürger musste <strong>die</strong> Erscheinung des Bösen mit Betroffenheit<br />

erfüllen. Obgleich es ihm möglich war, das Böse in erster Linie mit dem<br />

monarchischen Prinzip, der Kampfwut des Mobs oder den Querelen <strong>und</strong> betrügerischen<br />

Machenschaften der grossen Magnatenfamilien in Verbindung zu bringen, 101<br />

enthalte <strong>die</strong>se Darstellung des Bösen tiefgründig <strong>die</strong> Ambivalenz des republikanischen<br />

Bürgers selbst. 102 Denn wer kann <strong>von</strong> sich behaupten, er sei ohne Schuld <strong>und</strong> Tadel?<br />

Gab es nicht <strong>über</strong>all kleinere <strong>und</strong> grössere Tyrannen? Wo ist <strong>die</strong> Grenze zwischen<br />

95 Ebd., S. 12<br />

96 Ebd., S. 13<br />

97 Ebd., S. 58 in Verbindung mit S. 19 ff., S. 28 ff., S. 48 ff.<br />

98 Ebd., S. 20 ff., bes. S. 22<br />

99 Ebd., S. 24<br />

100 Ebd., S. 26<br />

101 Ebd., S. 26 f.<br />

102 Ebd., S. 28<br />

99


dem Wohlstand des <strong>gute</strong>n Bürgers <strong>und</strong> Geiz, zwischen Hochmut <strong>und</strong> Eitelkeit <strong>und</strong><br />

echtem politischen Einsatz oder zwischen legitimem Eigennutz <strong>und</strong> Verrat, Zwist <strong>und</strong><br />

Krieg? 103 Gleichzeitig erlaube das Bild dem Betrachter aber, dem Bösen durch den<br />

Gedanken zu entwischen, der Tyrann gehöre zum Reich des Anderen <strong>und</strong> sei Sinnbild<br />

für das, was nicht sein dürfe. 104<br />

Das Heilmittel gegen das Böse wird auf der Mittelwand, dem Kernstück des<br />

<strong>Freskenzyklus</strong>, dargestellt. 105 Hier würden sich <strong>die</strong> Tugenden den triebhaften Lastern<br />

entgegensetzen. 106 Anders als <strong>die</strong> Laster, <strong>die</strong> als groteske Figuren auftreten <strong>und</strong> in ihrer<br />

perversen, zwiedeutigen Identität - teils Mann, teils Frau, teils Tier - ihr diabolisches<br />

Wesen offenbarten, 107 sind <strong>die</strong> Tugenden weibliche Personifikationen. Da <strong>die</strong> Frauen in<br />

der Realität des frühen Trecento <strong>von</strong> der kommunalen Politik ausgeschlossen waren,<br />

eigneten sie sich, wie Starn meint, besonders gut als Abbild höherer Werte. 108 In ihrer<br />

Gesamtheit repräsentierten sie <strong>die</strong> <strong>über</strong>wachenden Prinzipien, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Gemeinschaft<br />

der Männer einten. Um letztlich aber keine Zweifel an der männlichen Vorherrschaft<br />

aufkommen zu lassen, sei der fiktive Hof der Frauen auf <strong>die</strong> <strong>über</strong>ragende, in <strong>die</strong><br />

Sieneser Farben gehüllte Figur des Patriarchen ausgerichtet worden.<br />

Dass Siena sich als eine politische, auf Prinzipien basierende Gemeinschaft<br />

versteht, veranschaulicht sich für Starn im Bild der Mittelwand noch in einer anderen,<br />

besonderen Weise. Hier nämlich konzentrieren sich <strong>die</strong> Inschriften. 109 Für Starn ist es<br />

kein Zufall, dass sich das geschriebene Wort dem Betrachter im Kernstück des<br />

<strong>Freskenzyklus</strong> aufdrängt, gerade dort, wo anhand symbolischer Formen <strong>die</strong> Prinzipien<br />

der Sieneser Republik dargestellt würden. Denn das geschriebene Wort <strong>und</strong><br />

namentlich <strong>die</strong> schriftliche Norm seien das charakteristische Element einer Republik: 110<br />

So sind in einer Republik nicht nur <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>lagen der politischen Gemeinschaft in<br />

Statuten <strong>und</strong> Verfassungen schriftlich festgehalten, hiermit offengelegt <strong>und</strong> der<br />

öffentlichen Debatte zugänglich, sondern auch der politische Entscheidungsprozess<br />

beruht auf schriftlich garantierten Verfahren. Gleichzeitig verbinden sich für Starn mit<br />

dem schriftlichen Wort noch weitere Tendenzen republikanischer Politik zur Zeit<br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s: Zum einen habe <strong>die</strong> Ausbreitung des Geschriebenen durch <strong>die</strong><br />

Einführung <strong>von</strong> Wechselbriefen, Verträgen <strong>und</strong> Geschäftskorrespondenz <strong>die</strong><br />

103 Ebd., S. 27<br />

104 Ebd., S. 24<br />

105 Ebd., S. 28<br />

106 Ebd., S. 47 f.<br />

107 Ebd., S. 25<br />

108 Ebd., S. 51<br />

109 Ebd., S. 29<br />

110 Ebd., S. 30 ff.; S. 45 f.<br />

100


Gr<strong>und</strong>lage für den wirtschaftlichen Erfolg in der Stadt geschaffen <strong>und</strong> zu einer<br />

Neubewertung des sozialen Ansehens geführt. <strong>Der</strong> hohe Status, der traditionell einer<br />

Person aufgr<strong>und</strong> ihres edlen Geblütes <strong>und</strong> Heldenmutes zuteil wurde, musste<br />

zunehmend im Laufe des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts der Überlegenheit des Gebildeten oder<br />

Gelehrten weichen. Zum anderen legitimierten <strong>die</strong> Stadtkommunen mit dem<br />

schriftlichen Wort ihre Souveränität, indem sie den Geltungsbereich schriftlicher <strong>und</strong><br />

generell gültiger Gesetze <strong>über</strong> ein Territorium ausdehnten.<br />

Die dritte Wand <strong>und</strong> <strong>die</strong> letzte Stufe des Programmes ist das Bild des irdischen<br />

Para<strong>die</strong>ses. Letzten Endes, so scheine es - nach den Schreckensbildern aus dem Reich<br />

des Bösen <strong>und</strong> den Lektionen der Tugenden - sei es dem Betrachter nun erlaubt, sich<br />

in den Anblick des erlösenden republikanischen Panoramabildes zu versenken. 111 Das<br />

Fresko der östlichen Längswand ist für Starn das utopische Traumwerk einer Kaufmannsrepublik,<br />

<strong>die</strong> sich im Bild des irdischen Para<strong>die</strong>ses, in der das unsichtbare<br />

Gesetz <strong>von</strong> Angebot <strong>und</strong> Nachfrage gelte, wiederfinde. 112 Nur ein einziges, wenngleich<br />

bedrohliches Detail, der Galgen, erinnere daran, dass <strong>die</strong>ses Bild der Harmonie<br />

eventuell auf dem Einsatz <strong>von</strong> Gewalt beruhen könnte. Ansonsten zelebriere es in<br />

seiner vielfältigen Darstellung der menschlichen Tätigkeiten <strong>die</strong> utopische Vorstellung,<br />

das Gemeinwohl verwirkliche sich in der Summe der verschiedenen<br />

Interessen <strong>und</strong> Aktivitäten.<br />

Für Starn entspringt demselben Gedankengang auch das bunte Spektrum der<br />

sozialen Schichten, das sich im Bild konkretisiert. Die Darstellung des geschäftigen<br />

Treibens <strong>von</strong> Menschen unterschiedlichsten sozialen Rangs, <strong>die</strong> jeweils ihren Alltagshandlungen<br />

nachgehen, besinge in bildhafter Weise <strong>die</strong> Energien <strong>und</strong> produktiven<br />

Kräfte, <strong>die</strong> <strong>von</strong> einem republikanischen Regime freigesetzt würden. 113 So entspreche<br />

das Bild des irdischen Para<strong>die</strong>ses letztlich den säkularen Fantasien des republikanischen<br />

homo oeconomicus. Hierfür sei es sowohl <strong>von</strong> realistischen Details durchsetzt<br />

als auch <strong>von</strong> Kategorien praxisnahen Wissens. Erstere würden aufzeigen, dass sich<br />

republikanische Politik <strong>und</strong> Tugend nicht nur auf symbolische Formen beschränken<br />

könne. Unter Kategorien praxisnahen Wissens indessen versteht Starn unter anderem<br />

das Tacuinum Sanitatis, ein im Trecento sehr populäres Werk, das für den Laien jener<br />

Zeit <strong>die</strong> massgebende Anleitung zum ges<strong>und</strong>en Leben war. 114 Es richtete sich<br />

ausdrücklich an das breite Publikum, das "<strong>von</strong> der Wissenschaft <strong>die</strong> Kenntnis des<br />

111 Ebd., S. 47 f.<br />

112 Ebd., S. 57<br />

113 Ebd., S. 47 u. S. 57<br />

114 Ebd., S. 53 f.<br />

101


Nutzens begehrt, <strong>und</strong> nicht <strong>die</strong> Argumente." 115 Starn weist darauf hin, dass einzelne,<br />

realistisch anmutende Detailszenen genau den Illustrationen <strong>die</strong>ses medizinischen<br />

Handbuchs entsprechen würden. Schliesslich sieht er im Panoramabild des irdischen<br />

Para<strong>die</strong>ses auch <strong>die</strong> tägliche Regierungsarbeit der Nove wiedergegeben, <strong>die</strong> sowohl in<br />

ihrem Amtseid, aber auch den Gesetzen sowie Protokollen ihrer Sitzungen<br />

festgehalten werde. So lasse sich <strong>die</strong>ses Bild auch wie ein "illustriertes Archiv" lesen,<br />

das den neuen Amtsträgern jeweils bildlich vor Augen geführt habe, welche Pflichten<br />

sie in ihrer Amtszeit erwarteten. 116<br />

4.5. Republikanische Ideologie - Griechenland oder Rom?<br />

So wie Randolph Starn verbinden auch Nicolai Rubinstein (1958) 117 <strong>und</strong> Quentin<br />

Skinner (1986) 118 den <strong>Freskenzyklus</strong> mit dem Republikanismus der italienischen Stadtstaaten;<br />

aber für <strong>die</strong>se beiden Autoren ist das Werk <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s in erster<br />

Linie eine philosophische Auseinandersetzung mit der republikanischen Regierungsform<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> ideologische Verteidigung des politischen Systems der Kommune<br />

gegen <strong>die</strong> zu jener Zeit um sich greifende Einpersonenherrschaft. Sowohl für<br />

Rubinstein als auch Skinner veranschaulichen sich im <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>die</strong> ideengeschichtlichen<br />

Gr<strong>und</strong>lagen republikanischen Gedankenguts, dessen Ausformulierung<br />

während des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts im Zuge der geistigen Auseinandersetzung mit der kommunalen<br />

Organisationsform wieder Gestalt angenommen hatte. Während aber für<br />

Rubinstein der <strong>Freskenzyklus</strong> in erster Linie <strong>die</strong> politische Philosophie des Aristoteles<br />

- adaptiert durch <strong>die</strong> Scholastik <strong>und</strong> Jurisprudenz des 13. <strong>und</strong> 14. Jahrh<strong>und</strong>erts - als<br />

Gr<strong>und</strong>lage der republikanischen Ideologie offenlegt, verneint Skinner jegliche Spur<br />

der aristotelischen Lehre im <strong>Freskenzyklus</strong>. Für ihn ist das Werk <strong>Ambrogio</strong><br />

<strong>Lorenzetti</strong>s Ausdruck der prähumanistischen Kultur, <strong>die</strong> im frühen 13. Jahrh<strong>und</strong>ert in<br />

den italienischen Stadtstaaten zu blühen begann <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>die</strong> geistige Verteidigung der<br />

republikanischen Regierungsform nicht auf <strong>die</strong> Überlieferung des antiken Griechenlands,<br />

sondern auf <strong>die</strong> des antiken Roms stellte.<br />

Für Nicolai Rubinstein ist das Fresko eine komplexe Allegorie, in welcher das<br />

Hauptthema <strong>die</strong> politische Philosophie des Aristoteles ist, <strong>die</strong> auf der Gerechtigkeit<br />

115 Ebd., S. 54<br />

116 Ebd., S. 57<br />

117 RUBINSTEIN (1958); siehe auch DERS. (1997)<br />

118 SKINNER (1986); siehe auch DERS. (1999)<br />

102


<strong>und</strong> dem Gemeinwohl aufbaut. 119 <strong>Der</strong> <strong>Freskenzyklus</strong> widerspiegelt für ihn deshalb <strong>die</strong><br />

auf <strong>die</strong> politische Sphäre ausgerichtete Aristotelesrezeption durch <strong>die</strong> Scholastik <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> Jurisprudenz, <strong>die</strong> Mitte des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts einsetzte, nachdem <strong>die</strong><br />

Nikomachische Ethik aus dem Arabischen (1241) <strong>und</strong> schliesslich Griechischen<br />

(1249) sowie <strong>die</strong> Politik aus dem Griechischen (1260) <strong>über</strong>setzt worden ist. Zwar<br />

beschäftigten sich <strong>die</strong> Bürger der italienischen Kommune schon vor der<br />

Aristotelesrezeption nicht nur mit der Idee der Gerechtigkeit, sondern auch mit jener<br />

des Gemeinwohls. Doch habe gerade <strong>die</strong> Auseinandersetzung mit dem Gemeinwohl<br />

seit Mitte des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts rapide zugenommen, <strong>und</strong> der Begriff werde im frühen<br />

Trecento ein Gemeinplatz. Rubinstein führt <strong>die</strong>s darauf zurück, dass sich <strong>die</strong> Bürger in<br />

den Kommunen vom aristotelischen Konzept, das Gemeinwohl <strong>über</strong> <strong>die</strong><br />

Privatinteressen zu stellen, Einigkeit <strong>und</strong> den ersehnten Frieden erhofften, der <strong>von</strong><br />

Parteikämpfen immer wieder in Frage gestellt wurde. Die Betonung des Gemeinwohls<br />

sei so eine republikanische Alternative zu der Forderung der Despoten <strong>und</strong> ihrer<br />

Gefolgsleute geworden, dass nur ein autokratisches Regime <strong>die</strong> <strong>von</strong> internem Zwist<br />

<strong>und</strong> Fraktionen gepeinigten Städte retten könne.<br />

Den augenscheinlichsten Bezug auf Aristoteles findet Rubinstein zunächst in der<br />

Darstellung der Justitia links aussen. 120 Die Aufteilung der Gerechtigkeit in <strong>die</strong> iustitia<br />

commutativa <strong>und</strong> iustitia distributiva ist eine Erfindung des griechischen Philosophen.<br />

Zwar ordnen weder Aristoteles noch Thomas <strong>von</strong> Aquin <strong>die</strong> Strafgewalt der distributiven<br />

Gerechtigkeit zu, wie <strong>die</strong>s bei <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> geschieht. Rubinstein kann<br />

eine solche Zuordnung aber in Werken nachweisen, <strong>die</strong> in Italien im frühen 14.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert im Umlauf waren <strong>und</strong> Aristoteles oder Thomas <strong>von</strong> Aquin rezipierten. Sie<br />

argumentieren, Straftaten seien eine Verletzung beider Arten der Gerechtigkeit.<br />

Schliesslich setzt sich für Rubinstein <strong>die</strong> Gerechtigkeitslehre der Scholastik auch in<br />

der Beziehung Sapientia-Justitia fort: Sie entspreche der aquinatischen Beschreibung<br />

des Verhältnisses vom göttlichen Recht zum menschlichen Recht in der Summa<br />

theologica. 121 So wie das göttliche Recht/Naturrecht dem vom Menschen geschaffenen<br />

Recht vorgeordnet ist, werde im <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>die</strong> Gerechtigkeit <strong>von</strong> der göttlichen<br />

Weisheit erleuchtet. 122<br />

Das aristotelische Konzept des Gemeinwohls veranschaulicht sich für Rubinstein<br />

indessen in der Herrschergestalt, <strong>die</strong> für ihn nicht nur eine Personifikation der<br />

119 RUBINSTEIN (1958), S. 182 u. 184<br />

120 Ebd., S. 182 f.<br />

121 RUBINSTEIN (1958), S. 183<br />

122 Ebd., S. 185<br />

103


Sieneser Kommune ist, sondern auch des Gemeinwohls. Während <strong>die</strong> Inschrift im<br />

Bild <strong>die</strong> Herrschergestalt als <strong>die</strong> Sieneser Kommune bezeichnet, würden <strong>die</strong> Verse der<br />

Bildlegende auf <strong>die</strong> zweite Deutung der Herrschergestalt als eine Personfikation des<br />

Gemeinwohls verweisen; denn dort heisst es, dass <strong>die</strong> Bürger durch <strong>die</strong><br />

Verwirklichung der Gerechtigkeit das Gemeinwohl zu ihrem Herrn machen - il ben<br />

comun per lor signor si fanno. 123 Unterstützt wird seine These durch den<br />

Thomasschüler Remigio Girolami, ein Dominikanerpater aus Florenz, der im frühen<br />

14. Jahrh<strong>und</strong>ert das aristotelische Konzept des Gemeinwohls im Kontext der<br />

zeitgenössischen politischen Probleme am systematischsten verarbeitet hatte. 124 So<br />

führt er in seinem Traktat De bono communi <strong>die</strong> politische Misere in Italien, das heisst<br />

<strong>die</strong> vielen zerstörerischen Feindseligkeiten, <strong>die</strong> Dörfer, Städte <strong>und</strong> ganze Regionen<br />

bedrohten, auf <strong>die</strong> Vernachlässigung des Gemeinwohls zugunsten <strong>von</strong> Eigeninteressen<br />

zurück. Eine seiner Predigten liefert Rubinstein ausserdem <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>lage, konkret<br />

anzunehmen, <strong>die</strong> Herrschergestalt in der Allegorie des Buon Governo sei gleichzeitig<br />

eine Personifikation der Kommune <strong>und</strong> des Gemeinwohls. So verwendet Remigio<br />

Girolami in besagter Predigt <strong>die</strong> Begriffe Gemeinwohl (pro communi bono) <strong>und</strong> Wohl<br />

der Kommune (pro bono Communis) als austauschbare Termini. Gemäss Rubinstein<br />

helfe <strong>die</strong>s zu verstehen, wie es im frühen Trecento <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> möglich war,<br />

in ein <strong>und</strong> derselben Figur sowohl <strong>die</strong> persona publica des Sieneser Stadtstaates als<br />

auch das Gemeinwohl darzustellen.<br />

In eine enge Beziehung zur Personifikation des Gemeinwohls / der Kommune tritt<br />

bei <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> <strong>die</strong> Tugend der Caritas, <strong>die</strong> sich direkt <strong>über</strong> dem Haupt der<br />

Figur des Regenten befindet. Zur Deutung des Zusammenhanges Caritas, bonum<br />

commune <strong>und</strong> bonum Communis verweist Rubinstein auf einen weiteren<br />

Thomasschüler, Tolomeo da Lucca (1236-1326), der im frühen 14. Jh. das<br />

unvollständig gebliebene Werk seines Lehrers, den Fürstenspiegel De regimine<br />

principum, vollendete. In der Fortschreibung <strong>die</strong>ses Werkes setzt Tolomeo da Lucca<br />

<strong>die</strong> Caritas in enge Beziehung zum Gemeinwohl <strong>und</strong> bezeichnet sie als <strong>die</strong> Tugend,<br />

<strong>die</strong> für den Gemeinnutz <strong>die</strong> eigenen Interessen zurückstellt: “caritas... communia<br />

propriis, non propria communibus anteponit - Die Caritas stellt das Gemeinsame dem<br />

Individuellen voran, <strong>und</strong> nicht das Individuelle dem Gemeinsamen." Tolomeo da<br />

Lucca begründet ausserdem <strong>die</strong> Formel, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Caritas in enge Beziehung zur<br />

Vaterlandsliebe stellt, auf <strong>die</strong> oben schon hingewiesen wurde: “...amor patriae in<br />

123 Ebd., S. 181 f.<br />

124 Ebd., S. 185<br />

104


adice caritatis f<strong>und</strong>atur - Die Vaterlandsliebe wurzelt in der göttlichen Liebe oder<br />

Caritas." 125<br />

Auch <strong>die</strong> Kordel, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Figuren der Gerechtigkeit <strong>und</strong> des Gemeinwohls<br />

verbindet, veranschaulicht für Rubinstein ein Abhängigkeitsverhältnis, wie es<br />

wiederum bei Thomas <strong>von</strong> Aquin zu finden ist. So habe für Thomas <strong>die</strong> Gerechtigkeit<br />

eine Leitfunktion innerhalb der Gemeinschaft inne als einen Wert, der zum<br />

tugendhaftem Handeln der Menschen führe <strong>und</strong> ihr Tun auf das Gemeinwohl<br />

ausrichte:<br />

"Und weil es Aufgabe des Gesetzes ist, <strong>die</strong> Hinordnung auf das Gemeinwohl<br />

sicherzustellen, erhält <strong>die</strong> Gerechtigkeit, <strong>die</strong>, wie eben erklärt, 'allgemein' ist,<br />

den Namen 'Gesetzesgerechtigkeit'; denn durch sie unterwirft sich der Mensch<br />

dem Gesetz, das <strong>die</strong> Akte aller Tugenden dem Gemeinwohl <strong>die</strong>nstbar macht." 126<br />

Schliesslich führt Rubinstein auch <strong>die</strong> Tugenden Pax <strong>und</strong> Concordia in der<br />

Allegorie des Buon Governo auf <strong>die</strong> Rezeption <strong>von</strong> Aristoteles <strong>und</strong> Thomas <strong>von</strong><br />

Aquin <strong>und</strong> <strong>die</strong> Anwendung ihrer Lehre auf <strong>die</strong> zeitgenössischen politischen Verhältnisse<br />

zurück. 127 Zu jener Zeit sind <strong>die</strong> Werte Pax <strong>und</strong> Concordia für <strong>die</strong> italienischen<br />

Stadtrepubliken <strong>die</strong> ersehnten Wirkungen, <strong>die</strong> sie sich <strong>von</strong> einer gerechten, im<br />

Interesse des Gemeinwohls regierenden Herrschaft erhoffen. In der politischen<br />

Theorie des Thomas <strong>von</strong> Aquins <strong>und</strong> seinen Schülern stehen <strong>die</strong> Werte Gerechtigkeit<br />

<strong>und</strong> Gemeinwohl jeweils in enger Beziehung zu den beiden Werten Eintracht<br />

(Thomas verwendet den Term unitas) <strong>und</strong> Frieden. Für Thomas <strong>von</strong> Aquin "besteht<br />

das Wohl <strong>und</strong> das Heil der zu einer Gemeinschaft vereinten Menge darin, dass deren<br />

Einheit, <strong>die</strong> Frieden heisst, bewahrt wird," 128 <strong>und</strong> "...der Friede des Staates aber wird<br />

durch <strong>die</strong> Gerechtigkeit bewahrt." 129 Bei <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> veranschaulicht sich für<br />

Rubinstein <strong>die</strong> "zu einer Gemeinschaft vereinte Menge" in der Reihe der 24 Bürger.<br />

Gemeinsam bilden sie <strong>die</strong> Basis eines Dreiecks, dessen Spitze, <strong>die</strong> Pax, sich direkt<br />

oberhalb der Bürger befindet. Auch bei Remigio Girolami seien <strong>die</strong>se Zusammenhänge<br />

zu finden: "Das höchste Gut der Gemeinschaft <strong>und</strong> ihr Ziel ist der Friede, wie<br />

125 Ebd., S. 185 f.<br />

126 "Et quia ad legem pertinet ordinare in bonum commune, ut supra habitum est, inde est quod<br />

talis justitia praedicto modo generalis dicitur justitia legalis, quia scilicet per eam homo concordat legi<br />

ordinanti actus omnium virtutum in bonum commune." (Summa theologica, II-II, q. 58, art. 5; <strong>von</strong><br />

RUBINSTEIN (1958) engl. zitiert, S. 183 f.)<br />

127 Ebd., S. 187<br />

128 "Bonum autem et salus consociatae multitudinis est, ut eius unitas conservetur, quae dicitur<br />

pax." (De regimine principum, I, 2; zit. n. RUBINSTEIN (1958), S. 187)<br />

129 "...per iustitiam conservatur pax civitatis." (In libros politicorum Aristotelis expositio, zit. n.<br />

RUBINSTEIN (1958), S. 187)<br />

105


der Philosoph [Aristoteles] im dritten Buch seiner Ethik darlegt" 130 <strong>und</strong> "ohne Gerechtigkeit<br />

kann kein Staat gut <strong>und</strong> in Eintracht regiert werden...". 131 Auf den Zusammenhang<br />

zwischen Gemeinwohl, Eintracht <strong>und</strong> Frieden würden auch <strong>die</strong> Verse<br />

des Notaren Graziolo de' Bambagioli verweisen, ein Zeitgenosse <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s,<br />

der in seinem Werk bewusst auf den Kommentar <strong>von</strong> Thomas <strong>von</strong> Aquin zur<br />

Politik des Aristoteles zurückgreift: Aus dem Gemeinwohl "entspringt <strong>die</strong> Eintracht<br />

<strong>und</strong> der süsse Frieden." 132<br />

Das Mal Governo im <strong>Freskenzyklus</strong> sei indessen <strong>die</strong> Abbildung einer schlechten<br />

Regierung, <strong>die</strong> <strong>die</strong> zwei aristotelischen Kriterien einer <strong>gute</strong>n Regierung, <strong>die</strong><br />

Gerechtigkeit <strong>und</strong> das Gemeinwohl, vernachlässige. Dies führt Rubinstein zur<br />

Schlussfolgerung, dass im <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>die</strong> aristotelische Gegen<strong>über</strong>stellung <strong>von</strong><br />

<strong>gute</strong>r <strong>und</strong> schlechter Regierung, rex-tyrannus, durch <strong>die</strong> Allegorie der Gerechtigkeit<br />

<strong>und</strong> des Gemeinwohls einerseits, <strong>und</strong> der Allegorie der Tyrannei andererseits ersetzt<br />

<strong>und</strong> dargestellt worden sei. Da Siena eine Republik ist, sitze auf der <strong>gute</strong>n Seite nicht<br />

ein König auf dem Thron, sondern <strong>die</strong> beiden Kriterien, <strong>die</strong> gemäss Aristoteles eine<br />

<strong>gute</strong> Regierung ausmachen: das Gemeinwohl <strong>und</strong> <strong>die</strong> Gerechtigkeit. Umgekehrt ist <strong>die</strong><br />

Tyrannei gedanklich viel dehnbarer als der Begriff des Tyrannen. Sie kann sowohl <strong>die</strong><br />

Einzelherrschaft eines Despoten bedeuten, als auch <strong>die</strong> Unterdrückung einer Stadt<br />

durch <strong>die</strong> städtischen Magnaten oder Adligen. 133<br />

Auch für Quentin Skinner ist der <strong>Freskenzyklus</strong> Ausdruck republikanischer<br />

Ideologie. Gleichzeitig verneint er jedoch jegliche Spur aristotelischen oder<br />

thomistischen Gedankenguts im Werk <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s. 134 Für ihn ist der<br />

<strong>Freskenzyklus</strong> vielmehr Ausdruck einer anderen Tradition republikanischen Denkens,<br />

<strong>die</strong> bis ins frühe 13. Jahrh<strong>und</strong>ert zurückreicht <strong>und</strong> <strong>die</strong> aus seiner Sicht den klassischen<br />

Republikanismus eines Machiavelli oder Guiccardini viel mehr beeinflusst habe als<br />

der Aristotelismus. 135 Diese Tradition ist in erster Linie den Ideen des antiken Roms<br />

verpflichtet <strong>und</strong> nicht jener Griechenlands. Skinner widerspricht mit seiner These<br />

generell dem wissenschaftlichen Standpunkt, <strong>die</strong> politische Philosophie des<br />

Aristoteles habe das politische Denken in Italien revolutionär verändert, sobald <strong>die</strong><br />

130 "Summum bonum multitudinis et finis eius est pax, sicut dicit philosophorus in 3�<br />

ethicarum." (De bono pacis, zit. n. RUBINSTEIN (1958), S. 187 n.59)<br />

131 "Sine iustitia nulla civitas potest bene vel in concordia regi..." (Sermoni, zit. n. RUBINSTEIN<br />

(1958), S. 187 n.60)<br />

132 Ebd., S. 187 n. 61<br />

133 Ebd., S. 188<br />

134 SKINNER (1986), S. 3; s. a. SKINNER (1999)<br />

135 SKINNER (1986), S. 56<br />

106


aristotelische Politik <strong>und</strong> Nikomachische Ethik Mitte des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts in lateinischer<br />

Übersetzung zur Hand waren. 136 Er sieht das republikanische Denken in den<br />

italienischen Stadtstaaten vielmehr den Ansätzen des frühen 13. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

verpflichtet, <strong>die</strong> vor allem römisches Gedankengut rezipierten. Für Skinner ist der<br />

<strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s der Beweis dafür, dass <strong>die</strong> politische Theorie der<br />

Renaissance in all ihren Phasen viel stärkere Impulse <strong>von</strong> Rom als <strong>von</strong> Griechenland<br />

erhalten hatte. 137<br />

Weil <strong>die</strong> Quellen, <strong>die</strong> Skinner zur Deutung des Freskenyzklus heranzieht, sich mit<br />

dem römischen Gedankengut auseinandersetzen, nennt er sie in Anlehnung an Paul O.<br />

Kristeller 138 “prähumanistisch”. Mit dem Prähumanismus verbindet er insbesondere<br />

zwei Schriftgattungen, <strong>die</strong> Ars dictaminis sowie <strong>die</strong> politischen Handbücher für <strong>die</strong><br />

Stadtregierung. 139 Die Autoren der Ars dictaminis entwickelten nicht nur <strong>die</strong> Regeln<br />

der öffentlichen Rede <strong>und</strong> des Briefeschreibens - beide unverzichtbar für <strong>die</strong> politische<br />

Praxis der Stadtkommunen -, sondern lieferten auch Nachschlagewerke mit einer<br />

Auswahl <strong>von</strong> Reden <strong>und</strong> Briefen für Botschafterempfänge, Amtsantritte etc.. Die<br />

politischen Handbücher enthalten zusätzlich allgemeine Verhaltensanweisungen für<br />

<strong>die</strong> Regierung der Stadt, <strong>von</strong> Brunetto Latini ist ein solches Handbuch gar zu einem<br />

ganzen Wissensschatz, Li livres dou Trésor, erweitert worden. Des weiteren zählt<br />

Skinner auch <strong>die</strong> Stadtgesetze <strong>von</strong> Siena zu den prähumanistischen Quellen als<br />

spezifisch sienesischer Ausdruck der Gedanken des Prähumanismus. 140<br />

Skinner vertritt <strong>die</strong> Ansicht, dass für keinen der in <strong>die</strong>sem Umfeld schreibenden<br />

Autoren Aristoteles eine Autorität gewesen sei. Entweder hätten sie vor Mitte des 13.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts geschrieben <strong>und</strong> Aristoteles noch nicht gekannt, oder, falls ihr Werk<br />

danach entstanden sei, hätten sie <strong>die</strong> Lehre <strong>von</strong> Aristoteles kaum berücksichtigt. 141 Die<br />

<strong>von</strong> den Prähumanisten am meisten geschätzten Autoren seien indessen <strong>die</strong> drei<br />

grossen Männer aus der Zeit der Römischen Republik <strong>und</strong> des frühen Römischen<br />

Kaisertums gewesen: Cicero, Sallust <strong>und</strong> Seneca. 142 Von Cicero kannte man vor allem<br />

De inventione <strong>und</strong> De officiis, 143 <strong>von</strong> Sallust waren in erster Linie seine zwei kürzeren<br />

Werke, De bellum Catiliniae <strong>und</strong> De bellum Iugurthinum im Umlauf. 144 Zu den damals<br />

136 siehe ebd., S. 56 n.1, n.3<br />

137 Ebd., S. 56<br />

138 Ebd., S. 56 n.4<br />

139 Ebd., S. 3; s.a. SKINNER (1978), S. 30 ff., SKINNER (1990), S. 123 ff.<br />

140 SKINNER (1986), S. 3 u. S. 22<br />

141 Ebd., S. 4 f.<br />

142 Ebd., S. 5; s.a. SKINNER (1990), S. 122 f.<br />

143 Ebd., S. 5<br />

144 Zum Bsp. ebd., S. 8 n.4, S. 33 n.5, s.a. SKINNER (1990), S. 122<br />

107


viel zitierten Werken Senecas gehörten <strong>die</strong> Epistulae morales, De clementia <strong>und</strong> De<br />

beneficiis. 145 Abgesehen <strong>von</strong> <strong>die</strong>sen Primärquellen schöpften <strong>die</strong> italienischen Autoren<br />

des 13. <strong>und</strong> 14. Jahrh<strong>und</strong>erts ihre Kenntnisse der römischen Gedankenwelt auch aus<br />

Kompilationen zweiter Hand, so zum Beispiel aus der Seneca-Verarbeitung des<br />

Bischofs Martin <strong>von</strong> Braga aus dem 5. Jahrh<strong>und</strong>ert oder aus sogenannten Florilegien,<br />

Zitatensammlungen antiker Autoren, <strong>die</strong> seit dem 12. Jahrh<strong>und</strong>ert immer beliebter<br />

wurden.<br />

An fünf Elementen des <strong>Freskenzyklus</strong> zeigt Skinner, dass das Werk <strong>Ambrogio</strong><br />

<strong>Lorenzetti</strong>s nicht als Ausdruck aristotelisch-thomistischen Gedankenguts, sondern in<br />

der Tradition des Prähumanismus gedeutet werden müsse: 1) an der Figur des<br />

Regenten, 2) an der Pax, 3) an der Concordia <strong>und</strong> der Metapher der Kordel, 4) an der<br />

komplexen Allegorie der Justitia links aussen sowie 5) am Tugendkanon r<strong>und</strong> um den<br />

Regenten, im besonderen an der Tugend der Magnanimitas <strong>und</strong> der kleineren Justitia<br />

rechts aussen.<br />

1) Die Figur des Regenten: Skinner ist <strong>über</strong>zeugt, dass Rubinsteins Interpretation<br />

des Regenten als <strong>die</strong> Personifikation des Gemeinwohls falsch sei. 146 Im wesentlichen<br />

beruhe sie auf einer falschen Übersetzung der Verszeile - il ben comun per lor signor<br />

si fanno. 147 Das per in <strong>die</strong>sem Satz sei falsch <strong>über</strong>setzt, weshalb es nicht "sie machen<br />

das Gemeinwohl zu ihrem Herrn" heisse, sondern "sie verwirklichen das Gemeinwohl<br />

mittels ihres Herrn." <strong>Der</strong> signor, <strong>die</strong> Herrschergestalt, repräsentiert nach Skinner den<br />

Typus der Regierung, <strong>die</strong> das kommunale System auszeichnete, nämlich <strong>die</strong><br />

Regierung, <strong>die</strong> auf gewählten Signori beruht <strong>und</strong> sich in Siena zur Zeit <strong>Ambrogio</strong><br />

<strong>Lorenzetti</strong>s im Rat der Nove verwirklicht hatte. 148 Skinner argumentiert, dass <strong>die</strong><br />

Darstellung der Regentenfigur im <strong>Freskenzyklus</strong> der prähumanistischen Definition<br />

<strong>von</strong> Regierungsmacht entspreche, <strong>die</strong> gemäss dem politischen System der Kommune<br />

<strong>die</strong> Regierung zwar als "Kopf" des politischen Körpers verstehe, <strong>die</strong> Mitglieder der<br />

Regierung aber als Amtsträger sehe, <strong>die</strong> "im Dienst der Gemeinschaft stehen" <strong>und</strong> "an<br />

das Gesetz geb<strong>und</strong>en sind." 149 So sei <strong>die</strong> Regentenfigur zwar in mächtiger Pose dargestellt<br />

mit Herrschaftsgewalt <strong>über</strong> Stadt <strong>und</strong> Contado <strong>von</strong> Siena (<strong>die</strong> Bürger blicken zur<br />

Regentenfigur auf, lokale Feudalbarone <strong>über</strong>geben ihre Burgen <strong>und</strong> Kastelle), mit umfassenden<br />

Rechtsbefugnissen (Gefangene) <strong>und</strong> mit der Verfügungsgewalt <strong>über</strong><br />

militärische <strong>und</strong> polizeiliche Einsatzmittel (bewaffnete Einheiten). Gleichzeitig werde<br />

145 Zum Bsp. S. 10 n.3f., S. 18 n.10, S. 27 n.9, S. 29 n.3ff.<br />

146 Ebd., S. 41 ff.<br />

147 Ebd., S. 45 f.<br />

148 Ebd., S. 46; s.a. SKINNER (1999), S. 10 ff.<br />

149 SKINNER (1986), S. 41 f.<br />

108


aber mehrfach angedeutet, dass <strong>die</strong> Macht der Regierung - in Siena <strong>die</strong> der Nove -<br />

letztlich nur Ausdruck sei für <strong>die</strong> Macht der Kommune. 150 Skinner verweist dafür<br />

einerseits auf <strong>die</strong> Gestaltung der Figur selbst mit ihren vielen Anspielungen auf <strong>die</strong><br />

Kommune <strong>von</strong> Siena (Farbe des Kleides schwarz-weiss entsprechend dem Sieneser<br />

Wappen, <strong>die</strong> Darstellung als Alter, senex, indem der Name Siena widerhallt, das Bild<br />

der Stadtregentin Jungfrau Maria <strong>und</strong> <strong>die</strong> Anspielung auf <strong>die</strong> Gründungslegende der<br />

Stadt mit der Wölfin <strong>und</strong> den Zwillingen), andererseits auf <strong>die</strong> Inschrift C.S.C.V., <strong>die</strong><br />

wie <strong>die</strong> Verpflichtung der Regierung gegen<strong>über</strong> der Kommune auf den Schultern der<br />

Figur laste. Insbesondere sieht Skinner auch in der Kordel, <strong>die</strong> der Figur um das<br />

Handgelenk geb<strong>und</strong>en ist, <strong>die</strong> Tatsache widerspiegelt, dass <strong>die</strong> Macht der Regierung<br />

auf dem Konsens der Bürger beruhe <strong>und</strong> explizit an das Diktat der Justitia geb<strong>und</strong>en<br />

sei.<br />

Skinner hält ausserdem fest, dass, wenn prähumanistische Quellen verwendet<br />

werden, <strong>die</strong> republikanische Aussage im <strong>Freskenzyklus</strong> durch <strong>die</strong> Figur der Kommune<br />

viel eindeutiger werde als bei den Quellen der Scholastik. Für <strong>die</strong> Prähumanisten sei<br />

es - wie Skinner darlegt - klar, dass unter allen möglichen Regierungsformen nur eine<br />

ideale Form existiere, <strong>die</strong> garantiere, dass <strong>die</strong> Regierung sich dem Diktat der Jusititia<br />

beuge <strong>und</strong> <strong>die</strong> Ideale Gemeinwohl <strong>und</strong> Friede verwirkliche: <strong>die</strong> Republik. 151 Die<br />

Tradition der Scholastik indessen sei hier viel weniger einhellig, da Aristoteles in<br />

seiner politischen Theorie vier Herrschaftsformen als gesetzmässig klassifiziert hat:<br />

<strong>die</strong> Monarchie, <strong>die</strong> Aristokratie, <strong>die</strong> Demokratie sowie <strong>die</strong> Mischverfassung. 152<br />

Während einige der Thomisten <strong>die</strong> Überlegenheit der Monarchie anführten (Aegidius<br />

Romanus), würden andere das Ideal der Mischverfassung vertreten (Heinrich <strong>von</strong><br />

Rimini, Tolomeo da Lucca) <strong>und</strong> Dritte <strong>die</strong> Wahl der richtigen Staatsform <strong>von</strong> den<br />

Umständen abhängig machen (Thomas <strong>von</strong> Aquin <strong>und</strong> Marsilius <strong>von</strong> Padua).<br />

Demgegen<strong>über</strong> seien sich <strong>die</strong> Prähumanisten fast ausnahmslos in ihrer Ansicht einig,<br />

dass <strong>die</strong> Kommune <strong>die</strong> beste Form der Regierung sei. Ihren Standpunkt sieht Skinner<br />

am besten <strong>von</strong> Brunetto Latini im Trésor wiedergegeben: "Es gibt drei Formen <strong>von</strong><br />

Regierung, <strong>die</strong> erste <strong>die</strong> Regierung durch einen König, <strong>die</strong> zweite durch <strong>die</strong> Adligen<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> dritte durch <strong>die</strong> commune selbst. Und <strong>von</strong> allen dreien ist <strong>die</strong> dritte <strong>die</strong><br />

beste." 153 Diese, wie er weiter hinten sagt, sei "vornehmlich in Italien zu finden," wo<br />

150 Ebd., S. 43 f.<br />

151 Ebd., S. 21<br />

152 Ebd., S. 20<br />

153 "Seignouries sont de .iii. manieres, l'une est des rois, la seconde est des bons, la tierce est<br />

des communes, laquele est la trés millour entre ces autres." (BRUNETTO LATINI, Trésor, S. 211; zit. n.<br />

SKINNER (1986), S. 21 n.2)<br />

109


<strong>die</strong> Bürger ihre eigenen Magistrate wählen <strong>und</strong> "ihnen <strong>die</strong> Macht nur jeweils für ein<br />

Jahr geben" <strong>und</strong> sie dazu verpflichten, so zu handeln, "wie sie es am günstigsten für<br />

das Gemeinwohl ihrer Stadt <strong>und</strong> all ihrer Untergebenen erachten." 154<br />

2) Die Pax: Am augenscheinlichsten wird für Skinner <strong>die</strong> prähumanistische<br />

Theorie an der Figur der Pax offengelegt. 155 Während Thomas <strong>von</strong> Aquin den Frieden<br />

in erster Linie als <strong>die</strong> Absenz <strong>von</strong> Discordia verstehe, betrachteten <strong>die</strong> Prähumanisten<br />

den Frieden als einen Triumphzustand, als Sieg <strong>über</strong> <strong>die</strong> Kräfte der Zwietracht <strong>und</strong> des<br />

Krieges. 156 Ferner sei für sie das Ideal des Friedens das oberste Ziel einer Regierung. 157<br />

Die Pax ist deshalb für Skinner <strong>die</strong> Zentralfigur des gesamten Zyklus; sie sei,<br />

entsprechend der römischen Bezeichnung für das Wichtigste, in medio dargestellt. 158<br />

Deutlich erscheine sie auch als siegreiche Kraft, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Schlacht <strong>über</strong> ihre bittersten<br />

Gegner gewonnen habe, 159 <strong>die</strong> auf der Seite des Mal Governo ihr Unwesen trieben:<br />

Guerra (Krieg), Divisio (Parteienhader) <strong>und</strong> Furor (Kampfwut). Dass der Krieg,<br />

Guerra, ein Feind der Pax ist, sei offensichtlich. Ebenfalls nicht zufällig aber ist für<br />

Skinner <strong>die</strong> Darstellung der Divisio <strong>und</strong> des Furor, da <strong>die</strong>se beiden Laster <strong>von</strong> den<br />

Prähumanisten als zwei Aspekte der Discordia, der Zwietracht, betrachtet würden. 160<br />

Diese gelte als noch grössere Gefahr für den Frieden als der Krieg, weil sie <strong>die</strong> politische<br />

Gemeinschaft im Innern spalte <strong>und</strong> dadurch ihre Existenz bedrohe. Für <strong>die</strong>se<br />

Definition der Discordia griffen <strong>die</strong> Prähumanisten auf <strong>die</strong> römischen Moralisten<br />

zurück, in erster Linie auf Sallust. 161 So sei auch bei <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> <strong>die</strong> Divisio<br />

ein selbstzerstörerisches, den eigenen Körper zersägendes Wesen, ganz ähnlich, wie<br />

sie Sallust als Kraft beschrieben habe, <strong>die</strong> dazu befähigt sei, eine politische Körperschaft<br />

in Stücke zu zerreissen. Mit dem Laster des Furor verbanden <strong>die</strong> Prähumanisten<br />

<strong>die</strong> Gesetzlosigkeit der Masse. In entsprechender Weise trete Furor im <strong>Freskenzyklus</strong><br />

als ein steinewerfendes Zwitterwesen auf - eine Anspielung auf den hemmungslosen<br />

Mob. In <strong>die</strong>sem Sinne finde sich auch in Sienas Statuten der Aufruf an <strong>die</strong><br />

Stadtpolizei, sich im gegebenen Fall vor der rasenden, steinewerfenden Menge zu<br />

schützen. 162<br />

154 "[en Ytaile] il sont par annees...tel comme il quident qu'il soit plus proufitables au commun<br />

preu de la vile et de tous lor subtés." (Latini, Trésor, S. 392; zit. n. SKINNER (1986), S. 21 n.3<br />

155 Ebd., S. 32 ff.<br />

156 Ebd.,S. 7<br />

157 Ebd., S. 6<br />

158 Ebd., S. 32<br />

159 Ebd., S. 33<br />

160 Ebd., S. 33<br />

161 Ebd., S. 8 f.<br />

162 Ebd., S. 33<br />

110


3) Die Concordia <strong>und</strong> <strong>die</strong> Metapher der Kordel: Für Skinner veranschaulicht <strong>die</strong><br />

Concordia <strong>die</strong> <strong>von</strong> den Prähumanisten rezipierte Idee Ciceros, dass concordia <strong>und</strong><br />

aequitas, Eintracht <strong>und</strong> Gleichheit, <strong>die</strong> zwei F<strong>und</strong>amente des öffentlichen Lebens<br />

sind, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Voraussetzung für <strong>die</strong> Verwirklichung des Gemeinwohls <strong>und</strong> den Sieg<br />

<strong>über</strong> <strong>die</strong> Feinde des Friedens schaffen. 163 Die Kordel, <strong>die</strong> <strong>von</strong> der Concordia an <strong>die</strong> 24<br />

Bürger weitergereicht werde, nehme gleichzeitig <strong>die</strong> Aussage Ciceros auf, <strong>die</strong><br />

Eintracht sei "das beste <strong>und</strong> am leichtesten zu handhabende Sicherheitsseil einer<br />

Gesellschaft." 164 Des öfteren spreche Cicero auch vom "doppelten Band der<br />

Concordia," 165 eine Metapher, <strong>die</strong> <strong>von</strong> der prähumanistischen Literatur als das doppelte<br />

Band der reziproken Pflichten erklärt werde, das heisst <strong>die</strong> Obliegenheit des gegenseitigen<br />

Gebens <strong>und</strong> Nehmens, <strong>die</strong> als Bindeglied der Individuen in einer Gesellschaft<br />

<strong>die</strong>ne. So werde <strong>die</strong> Concordia auch als Tugend definiert, "<strong>die</strong> aus freiem Antrieb <strong>die</strong><br />

Bürger <strong>und</strong> Landsleute, <strong>die</strong> unter denselben Gesetzen <strong>und</strong> am selben Ort leben,<br />

verbinde." 166 Die Freiwilligkeit als wesentlicher Aspekt in der Übereinkunft,<br />

gemeinsam als politische Einheit zu handeln, visualisiert sich für Skinner im<br />

<strong>Freskenzyklus</strong> durch <strong>die</strong> Haltung der Bürger, <strong>die</strong> freiwillig, ohne Zwang, das Seil<br />

Concordias ergreifen. 167 Dass der Ursprung <strong>die</strong>ser Kordel im Bild schliesslich Justitia<br />

selbst sei, 168 finde seine Entsprechung ebenfalls in einem äusserst beliebten Topos der<br />

Prähumanisten, <strong>die</strong> Justitia als das ultimative vinculum societatis humanae (Band der<br />

menschlichen Gesellschaft) bezeichneten. 169<br />

Gleichzeitig erkennt Skinner auch <strong>die</strong> Aequitas, <strong>die</strong> Gleichheit, in der<br />

Personfikation der Concordia, bei Cicero der zweite Gr<strong>und</strong>stein für das F<strong>und</strong>ament<br />

des städtischen Friedens <strong>und</strong> <strong>von</strong> den Prähumanisten als ebenso gr<strong>und</strong>legend für <strong>die</strong><br />

Erhaltung des Gemeinschaftslebens betrachtet. 170 Die Aequitas in der Interpretation<br />

Ciceros als das Prinzip der Unparteilichkeit <strong>und</strong> Gleichwertigkeit der Bürger im<br />

163 Ebd., S. 11 f. u. S. 33 f.<br />

164 Concordia als "artissimum atque optimum omni in republica vinculum incolumitatis."<br />

(Cicero, De republica, dem Mittelalter <strong>über</strong>liefert durch Augustinus, De civitate dei, zit. n. SKINNER<br />

(1986), S. 12 n. 3)<br />

165 "vincula concordiae" (Cicero, De finibus, zit. n. SKINNER (1986), S. 12 n.2)<br />

166 "Concordia est virtus concives et compatriotas in eodem iure et cohabitatione spontanee<br />

vinciens. Huius haec sunt officia...devincire hominum inter homines societatem mutatione officiorum,<br />

dando accipiendo." (Dogma Moralium Philosophorum, zit. n. SKINNER (1986), S. 13 n. 5)<br />

167 Ebd., S. 34<br />

168 Ebd., S. 40<br />

169 Zum Bsp. bei Peyraut, Giovanni di Viterbo, Geremia da Montagnone, s. SKINNER (1986),<br />

S. 15 n. 2 ff.<br />

170 Ebd., S. 14<br />

111


gesellschaftlichen Verkehr 171 veranschauliche zum einen der Hobel im Schoss der<br />

Concordia, zum anderen <strong>die</strong> Tatsache, dass <strong>die</strong> Bürger in der Reihe alle in gleicher<br />

Grösse dargestellt seien. Das Bild halte damit auch fest, dass es notwendig sei, <strong>die</strong><br />

Unterschiede zwischen den Bürgern vielmehr auszugleichen als zu verschärfen, falls<br />

sich <strong>die</strong> Stadt den Frieden wünsche. 172<br />

4) Die Allegorie der Justitia: Schwierigkeiten bereitet Skinner <strong>die</strong> Einordnung der<br />

Allegorie der Justitia in <strong>die</strong> politische Lehre der römischen Philosophen. 173 Da Skinner<br />

jegliche Spur der Scholastik im <strong>Freskenzyklus</strong> verneint, ist es für ihn auch nicht<br />

möglich, <strong>die</strong> Beziehung Sapientia-Justitia im Licht der thomistischen Lehre als <strong>die</strong><br />

Beziehung zwischen göttlichem <strong>und</strong> menschlichem Recht zu deuten. Genauso wenig<br />

anerkennt Skinner Aristoteles als Gr<strong>und</strong>lage für <strong>die</strong> Darstellung der iustitia<br />

distributiva <strong>und</strong> iustitia commutativa. Die im <strong>Freskenzyklus</strong> dargestellte Beziehung<br />

Sapientia-Justitia will Skinner deshalb ebenfalls auf Cicero zurückführen. Auch<br />

Cicero kennt in seiner politischen Philosophie <strong>die</strong> Tugend der Sapientia im<br />

Zusammenhang mit der Gerechtigkeit, doch hat sie für ihn nicht göttlichen, sondern<br />

menschlichen Charakter. Die Sapientia ist für ihn <strong>die</strong> Weisheit eines grossen<br />

Gesetzgebers, dem <strong>die</strong> Menschen verdanken, dass sie nicht mehr "wie einst in der<br />

Manier wilder Bestien durch <strong>die</strong> Gegend streifen," 174 sondern "den Wert eines<br />

gerechten Gesetzkodex erkennen würden." 175 Doch ist es auch für Skinner offensichtlich,<br />

dass bei <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> <strong>die</strong> Sapientia als eine himmlische Macht erscheint<br />

<strong>und</strong> nicht als ein menschliches Attribut. 176 Er erklärt <strong>die</strong>se Unstimmigkeit mit der<br />

künstlerischen Freiheit des Malers.<br />

Auch für <strong>die</strong> Deutung der beiden Teile der Gerechtigkeit - distributiva <strong>und</strong><br />

commutativa - will Skinner Aristoteles nicht gelten lassen, da <strong>die</strong>se Interpretation für<br />

ihn viel mehr Fragen aufwerfe als sie letztlich löse. Hier widerspiegelt sich für ihn<br />

vielmehr <strong>die</strong> prähumanistische Auseinandersetzung mit <strong>die</strong>ser Thematik, namentlich<br />

jener Brunetto Latinis. Als das Wesentliche der Gerechtigkeit bezeichne <strong>die</strong>ser das<br />

Berichtigen <strong>von</strong> Ungleichheiten. 177 Ungleichheiten, <strong>die</strong> <strong>von</strong> der Gerechtigkeit<br />

171 Ebd., S. 14<br />

172 Ebd., S. 34<br />

173 Ebd., S. 35 ff.<br />

174 "Nam fuit quoddam tempus cum in agris homines passim bestiarum modo vagabantur nec<br />

ratione animi quicquam...administrabant...non ius aequabile quid utilitatis haberet, acceperat."<br />

(Cicero, De inventione, 1.2.2., zit. n. SKINNER (1986), S. 17 n. 4, S. 18 n. 1 f.)<br />

175 "quidam magnus videlicet vir et sapiens...ut fidem colere et iustitiam retinere...[et laborare]<br />

communis commodi causa...commotus oratione...ad ius voluisset sine vi descendere." (Cicero, De<br />

inventione, 1.2.2., zit. n. SKINNER (1986), S. 18 n. 4 ff.)<br />

176 Ebd., S. 35<br />

177 Ebd., S. 39 f.<br />

112


auszugleichen sind, würden sowohl im Bereich des sozialen Verhaltens als auch im<br />

Bereich des Handels auftreten. <strong>Der</strong> Ausgleich des Unrechts im sozialen Verhalten<br />

kann für Brunetto Latini in zweierlei Weise stattfinden, einerseits durch <strong>die</strong><br />

Bestrafung der Bösen, insbesondere durch ihre Hinrichtung oder Exilierung des<br />

Übeltäters, andererseits durch <strong>die</strong> Belohnung der Guten mit Geld oder Ehre. Die<br />

Waagschale zur Linken illustriert für Skinner genau <strong>die</strong>ses Bild des Ausgleichs. In<br />

entsprechender Weise interpretiert er den Engel auf der Waagschale zur Rechten als<br />

ausgleichende Gewalt im Bereich des Handels, der dafür sorge, dass der Austausch<br />

der Güter auf einer fairen Basis erfolge.<br />

5) Tugendlehre: Skinner räumt ein, dass es möglich sei, vieles in der Darstellung<br />

der sich um <strong>die</strong> Regentengestalt scharenden Tugenden mit der Lehre der Scholastik<br />

<strong>und</strong> insbesondere mit Thomas <strong>von</strong> Aquin zu erklären. 178 Dagegen macht er das<br />

Argument geltend, dass <strong>die</strong>selben Gesichtspunkte der Tugendlehre sich auch bei den<br />

Prähumanisten finden <strong>und</strong> zwar einerseits auf der Gr<strong>und</strong>lage der Bibel, andererseits<br />

auf der Gr<strong>und</strong>lage der Tugendlehre Ciceros <strong>und</strong> Senecas. 179 Ausserdem erkläre der<br />

Prähumanismus weitere, für den <strong>Freskenzyklus</strong> wesentliche Aspekte der Tugendlehre,<br />

<strong>die</strong> allein mit Hilfe der Tugendlehre des Aquinaten so nicht verständlich seien. 180 Dabei<br />

lenkt Skinner <strong>die</strong> Aufmerksamkeit auf <strong>die</strong> kleine Justitia rechts aussen <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

zentrale Stellung der Magnanimitas.<br />

So wie <strong>die</strong> Prähumanisten in ihren Traktaten bei der Behandlung der<br />

Gerechtigkeit zwischen der Justitia im Sinne vom Wesen des Rechts <strong>und</strong> der Justitia<br />

im Sinne <strong>von</strong> Rechtschaffenheit als menschliches Attribut unterschieden, hat für<br />

Skinner auch <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> <strong>die</strong>se beiden Aspekte getrennt dargestellt. Die<br />

Justitia als Teil der Tugendlehre veranschauliche sich in der Justitia rechts aussen. 181<br />

Während sowohl bei Thomas <strong>von</strong> Aquin als auch bei Cicero der Justitia eine<br />

herausragende Stellung, gleich hinter der Prudentia, eingeräumt werde, setze Seneca<br />

<strong>die</strong>se Tugend aber an <strong>die</strong> letzte Stelle der vier Kardinaltugenden. 182 Diese Meinung<br />

Senecas widerspiegle sich im <strong>Freskenzyklus</strong> in der weiten Entfernung der Justitia <strong>von</strong><br />

der Regentengestalt; 183 denn viele Prähumanisten hätten sich <strong>die</strong>ser Rangfolge<br />

ebenfalls angeschlossen. So behaupte z. B. auch Brunetto Latini <strong>die</strong> "Justitia sei <strong>die</strong><br />

Tugend, <strong>die</strong> erst hinter allen anderen Tugenden komme;" denn "<strong>die</strong> zwei anderen<br />

178 Ebd., S. 46 f.<br />

179 Ebd., S. 47<br />

180 Ebd., s. 48<br />

181 Ebd., S. 35 f.<br />

182 Ebd., S. 26 ff.<br />

183 Ebd., S. 48<br />

113


Tugenden, Temperantia <strong>und</strong> Fortitudo, <strong>die</strong>nten dazu, <strong>die</strong> Herzen der Menschen auf<br />

gerechtes Handeln auszurichten." 184<br />

Auch <strong>die</strong> zentrale Position der Magnanimitas gleich neben der Regentenfigur<br />

führt Skinner auf <strong>die</strong> Tugendlehre Senecas <strong>und</strong> ihre Rezeption durch <strong>die</strong><br />

Prähumanisten zurück. 185 Für Cicero sowie für Thomas <strong>von</strong> Aquin ist <strong>die</strong><br />

Magnanimitas nur eine Untertugend der Fortitudo. Bowsky hat das eher<br />

<strong>über</strong>raschende Auftreten der Magnanimitas im Tugendkanon des <strong>Freskenzyklus</strong> in<br />

den Kontext der grosszügigen Kulturpolitik in Siena gesetzt <strong>und</strong> mit Aristoteles<br />

begründet, der <strong>die</strong>se Tugend ausführlich in der Nikomachischen Ethik diskutiert. 186 Für<br />

Skinner ist aber Seneca <strong>die</strong> massgebende Autorität für <strong>die</strong> herausragende Stellung der<br />

Magnanimitas im <strong>Freskenzyklus</strong>. Denn <strong>die</strong>ser betrachtete <strong>die</strong> Tugend der Grossherzigkeit<br />

als eine der wichtigsten, vielleicht gar als bedeutendste für das gemeinschaftliche<br />

Leben, 187 <strong>die</strong> besonders jenen anstehe, <strong>die</strong> sich im öffentlichen Dienst befinden: "Auch<br />

wenn <strong>die</strong> Tugend der Grossherzigkeit alle auszeichnet, <strong>die</strong> sie besitzen, so sind doch<br />

jenen grössere Möglichkeiten eröffnet, <strong>die</strong> wohlhabend sind <strong>und</strong> sie wird direkter bei<br />

denen wahrgenommen, <strong>die</strong> auf Richterstühlen sitzen, als bei denen der unteren Ebene."<br />

188 Diese Betonung der Magnanimitas in der Tradition Senecas haben nach Skinner<br />

weder Thomas <strong>von</strong> Aquin noch seine Schüler berücksichtigt, finde indessen aber<br />

Beachtung bei den Prähumanisten, so z.B. bei Giovanni da Viterbo, der in sein Werk<br />

De regimine civitatum <strong>die</strong> oben zitierte Textpassage aufgenommen habe. Auch Brunetto<br />

Latini preise <strong>die</strong> Magnanimitas in höchsten Tönen, nenne sie "<strong>die</strong> Krone <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

hellste der Tugenden, da ihr nichts ebenbürtig sei;" 189 denn "...es sei edler zu geben als<br />

zu erhalten" 190 <strong>und</strong> "...der Grossgesinnte sei der edelste <strong>und</strong> grösste aller ehrenhaften<br />

Männer." 191 In <strong>die</strong>sem Zusammenhang stützt sich Brunetto Latini laut Skinner neben<br />

Seneca ausnahmsweise auch auf Aristoteles <strong>und</strong> <strong>die</strong> Nikomachische Ethik, <strong>die</strong> ihm in<br />

184 "Justice vient aprés tout les autres vertus." (Latini, Trésor, S. 248, zit. n. SKINNER (1986), s.<br />

28 n.3)<br />

185 Ebd., S. 48<br />

186 BOWSKY (1981), siehe oben.<br />

187 SKINNER (1986)., S. 29<br />

188 "Decet magnanimitas quelibet mortalem...tamen magnanimitas in bona fortuna laxiorem<br />

locum habet meliusque in tribunali quam in plano conspicitur." (Seneca, Epistulae Morales, zit. n.<br />

SKINNER (1986), S. 29 n.4)<br />

189 "Donques est magnanimités courone et clartés de toutes vertus, car ele n'est se par vertu<br />

non." (Latini, Trésor, S. 194, zit. n. SKINNER (1986), S. 31 n.1)<br />

190 "...que plus noble chose est doner ke reçoivre." (Latini, Trésor, S. 194, zit. n. SKINNER<br />

(1986), S. 30 n.6)<br />

191 "Et a la verité dire, celui ke est magnanimes est li plus grans hom et li plus honorables ki<br />

soit..." (Latini, Trésor, S. 194, zit. n. SKINNER (1986), S. 31 n.1)<br />

114


der 1241 <strong>von</strong> Hermannus Alemannus aus dem Arabischen <strong>über</strong>setzten Kurzfassung<br />

bekannt war. 192<br />

4.6. Religiös-biblische Deutung<br />

Die bis anhin besprochenen Deutungen des <strong>Freskenzyklus</strong> haben vor allem den<br />

säkularen Aspekt im <strong>Freskenzyklus</strong> hervorgehoben: Man sieht in ihm <strong>die</strong> Ausbildung<br />

des sich territorial definierenden Rechtsstaats, eine Darstellung <strong>von</strong> Siena selbst auf<br />

der Gr<strong>und</strong>lage seiner Verfassung, politische Propaganda der gente media oder ein<br />

republikanisches Programm, respektive <strong>die</strong> Abbildung republikanischer Ideologie. In<br />

<strong>die</strong>sem Abschnitt seien nun Beiträge zur Deutung des Freskenyzklus besprochen,<br />

welche <strong>die</strong> religiöse Deutung der politischen Botschaft im Werk <strong>Ambrogio</strong><br />

<strong>Lorenzetti</strong>s betonen <strong>und</strong> auf <strong>die</strong> Bibel als eine seiner wesentlichen Quellen verweisen.<br />

Die erste, <strong>die</strong> dem religiösen Bezugsrahmen des <strong>Freskenzyklus</strong> ihre<br />

Aufmerksamkeit schenkte, ist Uta Feldges (1972). 193 In ihrer enzyklopädischen<br />

Deutung des <strong>Freskenzyklus</strong>, auf <strong>die</strong> wir weiter hinten nochmals zu sprechen kommen,<br />

erläutert sie den Bezug des <strong>Freskenzyklus</strong> zum mittelalterlichen Konzept der civitas<br />

<strong>und</strong> der Offenbarungsschrift des Johannes (Apokalypse) mit dem Kommentar <strong>von</strong><br />

Albertus Magnus. Sie sieht in der Stadt des Buon Governo <strong>die</strong> Abbildung Sienas als<br />

Prototyp der civitas, in der sich <strong>die</strong> himmlische Ordnung des ewigen Jerusalems<br />

spiegelt. Denn im Verständnis des Mittelalters widerspiegelte <strong>die</strong> Stadt genauso wie<br />

das Kloster eine himmlische Ordnung. Sie galten "beide als verwandte Versuche,<br />

durch ein geordnetes Gemeinschaftsleben der Not der Zeit <strong>und</strong> den Gefahren des<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts zu begegnen" 194 Daraus folgert Feldges, dass sich <strong>die</strong> Darstellung des<br />

Themas Buon Governo - Mal Governo auf <strong>die</strong> zwei biblischen Städte Jerusalem <strong>und</strong><br />

Babylon zurückführen lasse.<br />

Konkret erblickt sie in der Mittel- <strong>und</strong> Längswand des Buon Governo alle<br />

Qualitäten abgebildet, <strong>die</strong> gemäss des Apokalypse-Kommentars <strong>von</strong> Albertus Magnus<br />

zum himmlischen Jerusalem gehören: civium unitatem, securitas, pax, novitas quam<br />

habet per dotes, gratiae infusio, bonorum operum multitudo, virtutum decor et<br />

compositio - <strong>die</strong> Eintracht der Bürger, Sicherheit, Friede, das Überreichen <strong>von</strong> Gaben,<br />

192 Ebd., S. 30<br />

193 FELDGES-HENNING (1972), S. 159<br />

194 BRAUNFELS (1953), S. 22; zit. n. FELDGES-HENNING (1972), S. 159<br />

115


dargestellt durch <strong>die</strong> Adligen, <strong>die</strong> der Kommune ihre Güter präsentieren, der Einfluss<br />

göttlicher Gnade, bürgerliche Aktivität durch <strong>die</strong> Ausübung der mechanischen <strong>und</strong><br />

liberalen Künste sowie das Ornat der Tugenden. <strong>Der</strong> Gegensatz dazu sei das höllische<br />

Babylon, das im mittelalterlichen Symbolismus dem himmlischen Jerusalem<br />

gegen<strong>über</strong>gestellt wurde. 195 Albertus Magnus schildert das apokalyptische Babylon als<br />

eine Stadt "in der es weder eine Dienstleistung noch ein Handwerk gebe, durch dass<br />

der Mensch sein Brot ver<strong>die</strong>nen oder etwas tun könne, das in den Augen Gottes<br />

ver<strong>die</strong>nstvoll wäre." 196 Nur <strong>die</strong> Sünde werde in Babylon praktiziert (Fra Giordano da<br />

Rivolta). Gleichzeitig erscheint der Tyrann als Satan <strong>und</strong> trage <strong>die</strong> Hörner des Teufels,<br />

während zu seinen Füssen ein Ziegenbock liegt. Die Schlange, der Drache, der<br />

Zentaur <strong>und</strong> der Eber sind ebenfalls Symbole des Teufels.<br />

Frugoni (1983) rückt zusätzlich ein Buch des Alten Testaments in den<br />

Vordergr<strong>und</strong> zur Erläuterung des <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s. 197 Ausgehend<br />

vom Vers oberhalb der Justitia Diligite iustitiam qui iudicatis terram, der <strong>die</strong> erste<br />

Zeile des Liber Sapientiae <strong>über</strong> <strong>die</strong> Weisheit <strong>von</strong> König Salomo ist, deutet sie den<br />

<strong>Freskenzyklus</strong> auf der Gr<strong>und</strong>lage <strong>die</strong>ser apokryphen Schrift des Alten Testaments.<br />

Gr<strong>und</strong>sätzlich stellt Frugoni fest, dass sich der <strong>Freskenzyklus</strong> in der Kombination<br />

<strong>von</strong> Allegorie / Theorie <strong>und</strong> narrativen Elementen am Liber Sapientiae orientiere. 198<br />

<strong>Der</strong> einzige wesentliche Unterschied sei, dass im Liber Sapientiae <strong>die</strong> göttliche<br />

Weisheit in ihrer Funktion als <strong>die</strong> gr<strong>und</strong>legende Ursache irdischer Gerechtigkeit<br />

Protagonistin ist, während im <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>die</strong> Gerechtigkeit selbst zur Hauptperson<br />

erkoren wurde. Für Frugoni lässt sich <strong>die</strong>s aus der Betonung der Gerechtigkeit im<br />

erste Satz des Liber Sapientiae herleiten. Die Darstellung der grossen Justitia im<br />

einzelnen führt Frugoni dann auf <strong>die</strong> Interpretation des Verses Diligite iustitiam durch<br />

den zeitgenössischen Dominikanerpater Remigio Girolami zurück: 199 Auf der einen<br />

Seite der Waage sei <strong>die</strong> Gerechtigkeit im engeren Sinne abgebildet, d.h. als strafende<br />

Handlung (Schwert) einerseits <strong>und</strong> belohnende Handlung (Krone) andererseits. Auf<br />

der anderen Seite erscheine <strong>die</strong> Gerechtigkeit vom Blickpunkt der Handelnden selbst,<br />

d.h. <strong>von</strong> jenen <strong>die</strong> regieren <strong>und</strong> dazu aufgefordert sind, <strong>die</strong> Gerechtigkeit zu wahren.<br />

Konkret bedeute <strong>die</strong>s <strong>die</strong> Pflicht, <strong>die</strong> öffentlichen Finanzen mit Bedacht zu verwalten<br />

(Schale mit Geld) sowie <strong>die</strong> öffentlichen Aufgaben den Richtigen zuzuteilen (Lanze<br />

195 Ebd., S. 160 f.<br />

196 Ebd., S. 160<br />

197 FRUGONI (1983), S. 124 u. S. 147; s. a. FRUGONI (1980)<br />

198 Ebd., S. 147<br />

199 Ebd., S. 123 ff.<br />

116


<strong>und</strong> Speer). Die Aufforderung an <strong>die</strong> Regierenden, sich richtig zu verhalten, werde<br />

auch weiter hinten im Liber Sapientiae fortgeführt, nämlich durch das Gebot der<br />

Tugend. 200 Die vier Tugenden, <strong>die</strong> der Bibeltext (8.7) erwähnt, sind für Frugoni <strong>die</strong><br />

gleichen, <strong>die</strong> der <strong>Freskenzyklus</strong> darstellt: Besonnenheit (sobrietas oder temperantia),<br />

Klugheit (prudentia), Gerechtigkeit (iustitia) <strong>und</strong> Stärke (virtus oder fortitudo). Die<br />

doppelte Aufzählung der Gerechtigkeit im Buch der Weisheit - einerseits als Wirkung<br />

oder Emanation der göttlichen Weisheit, andererseits als eine der vier Tugenden -<br />

erklärt für Frugoni auch, weshalb im <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>die</strong> Justitia zweimal abgebildet<br />

sei. Dasselbe Werk ist für Frugoni auch Quelle des Mal Governo: Abgebildet ist das<br />

Reich der Gottlosen. 201 Hier herrschen <strong>die</strong> lex iniustitiae (2.11) <strong>und</strong> todbringende<br />

Gottlosigkeit (2.10), dargestellt durch <strong>die</strong> Justitia, <strong>die</strong> am Boden liegt, dem Hof der<br />

Laster <strong>und</strong> <strong>die</strong> gewalttätigen Szenen.<br />

So, wie Frugoni <strong>die</strong> theoretischen Ausführungen des Liber Sapientiae als eine<br />

wesentliche Quelle für <strong>die</strong> allegorische Aussage des <strong>Freskenzyklus</strong> betrachtet, erblickt<br />

sie auch Parallelen zwischen den historischen Elementen des Textes <strong>und</strong> den<br />

narrativen des Bildes. 202 In beiden Werken werde geschildert, wie das Licht der<br />

göttlichen Weisheit auf <strong>die</strong> Gerechten falle: Im Buch der Weisheit auf das Volk Israel,<br />

in dessen Geschicke <strong>die</strong> göttliche Weisheit während des Kampfes gegen <strong>die</strong> Ägypter<br />

eingreift (17.19-20); im <strong>Freskenzyklus</strong> auf <strong>die</strong> Stadt Siena, <strong>die</strong> der Maler deshalb<br />

nicht <strong>von</strong> der natürlichen Lichtquelle aus, dem Fenster im Raum, beleuchtet habe,<br />

sondern <strong>von</strong> der Mittelwand mit Justitia <strong>und</strong> Sapientia. Laut dem Liber Sapientiae ist<br />

<strong>die</strong> göttliche Weisheit eine Kraft, "dessen Licht herrlicher ist als das der Sonne"<br />

(7.29). Dieser Gedanke wird für Frugoni auch <strong>von</strong> den Versen des <strong>Freskenzyklus</strong><br />

aufgenommen <strong>und</strong> auf <strong>die</strong> Gerechtigkeit <strong>über</strong>tragen: Jusititia wird hier als <strong>die</strong> Tugend<br />

beschrieben, "<strong>die</strong> mehr als jede andere leuchtet...aus ihrem Licht wächst <strong>die</strong> Belohnung<br />

der Guten <strong>und</strong> <strong>die</strong> den Bösen angemessene Bestrafung." 203<br />

Während das Buon Governo im Licht <strong>von</strong> Sapientia <strong>und</strong> Justitia erstrahlt, hat sich<br />

<strong>über</strong> <strong>die</strong> Stadt des Mal Governo <strong>die</strong> Dunkelheit gelegt. 204 Auch <strong>die</strong>ser Kontrast Hell-<br />

Dunkel hat sein Pendant im Buch der Weisheit: "Die ganze Welt hatte helles Licht<br />

<strong>und</strong> ging ungehindert ihren Geschäften nach; nur <strong>über</strong> <strong>die</strong> Ägypter hatte sich tiefe<br />

Nacht ausgebreitet" (17.20). Frugoni argumentiert, dass im Liber Sapientiae <strong>die</strong><br />

Gegen<strong>über</strong>stellung Helden - Bösewichte, Israeliten - Ägypter in <strong>die</strong>selben Metapher<br />

200 Ebd., S 147 f.<br />

201 Ebd., S. 155<br />

202 Ebd., S. 147 f.<br />

203 Ebd., S. 148<br />

204 Ebd., S. 148<br />

117


Licht <strong>und</strong> Nacht getaucht seien wie im <strong>Freskenzyklus</strong>: das Licht als Bild <strong>von</strong><br />

Betriebsamkeit <strong>und</strong> üppigem Wachstum, <strong>die</strong> Nacht als Bild der Zerstörung <strong>von</strong> Leben<br />

<strong>und</strong> Natur. 205<br />

Uta Feldges (1972) <strong>und</strong> Chiara Fugoni (1983) lenken in ihrer Deutung <strong>die</strong><br />

besondere Aufmerksamkeit entweder auf ein Buch des Neuen oder eines des Alten<br />

Testaments. Alois Riklin (1996) schliesslich unterteilt den <strong>Freskenzyklus</strong> in zwei Seiten,<br />

in eine des Neuen <strong>und</strong> in eine des Alten Testaments. 206 Aus seiner Sicht hätten <strong>die</strong><br />

bisherigen Deutungen noch zu wenig beachtet, wie im <strong>Freskenzyklus</strong> das Alte <strong>und</strong> das<br />

Neue Testament gleichwertig verarbeitet wurden, mit der Pax als Schnittstelle. Links<br />

der Pax geht für Riklin das Bildprogramm vorwiegend auf Quellen des Alten<br />

Testaments (Buch der Weisheit, Babel der Genesis) zurück, während rechts <strong>von</strong> ihr<br />

das Neue Testament zur Geltung komme (göttliche Tugenden mit Christus, <strong>die</strong><br />

Kardinaltugenden, Maria auf dem Stadtsiegel sowie <strong>die</strong> Idealisierung der Wirkungen<br />

des <strong>gute</strong>n Regiments zum himmlischen Jerusalem).<br />

Genauer geht Riklin auf <strong>die</strong> Tugend der Pax im Schnittpunkt ein, entsprechend<br />

der zentralen Stelle, <strong>die</strong> sie sowohl im Alten als auch im Neuen Testament<br />

einnehme: 207 Im Alten Testament ist der Friede eine Gabe Gottes, das Werk der <strong>von</strong><br />

der göttlichen Weisheit inspirierten Gerechtigkeit <strong>und</strong> der Friedenskuss ist ein Kuss<br />

zwischen Justitia <strong>und</strong> Pax, der Gerechtigkeit <strong>und</strong> des Friedens. Im Neuen Testament<br />

würden <strong>die</strong> Menschen indessen aufgerufen, Frieden auf Erden durch eigenes Tun zu<br />

schaffen; der Friede verbinde sich mit der Liebe. Denn der Friedenskuss des Neuen<br />

Testaments sei der Kuss der Caritas <strong>und</strong> Gott sei ein Gott des Friedens, der <strong>die</strong> Welt in<br />

Christus versöhnt habe. Die Aufforderung zur Friedensstiftung, wie sie sich in der<br />

Bergpredigt (Mt 5.9), dem Römerbrief (12.18) oder dem ersten Brief des Petrus (3.11)<br />

findet, macht für Riklin <strong>die</strong> Pax zu einer Tugend. Gestützt auf das Neue Testament<br />

könne somit erklärt werden, weshalb Pax im <strong>Freskenzyklus</strong> zusammen mit den<br />

politischen Tugenden auf der Regierungsbank sitze <strong>und</strong> den Regenten mitberate.<br />

Die Pax ist für Riklin nicht nur ein horizontaler, sondern auch ein vertikaler <strong>und</strong><br />

diagonaler Schnittpunkt. Während sie horizontal <strong>die</strong> alttestamentliche Justitia mit den<br />

christlichen Kardinaltugenden verknüpfe, verbinde sie vertikal <strong>die</strong> göttliche <strong>und</strong><br />

menschliche Ebene. In der Diagonalen Caritas-Pax-Concordia sieht er<br />

Zusammenhänge christlicher Tradition: Für Thomas <strong>von</strong> Aquin ist <strong>die</strong> Pax ein Friede<br />

zwischen Gott <strong>und</strong> den Menschen. <strong>Der</strong> Friede unter den Menschen wird <strong>von</strong> ihm mit<br />

205 Ebd., S. 149<br />

206 RIKLIN (1996), S. 96 f.<br />

207 Ebd., S. 98 ff.<br />

118


der Concordia oder Eintracht gleichgesetzt, gemäss Augustinus, der unter dem Frieden<br />

des Staates <strong>die</strong> geordneten Eintracht der Bürger im Befehlen <strong>und</strong> Gehorchen versteht.<br />

Die unvollständige Diagonale Sapientia - Pax lässt sich für Riklin andererseits auf das<br />

Alte Testament zurückführen: <strong>Der</strong> Friede ist <strong>die</strong> Gabe Gottes sowie als Werk der <strong>von</strong><br />

der göttlichen Weisheit inspirierten Gerechtigkeit. Möglich ist für Riklin ausserdem<br />

anzunehmen, <strong>die</strong> unvollständige Diagonale gedanklich zur rechten Längswand <strong>und</strong><br />

damit zur Securitas fortzusetzen. Damit hätte <strong>die</strong> Diagonale insgesamt eine<br />

alttestamentliche Erklärung: „Das Werk der Gerechtigkeit wird der Friede sein; der<br />

Ertrag der Gerechtigkeit sind Ruhe <strong>und</strong> Sicherheit für immer.“ (Jes 32,17)<br />

Die Trennung des Bildprogramms in eine linke, alttestamentliche <strong>und</strong> rechte,<br />

neutestamentliche Seite hat für Riklin schliesslich eine Parallele in der Maestà Simone<br />

Martinis. Sie befindet sich im grossen Saal, angrenzend zu jenem mit dem<br />

<strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s. Simone Martini hat im unteren Fries ein<br />

Januskopf dargestellt, der rechts das Haupt einer jungen Frau zeigt <strong>und</strong> links dasjenige<br />

einer alten. Die jeweiligen Inschriften im Heiligenschein weisen auf <strong>die</strong> lex nova <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> lex vetus, für Riklin mit der lex nova auf <strong>die</strong> sieben christlichen Tugenden, das<br />

heisst <strong>die</strong> drei göttlichen <strong>und</strong> <strong>die</strong> vier kardinalen <strong>und</strong> mit der lex vetus auf <strong>die</strong> zehn<br />

Gebote. 208<br />

4.7. Summe, Enzyklopä<strong>die</strong> <strong>und</strong> Spiegel des göttlichen Kosmos<br />

Lenkt man schliesslich den Blick auf alle drei Wandbilder inklusive der<br />

Friesbänder oben <strong>und</strong> unten wird der <strong>Freskenzyklus</strong> generell als eine ins Bild gesetzte<br />

Summe, als gemalte Enzyklopä<strong>die</strong> oder als Spiegel des göttlichen Kosmos gedeutet.<br />

Erstmals hat George Rowley (1958) 209 den <strong>Freskenzyklus</strong> in seiner<br />

Gesamtkonzeption besprochen <strong>und</strong> das Werk eine politische Summe genannt, <strong>die</strong> wie<br />

<strong>die</strong> Summa theologica oder Summa philosophica contra gentiles des Thomas <strong>von</strong><br />

Aquin Wissen sammelt, ordnet, neu aufbereitet <strong>und</strong> in didaktische Form legt. Uta<br />

Feldges (1972) nennt es in ähnlicher Weise eine gemalte Enzyklopä<strong>die</strong>. 210 So werde im<br />

<strong>Freskenzyklus</strong> <strong>die</strong> Frage einer <strong>gute</strong>n oder schlechten Regierung - Kommune <strong>und</strong><br />

Tyrannei, Tugenden <strong>und</strong> Laster, Frieden <strong>und</strong> Krieg - sowohl in das akkumulierte<br />

Wissen der Zeit eingebettet, als auch auf <strong>die</strong> Zeitgeschichte bezogen. 211 Während <strong>die</strong><br />

208 Ebd., S. 96 f.<br />

209 ROWLEY (1958), S. 99<br />

210 FELDGES-HENNING (1972), S. 145<br />

211 ROWLEY (1958), S. 99 ff.<br />

119


sieben liberalen Künste <strong>und</strong> <strong>die</strong> Philosophie <strong>die</strong> zeitgenössische Bildung<br />

veranschaulichten, stellten <strong>die</strong> sieben Planeten <strong>und</strong> <strong>die</strong> vier Jahreszeiten im oberen<br />

Friesband den Bezug zum Makrokosmos her. Die Wappen der Kommune <strong>und</strong> des<br />

Popolo <strong>von</strong> Siena sowie <strong>die</strong> Fleurs-de-lys der Anjou <strong>und</strong> das Wappen der Guelfen<br />

setzten <strong>die</strong> Bilder ins Verhältnis zur Zeitgeschichte, <strong>die</strong> Medaillons der antiken<br />

Tyrannen würden indessen <strong>die</strong> historische Perspektive eröffnen. 212<br />

Uta Feldges hat ausserdem deutlich gemacht, dass der <strong>Freskenzyklus</strong> nebst den<br />

sieben liberalen Künsten, den sogenannten "Kopfarbeiten", auch <strong>die</strong> sieben<br />

mechanischen Künste, <strong>die</strong> "Handarbeiten", gemäss der Lehre Hugos de St. Victoire<br />

enzyklopädisch abbildet. 213 Da <strong>die</strong>se nicht wie <strong>die</strong> liberalen Künste in Medaillons<br />

aufgereiht sind, würden sie sich indessen in den Auswirkungen des Buon Governo<br />

verbergen <strong>und</strong> durch das geschäftige Treiben der Menschen Gestalt annehmen:<br />

Lanificium (Woll- Leder, Pelzarbeit), Armatura (z.B. Goldschmied, Baugewerbe),<br />

Navigatio (Handel), Agricultura (Landwirtschaft), Venatio (Jagd), Medicina (Heilk<strong>und</strong>e,<br />

z.B. Spezereienhändler / Apotheker) <strong>und</strong> Theatrica (Tanz). Die<br />

ausdifferenzierte Darstellung der einzelnen Tätigkeiten entspreche ausserdem, in<br />

Anlehnung an Otto Pächt, der Ikonographie der Kalenderbilder, <strong>die</strong> für jeden Monat<br />

des Jahres eine typische Arbeit abbildet. 214 Gemäss den Jahreszeiten Frühling <strong>und</strong><br />

Sommer, <strong>die</strong> gemeinsam mit den Planeten im oberen Friesband erscheinen, würden<br />

jedoch nur solche Tätigkeiten gezeigt, <strong>die</strong> in den Frühlings- <strong>und</strong> Sommermonaten<br />

stattfinden (März - Weinbau, April - Säen, Mai - Reiten, Juni - Pflügen <strong>und</strong><br />

Viehzucht, Juli - Ernten <strong>und</strong> Fischen, August - Dreschen, September - Jagen).<br />

Jack M. Greenstein (1988) setzt <strong>die</strong> grossflächigen Bilder des <strong>Freskenzyklus</strong><br />

gesamthaft in Abhängigkeit zum Makrokosmos der Planeten <strong>und</strong> Jahreszeiten. So wie<br />

<strong>die</strong> damalige Zeit durch <strong>die</strong> Kompilation enzyklopädischer Werke versucht hatte, <strong>die</strong><br />

<strong>von</strong> Gott der Schöpfung auferlegte Ordnung zu verstehen, sieht Greenstein <strong>die</strong> Bilder<br />

des Buon Governo <strong>und</strong> Mal Governo als <strong>die</strong> Wiedergabe der himmlischen Ordnung,<br />

beziehungsweise Unordnung. Brennpunkt der kosmischen Ordnung Gottes ist für<br />

Greenstein <strong>die</strong> Figur der Pax, <strong>die</strong> gemäss spätmittelalterlicher Interpretation den<br />

Frieden als eine irdische Spiegelung des göttlich geordneten Kosmos darstelle.<br />

Deutlich werde <strong>die</strong>s besonders in der perspektivischen Ausrichtung der Stadt des<br />

Buon Governo, da das harmonische Stadt- <strong>und</strong> Landleben zeichnerisch aus dem<br />

212 Ebd., S. 103<br />

213 FELDGES-HENNING (1972), S. 145 ff.<br />

214 Ebd., S. 150 f.<br />

120


Blickwinkel der Pax konstruiert sei. 215 Fortgeführt werde <strong>die</strong>ser kosmische Kontext<br />

durch <strong>die</strong> Tatsache, dass <strong>die</strong>se Welt des Friedens sich aus ikonographischen<br />

Elementen zusammensetze, <strong>die</strong> im direkten Bezug zu den drei Planeten <strong>und</strong> zwei<br />

Jahreszeiten stehen, <strong>die</strong> oberhalb in den Medaillons des Frieses zu sehen sind.<br />

Während <strong>die</strong> Jahreszeiten ihre Entsprechung in den Kalenderbildszenen der Frühlings<strong>und</strong><br />

Sommermonate finden (wie schon Feldges angeführt hat), glaubt Greenstein für<br />

<strong>die</strong> Konkretisierung der Planeten im irdischen Bereich eine frühe Ikonographie der<br />

Planetenkinder vor sich zu haben. Solche Planetenkinder sind Tätigkeiten <strong>und</strong><br />

Objekte, <strong>die</strong> <strong>von</strong> der Astrologie des 13. <strong>und</strong> 14. Jahrh<strong>und</strong>erts den entsprechenden<br />

Planeten zugeordnet wurden. 216 Brücken, Wassermühlen, Vogeljagd, das Korn<br />

transportierende Maultiere, Fischer, Reisende, Maurer beim Häuserbau sowie das<br />

Tavernenleben sind Kinder des Mondes. Kinder des Merkurs indessen sind das<br />

Betteln, Spinnen, Lehren, Lesen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Goldschmiedearbeit sowie all jene<br />

Aktivitäten, <strong>die</strong> mit Handel zu tun haben. Von der Venus seien nur jene Kinder<br />

abgebildet, <strong>die</strong> zum Sternzeichen des Stieres gehören (eheliche Liebe, Fre<strong>und</strong>schaft,<br />

Geselligkeit), während <strong>die</strong> lasziven der Waage abwesend seien (z. B. Liebe in den<br />

Büschen, gemeinsames Baden <strong>von</strong> Männern <strong>und</strong> Frauen). Dies erklärt für Greenstein<br />

auch, weshalb bei der Venus nur das eine Zeichen des Zodiakus mitabgebildet ist<br />

(Stier hinter der Figur der Venus), während sich bei den anderen Planeten in den<br />

seitlichen Rauten der Medaillons fast durchgehend beide ihnen zugehörigen Sternzeichen<br />

finden. In entsprechender Weise ist für Greenstein <strong>die</strong> Allegorie des Buon<br />

Governo eine Ansammlung <strong>von</strong> Sonnenkindern: Er betrachtet <strong>die</strong> allegorische Szene<br />

als einen Versuch, <strong>die</strong> ikonographische Tradition, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Sonnenkinder als Mitglieder<br />

eines fürstlichen Hofstaates sieht, an <strong>die</strong> kommunale Regierungsform anzupassen. 217<br />

Die Stadt des Mal Governo bildet für Greenstein indessen den Gegensatz zur<br />

Stadt des Friedens <strong>und</strong> der kosmischen Harmonie. Sie sei ihre Antithese <strong>und</strong> zeige <strong>die</strong><br />

kosmische Unordnung des Krieges auf. 218 Schuld daran sei nicht nur <strong>die</strong> Tyrannei,<br />

sondern verantwortlich seien auch <strong>die</strong> ungünstigen Einflüsse der Planeten Saturn,<br />

Jupiter <strong>und</strong> Mars. In <strong>die</strong>ser Dreierkonstellation <strong>von</strong> der Astrologie des 14.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts als <strong>die</strong> Ursache grösster Katastrophen betrachtet wurden. Im Sinne der<br />

Astrologie jener Zeit sind <strong>die</strong> ungünstigen Einflüsse der Sterne aber nicht<br />

unabwendbar, sondern <strong>die</strong> Stadt könne den Impulsen zur Unordnung widerstehen.<br />

215 Ebd., S. 497<br />

216 Ebd., S. 499 ff.<br />

217 Ebd., S. 502<br />

218 Ebd., S. 504<br />

121


Greenstein versteht <strong>die</strong>ses Bild des Krieges deshalb als ein Mahnbild, das vor finsterem<br />

Schicksal warnt, dem sich aber jener Stadtstaat zu entziehen vermag, der<br />

achtsam agiere.<br />

Die Tatsache, dass der <strong>Freskenzyklus</strong> als ein enzyklopädischer Bilderkreis<br />

verstanden wird, führt dazu, ihn mit ähnlichen Werken in der bildenden Kunst zu<br />

vergleichen. George Rowley erwähnt <strong>die</strong> französische Kathedrale, Uta Feldges ein<br />

Fresko <strong>von</strong> Andrea da Firenze, das der Künstler um ca. 1350 in der Spanischen<br />

Kapelle <strong>von</strong> Santa Maria Novella für <strong>die</strong> Florentiner Dominikaner ausführte. Chiara<br />

Frugoni (1979/1983) geht <strong>die</strong>ser Spur jedoch weiter nach <strong>und</strong> zeigt <strong>die</strong><br />

Verwandtschaft des <strong>Freskenzyklus</strong> mit ähnlichen enzyklopädischen Werken in der<br />

bildenden Kunst auf, so zur Fontana Maggiore in Perugia (1271-1278) <strong>von</strong> Nicola<br />

Pisano <strong>und</strong> zum Kampanile des Florentiner Doms, der <strong>von</strong> Giotto entworfen <strong>und</strong> im<br />

Jahr 1334 begonnen wurde. Für Chiara Frugoni haben sie mit dem <strong>Freskenzyklus</strong><br />

gemeinsam, dass sie eine neue, in der sozialen Realität der Stadt begründeten<br />

Sichtweise auf Politik <strong>und</strong> Wissen zeigen. <strong>Der</strong> irdische Staat <strong>und</strong> <strong>die</strong> menschliche<br />

Arbeit würden nicht mehr als Strafe für den Sündenfall betrachtet <strong>und</strong> als Folge für<br />

<strong>die</strong> Vertreibung aus dem irdischen Para<strong>die</strong>s, sondern erhielten nun einen positiven<br />

Sinngehalt.<br />

In der Fontana Maggiore wird für Frugoni <strong>die</strong> durch den Sündenfall ausgelöste<br />

Tragik des Menschengeschlechts bewusst zu einem <strong>gute</strong>n Ende geführt. So werde der<br />

ersten Sünde zum einen <strong>die</strong> Vergebung durch das Opfer Christi entgegengestellt, zum<br />

anderen würden Politik <strong>und</strong> menschliche Arbeit als sozial nützlich abgebildet.<br />

Personifikationen der Stadt Perugia, der Stadt Rom sowie Stadtheilige <strong>und</strong> Amtsträger<br />

Perugias zeigen <strong>die</strong> positiven Aspekte der kommunalen Institutionen auf, während<br />

Kalenderbilder <strong>und</strong> Darstellungen der liberalen Künsten <strong>die</strong> positive Seite <strong>von</strong> Arbeit<br />

<strong>und</strong> Bildung offenbaren. Szenen aus dem Tier- <strong>und</strong> Fabelreich deuten indessen <strong>die</strong><br />

Gefahren des politischen Lebens an.<br />

Eine noch deutlichere Exaltation der Kreativität <strong>und</strong> der Leistung des<br />

Menschengeschlechts sowohl im Bereich der Künste als auch der Politik widerspiegelt<br />

sich gemäss Frugoni im Programm des Kampanile <strong>von</strong> Giotto. 219 An der Seite <strong>von</strong><br />

Noah, der das Menschengeschlecht neu begründet hat, sind Daedalus, der Meister des<br />

Fliegens, Jubal, der Vater der Musiker, Tubalcain, der Erfinder der Schmiedekunst,<br />

Vulkan, der Inventor des Feuers <strong>und</strong> damit der menschlichen Gemeinschaft<br />

abgebildet. Die Erfindung der Gesetzgebung symbolisiert Phoroneus, eine Gestalt aus<br />

219 FRUGONI (1991), S. 174 ff.<br />

122


der griechischen Sagenwelt. Sieger <strong>über</strong> das Böse ist Herkules, der Florentiner<br />

Stadtpatron, dessen Bild das Stadtsiegel ziert. Im Kampanile wird er dargestellt, wie<br />

er Cacus, auf griechisch kakón, das Böse, niederschlägt. Ein weiteres Bild zeigt<br />

Gionitus, der <strong>die</strong> Künste Arithmetik, Geometrie <strong>und</strong> Astronomie vertritt. Weitere<br />

Tafeln erzählen <strong>von</strong> Kaufleuten auf hoher See, <strong>von</strong> einem Arzt, der den Urin eines<br />

Kranken untersucht <strong>und</strong> <strong>von</strong> Frauen am Webstuhl. Ausserdem sind je ein Architekt,<br />

ein Maler <strong>und</strong> ein Bildhauer bei ihrer Arbeit zu sehen. Den Zyklus vervollständigen<br />

<strong>die</strong> sieben Tugenden - vier Kardinaltugenden <strong>und</strong> drei theologische Tugenden -, <strong>die</strong><br />

sieben Planeten <strong>und</strong> <strong>die</strong> sieben Sakramente sowie Kirchenväter, Propheten, Könige<br />

des Alten Testaments <strong>und</strong> Sybillen.<br />

Obwohl <strong>die</strong> genannten Werke der bildenden Kunst zwar mit dem <strong>Freskenzyklus</strong><br />

verwandt sind, führt <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> <strong>die</strong>selben Themen jedoch weiter aus <strong>und</strong><br />

bildet sie auf eine eigene Art <strong>und</strong> Weise ab. Selbst in der Ikonographie der Tugenden<br />

hält sich <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>, was <strong>die</strong> Attribute betrifft, kaum an Vorbilder, sondern<br />

stellt sie neuartig dar. <strong>Der</strong> <strong>Freskenzyklus</strong> wird deshalb auch mit spezifischen<br />

enzyklopädischen Werken in Verbindung gebracht, <strong>die</strong> nicht dem Bereich der<br />

bildenden Kunst, sondern dem Schrifttum angehören.<br />

Den ersten Schritt hat Rosemond Tuve (1963) gemacht, der das Moralium Dogma<br />

Philosophorum als Quelle für <strong>die</strong> Gegen<strong>über</strong>stellung, Auswahl <strong>und</strong> Gestaltung der<br />

Tugenden <strong>und</strong> Laster im <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s erkennt. 220 Dieses Werk<br />

aus dem 12. Jahrh<strong>und</strong>ert, das sich bis ins 15. Jahrh<strong>und</strong>ert grösster Beliebtheit erfreute,<br />

ist in gewissem Sinne eine enzyklopädische Zusammenstellung <strong>von</strong> Zitaten zu<br />

Tugenden <strong>und</strong> Lastern. Die Zitate stammen <strong>von</strong> mehr als 500 Autoren, wobei der<br />

grösste Teil da<strong>von</strong> der römischen Antike angehört. Abgesehen <strong>von</strong> der Pax, <strong>die</strong> für<br />

Tuve keine Tugend ist - denn <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> habe ihr Bild absichtlich vom Tugendkanon<br />

abgesetzt 221 - sei es möglich, <strong>die</strong> restlichen allegorischen Figuren auf das<br />

Tugend- <strong>und</strong> Lastersystem des Moralium Dogma Philosophorum zurückzuführen. So<br />

ist z.B. <strong>die</strong> Concordia eine Untertugend der Justitia, <strong>die</strong> Magnanimitas eine der<br />

Fortitudo. Die drei Aspekte PRAETERITUM - PRAESENS - FUTURUM gehören zur<br />

Providentia (Voraussicht), einer Untertugend der Prudentia. 222 Desgleichen seien <strong>die</strong><br />

abgebildeten Laster entweder selbst Hauptlaster oder Unteraspekte derselben. 223 Die<br />

220 TUVE (1963)., S. 290 ff.<br />

221 Ebd., S. 294<br />

222 Ebd., S. 293 f.<br />

223 Ebd., S. 291<br />

123


zwei Figuren, <strong>die</strong> für Tuve in besonderer Weise auf das Moralium Dogma Philosophorum<br />

als Quelle hinweisen, sind Securitas <strong>und</strong> Timor. 224 Die beiden erscheinen in<br />

<strong>die</strong>sem Werk unter dem Titel der "Iniustitia" als fiktive Sprecher, <strong>die</strong> sich <strong>über</strong> das<br />

Schreckliche der Welt unterhalten. Während Timor in kurzen Ausrufesätzen das Bild<br />

einer Welt <strong>von</strong> Grausamkeit, Tod <strong>und</strong> finanzieller Not zeichnet, fällt Securitas in<br />

<strong>die</strong>sem tragischen Schauspiel der Part zu, das Gute <strong>die</strong>ser Welt zu betonen. <strong>Der</strong> Inhalt<br />

<strong>die</strong>ses Dialogs, so Tuve, stamme zwar zum grössten Teil aus einem damals Seneca<br />

zugeschriebenen Werk De remediis fortuitorum, das dem anonymen Verfasser des<br />

Moralium Dogma Philosophorum hier als Vorlage <strong>die</strong>nte, doch sei es <strong>die</strong> Idee <strong>die</strong>ses<br />

Verfassers gewesen, <strong>die</strong> Sprecherrollen an Timor <strong>und</strong> Securitas zu vergeben, ein<br />

Gedanke, der sich in keinem anderen Werk sonst finde, ausser eben auch im Bild <strong>von</strong><br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>.<br />

Während Rosemond Tuve das enzyklopädische Wissen jener Zeit <strong>über</strong> <strong>die</strong><br />

Tugend <strong>und</strong> <strong>die</strong> Laster untersucht <strong>und</strong> mit dem <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s<br />

in Bezug setzt, tritt in der Folge eine Enzyklopä<strong>die</strong> als Quelle des <strong>Freskenzyklus</strong> in<br />

den Vordergr<strong>und</strong>, <strong>die</strong> nebst der Tugend- <strong>und</strong> Lasterlehre auch <strong>die</strong> Themen Politik,<br />

Weltschau, Natur <strong>und</strong> Geschichte behandelt. Es ist der Trésor Brunetto Latinis, der<br />

namentlich auch das Moralium Dogma Philosophorum für <strong>die</strong> Darstellung der<br />

Tugend- <strong>und</strong> Lasterlehre verwertet. Dieses Werk, das um das Jahr 1266 entstanden ist,<br />

wird <strong>von</strong> mehreren Autoren als wesentliche Gr<strong>und</strong>lage für das Bildprogramm des<br />

<strong>Freskenzyklus</strong> betrachtet, wobei <strong>die</strong> Akzente jedoch unterschiedlich gesetzt werden.<br />

Für Quentin Skinner ist der Trésor Brunetto Latinis der Schlüssel für <strong>die</strong> Deutung<br />

des <strong>Freskenzyklus</strong>. Dieses Werk ist für ihn Ausdruck der prähumanistischen Kultur<br />

der italienischen Stadtrepubliken <strong>und</strong> "source for most of <strong>Lorenzetti</strong>s symbolic<br />

effects." 225 Randolph Starn indessen sieht im Trésor nicht <strong>die</strong> wesentliche Quelle des<br />

Bildprogramms, sondern <strong>die</strong> wesentliche Gr<strong>und</strong>lage zur Erschliessung des<br />

enzyklopädischen Wissens im <strong>Freskenzyklus</strong>. Für Starn geben aber nicht <strong>die</strong> Bilder<br />

des <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>die</strong>ses enzyklopädische Wissen wieder, sondern allein <strong>die</strong><br />

lateinischen Inschriften. Sie seien wie ein Index zu einer Enzyklopä<strong>die</strong> zu lesen, im<br />

speziellen eben zum Trésor Brunetto Latinis, der wichtigsten Enzyklopä<strong>die</strong>, <strong>die</strong> im<br />

Umfeld der italienischen Stadtkommunen entstanden ist. Schlüssel für einzelne<br />

allegorische Bildelemente ist für Starn aber - jedoch nur in sehr beschränktem<br />

Ausmass 226 - der "kleine Wissensschatz" Brunetto Latinis, der Tesoretto. Während der<br />

224 Ebd., S. 291 ff.<br />

225 SKINNER (1986), S. 52 f.<br />

226 Siehe unten.<br />

124


Trésor eine Enzyklopä<strong>die</strong> im gelehrten Sinne darstellt, ist der Tesoretto ein<br />

allegorisch-didaktisches Gedicht, das einem vom Weg abgekommenen Wanderer das<br />

glückliche Leben zu lehren sucht. Mechthild Modersohn (1998) hat schliesslich <strong>die</strong>sen<br />

Ansatz Starns weiterentwickelt <strong>und</strong> <strong>die</strong> allegorische Dichtung des Tesoretto als<br />

Gr<strong>und</strong>lage des Bildprogramms <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s herausgearbeitet. So führe der<br />

Weg im <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>über</strong> das Reich der Philosophie mit den Tugenden in das Reich<br />

Amors, wo sich das irdische Glück verwirkliche. Für <strong>die</strong> Ausmalung <strong>die</strong>ses Konzepts<br />

im <strong>Freskenzyklus</strong> verweist Modersohn dann wieder auf den Trésor. Dabei kann sie<br />

sich auf <strong>die</strong> Anweisungen Brunetto Latinis im Tesoretto stützen, wo <strong>die</strong>ser den Leser<br />

immer wieder auffordert, im "grossen Schatz" weiterzulesen. 227<br />

4.8. Politische Summe des stadtrepublikanischen Weltbildes im frühen<br />

Trecento<br />

Setzt man <strong>die</strong> bisherigen Deutungen zu einer Synthese zusammen, so kann der<br />

<strong>Freskenzyklus</strong> mit Alois Riklin (1996) als eine "politische Summe des<br />

stadtrepublikanischen Weltbildes im frühen Trecento" bezeichnet werden. 228<br />

Geht man <strong>von</strong> <strong>die</strong>sem Begriff aus, ist es, wie oben ausgeführt, möglich, im Bild<br />

sowohl <strong>die</strong> Darstellung des rechtzentrierten, souveränen Territorialstaats zu sehen als<br />

auch das Porträt des Sieneser Staates. Gleichzeitig erlaubt sie dem Betrachter, sich im<br />

<strong>Freskenzyklus</strong> auch mit der Gegen<strong>über</strong>stellung <strong>von</strong> <strong>gute</strong>r <strong>und</strong> schlechter Regierung<br />

auseinanderzusetzen. Dabei kann er seinen Blick entweder auf <strong>die</strong> politische<br />

Propaganda im Bild richten, sich auf <strong>die</strong> republikanisch Wirklichkeit Sienas <strong>und</strong><br />

dessen Bewohner Ängste, Gebote <strong>und</strong> Träume einlassen oder mit den philosophischen<br />

Quellen beschäftigen, aus denen sich das Thema der <strong>gute</strong>n <strong>und</strong> der schlechten<br />

Regierung speist. Als Gesamtschau erweitert <strong>die</strong> Summe auch den Blick auf <strong>die</strong><br />

Friesbänder, <strong>die</strong> den politischen Inhalt der grossflächigen Bilder sowohl in Bezug zu<br />

historischen Exempeln <strong>und</strong> zur zeitgenössischen Bildung setzen, als auch zum<br />

Makrokosmos des politischen Weltgeschehens sowie des Planeten- <strong>und</strong><br />

Jahreswechsels. Hier verbinden sie sich dann auch mit der Ordnung des Kosmos <strong>und</strong><br />

werden astrologisch-mythologisch <strong>über</strong>höht.<br />

227 MODERSOHN (1998), bes. S. 971<br />

228 RIKLIN (1996), S. 119<br />

125


Im einzelnen ist aber nicht zu leugnen, dass <strong>die</strong> verschiedenen Interpreten des<br />

<strong>Freskenzyklus</strong> sich auch bewusst widersprechen. Besonders deutlich wird <strong>die</strong>s<br />

erstmals bei Quentin Skinner, der seine eigene Deutung des <strong>Freskenzyklus</strong> - Ausdruck<br />

der prähumanistischen Kultur - der "orthodoxen" aristotelisch-thomistischen Deutung<br />

entgegenstellt. 229 Angesichts <strong>die</strong>ses Widerspruchs verweist dann Maria Monica Donato<br />

(1988) auf ein in Vergessenheit geratenes Fresko im Sieneser Contado, das um 1350<br />

entstanden ist. Es liefere einen wesentlichen Beitrag zur Quellendiskussion, da es ein<br />

Bildnis des Aristoteles enthält. <strong>Der</strong> griechische Philosoph nimmt im Programm <strong>die</strong>ses<br />

Zyklus gar <strong>die</strong> Schlüsselposition ein, für Donato eine explizite Bestätigung des<br />

"aristotelischen Tenors der politischen Bildprogramme im 14. Jahrh<strong>und</strong>ert." 230<br />

Während Skinner mit Nicolai Rubinstein aber annimmt, dass der <strong>Freskenzyklus</strong><br />

auf der Gr<strong>und</strong>lage <strong>von</strong> Quellen, seien sie aristotelisch-thomistisch oder<br />

prähumanistisch, <strong>die</strong> republikanische Ideologie der italienischen Stadtkommunen<br />

offenlegt, bestreitet Randolph Starn eine solche Offenlegung, <strong>die</strong> inhaltlich <strong>über</strong> den<br />

Volgare-Text der Verslegenden hinausgeht. So sieht zwar auch er ein<br />

republikanisches Programm dargestellt, doch <strong>die</strong> politische Theorie, <strong>die</strong> es<br />

wiedergebe, sei an <strong>die</strong> Verslegenden geb<strong>und</strong>en. Diese setzten sich zwar vorwiegend<br />

aus Gemeinplätzen zusammen, doch als solche sind sie für Starn typischer Ausdruck<br />

der republikanischen Politik. Denn in der Republik geniesse nicht <strong>die</strong> originelle Idee<br />

Ansehen <strong>und</strong> Legitimität, sondern der viel zitierte Gedanke, der der allgemeinen<br />

Kritik schon standgehalten habe. 231 .<br />

Nebst <strong>die</strong>ser Diskussion unter den Autoren, <strong>die</strong> im <strong>Freskenzyklus</strong><br />

republikanisches Gedankengut erkennen, gibt es wiederum andere, <strong>die</strong> einer solchen<br />

republikanischen Deutung des <strong>Freskenzyklus</strong> entweder entgegentreten oder als<br />

unwesentlich erachten. Aufgr<strong>und</strong> der Betitelung des Bildes durch <strong>die</strong> Quellen <strong>von</strong><br />

1350 bis Ende des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts als pace <strong>und</strong> guerra, Frieden <strong>und</strong> Krieg, kommt<br />

Edna Carter Southard (1980) zum Schluss, dass der <strong>Freskenzyklus</strong> nicht mehr als das<br />

Gebot veranschauliche, den Frieden im Staatsgebiet zu wahren <strong>und</strong> Krieg zu<br />

vermeiden. Bram Kempers will dann vor allem eine Darstellung des Sieneser<br />

Staatsbildungsprozesses im <strong>Freskenzyklus</strong> erkennen <strong>und</strong> sieht den Schlüssel des<br />

<strong>Freskenzyklus</strong> deshalb "weniger in allgemeinen <strong>und</strong> beschaulichen Werken <strong>von</strong><br />

Thomas <strong>von</strong> Aquin, Hugo <strong>von</strong> Saint Victor, Brunetto Latini, Domenico Cavalca,<br />

229 SKINNER (1986), S. 21<br />

230 DONATO (1989), S. 113<br />

231 STARN (1992), S. 38<br />

126


Restoro d'Arezzo oder Remigio Girolami als vielmehr in den konkreten Stadtgesetzen,<br />

<strong>die</strong> genau zur gleichen Zeit <strong>und</strong> im gleichen sozialen Kreis entwickelt wurden." 232<br />

Greenstein schliesslich kann der Darstellung <strong>und</strong> Konkretisierung Sienas im<br />

<strong>Freskenzyklus</strong> nicht folgen. Aus seiner Sicht mag "das Bild der friedvollen Stadt<br />

vielleicht dazu einladen, es mit Siena zu vergleichen, doch sicherlich rechtfertige <strong>die</strong>s<br />

nicht, es mit Siena zu identifizieren." 233<br />

Ein gr<strong>und</strong>sätzlicher Punkt, der in der Literatur zur Diskussion Anlass gibt, ist<br />

ausserdem <strong>die</strong> Frage, wie säkular <strong>die</strong> Fresken <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s sind, das heisst,<br />

wie sehr sie als Ausdruck eines in der Gesellschaft stattfindenden<br />

Säkularisierungsprozesses zu gelten haben. So erkennt Rubinstein in der Darstellung<br />

des republikanischen Gedankenguts im <strong>Freskenzyklus</strong> den Trend zur Verweltlichung<br />

der politischen Ideen. Als Ausdruck der prähumanistischen Kultur steht auch für<br />

Skinner der <strong>Freskenzyklus</strong> nicht in der christlichen Tradition, sondern in der Tradition<br />

der römischen Antike. Chiara Frugonis Vorschlag, das Werk auch auf der Gr<strong>und</strong>lage<br />

des biblischen Buchs der Weisheit zu deuten, dessen erster Satz Diligite iustitia qui<br />

iudicatis terram oberhalb der Justitia geschrieben steht, weist Skinner zurück. 234 Für<br />

Uta Feldges, <strong>die</strong> in ihrer Deutung zwar biblische Quellen anführt, "werden jedoch <strong>die</strong><br />

religiösen Komponenten <strong>von</strong> den politischen in den Schatten gestellt." 235 Den<br />

säkularen Charakter des <strong>Freskenzyklus</strong> stellen schliesslich auch <strong>die</strong> Autoren in den<br />

Vordergr<strong>und</strong>, <strong>die</strong> das Bild mit dem Staatsbildungsprozess verbinden, da <strong>die</strong><br />

Stadtgesetze dem weltlichen Bereich angehören. So bemerkt auch Kantorowicz, dass<br />

<strong>die</strong> damaligen Juristen zwar "recht oft auch <strong>die</strong> Bibel zitierten, wenn es ihnen gelegen<br />

erschien," 236 aber "<strong>die</strong> weltliche Autorität der römischen Gesetzbücher erschien ihnen<br />

als solche wertvoller, wichtiger <strong>und</strong> beweiskräftiger als <strong>die</strong> Heilige Schrift." 237 Am<br />

weitesten in der säkularen Sicht des <strong>Freskenzyklus</strong> geht Starn: Für ihn entspringt das<br />

Panoramabild der Stadt <strong>und</strong> des Landes <strong>von</strong> Siena den säkularen Fantasien des<br />

republikanischen homo oeconomicus; es erscheint ihm als "Traumwerk einer<br />

Kaufmannsrepublik, in der das Gemeinwohl der Summe der partikularen Interessen<br />

232 KEMPERS (1989), S. 75<br />

233 GREENSTEIN (1988), S. 493<br />

234 Siehe Antwort FRUGONI (1991), Appendix<br />

235 FELDGES-HENNING (1972)<br />

236 KANTOROWICZ (1957), S. 134<br />

237 Ebd., S. 134<br />

127


entspricht" <strong>und</strong> in der <strong>die</strong> "unsichtbaren Gesetze <strong>von</strong> Angebot <strong>und</strong> Nachfrage<br />

gelten." 238<br />

Während Starns Optik fast an <strong>die</strong> ökonomischen Gesellschaftstheorien des 18. <strong>und</strong><br />

19. Jahrh<strong>und</strong>erts erinnern, gibt es jedoch einige Autoren, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Säkularität des<br />

<strong>Freskenzyklus</strong> in Frage stellen. Für Edna Carter Southard ist <strong>die</strong> Bezeichnung des<br />

<strong>Freskenzyklus</strong> als "säkular im modernen Sinne" unangebracht, weil im 14. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

noch nicht zwischen Religiösem <strong>und</strong> Nicht-Religiösem unterschieden<br />

wurde. 239 <strong>Der</strong>selben Ansicht sind auch Frugoni <strong>und</strong> Riklin.<br />

Während Starn das Bild der tätigen <strong>und</strong> arbeitenden Menschen im <strong>Freskenzyklus</strong><br />

allein auf <strong>die</strong> säkularen Fantasien des republikanischen homo oeconomicus<br />

zurückführt, betont Frugoni, dass <strong>die</strong> positive Wertschätzung der Arbeit indessen ihre<br />

Entsprechung in einer, <strong>von</strong> der Kirche geförderten Theologie der Arbeit gehabt habe.<br />

So würden seit dem 11. Jahrh<strong>und</strong>ert zunehmend Bibelstellen zitiert, <strong>die</strong> den Akzent<br />

auf <strong>die</strong> Nobilität der Arbeit legten. 240 Insgesamt ist der <strong>Freskenzyklus</strong> für Frugoni<br />

deshalb mit Jacques Le Goff ein Beispiel dafür, dass "<strong>die</strong> mittelalterliche Mentalität<br />

als <strong>die</strong> Unmöglichkeit bezeichnet werden kann, sich ausserhalb des religiösen Bezugsrahmens<br />

zu äussern." 241<br />

Betont Frugoni den religiösen Bezugsrahmen des <strong>Freskenzyklus</strong>, ist sie<br />

gleichzeitig erstaunt, wie frei <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> sich fühlte, figurative Schemen aus<br />

der religiösen Welt für säkulare Themen zu verwenden. So erkennt sie in der<br />

Allegorie des Buon Governo <strong>die</strong> verborgene Übertragung des Schemas vom Jüngsten<br />

Gericht, mit Gott-Richter in der Mitte, den Guten - <strong>die</strong> Reihe der Bürger - links <strong>und</strong><br />

den Bösen - <strong>die</strong> Reihe der Sträflinge - rechts. Diese "für <strong>die</strong> Darstellung der weltlichen<br />

Gerichtsbarkeit so leichtfertige Verwendung des Schemas des Jüngsten Gerichts"<br />

erscheine "fast als Blasphemie." 242 In <strong>die</strong>sem Sinne lenke zwar auch der Satz Diligite<br />

iustitiam qui iudicatis terram <strong>die</strong> Aufmerksamkeit auf <strong>die</strong> Göttlichkeit, doch lege der<br />

im Satz enthaltene Imperativ das Gewicht wiederum auf <strong>die</strong> Regierenden, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

Aufgabe haben, Gerechtigkeit in der <strong>die</strong>sseitigen Welt zu vollstrecken. Im<br />

Vordergr<strong>und</strong> steht deshalb letztlich auch für Frugoni <strong>die</strong> säkulare Orientierung des<br />

<strong>Freskenzyklus</strong>, <strong>die</strong> sich ausserdem in der marginalen Position der Kathedrale im Bild<br />

<strong>von</strong> Siena offenbare.<br />

238 STARN (1992), S. 57<br />

239 SOUTHARD (1980), S. 362, auch S. 361<br />

240 FRUGONI (1983), S. 180; siehe hierzu auch SKINNER (1999)<br />

241 FRUGONI (1983), S. 127 n.30; sie zitiert Jacques Le Goff, Tempo della chiesa e tempo del<br />

mercante, Turin 1977, S. 135<br />

242 Ebd., S. 141 f. <strong>und</strong> S. 158<br />

128


Für Riklin letztlich scheint es aber "unbestreitbar, dass <strong>Lorenzetti</strong>s Werk zutiefst<br />

religiös im Geist der Bibel empf<strong>und</strong>en," 243 <strong>und</strong> "<strong>die</strong> religiöse Durchdringung der<br />

politischen Botschaft <strong>Lorenzetti</strong>s schwer zu <strong>über</strong>bieten sei;" 244 denn "Religion <strong>und</strong><br />

Politik seien (noch) nicht zwei getrennte Bereiche, sondern integral vernetzt." 245<br />

Rubinstein <strong>und</strong> Skinner unterschätzen für ihn den religiösen Gehalt <strong>und</strong> <strong>die</strong> biblischen<br />

Quellen. Gleichzeitig widerspricht er aber auch dem Versuch Southards, <strong>die</strong> Durchdringung<br />

der politischen <strong>und</strong> religiösen Sphäre mit dem Begriff der politischen<br />

Theologie zu umreissen. 246 Die Botschaft des <strong>Freskenzyklus</strong> sei nämlich nicht <strong>die</strong><br />

"politische Theologie, d.h. eine politisch begründete Theologie, sondern eine<br />

theologisch begründete politische Ethik." 247<br />

Abgesehen <strong>von</strong> seiner besonderen Würdigung der religiös-biblischen Deutung,<br />

erachtet es Riklin aber als "untaugliches Unterfangen", einzelne ideengeschichtliche<br />

Traditionslinien im <strong>Freskenzyklus</strong> gegeneinander auszuspielen. Die Synthese der<br />

verschiedenen Traditionslinien "komme nicht nur im Werk als Ganzem zum<br />

Ausdruck, sondern auch in einzelnen Schlüsselfiguren. Insbesondere in den Gestalten<br />

<strong>von</strong> Justitia, Pax, Concordia <strong>und</strong> den Kardinaltugenden würden biblische,<br />

aristotelisch-thomistische, römisch-prähumanistische <strong>und</strong> verfassungsgeschichtliche<br />

Ideen zusammenfliessen." 248 Doch als politische Summe des stadtrepublikanische<br />

Weltbilds im frühen Trecento ist der <strong>Freskenzyklus</strong> für Riklin nicht nur eine Synthese<br />

verschiedener Traditionslinien, sondern auch das Ergebnis einer Synthese <strong>von</strong> Mikro<strong>und</strong><br />

Makrokosmos sowie <strong>von</strong> Religion <strong>und</strong> Politik.<br />

Die Diskussion des <strong>Freskenzyklus</strong> als politische Summe hat Riklin ausserdem<br />

dazu geführt, <strong>die</strong> einzelnen Interpretationen des <strong>Freskenzyklus</strong> methodisch zu<br />

sortieren, auf Ergiebigkeit für <strong>die</strong> politikwissenschaftliche Interpretation zu prüfen<br />

<strong>und</strong> schliesslich eine Quellenhierarchie herzustellen. Dabei erachtet er als wichtigste<br />

Quelle <strong>die</strong> Bildtexte, das heisst er sieht mit Starn <strong>die</strong> Verslegenden als <strong>die</strong> wichtigste<br />

Quelle für <strong>die</strong> Interpretation des <strong>Freskenzyklus</strong>, "weil sie <strong>die</strong> einzige authentische<br />

Bilderklärung liefern <strong>und</strong> weil sie wahrscheinlich eine Abschrift des gesuchten<br />

Programms sind," also des schriftlichen Auftrags an <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>. <strong>Der</strong> zweite<br />

Platz gebühre indessen den verfassungsgeschichtlichen Quellen, "weil sich in den<br />

243 RIKLIN (1996), S. 103<br />

244 Ebd., S. 94 f.<br />

245 Ebd., S. 116<br />

246 SOUTHARD (1980), S. 362 n.14<br />

247 RIKLIN (1996), S. 116<br />

248 Ebd., S. 118 f.<br />

129


Stadtgesetzen <strong>und</strong> Stadtakten <strong>die</strong> damals aufgegriffenen religiös-biblischen, römischprähumanistischen<br />

<strong>und</strong> aristotelisch-thomistischen Ideen niedergeschlagen hätten." An<br />

dritter Stelle stehen gemäss Riklin dann <strong>die</strong> ideengeschichtlichen Quellen, wobei "es<br />

[aber] kaum begründbar sei, unter den verschiedenen ideengeschichtlichen<br />

Traditionslinien eine Rangfolge vorzunehmen." 249<br />

<strong>Der</strong> prominente Platz, den Riklin den Verslegenden für <strong>die</strong> Interpretation des<br />

<strong>Freskenzyklus</strong> einräumt, führt uns zu einer gr<strong>und</strong>sätzlichen, methodischen Frage, <strong>die</strong><br />

im nächsten Abschnitt behandelt wird, nämlich das Verhältnis <strong>von</strong> Bild <strong>und</strong> Text im<br />

<strong>Freskenzyklus</strong>.<br />

4.9. Wie verhalten sich <strong>die</strong> Verslegenden zum Bildprogramm?<br />

Da das Werk <strong>von</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> nicht nur an Bildern, sondern auch an<br />

schriftlichem Text sehr reich ist, haben sich mehrere Autoren mit der Frage<br />

auseinandergesetzt, in welchem Verhältnis Schrift <strong>und</strong> Bild im <strong>Freskenzyklus</strong><br />

zueinander stehen. Wichtig ist <strong>die</strong>se Frage für <strong>die</strong> Interpretation des <strong>Freskenzyklus</strong>,<br />

weil <strong>von</strong> ihrer Beantwortung abhängt, inwiefern dem Bildprogramm eine <strong>von</strong> den<br />

Verslegenden unabhängige allegorische Sprechweise zugestanden wird.<br />

Die zwei gegensätzlichen Positionen nehmen Randolph Starn <strong>und</strong> Hans Belting<br />

(1989) ein. Während Starn das Bildprogramm an <strong>die</strong> Verslegenden bindet, muss für<br />

Belting "das Sienesische Rathausbild, so sehr es mit Inschriften <strong>über</strong>füllt ist, in<br />

Wahrheit als Bild ohne Text gelten." 250 Konkret bedeutet <strong>die</strong>s, dass <strong>die</strong> Inschriften <strong>die</strong><br />

eigentlichen Bilder nur sekun<strong>die</strong>ren, während <strong>die</strong> Fresken einen eigenständigen<br />

Bildtext wiedergeben. <strong>Der</strong> Bildtext der Fresken bringt dann gemeinsam mit dem<br />

Worttext der Inschriften den wahren Text zustande. Zwischen Bild <strong>und</strong> Text ist ein<br />

Zusammenspiel anzunehmen: "Die Bilder erweitern <strong>und</strong> präzisieren mit Hilfe <strong>von</strong><br />

Inschriften ihre Aussage. Beide bestätigen einander im rhetorischen Wechselspiel, das<br />

den gleichen Argumenten <strong>die</strong>nt." 251 In <strong>die</strong>sem Sinne ist das Bild nicht <strong>von</strong> den<br />

Verslegenden abhängig. Will man sich aber auf einen Text als Gr<strong>und</strong>lage des<br />

Gesamtwerks beziehen, so ist eher ein symbolischer Urtext anzunehmen, der<br />

249 Ebd., S. 114 f.<br />

250 BELTING (1989), S. 36<br />

251 Ebd., S. 36<br />

130


ausserhalb des Programms existiert <strong>und</strong> der sowohl für <strong>die</strong> Fresken als auch für <strong>die</strong><br />

Verslegenden massgebend war. Dieser symbolische Urtext wird aber weder <strong>von</strong> den<br />

Fresken wörtlich abgebildet, noch <strong>von</strong> den Inschriften zitiert, vielmehr würden beide<br />

darauf Bezug nehmen <strong>und</strong> ihn auf ihre Art kommentieren. Für das Werk <strong>Ambrogio</strong><br />

<strong>Lorenzetti</strong>s nennt Belting <strong>die</strong> Sieneser Verfassung als symbolischen Urtext.<br />

Welche Folge <strong>die</strong> jeweilige Position für <strong>die</strong> Sichtweise auf das Bild hat, zeigt sich<br />

in Starns Ablehnung, den Personifikationen <strong>die</strong> Trägerschaft eines vom Volgare-Text<br />

unabhängigen Bildprogramms zu gewähren. Ihre Bildsprache beschränkt er auf <strong>die</strong><br />

Sinneserfahrung, während <strong>die</strong> lateinischen Inschriften, <strong>die</strong> <strong>die</strong> einzelnen Figuren<br />

bezeichnen, den Betrachter dazu verleiten sollen, in seinem geistigen Wissensschatz<br />

nach <strong>die</strong>sem Schlagwort zu suchen. <strong>Der</strong> Versuch aber, <strong>die</strong> Personifikationen in ihrem<br />

wechselseitigen Zusammenwirken zu deuten, ist für Starn strikt an <strong>die</strong> Verslegende<br />

geb<strong>und</strong>en. Hans Belting indessen betont <strong>die</strong> allegorische Sprechweise der<br />

Personifikationen, <strong>die</strong> für ihn Bestandteil sind einer grossen, als eigenständiger Text<br />

programmierten Allegorie. 252 Dabei sei es weder möglich noch nötig, anzunehmen,<br />

dass <strong>die</strong> Malerei immer nur literarische Texte reproduzierte." 253 "Die Bilder bezogen<br />

sich, wie es sonst Texte tun, gegenseitig aufeinander, <strong>und</strong> so gewann <strong>die</strong> Gattung allmählich<br />

ein differenziertes Profil als monumentale Allegorie." 254 Dieter Blume (1989)<br />

weist in <strong>die</strong>sem Zusammenhang darauf hin, dass es möglich sei, <strong>die</strong> Geschichte der<br />

Bildme<strong>die</strong>n seit dem Hochmittelalter als eine zunehmende Entwicklung <strong>und</strong><br />

Erprobung der argumentativen Möglichkeiten zu verstehen: "Die italienische Malerei<br />

des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts bezeichnet in <strong>die</strong>sem Rahmen eine Art Gipfelpunkt, nicht nur in<br />

Bezug auf den Entwicklungsgrad bildlicher Rhetorik, sondern auch hinsichtlich der<br />

Verbreitung derartiger Programme." 255<br />

Furio Brugnolo (1997) schliesslich hat <strong>die</strong> Funktion der in <strong>die</strong> Freskenzyklen des<br />

14. Jahrh<strong>und</strong>erts integrierten Gedichte genauer untersucht <strong>und</strong> ist zu einem Ergebnis<br />

gekommen, das den Ansatz Beltings bestärkt. So gehöre der <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong><br />

<strong>Lorenzetti</strong>s eindeutig zu den Werken, <strong>die</strong>, unabhängig <strong>von</strong> der Verslegende, <strong>die</strong> sie<br />

inspirierenden Konzepte direkt bildhaft umsetzen. "La fonte del grande ciclo<br />

lorenzettiano non è certo l'iscrizione!" 256 Die Gedichte <strong>und</strong> Inschriften des<br />

<strong>Freskenzyklus</strong> können sicherlich nicht als dessen schriftliches Programm oder<br />

schriftliche Quelle betrachtet werden. Im Gegenteil, so Brugnolo, verliere das Gedicht<br />

252 Ebd., S. 45 ff.<br />

253 BELTING (1989), S. 47<br />

254 Ebd., S. 46<br />

255 BLUME (1989), S. 14<br />

256 BRUGONOLO (1997), S. 309<br />

131


ohne <strong>die</strong> Bilder des <strong>Freskenzyklus</strong> seine Bedeutung <strong>und</strong> der Text könne nur wirklich<br />

im Wechselspiel mit den Bildern verstanden werden.<br />

Ausgehend vom Ansatz, dass zwischen Bild <strong>und</strong> Text im <strong>Freskenzyklus</strong> ein<br />

Wechselspiel besteht, hat Max Seidel eine besondere Untersuchung der Verslegende<br />

im <strong>Freskenzyklus</strong> unternommen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Verslegende nach Schlüsselbegriffen<br />

untersucht, <strong>die</strong> Hinweise auf <strong>die</strong> dem Bildprogramm zugr<strong>und</strong>e liegenden Ideen geben.<br />

Solche Schlüsselbegriffe sind auf der Seite der Allegorie des Buon Governo zum<br />

Beispiel "guardate come è dolce vita e riposata" (seht, wie süss <strong>und</strong> friedlich das<br />

Leben ist) <strong>und</strong> "guardate quanti ben' vengan da lei" (seht, wieviel Gutes bzw.<br />

wieviele Güter <strong>von</strong> ihr kommen), <strong>die</strong> in der Staatslehre des 13. <strong>und</strong> 14. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

für <strong>die</strong> Beschreibung des erfüllten Lebens in einem vollkommenen Staat benutzt<br />

werden. Die einzelnen Güter, durch <strong>die</strong> das Leben vollkommen wird, findet Seidel<br />

ausserdem gemäss der Staatslehre des Thomasschüler Egidio Romano im<br />

Panoramabild des Buon Governo abgebildet: Freude des Gemeinschaftslebens, Güter<br />

zu Lebenserhaltung, Verteidigungsbereitschaft, Markt <strong>und</strong> Warenaustausch, Hochzeit<br />

sowie Gerichtsbarkeit <strong>und</strong> Strafjustiz. Weitere <strong>von</strong> Seidel genannte Schlüsselbegriffe<br />

sind "questa virtù ke più d'altra risprende" (<strong>die</strong>se Tugend, <strong>die</strong> mehr als alles Andere<br />

leuchtet) sowie "senza paura ogn'uom franco camini" (ohne Angst geht jedermann<br />

frei des Weges). Während der erste Satz begrifflich an <strong>die</strong> Gerechtigkeitslehre der<br />

Scholastik <strong>und</strong> zeitgenössischen Rechtswissenschaften anknüpfe, beziehe sich der<br />

zweite auf Sienas Strassenbau- <strong>und</strong> Sicherheitspolitik im Contado.<br />

Glaubt man an <strong>die</strong> allegorische Sprechweise der Fresken <strong>und</strong> an einen<br />

eigenständigen Bildtext, der im rhetorischen Wechselspiel mit den Inschriften ihren<br />

Inhalt sowohl erweitert als auch präzisiert, ist es auch möglich, anzunehmen, dass <strong>die</strong><br />

Faszination des Werks <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s "in seiner Ambivalenz, Mehrdeutigkeit,<br />

ja Vieldeutigkeit" liegt. 257 Das Bild "gefällt dem Auge, erfreut das Herz <strong>und</strong> zieht alle<br />

menschlichen Sinne an." 258 Die Schönheit einzelner Figuren wirkt anziehend, das<br />

Hässliche <strong>und</strong> Grosteske abstossend. Stimuliert werden sowohl Fantasie als auch<br />

Erinnerungsvermögen der Betrachter. Den geschulten unter ihnen fordern sie dazu<br />

auf, Bezüge zu erschliessen <strong>und</strong> Argumentationszusammenhänge aufzudecken:<br />

"Dabei wäre es völlig falsch, <strong>die</strong>sen rhetorischen Charakter der Bildme<strong>die</strong>n<br />

auf eine Didaktik für ungebildete Laien, für Schriftunk<strong>und</strong>ige reduzieren zu<br />

257 RIKLIN (1996), S. 118<br />

258 "oculo est delectabilis, cordi letabilis et singulis sensibus humanis amabilis" MILANESI<br />

(1854 I), S. 180; deutsche Übersetzung zit. n. BELTING (1989), S. 39<br />

132


wollen. Dies ist ein blosser Topos der mittelalterlichen Kunsttheorie, der auf<br />

<strong>die</strong> frühchristliche Bilderfeindlichkeit reagiert, aber eigentlich <strong>die</strong><br />

gr<strong>und</strong>legend anderen Rezeptionsformen <strong>und</strong> Wirkungsweisen der Bilder zur<br />

Voraussetzung hat. Bilder argumentieren auf ihre eigene Art <strong>und</strong> sind in der<br />

Lage, komplexe Gedankengebäude derart anschaulich zu vermitteln, dass<br />

gr<strong>und</strong>legende Ideen deutlich werden, auch wenn <strong>die</strong> intellektuellen<br />

Voraussetzungen einer adäquaten Rezeption beim Betrachter im Gr<strong>und</strong>e<br />

fehlen. Bilder sind immer auch ein intellektuelles Phänomen <strong>und</strong> spekulieren<br />

in ihren komplexen Argumentationszusammenhängen auf den geschulten,<br />

versierten Betrachter." 259<br />

Hierher gehört auch <strong>die</strong> Aussage Boccacios, dass Giottos Malerei nicht mehr nur <strong>die</strong><br />

Augen der Unwissenden, sondern auch den Geist der Gelehrten erfreute. 260 Explizit<br />

zum Studium des reichen Bildprogrammes wird auch der Betrachter der Fontana<br />

Maggiore in Perugia aufgefordert. So wird ihm <strong>von</strong> einer Inschrift angezeigt, dass es<br />

dabei Heldentaten zu entdecken gebe: ASPICE QUI TRANSIS JOCUNDUM VIVERE FONTES<br />

/ SI BENE PROSPICIAS MIRA VIDERE POTES. 261<br />

Das Mittel zur Darstellung des Wissens ist <strong>die</strong> Allegorie, derer sich <strong>Ambrogio</strong><br />

<strong>Lorenzetti</strong> in unterschiedlichster Weise be<strong>die</strong>nt <strong>und</strong> mit Szenen aus dem alltäglichen<br />

Leben verbindet. Den symbolischen Gehalt einzelner Figuren kennzeichnen sowohl<br />

ihre Titel <strong>und</strong> Attribute als auch ihre Darstellungsweise <strong>und</strong> <strong>die</strong> Ebene, wo sie sich im<br />

Bild befinden. Zuoberst in der Allegorie des Buon Governo verraten zum Beispiel <strong>die</strong><br />

cherubinen Gestalten der Sapientia, Fides, Caritas <strong>und</strong> Spes ihre göttliche Herkunft;<br />

<strong>die</strong> Engelsgestalten der Securitas sowie der zwei sich auf den Waagschalen der Justitia<br />

betätigenden Figuren beschreiben <strong>die</strong>se Wesen als Botschafter zwischen der himmlischen<br />

<strong>und</strong> irdischen Sphäre. Von ihnen unterscheiden sich <strong>die</strong> politischen Tugenden,<br />

<strong>die</strong> sich auf dem Podest in Menschengestalt zeigen, während Concordia inmitten <strong>von</strong><br />

Figuren aus der politischen Wirklichkeit auf unterster Ebene sitzt. 262 Die relative<br />

Grösse der einzelnen Personifikationen bestimmt ihre Stellung, gleichzeitig können<br />

horizontale Abstände 263 oder vertikale <strong>und</strong> diagonale Bezüge Verbindungen für <strong>die</strong><br />

Deutung eine Rolle spielen. 264 Das Bild allein als Illustration der Verslegenden zu<br />

259 BLUME (1989), S. 15<br />

260 WARNKE (1985) S. 29<br />

261 HOFFMANN-CURTIUS (1968), S. 24<br />

262 ROWLEY (1958), S. 100<br />

263 So sitzt <strong>die</strong> Pax genau in der Mitte zwischen der Justitia zur Linken <strong>und</strong> der Figur der<br />

Kommune; im selben Abstand sitzt auch <strong>die</strong> Figur der Justitia rechts aussen zur Figur der Kommune.<br />

Durch ihre Haltung wird <strong>die</strong> Pax <strong>von</strong> den anderen Tugenden herausgehoben. Vgl. SKINNER (1986),<br />

S.32<br />

264 RIKLIN (1996), S. 98 ff.; eine Vertikale ist z.B. <strong>die</strong> Beziehung Sapientia - Justitia -<br />

Concordia, eine Diagonale Caritas - Pax - Concordia.<br />

133


ezeichnen, würde <strong>die</strong> Ordnung der einzelnen Figuren untereinander vernachlässigen.<br />

Ausserdem ermöglicht <strong>die</strong> Verbindung <strong>von</strong> Allegorie <strong>und</strong> realen Szenen, Aussagen<br />

gleichzeitig <strong>und</strong> parallel auf verschiedenen Ebenen zu treffen. 265 Hans Belting hat den<br />

gleichzeitig realitätsbezogenen wie allegorischen Charakter des Panoramabildes so<br />

zusammengefasst:<br />

"<strong>Lorenzetti</strong>s vordergründiges Ansinnen war es, bildhaft eine ideale Stadt zu<br />

beschreiben. Gleichzeitig wollte er aber sicher gehen, dass der Betrachter<br />

<strong>die</strong>se ideale Stadt als Siena identifiziert. Wir müssen zwischen den<br />

Strukturen als Ganzes unterscheiden, <strong>die</strong> darauf ausgerichtet sind, das Thema<br />

der idealen Stadt aufzubauen <strong>und</strong> den narrativen Detailszenen, <strong>die</strong> bildgetreu<br />

verstanden werden können <strong>und</strong> dazu einladen, sie empirisch als <strong>die</strong> Stadt <strong>von</strong><br />

Siena zu verifizieren." 266<br />

Gibt es aber <strong>über</strong>haupt im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert ein Publikum in Siena, das mit<br />

einer Mehrdeutigkeit im <strong>Freskenzyklus</strong> etwas anzufangen wusste? "To pose the<br />

question", so schreibt Bowsky - der einräumt, dass er sich manchmal zynisch <strong>die</strong><br />

Frage stellte, ob <strong>die</strong> modernen Gelehrten nicht mehr im <strong>Freskenzyklus</strong> sehen, als <strong>die</strong><br />

Betrachter des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts - "was suddenly to see at least one answer." 267 Wen<br />

also könnte <strong>die</strong> komplexe philosophische Allegorie angesprochen haben? Bowsky gibt<br />

folgende Antwort:<br />

"...<strong>die</strong> vielen Richter <strong>und</strong> Rechtsprofessoren, <strong>die</strong> wohlhabenden Bürger <strong>und</strong><br />

Adligen, <strong>die</strong> im Grossen Rat der Stadt, an der Universität <strong>und</strong> in der<br />

Regierung <strong>die</strong>nten....Diese Männer verbrachten St<strong>und</strong>en damit, solche Dinge<br />

zu stu<strong>die</strong>ren <strong>und</strong> zu lehren. Sie hätten <strong>die</strong> Bildung gehabt, sich am<br />

intellektuellen Spiel, das Bildprogramm zu analysieren, zu erfreuen.... Aber<br />

<strong>die</strong> Aussagen des <strong>Freskenzyklus</strong> zielte nicht nur auf den engeren Regierungskreis<br />

ab. Sie waren für alle Bürger der Stadt bestimmt, <strong>die</strong> zu den Fresken<br />

[im Palast der Kommune] Zugang hatten, <strong>und</strong> <strong>von</strong> denen erwartet wurde,<br />

dass sie wenigstens deren offensichtlichsten <strong>und</strong> gr<strong>und</strong>sätzlichen Inhalt<br />

verstehen. Noch Jahrzehnte später, im 15. Jahrh<strong>und</strong>ert, beziehen sich<br />

Predigten des San Bernardino aus Siena ausführlich auf <strong>die</strong> Fresken<br />

<strong>Lorenzetti</strong>s, <strong>und</strong> der Prediger erwartete dementsprechend, dass <strong>die</strong> grosse<br />

Masse seiner Zuhörerschaft mit ihnen vertraut war." 268<br />

265 BLUME (1989), S. 15<br />

266 BELTING (1985), S. 159<br />

267 BOWSKY (1981), S. 290<br />

268 BOWSKY (1981), S. 290 f.<br />

134


4.10. Danteske Deutungen<br />

Bevor <strong>die</strong> eigene These dargestellt wird, soll noch darauf hingewiesen werden,<br />

wie sich <strong>die</strong> kritische Literatur bis anhin zur Beziehung zwischen dem <strong>Freskenzyklus</strong><br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s <strong>und</strong> der Commedia Dantes geäussert hat.<br />

Beschränken wir uns vorerst auf <strong>die</strong> verwandte Sprechweise der beiden Werke, ist<br />

wiederum Belting massgebend. Für ihn erstrebt der <strong>Freskenzyklus</strong> das <strong>von</strong> Dante für<br />

<strong>die</strong> Malerei formulierte Ideal des visibile parlare, des sichtbaren Sprechens. Die<br />

visuelle Rhetorik der Fresken "lebt aus der Spannung zwischen dem Abbild der<br />

sinnlichen Erfahrung <strong>und</strong> einem nicht abzubildenden System gedanklicher Ordnung."<br />

So hat auch schon Rowley darauf aufmerksam gemacht, dass <strong>die</strong> Sprache <strong>Ambrogio</strong><br />

<strong>Lorenzetti</strong>s wie jene Dantes sowohl narrativ als auch allegorisch ist.<br />

Weiten wir den Blick auf <strong>die</strong> Beiträge aus, <strong>die</strong> auch inhaltliche<br />

Übereinstimmungen zwischen den beiden Werken finden, ist zunächst nochmals<br />

Rowley zu erwähnen. So sieht er in der Figur des Tyrannen im Mal Governo das<br />

danteske Bild des Bösen. Bestätigung findet er sowohl bei Frugoni wie auch bei Starn.<br />

So hat Frugoni auch auf ein Detail im Bild aufmerksam gemacht, das vor ihr noch<br />

niemand gesehen hatte <strong>und</strong> das <strong>die</strong> Anspielung auf Dantes Inferno im Mal Governo<br />

noch offensichtlicher macht: Hinter dem Kopf des Tyrannen ist schattenhaft der<br />

Umriss einer Grotte zu sehen, deren Öffnung <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> rot-schwarz<br />

gefärbt hat. 269 Starn schliesslich hat das Bild der città dolente <strong>von</strong> Dantes Inferno als<br />

Ausgangspunkt für seine Deutung des <strong>Freskenzyklus</strong> gewählt: Das republikanische<br />

Programm beginnt mit der Konfrontation durch das Böse, setzt sich mit der Läuterung<br />

durch <strong>die</strong> Tugenden fort <strong>und</strong> endet im erlösenden republikanischen Panorama als<br />

irdisches Para<strong>die</strong>s. Die Entlehnung der Bilder <strong>von</strong> Inferno, Purgatorio <strong>und</strong> irdischem<br />

Para<strong>die</strong>s aus der Commedia hat Starn aber nicht in eine konkrete Auseinandersetzung<br />

<strong>über</strong>führt. Den Weg im republikanischen Programm beginnt Starn zwar mit Dante,<br />

doch für dessen Fortsetzung hat er nur <strong>die</strong> Begriffe Läuterung <strong>und</strong> irdisches Para<strong>die</strong>s<br />

<strong>von</strong> der Commedia entlehnt, ohne aber einen inhaltlichen Bezug zwischen den beiden<br />

Werken herzustellen.<br />

Abgesehen <strong>von</strong> den grossen Bildern der Commedia sind im <strong>Freskenzyklus</strong><br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s auch spezifische Bildelemente erkannt worden, <strong>die</strong> eine<br />

Parallele zur bildhaften Sprache Dantes haben. So hat Frugoni auf das Bild des Tanzes<br />

im Paradiso als Ausdruck <strong>von</strong> Gerechtigkeit <strong>und</strong> Eintracht hingewiesen. 270 Hier findet<br />

269 FRUGONI (1991), S. 127<br />

270 Ebd., S. 162 f.<br />

135


sich ausserdem der Vergleich der Eintracht mit der Musik. 271 Für <strong>die</strong> Wirkkraft der<br />

Gerechtigkeit wird zudem <strong>die</strong>selbe Lichtmetapher wie im <strong>Freskenzyklus</strong> verwendet, 272<br />

während Dante <strong>die</strong> Gerechtigkeit auch mit demselben Satz in Bezug setzt, der <strong>über</strong><br />

<strong>Lorenzetti</strong>s Justitia steht - Diligite iustitiam qui iudicatis terram. 273 Brugnolo hat<br />

ferner darauf hingewiesen, dass <strong>die</strong> Prozession der 24 Bürger ihre Entsprechung in<br />

den 24 seniores hat, <strong>die</strong> im 28. Gesang des Purgatorio "stets zwei <strong>und</strong> zwei" an Dante<br />

vor<strong>über</strong>ziehen. 274<br />

Übrig bleibt noch <strong>die</strong> Verslegende, <strong>die</strong> ebenfalls Verbindungen zu Dante aufweist.<br />

Eine solche ergibt sich zum einen <strong>über</strong> den vermeintlichen Autor, der <strong>die</strong><br />

Verslegenden im <strong>Freskenzyklus</strong> - ein Höhepunkt der poesie per pittura - verfasst<br />

haben soll. Genannt wird hier der Sienese Cecco di Meo degli Ugurgieri, Verfasser<br />

eines Kompendiums der Commedia. 275 Zum anderen hat Brugnolo in seiner<br />

Textanalyse der Verslegenden Bezüge zu Dante hergestellt. Zwar zitierten sie im<br />

Vergleich zu anderen Beispielen politischer Poesie im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert relativ<br />

wenig aus Dantes Commedia, doch spiele ein Vers des Gedichts ganz eindeutig auf sie<br />

an: e come dolce vita e riposata quella de la città du è servata (wie süss <strong>und</strong> friedlich<br />

das Leben in der Stadt ist, wo ihr ge<strong>die</strong>nt wird). Diese Zeilen würden ohne Zweifel<br />

auf Dantes Idealbild <strong>von</strong> Florenz verweisen, das er im Sinne des buon tempo antico<br />

im 16. Gesang des Paradiso aufleben lasse. Wie sehr Dante im Gedicht des<br />

<strong>Freskenzyklus</strong> präsent sei, zeigt sich laut Brugnolo aber hauptsächlich in dessen<br />

Struktur. In der Form der Kanzone würden sich <strong>die</strong> Verse genau an <strong>die</strong> lyrischen<br />

Schemen berühmter Gedichte Dantes halten. 276 .<br />

Wenden wir uns nun dem zweiten Teil zu, der Gesamtschau des <strong>Freskenzyklus</strong><br />

vor dem Hintergr<strong>und</strong> <strong>von</strong> Dantes Commedia.<br />

271 Ebd., S. 133 f.<br />

272 Ebd., S. 148 f.<br />

273 Ebd., S. 130<br />

274 BRUGNOLO (1997), S. 323; Purgatorio XXIX. 83 f.<br />

275 Siehe VALERIO (1986)<br />

276 BRUGNOLO (1995)<br />

136


TEIL II<br />

Danteske Deutung des<br />

<strong>Freskenzyklus</strong><br />

137


5. Danteske Deutung des <strong>Freskenzyklus</strong><br />

5.1. Dante als Bürger einer italienischen Kommune<br />

Dante wird im Jahr 1265 als Bürger der Stadt <strong>und</strong> Kommune <strong>von</strong> Florenz<br />

geboren. 1 Die Familie Alighieri ist mindestens seit Mitte des 12. Jahrh<strong>und</strong>erts in der<br />

Stadt ansässig. Sie gehört nicht zu den grossen <strong>und</strong> reichen Geschlechtern der Stadt,<br />

steht <strong>die</strong>sen jedoch nahe. Dantes Urahn Cacciaguida soll anlässlich der<br />

Kreuzfahrerzüge <strong>von</strong> Kaiser Konrad III. (1137 - 1152) zum Ritter geschlagen worden<br />

sein. <strong>Der</strong> Vater, Alighiero II., ist im Immobilien- <strong>und</strong> Geldhandel tätig, ohne jedoch<br />

zu den erfolgreichsten Bankiers der Stadt zu gehören. 1285 heiratet Dante Gemma<br />

Donati aus dem verarmten Zweig eines grossen Guelfengeschlechts, <strong>die</strong> wie er im<br />

Florentiner Sesto di Porta di San Piero aufgewachsen ist.<br />

Während Dantes jüngerer Bruder Francesco sich ebenfalls dem Geldhandel<br />

zuwendet <strong>und</strong> bei Geldnöten auch aushilft, widmet sich Dante während seinen<br />

Jugendjahren, bis zum 30. Lebensjahr, vorwiegend der Poesie <strong>und</strong> dem Studium der<br />

Philosophie. Er geht sowohl bei den Dominikanern <strong>und</strong> Franziskanern in <strong>die</strong> Schule<br />

wie auch bei Brunetto Latini, der ihm <strong>die</strong> Werke <strong>von</strong> Aristoteles <strong>und</strong> Cicero,<br />

Naturgeschichte, Geschichte, Ethik <strong>und</strong> Rhetorik beibringt <strong>und</strong> ihn in <strong>die</strong> Praxis der<br />

kommunalen Politik einweiht. Diesem hochverehrten Lehrer, der 1294 stirbt, setzt<br />

Dante in der Commedia schliesslich ein Denkmal. Dort preist er ihn als grossen<br />

Gelehrten, der dank seinen Schriften auf Erden weiterlebe <strong>und</strong> der auch ihm den Weg<br />

gezeigt habe, wie sich der Mensch verewige, come l'uomo s'etterna. 2 Ein Schritt in<br />

<strong>die</strong>se Richtung gelingt Dante in der Poesie, als er 1293 <strong>die</strong> Vita nuova beendet, in der<br />

er <strong>die</strong> ferne Liebe zur holden, 1290 verstorbenen Beatrice besingt. Dante sieht sich als<br />

fedele d'amore, der im Kreis <strong>von</strong> Gleichgesinnten <strong>die</strong> Liebesdichtung in italienischer<br />

Sprache zu neuen Höhen führt. 3<br />

Politisch wird Dante in einer Zeit gross, in der seine Heimatstadt ihre<br />

Vormachtstellung in der Toskana konsoli<strong>die</strong>rt <strong>und</strong>, mit Rückendeckung des Papsttums<br />

1 Zu Dantes Leben <strong>und</strong> politischem Engagement: Enciclopedia dantesca, Appendix;<br />

DAVIDSOHN (1896-1927) II passim, III passim; RIKLIN U. (1994); SCOTT (1996), S. 3 ff.; HERDE<br />

(1976/77); siehe auch GIOVANNI BOCCACCIO (um 1360): Kleine Abhandlung zum Lobe Dantes sowie<br />

LEONARDO BRUNI (1436): Vita di Dante<br />

2 Inferno XV.85<br />

3 Purgatorio XXIV.50 ff.; ebd. XXVI.97-99; HAUSMANN (1986), S. 300 ff.<br />

138


<strong>und</strong> des Hauses Anjou in Neapel, selbstbewusste Führungsmacht der guelfischen Liga<br />

wird. 4 Als der Reichsvikar des neu gewählten deutschen Königs Rudolf <strong>von</strong> Habsburg<br />

im Jahr 1281 um Gefolgschaft bittet, erhält er zur Antwort, "dass <strong>die</strong> Florentiner<br />

Kommune niemals irgendeinem Kaiser Treue schwor ... denn sie lebte immer in<br />

Freiheit <strong>und</strong> war immer frei." 5 Damals war Dante sechzehn Jahre alt. Als 1289 <strong>die</strong><br />

guelfische Liga in Campaldino gegen <strong>die</strong> zwei letzten ghibellinischen Städte in der<br />

Toskana, Arezzo <strong>und</strong> Pisa, einen wichtigen Sieg erringt, kämpft auch der<br />

vier<strong>und</strong>zwanzigjährige Dante im Florentiner Heer an der Seite der Männer <strong>von</strong> Siena,<br />

Lucca, Pistoia <strong>und</strong> Bologna sowie Volterra, Prato, San Gimignano, Colle <strong>und</strong><br />

Poggibonsi.<br />

Während zur Zeit <strong>von</strong> Dantes Jugend Florenz in der Aussenpolitik wechselhafte<br />

Erfolge gegen Arezzo <strong>und</strong> Pisa feiert, setzt sich im Innern endgültig <strong>die</strong><br />

Zunftverfassung durch, als 1282 <strong>die</strong> sechs Priori delle arti, <strong>die</strong> sechs Prioren der<br />

Zünfte, höchstes Regierungsorgan werden. 6 Sind zunächst nur <strong>die</strong> zwölf oberen<br />

Zünfte, zu denen <strong>die</strong> Grosskaufmannschaft, Tuchfabrikanten, Bankiers, Juristen, Ärzte<br />

<strong>und</strong> Apotheker gehören, politisch aktiver Teil der Verfassung, erhalten 1293 mit den<br />

Ordinamenti di Giustizia auch <strong>die</strong> neun niederen Zünfte, <strong>die</strong> das einfachere Gewerbe<br />

repräsentieren, anerkannten Status innerhalb der Florentiner Kommune. Sie sind in<br />

den Räten vertreten, haben jedoch keinen Einfluss auf <strong>die</strong> Wahl der Prioren.<br />

Gleichzeitig aber beschränken <strong>die</strong> Ordinamenti di Giustizia den politischen Einfluss<br />

der grossen Magnatenfamilien in Florenz, verunmöglichen ihre Wahl in das Amt der<br />

Prioren <strong>und</strong> unterwerfen sie strenger Rechtskontrolle, um zu verhindern, dass ihre<br />

Gewalttaten in der öffentlichen Ordnung ungesühnt bleiben. Ziel der Ordinamenti di<br />

Giustizia ist es, <strong>die</strong> Familien, <strong>die</strong> aufgr<strong>und</strong> ihrer Fehdebereitschaft, Gefolgschaft im<br />

Contado <strong>und</strong> wirtschaftlichen Stellung den politischen Frieden gefährden, unter <strong>die</strong><br />

Florentiner Rechtsordnung zu beugen. Nachdem sich im Innern Widerstand gegen <strong>die</strong><br />

Ordinamenti gebildet hat, werden <strong>die</strong>se im Jahr 1295 abgeschwächt <strong>und</strong> Angehörige<br />

<strong>von</strong> Magnatenfamilien erhalten <strong>die</strong> Möglichkeit, sich in eine Zunft ihrer Wahl<br />

einzuschreiben, um <strong>von</strong> ihren politischen Rechten als Bürger Gebrauch zu machen,<br />

ohne Pflicht, <strong>die</strong>ses Gewerbe auszuüben. Die Pflicht der Mitgliedschaft unterwirft sie<br />

aber der disziplinarischen Wirkung der Zunftstatuten, <strong>die</strong> alle auf <strong>die</strong><br />

Aufrechterhaltung der kommunalen Ordnung ausgerichtet sind.<br />

4 Siehe DAVIDSOHN (1896-1927), II passim, III passim<br />

5 "Numquam Comune Florentie fidelitatem fecit alicui imperatori ... quia semper vixit et fuit<br />

liberum." KERN, Acta Imperii, Angliae et Franciae, ab A. 1267 ad A. 1312, Tübingen 1911, S. 12 no.<br />

21 a, zitiert nach PASSERIN D'ENTRÈVES (1952), S. 22 u. S. 104<br />

6 Siehe DAVIDSOHN (1896-1927), II passim<br />

139


Als <strong>die</strong> Regelung <strong>von</strong> 1295 in Kraft tritt, beginnt sich auch Dante aktiv der<br />

kommunalen Politik zuzuwenden <strong>und</strong> wird Zunftmitglied der Arte dei medici e<br />

speziali, der Ärzte <strong>und</strong> Apotheker. Noch im selben Jahr wird er in den kleinen Rat des<br />

Capitano del Popolo gewählt, gleich darauf, im Mai 1296 in den Consiglio del Cento,<br />

den Rat der H<strong>und</strong>ert, der bei allen wichtigen Entscheidungen beigezogen wird, <strong>und</strong> in<br />

dem er bis 1297 als Redner auftritt. Es folgen zwei Jahre, in denen Spuren <strong>von</strong> Dantes<br />

politischer Tätigkeit fehlen, doch erneute Indizien im Jahr 1300 deuten darauf hin,<br />

dass sein politischer Stern im Steigen begriffen ist. Am 7. Mai 1300 finden wir ihn in<br />

diplomatischer Mission in San Gimignano <strong>und</strong> am 15. Juni 1300 wird er schliesslich<br />

ins höchste politische Amt der Florentiner Kommune gewählt. Als einer der sechs<br />

Priori delle arti zieht er für eine fixe Amtszeit <strong>von</strong> zwei Monaten in den Palazzo<br />

Vecchio. Dante ist 35 Jahre alt. Nach dem Priorenamt, dessen Amtszeit nicht<br />

verlängert werden kann, gehört Dante endgültig zum politisch massgebenden Teil der<br />

Florentiner Bürger <strong>und</strong> er wird in der Folge oft in sogenannten Weisengremien für <strong>die</strong><br />

Vorbereitung <strong>von</strong> Entscheiden zugezogen. Im April 1301 finden wir ihn schliesslich<br />

sowohl als Ratsmitglied bei den Oberhäuptern der zwölf oberen Zünfte wie auch als<br />

Verantwortlicher für den Strassenbau <strong>und</strong> im folgenden Juni wieder im wichtigen<br />

Consiglio del Cento, bis er im September auf diplomatische Mission nach Anagni zu<br />

Papst Bonifaz VIII. gesandt wird, wo ihn auf seiner Heimreise das Verdikt des<br />

politischen Exils trifft. Was war geschehen?<br />

Zum Zeitpunkt, als Dante Mitte der Neunziger Jahre <strong>die</strong> politische Bühne seiner<br />

Heimatstadt betrat, begann sich <strong>die</strong> guelfische Partei zu spalten. Sie war während<br />

mehr als zehn Jahren in Florenz <strong>die</strong> ausschliessliche Partei gewesen, der alle aktiven<br />

Bürger anzugehören hatten, nachdem <strong>die</strong> Integration der besiegten Ghibellinen 1282<br />

endgültig gescheitert war. In der guelfischen Partei, <strong>die</strong> <strong>über</strong> grosse Geldmittel<br />

verfügte, hatten sich insbesondere auch <strong>die</strong> Magnaten im Verb<strong>und</strong> mit dem reichen<br />

Bürgertum eine Machtstellung bewahrt. Schliesslich treiben jedoch <strong>die</strong> Ordinamenti<br />

di giustizia <strong>und</strong> <strong>die</strong> Aussenpolitik der Florentiner Kommune Ende des 13.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts einen Keil in <strong>die</strong> Partei <strong>und</strong> es entstehen zwei Fraktionen, <strong>die</strong> Schwarzen<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Weissen. Die eher konservativen Schwarzen sähen <strong>die</strong> Ordinamenti am<br />

liebsten abgeschafft, während sie <strong>von</strong> den Weissen weitgehend befürwortet werden,<br />

um <strong>die</strong> Forderungen des Popolo nach wirksamer öffentlicher Rechtsdurchsetzung <strong>und</strong><br />

gerechter Besteuerung zu erfüllen. Gleichzeitig beginnen sich <strong>die</strong><br />

Meinungsverschiedenheiten auch in der Aussenpolitik zu akzentuieren, als im Jahr<br />

1294 mit Bonifaz VIII. ein Römer den Papstthron besteigt, der tatkräftig <strong>die</strong> Idee der<br />

päpstlichen Weltherrschaft verfolgt <strong>und</strong> für seine Familie Gaetani ein Auge auf <strong>die</strong><br />

140


wohlhabende Toskana geworfen hat. Teilweise Unmut erzeugt hat ausserdem das<br />

endlose <strong>und</strong> teure Unternehmen des Verbündeten Karl <strong>von</strong> Anjou, der, weil er seit<br />

mehr als zehn Jahren erfolglos versuchte, das 1282 verlorene Sizilien<br />

zurückzuerobern, den Staatshaushalt der Florentiner Kommune zu belasten beginnt.<br />

Während <strong>die</strong> Weissen aufgr<strong>und</strong> <strong>die</strong>ser Entwicklungen gegen<strong>über</strong> den alten<br />

guelfischen Allianzpartnern, dem Papsttum wie dem Haus Anjou, auf Distanz zu<br />

gehen trachten, wollen <strong>die</strong> Schwarzen trotz allem das enge Bündnis aufrechterhalten,<br />

um <strong>die</strong> ertragreichen Finanzbeziehungen der Florentiner Bankhäuser mit der<br />

päpstlichen Schatzkammer <strong>und</strong> dem Haus Anjou nicht zu gefährden. So finden sich in<br />

der Fraktion der Schwarzen namentlich auch <strong>die</strong> grossen Bankhäuser, <strong>die</strong> nach dem<br />

Konkurs der päpstlichen Hausbank, der Sieneser Tavola dei Bonsignori, im Jahr 1298<br />

besondere Geschäftschancen sehen. Zum Führer der Schwarzen schwingt sich Dantes<br />

Schwager Ritter Corso Donati empor, ein berüchtigter Heisssporn, der als eigentlicher<br />

Sieger der Schlacht <strong>von</strong> Campaldino gilt; dank seines unerschütterlichen Einsatzes<br />

hatte sich der zunächst für <strong>die</strong> Ghibellinen aussichtsreiche Kampf zu Gunsten der<br />

guelfischen Liga gewandt. Führer der Weissen wiederum ist Ritter Vieri de' Cerchi,<br />

Vorsitzender der grössten Florentiner Bankgesellschaft, <strong>die</strong> ihre Geschäftsinteressen<br />

jedoch nicht allein im päpstlichen Finanzsystem gesucht hat. Während <strong>die</strong> Donati zu<br />

den alten grossen Familien gehören, deren Reichtum mit dem wirtschaftlichen<br />

Aufschwung aber relativ zurückging, sind <strong>die</strong> Cerchi durch Handel <strong>und</strong><br />

Bankgeschäfte gross geworden. Im Gegensatz zu Corso Donati wird Vieri de' Cerchi<br />

<strong>von</strong> seinen Zeitgenossen als Mann des Kompromisses beschrieben. 7 Seine<br />

Anhängerschaft setzt sich sowohl aus dem einfacheren Bürgertum zusammen wie<br />

auch aus grossen Familien, <strong>die</strong> entweder keine besonderen Geschäftsinteressen mit<br />

dem Papsttum haben oder in persönlicher Feindschaft zu Corso Donati stehen.<br />

Schon <strong>die</strong> ersten Wortmeldungen Dantes in den Florentiner Räten seit 1295<br />

verdeutlichen, dass er nicht der konservativen Fraktion seines Schwagers Corso<br />

Donati angehört, sondern jener Vieri de' Cerchis. Deutlich tritt er für eine starke, vom<br />

Popolo getragene Kommune ein, <strong>die</strong> auch gegen <strong>die</strong> grossen Geschlechter<br />

Gerechtigkeit <strong>und</strong> öffentliche Ordnung durchzusetzen vermag. 1295 spricht er sich<br />

gegen den <strong>die</strong> Oligarchie stärkenden Vorschlag aus, <strong>die</strong> ausscheidenden Prioren an der<br />

Wahl ihrer Nachfolger teilnehmen zu lassen. 1296 tritt er im Consiglio del Cento<br />

dafür ein, dass <strong>die</strong> Macht der Prioren gestärkt wird, gegen alle, "insbesondere gegen<br />

Magnaten", vorzugehen, <strong>die</strong> versucht haben, durch Gewalt Popularen im öffentlichen<br />

Dienst einzuschüchtern. Dante bleibt <strong>die</strong>ser Linie auch in späteren Jahren treu. Er<br />

7 Vgl. DINO COMPAGNI (1312): Cronica; GIOVANNI VILLANI (1300/48): Nuova Cronica<br />

141


efürwortet jedes Mal eine demokratischere Wahl der Prioren, <strong>die</strong> eine grössere Zahl<br />

<strong>von</strong> Kandidaten berücksichtigt <strong>und</strong> setzt sich für <strong>die</strong> Verschärfung der<br />

Antimagnatengesetzgebung ein mit dem Ziel, Gewalttaten der grossen Geschlechter<br />

einzudämmen. Auch profiliert er sich in Einzelfällen als Verfechter kommunaler<br />

Gerechtigkeit. Als Prior verteidigt er im Jahr 1300 <strong>die</strong> unabhängige Rechtsprechung<br />

der Kommune, <strong>die</strong> auch nicht vor Schützlingen des Papstes halt macht. 1301, als er<br />

wiederum Mitglied des Consiglio del Cento ist, engagiert er sich dafür, dass ein<br />

wegen Mordes vom Podestà Verurteilter, dessen Prozess <strong>die</strong> öffentliche Meinung<br />

jedoch als fehlerhaft erachtet, nachträglich durch den Consiglio del Cento<br />

freigesprochen wird. 8<br />

Dante wird schliesslich aber nicht sein Einsatz für <strong>die</strong> Ordinamenti di giustizia<br />

zum Verhängnis, sondern sein aussenpolitisches Engagement gegen den Papst <strong>und</strong> für<br />

<strong>die</strong> Unabhängigkeit <strong>von</strong> Florenz. 1299 gewinnen <strong>die</strong> Weissen in Florenz <strong>die</strong><br />

Oberhand, nachdem Corso Donati aufgr<strong>und</strong> seiner kontinuierlichen Missachtung der<br />

kommunalen Regierung <strong>und</strong> Gerichtsbarkeit aus Florenz verbannt <strong>und</strong> im Mai 1300<br />

zum Tode verurteilt wird. Gleichzeitig ernennt Bonifaz VIII. seinen Schützling jedoch<br />

zum Podestà <strong>von</strong> Orvieto, das zum Kirchenstaat gehört. <strong>Der</strong> Papst verkündet<br />

ausserdem, dass er beabsichtige, <strong>die</strong> Toskana zum Königreich <strong>und</strong> ein Mitglied seiner<br />

Familie Gaetani zu ihrem Herrscher zu machen. Florenz unter den Weissen sendet<br />

darauf in alle guelfischen Städte der Toskana Gesandtschaften, um für ein Treffen der<br />

Guelfenliga gegen Bonifaz VIII. zu werben. An <strong>die</strong>sem Unternehmen, das jedoch<br />

ohne Erfolg bleibt, nimmt auch Dante als Leiter der Mission nach San Gimignano teil.<br />

Im Priorenamt, das er kurz darauf, am 15. Juni, für zwei Monate antritt, verteidigt er<br />

dann nicht nur <strong>die</strong> Unabhängigkeit der kommunalen Justiz, sondern ist auch aktiv<br />

daran beteiligt, <strong>die</strong> Position der Weissen in Florenz zu stärken. Zu jener Zeit stacheln<br />

<strong>die</strong> weissen Florentiner ihre Verbündeten in der Nachbarstadt Pistoia dazu an, <strong>die</strong><br />

Schwarzen aus der Regierung zu vertreiben. Schwere Unruhen sind <strong>die</strong> Folge, <strong>die</strong><br />

Schwarzen werden aus Pistoia verbannt, <strong>und</strong> das Ereignis schürt auch in Florenz den<br />

Parteienhader. Am 18. Oktober erhalten <strong>die</strong> Prioren vom Consiglio del Cento<br />

Vollmachten, "da tägliche Neuheiten, <strong>die</strong> <strong>von</strong> innen wie <strong>von</strong> aussen stammen, den<br />

Frieden <strong>und</strong> <strong>die</strong> Ordnung der Gerechtigkeit bedrohen <strong>und</strong> <strong>die</strong> gewohnte Freiheit in<br />

Knechtschaft verwandelt könnten." 9<br />

8 Nachweis der Wortmeldungen in: Enciclopedia dantesca, Appendix; SCOTT (1996), S. 14, S.<br />

17 ff.; s. a. DAVIDSOHN (1896-1927), III<br />

9 DAVIDSOHN (1896-1927), III, S. 132<br />

142


Gleichzeitig wird das Doppelspiel Bonifaz VIII. immer offensichtlicher. Einerseits<br />

nähert er sich der Stadt als Verbündeter <strong>und</strong> sucht scheinbar den Ausgleich,<br />

andererseits beauftragt er im November 1300 den Bruder des französischen Königs,<br />

Karl <strong>von</strong> Valois, in einem Italienzug nicht nur Sizilien zurückzuerobern, wo das<br />

Unternehmen der Anjou immer noch erfolglos ist, sondern dem Papsttum auch <strong>die</strong><br />

Toskana zu sichern. Während Vieri de' Cerchi <strong>und</strong> <strong>die</strong> Mehrheit der Weissen zögern<br />

<strong>und</strong> weiterhin versuchen, Bonifaz VIII. umzustimmen, da, nicht zuletzt aufgr<strong>und</strong> der<br />

Geschäftsinteressen, in der Stadt ein Bürgerkrieg droht, wird Dante Wortführer jener<br />

Minderheit, <strong>die</strong> offen Widerstand betreiben will. Im Frühjahr <strong>und</strong> Sommer 1301<br />

unterliegt er jeweils im Consiglio del Cento, als er sich gegen jegliche weitere<br />

militärische Unterstützung des Hauses Anjou <strong>und</strong> des Papstes ausspricht. Als sich<br />

dann aber <strong>die</strong> Florentiner im September 1301 der Ankunft Karls <strong>von</strong> Valois in der<br />

päpstlichen Residenz <strong>von</strong> Anagni gewahr werden müssen <strong>und</strong> schliesslich in der<br />

Hoffnung eines päpstlichen Sinneswandels eine diplomatische Mission zu Papst<br />

Bonifaz VIII. senden, wird Dante Mitglied der Gesandtschaft. Doch während <strong>die</strong><br />

Florentiner noch in Anagni verhandeln, zieht Karl <strong>von</strong> Valois schon in Richtung<br />

Florenz, wo unter dem Druck <strong>von</strong> Aussen <strong>die</strong> Weissen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Schwarzen einen<br />

letzten Versuch unternehmen, sich auszusöhnen. Das Vorhaben misslingt <strong>und</strong> es wird<br />

beschlossen, dem französischen Königssohn <strong>die</strong> Strasse nach Florenz freizugeben <strong>und</strong><br />

ihn als Friedensstifter aufzunehmen, vorausgesetzt, dass er <strong>die</strong> Gesetze der Stadt, ihre<br />

Rechte, Ehren <strong>und</strong> Freiheiten unangetastet lässt. Jedoch, nachdem der französische<br />

Prinz im Auftrag Bonifaz VIII. am 1. November 1301 in Florenz eingezogen ist,<br />

verlangt der Papst <strong>die</strong> rückhaltlose Unterwerfung der Stadt unter seinen persönlichen<br />

Willen. In den Tumulten, <strong>die</strong> der päpstliche Bescheid hervorruft, erhält Karl <strong>von</strong><br />

Valois Vollmachten <strong>über</strong> <strong>die</strong> Stadt, während <strong>die</strong> Schwarzen ihren Führer Corso Donati<br />

handstreichartig zurückholen. Acht Tage lang breiten sich Mord, Brand <strong>und</strong><br />

Plünderungen <strong>über</strong> Stadt <strong>und</strong> Landschaft <strong>von</strong> Florenz aus, bis Karl <strong>von</strong> Valois<br />

schliesslich den Schwarzen das Priorenamt <strong>über</strong>trägt. Als Podestà wird ein Mann aus<br />

Gubbio ernannt, Canto de' Gabrielli, gegen dessen ungerechte Rechtsprechung sich<br />

Dante einst im Consiglio del Cento mit Erfolg eingesetzt hatte. Die weissen<br />

Meinungsführer müssen fliehen, <strong>die</strong> Zeit der politischen Prozesse beginnt, während<br />

der bis Juni 1302 559 Todesurteile ausgesprochen werden. Dante wird am 27. Januar<br />

1302 in Abwesenheit als schuldig bef<strong>und</strong>en, am 10. März 1302 ergeht sein<br />

Todesurteil, da er nicht vor dem Richter erschienen ist. Zu Last gelegt werden ihm<br />

Wahlmanipulationen <strong>und</strong> unrechtmässige Verwendung kommunaler Gelder, da er sich<br />

als Prior einerseits für <strong>die</strong> weisse Fraktion, andererseits gegen <strong>die</strong> Vereinnahmung<br />

143


durch Bonifaz VIII. eingesetzt hatte. Ausserdem werden ihm seine Komplizenschaft<br />

bei der Vertreibung der Schwarzen aus Pistoia vorgeworfen wie auch seine<br />

Wortmeldungen in den Räten, wo er sich gegen <strong>die</strong> Unterstützung der militärischen<br />

Unternehmen des Papstes <strong>und</strong> des Königshauses Anjou gewandt hatte.<br />

Karl <strong>von</strong> Valois verlässt im April 1302 Florenz <strong>und</strong> der Streit Bonifaz VIII. mit<br />

dem französischen Königshaus vereitelt dessen Pläne, sich der Toskana zu<br />

bemächtigen. Bei den schwarzen Guelfen in Florenz setzen sich schliesslich jene<br />

durch, welche <strong>die</strong> Ordinamenti di giustizia als Wesenskern der Florentiner Kommune<br />

betrachten. 10 Corso Donati wird sein Machtstreben letztlich zum Verhängnis. Er stirbt<br />

1308 auf der Flucht vor dem Popolo, nachdem er sich im Verb<strong>und</strong> mit seinem neuen<br />

Schwiegervater <strong>und</strong> Ghibellinenherrscher <strong>von</strong> Pisa, Uguccione della Faggiuola, der<br />

Stadt hat bemächtigen wollen. 11<br />

Dante aber, den <strong>die</strong> Nachricht <strong>von</strong> der Niederlage der Weissen ereilt, als er sich<br />

auf der Rückreise <strong>von</strong> der diplomatischen Mission in Anagni befindet, wird seine<br />

Heimat nicht wiedersehen. Zunächst schliesst er sich seinen weissen Gefährten an, <strong>die</strong><br />

gemeinsam mit den Ghibellinen, <strong>die</strong> sich schon seit geraumer Zeit im Exil befinden,<br />

vergeblich versuchen, mit Waffengewalt eine Rückkehr nach Florenz zu erzwingen.<br />

Als 1304 Benedikt XI., der als ehrenhaft gilt, Bonifaz VIII. auf dem päpstlichen Stuhl<br />

nachfolgt, will Dante als Wortführer der Weissen <strong>von</strong> Arezzo aus auf diplomatischem<br />

Weg <strong>die</strong> Aufhebung der Verbannung erreichen <strong>und</strong> verfasst im Namen seiner Partei<br />

ein Schreiben an den päpstlichen Legaten. Die Weissen äussern den Wunsch, nach<br />

Florenz zurückzukehren <strong>und</strong> bieten ihre Bereitschaft an, sich einem Friedensschluss<br />

zu beugen. Sie verteidigen ihre einstige Politik, dass sie nichts anderes im Sinn gehabt<br />

hätten, als "den Frieden <strong>und</strong> <strong>die</strong> Freiheit des Florentiner Popolo" zu retten. Die<br />

Provokation eines Bürgerkrieges habe allein den Zweck gehabt, den <strong>gute</strong>n Zustand der<br />

Stadt wieder herbeizuführen. 12 Doch <strong>die</strong> Verhandlungen werden <strong>von</strong> der Ungeduld der<br />

Gefährten durchkreuzt, als sie im Florentiner Contado schwarze Parteigänger<br />

angreifen. Dante kehrt der Gruppe der Verbannten enttäuscht den Rücken <strong>und</strong> bildet<br />

<strong>von</strong> nun an "für sich selbst Partei (averti fatta parte per te stesso)." 13<br />

1304 beginnen für Dante endgültig <strong>die</strong> Wanderjahre, <strong>die</strong> ihn bis zu seinem Tod im<br />

September 1321 in zahlreiche Städte <strong>und</strong> an mehrere Höfe Mittel- <strong>und</strong> Oberitaliens<br />

10 DAVIDSOHN (1896-1927) passim; DINO COMPAGNI (1312): Cronica; GIOVANNI VILLANI<br />

(1300/48): Nuova Cronica<br />

11 Siehe auch Purgatorio XXIV.82-90<br />

12 DANTE: Epistola I.ii.6; SCOTT (1996), S. 28<br />

13 Paradiso XVII.69<br />

144


führen werden, wo "das Brot der Fremde gar salzig schmeckt": Lucca, <strong>die</strong> Höfe der<br />

Malaspina in Lunigiana, der della Scala in Verona <strong>und</strong> schliesslich der Polenta in<br />

Ravenna sind Stationen seines Lebens, wo er sich länger aufhält. Weiterhin werden<br />

ihm gerne diplomatische Missionen anvertraut, doch seine vorwiegende<br />

Beschäftigung sind nun wieder <strong>die</strong> Poesie <strong>und</strong> <strong>die</strong> Philosophie. Es entstehen<br />

Kanzonen, Sonetten <strong>und</strong> Reime, in denen er zunächst seine Enttäuschung <strong>und</strong> das<br />

Leid des Exils zum Ausdruck bringt. Eine lateinische Abhandlung <strong>über</strong> <strong>die</strong><br />

italienische Hochsprache De vulgari eloquentia bleibt unvollendet, wie auch das für<br />

ein breites Publikum in Italienisch verfasste philosophische Gastmahl, das Convivio.<br />

Sie weichen dem grossen Projekt der Commedia, der Jenseitswanderung durch das<br />

Inferno, Purgatorio <strong>und</strong> Paradiso, <strong>die</strong> er kurz vor seinem Tod im Jahr 1321<br />

fertigstellt. Unterbrochen wird <strong>die</strong>se Arbeit nur kurz <strong>von</strong> der Monarchia, einem<br />

wissenschaftlichen Traktat <strong>über</strong> <strong>die</strong> politische Weltordnung, mit dem er sich in der<br />

Politik nochmals Gehör verschaffen möchte. 14 Frau <strong>und</strong> Familie lässt Dante in Florenz<br />

zurück, bis sein Verbannungsurteil auch <strong>die</strong> grossgewordenen Söhne, Pietro <strong>und</strong><br />

Jacopo, trifft, <strong>die</strong> ihrem Vater 1315 nach Verona folgen.<br />

5.2. Die Commedia als politische Dichtung<br />

Die Commedia ist das grosse Werk Dantes aus der Zeit seines Exils, das ihn in<br />

fast all den Jahren seit der Trennung <strong>von</strong> seinen Gefährten 1304 begleitet. 15 In<br />

insgesamt 100 Gesängen berichtet Dante <strong>von</strong> seinem Aufbruch <strong>und</strong> seiner Wanderung<br />

durch <strong>die</strong> drei Jenseitswelten: Inferno, Purgatorio <strong>und</strong> Paradiso. Die Reise findet an<br />

den Ostertagen des Jahres 1300 statt, also zu einem Zeitpunkt, als Dante kurz vor<br />

seinem 35. Geburtstag steht <strong>und</strong> <strong>die</strong> Politik seiner Kommune aktiv mitgestaltet. Im<br />

folgenden Abschnitt <strong>die</strong>ser Arbeit werden <strong>die</strong> bekannten grossen Linien der Reise<br />

nachgezeichnet, um so eine Gr<strong>und</strong>lage zu erhalten für <strong>die</strong> Deutung des <strong>Freskenzyklus</strong><br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s als Umsetzung des dantesken Läuterungswegs.<br />

Die Commedia setzt mit Dantes Verirrung im dichten Wald der selva oscura ein.<br />

<strong>Der</strong> erste Gesang des Inferno, der das Motiv der Jenseitsreise enthält, schildert, wie<br />

14 Von Dante ist ausserdem ein kleines naturwissenschaftliches Traktat bekannt, Queastio de<br />

aqua et terra, das er wahrscheinlich für einen Kongress in Verona im Januar 1320 geschrieben hat.<br />

15 Zur Entstehung der Commedia: BUCK (1987). Die in <strong>die</strong>sem Abschnitt ausgeführte<br />

Gesamtdeutung der Commedia als ein iter ad felicitatem ist vor allem BUCK (1987), S. 158 ff., sowie<br />

der Kommentarliteratur des frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>erts verpflichtet, <strong>die</strong> SANDKÜHLER (1967) <strong>und</strong> (1989)<br />

besprochen hat. Siehe ausserdem D'ENTRÈVES PASSERIN (1952), KANTOROWICZ (1990). S. 444 ff.<br />

<strong>und</strong> SCOTT (1996)<br />

145


Dante sich in der Mitte seines Lebens in einem dunklen Wald wiederfindet. In seinem<br />

Bestreben, <strong>die</strong>sem Wald zu entfliehen, stösst er auf einen hohen Berg, der vor ihm im<br />

Sonnenlicht erstrahlt. Diesen will er besteigen, doch sein Versuch scheitert kläglich,<br />

als ein Panther <strong>und</strong> ein Löwe ihm den Weg versperren <strong>und</strong> ihn schliesslich eine<br />

Wölfin in <strong>die</strong> Dunkelheit zurückjagt. Wieder im dunklen Wald, trifft der Verirrte auf<br />

Vergil, den Autor der Aeneïs. Dante begrüsst ihn ehrfürchtig als Vorbild <strong>und</strong> Meister,<br />

dem er den schönen Stil verdanke, der ihn als Dichter zu Ehren brachte. Von Vergil<br />

erntet Dante jedoch Tadel, weil er sich ins Verderben hat zurückjagen lassen, obwohl<br />

er sich schon auf dem richtigen Pfad bef<strong>und</strong>en habe. Als jedoch Dante erklärt, dass<br />

seine Hoffnungen auf den Aufstieg schwanden, als er der ausgehungerten Wölfin<br />

begegnete, stösst er auf Verständnis; denn das Tier sei so wild <strong>und</strong> gierig, dass Dante<br />

es aus eigener Kraft nicht hätte vertreiben können. Prophetisch spricht Vergil <strong>von</strong><br />

einem Veltro, der noch zu kommen habe, um <strong>die</strong> Wölfin zu töten <strong>und</strong> Italien zu retten.<br />

Als Alternative, um zu den Höhen des seligen Bergs zu gelangen, schlägt er eine<br />

Reise durch das Jenseits vor. Dante tritt <strong>die</strong>se jedoch nur zaudernd an, nachdem sich<br />

sein Retter im zweiten Gesang als Gesandter der seligen Beatrice zu erkennen gibt,<br />

der grossen Liebe aus der Vita nuova. 16 Die Schilderung <strong>die</strong>ser Reise ist Inhalt der 98<br />

restlichen Gesänge: Zunächst führt Vergil den Jenseitswanderer den trichterförmigen<br />

Höllenschl<strong>und</strong> bis zu den Tiefen hinab, wo Luzifer weilt. Im zweiten Buch der<br />

Commedia, dem Purgatorio, steigt er mit Dante den Läuterungsberg hinauf, auf<br />

dessen Gipfel sich das Irdische Para<strong>die</strong>s befindet. Auf seine Liebe Beatrice trifft<br />

Dante endlich in den letzten Gesängen des Purgatorio, wo sie im Irdischen Para<strong>die</strong>s<br />

Vergil als Führerin ablöst. Im dritten Buch der Commedia, dem Paradiso, fliegt sie<br />

mit ihrem Schützling durch <strong>die</strong> Sphären der Planeten, Fixsterne <strong>und</strong> Kristalle zum<br />

Empireum empor. Dort kehrt Beatrice auf ihren Thron im Kreis der seligen<br />

Heerscharen Marias zurück, während der heilige Bernhard <strong>von</strong> Clairvaux Dantes<br />

Blick zur Schau der göttlichen Dreieinigkeit lenkt. Dantes Reise endet in der<br />

Vereinigung seines Willens mit der "Liebe, <strong>die</strong> Sonne <strong>und</strong> Sterne bewegt (l'amor che<br />

muove l'cielo e le altre stelle)." 17<br />

Im wörtlichen Sinne berichtet Dante in der Commedia <strong>von</strong> seinen Eindrücken<br />

<strong>über</strong> <strong>die</strong> Zustände der Seelen im Jenseits, denen er auf seiner mehrtägigen Reise<br />

begegnet. 18 Die einzelnen Seelen, <strong>die</strong> er antrifft, sind jedoch nicht Figuren, <strong>die</strong> seiner<br />

eigenen Einbildungskraft entsprungen sind, sondern Individuen, <strong>die</strong> er entweder noch<br />

16 Inferno II.103 - 108<br />

17 Paradiso XXXIII.145<br />

18 Zum mehrfachen Schriftsinn: Epistola XIII; SANDKÜHLER (1987), S. 168 f.<br />

146


selbst gekannt hat oder <strong>von</strong> deren Existenz er weiss. Nebst einigen biblischen <strong>und</strong><br />

antiken Gestalten sind es vor allem verstorbene Personen des 12. <strong>und</strong> 13.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts: Kaiser, Päpste, Ordensgründer, Könige, Tyrannen, Ritter, Herzoginnen<br />

<strong>und</strong> Edelfrauen, Mönche, Höflinge, Bürger <strong>und</strong> Bürgerinnen der Städte Mittel- <strong>und</strong><br />

Oberitaliens, darunter viele Florentiner <strong>und</strong> einige Florentinerinnen. Unabhängig ihres<br />

Standes <strong>und</strong> Dantes persönlicher Wertschätzung bevölkern <strong>die</strong> einzelnen Seelen alle<br />

drei Jenseitsbereiche: <strong>die</strong> Kreise <strong>und</strong> Bulgen des Höllentrichters, <strong>die</strong> Felsterrassen des<br />

Läuterungsberges <strong>und</strong> <strong>die</strong> Himmelssphären im Para<strong>die</strong>s - entsprechend ihrem<br />

sittlichen Verhalten auf Erden. Die Gespräche, <strong>die</strong> Dante mit vielen <strong>von</strong> ihnen führt,<br />

sind für ihn sehr oft Anlass, um sich mit ihnen <strong>über</strong> <strong>die</strong> <strong>die</strong>sseitigen Verhältnisse zu<br />

unterhalten.<br />

Die Berichterstattung vom Zustand der Seelen in den Jenseitswelten bietet Dante<br />

nicht nur Gelegenheit, das Irdische im Jenseits zu thematisieren, sondern er verbindet<br />

seine Reiseschilderung auch mit einem philosophischen Programm, das konkret das<br />

Leben der Menschen auf Erden betrifft. In einem Brief an seinen Gönner Cangrande<br />

della Scala hält er fest, dass er mit der Commedia beabsichtige, <strong>die</strong> Menschen im<br />

Diesseits aus dem Zustand des Elends in den der Glückseligkeit zu führen - removere<br />

viventes in hac vita de statu miserie et perducere ad statum felicitatis. 19 In <strong>die</strong>sem<br />

Sinne ist <strong>die</strong> Commedia Dantes ein grosses Lamento <strong>über</strong> <strong>die</strong> zeitgenössischen<br />

Verhältnisse. Gleichzeitig zeigt sie aber auch einen Weg auf, wie das Glück auf Erden<br />

zu verwirklichen ist.<br />

<strong>Der</strong> Glücksbegriff, den Dante der Commedia zugr<strong>und</strong>e legt, findet sich in der<br />

Hauptsache schon im Convivio. Hier gibt sich Dante erstmals klar als Schüler des<br />

Aristoteles zu erkennen. 20 Seiner Lehre folgend, definiert er das Glück des Menschen<br />

als "<strong>die</strong> tugendgemässe Tätigkeit der Seele ein Leben lang." Das Stillen materieller<br />

Bedürfnisse, Reichtum, Ehre, wohlgeratene Kinder oder Fre<strong>und</strong>e sind nicht das wahre<br />

Glück, sondern bloss Momente des Glücks. Mit Aristoteles ist Dante auch der<br />

Ansicht, dass der Mensch <strong>von</strong> Natur so geschaffen ist, dass er <strong>die</strong>ses irdische Glück<br />

19 Epistola XIII; SANDKÜHLER (1987), S. 168 f. Darauf bezieht Dante auch den Namen seines<br />

Werkes: "Komö<strong>die</strong>", das heisst "dass der Anfang grausig, das Ende aber erfreulich <strong>und</strong> glücklich ist" -<br />

den Beinamen "göttlich" fügten erst Bew<strong>und</strong>erer späterer Jahrh<strong>und</strong>erte hinzu, um <strong>die</strong> erhabene<br />

Schönheit des Werks zu kennzeichnen. BUCK (1987), S. 158<br />

20 Im Convivio bezichnet Dante Aristoteles "maestro de li filosofi " (IV.8, 15), als "il mio<br />

maestro" (I.9, 9), preist ihn als "maestro e duca de la ragione umana" (IV.6, 8), als "maestro de la<br />

nostra vita" (IV.23, 8) <strong>und</strong> bezeichnet in tiefer Bew<strong>und</strong>erung den Geist, den <strong>die</strong> Natur Aristoteles<br />

geschenkt hat, als "quasi-göttlich" (IV.6, 15). Er lobt ausserdem den zeitgenössischen Florentiner<br />

Medizinprofessor, Taddeo di Alderotto, als Übersetzer der Nikomachischen Ethik (I.10, 10) (auf der<br />

Gr<strong>und</strong>lage des alexandrinischen Kompendiums). Siehe GRABMANN (1926/56), III, S. 197 ff.<br />

147


nicht alleine zu verwirklichen mag, sondern nur in der Gemeinschaft der Menschen<br />

als Bürger. Dem Gedanken zugr<strong>und</strong>e liegt <strong>die</strong> Definition des Menschen als zoon<br />

politikon, als politisches <strong>und</strong> soziales Wesen, das <strong>von</strong> Natur aus darauf angelegt ist,<br />

sich als Mitglied einer staatlichen Gemeinschaft zu vervollkommnen. 21 Sich selbst<br />

<strong>über</strong>lassen, fehlt dem Menschen einerseits <strong>die</strong> körperliche Konstitution, um zu<br />

<strong>über</strong>leben, andererseits droht ihm Gefahr, in <strong>die</strong> Tierhaftigkeit abzusinken. Die<br />

Gemeinschaft schafft nicht nur <strong>die</strong> Voraussetzungen, <strong>die</strong> für das Überleben<br />

notwendigen materiellen Bedürfnisse zu stillen, sondern eröffnet auch <strong>die</strong><br />

Möglichkeit, durch den sprachlichen Austausch <strong>die</strong> eigene Erkenntnismöglichkeit zu<br />

erweitern <strong>und</strong> bietet Raum <strong>und</strong> Gelegenheit, im geordneten Zusammenleben Tugend<br />

zu entfalten - <strong>die</strong> nach Aristoteles immer tugendgemässes Handeln ist - <strong>und</strong> damit<br />

Glückseligkeit zu verwirklichen. Mit Aristoteles setzt Dante dabei einen Staat voraus,<br />

civitas oder regnum, in welchem Gesetze, <strong>die</strong> dem Urteil der Gerechtigkeit<br />

standhalten, <strong>die</strong> zur Tugend erziehen <strong>und</strong> <strong>die</strong> das Handeln auf das Gemeinwohl<br />

ausrichten, <strong>die</strong> notwendigen Rahmenbedingungen schaffen. 22<br />

Ausgehend <strong>von</strong> <strong>die</strong>sem Glücksbegriff stellt Dante aber fest, dass in der<br />

Wirklichkeit <strong>die</strong> notwendigen Rahmenbedingungen fehlen, weshalb <strong>die</strong> Menschen<br />

vom Glück ferngehalten werden. Weder <strong>die</strong> zeitgenössischen Stadtstaaten noch<br />

Königreiche vermögen für ihn <strong>die</strong> erforderliche gerechte Ordnung zu errichten.<br />

Ausgehend vom eigenen Schicksal, sieht er <strong>die</strong> vielen anderen Individuen, <strong>die</strong> wie er<br />

zu Unrecht verurteilt <strong>und</strong> ihrer Heimat beraubt wurden. Verlust <strong>und</strong> Schändung der<br />

Gerechtigkeit sind somit auch ein zentrales Thema seiner ersten Gedichte nach der<br />

Verbannung. 23 Im Convivio ortet er den Ursprung für den status miserie in der<br />

menschlichen Unersättlichkeit nach Besitz <strong>und</strong> Ruhm. 24 Einerseits streben <strong>die</strong><br />

Menschen nach dem Guten <strong>und</strong>, um <strong>die</strong>ses zu erreichen, begründen sie Haushalte,<br />

Nachbarschaften, Städte <strong>und</strong> Reiche, andererseits aber zerstören sie <strong>die</strong>se wieder<br />

durch Krieg <strong>und</strong> Zwietracht, weil <strong>die</strong> menschliche Gier nach Besitz keine Grenzen<br />

kenne. Daraus folgert Dante aber nicht, dass alles irdische Glück eitel sei, sondern<br />

bleibt da<strong>von</strong> <strong>über</strong>zeugt, dass der Mensch auf Erden <strong>die</strong> civilitas humana zu begründen<br />

vermag, <strong>die</strong> dem einzelnen erlaubt, Glückseligkeit zu verwirklichen. Dafür braucht es<br />

für Dante aber eine universelle politische Ordnung, <strong>die</strong> Gerechtigkeit durchsetzt <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> einzelne Gemeinwesen in Schranken weist, um einen weltweiten Rechtsraum zu<br />

21 Aristoteles: Politik, 1253 a 1 ff.<br />

22 Convivio IV.4, 1-2; s. a. PASSERIN D'ENTRÈVES (1952), S. 8 ff..<br />

23 Zum Bsp.: Rime XCVII, XCVIII<br />

24 Convivio IV.4, 3 f.<br />

148


egründen, in dem sich Frieden, Tugend <strong>und</strong> das Glück des einzelnen verwirklichen.<br />

In der Monarchia schliesslich führt Dante <strong>die</strong>sen Gedanken weiter aus. Er entwirft das<br />

Bild einer Weltordnung, in welcher der Kaiser als Universalmacht einen, den<br />

einzelnen Gemeinwesen <strong>über</strong>geordneten Rechts- <strong>und</strong> Friedensraum begründet, der auf<br />

der Durchsetzung des tra<strong>die</strong>rten römischen Rechts beruht. Sitz des Kaisertums ist für<br />

Dante das ewige Rom. Das Glück der Tugenden, das der einzelne in der civilitas<br />

humana zu verwirklichen vermag, besteht aus der Umsetzung der vier antiken<br />

Kardinaltugenden - Klugheit, Stärke, Mässigkeit <strong>und</strong> Gerechtigkeit - zu welcher <strong>die</strong><br />

Gesetzesherrschaft <strong>und</strong> <strong>die</strong> philosophica documenta den Menschen anleiten. Eine<br />

solche Ordnung verwirklicht das Irdische Para<strong>die</strong>s, das für Dante Symbol irdischer<br />

Glückseligkeit ist. <strong>Der</strong> Kirche indessen weist Dante in der Monarchia eine, <strong>die</strong><br />

weltliche Macht nicht konkurrierende, sondern ergänzende Aufgabe zu: Mit Hilfe der<br />

documenta spiritualia sowie der Lehre der drei theologischen Tugenden - Glaube,<br />

Liebe, Hoffnung - soll sie den einzelnen auf <strong>die</strong> himmlische Glückseligkeit oder das<br />

Glück des ewigen Lebens vorbereiten, das für Dante durch das himmlische Para<strong>die</strong>s<br />

dargestellt wird <strong>und</strong> im Genuss der Anschauung Gottes besteht. 25<br />

Dantes Menschenbild ist gr<strong>und</strong>sätzlich positiv. Er versteht den Menschen als<br />

vernunftbegabtes Wesen, das, ausgestattet mit einem freien Willen, <strong>von</strong> Natur aus<br />

nach dem Guten strebt, sich aber, falls es keine Anleitung in der Definition dessen hat,<br />

was <strong>die</strong>ses Gute ist, leicht zu irren vermag. Sein Menschenbild hat zur Folge, dass er<br />

<strong>die</strong> Krisen <strong>und</strong> Widrigkeiten seiner Zeit nicht als Geissel Gottes für <strong>die</strong> verderbte<br />

Natur des Menschen auffasst, sondern als Schwäche der irdischen Ordnung, für<br />

welche <strong>die</strong> Menschen selbst verantwortlich sind. 26 Während er in der Monarchia in <strong>die</strong><br />

aktuelle politische Diskussion eingreift <strong>und</strong> seine Vorstellungen aufzeigt, wie <strong>die</strong><br />

politische Führung in der Welt zu organisieren sei, um <strong>die</strong> civilitas humana <strong>und</strong> das<br />

glückliche Leben zu verwirklichen, setzt er in der Commedia zu einer umfassenden<br />

Regeneration der Menschheit an, mit dem Ziel, sie aus ihrem status miserie<br />

herauszuführen: Stellvertretend für <strong>die</strong> einzelnen Menschen auf Erden hat sich Dante<br />

in der selva oscura, dem dunklen Wald der Laster verirrt. Nach Vollkommenheit <strong>und</strong><br />

dem Guten strebend, sucht er den Berg des Glücks zunächst erfolglos zu erklimmen,<br />

bis <strong>die</strong> Philosophie oder <strong>die</strong> philosophica documenta in der Gestalt Vergils mit ihm<br />

den Weg der Einsicht durch das Inferno geht <strong>und</strong> schliesslich den Läuterungsberg<br />

erklimmt, auf dessen Gipfel sich das Irdische Para<strong>die</strong>s als Symbol der irdischen<br />

25 Monarchia III.xvi. 6 ff.; s. a. I.iii.1; I.xii.10 ff.; I.xiv.4 ff.; II.vi.8 f.; vgl. BUCK (1987), S.<br />

159 ff.; PASSERIN D'ENTRÈVES (1952), S. 56 ff.<br />

26 Purgatorio XVI.67 ff.<br />

149


Glückseligkeit befindet. Wächter des Läuterungsberges ist der römische Held Cato<br />

Uticensis, der dem nach Glück Strebenden im Strahlenkranz der vier<br />

Kardinaltugenden erscheint. 27 Für Dante versinnbildlicht er nicht nur das antike<br />

Tugendideal, sondern ist auch positives Exempel für den Menschen als zoon politikon,<br />

der sich durch Tugend in der Gemeinschaft vervollkommnet. 28 Die Theologie oder <strong>die</strong><br />

documenta spiritualia, personifiziert durch Beatrice, führt ihn dann vom Irdischen<br />

Para<strong>die</strong>s zu den Höhen des himmlischen Para<strong>die</strong>ses, dem Symbol der himmlischen<br />

Glückseligkeit. Nachdem er <strong>die</strong> Prüfungen in den drei theologischen Tugenden<br />

Glaube, Hoffnung, Liebe bestanden hat, darf Dante, der als Mensch des Diesseits <strong>die</strong><br />

Jenseitswelten durchwandert, mit dem Mystiker Bernhard <strong>von</strong> Clairvaux das<br />

vollkommene Glück des ewigen Lebens kosten, eintauchend in das ewige Rad der<br />

Liebe, das <strong>die</strong> Sonne <strong>und</strong> Sterne bewegt. 29<br />

Während <strong>die</strong> Monarchia als politische Streitschrift vorwiegend darauf<br />

ausgerichtet ist, <strong>die</strong> eigenen Vorstellungen <strong>über</strong> <strong>die</strong> Organisation der politischen<br />

Führung wissenschaftlich <strong>über</strong>zeugend darzustellen, ist <strong>die</strong> Commedia ein Werk, das<br />

Dante in der Volkssprache für ein breites Publikum geschrieben hat. 30 Beim einzelnen<br />

ansetzend, rückt er das individuelle Glücksstreben in den Vordergr<strong>und</strong>, bleibt dabei<br />

aber dem aristotelischen Konzept des Menschen als zoon politikon treu, der sich in der<br />

politischen Gemeinschaft sittlich vervollkommnet. Dieser Verbindung <strong>von</strong> Tugend<br />

<strong>und</strong> politischer Ordnung sind <strong>die</strong> drei mittleren Gesänge des Purgatorio gewidmet, <strong>die</strong><br />

gleichzeitig auch <strong>die</strong> Mitte der gesamten Commedia sind: Während Dante im 16.<br />

Gesang seine politische Reformvorstellungen der Monarchia umreisst <strong>und</strong> universelle<br />

Rechtsherrschaft verlangt, <strong>die</strong> das tugendhafte Verhalten fördert, erörtert er im 17. <strong>und</strong><br />

18. Gesang <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>lagen der menschlichen Sittenlehre. Sie beruht für ihn auf der<br />

natürlichen Liebe des Menschen nach dem Guten, <strong>die</strong> jedoch in <strong>die</strong> richtige Richtung<br />

zu lenken ist. Was richtig ist, mag der Mensch kraft seiner Natur gr<strong>und</strong>sätzlich zu<br />

entscheiden, da ihm eine Urteilskraft eigen ist. Anleitung dazu erhält er <strong>von</strong> der<br />

Sittenlehre der antiken Philosophen, "<strong>die</strong> durch Denken auf den Gr<strong>und</strong> gestiegen,<br />

<strong>die</strong>se eingeborne Freiheit erkannten." (Color che ragionando andaro al fondo,<br />

s'accorser estar inata libertate; però moralità lasciaro al mondo.) 31<br />

Im Irdischen Para<strong>die</strong>s schliesslich, mit dem das Purgatorio abschliesst, vereinigen<br />

sich nochmals <strong>die</strong> beiden, <strong>von</strong> Dante für <strong>die</strong> Regeneration der Menschheit als<br />

27 Purgatorio I.31-39<br />

28 Convivio IV.27, 3<br />

29 Zur Symbolik Vergils, Beatrices <strong>und</strong> Bernhards <strong>von</strong> Clairveaux: BUCK (1987)<br />

30 Ebd., S. 153 ff. <strong>und</strong> S. 158 ff.; SCOTTS (1996), S. 63 ff.<br />

31 Purgatorio XVIII.67-69<br />

150


notwendig empf<strong>und</strong>enen Wesensmerkmale: Eine politische Weltordnung, <strong>die</strong> dem<br />

Urteil der Gerechtigkeit standhält <strong>und</strong> <strong>die</strong> Entfaltung des freien Willens durch <strong>die</strong><br />

Verwirklichung des antiken Tugendideals. So ist das Irdische Para<strong>die</strong>s Heimstätte<br />

Mathildes, <strong>die</strong> hier den Jenseitswanderer als Personifikation der vita activa oder des<br />

vivere civile empfängt. 32 Sie ist Symbol des tätigen Lebens, in welchem der einzelne<br />

im Zusammenwirken mit der Gemeinschaft das irdische Glück durch das Üben der<br />

vier Kardinaltugenden zu verwirklichen sucht. Im Irdischen Para<strong>die</strong>s schaut Dante<br />

auch kurz den Moment des Glücks, der sich auf Erden einstellen würde, wenn <strong>die</strong><br />

politischen Rahmenbedingungen stimmten: <strong>Der</strong> aufgr<strong>und</strong> Evas Schuld entblätterte<br />

Baum der Erkenntnis blüht im Irdischen Para<strong>die</strong>s w<strong>und</strong>erbar wieder auf, als sich <strong>die</strong><br />

<strong>von</strong> ihm postulierte Weltordnung symbolisch verwirklicht. 33<br />

Gr<strong>und</strong>sätzlich basiert <strong>die</strong> Commedia auf dem <strong>von</strong> Dante im Convivio <strong>und</strong> der<br />

Monarchia entwickelten Glückseligkeitsstreben des Menschen als zoon politikon.<br />

Doch wenn auch Dantes Jenseitsreise ein Spiegel des Irdischen ist, so bleibt sie aber<br />

eine Reise in nachtödliche Welten, in denen das Wirken eines christlichen Gottes<br />

offenbar wird. Als solche entfaltet das Glückseligkeitsstreben in der Commedia eine<br />

zusätzliche Dimension, <strong>die</strong> im Convivio <strong>und</strong> der Monarchia weniger präsent ist.<br />

Dieser Aspekt der Commedia führt uns noch einmal zum 1. Gesang des Inferno<br />

zurück.<br />

Als vernunftbegabtes Wesen, das nach dem Guten strebt, will Dante, als er dem<br />

dunklen Wald der Laster zu entfliehen sucht, den Berg der Tugend zunächst alleine<br />

besteigen. Doch verlassen ihn seine Kräfte. Vergil, der ihm dort erscheint, fragt ihn<br />

nicht ohne Vorwurf, weshalb er ins Verderben zurückgekehrt ist, anstatt "zum seligen<br />

Berge, der Ursache ist <strong>und</strong> Anfang jeder Freude" (il dilettoso monte ch'è principio e<br />

cagion di tutta gioia) 34 emporzusteigen; denn kraft seiner natürlichen Anlagen als<br />

Mensch hätte Dante der Aufstieg alleine gelingen sollen. Nachdem Dante aber vom<br />

schrecklichen Tier erzählt, das ihm "Adern <strong>und</strong> Puls erzittern liess", versteht ihn<br />

Vergil.<br />

32 Ebd. XXVIII.37 ff.; zur Symbolik Mateldas BUCK (1987), S. 161; s. a. JACOPO DELLA<br />

LANA (vor 1328), II<br />

33 Purgatorio XXXII.43-60. Hier wird <strong>die</strong> Blüte des Baums der Erkenntnis als <strong>die</strong><br />

Verwirklichung des Irdischen Para<strong>die</strong>ses auf Erden gedeutet, <strong>die</strong> sich einstellt, wenn <strong>die</strong> Menschen<br />

auf Erden solch politische Rahmenbedingungen schaffen, <strong>die</strong> es ermöglichen, Tugend zu<br />

verwirklichen. Siehe dazu auch Purgatorio XXXIII.37-58 <strong>und</strong> <strong>die</strong> Theorie <strong>von</strong> TOLOMEO DA LUCCA,<br />

unten Kapitel 9.5. Vgl. Paroli, Poesia e storia nella Divina Commedia, 1921; PASSERIN D'ENTRÈVES<br />

(1952), S. 73 f.; SCOTT (1996), S. 195 ff.<br />

34 Inferno I.77-78<br />

151


Das schreckliche Tier, <strong>die</strong> Wölfin, ist, wie <strong>die</strong> zwei anderen Tiere, Symbol für ein<br />

Laster, das des Menschen Liebe zum Guten durch ein Übermass der Liebe zu<br />

minderen Gütern verhindert: <strong>Der</strong> Panther ist eine Personifikation der lussuria - der zu<br />

grossen Lust an leiblichen Genüssen - oder auch der vanagloria, dem zu grossen<br />

Drang nach irdischem Ruhm. <strong>Der</strong> Löwe wird als superbia gedeutet, dem Hochmut<br />

oder bedingungslosem Streben, alles zu <strong>über</strong>ragen. Während Dante es in knapper Not<br />

gelingt, <strong>die</strong> ersten zwei Raubtiere zu <strong>über</strong>winden, scheitert er jedoch an der Wölfin.<br />

Sie ist <strong>die</strong> avaritia, der Geiz, im weiteren Sinne <strong>die</strong> cupiditas, <strong>die</strong> Habgier.<br />

Ausgemergelt, wie sie ist, ist keiner vor ihr sicher. Denn "sie ist so sündig <strong>von</strong> Natur<br />

<strong>und</strong> böse, dass ihre Gier niemals gestillt, sondern nur noch grösser wird nach jedem<br />

Frasse." 35<br />

Im Laster der cupiditas, <strong>die</strong> den Menschen als vernunftbegabtes Wesen daran<br />

hindert, kraft eigener Natur irdische Glückseligkeit zu erreichen, verdichtet sich <strong>die</strong><br />

Zeitkritik der Commedia. Dante sieht in seiner Zeit - im Unterschied zu jener der<br />

Antike - ein solch Ausmass an Habgier, dass ihre Überwindung eine sittliche Kraft<br />

kostet, <strong>die</strong> der Mensch alleine nicht mehr aufzubringen vermag. 36 Schuld daran ist für<br />

Dante jedoch nicht <strong>die</strong> korrumpierte Natur des Menschen, sondern <strong>die</strong> fehlende<br />

Führung in der Welt. Auf <strong>die</strong>sen Gedanken nimmt <strong>die</strong> Prophezeiung Vergils Bezug,<br />

<strong>die</strong> sich an das Eingeständnis <strong>von</strong> Dantes Scheitern anschliesst: <strong>Der</strong> Veltro, der Italien<br />

vom Laster der cupiditas retten soll, verweist in prophetischen Klängen auf eine<br />

Reform der Weltordnung, <strong>die</strong> solche Rahmenbedingungen schafft, dass ein Aufstieg<br />

für den einzelnen aus eigener Kraft möglich wird. Da Dante nun durch <strong>die</strong> cupiditas<br />

der Aufstieg zum Berg der Tugend versperrt ist, bedeutet ihm Vergil, dass er "auf<br />

einem anderen Weg gehen muss, will er der Wildnis entfliehen." 37 Dieser andere Weg<br />

ist <strong>die</strong> Reise in <strong>die</strong> Jenseitsreiche, in denen sowohl <strong>die</strong> Gerechtigkeit wie auch <strong>die</strong><br />

Liebe eines christlichen Gottes erfahrbar werden. 38 Damit hält <strong>die</strong> Jenseitsvision der<br />

Commedia den Lebenden nicht nur einen Spiegel des Irdischen vor, sondern gibt auch<br />

das Wirken Gottes als des höchsten Richters <strong>und</strong> der ersten Liebe zu erkennen. <strong>Der</strong><br />

Weg durch Inferno, Purgatorio <strong>und</strong> Paradiso wird so zu einem Weg der Einsicht<br />

sowohl in <strong>die</strong> göttliche Gerechtigkeit, <strong>die</strong> nach Massgabe <strong>von</strong> Ver<strong>die</strong>nst bestraft <strong>und</strong><br />

belohnt, als auch in <strong>die</strong> göttliche Liebe als dem höchsten Gut <strong>und</strong> der Urkraft<br />

menschlicher Läuterung. So ist Vergil, der Dante aus der Dunkelheit durch <strong>die</strong><br />

35 Enciclopedia dantesca; JACOPO DELLA LANA (vor 1328) deutet den Panther indessen als<br />

Symbol der vanagloria.<br />

36 BUCK (1987), S. 162 f.; PASSERIN D'ENTRÈVES (1952), S. 69 ff.<br />

37 Inferno I.91-93<br />

38 Siehe besonders Inferno III.1-9<br />

152


Jenseitswelten zum Irdischen Para<strong>die</strong>s führt, ein Gesandter Beatrices <strong>und</strong> damit der<br />

göttlichen Liebe. Gleichzeitig erhält der Jenseitswanderer, der im Purgatorio zum<br />

Gipfel des antiken Tugendideals strebt, für seinen Läuterungsprozess Unterstützung<br />

durch <strong>die</strong> drei göttlichen Tugenden. Während ihm <strong>die</strong> Sternenlichter der vier<br />

Kardinaltugenden am Fuss des Berges den Weg weisen, erscheinen während des<br />

Aufstiegs auch <strong>die</strong> drei göttlichen Tugenden am Himmelsfirmament. 39 Die göttliche<br />

Liebe, <strong>die</strong> den Glauben <strong>und</strong> <strong>die</strong> Hoffnung als Voraussetzung hat, wird so zur Urkraft,<br />

<strong>die</strong>, weil sie <strong>die</strong> Liebe zum ersten Gut stärkt, auch das schreckliche Tier der cupiditas<br />

zu <strong>über</strong>winden vermag. So erscheinen dem Geläuterten schliesslich im Irdischen<br />

Para<strong>die</strong>s nicht nur <strong>die</strong> vier Frauen, <strong>die</strong> den Reigen der Kardinaltugenden tanzen <strong>und</strong><br />

damit das antike Tugendideal widerspiegeln, sondern auch <strong>die</strong> weiblichen<br />

Personifikationen der drei göttlichen Tugenden: 40 Als Kraft zum Guten werden sie Teil<br />

der vita civile <strong>und</strong> führen zur irdischen Glückseligkeit. Dantes Commedia ist damit ein<br />

Aufruf zu einer im Christentum verankerten politischen Regeneration. Diese beruht<br />

sowohl auf der renovatio der zwei obersten Gewalten - Kaiser <strong>und</strong> Papst -, als auch<br />

auf der individuellen Läuterung des einzelnen hin zum Idealbild eines Christen, der im<br />

Zusammenwirken mit der göttlichen Liebe seinen freien Willen gemäss dem antiken<br />

Tugendideal ausübt. 41<br />

Gleichzeitig zeigt <strong>die</strong> Commedia durch das Wirken der göttlichen Liebe aber auch<br />

einen Weg zur Glückseligkeit der Lebenden auf, wenn <strong>die</strong> politischen<br />

Rahmenbedingungen fehlen, um sich als zoon politikon in der politischen<br />

Gemeinschaft der Menschen zu vervollkommnen. Dante verlässt in der Commedia das<br />

Irdische Para<strong>die</strong>s, wo der Baum der Erkenntnis ohne Blüten ist, weil im Diesseits <strong>die</strong><br />

politischen Rahmenbedingungen für das Glück des zoon politikon fehlen. Doch <strong>die</strong><br />

vier Kardinaltugenden hat Dante kraft göttlicher Liebe <strong>und</strong> Gnade dennoch<br />

verwirklicht, selbst wenn das politische Umfeld widrig ist. Das antike Tugendideal<br />

wird somit zur Voraussetzung, um mit Beatrice in das himmlische Para<strong>die</strong>s<br />

emporzusteigen; das Irdische Para<strong>die</strong>s des Jenseits, das aufgr<strong>und</strong> der mangelnden<br />

politischen Weltordnung keine Entsprechung im Diesseits hat, wird unter <strong>die</strong>sen<br />

Umständen ein Zwischenhalt, um sich in den hohen Sphären des Paradiso der<br />

Theologie <strong>und</strong> der Mystik zuzuwenden <strong>und</strong> noch als Lebender schon himmlische<br />

Glückseligkeit zu kosten. 42<br />

39 Purgatorio VIII.91-93<br />

40 Purgatorio XXIX.121-132<br />

41 GILSON (1939)<br />

42 Purgatorio XXXII.100-102<br />

153


Während <strong>die</strong> Monarchia als politische Streitschrift Dantes politische Vorstellung<br />

einer Weltordnung philosophisch begründet, zeigt <strong>die</strong> Commedia für den einzelnen<br />

auch einen Weg des Glücks auf, wenn sich <strong>die</strong>se Weltordnung nicht verwirklicht.<br />

Gleichzeitig bleibt <strong>die</strong> Commedia jedoch stark dem politischen Engagement Dantes<br />

verpflichtet: Das Streben nach Verwirklichung des antiken Tugendideals bleibt<br />

Voraussetzung für Theologie <strong>und</strong> Mystik. Und bis hinauf in <strong>die</strong> Höhen des Paradiso<br />

wiederholt Dante seine Idee des Weltkaisertums, das durch Gerechtigkeit einen Raum<br />

des Friedens begründet <strong>und</strong> das äussere Verhalten der Menschen auf den tugendhaften<br />

Pfad führt, während es der Kirche Schutzherr ist, <strong>die</strong>, frei <strong>von</strong> weltlicher Macht <strong>und</strong><br />

irdischen Gütern, im Herz der Menschen den Funken der göttlichen Liebe entzündet. 43<br />

So gelten auch <strong>die</strong> letzten grossen Strafreden der Commedia, bevor <strong>die</strong> Mystik im<br />

Empireum <strong>die</strong> letzten vier Gesänge des Paradiso bestimmt, der Entartung der Kirche,<br />

der Habgier, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Menschen in ihren Fluten versenkt hat <strong>und</strong> der Hoffnung, dass <strong>die</strong><br />

Zeit naht, wo sich <strong>die</strong> Dinge auf Erden zum Besseren wenden werden. 44 Leitstern <strong>von</strong><br />

Dantes starkem politischem Einsatz ist dabei das aristotelische Konzept des Menschen<br />

als Bürger <strong>und</strong> zoon politikon. So lässt Dante auch im Paradiso nochmals <strong>die</strong><br />

rhetorische Frage stellen, was wäre der Mensch, wenn er nicht Bürger wäre - Sarebbe<br />

il peggio per l'omo in terra, se non fosse cive? - <strong>und</strong> verweist in der Antwort auf<br />

seinen Lehrmeister Aristoteles. 45 <strong>Der</strong> Trésor Brunetto Latinis, der den Bürgern der<br />

Florentiner Kommune <strong>die</strong> Verwirklichung des aristotelischen Glücks lehrt, ist das<br />

einzige Werk in der Commedia, das Dante mit Name zitiert <strong>und</strong> seinen Lesern <strong>und</strong><br />

Hörern ausdrücklich zum Studium empfiehlt. 46 Bis in <strong>die</strong> letzten Gesänge des Paradiso<br />

sehnt er sich danach, in Ehren in seine Heimatstadt zurückzukehren, um "am Brunnen,<br />

wo getauft, den Dichterkranz zu empfangen." 47 Im Brief an Cangrande della Scala, in<br />

dem Dante gegen Ende seines Lebens <strong>die</strong> Commedia erläutert, bezeichnet er sich<br />

letztlich als Zugehöriger der Florentiner Nation, aber nicht der Florentiner Sitten -<br />

florentinus natione, non moribus. 48 Hinter dem universellen Entwurf des<br />

Weltkaisertums steht Dante der Bürger, der <strong>von</strong> einer Zeit träumt, als seine<br />

Heimatstadt dem einzelnen noch Raum bot, Glück durch Tugend zu verwirklichen. 49<br />

Als Ganzes handelt <strong>die</strong> Commedia vom Wunsch, Krieg, Laster <strong>und</strong> Ungerechtigkeit<br />

43 Paradiso XXXI.133-148<br />

44 Paradiso XXVII.19 ff. sowie XXVIII.121 ff. <strong>und</strong> IXXX.82 ff.<br />

45 Paradiso VIII.115-117<br />

46 Inferno XV.119; BRUNETTO LATINI (1260/66), S. 176 ff., bes. S. 224: "Aristotle, ki est<br />

autresi comme fondemens de cest livre"<br />

47 Paradiso XXV.7-9<br />

48 Epistola XIII<br />

49 Paradiso XV.97-135<br />

154


zu verabschieden <strong>und</strong> <strong>von</strong> der Sehnsucht nach der Verwirklichung des vivere civile in<br />

einem Raum, wo Gerechtigkeit <strong>und</strong> Frieden herrschen <strong>und</strong> wo der Mensch im<br />

Zusammenwirken mit der göttlichen Liebe das antike Tugendideal verwirklicht. Hier<br />

ist der Ansatzpunkt für den <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s.<br />

5.3. <strong>Der</strong> <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s: Ein dantesker<br />

Läuterungsweg im Diesseits<br />

Die Verbindung der bisherigen Deutungen zu einem grösseren Ganzen hat Alois<br />

Riklin zum Schluss geführt, den <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s als "eine ins<br />

Bild gesetzte, in <strong>die</strong>ser Geschlossenheit einmalige politische Summe des<br />

stadtrepublikanischen Weltbildes im frühen Trecento" zu bezeichnen. 50 Hier wird nun<br />

argumentiert, <strong>die</strong>se Summe orientierte sich an dem <strong>von</strong> Dante in der Commedia<br />

vorgezeichneten Läuterungsweg: Wie Dantes Commedia ist der <strong>Freskenzyklus</strong><br />

<strong>Lorenzetti</strong>s das Ergebnis einer Synthese <strong>von</strong> Mikro- <strong>und</strong> Makrokosmos, in der sich<br />

antikes <strong>und</strong> christliches Bildungsgut mit zeitgenössischen Betrachtungen vereinen <strong>und</strong><br />

sich in den Dienst eines <strong>über</strong>geordneten Ziels stellen - removere viventes in hac vita<br />

de statu miserie et perducere ad felicitatem. Den Lebenden soll der Weg zur irdischen<br />

Glückseligkeit gezeigt werden, <strong>die</strong> letztlich Voraussetzung ist, um auch in den Genuss<br />

des ewigen Glücks zu gelangen. Damit sich <strong>die</strong>se irdische Glückseligkeit für eine<br />

grosse Zahl <strong>von</strong> Menschen einstellen kann, plä<strong>die</strong>rt Dante für politische Reformen,<br />

welche Rahmenbedingungen schaffen, damit <strong>die</strong> individuelle Läuterung sich<br />

verwirklichen kann. Während Dante jedoch seine politischen Reformen auf<br />

universeller Ebene ansetzt, werden im <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>die</strong> Rahmenbedingungen für <strong>die</strong><br />

individuelle Läuterung auf <strong>die</strong> lokale Ebene reduziert. Indessen, ungeachtet <strong>die</strong>ser <strong>von</strong><br />

Dante verschiedenen Ordnungsvorstellung, wird <strong>die</strong> Botschaft derjenigen Teile der<br />

Commedia, <strong>die</strong> Dante zur Erlangung der irdischen Glückseligkeit als wesentlich<br />

erachtet, im <strong>Freskenzyklus</strong> aufgenommen <strong>und</strong> direkt in <strong>die</strong> Welt des Diesseits<br />

transponiert. Entstanden ist eine Abfolge <strong>von</strong> Bildern mit einem Inferno, das Einsicht<br />

in eine Welt <strong>von</strong> Krieg, Tyrannen <strong>und</strong> Lastern gewährt, mit einem Purgatorio, das <strong>die</strong><br />

Botschaft vermittelt, einen politischen Raum zu schaffen, in der <strong>die</strong> individuelle<br />

Läuterung möglich wird <strong>und</strong> mit einem Irdischen Para<strong>die</strong>s, in der sich <strong>die</strong>se Ordnung<br />

in den Freuden der vita civile verwirklicht. Von der Welt der Laster, wenn <strong>die</strong><br />

Menschen aufgr<strong>und</strong> entfesselter Trieb- <strong>und</strong> Boshaftigkeit <strong>die</strong> Hölle auf Erden<br />

50 RIKLIN (1996), S. 119<br />

155


erfahren, führt der Weg <strong>über</strong> <strong>die</strong> Läuterung zum Irdischen Para<strong>die</strong>s des zoon politikon.<br />

Zwischen Hölle <strong>und</strong> Para<strong>die</strong>s auf Erden schiebt sich das Purgatorium als Ort, wo in<br />

einem Raum <strong>von</strong> Gerechtigkeit <strong>und</strong> Frieden <strong>die</strong> Tugenden <strong>die</strong> Aufgabe haben, den<br />

Intellekt, den Willen <strong>und</strong> <strong>die</strong> sinnlichen Triebe des Menschen zu läutern. 51<br />

Während das Inferno dem Betrachter <strong>die</strong> irdische Hölle direkt vor Augen führt,<br />

erscheint in der Mittelwand <strong>die</strong> Kommune <strong>von</strong> Siena als <strong>die</strong> ordnende Macht, für <strong>die</strong><br />

Dante im Purgatorio den Weltkaiser auserkoren hat. Mittels Durchsetzung <strong>von</strong> Recht<br />

<strong>und</strong> Gerechtigkeit, <strong>die</strong> <strong>die</strong> göttliche Weisheit vor Augen hat, 52 schafft sie einen Raum<br />

der Eintracht <strong>und</strong> des Friedens, in denen Gesetze das äussere Verhalten der Menschen<br />

auf den Pfad der Tugend führen, das mit Prudentia (Klugheit), Fortitudo (Stärke),<br />

Magnanimitas (Grossgesinntheit), Temperantia (Mässigkeit) <strong>und</strong> Justitia<br />

(Gerechtigkeit) dem antiken Tugendideal entspricht. 53 Das Herz der Menschen trifft<br />

Caritas (göttliche Liebe), <strong>die</strong> Fides (Glaube) <strong>und</strong> Spes (Hoffnung) zur Voraussetzung<br />

hat. Die göttliche Liebe im Sinn der Liebe, <strong>die</strong> sich Gott hinwendet, wird somit zur<br />

Urkraft der Tugend <strong>und</strong> unterstützt den Läuterungsprozess. 54 Die Pax, Personifikation<br />

des äusseren <strong>und</strong> des inneren Friedens <strong>und</strong> somit Ziel der politischen wie der<br />

individuellen renovatio, verweist mit ihrem Blick auf <strong>die</strong> rechte Längswand, wo sich<br />

im Irdischen Para<strong>die</strong>s der Sieneser Kommune <strong>die</strong> Glückseligkeit des zoon politikon<br />

entfaltet. Hier ist auch ein geistiger Würdenträger präsent, der indessen im Bild der<br />

Mittelwand, das <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>lagen kommunaler Ordnung festhält, fehlt. <strong>Der</strong><br />

<strong>Freskenzyklus</strong> weist somit der Kirche im politischen Raum der Kommune <strong>die</strong>selbe<br />

Funktion zu, <strong>die</strong> Dante ihr im mittleren Gesang des Purgatorio <strong>und</strong> im Irdischen<br />

Para<strong>die</strong>s gewährt: Sie ist Teil der vita civile, da sie das Herz der Menschen in Liebe zu<br />

Gott entzündet <strong>und</strong> ist deshalb <strong>von</strong> der weltlichen Macht zu schützen; <strong>von</strong> der<br />

eigentlichen Ausübung weltlicher Macht ist sie aber ferngehalten. 55 Für <strong>die</strong><br />

Durchsetzung einer <strong>von</strong> göttlicher Weisheit inspirierten Gerechtigkeit, <strong>die</strong> auf der<br />

Gr<strong>und</strong>lage <strong>von</strong> Gesetzen <strong>die</strong> Menschen zur Tugend erzieht, ist alleine <strong>die</strong> Kommune<br />

verantwortlich. Durch das Abstecken des politischen Raums, wo sich <strong>die</strong> vita civile<br />

der Sieneser Kommune entfaltet, ist das Panoramabild des Irdischen Para<strong>die</strong>ses<br />

51 Purgatorio XVII.140-142; zur Läuterung durch Tugend auch FRA PAOLO MINORITA<br />

(1315): De regimine rectoris, S. 5. Siehe auch: LE GOFF (1984)<br />

52 Purgatorio XVI.95-96: "Es mussten Herrscher sein, <strong>die</strong> <strong>von</strong> der wahren Stadt noch<br />

erkannten wenigstens <strong>die</strong> Türme (convenne rege aver, che discernesse de la vera cittade almeno la<br />

torre.)." Herrscher bzw. Richter, <strong>die</strong> <strong>die</strong> wahre Gerechtigkeit der göttlichen Stadt Jerusalem zu<br />

erblicken vermögen.<br />

53 Purgatorio I.38-38; ebd. XVIII.67-69; ebd. 140-142<br />

54 Purgatorio XVII.91-99; ebd. XVIII.19-48; ebd. VIII.91-93<br />

55 Purgatorio XVI.98-112; ebd. XXXII.43-160<br />

156


gleichzeitig eine Darstellung des rechtzentrierten Sieneser Territorialstaates.<br />

Ausschlaggebend zur Erlangung des irdischen Glücks sind für den Menschen als zoon<br />

politikon <strong>die</strong> philosophica documenta. Entsprechend sind sie in den Medaillons<br />

unterhalb der Mittel- <strong>und</strong> Längswand <strong>von</strong> Purgatorium <strong>und</strong> Irdischem Para<strong>die</strong>s<br />

abgebildet, personifiziert durch <strong>die</strong> Gestalten des Trivium (Grammatik, Dialektik,<br />

Rhetorik), Quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Musik, Astrologie) <strong>und</strong> der<br />

Philosophia.<br />

Während <strong>die</strong> Pax als Spiegel der irdischen Glücks einen verdichteten Gegenpol zu<br />

den Zuständen des Inferno bildet, ist <strong>die</strong> Tugend der Gerechtigkeit <strong>die</strong> gestaltende<br />

Kraft des <strong>Freskenzyklus</strong> für <strong>die</strong> Bildfolge <strong>von</strong> Inferno, Purgatorium <strong>und</strong> Irdischem<br />

Para<strong>die</strong>s. Im Inferno provoziert Justitias Sturz ein höllisches Dasein auf Erden, auf der<br />

Mittelwand tritt <strong>die</strong> läuternde Wirkung durch <strong>die</strong> Tugenden ein, wenn Justitia auf den<br />

Thron gehoben ist, während das Irdische Para<strong>die</strong>s das Glück ihrer Herrschaft zeigt.<br />

Dort strahlt das Licht der Gerechtigkeit <strong>von</strong> der Stadt <strong>über</strong> <strong>die</strong> Landschaft aus,<br />

indessen <strong>die</strong> Stadt des Inferno in Dunkelheit getaucht ist. Je weiter im Irdischen<br />

Para<strong>die</strong>s jedoch ein Gebiet <strong>von</strong> der Stadt entfernt liegt, desto schwieriger wird für <strong>die</strong><br />

Kommune <strong>die</strong> Durchsetzung <strong>von</strong> Justitias Herrschaft, <strong>und</strong> desto dunkler ist <strong>die</strong><br />

Farbgebung. Über dem lichtdurchfluteten Teil schwebt Securitas, <strong>die</strong> Sicherheit, <strong>die</strong> in<br />

der Hand den Galgen, das Thema der Rechtssicherheit <strong>und</strong> territorialen<br />

Rechtsdurchsetzung aufnimmt. Im Inferno hingegen wird <strong>die</strong> traurige Existenz<br />

Justitias, <strong>die</strong> ohne ihr Gewand mit zerbrochener Waage auf der blossen Erde liegt,<br />

zum Spiegel einer Welt, <strong>die</strong> sie verachtet. Als solch elende "nackte" Gestalt, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

Menschen misshandeln, während sie sich dem gran tiranno zuwenden, beschreibt sie<br />

auch Dante in einem seiner Gedichte aus der Zeit des Exils. 56<br />

Wie in der Commedia ist schliesslich auch bei <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> nebst der<br />

Gerechtigkeit <strong>die</strong> göttliche Liebe gestaltende Kraft des Läuterungsweges. Das<br />

Universum durchdringend, erscheint sie nicht nur in der Figur der glühenden Caritas,<br />

sondern verbirgt sich als kosmische Kraft hinter der Sonne <strong>und</strong> den Planeten, <strong>die</strong><br />

oberhalb des Bilderzyklus abgebildet sind. Hier ist Gott als il primo amore<br />

wiedergegeben, "<strong>die</strong> kreisen macht <strong>die</strong> Sonne <strong>und</strong> <strong>die</strong> Sterne". 57 Stark <strong>von</strong> Boethius<br />

beeinflusst, hat Dante <strong>die</strong> göttliche Liebe als durchwaltende Kraft des Weltalls<br />

56 Rime XCVIII: "... con la tua dritta man, cioè, che paghi / chi la giustizia uccide e poi rifugge<br />

/ al gran tiranno, del cui tosco sugge / ch'elli ha già sparto e vuol che 'l mondo allaghi; .... Ma tu, foco<br />

d'amor, lume del cielo, // questa vertù che nuda e fredda giace, / levala su vestita del tuo velo, / ché<br />

senza lei non è in terra pace."<br />

57 Paradiso XXXIII.144 f.<br />

157


verstanden. 58 Dieser dem Neuplatonismus verpflichtete Gedanke, ist auch im<br />

<strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s <strong>von</strong> Boethius inspiriert. Deutlich wird <strong>die</strong>s<br />

durch <strong>die</strong> Medaillons der vier Jahreszeiten, <strong>die</strong> an der Seite der Planeten im oberen<br />

Fries abgebildet sind: Sie sind exakt so dargestellt, wie sie Boethius in seiner<br />

Lobpreisung <strong>über</strong> <strong>die</strong> das Weltall zusammenhaltende Liebe beschrieben hat: der<br />

Frühling, der blütenschwer seine feuchten Düfte atmet, der Sommer, abgebildet mit<br />

trockener Saat, der Herbst mit Früchten <strong>und</strong> der Winter mit nässendem Niederschlag,<br />

<strong>von</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> als Schnee festgehalten. 59 Somit ist das Inferno <strong>Lorenzetti</strong>s<br />

wie bei Dante ein Ort, wo <strong>die</strong> Menschen ohne göttliche Liebe sind, während im<br />

Purgatorium <strong>und</strong> Irdischen Para<strong>die</strong>s <strong>die</strong> Herzen vom Himmelsbrand erfasst sind, <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> göttliche Liebe ihre läuternde <strong>und</strong> segensreiche Wirkung entfaltet.<br />

Mit Dantes Commedia gehen wir im <strong>Freskenzyklus</strong> einen Weg im Diesseits vom<br />

Inferno zum Purgatorium bis zum Irdischen Para<strong>die</strong>s. In der dem Bild eigenen<br />

Sprache veranschaulichen <strong>die</strong> Fresken den Teil des Läuterungsweges Dantes, den<br />

auch der Dichter für das Glück der vita civile als wesentlich erachtet hat, während sie<br />

seinen universellen politischen Entwurf auf <strong>die</strong> lokale Ebene reduzieren. Weil <strong>die</strong><br />

Sienesen dabei ihre Kommune als Trägerin der Macht zeigen, verweisen sie damit auf<br />

<strong>die</strong> Regierungsform, durch welche sie ihre Stadt regiert sehen wollen <strong>und</strong> setzen sich<br />

für ein politisches System ein, das auf Machtteilung beruht <strong>und</strong> Gerichtsbarkeit <strong>und</strong><br />

Regierung an <strong>die</strong> <strong>von</strong> der Gemeinschaft erlassenen Gesetze bindet. Dass schliesslich<br />

eine explizite republikanische Umdichtung des dantesken Läuterungsweges erst am<br />

Ende des <strong>Freskenzyklus</strong> vorgenommen wurde, scheint <strong>von</strong> einer kürzlich gemachten<br />

Entdeckung Max Seidels bestätigt zu werden. Sie deutet darauf hin, dass <strong>die</strong> Figur der<br />

Kommune <strong>über</strong>malt wurde <strong>und</strong> ihr Haupt zunächst einem römischen Kaiserporträt<br />

glich, ähnlich wie sie auf antiken Münzen abgebildet sind. 60 Dies mag auch erklären,<br />

weshalb <strong>die</strong> Gestalt der Pax den augusteischen Frieden anklingen lässt, der eigentlich<br />

auf <strong>die</strong> Zeit des römischen Kaiserreiches verweist. Auch gleicht <strong>die</strong> Pax der<br />

personifizierten Roma, <strong>die</strong> Augustus in der Ara Pacis hat darstellen lassen <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

auch noch auf Münzen der römischen Kaiserzeit zu finden ist. 61 Während <strong>die</strong> den<br />

Betrachter in Bann ziehende Pax <strong>von</strong> den Auftraggebern geduldet wurde, scheint <strong>die</strong><br />

Sieneser Regierung <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> veranlasst zu haben, <strong>die</strong> Figur des Regenten<br />

58 Francesco Tateo: Enciclopedia dantesca, I, S. 654 ff.; Paradiso I.1; BOETHIUS: Trost der<br />

Philosophie, III.9.c; ebd. IV.6.c. <strong>und</strong> Einführung S. 184 <strong>und</strong> 199<br />

59 BOETHIUS: Trost der Philosophie, IV.6.c.<br />

60 SEIDEL (1997), S. 83<br />

61 KUBISCH (1997); MOMIGLIANO (1942); SIMON (1967), mit Abbildungen<br />

158


zu ändern. An <strong>die</strong> Stelle der Kaiserfigur tritt dann jene Personifikation der Kommune,<br />

<strong>die</strong> wir heute sehen <strong>und</strong> <strong>die</strong> einer, der Kommune besser entsprechenden Figur des<br />

Purgatorio gleicht: Als ehrwürdiger Greis, eingehüllt in eine gotisch angehauchte<br />

Toga, erinnert sie an den republikanischen Freiheitshelden Cato, Dantes Wächter des<br />

Purgatorio <strong>und</strong> positives Exempel für den Mensch als zoon politikon, der sich durch<br />

Tugend in der Gemeinschaft vervollkommnet. Im Strahlenglanz der Kardinaltugenden<br />

erscheint Cato am Fuss des Läuterungsberges mit meliertem Haar <strong>und</strong> Doppelbart,<br />

ähnlich der Figur <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s, <strong>die</strong> ebenfalls <strong>von</strong> den Kardinaltugenden<br />

umgeben ist: "Lang war sein Bart, mit weissem Haar durchzogen, es glich dem<br />

weissen Haare seines Hauptes <strong>und</strong> floss im Doppelstreif zur Brust hernieder." 62<br />

Theoretisch können sich <strong>die</strong> Sienesen für <strong>die</strong> republikanische Umdichtung <strong>von</strong><br />

Dantes Purgatorio auf den Dominikaner Tolomeo da Lucca stützen, der den<br />

aquinatischen Fürstenspiegel Anfang des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts vollendet hat. In <strong>die</strong>ser viel<br />

beachteten Schrift erläutert er, dass nur <strong>die</strong> auf einer Vielzahl <strong>von</strong> Machtträgern<br />

beruhenden Herrschaftsformen, wie sie auch <strong>die</strong> italienischen Kommunen<br />

verwirklichen, das verlorene Para<strong>die</strong>s auf Erden wiederbeleben können; denn nur hier<br />

sei <strong>die</strong> Tugend das Mass aller Ehre <strong>und</strong> nur hier biete massvolles <strong>und</strong> wechselndes<br />

Regieren dem einzelnen den grösstmöglichen Handlungsspielraum, um Tugend zu<br />

üben. 63 Die auf einer Vielzahl <strong>von</strong> Machtträgern beruhenden Herrschaftsformen<br />

zeichnen sich für Tolomeo da Lucca nicht nur durch Gesetzesbindung <strong>und</strong><br />

Machtteilung aus, sondern auch durch <strong>die</strong> Verwirklichung der aristotelischen iustitia<br />

distributiva <strong>und</strong> iustitia commutativa - zwei Tituli, <strong>die</strong> sich oberhalb der Waagschalen<br />

Justitias auch im <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s finden. Mit Tolomeo da Lucca<br />

wird es für <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> <strong>und</strong> seine Auftraggeber gleichzeitig auch möglich,<br />

Dantes Bezug auf <strong>die</strong> römische Geschichte anzupassen: Während sich für Dante zur<br />

Zeit des augusteischen Kaiserreiches das Para<strong>die</strong>s auf Erden verwirklicht hat, 64 ist für<br />

Tolomeo da Lucca <strong>die</strong> römische Republik vorbildliche Ordnung. 65 Auf <strong>die</strong>sen<br />

Idealzustand bezieht er auch <strong>die</strong> Ordnung der italienischen Kommunen, <strong>die</strong>, wie er<br />

feststellt, im zeitgeschichtlichen Umfeld des frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>erts zu jenen<br />

gehören, <strong>die</strong> fähig sind, das Irdische Para<strong>die</strong>s zu verwirklichen.<br />

62 Purgatorio I.34-36<br />

63 TOLOMEO DA LUCCA (ca. 1302): De regimine principum, II.9 sowie II.7; IV.1 f.; IV.7 f.;<br />

dazu siehe Kapitel 5 <strong>und</strong> SCHMIDT (1997), S. 55 ff.<br />

64 Paradiso VI.79-81<br />

65 TOLOMEO DA LUCCA (ca. 1302): De regimine principum, II.9; III.4 f.; IV.26 sowie<br />

SCHMIDT (1997), S. 61 ff.<br />

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Indem <strong>die</strong> Sieneser Regierung als Auftraggeberin veranlasst, dass <strong>die</strong> römische<br />

Kaisergestalt durch Cato ersetzt wird, hat sie nicht nur eine andere, für das guelfische<br />

Siena besser geeignete Leitgestalt des dantesken Purgatorio gewählt, sondern hat<br />

auch das politische Gesamtkonzept der Commedia gänzlich in <strong>die</strong> Welt der<br />

italienischen Stadtrepubliken <strong>über</strong>geführt. <strong>Der</strong> Römer Cato, der es vorzog zu sterben,<br />

als sich der Machtusurpation eines Einzelherrschers <strong>und</strong> damit dem Verlust der<br />

moralischen wie politischen Freiheit auszusetzen, gilt in den Kommunen Italiens als<br />

Spiegel aller Bürgertugend <strong>und</strong> als vorbildliches Beispiel des republikanischen<br />

Freiheitshelden. 66 Sein Tod warnt vor den Gefahren der Tyrannenherrschaft <strong>und</strong> ruft<br />

<strong>die</strong> Tugend der römischen Republik in Erinnerung, <strong>die</strong> den italienischen<br />

Stadtrepubliken Leitbild ist. Als Gegenstück zu Cato <strong>und</strong> den Medaillons der<br />

philosophica documenta, <strong>die</strong> das Glück des Bürgers lehren, bilden <strong>die</strong> unteren<br />

Medaillons auf der Wand des Inferno Tyrannen aus der Zeit der Antike ab. Indem zu<br />

Füssen Catos ausserdem eine säugende Wölfin mit menschlichen Zwillingen<br />

dargestellt ist, wird zusätzlich nochmals der Bezug zur römischen Republik<br />

hergestellt, als dessen Tochter sich <strong>die</strong> Kommune <strong>von</strong> Siena betrachtet. Die Zwillinge<br />

sind Senius <strong>und</strong> Aschius, <strong>die</strong> Söhne des Remus, <strong>die</strong> gemäss der Sieneser<br />

Gründungslegende <strong>die</strong> Stadt auf ihrer Flucht vor ihrem Onkel Romulus gegründet<br />

haben sollen. 67<br />

Die danteske Deutung des Werks greift teilweise auf Randolph Starn zurück, für<br />

den <strong>die</strong> Fresken <strong>die</strong> Bilder <strong>von</strong> Inferno, Läuterung <strong>und</strong> Irdisches Para<strong>die</strong>s wachrufen. 68<br />

Während Starn aber nicht im einzelnen darauf eingeht, welcher Zusammenhang<br />

zwischen den Bildern des <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>und</strong> der Commedia besteht, werden hier <strong>die</strong><br />

Bilder <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s als bewusste Überführung des dantesken<br />

66 "Vater <strong>und</strong> Gatten der Stadt Rom, Spiegel <strong>und</strong> Beispiel für alle Bürger" nannten ihn <strong>die</strong><br />

Fatti di Cesare. Bestätigt wurde <strong>die</strong>se Aussage <strong>von</strong> der im 13. <strong>und</strong> frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert sehr<br />

beliebten Exempla-Sammlung des VALERIUS MAXIMUS mit der Bemerkung, dass <strong>die</strong> Römer, "wenn<br />

sie jemanden als einen vorbildlichen, hervorragenden Bürger hinstellen wollten, ihn als einen 'Cato'<br />

bezeichneten." Facta et dicta memorabilia, II.10.8. Cato d. Ältere als Berater eines frisch gewählten<br />

römischen Senators <strong>und</strong> als Verkörperung <strong>von</strong> Weisheit <strong>und</strong> <strong>von</strong> Liebe zum römischen Staatswohl in<br />

ANONIMO (um 1300), Mss. Siena, Bibl. com., J.II.7, cc. 82v-91v. Zum Manuskript siehe KRISTELLER<br />

(1967), Bd. II, , S. 167. Zu Cato als "tugendhaftem Römer, <strong>von</strong> dem so viel gesprochen werde"<br />

ARMANNINO GIUDICE (1325), La fiorita d'Italia, c. 183 r, S. 383. Die Conti di antichi cavalieri<br />

(ANONIMO, ca. 1300) loben Catos Selbstmord als Tod eines republikanischen Freiheitshelden (S.<br />

100), ebenso Li Fait des Romains in FLÛTRE (1933), S. 432. Dante preist Cato sowohl in der<br />

Commedia wie in der Monarchia ebenfalls als republikanischen Freiheitshelden: Purgatorium I.71-<br />

72; Monarchia II.v.15 Cato als Symbol Gottes im Convivio IV.xxviii.15. Vgl. zu Cato <strong>und</strong> Dante auch<br />

SCOTTS (1996), S. 69 ff.<br />

67 RONDONI (1895)<br />

68 STARN (1992), S. 58 <strong>und</strong> S. 19 ff.; S. 28 ff.; S. 48 ff.<br />

160


Läuterungsweges in den irdischen Bereich der italienischen Stadtstaaten verstanden.<br />

Zu Gr<strong>und</strong>e liegt <strong>die</strong>sem Läuterungsweg das <strong>von</strong> Dante durch das Wirken der<br />

göttlichen Liebe erweiterte aristotelische Konzept des zoon politikon. Einer Welt, in<br />

der weder Gerechtigkeit das äussere Verhalten zähmt noch wahre Liebe wirksam<br />

wird, kehrt der Mensch den Rücken <strong>und</strong> schreitet zum irdischen Glück, das sich durch<br />

Ausübung <strong>von</strong> Tugend in einer politischen Gemeinschaft verwirklicht, <strong>die</strong> der<br />

Gerechtigkeit verpflichtet ist <strong>und</strong> wo der Pfeil der göttlichen Liebe das Herz der<br />

Menschen trifft. Wie bei Dante werden <strong>von</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> narrative <strong>und</strong><br />

allegorische Elemente verknüpft, um ein anschauliches Werk zu gestalten, das auf<br />

dasselbe <strong>über</strong>geordnete Ziel ausgerichtet ist: "<strong>die</strong> Lebenden vom Zustand des Elends<br />

in <strong>die</strong> Glückseligkeit zu führen". Dabei konzentriert sich der <strong>Freskenzyklus</strong> auf den<br />

Teil des Läuterungsweges, der für <strong>die</strong> Verwirklichung der vita civile im Irdischen<br />

Para<strong>die</strong>s ausschlaggebend ist; Gerechtigkeit <strong>und</strong> göttliche Liebe bleiben dabei, Dante<br />

folgend, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Bilder gestaltenden Kräfte.<br />

Mit Dante sind bei <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> auch <strong>die</strong> Aufgabenbereiche der<br />

weltlichen <strong>und</strong> geistlichen Macht verschieden; <strong>die</strong> republikanische Umdichtung<br />

indessen, <strong>die</strong> mit der Reduktion des universellen Entwurfs Dantes auf <strong>die</strong> lokale<br />

Ebene einhergeht, erfolgt auf den theoretischen Gr<strong>und</strong>lagen des Tolomeo da Lucca. In<br />

seiner Fortsetzung des aquinatischen Fürstenspiegels wird <strong>die</strong> Verwirklichung des<br />

Irdischen Para<strong>die</strong>ses an <strong>die</strong> Herrschaftsformen gekoppelt, <strong>die</strong> sich nicht nur durch<br />

Gesetzesbindung auszeichnen, sondern auch durch eine Mehrheit <strong>von</strong><br />

Herrschaftsträgern. Mit Tolomeo da Lucca finden <strong>die</strong> Sienesen jenes Beispiel des<br />

Irdischen Para<strong>die</strong>ses, in denen sie sich selber wiedererkennen: <strong>die</strong> Stadtkommunen<br />

Italiens <strong>und</strong> als antikes Vorbild <strong>die</strong> römische Republik.<br />

5.4. Sieneser Verfassung <strong>und</strong> Caleffo als Urtext des dantesken<br />

Bildprogrammes sowie der Verslegenden<br />

Für Randolph Starn gibt der <strong>Freskenzyklus</strong> zwar in dantesken Bildern ein<br />

republikanisches Programm wieder, doch will er <strong>die</strong> schriftlichen Gr<strong>und</strong>lagen für<br />

<strong>die</strong>ses Programm alleine an den Volgare-Text binden, der als Legende <strong>die</strong> Bilder<br />

erläutert. 69 Damit fällt für Starn auch <strong>die</strong> konkrete Auseinandersetzung mit dem<br />

dantesken Läuterungsweg fort. Mit Hans Belting <strong>und</strong> Furio Brugnolo wird hier<br />

indessen <strong>die</strong> Position eingenommen, dass <strong>die</strong> Bilder des <strong>Freskenzyklus</strong> ein <strong>von</strong> den<br />

69 STARN (1992), S. 37<br />

161


Volgare-Legenden unabhängiges Medium sind. 70 Aufgr<strong>und</strong> <strong>die</strong>ser Annahme kann auch<br />

da<strong>von</strong> abgesehen werden, dass <strong>die</strong> Verslegenden eine Abschrift des vermissten<br />

Programms sein könnten, das den Auftrag an <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> umschrieben<br />

hätte. 71 Vielmehr sind <strong>die</strong> Bilder des <strong>Freskenzyklus</strong> ein eigenständiges Programm, das<br />

dem Betrachter eine auf <strong>die</strong> vita civile konzentrierte, republikanische Umdichtung des<br />

dantesken Läuterungsweges vor Augen führen, während sie <strong>die</strong> politische Konzeption<br />

der Commedia in den irdischen Bereich der italienischen Stadtstaaten <strong>über</strong>tragen <strong>und</strong><br />

Dantes universellen Entwurf auf den politischen Raum des sich herausbildenden<br />

Sieneser Territorialstaates reduzieren. Die Verslegende ist den Bildern weder vornoch<br />

<strong>über</strong>geordnet, sondern wirkt am gesamten Programm mit.<br />

Die Analogie <strong>von</strong> Text <strong>und</strong> Bild im <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s führt<br />

Belting dazu, einen symbolischen Urtext anzunehmen, der, mit höherer Autorität<br />

ausgestattet, ausserhalb des Programms existiert <strong>und</strong> auf den sich Bild <strong>und</strong> Inschriften<br />

des Zyklus beziehen: "Die Fresken des Buon Governo bilden <strong>die</strong>sen [Ur-]text nicht<br />

wörtlich ab, <strong>und</strong> <strong>die</strong> gedichteten Inschriften zitieren ihn nicht. Aber beide nehmen<br />

gemeinsam auf ihn Bezug wie ein Kommentar, der ihn im Spiegel der allgemeinen<br />

Rechtslehre erläutert." 72 Als Urtext, der den Fresken <strong>und</strong> den Inschriften zugr<strong>und</strong>e<br />

liegt, identifiziert Belting <strong>die</strong> Sieneser Verfassung aus dem Jahre 1309, als <strong>die</strong><br />

Sienesen ihre Verfassung erstmals auch in <strong>die</strong> Volkssprache <strong>über</strong>setzten <strong>und</strong> sie <strong>die</strong>se<br />

Version für alle zugänglich im Erdgeschoss des Kommunalpalasts auflegten.<br />

Die <strong>von</strong> Belting angeführten Überlegungen werden hier aufgenommen <strong>und</strong> weiter<br />

ausgeführt. Jedoch wird nicht <strong>die</strong> Verfassung <strong>von</strong> 1309 als Urtext gedacht, sondern<br />

jene der Jahre 1337/39, <strong>die</strong> eine Totalrevision darstellt <strong>und</strong> genau in den Jahren<br />

entsteht, als <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> den Auftrag zu den Fresken erhält. Überliefert ist<br />

<strong>die</strong>se Verfassung nur in einem lateinischen Kodex, doch soll auch eine<br />

volkssprachliche Version existiert haben, <strong>die</strong> ebenfalls öffentlich aufgelegt wurde. 73<br />

Neben <strong>die</strong>ser Verfassung <strong>von</strong> 1337/39 drängt sich der Caleffo dell'Assunta als zweiter<br />

Urtext auf. <strong>Der</strong> Caleffo dell'Assunta ist eine im Jahr 1334 beschlossene Neuedition<br />

des Caleffo Vecchio, in dem <strong>die</strong> Sieneser Kommune seit Beginn des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

ihre territoriale Machtexpansion dokumentiert hat. 74 Er enthält alle Verträge, mit denen<br />

sich Siena <strong>die</strong> Gefolgschaft kleinerer Kommunen <strong>und</strong> Städtchen des Contado sicherte.<br />

70 BELTING (1989), S. 37; BRUGNOLO (1997), S. 309<br />

71 RIKLIN (1996), S. 106 f.<br />

72 BELTING (1989), S. 36<br />

73 ASCHERI (1991), S. 164 f.<br />

74 Siehe oben, Kapitel 1<br />

162


Damit fällt der Auftrag an <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> in eine Zeit, als <strong>die</strong> Sieneser<br />

Kommune eine umfassende Revision ihrer rechtlichen Gr<strong>und</strong>lagen durchführte.<br />

Zentrale Themen <strong>von</strong> Verfassung <strong>und</strong> Caleffo sind <strong>die</strong> Sieneser Kommune als<br />

ordnende Macht <strong>und</strong> <strong>die</strong> Gerechtigkeit als Tugend, <strong>die</strong> sich auf <strong>die</strong> öffentliche Sphäre<br />

bezieht. Sowohl <strong>die</strong> Verfassungsrevision wie <strong>die</strong> Neuordnung des Caleffo haben zum<br />

Ziel, der Herrschaft der Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen. Den zwei<br />

Unternehmen gemeinsam ist das Motiv, klare Rechtsgr<strong>und</strong>lagen zu schaffen, <strong>die</strong><br />

Rechtssicherheit garantieren. So wird auch in der Einleitung der neu editierten Werke<br />

jeweils beklagt, dass Unordnung in den Rechtsgr<strong>und</strong>lagen <strong>die</strong> Gerechtigkeit in Siena<br />

verdunkelt habe, nach deren Herrschaft <strong>die</strong> Stadt jedoch mit aller Kraft strebe. 75<br />

Anstatt der Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen, hätte das Recht Streit <strong>und</strong><br />

ewige Gerichtsprozesse provoziert. "Und was sehr zu bedauern ist, geschah: Alleine<br />

<strong>und</strong> verlassen trauerte <strong>die</strong> Gerechtigkeit auf ihrem Thron, während sie auf eine<br />

unbebaute Einöde zurückblickte <strong>und</strong> vom spriessenden Unkraut der Laster<br />

<strong>über</strong>schattet wurde." 76 Resultat der beiden Neueditionen sind zwei klar strukturierte<br />

Rechtsbücher, <strong>die</strong> garantieren sollen, dass <strong>die</strong> Rechtslage wieder deutlich erfassbar<br />

wird <strong>und</strong> <strong>die</strong> Sieneser Gerichtsbarkeit erneut im Dienst der Gerechtigkeit steht.<br />

Während <strong>die</strong> Einleitung zum Caleffo dell' Assunta <strong>die</strong> Unterwerfung Sienas unter <strong>die</strong><br />

Regeln der Gerechtigkeit mit dem ethischen Anspruch verknüpft, weder <strong>die</strong><br />

Kommunen des Herrschaftsgebiets betrügen, noch <strong>von</strong> ihnen betrogen werden zu<br />

wollen, klingt im Vorwort zur Verfassung 1337/39 das Thema des irdischen Glücks<br />

an: " .. nun sei der Weg der köstlichen Tugend den Menschen erschlossen, indessen<br />

das Unglück, das dem Verbrechen folgt, gerächt werde. Die Süsse des Friedens sei <strong>die</strong><br />

Folge ... <strong>und</strong> allen, <strong>die</strong> sich der Kraft jener Gesetze be<strong>die</strong>nen, sei es in aller Zeit <strong>und</strong><br />

Ewigkeit erlaubt, glücklich, nicht in Armut <strong>und</strong> ohne Angst zu leben." 77<br />

Bild <strong>und</strong> Text des <strong>Freskenzyklus</strong>, <strong>die</strong> auf Verfassung <strong>und</strong> Caleffo Bezug nehmen,<br />

machen <strong>die</strong> Gerechtigkeit ebenfalls zur Hauptfigur. Sowohl <strong>die</strong> Wandbilder wie auch<br />

<strong>die</strong> Verslegenden berichten einerseits <strong>von</strong> der Fesselung Justitias, <strong>von</strong> der Tyrannei<br />

<strong>und</strong> den Lastern, <strong>die</strong> deshalb herrschen <strong>und</strong> <strong>von</strong> Angst, Öde <strong>und</strong> Grauen, <strong>die</strong> durch<br />

<strong>die</strong>se hervorgerufen werden. Andererseits berichten sie auch <strong>von</strong> der Regierung<br />

75 ASCHERI / FUNARI (1989), S. 352 f.; PAOLI (1866). S. 61 f.<br />

76 "... et - quod lamentabilius et inportabilius credebatur - visa est quasi sola in deserto solio<br />

sedens diu lugxisse iustitia, [sua prop]rie loca inculta respiciens, super excrescente vitiorum gramine<br />

offuscata." ASCHERI / FUNARI (1989), S. 352<br />

77 "... dicte pretiose virtutis viribus reseratis, ardua secelerum succendente vindicta que pacis<br />

dulcedinem secum ducat, cuntis ... legis virtute fruentes in omne tempus evumque felices nec in<br />

papertate vivere nec in anxietate deficere permictantur." Ebd., S. 353<br />

163


Justitias <strong>und</strong> den Tugenden, <strong>die</strong> eine solche Herrschaft umgeben, <strong>und</strong> wie sich in der<br />

Folge eine solche Herrschaft ausdehnt <strong>und</strong> einen Raum der Rechtssicherheit <strong>und</strong> des<br />

Friedens begründet, in dem sich das Glück der vita civile entfaltet. Wie <strong>die</strong><br />

Einleitungen zu den neueditierten Rechtsgr<strong>und</strong>lagen schildern Bild <strong>und</strong> Text des<br />

<strong>Freskenzyklus</strong> <strong>die</strong> Bedrängnis Justitias, das Leid, das darauf folgt, sowie ihre<br />

Herrschaft <strong>und</strong> <strong>die</strong> Freuden ihrer Wirkung. Dabei wird im <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>die</strong> in den<br />

Rechtsbüchern beklagte Vernachlässigung Justitias zur Misshandlung Justitias<br />

erweitert. Auf <strong>die</strong>se Weise scheint noch deutlicher dargestellt, was hätte geschehen<br />

können, wenn eine solche, <strong>die</strong> Gerechtigkeit wiederherstellende Revision der<br />

rechtlichen Gr<strong>und</strong>lagen Sienas nicht durchgeführt worden wäre.<br />

Bild <strong>und</strong> Text des <strong>Freskenzyklus</strong> beschränken sich aber beide nicht darauf, nur den<br />

Kerngedanken der beiden Urtexte <strong>über</strong> das Befinden Justitias <strong>und</strong> den sich daraus<br />

ergebenden Wirkungen wiederzugeben. Ergänzend führen sie <strong>die</strong> Auseinandersetzung<br />

<strong>über</strong> Gerechtigkeit <strong>und</strong> Herrschaft noch weiter aus, konzentrieren sich dabei aber auf<br />

unterschiedliche Aspekte: Während <strong>die</strong> Verslegenden zusätzlich den Gedanken des<br />

Gemeinwohls einbringen 78 <strong>und</strong> zum Sturz der Tyrannen auffordern, 79 integrieren <strong>die</strong><br />

Bilder <strong>die</strong> Gerechtigkeit, <strong>die</strong> sich auf <strong>die</strong> öffentliche Ordnung bezieht, in den<br />

dantesken Läuterungsweg. Die Kommune, <strong>die</strong> eigene Rechtsgr<strong>und</strong>lagen erlässt, <strong>die</strong><br />

der Qualität des römischen Rechts entsprechen, ist dabei an <strong>die</strong> Stelle <strong>von</strong> Dantes<br />

Weltkaiser getreten. Gleichsam wie <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> der Kommune ursprünglich<br />

eine kaiserliche Gestalt gegeben hat, findet sich <strong>die</strong>se Parallele auch in der Einleitung<br />

zur neueditierten Sieneser Verfassung: Die Einleitung ist nicht nur voll <strong>von</strong> Zitaten<br />

des römischen Rechts, sondern ihre ersten beiden Worte, Deo auctore, sind <strong>die</strong>selben<br />

wie jene, <strong>die</strong> am Beginn des römischen Rechtskorpus stehen. Auch besagt sie, dass<br />

Siena, weil es <strong>die</strong> öffentliche Ordnung zu wahren vermag, augusta, majestätisch<br />

wird. 80<br />

Indem <strong>die</strong> Bilder des <strong>Freskenzyklus</strong> Justitia in den dantesken Läuterungsweg<br />

einbinden, bereichern <strong>die</strong> Bilder ihre Aussage zum Urtext in grösserem Ausmasse als<br />

<strong>die</strong> Verslegenden. Einerseits nutzen sie <strong>die</strong> Möglichkeit, auf das direkte politische<br />

78 Positiv: "... setzen das Gemeinwohl als ihren Herrn ein (el ben comun per lor signor si<br />

fanno)". Negativ: "Weil in <strong>die</strong>sem Land jeder das eigene Wohl verfolgt ,... (per voler el ben propio, in<br />

questa terra, sommess'è la giustitia a tyrannia)."<br />

79 "Man muss <strong>die</strong> Herrschaft <strong>über</strong> sie [Tyrannei] erringen <strong>und</strong> immer den Geist <strong>und</strong> den<br />

Intellekt darauf richten ,dass jeder Justitia untertan ist, um solch schlimme Schädigungen zu<br />

vermeiden, indem man <strong>die</strong> Tyrannen stürzt. (Prendasi signoria sopra di lei [tirannia] e pongasi la<br />

mente e lo intelletto in tener sempre a iustizia suggietto ciascun, per ischifar sì scuri danni,<br />

abbattendo e' tiranni.)"<br />

80 ASCHERI (1991), S. 164; ASCHERI / FUNARI (1989), S. 352<br />

164


Umfeld Bezug zu nehmen. Andererseits fügen sie zur läuternden Kraft der<br />

Gerechtigkeit <strong>die</strong> läuternde Kraft der göttlichen Liebe, wie sie auch Dante im<br />

Purgatorio beschreibt. Mit Dante wird schliesslich auch <strong>die</strong> Erlangung des irdischen<br />

Glücks durch den einzelnen zum Hauptthema der Wandbilder. Die durch <strong>die</strong><br />

Kommune durchgesetzte Gerechtigkeit schafft <strong>die</strong> Rahmenbedingung der öffentlichen<br />

Ordnung, doch <strong>die</strong> Tugenden <strong>und</strong> <strong>die</strong> Freuden des Panoramabilds verdeutlichen, dass<br />

das Ziel des Läuterungsweges letztlich das irdische Glück des einzelnen ist. In<br />

konzentrierter Form spiegelt sich <strong>die</strong>ses Glück in der w<strong>und</strong>erschönen Figur der Pax.<br />

In ihr vereinen sich der Friede als Zustand des kommunalen Herrschaftsgebietes mit<br />

dem Frieden des Herzens, wo <strong>die</strong> Tugenden den Kampf gegen <strong>die</strong> Laster gewonnen<br />

haben. Als Ziel des Läuterungsweges <strong>und</strong> Spiegel des irdischen Glücks <strong>über</strong>strahlt <strong>die</strong><br />

Pax in den Bildern letztlich Justitia. Sie leiht dem Saal in der Folge auch ihren Namen:<br />

Sala della Pace. 81 Die Gedichte der Verslegenden können in <strong>die</strong>sem Zusammenhang<br />

auch als Mittel gesehen werden, <strong>die</strong> Rolle Justitias zu betonen als der eigentlichen<br />

Hauptfigur des Zyklus: Inhaltlich sind sie ganz ihr gewidmet <strong>und</strong> optisch als Block so<br />

ins Bild eingefügt, dass sie den Blick <strong>und</strong> <strong>die</strong> gedankliche Auseinandersetzung auf<br />

Justitia lenken. Die Schönheit der Pax <strong>und</strong> den Weg des irdischen Glücks vor Augen,<br />

ist der Betrachter angehalten, insbesondere <strong>über</strong> <strong>die</strong> Gerechtigkeit nachzudenken, für<br />

deren Durchsetzung <strong>die</strong> Sieneser Kommune verantwortlich ist. Auf <strong>die</strong>ser beruht<br />

letztlich auch ihr territorialer Herrschaftsanspruch. Damit nehmen Bilder <strong>und</strong><br />

Gedichte nicht nur Bezug auf <strong>die</strong> beiden Urtexte, sondern auch auf den Ort der<br />

Fresken, dem Palast der Kommune, wo für Siena Recht gesetzt, Recht gesprochen <strong>und</strong><br />

regiert wird. Gleichzeitig ist Justitia aber nicht als Selbstzweck dargestellt, sondern als<br />

Teil des dantesken Läuterungsweges, der das Glück des einzelnen zum Ziel hat.<br />

5.5. <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>, Dante <strong>und</strong> Siena<br />

Stillschweigend ist bis anhin angenommen worden, dass sowohl <strong>Ambrogio</strong><br />

<strong>Lorenzetti</strong> wie auch seine Auftraggeber <strong>die</strong> Commedia nicht nur gekannt, sondern sich<br />

auch dermassen mit ihr auseinandergesetzt haben, dass eine solche Übertragung des<br />

dantesken Läuterungsweges in den Palazzo Pubblico <strong>von</strong> Siena möglich ist. <strong>Der</strong><br />

folgende Abschnitt soll <strong>die</strong>ser Frage nun nachgehen.<br />

81 Tizio nennt den Saal Anfang des 16. Jahrh<strong>und</strong>erts aula pacis, ROWLEY (1958), S. 135<br />

165


Zunächst ist vorauszuschicken, dass <strong>die</strong> Commedia zur Zeit, als der <strong>Freskenzyklus</strong><br />

entsteht, zu den bekanntesten Werken Mittel- <strong>und</strong> Oberitaliens zählt. Als <strong>Ambrogio</strong><br />

<strong>Lorenzetti</strong> im Jahr 1338 mit den Fresken beginnt, sind erst 17 Jahre seit Dantes Tod<br />

<strong>und</strong> seiner Vollendung der Commedia verstrichen. Doch sind uns aus <strong>die</strong>sen wenigen<br />

Jahren nicht nur einige Handschriften <strong>über</strong>liefert, sondern auch mehrere<br />

Inhaltsverzeichnisse, Zusammenfassungen <strong>und</strong> an <strong>die</strong> zehn verschiedene<br />

Kommentare. 82 Die Reihe der Kommentare beginnt mit Jacopo Alighieri, einem der<br />

Söhne Dantes, der bereits 1322 das Inferno erläutert. Es folgen <strong>die</strong> Inferno-<br />

Kommentare des Bologneser Notaren Graziolo Bambaglioli (1324), des<br />

Karmelitermönchs Guido da Pisa (vor 1333) <strong>und</strong> eines Bänkelsängers in Sieneser<br />

Dialekt (vor 1337). Alle drei Bücher werden schliesslich <strong>von</strong> Jacopo della Lana,<br />

einem Bologneser Magister der Philosophie <strong>und</strong> Theologie (vor 1328) erläutert sowie<br />

dem Ottimo-Commento (1328/1337), dessen Autor mit grosser Wahrscheinlichkeit<br />

der Florentiner Notar Andrea Lancia ist. <strong>Der</strong> Name Ottimo-Commento bezieht sich<br />

auf das Ziel des Autoren, <strong>die</strong> besten Erklärungen anderer zusammenzustellen. Seit<br />

1328 hat er mindestens 4 Redaktionen in Umlauf gesetzt, <strong>die</strong> letzte nach 1337. Aus<br />

der Zeit vor 1334 ist uns ferner ein Kommentar bis zum 6. Gesang des Paradiso<br />

<strong>über</strong>liefert, den ein Dominikanermönch verfasst hat (Anonymus theologus). <strong>Der</strong><br />

Ottimo-Commento zitiert ausserdem den Kommentar des Franziskanermönchs<br />

Accursio Bonfantini, <strong>von</strong> dem uns jedoch keine Handschrift erreicht hat. Angeblich<br />

soll Accursio kurz nach Dantes Tod in Florenz beauftragt worden sein, <strong>die</strong> Commedia<br />

sonntags öffentlich auszulegen. 83 Erwähnt sei schliesslich, dass auch der zweite Sohn<br />

Dantes, Pietro Alighieri, das Werk seines Vaters erläutert - sein Kommentar erscheint<br />

1340 in Verona - <strong>und</strong> Dantes Tochter, Antonia, tritt mit dem Namen Beatrice ins<br />

Kloster ein.<br />

All <strong>die</strong>se Werke zeugen <strong>von</strong> der weiten Verbreitung <strong>und</strong> dem grossen Interesse,<br />

auf das <strong>die</strong> Commedia stiess. Die Aufzeichnungen des Bänkelsängers<br />

veranschaulichen ausserdem <strong>die</strong> mündliche Überlieferung der Commedia, <strong>die</strong>, wie<br />

später kritische Bemerkungen Petrarcas belegen, gleich der populären Dichtung auf<br />

öffentlichen Plätzen <strong>und</strong> in Tavernen gesungen <strong>und</strong> ausgelegt wurde. Hinweis auf <strong>die</strong><br />

mündliche Überlieferung geben auch <strong>die</strong> anderen Kommentare, <strong>die</strong> in ihren<br />

Erläuterungen oft nicht nur den Leser ansprechen, sondern sich auch an den Hörer<br />

wenden. 84 Die Kommentare zeigen ausserdem, dass <strong>die</strong> Commedia nicht nur bei den<br />

82 SANDKÜHLER (1987), S. 166 ff.; ebd., S. 238 ff.; SANDKÜHLER (1967)<br />

83 SANDKÜHLER (1987), S. 241<br />

84 BUCK (1987), S. 158 ff.<br />

166


Laien beliebt war, sondern auch bei den Geistlichen <strong>und</strong> in den Klöstern. Dantes<br />

Sohn, Jacopo Alighieri war Kanoniker, der Kommentator Jacopo della Lana<br />

vermutlich ebenfalls, Guido da Pisa war Karmeliter <strong>und</strong> mit dem Anonymus theologus<br />

gehörte auch ein Dominikaner zu den Kommentatoren. <strong>Der</strong> Franziskaner Accursius<br />

Bonfantini war gar Inquisitor der Toskana, <strong>von</strong> 1326 bis 1329 in Florenz <strong>und</strong> <strong>von</strong><br />

1332 bis 1333 in Siena. 85 1335 sieht sich das Provinzialkapitel der Dominikaner in<br />

Florenz schliesslich veranlasst, in den Klöstern ein förmliches Leseverbot der<br />

Commedia auszusprechen "damit sich <strong>die</strong> Brüder wieder vermehrt dem Studium der<br />

Theologie zuwenden." 86<br />

Schon zu Lebzeiten Dantes sind <strong>die</strong> zwei ersten Gesänge der Commedia im<br />

Umlauf. Als Dante im Jahr 1321 stirbt, ist er ein hoch angesehener Mann. Männer <strong>von</strong><br />

Venezien bis Umbrien geben in italienischen Sonetten <strong>und</strong> Kanzonen ihrem Leid<br />

Ausdruck, dass der glorreiche Dichter, Meister <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong> verschieden ist. Für seine<br />

Grabinschrift findet ein Wettstreit unter Gelehrten statt, <strong>die</strong> ihn als grossen Poeten,<br />

freien Theologen, Philosophen <strong>und</strong> Rhetoren preisen, der <strong>die</strong> Volkssprache zu<br />

höchster Blüte brachte. 87 Selbst <strong>die</strong> Florentiner, <strong>die</strong> dem Dichter <strong>die</strong> sehnlichst<br />

gewünschte Heimkehr bis zuletzt verwehrt haben, weil er ihr Verlangen nach<br />

demütigen Schuldbekenntnissen ablehnte, gedenken Dantes als des grossen Gelehrten<br />

<strong>und</strong> Dichters. <strong>Der</strong> Florentiner Giovanni Villani, der in den Jahren <strong>von</strong> Dantes Exil<br />

sich aktiv an der Florentiner Politik beteiligte, verfasst in dessen Todesjahr <strong>die</strong> erste<br />

ausführliche Biographie. 88 Dabei preist er <strong>die</strong> Commedia als vollkommenes Werk, das<br />

"in so hohem Ton, wie man nur dar<strong>über</strong> sprechen kann", "grosse <strong>und</strong> erlesene Fragen<br />

aus Ethik, Naturk<strong>und</strong>e, Astrologie, Philosophie <strong>und</strong> Theologie" behandle. In Florenz<br />

werden <strong>die</strong> ersten öffentlichen Dante-Lesungen gehalten 89 <strong>und</strong> <strong>die</strong> Stadt wird auch<br />

Entstehungsort des Ottimo-Commento. Vieles weist ferner darauf hin, dass es schon<br />

in den Dreissiger Jahren des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts eine spezialisierte Dante-Schreibstube in<br />

der Arnostadt gibt. Nach Dantes Tod regeln <strong>die</strong> Florentiner endlich auch ihre<br />

Beziehung zu den beiden Söhnen. 1332 sind Jacopo <strong>und</strong> Pietro urk<strong>und</strong>lich in einer<br />

Verhandlung um das grossväterliche Erbe in Florenz nachgewiesen. 90<br />

Doch auch in Siena zeugen Spuren da<strong>von</strong>, dass Dante <strong>und</strong> sein Werk in der Stadt<br />

gegenwärtig ist. Nebst dem Inferno-Kommentar des Bänkelsängers entsteht bald nach<br />

85 SANDKÜHLER (1987), S. 241<br />

86 BUCK (1987)<br />

87 FELTEN (1989); PAPARELLI (1971)<br />

88 GIOVANNI VILLANI: Nuova Cronica, ad annum 1321<br />

89 SANDKÜHLER (1989), S. 241<br />

90 Enciclopedia dantesca, II (Firenze)<br />

167


Dantes Tod auch eine Zusammenfassung der Commedia durch Cecco di Meo<br />

Ugurgieri. 91 Sein älterer Bruder, Ciampolo di Meo Ugurgieri <strong>über</strong>setzt, inspiriert <strong>von</strong><br />

Dante, schon vor 1316 <strong>die</strong> Aeneis Vergils ins Italienische, in <strong>die</strong> er immer wieder<br />

Verse der ersten zwei Bücher der Commedia einfliessen lässt. 92 Dass schon zu Dantes<br />

Lebzeiten eine enge Beziehung des Dichters zu Siena besteht, bezeugen sowohl seine<br />

Streitgedichte mit dem Sieneser Poeten Cecco Angiolieri 93 als auch <strong>die</strong> starke Präsenz<br />

der Stadt <strong>und</strong> seiner Bewohner in der Commedia. 94 Hinter den Florentinern stehen <strong>die</strong><br />

Sienesen an zweiter Stelle. Dantes Jugendfre<strong>und</strong>e, der Philosoph <strong>und</strong> Mediziner Dino<br />

del Garbo <strong>und</strong> der grosse Rechtsgelehrte Cino da Pistoia, lehren beide nach 1321 an<br />

der Universität <strong>von</strong> Siena. 95 <strong>Der</strong> Sienese Bindo Bonichi (ca. 1275-1338), Kaufmann<br />

<strong>und</strong> öfters Mitglied der Sieneser Regierung, ist uns schliesslich als Fre<strong>und</strong> des<br />

Dantekommentators Graziolo Bambaglioli bekannt. 96 Wie Giovanni Villani betrachten<br />

auch <strong>die</strong> ersten Kommentatoren der Commedia das Werk als eine gelehrte Summe. 97<br />

Damit reihen sie <strong>die</strong>se einerseits in jene Tradition der volkssprachlichen Bildung ein,<br />

<strong>die</strong> darauf ausgerichtet ist, dem Bürgertum der italienischen Kommunen, das zwar in<br />

Politik <strong>und</strong> Wirtschaft aktiv, doch des Lateins nicht mächtig ist, Kenntnisse in<br />

Naturk<strong>und</strong>e, Philosophie, Ethik <strong>und</strong> Politik zu vermitteln. 98 Dante nennt <strong>die</strong>ses<br />

Publikum nicht nur im Convivio, 99 sondern verweist in der Commedia auch auf den<br />

Repräsentanten einer solchen Volksbildung, Brunetto Latini, den er als seinen Lehrer<br />

verehrt <strong>und</strong> dessen Trésor er weiter empfiehlt. 100 So sind auch fast alle frühen<br />

Kommentare entweder in der Volkssprache verfasst oder, wenn in Latein, dann auch<br />

ins Volgare <strong>über</strong>setzt. 101 Jacopo Alighieri hat seinen Kommentar all jenen gewidmet,<br />

<strong>die</strong> keine wissenschaftliche Bildung besitzen, aber "im Licht der natürlichen Weisheit<br />

erstrahlen." 102 Andererseits nehmen alle Kommentare auch Dantes Selbstverständnis<br />

auf <strong>und</strong> wiederholen seine Absicht, mit der Commedia "<strong>die</strong> Lebenden aus dem<br />

Zustand des Elends in <strong>die</strong> Glückseligkeit zu führen." In <strong>die</strong>sem Sinne stellt Jacopo<br />

91 SANDKÜHLER (1987), S. 247 mit Literaturangaben<br />

92 VALERIO (1985), S. 160<br />

93 DANTE: Rime C, CI<br />

94 Enciclopedia dantesca, IV, (Siena)<br />

95 PRUNAI (1950)<br />

96 GRAZIOLO DE' BAMBAGLIOLI (1324), siehe Einleitung <strong>von</strong> A. FIAMMAZZO, S. 5<br />

97 SANKDÜHLER (1987), S. 171<br />

98 GUTHMÜLLER (1989)<br />

99 Convivio I.9, siehe GUTHMÜLLER (1989), S. 207 mit Literaturangaben<br />

100 Inferno XV.119 f.; BRUNETTO LATINI (1260/66)<br />

101 SANDKÜHLER (1987), S. 171 ff.<br />

102 "...coloro in cui il lume naturale alquanto risplende sanza scientifica apprensione." JACOPO<br />

ALIGHIERI, Proemio, S. 42, zitiert n. SANDKÜHLER (1967), S. 108<br />

168


della Lana seinen Kommentar unter das Motto des menschlichen<br />

Entwicklungsvermögens <strong>und</strong> fordert den einzelnen auf, sich mehr, als ursprünglich<br />

gedacht, zuzutrauen. 103 Entsprechend steigert er im Laufe des Kommentars <strong>die</strong><br />

Anforderungen an sein Publikum <strong>und</strong>, um Langeweile entgegenzuwirken, verbindet er<br />

<strong>die</strong> wissenschaftlichen Glossen mit heiteren, lebendigen Schilderungen, <strong>die</strong> <strong>von</strong><br />

zeitgenössischen Vorfällen, Anekdoten, antiken Mythen <strong>und</strong> historischen Ereignissen<br />

berichten. Im Ottimo-Commento wird <strong>die</strong> Erschliessung der Commedia "für alle"<br />

letztlich zu einem programmatisch hervorgehobenen, mit dem Gemeinwohl<br />

begründeten Ziel, das vom Gedanken getragen wird, so vielen wie möglich den im<br />

Werk enthaltenen Weg zur moralischen Vervollkommnung offenzulegen. 104 Sowohl<br />

Jacopo della Lana als auch der Ottimo-Commento betonen in <strong>die</strong>sem Zusammenhang<br />

den aristotelischen Gedanken des Menschen als politisches Wesen, den Dante dem<br />

Werk zugr<strong>und</strong>e gelegt hat. Zwar nehmen sie mit Dante auch Bezug auf <strong>die</strong><br />

universellen Mächte, rücken als Bürger italienischer Kommunen aber wiederum <strong>die</strong><br />

civitas in den Mittelpunkt des politischen Geschehens <strong>und</strong> betrachten <strong>die</strong>se als den<br />

politischen Raum, wo der einzelne ethische Vervollkommnung zu erreichen vermag. 105<br />

Damit zeigen <strong>die</strong> beiden aber auch auf, wie es letztlich in Siena durchaus möglich ist,<br />

im Palast der Sieneser Kommune einen <strong>Freskenzyklus</strong> zu konzipieren, der den<br />

dantesken Läuterungsweg mit dem aktuellen politischen Umfeld in Übereinstimmung<br />

bringt.<br />

Richten wir nun das Augenmerk auf <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> im speziellen. Zunächst<br />

kann festgehalten werden, dass er, als er in den Jahren zwischen ca. 1319 <strong>und</strong> 1332 in<br />

Florenz als Maler lebt, in derselben Zunft der Medici e Speciali eingeschrieben ist wie<br />

einst Dante Ende des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts. 106 Ob <strong>die</strong> Zunft zur Zeit <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s<br />

in Florenz das Andenken ihres berühmten Mitglieds besonders wahrt, sei<br />

dahingestellt. Doch gleichzeitig mit <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> ist auch der grosse<br />

Florentiner Maler Giotto Zunftmitglied, dem Dante in der Commedia als berühmtesten<br />

Maler seiner Zeit ein Denkmal gesetzt hat. 107 <strong>Der</strong> Altmeister Giotto, der für <strong>Ambrogio</strong><br />

<strong>Lorenzetti</strong> wie für <strong>die</strong> vielen jungen Maler <strong>von</strong> Florenz Meister <strong>und</strong> Vorbild ist, ist nur<br />

103 SANDKÜHLER (1987), S. 180<br />

104 Ebd., S. 186; s. a. SANDKÜHLER (1967), Vorwort zur 2. Redaktion des OTTIMO-<br />

COMMENTO: "la cagione che l' mosse fu l'utilità pubblica e l' bene comune", in der 3. Redaktion: "la<br />

cagione ... si puote dire che fosse la caritade che elle ebbe a'proximi ..."<br />

105 Vgl. zum Beispiel Kommentar zu Par. VIII.115-117<br />

106 HUECK (1972)<br />

107 Purgatorio XI.94-96<br />

169


sechs Jahre jünger als Dante, stirbt aber erst 1337. Kurz vor seinem Tod entsteht im<br />

Florentiner Palast des Podestà aber noch unter seiner Leitung ein Fresko, das Dante<br />

endlich in seiner Heimatstadt <strong>die</strong> Gerechtigkeit widerfahren lässt, <strong>die</strong> er als Lebender<br />

so vermisst hat: In der Kapelle, wo <strong>die</strong> zum Tode Verurteilten auf ihre Hinrichtung<br />

warten, hat Giotto in der Darstellung des Jüngsten Gerichts Dante unter <strong>die</strong> Seligen<br />

des Para<strong>die</strong>ses eingereiht. 108<br />

Betrachten wir den Werkkatalog <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s, so zeigt sich, dass sich<br />

bei ihm mehrere Indizien für eine Auseinandersetzung mit Dante finden lassen. Sie<br />

betreffen nicht unbedingt <strong>die</strong> Person des Dichters, verdeutlichen aber seine Kenntnis<br />

der Commedia.<br />

Eine erste Verwendung <strong>von</strong> dantesken Motiven offenbart sich in den Fresken <strong>von</strong><br />

Montesiepi, <strong>die</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> für <strong>die</strong> Zisterzienserbrüder <strong>von</strong> San Galgano<br />

ausführt 109 Nebst Maria ist hier auch Eva abgebildet, <strong>die</strong> anmutig, in transparentem<br />

Weiss gekleidet, zu Füssen der Mutter Gottes liegt. Diese kombinierte Darstellung<br />

<strong>von</strong> Maria <strong>und</strong> Eva, welche <strong>die</strong> beiden Frauen im Licht des himmlischen Para<strong>die</strong>ses<br />

gemeinsam erstrahlen lässt, ist in der Malerei eher ungewöhnlich. Während in der<br />

Bildtradition kein direktes Vorbild bekannt ist, entspricht <strong>die</strong>se Kombination der zwei<br />

Frauen jedoch dem 32. Gesang des Paradiso, wo Dante Eva zu Füssen Marias<br />

erblickt: "Die W<strong>und</strong>e, <strong>die</strong> Maria schloss <strong>und</strong> salbte, hat jene, <strong>die</strong> so schön zu ihren<br />

Füssen, dereinst aufgerissen <strong>und</strong> geschlagen." 110 . Nebst Eva ist in der Maestà <strong>von</strong><br />

Montesiepi ausserdem der heilige Bernhard <strong>von</strong> Clairvaux abgebildet, der den<br />

Jenseitswanderer vor den Thron Marias führt.<br />

In einer etwas anderen Form als in San Galgano hat <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> eine<br />

danteske Vision des Para<strong>die</strong>ses auch in Massa Marittima festgehalten. Auf einer<br />

Hochaltartafel, <strong>die</strong> er in der Zeit zwischen 1333 <strong>und</strong> 1337 für <strong>die</strong> Augustinermönche<br />

ausführt, erscheint Maria wiederum als Himmelskönigin, doch <strong>die</strong>smal umgeben <strong>von</strong><br />

einer endlosen Schar Heiliger. <strong>Der</strong> Zugang zu ihr führt <strong>über</strong> <strong>die</strong> drei theologischen<br />

Tugenden, <strong>die</strong> unterhalb des Thrones hierarchisch angeordnet sind: Auf drei<br />

Stufenabsätzen, <strong>die</strong> den Weg zum Sitz Marias freigeben, ist zunächst Fides, der<br />

Glaube, dann Spes, <strong>die</strong> Hoffnung, <strong>und</strong> zuoberst Caritas, <strong>die</strong> Liebe, abgebildet. Es ist<br />

108 HOLBROOK (1911). Die ältere Literatur gibt an, dass <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> Dante in der<br />

Reihe der 24 Bürger im <strong>Freskenzyklus</strong> abgebildet habe, z. B.: RANALLI (1845), S. 102: "E in torno ad<br />

esso ritrasse di naturale ventiquattro di più illustri e benemeriti uomini; fra' quali era Dante Alighieri,<br />

come colui, che avendo meglio d'ogni altro, conosciuto la mala radice delle discor<strong>die</strong> d'Italia, seppe<br />

altresi additare il modo di sbarbarla in quel poema, che a ragione è chiamato, della rettitutidine."<br />

109 BORSOOK (1969); ROWLEY (1958), S. 62 ff.; FRUGONI (1988), S. 45 f.<br />

110 Paradiso XXXII.4-6: "La piega che Maria richiuse e unse, / quella ch'è tanto bella da' suoi<br />

piedi / è colei che l'aperse e che la punse."<br />

170


das erste Mal in jener Zeit, dass <strong>die</strong> drei theologischen Tugenden auf <strong>die</strong>se Art mit<br />

Maria als Himmelskönigin abgebildet werden. Doch entsprechen sie in ihrer<br />

Anordnung den drei theologischen Prüfungen, <strong>die</strong> der Jenseitswanderer der Commedia<br />

im Paradiso abzulegen hat, bevor er zur Gottesmutter aufsteigen darf. Petrus prüft ihn<br />

im Glauben, Jacobus in der Hoffnung <strong>und</strong> Johannes in der Liebe. 111 Erstmals tauchen<br />

hier in einer Maestà ausserdem Engel auf, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Madonna mit Musik ehren - ein<br />

Motiv, das später in der Sieneser Kunst äusserst beliebt ist. 112 Nebst den musizierenden<br />

Engel sind ausserdem solche abgebildet, <strong>die</strong> Lilien präsentieren. Auch sie haben ein<br />

Vorbild im Paradiso Dantes. George Rowley führt schliesslich alle Bildelemente, <strong>die</strong><br />

<strong>die</strong>se Maestà <strong>von</strong> ihren Vorgängerinnen unterscheiden, auf <strong>die</strong> danteske Metaphorik<br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s zurück. 113 Eve Borsook nennt das Bild eine "tripudiante visione<br />

degna del paradiso dantesco," eine frohlockende Vision, würdig dem Paradiso<br />

Dantes. 114<br />

Letztlich ist uns noch eine dritte Tafel <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s <strong>über</strong>liefert, <strong>die</strong><br />

ebenfalls ein Motiv aufweist, das nicht der bildlichen Tradition entspricht, das aber<br />

auf <strong>die</strong> Auseinandersetzung des Malers mit der Commedia schliessen lässt. Es ist <strong>die</strong><br />

Verkündigungstafel für <strong>die</strong> Sieneser Gabella im Jahr 1344. Während auf früheren<br />

Altartafeln der Erzengel Gabriel üblicherweise ohne Attribut dargestellt wird, hält er<br />

bei <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> einen Palmwedel in der Hand. Diese Originalität <strong>Ambrogio</strong><br />

<strong>Lorenzetti</strong>s hat erneut Entsprechung im Paradiso Dantes. Hier wird der Erzengel<br />

Gabriel als der Verkünder der Geburt Jesus geschildert, "der einstmals den<br />

Palmenzweig zu Maria trug (perch'elli è quelli che portò la palma giuso a Maria)." 115 .<br />

<strong>Der</strong> Palmzweig, antikes Siegeszeichen, ist im Mittelalter Symbol des christlichen<br />

Martyriums <strong>und</strong> des Sieges <strong>über</strong> den irdischen Tod durch <strong>die</strong> Liebe Gottes. 116<br />

Obwohl <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> <strong>die</strong> einzelnen Bilder jeweils im Auftragsverhältnis<br />

erstellt, deutet <strong>die</strong> wiederholte Verwendung <strong>von</strong> Motiven der Commedia in Werken,<br />

<strong>die</strong> er für unterschiedliche Auftraggeber ausführt, darauf hin, dass er selbst für <strong>die</strong><br />

dantesken Bezüge verantwortlich ist.<br />

Schon allein <strong>die</strong> Tatsache, dass <strong>die</strong> Commedia in jener Zeit ein solch berühmtes<br />

<strong>und</strong> weit verbreitetes Werk ist, könnte für <strong>die</strong> Annahme ausreichen, dass unserem<br />

Maler das Werk Dantes bekannt war. Im Fall <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s müssen wir uns<br />

111 Paradiso XXIV-XXVI<br />

112 VAN OS (1984), S. 59 f.<br />

113 ROWLEY (1958), S. 57 ff.<br />

114 BORSOOK (1966), S. 30<br />

115 Paradiso XXXII.112-114<br />

116 Vgl. auch Paradiso XXV.84<br />

171


aber nicht nur auf <strong>die</strong> allgemeinen Erklärungen stützen, sondern können auch da<strong>von</strong><br />

ausgehen, dass er <strong>über</strong> seinen älteren Bruder Pietro, mit dem er <strong>die</strong> Werkstatt<br />

gemeinsam führt, direkten Zugang zu einer Commedia-Handschrift hat. Nach der<br />

vorherrschenden Meinung soll Pietro <strong>Lorenzetti</strong> nämlich Urheber der Illustrationen<br />

sein, <strong>die</strong> sich im prächtigen Dantekodex L 70 der Biblioteca Comunale Augusta in<br />

Perugia befinden. 117 Dieses Manuskript enthält das Inferno mit dem Kommentar<br />

Jacopo della Lanas. Da Jacopo della Lana alle drei Bücher der Commedia erläutert<br />

hat, ist durchaus möglich, dass das gesamte Werk damals zur Illustration in der<br />

Werkstatt der Gebrüder <strong>Lorenzetti</strong> aufliegt. Damit hätte <strong>Ambrogio</strong> nicht nur den Text<br />

Dantes vor Augen gehabt, sondern auch einen der frühen Kommentare, <strong>die</strong> der<br />

Volksbildung gewidmet waren. Datiert werden <strong>die</strong> Illustrationen Pietro <strong>Lorenzetti</strong>s<br />

zwischen 1335 <strong>und</strong> 1340, also grob mit dem Zeitpunkt zusammenfallend, als sich in<br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s Werk erstmals danteske Motive bemerkbar machen. <strong>Ambrogio</strong>s<br />

Auseinandersetzung mit Dante mag auch der Gr<strong>und</strong> dafür gewesen sein, dass sein<br />

Votum, das er im Jahr 1345 als Bürger <strong>von</strong> Siena im Consiglio dei Paciarii abgibt,<br />

vom protokollierenden Notar mit der Feststellung zusammengefasst wird, Maestro<br />

<strong>Lorenzetti</strong> "habe weise Worte gesprochen" 118 - ein Vermerk, der in den Protokollen der<br />

Ratssitzungen nur sehr selten zu finden ist <strong>und</strong> auf <strong>die</strong> Wertschätzung hinweist, <strong>die</strong><br />

dem Maler in Siena auch als politisch aktiver Bürger entgegen gebracht wird.<br />

Gleichzeitig hat sich seine Aussage genau auf das Leitmotiv der Fresken bezogen: <strong>die</strong><br />

Verwirklichung des <strong>gute</strong>n <strong>und</strong> friedlichen Lebens im Rahmen der Sieneser<br />

Kommune. 119 <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s politische Engagement als Bürger seiner<br />

Kommune mag auch dazu geführt haben, dass Giorgio Vasari Anfang des 16.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> zum Idealbild des gelehrten Renaissancemalers<br />

stilisiert. 120<br />

Wir haben <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> bis anhin als Maler kennengelernt, der in einem<br />

wechselseitigen Austausch mit seinen Auftraggebern sein Werk erstellt. Manchmal<br />

kann es vorkommen, dass er Bildelemente neu zu gestalten hat, weil er sich zu weit<br />

<strong>von</strong> den Ideen seiner Auftraggeber entfernt. Gleichzeitig hat <strong>die</strong> Auseinandersetzung<br />

mit Dante <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> jedoch erlaubt, eine persönliche Note für <strong>die</strong><br />

Ikonographie seiner Werke zu entwickeln. Im Kontakt mit seinen Auftraggebern passt<br />

117 CHELAZZI DINI (1998), S. 141 mit Literaturangaben<br />

118 "Magister Ambrosius Laurentii aliud ex consiliariis dicti consilii ... dixit sua sapientia<br />

verba." Concistoro, 2, 8v<br />

119 Siehe oben, Teil I, Kapitel 2<br />

120 Ebd.<br />

172


er <strong>die</strong> dantesken Bezüge jeweils dem gewünschten Thema an <strong>und</strong> wählt für das<br />

verlangte Werk unterschiedliche Aspekte der Commedia. So betont er in der Maestà<br />

<strong>von</strong> Montesiepi, <strong>die</strong> er für <strong>die</strong> Zisterzienser entwirft, Teile der Para<strong>die</strong>svision Dantes,<br />

<strong>die</strong> sich besonders auf ihren Orden beziehen: Hier finden wir mit dem heiligen<br />

Bernhard <strong>von</strong> Clairvaux ihren grossen Ordensbruder, mit dem Dante <strong>die</strong> Innigkeit des<br />

Marienkults gemeinsam hat, während Eva <strong>und</strong> zwei heilige Frauen, <strong>die</strong> auf <strong>die</strong> Kraft<br />

der göttlichen Liebe Bezug nehmen, Darstellungsmotive der clairvauschen<br />

Liebesmystik wiedergeben. Es sind alles Momente, <strong>die</strong> im letzten Teil der Commedia<br />

wesentlich sind, wo Dante <strong>von</strong> Marias Erscheinung zum mystischen Erlebnis<br />

schreitet, das in der blitzartigen Gottesschau <strong>und</strong> dem Eingehen in <strong>die</strong> vollkommene<br />

himmlische Kreisbewegung gipfelt. 121 Während <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> für <strong>die</strong><br />

Zisterzienser <strong>die</strong>sen für sie bedeutenden Aspekt des letzten Teils <strong>von</strong> Dantes Paradiso<br />

wählt, hebt er für <strong>die</strong> Augustiner indessen den Teil der Wanderung durch das<br />

Paradiso hervor, der der Schau der Mutter Gottes vorgelagert ist. Die drei in Stufen<br />

angeordneten theologischen Tugenden, <strong>die</strong> zum Thron Marias hinauf führen, stellen<br />

<strong>die</strong> drei Prüfungen im Glauben, in der Hoffnung <strong>und</strong> der Liebe in den Vordergr<strong>und</strong>,<br />

<strong>die</strong> der Jenseitswanderer abzulegen hat, bevor er vor <strong>die</strong> Mutter Gottes treten darf.<br />

Damit nimmt <strong>die</strong> Maestà in Massa Marittima direkt auf eine Kerntätigkeit der<br />

Augustiner Bezug, <strong>die</strong> grossen Wert auf das theologische Studium legen <strong>und</strong> im<br />

Mutterhaus in Siena seit 1315 ein Studium Generale beherbergen. 122<br />

Wenn <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> in <strong>die</strong>sen beiden Werken Themen wiedergibt, <strong>die</strong> in<br />

Abstimmung mit den Gr<strong>und</strong>ideen der Auftraggeber an das Paradiso Dantes<br />

anknüpfen, so scheint es nun durchaus glaubhaft zu sein, dass er für den Sieneser<br />

Palast der Kommune den Teil des dantesken Läuterungsweges aufgreift, der den Weg<br />

zur Verwirklichung des irdischen Glücks durch <strong>die</strong> vita civile beschreibt. Wie er in<br />

Zusammenarbeit mit seinen Auftraggebern, der Sieneser Regierung, dabei dem<br />

politischen Umfeld einer Stadtrepublik Rechnung trägt, ist oben aufgezeigt worden<br />

<strong>und</strong> wird in den nächsten Kapiteln noch weiter ausgeführt.<br />

Dass <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s Auseinandersetzung mit der Commedia auf das<br />

Interesse der Sieneser Regierung, <strong>die</strong> <strong>die</strong> öffentlichen Aufträge vergibt, stossen<br />

musste, verdeutlicht sich, wenn wir uns ein früheres Bildwerk im Palast der Kommune<br />

vor Augen führen. In der Maestà Simone Martinis, <strong>die</strong> im Jahr 1315 im Saal des<br />

Consiglio generale entsteht <strong>und</strong> 1321 restauriert wird, begegnen uns erstmals danteske<br />

Bezüge im Sieneser Palazzo Pubblico. Dieses Bildnis Marias als Himmelskönigin ist<br />

121 Paradiso XXXII; ebd. XXXIII<br />

122 SEIDEL (1978)<br />

173


zwar ganz der Sieneser Tradition verpflichtet, Maria als Stadtpatronin darzustellen,<br />

doch in der Ausführung <strong>die</strong>ses Themas sind erste Anspielungen auf <strong>die</strong> Commedia<br />

auszumachen: So hat Guido Mazzoni Parallelen in der Darstellungen Marias <strong>und</strong><br />

Beatrices erkannt, wie sie Dante in den letzten Gesängen des Purgatorio beschreibt. 123<br />

Giulia Valerio schliesslich setzt <strong>die</strong> Maestà in Beziehung zum Paradiso Dantes. 124<br />

Ausgehend <strong>von</strong> der Restaurierung im Jahr 1321, entwickelt sie <strong>die</strong> These, dass in<br />

<strong>die</strong>sem Jahr Änderungen an der Maestà vorgenommen wurden, mit dem Zweck, <strong>die</strong><br />

Bezüge der Maestà zur Commedia zu unterstreichen. Die Eingriffe betreffen vor allem<br />

<strong>die</strong> Bildlegende, <strong>die</strong> nun sowohl Anspielungen auf Verse des Purgatorio wie auch auf<br />

solche des Paradiso enthält. Als Autor der Verse nennt Valerio den Sienesen<br />

Ciampolo di Meo Mellone Ugurgieri, der sich schon vor 1316 durch seine Aeneis-<br />

Übersetzung als Kenner der ersten zwei Bücher der Commedia ausgewiesen hat. 125<br />

Zwanzig Jahre nach der Maestà, <strong>die</strong> Zeugnis ist für eine erste Verwertung der<br />

Commedia im Sieneser Palazzo Pubblico, ist der <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s<br />

schliesslich das Resultat einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Werk Dantes.<br />

Sie führt zu einer republikanischen, dem Sieneser Umfeld angepassten Umdichtung<br />

des dantesken Läuterungsweges, der vom Inferno <strong>über</strong> das Purgatorium bis zum<br />

Irdischen Para<strong>die</strong>s führt. Wie bei der Maestà ist auch hier ein Zusammenwirken <strong>von</strong><br />

Malerei <strong>und</strong> Dichtung festzustellen: Als Autor der Verslegenden des <strong>Freskenzyklus</strong><br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s wird immer wieder Cecco di Meo Mellone Ugurgieri genannt,<br />

Autor einer Kurzfassung der Commedia Dantes <strong>und</strong> Bruder des vermeintlichen<br />

Dichters der Verse in der Maestà Simone Martinis. Wie schon erörtert, dürfen <strong>die</strong><br />

Verse der Fresken <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s aber nicht als Quelle des ikonographischen<br />

Programms betrachtet werden. Sie sind lediglich eine Ergänzung zu den Bildern.<br />

Diese richten sich als eigenständiges Medium an den Betrachter, um ihm den<br />

Läuterungsweg Dantes bis zum Glück der vita civile vor Augen zu führen.<br />

Ausgangspunkt dafür sind sowohl <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s eigene Auseinandersetzung<br />

mit der Commedia wie auch <strong>die</strong> Diskussion mit seinen Auftraggebern <strong>und</strong> Beratern<br />

aus dem Kreis der Sieneser Bürger, Adligen, Kaufleute, Juristen, Notare <strong>und</strong><br />

Bettelmönche, <strong>die</strong> sich das Kulturgut der Commedia teilen. Als Berater <strong>Ambrogio</strong><br />

<strong>Lorenzetti</strong>s wird gerne auch der Bolognese Graziolo Bambaglioli genannt, 126 der Autor<br />

eines Inferno-Kommentars sowie auch eines <strong>von</strong> Dantes Liebeslehre inspirierten<br />

123 MAZZONI (1941), zitiert nach VALERIO (1986)<br />

124 Ebd., S. 147 ff.; s. a. BRUGNOLO (1987)<br />

125 Ebd., S. 160<br />

126 RUBINSTEIN (1959). S. 189<br />

174


Gedichtes <strong>über</strong> <strong>die</strong> Tugenden <strong>und</strong> Laster im irdischen Bereich der Politik. 127 Im Jahr<br />

1334 muss er als Guelfe aus Bologna fliehen <strong>und</strong> findet Ende der Dreissiger Jahre<br />

schliesslich Zuflucht am Hof Roberts <strong>von</strong> Anjou in Neapel. Möglich ist, dass Graziolo<br />

Bambaglioli, dessen Kontakt zur Sieneser Regierungsschicht bezeugt ist, 128 auf seiner<br />

Reise gegen Süden auch einige Zeit in Siena verbracht hat.<br />

Schliesslich scheint es, dass <strong>Ambrogio</strong>s Weg der Läuterung für den Betrachter<br />

auch in <strong>die</strong> Raumerfahrung des Palazzo Pubblico eingebettet worden ist, der dadurch<br />

zum Gesamtkunstwerk wird. Wer heute den Raum mit den Fresken betritt, erreicht ihn<br />

vom Saal des Consiglio generale her, in den er <strong>über</strong> eine Treppe im Innern des Palasts<br />

gelangt, <strong>die</strong> ihn vom Erdgeschoss hochführt. Im frühen Trecento war der Saal mit den<br />

Fresken <strong>Lorenzetti</strong>s jedoch der Eingang zum ersten Stock des Regierungstrakts <strong>und</strong><br />

Vorhalle, um sich in den Saal des Consiglio generale zu begeben. 129 Die grosse<br />

Aussentür im rechten Seitentrakt des Palasts, <strong>die</strong> damals der Eingang zum Gebäude<br />

vom Campo her war, gab zunächst den Weg in einen offenen Innenhof frei, wo sich<br />

eine rechtwinklige Aussentreppe in den ersten Stock hoch schmiegte. Hier ging eine<br />

schmale Tür ins Innere des Gebäudes <strong>und</strong> führte direkt in den kleinen Saal mit den<br />

Fresken <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s. Die Tür war in <strong>die</strong> Wand gebrochen, an deren<br />

Innenseite das Purgatorio abgebildet ist. Damit durchschritt der Besucher, der zu den<br />

wichtigsten Regierungs- <strong>und</strong> Ratsräumlichkeiten der Kommune gelangen wollte, <strong>die</strong>se<br />

Wand gleich einer "Wand der Läuterung". Anschliessend bestach rechter Hand das<br />

Schreckensszenario des Inferno, während sich linker Hand das lichtdurchflutete<br />

Irdische Para<strong>die</strong>s entfaltete. Dort führte wiederum eine schmale Tür in den nächsten<br />

Saal, dem Saal des Consiglio generale. Wer den Weg also in den grossen Ratssaal<br />

fortsetzen wollte, wo Maria als Sieneser Stadtpatronin <strong>und</strong> Königin des Himmels auf<br />

<strong>die</strong> versammelte Menge blickte, kam nicht umhin, dem Bild <strong>von</strong> Lastern,<br />

Ungerechtigkeit <strong>und</strong> Tyrannenmacht den Rücken zuzukehren, indessen sich das<br />

Irdische Para<strong>die</strong>s als Leitbild einprägte. Es war mit den Werten zu erzielen, <strong>die</strong> <strong>von</strong><br />

der Wand leuchteten, durch <strong>die</strong> der erste Stock mit den Regierungs- <strong>und</strong><br />

Ratsräumlichkeiten der Kommune betreten worden ist.<br />

127 GRAZIOLO DE' BAMBAGLIOLI (um 1335/40): Trattato sopra le virtù morali<br />

128 GRAZIOLO DE' BAMBAGLIOLI (1324): Kommentar zum Inferno der Divina<br />

Commedia Dantes, Einleitung <strong>von</strong> A. FIAMMAZZO, S. 5.<br />

129 Siehe Abbildung bei BRANDI (1982), Abb. 480<br />

175


6. Das Inferno des Mal Governo<br />

6.1. <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s città dolente<br />

Die erste Wand des <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s führt in <strong>die</strong> città<br />

dolente, in <strong>die</strong> Stadt der Qualen des Inferno Dantes. Während für Dante <strong>die</strong> Reise in<br />

<strong>die</strong> Unterwelt Anlass bietet, <strong>die</strong> Unhaltbarkeit der irdischen Zustände zu geisseln,<br />

wird dem Betrachter des <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>die</strong> irdische Hölle direkt vor Augen geführt.<br />

Satanische Mächte herrschen <strong>über</strong> eine Stadt des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts, <strong>die</strong> ohne<br />

Sonnenstrahl ist.<br />

Turmhäuser, offene Plätze <strong>und</strong> Loggien, Mauern mit Zinnen <strong>und</strong> ein hügeliges<br />

Umland werden zur Kulisse für Gewalt <strong>und</strong> Terror. Einzelne Szenen schildern das<br />

Leid der Bevölkerung. Es wird geraubt, gemordet <strong>und</strong> gebrandschatzt; der Starke<br />

unterdrückt den Schwachen. Die Wirtschaft liegt brach, nur ein Schmied sitzt<br />

hämmernd in seiner Werkstatt <strong>und</strong> bietet Kriegswerkzeug feil, während <strong>die</strong> Strassen<br />

<strong>von</strong> Söldnern bevölkert sind. Teile der Stadt liegen in Trümmern, vor ihren Toren tobt<br />

der Kampf <strong>und</strong> hinterlässt eine rauchende Einöde. In den Lüften schwebt Timor, eine<br />

Personifikation des Schreckens. Sie hat <strong>die</strong> Gestalt des Todes. 1 Ihr Haar ist strähnig,<br />

ein dünnes Kleid hängt in Fetzen <strong>von</strong> ihrem hageren, welken Leib. Bereit zuzustossen,<br />

richtet sie ihr spitzes Schwert gegen <strong>die</strong> Erdbewohner.<br />

Innerhalb der Mauern der Stadt herrscht ein Prinz der Unterwelt, mit Dante der<br />

Imperator des Reichs der Schmerzen (l'imperador del doloroso regno). 2 Hörner,<br />

Hauer, Krallenzehen <strong>und</strong> Ziegenbock weisen <strong>die</strong> Figur dem Reich Satans zu. Auch <strong>die</strong><br />

Gefährten, <strong>die</strong> ihn umgeben, sind teils monsterhafte, teils verführerische Wesen mit<br />

Fledermausflügeln, Krallenfüssen, Pranken <strong>und</strong> kombinierten Tierkörpern, ohne<br />

direkte Vorbilder in der Kunst, vielmehr der Einbildungskraft des Malers entsprungen.<br />

Es sind zwitterhafte Wesen, so wie Dante <strong>die</strong> Teufel der Unterwelt mit<br />

zusammengesetzten Fantasienamen umschrieben hat: Malacoda ("Böseschwanz"),<br />

Malebranche ("böse Krallen"), Cagnazzo ("hässlicher H<strong>und</strong>"), Alichino<br />

("Flügelsenker"), Draghinazzo ("Drachenschnauze"), Graffacane ("Krallenh<strong>und</strong>") <strong>und</strong><br />

1 Vergleiche <strong>die</strong> Fresken <strong>von</strong> Buffalmaco, im Camposanto <strong>von</strong> Pisa<br />

2 Inferno XXXIV.28<br />

176


so weiter. 3 Im Dämonischen <strong>die</strong>ser Figuren offenbart sich das Fehlen göttlicher Liebe, 4<br />

in der bestialità eine wilde Vertiertheit, <strong>die</strong> jeder Leidenschaft, so anstössig sie auch<br />

sei, hemmungslos nachgibt. 5 Nebst Gottlosigkeit <strong>und</strong> bestialità zeichnet sich <strong>die</strong> Stadt<br />

wie Dantes città dolente auch durch Unrecht aus: Zu Füssen des satanischen Hofes<br />

sitzt gesch<strong>und</strong>en eine Frau, blossfüssig, auf der nackten Erde. Es ist Justitia, <strong>die</strong><br />

Gerechtigkeit. Ihre Waage ist zerbrochen, das Haar aufgelöst, <strong>die</strong> Hände sind ihr<br />

gefesselt. Ihrer schönen Kleider beraubt, blickt sie traurig ins Leere. In ihrer<br />

Verfassung spiegelt sich der Zustand einer Welt, <strong>die</strong> sie verachtet. In gleicher Weise<br />

hat sie Dante in einer Kanzone beschrieben, wo er <strong>die</strong> Ungerechtigkeit in <strong>die</strong>ser Welt<br />

beklagt: Nackt <strong>und</strong> bloss geht sie auf Erden, ohne Gewand, während jene, <strong>die</strong> sie<br />

erwürgen, zum grossen Zwingherrn fliehen, al gran tiranno. 6<br />

Die città dolente entspricht dem unteren Teil <strong>von</strong> Dantes Hölle, <strong>von</strong> dem der<br />

grösste Teil des Inferno handelt. Er ist durch eine Stadtmauer <strong>und</strong> ein gewaltiges<br />

Stadttor vom oberen Teil getrennt. In der città dolente büssen <strong>die</strong> gravi cittadin, an<br />

denen sich Dantes Zeitkritik verdichtet: nebst Tyrannen <strong>und</strong> gewalttätigen Mördern<br />

auch Wucherer, Simonisten, <strong>die</strong> mit geistlichen Gütern handeln, Bürger, <strong>die</strong><br />

bestechlich sind <strong>und</strong> ihre Kommune betrügen, Zwietrachtstifter, Kriegshetzer <strong>und</strong><br />

Verräter. Wie Dante hält sich auch <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> in der Auswahl der Laster<br />

nicht an <strong>über</strong>lieferte Lasterschemen, sondern bildet solche ab, <strong>die</strong> geeignet sind,<br />

Ungerechtigkeit im Staatswesen hervorzurufen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Hölle auf Erden zu<br />

verursachen. Links des Prinzen steigert sich der Betrug (Fraus) zu Verrat (Proditio)<br />

<strong>und</strong> Grausamkeit (Crudelitas), während rechts der wilde Aufruhr (Furor) zur<br />

todbringenden Entzweiung (Divisio) <strong>und</strong> zum Krieg (Guerra) führt.<br />

Fraus, der Betrug, ist dargestellt als Höfling mit falscher Pfote <strong>und</strong> Krallenfüssen.<br />

Proditio, der Verrat erscheint indessen mit Kopfbedeckung in der Figur des <strong>gute</strong>n<br />

Bürgers, auf dem Schoss ein Lamm mit giftigem Skorpionstachel. Crudelitas links<br />

aussen wird zum Gegenteil der Barmherzigkeit. Wie <strong>die</strong> zeitgenössischen Figuren der<br />

Caritas hält sie ein Kind in der Hand. Jedoch wird es weder genährt noch beschützt,<br />

sondern sie würgt <strong>und</strong> bedroht es mit einer Schlange. Als starkes, grausames Wesen<br />

3 Inferno XXI.37 ff., ebd. XXII.29 ff.<br />

4 Dazu ”Demonologia”, Enciclopedia dantesca; BRUNETTO LATINI (1260/67): Tesoretto, vv.<br />

565 ff., S. 44 f.; Inferno XXII.124 ff.; ebd., XXXIV.17<br />

5 Inferno XI.83 ff., S. 97 sowie alle zeitgenössischen Commedia-Kommentare zu <strong>die</strong>sen<br />

Versen; Paradiso XVII.67 ff.; OTTIMO-COMMENTO (1334), I, S. 124; ebd., S. 419; GUITTONE<br />

D’AREZZO: Epistola XXV, S. 84. ARISTOTELES: Nikomachische Ethik VII.1, 1145a; ebd., VII.6,<br />

1148b; ebd. VII.6, 1149b.<br />

6 Rime XCVIII; siehe Kapitel II.1, Fn. 55<br />

177


ergötzt sie sich an Furcht <strong>und</strong> Pein des unschuldigen Wesens. Rechts steht Furor, der<br />

wilde Aufruhr, auf der Thronbank. Ein wildes Fantasiewesen, teils Pferd, teils<br />

Mensch, teils ungezähmter H<strong>und</strong>, ist es mit Stein <strong>und</strong> Dolch, den Waffen des Volkes,<br />

ausgerüstet. Divisio, <strong>die</strong> Zwietracht, sägt daneben in ihrem Schoss. Sie ist dabei, sich<br />

selbst zu zerstören, ähnlich wie <strong>die</strong> Zwietrachtstifter im Inferno gespaltene Leiber<br />

haben. Dante vergleicht sie mit einer Versammlung <strong>von</strong> Kriegsverstümmelten.<br />

<strong>Ambrogio</strong>s Divisio trägt <strong>die</strong> Farben Schwarz <strong>und</strong> Weiss, ihr Kleid ist mit den<br />

Buchstaben Si (Ja) <strong>und</strong> No (Nein) verziert - vielleicht eine versteckte Anspielung auf<br />

den Bürgerkrieg der Schwarzen <strong>und</strong> der Weissen in Florenz anfangs des 14.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts, vielleicht auch eine Warnung an <strong>die</strong> Sienesen, sich durch stetige<br />

Meinungsverschiedenheiten vor der Selbstzerstörung zu hüten. Schwarz <strong>und</strong> Weiss<br />

sind sowohl <strong>die</strong> Farben des Sieneser Wappens als auch der Abstimmungsurnen im<br />

Consiglio generale, schwarz für Nein, weiss für Ja. Gleichsam wie Dante <strong>die</strong><br />

Zwietrachtstifter als Kriegsverstümmelte beschreibt, sitzt bei <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> <strong>die</strong><br />

Personifikation des Krieges an der Seite der Divisio. Wild zuschlagend, ist sie mit<br />

Schild, Helm <strong>und</strong> Schwert ausgerüstet, während sich unterhalb <strong>von</strong> ihr ein<br />

Leichenberg aufzutürmen beginnt. Sie trägt den Namen "guerra", ein<br />

mittellateinisches Wort für Krieg. Im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert wird es im Gegensatz zu<br />

bellum nicht für rechtmässige Kriege verwendet, sondern für solche, <strong>die</strong> aufgr<strong>und</strong> <strong>von</strong><br />

Familien- <strong>und</strong> Parteifehden geführt werden. 7 Rechtmässig ist in Siena ein Krieg, den<br />

der Consiglio generale rechtskräftig beschlossen hat.<br />

Die drei Laster Avaritia, Superbia <strong>und</strong> Vanagloria, <strong>die</strong> oberhalb der<br />

Herrscherfigur schweben, bilden indessen <strong>die</strong> drei Todsünden ab, <strong>die</strong> zu Beginn der<br />

Commedia den direkten Aufstieg zum Gipfel des Tugendbergs verhindern. Sie<br />

entsprechen den drei wilden Tieren, Panther, Löwe <strong>und</strong> Wölfin, <strong>die</strong> Dante nach<br />

begonnenem Aufstieg auf den Berg der Tugend in <strong>die</strong> selva oscura zurückjagen. 8 Von<br />

den zeitgenössischen Kommentatoren werden sie als Todsünden gedeutet, <strong>die</strong> des<br />

Menschen Drang zum Guten vereiteln. Jacopo della Lana, 9 dessen Kommentar in der<br />

Werkstatt der <strong>Lorenzetti</strong>s aufliegt, deutet <strong>die</strong>se drei Tiere als Sinnbilder der<br />

Vanagloria, Superbia <strong>und</strong> Avaritia.<br />

In den Augen Dantes ist sein zeitgenössisches Umfeld so <strong>von</strong> Habgier<br />

durchdrungen, dass der Mensch <strong>die</strong> Kraft der göttlichen Liebe nötig hat, um seinen<br />

7 RUBINSTEIN (1939)<br />

8 Inferno I.31 ff.<br />

9 JACOPO DELLA LANA (1328), I., S. 5<br />

178


natürlichen Drang zum Guten, zur Tugend, zu verwirklichen. Die drei Laster oberhalb<br />

der Herrscherfigur bilden im <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s deshalb einen<br />

Gegenpart zu den drei theologischen Tugenden auf dem Bild der Mittelwand. Geiz,<br />

Hochmut <strong>und</strong> eitle Ruhmsucht schliessen den Menschen <strong>von</strong> der Kraft der göttlichen<br />

Liebe aus, <strong>die</strong> auf dem Glauben <strong>und</strong> der Hoffnung beruht. <strong>Der</strong> Gr<strong>und</strong>, weshalb sich<br />

der Mensch durch <strong>die</strong>se drei Laster <strong>von</strong> der Liebe zu Gott abwendet, sind nach den<br />

Lehren <strong>von</strong> Augustinus <strong>und</strong> Thomas <strong>von</strong> Aquin <strong>die</strong> falschen Idole. Verkehrt ist <strong>die</strong><br />

Liebe für Dante, wenn sie nicht mehr auf <strong>die</strong> Dinge des Himmels gerichtet ist,<br />

dadurch hinsichtlich der irdischen Güter das rechte Mass verliert oder gar in<br />

Bösartigkeit umschlägt <strong>und</strong> auf das Unglück des Nächsten zielt. 10 Während im<br />

Purgatorio <strong>die</strong> Kraft der göttlichen Liebe läuternd wirkt, sind <strong>die</strong> Seelen <strong>von</strong> Dantes<br />

Inferno ohne Liebe. Entsprechend fehlt auch im Inferno <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s <strong>die</strong><br />

Kraft der göttlichen Liebe, weil sie gänzlich <strong>von</strong> Geiz, Hochmut <strong>und</strong> Eitelkeit<br />

verdrängt worden ist. Die Personifikationen der drei Todsünden heben indessen den<br />

Aspekt der falschen Liebe besonders hervor: Das Idol Avaritias ist das Geld, das der<br />

Superbia <strong>die</strong> eigene Grösse <strong>und</strong> das der Vanagloria der eitle, irdische Ruhm.<br />

Die Liebe Avaritias zum Geld lässt sie den letzten Heller aus den Geldbeuteln<br />

pressen, während sie ihr eigenes Äussere vernachlässigt. Fadenscheinig <strong>und</strong> mausgrau<br />

ist das Tuch ihres Kleides, gelblichweiss <strong>die</strong> Kappe, in der das spärliches Haar<br />

unsorgfältig hineingesteckt wurde. Ihre Kutte erinnert an <strong>die</strong> Tracht der Ordensleute,<br />

vielleicht eine versteckte Anspielung auf Geiz <strong>und</strong> Dekadenz der Kirchenleute, <strong>über</strong><br />

<strong>die</strong> sich auch Dante in der Commedia des öfteren beklagt. Dass Avaritia kein<br />

Erbarmen mit Schuldnern kennt, verdeutlichen Krallenfinger <strong>und</strong> ihr Stab mit<br />

Widerhaken, dem kaum zu entrinnen ist. Sie ist als einzige der lasterhaften Gesellen<br />

als Alte dargestellt; während <strong>die</strong> meisten Laster im Alter zurückgehen, gilt der Geiz<br />

als ein Übel, das sich im Alter zu verschärfen droht. Vanagloria indessen, <strong>die</strong> eitle<br />

Ruhmsucht, ist das junge Gegenstück zur Avaritia. In ihrem prächtigen, extravagant<br />

geschnittenen Kleid strebt sie nach Anerkennung. Selbstverliebt betrachtet sie sich im<br />

Spiegel, während ein welkes Schilfrohr an <strong>die</strong> Vergänglichkeit der Schönheit <strong>und</strong> des<br />

irdischen Ruhmes mahnt. Superbia schliesslich, <strong>die</strong> höchste der drei Todsünden, ruft<br />

schliesslich in Erinnerung, dass <strong>die</strong> unbegrenzte Liebe zu eigener Grösse mit Gewalt<br />

<strong>und</strong> Erniedrigung des Nächsten verb<strong>und</strong>en ist. Sie erscheint kriegerisch <strong>und</strong><br />

majestätisch, während sie in der Hand sowohl das Schwert als auch das Joch der<br />

Unterdrückung hält. Mit dem Joch der Unterdrückung verwendet <strong>Ambrogio</strong><br />

10 Purgatorio XVI.93, S. 438; ebd., XVII.85 ff., S. 446 ff., ebd., XVIII.19 ff., S. 451 ff.<br />

179


<strong>Lorenzetti</strong> das gleiche Bild wie sein Zeitgenosse Albertino Mussato, um <strong>die</strong> Lage der<br />

Paduaner zur Zeit ihres Tyrannen Ezzelino zu beschreiben:<br />

"Das Volk vereint mit dem ganzen Pöbel hat seinen Nacken unter das<br />

Joch gesenkt, wie Stiere kommen sie zu den heiligen Altären, dem<br />

Opfertod geweiht. <strong>Der</strong> verbrecherische Tyrann findet bei allen Bürgern<br />

Gründe, um an ihnen Mord zu verüben. Immer auf der Hut, hat er selbst<br />

Furcht <strong>und</strong> wird gefürchtet. Das Naturrecht ist durch <strong>die</strong> Verbrechen<br />

bedrängt, verbannt ist Frömmigkeit <strong>von</strong> unseren Küsten." 11<br />

6.2. Die Gewaltherrschaft<br />

Die Darstellung der irdischen Hölle auf Erden führt <strong>die</strong> Geisteshaltung <strong>und</strong> Taten<br />

der gravi cittadin vor Augen, durch welche eine Stadt zur città dolente wird. Die<br />

Menschen im Bild <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s sind sowohl Täter als auch Opfer. Es gilt das<br />

Gesetz des Stärkeren. Als Starke treten vor allem Angehörige der grossen Familien in<br />

Erscheinung, <strong>die</strong> sich durch aufwendige Kleidung, Waffengurt <strong>und</strong> ritterliche<br />

Ausrüstung auszeichnen. Opfer sind Frauen <strong>und</strong> einfachere Bürger. In der Mitte des<br />

Stadtplatzes wird ein Bürger <strong>von</strong> zwei Edelmännern ausgeraubt, während zwei andere<br />

sich an einer jungen Frau vergreifen. Rechts da<strong>von</strong> klagt eine Frau <strong>über</strong> den<br />

gewaltsamen Tod ihres Gatten, der ebenfalls das schmucklose Kleid eines einfachen<br />

Bürgers trägt. Er ist erstochen worden, Blut fliesst aus der W<strong>und</strong>e. Die gewaltsamen<br />

Szenen setzen sich auch vor dem Podium fort: Männer mit Helmen <strong>und</strong> Schildern<br />

stechen auf unbewaffnete Menschen ein, eine Gruppe edel Gekleideter spaziert an<br />

zwei toten Frauenleibern vor<strong>über</strong>, als gehe es sie nichts an. Gewalt prägt auch <strong>die</strong><br />

Figur des Herrschers selbst: Unter der scharlachroten, goldbestickten Schleppe trägt er<br />

den Waffenrock, während er den Dolch gezückt hat <strong>und</strong> seine Linke eine goldene,<br />

hochstielige Schale hält, <strong>die</strong> böse, giftmischende Absichten vermuten lässt. Über den<br />

Schultern des todbringenden Regenten zieht sich <strong>die</strong> Inschrift TYRAMNIDES -<br />

Gewaltherrschaften.<br />

Den Höllenkreis der Gewaltherrschaft beschreibt Dante im 12. Gesang des<br />

Inferno. Den Eingang <strong>die</strong>ses Höllenkreises, der innerhalb der città dolente liegt,<br />

bewacht <strong>die</strong> Sagengestalt Minotaurus als das Sinnbild bestialischer Bosheit. Das Wort<br />

11 ALBERTINO MUSSATO (1313/15): Ecerinis, II., deutsch, S. 184<br />

180


estia, Tier, wird um 1300 auch mit vastia <strong>und</strong> vastando gleichgesetzt - zerstören -<br />

<strong>und</strong> direkt auf <strong>die</strong> Tyrannen als Zerstörer ihrer Untergebenen <strong>über</strong>tragen. Sie<br />

zerstören, weil sie ihre Untergebenen berauben, unterdrücken, verw<strong>und</strong>en <strong>und</strong> töten<br />

<strong>und</strong> damit Ruf, Besitz <strong>und</strong> Person der Bürger zu Gr<strong>und</strong>e richten. 12 Bei Dante sind <strong>die</strong>se<br />

Herrscher tief in das siedende Blut ihrer Opfer getaucht. Entlang des Blutsuds jagen<br />

abertausende <strong>von</strong> Zentauren mit Pfeil <strong>und</strong> Bogen, <strong>die</strong> darauf achten, dass <strong>die</strong><br />

büssenden Tyrannen ihre Stirn nicht <strong>über</strong> <strong>die</strong> Oberfläche des roten Stromes heben. Die<br />

Zentauren, halb Pferd, halb Mensch, nennt man <strong>die</strong> Wächter der Tyrannen; denn ihr<br />

gewalttätiges Wesen soll einst <strong>die</strong> natürliche Freiheit des Menschen gefährdet haben. 13<br />

Im Bild <strong>Lorenzetti</strong>s ist <strong>über</strong> der città dolente ebenfalls ein Zentaur auszumachen,<br />

hier als Tierkreiszeichen des Schützen. Er gehört zum Planeten Jupiter, der als<br />

Kaisergestalt abgebildet ist. Viele der kleinen Tyrannen Italiens, <strong>die</strong> im Blutstrom des<br />

Inferno leiden, erkämpften oder erkauften sich kaiserliche Privilegien. Zwei <strong>von</strong><br />

ihnen, Orbizzo d'Este <strong>und</strong> Ezzelino da Romano, <strong>die</strong> Mitte des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts in<br />

Ferrara <strong>und</strong> Padua wüteten, werden vom Jenseitswanderer Dante als Büsser erkannt.<br />

Namentlich Ezzelino gilt im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert als Prototyp des schlechten<br />

zeitgenössischen Herrschers. Sein Andenken wird in Padua bewusst gewahrt, um sich<br />

der Grausamkeit der einstigen Tyrannenherrschaft zu erinnern <strong>und</strong> eine solche in<br />

Zukunft zu vermeiden. 14 Doch auch in der Toskana sind Ezzelinos Greueltaten<br />

berüchtigt. <strong>Der</strong> Florentiner Giovanni Villani nennt ihn "den grausamsten <strong>und</strong><br />

beschränktesten Tyrannen der Christenheit". Er berichtet, dass er vielen Bürgern, auch<br />

den edelsten <strong>und</strong> besten, ihr Hab <strong>und</strong> Gut geraubt habe, so dass sie bettelnd durch <strong>die</strong><br />

Welt ziehen mussten. Er habe getötet, gefoltert, gebrandschatzt <strong>und</strong> Tausende <strong>von</strong><br />

Bürgern auf den Scheiterhaufen gewiesen: "Unter dem Deckmantel einer ruchlosen<br />

Gerechtigkeit tat er sehr viel Böses." 15 Nebst <strong>die</strong>sen zeitgenössischen Exempeln setzt<br />

12 "Tale tyranni non sunt rechtores, sed bestie feroces; bestia enim dicitur, quasi vastia a<br />

vastando. Sic et tales sunt bestie, idest vastie, quia subditos suos vastant. Nam vastant eos in fama,<br />

quia famam ipsorum polluunt; vastant in terrena substantia, quia omnia bona sua rapiunt; vastant in<br />

persona, quia sepe eos personaliter opprimunt, vulnerant et occidunt." JACOBUS DA VORAGINE<br />

(1292): Chronica civitatis Ianuensis<br />

13 GUIDO DA PISA (vor 1333): Expositiones et glose super comediam Dantis, S. 225; OTTIMO-<br />

COMMENTO (1334), I, S. 222 f.<br />

14 ROLANDINO DA PADOVA (um 1260): Cronica, vgl. RUBINSTEIN (1979), S. 189; HYDE<br />

(1966); ALBERTINO MUSSATO (1313/15): Ecerinis sowie GUIZZARDO DA BOLOGNA / CASTELLANO<br />

DA BASSANA (1317): Commentum super tragoedia Ecerinide in GIANOLA (1992)<br />

15 "Questo Azzolino fue il più crudele e ridottato tiranno che mai fosse tra' Cristiani ... e'<br />

cittadini di Padova molta gran parte consumò, e acceconne pur de 'migliori e de' più nobili in grande<br />

quantità, e togliendo le loro possesioni, e mandandogli mendicando per lo mondo, e molti altri per<br />

181


Dante auch antike Gestalten in den Kreis der Gewaltherrscher: Dionysos <strong>von</strong> Sizilien,<br />

einen nicht definierten Alexander, den Hunnen Attila sowie einen gewissen Pyrrhus.<br />

Auch unterhalb des Inferno <strong>Lorenzetti</strong>s sind Beispiele antiker Tyrannen zu sehen: Das<br />

Bild Neros ist noch zu erkennen, während <strong>die</strong> anderen jedoch verblasst sind. Früher<br />

wurde noch das Bild des Geta <strong>und</strong> des Antiochus identifiziert. Mit Nero, Herodus <strong>und</strong><br />

Antiochus ist Ezzelino auch <strong>von</strong> seinen Zeitgenossen verglichen worden. 16<br />

<strong>Der</strong> Dante-Kommentator Jacopo della Lanas nimmt den Höllenkreis der Tyrannen<br />

zum Anlass, ihre Rolle in der Politik näher zu umschreiben. Er stützt sich dabei auf<br />

<strong>die</strong> Fürstenspiegel des Egidio Romano <strong>und</strong> Thomas <strong>von</strong> Aquin, <strong>die</strong> ihrerseits <strong>die</strong><br />

aristotelische Lehre rezipieren. Den Tyrannen definiert er auf <strong>die</strong>ser Gr<strong>und</strong>lage als<br />

Herrscher, der nur das eigene Wohl verfolgt <strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> seiner Verderbtheit allen<br />

anderen nur Schlechtes wünscht. In der Folge zählt Jacopo della Lana auch all das<br />

Böse auf, das <strong>die</strong>sem herrschsüchtigen Wesen eigen ist:<br />

"<strong>Der</strong> Tyrann ist jähzornig, so dass <strong>die</strong> Untergebenen weder auf seine<br />

Gemütsruhe, noch auf Gnade oder auf Gaben zählen können.<br />

Er ist blutrünstig, so dass er Tausende eines unglücklichen Todes verenden<br />

lässt, um ja auch selbst nicht Opfer eines Anschlags zu werden. Er ist<br />

unberechenbar, stark <strong>und</strong> grausam, so dass er, auch wenn er keinen Gr<strong>und</strong><br />

findet, <strong>die</strong> Bürger umbringen lässt.<br />

Und er ist grob, damit niemand in der Stadt mit ihm Vertraulichkeiten zu<br />

pflegen wünscht <strong>und</strong> kein Bürger <strong>von</strong> seiner Lüsternheit erfährt.<br />

Ein wesentliches Merkmal des Tyrannen ist, dass er in seiner Stadt keine<br />

Gelehrten gross werden lässt, denn sie könnten seiner Herrschaft durch ihren<br />

Verstand schaden, genauso wie <strong>die</strong> Reichen durch ihr Vermögen, denen er<br />

ihre Befestigungen, Kastelle <strong>und</strong> Türme in der Stadt <strong>und</strong> dem Contado<br />

entreisst, damit sie nicht rebellieren.<br />

Indessen umgibt er sich mit fremden <strong>und</strong> schlecht gesitteten Menschen, <strong>die</strong><br />

durch Grausamkeit das ganze Volk in Furcht versetzen.<br />

Und sie misshandeln <strong>die</strong> Frauen, Töchter <strong>und</strong> Schwestern der Bürger, um sie<br />

alle in Verzweiflung zu treiben, nur um einen Gr<strong>und</strong> zu finden, sie zu<br />

töten." 17<br />

diversi martiri e tormenti fece morire, e a una ora XI mila Padovani fece ardere ... E sotto l'ombra<br />

d'una rudda e scellerata giustizia fece molti mali ..." GIOVANNI VILLANI: Nuova Cronica, VII.72, Bd.<br />

II, S. 366 f.<br />

16 Z. B. SALIMBENE DE ADAM (1240/60): Cronica<br />

17 JACOPO DELLA LANA (1328), I, S. 235 f.<br />

182


All <strong>die</strong>se Merkmale der Bösartigkeit finden wir im Fresko <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong><br />

wieder. Das verzerrte Antlitz <strong>und</strong> <strong>die</strong> schielenden Augen des Tyrannen sind Ausdruck<br />

seines Jähzorns. Sie spiegeln eine Seele wieder, <strong>die</strong> durch den Kampf der Laster ohne<br />

Gemütsruhe ist. Die Furcht, <strong>die</strong> der Tyrann bei seinen Untergebenen auslöst, erscheint<br />

in der Figur Timors. Sie geht todbringend auf <strong>die</strong> Menschen nieder.<br />

Timor, <strong>die</strong> Figur der Furcht, hält ein Pergament in der Hand, das auf <strong>die</strong><br />

aristotelische Gr<strong>und</strong>definition des Tyrannen hinweist, <strong>die</strong> auch Jacopo della Lana<br />

genannt hat: <strong>Der</strong> Tyrann ist ein Herrscher, der nur sein eigenes Wohl verfolgt. Mit<br />

Aristoteles wird damit <strong>die</strong> Herrschaft des Tyrannen <strong>von</strong> jener des Königs durch den<br />

Begriff des Gemeinwohls abgegrenzt. Während der König das Gemeinwohl zu<br />

verwirklichen sucht, ist der Tyrann nur am eigenen Nutzen interessiert. Gleichzeitig<br />

beschränkt sich Jacopo della Lana jedoch nicht darauf, nur <strong>die</strong> eigennützige<br />

Herrschaft eines einzelnen zu beschreiben. Aristoteles ausführend, erläutert er auch<br />

<strong>die</strong> am Eigennutz orientierten Herrschaften, <strong>die</strong> entweder Wenige oder Viele<br />

gemeinsam innehaben. Sie alle zerstören <strong>die</strong> Rechtsherrschaft der vita politica.<br />

Jacopo della Lana schildert in seinem Kommentar deshalb nebst der<br />

Tyrannenherrschaft auch ausführlich, wie sich eigennützige Herrschaften <strong>von</strong><br />

Wenigen oder Vielen auf das politische Leben in einer Stadt auswirken können: Wenn<br />

der alteingesessene Feudaladel das Gemeinwohl aus den Augen verliert, wird er zu<br />

niederträchtigen Raubrittern, <strong>die</strong> ohne Liebe zu ihrer Heimat sind. Ein Regierung <strong>von</strong><br />

wenigen Reichen verwandelt sich indessen in einen Kreis geiziger Steuereintreiber.<br />

Sie halten ihren Ort im dauernden Kriegszustand, um das letzte Geld aus dem Volk zu<br />

pressen. Anstelle schöner Villen <strong>und</strong> lieblicher Anwesen bestimmen Türme, Gräben<br />

<strong>und</strong> dicke Mauern das Bild der Stadt <strong>und</strong> selbst <strong>die</strong> Wohnhäuser, <strong>die</strong> eigentlich der<br />

Ruhe <strong>die</strong>nen sollten, sind für Kriegszwecke mit Steinen, Wurfgeschossen, Pfeilen,<br />

Lanzen <strong>und</strong> anderen Waffen gefüllt. Das nur Eigennutz suchende Volk schliesslich<br />

wird zu einem dummen, neiderfüllten Mob. Entweder werden Spitzfindigkeiten <strong>von</strong><br />

Notaren <strong>und</strong> Richtern <strong>über</strong>hand nehmen oder Neid <strong>und</strong> Furor, ein durch keinerlei<br />

Vernunft gezähmtes Losschlagen, brechen aus. 18<br />

Das Pergament im <strong>Freskenzyklus</strong>, das Timor in der Hand hält, ist ebenfalls<br />

nicht nur spezifisch auf den Tyrannen als Einzelherrscher ausgerichtet, sondern<br />

umfasst alle, <strong>die</strong> nur ihr eigenes Wohl in der Politik verfolgen: "Weil ein jeder in<br />

<strong>die</strong>sem Land das eigene Wohl verfolgt, ist <strong>die</strong> Justitia der Tyrannei unterworfen ...."<br />

18 Ebd., S. 235 f.; siehe auch OTTIMO-COMMENTO (1334), I, S. 214 ff.<br />

183


Entsprechend ist auch der Titel <strong>über</strong> der Figur des schlechten Herrschers nicht in der<br />

Einzahl, sondern im Plural: TYRAMNIDES - Gewaltherrschaften. Damit verurteilt das<br />

Inferno nicht nur <strong>die</strong> Tyrannen als eigennützige Einzelherrscher, sondern erweitert mit<br />

Aristoteles <strong>und</strong> Jacopo della Lana den Kreis der Gewaltherrschaft durch <strong>die</strong><br />

korrumpierten Herrschaften der Wenigen <strong>und</strong> der Vielen.<br />

Die Szenen <strong>und</strong> Figuren des Bildes verdeutlichen deshalb nebst der<br />

Tyrannenherrschaft auch <strong>die</strong> typischen Merkmale, <strong>die</strong> <strong>die</strong> korrumpierten Herrschaften<br />

der Wenigen <strong>und</strong> Vielen auszeichnen, wie sie Jacopo della Lana im Kommentar zum<br />

12. Gesang des Inferno festgehalten hat: Wir finden <strong>die</strong> Niedertracht eines<br />

alteingesessenen Feudaladels, der <strong>die</strong> Liebe zur eigenen Stadt verloren hat, erkennen<br />

<strong>die</strong> Folgen einer Oligarchie <strong>von</strong> geizigen Steuereintreibern <strong>und</strong> erblicken Wesenszüge<br />

einer eigennützigen Volksherrschaft. So nötigen <strong>die</strong> Männer in ritterlicher Tracht <strong>die</strong><br />

Bewohner der Stadt, <strong>die</strong> unter ihrer <strong>über</strong>legenen Gewalt leiden. Die wenigen Reichen<br />

indessen, besessen <strong>von</strong> Avaritia, halten das Land im Kriegszustand. Unter der<br />

Steuerlast ihrer Herrschaft entwickelt sich kein Gewerbe, vor den Toren der Stadt<br />

fehlen <strong>die</strong> lieblichen Anwesen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Wohnhäuser <strong>die</strong>nen als Lager <strong>von</strong><br />

Wurfgeschossen. Nur <strong>die</strong> fremden Söldner, <strong>die</strong> sich auf dem Hauptplatz tummeln <strong>und</strong><br />

der Schmied, der Kriegswerkzeug fertigt, haben ein Einkommen. Schliesslich verweist<br />

das Bild auch auf <strong>die</strong> Eigenschaften einer <strong>von</strong> Eigennutz getriebenen Volksherrschaft:<br />

Das Überhandnehmen juristischer Spitzfindigkeiten kommt in der Figur zum<br />

Ausdruck, <strong>die</strong> in der Tracht des Juristen <strong>die</strong> Fesseln der gesch<strong>und</strong>enen Justitia hält,<br />

während sich der Volksmob in der Gestalt Furors offenbart.<br />

Das Bild des Inferno <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s warnt also nicht nur vor irgendeinem<br />

Gewaltherrscher, sondern <strong>von</strong> der Gewaltherrschaft an sich, <strong>die</strong> Justitia dem<br />

Eigennutz unterwirft. Thematisiert wird das Unrecht der gravi cittadin, das sich in<br />

einem Gemeinwesen manifestiert, wenn <strong>die</strong> Menschen ohne Liebe sind <strong>und</strong> Geiz,<br />

Hochmut <strong>und</strong> Eitelkeit das Handeln bestimmen. <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> hat <strong>die</strong> Laster<br />

oberhalb <strong>und</strong> seitlich des Gewaltherrschers endlich auch so angeordnet, dass der<br />

Betrachter sich dazu aufgefordert fühlt, eine Verbindung zwischen den beiden Ebenen<br />

herzustellen. Die Assoziation der drei Todsünden mit den Lastern auf dem Podium<br />

links <strong>und</strong> rechts der Gewaltherrschaft offenbart <strong>und</strong> unterstreicht nochmals das<br />

Unrecht, das ein Bürger durch eigennütziges Verhalten im Gemeinwesen begeht:<br />

Links lässt <strong>die</strong> Verbindung <strong>von</strong> Avaritia mit Crudelitas, Proditio <strong>und</strong> Fraus an <strong>die</strong><br />

Grausamkeit <strong>von</strong> ungezügelter Geldgier denken, an den Verrat der Heimatstadt durch<br />

den Bürger, weil er käuflich geworden ist, sowie an <strong>die</strong> Korruption im Staatswesen.<br />

184


Die Beziehung <strong>von</strong> Vanagloria mit Furor, Discordia <strong>und</strong> Guerra verbindet <strong>die</strong><br />

Prachtentfaltung <strong>und</strong> Ruhmsucht der grossen Familien der Stadt mit ihrer Rolle als<br />

Volkshetzer, Parteiführer <strong>und</strong> Kriegsentfessler, verursacht durch Fehdelust <strong>und</strong><br />

Unwilligkeit, sich einer städtischen Autorität zu beugen. In der Superbia, dem<br />

masslosen Streben nach Macht, erscheint das wesentliche Motiv für den Aufstieg der<br />

Tyrannen.<br />

6.3. Klage <strong>über</strong> Krieg, Laster <strong>und</strong> Tyrannen<br />

In dantesken Bildern führt uns <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> im Inferno ein politisches<br />

Lamento vor Augen, das den Betrachter mit politisch unhaltbaren Zuständen<br />

konfrontiert. Das politische Lamento hat in der Kultur der italienischen Kommunen,<br />

wo <strong>die</strong> Bürger an der Politik leidenschaftlich Anteil nehmen, einen festen Platz. In<br />

Sonetten, Kanzonen <strong>und</strong> selbst in religiösen Lauden sowie in Chroniken <strong>und</strong><br />

Geschichtswerken gibt man seinen Missmut <strong>über</strong> <strong>die</strong> Unzulänglichkeiten seiner Zeit<br />

bekannt. 19 Das grosse Meisterwerk <strong>die</strong>ser Art ist im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert aber <strong>die</strong><br />

Commedia. Die Klagereden ziehen sich wie ein roter Faden nicht nur durch das<br />

Inferno, sondern auch durch das Purgatorio <strong>und</strong> Paradiso. Gespräche mit Seelen in<br />

den drei nachtodlichen Welten nimmt der Jenseitswanderer immer wieder zum<br />

Anlass, sein Missfallen <strong>über</strong> <strong>die</strong> irdischen Zustände k<strong>und</strong>zutun. Nicht nur Florenz ist<br />

Gegenstand seiner Kritik, auch <strong>die</strong> ganze Toskana, Italien, <strong>die</strong> Könige Europas sowie<br />

<strong>die</strong> Kaiser <strong>und</strong> <strong>die</strong> Päpste. 20<br />

Florenz nennt Dante eine geteilte Stadt (Firenze partita), einen Ort, wo Habsucht,<br />

Neid <strong>und</strong> Hochmut herrschen. 21 Er vergleicht sie mit einer Kranken, <strong>die</strong>, sich im Bett<br />

wälzend, Schutz vor Schmerzen sucht <strong>und</strong> doch keine Ruhe findet. Denn wie oft seien<br />

in Florenz schon Gesetze, Sitten, Münzen <strong>und</strong> politische Institutionen erneuert worden<br />

- mit dem Instrument der politischen Verbannung gar <strong>die</strong> Einwohner selbst - um einen<br />

bis anhin nicht erreichten Frieden zu verwirklichen. 22 Doch nicht nur Florenz sei<br />

krank, ganz Italien gleiche einer Herberge des Jammers <strong>und</strong> der Schmerzen. 23 Keine<br />

der Provinzen sei ohne Krieg, 24 <strong>die</strong> Städte voll <strong>von</strong> Tyrannen. 25 Einst, zur Zeit der<br />

19 Dazu RUBINSTEIN (1957); MARTI (1965), bes. S. 387; SAVONA (1975); DAVIS (1972);<br />

HYDE (1972); MARTINES (1979), S. 72 ff.<br />

20 Siehe auch BUCK (1987), S. 110 ff.<br />

21 Inferno XV.68<br />

22 Purgatorio VI.145 ff.<br />

23 Purgatorio VI.76<br />

24 Purgatorio VI.82<br />

185


Römer, gepriesen als donna di provincie, zeige Italien sich nun als Bordell. 26<br />

Gewinnstreben <strong>und</strong> Wucher hätten jeden Edelmut verdrängt. 27 Die Bewohner der<br />

Toskana, klagt Dante, seien Tieren gleich wie <strong>die</strong> Gäste Circes. Im Casentino lebten<br />

Schweine, in Arezzo Kläffer, in Florenz Wölfe <strong>und</strong> in Pisa Füchse. 28 Die Sienesen<br />

seien eitel wie <strong>die</strong> Franzosen; 29 <strong>die</strong> Bürger aus Lucca bekannt für <strong>die</strong> in ihren Reihen<br />

grassierende Korruption. Pisa, einst eine blühende Seestadt, gleiche einem zweiten<br />

Theben, untergegangen aufgr<strong>und</strong> der Zwietracht der Bürger. 30 Die Kaiser <strong>und</strong> Könige<br />

Europas verurteilt Dante, weil sie ihre Pflicht vernachlässigten <strong>und</strong> nicht dafür Sorge<br />

trügen, dass Gerechtigkeit <strong>und</strong> Friede auf Erden herrsche, <strong>die</strong> dem einzelnen<br />

erlaubten, Bürger einer politischen Gemeinschaft zu sein. 31 Das Papsttum schimpft er<br />

eine Hure, <strong>die</strong> in Avignon mit dem französischen Königshaus buhle. 32<br />

Dante ist kein einsamer Rufer in der Wüste. Die Commedia spricht vielen aus dem<br />

Herzen. Sie wird nicht nur sofort rezipiert, kopiert, illustriert <strong>und</strong> kommentiert,<br />

sondern auch ihr Lamento wird nachgeahmt. 33 Wie Dante beklagen viele den<br />

Niedergang des einst in der Antike so mächtigen Italiens, verursacht durch das Unheil<br />

<strong>von</strong> Schlachten <strong>und</strong> Bürgerkriegen. 34 Ehre, Stärke, Tugend <strong>und</strong> Sachverstand seien des<br />

Landes geflohen; <strong>die</strong> Liebe zum gemeinsamen Vaterland gibt es nicht mehr, auch<br />

nicht jene zur Heimatstadt. 35 <strong>Der</strong> Schönheit ihrer Städte seien <strong>die</strong> Bürger nicht<br />

würdig. 36 <strong>Der</strong> Kriegsgott Mars, der im Fries oberhalb <strong>von</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s<br />

Inferno zu sehen ist, gilt den Zeitgenossen als Zerstörer <strong>von</strong> Handwerk <strong>und</strong> Gewerbe.<br />

<strong>Der</strong> Krieg, so klagt man, sei weder eine heilsame Läuterung für <strong>die</strong> Völker, noch seien<br />

seine Folgen zu rechtfertigen. In Wahrheit sei er ein grausames Blutbad <strong>und</strong> vernichte<br />

25 Purgatorio VI.124 f.<br />

26 Purgatorio VI.78<br />

27 Dazu Purgatorio XVI.46 ff.; ebd. XX.10 f.; Inferno XVI.73 f., S. 140 ff.; Paradiso IX.127<br />

ff.; ebd. XV.97 ff.; ebd. XXVII.121 ff.; siehe auch BUCK (1987), S. 111; ebd. S. 162 f.<br />

28 Purgatorio XIV.43 ff.<br />

29 Inferno XXI.37 ff.; ebd. XXIX.121 ff.<br />

30 Ebd. XXXIII.88 ff.<br />

31 Purgatorio VI.97 ff.; ebd. VII.91 ff.<br />

32 Ebd. XXXII.148 ff.<br />

33 SANDKÜHLER (1989) mit Literaturangaben; BUCK (1987); SAVONA (1975), S. 99; vgl.<br />

DAVIS (1972), S. 60 ff.<br />

34 CONVENEVOLE DA PRATO (1328/1336): Regia Carmina, 37 a, vv. 13 ff., S. 66; ”Nonne fuit<br />

sanum bellum vitare profanum et reparare statum saltem cum pace beatum?” Ebd., 52 a, vv. 40 f., S.<br />

70; siehe auch GRAZIOLO BAMBAGLIOLI (1335): Trattato sopra le virtù morali, sowie allgemein<br />

CRACCO (1987) mit vielen Literaturangaben.<br />

35 Ebd., 37 a, vv. 13 ff., S. 66<br />

36 DINO COMPAGNI (1312): Cronica, I.1 f.<br />

186


jegliche produktive Tätigkeit. 37 <strong>Der</strong> Hass wird als Anfang des Verderbens bezeichnet.<br />

Von falscher Parteinahme getragen, provoziere ein Mord den nächsten; Blutvergiessen<br />

<strong>und</strong> nie endender Streit seien <strong>die</strong> Folge. 38 Das Zeitalter wird als tadelnswerter<br />

geschildert als das der antiken Heiden. Während jene wenigstens wohlgeformte<br />

Statuen als Idole angebetet hätten, <strong>die</strong> ab <strong>und</strong> zu auch etwas verlauten liessen, würde<br />

<strong>die</strong> gegenwärtige Zeit <strong>die</strong> Namen Guelfe <strong>und</strong> Ghibellinen verehren. 39<br />

Letztlich aber, wenn es darauf ankomme, halte niemand Treue, weder der<br />

Kommune noch der Partei. Während <strong>die</strong> antiken Römer für ihr Gemeinwesen starben,<br />

sei der Bürger heute bereit, seine Kommune für einen Heller (per un denaro) zu<br />

verkaufen. 40 Und weder seien <strong>die</strong> Guelfen wirklich an der Kirche interessiert, noch <strong>die</strong><br />

Ghibellinen am Kaisertum, sondern allen gehe es lediglich darum, <strong>über</strong> den Nachbarn<br />

zu herrschen <strong>und</strong> ihn in tyrannischer Weise zu unterdrücken. 41 Parteikonflikte, so stellt<br />

man fest, würden absichtlich geschürt, sei es, um ein Machtvakuum zu schaffen, das<br />

<strong>die</strong> eigene Herrschaft ermöglicht oder um Gr<strong>und</strong> zu haben, Bürger zu exilieren <strong>und</strong> an<br />

ihr Hab <strong>und</strong> Gut zu gelangen. 42<br />

Es wird kritisiert, dass <strong>die</strong> ausgleichende Macht der Mittelschicht fehle.<br />

Entweder sei <strong>die</strong>se zu faulen Kompromissen gezwungen oder sie würde aufgr<strong>und</strong><br />

ihrer Geldgier zum Tyrannen. 43 <strong>Der</strong> Sienese Bindo Bonichi warnt ausdrücklich vor der<br />

Tyrannei der mezza gente, zu deren Schicht er selbst gehört: "Wenn <strong>die</strong> Leute aus der<br />

Mittelschicht zu Tyrannen werden, bitte Gott, dass er <strong>die</strong> Stadt behüte vor den<br />

hungrigen <strong>und</strong> schrecklichen Leoparden, welche auf den Geschmack des Geldes<br />

gekommen sind. 44 Die reichen <strong>und</strong> mächtigen Bürger indessen würden danach<br />

37 ”Quidam prudentes dicunt ... : 'Gentes / Martis egent, m<strong>und</strong>ant quo se dum sordibus<br />

<strong>und</strong>ant'./ Cur ita, cum Martis sors sit mors et rogus artis,/ dona recognoscunt, quia pacis et et ipsa<br />

reposcunt? ... Que stat dulcedo set seva cruore rubedo, / et necis ambages fiunt et pessima strages./<br />

Qualiter ista fuerunt? ... Non certe suntque piandi./ Est hominum bellum vere crudele macellum / ac<br />

odii cella generatur dira procella.” CONVENEVOLE DA PRATO (1328/1336): Regia Carmina, 37 a, vv.<br />

13 ff., S. 66, 52 a, vv. 42 ff., S. 70<br />

38 ALBERTINO MUSSATO (1315): Ecerinis, II.179 f., S. 118 sowie II.200 ff., S. 120; dazu auch<br />

WALEY (1969), S. 126 ff.; MARTINES (1979); HYDE (1972), S. 282 ff.<br />

39 GERI D’AREZZO zitiert nach Lorenzo Mehns (1753) in WEISS (1949), S. 108<br />

40 FRANCESCO DA BARBERINO (1308/1313): Documenti d’amore, II.4, Bd. II, S. 74<br />

41 GRAZIOLO BAMBAGLIOLI (1335): Trattato sopra le virtù morali; siehe auch DANTE (1321):<br />

Paradiso XVII.69 (”averti fatta parte per te stesso”) sowie OTTIMO-COMMENTO (1334), Bd. III, S.<br />

122: "...e con quanta ragione si muovano li Ghibellini e li signori che dicono, che sono da parte<br />

d’imperio: per occupare e tiranneggiare sotto questo nome, se lo appropiano."<br />

42 JACOPO DELLA LANA (vor 1328), Bd. III, S. 266 f.<br />

43 BINDO BONICHI (ca. 1275-1338): Rime)<br />

44 "Quando i mezzan gente diventano tiranni, preghi Iddio la cittade, che la guardi dagli<br />

affamati e pessimi leopardi ch'hanno assagiato il Giglio e San Giovanni [wörtliche Übersetzung:<br />

welche <strong>die</strong> Lilie <strong>und</strong> San Giovanni gekostet haben; mit den zwei Wahrzeichen <strong>von</strong> Florenz wird auf<br />

187


trachten, <strong>die</strong> anderen zu beherrschen, während <strong>die</strong> armen, <strong>die</strong> nach einer besseren<br />

Stellung strebten, sich weigerten, am gemeinsamen Strick zu ziehen. 45 Anstatt dass in<br />

den Kommunen <strong>die</strong> politische Macht auf <strong>die</strong> kleinen, mittleren <strong>und</strong> grossen Bürger<br />

verteilt werde, würden einzelne Gruppen <strong>die</strong> Macht an sich reissen. 46 Nicht a comune<br />

werde regiert, sonder per sette oder per partem. Jeder spreche schlecht vom anderen:<br />

<strong>Der</strong> Guelfe vom Ghibellinen, der Reiche vom Handwerker, der Laie vom Kleriker <strong>und</strong><br />

umgekehrt. 47 Gleichzeitig kritisiert der Sienese Bindo Bonichi, dass der einzelne kaum<br />

existieren kann, wenn er nicht irgendeiner Vereinigung oder Partei angehört. 48<br />

Als Nährboden für den Niedergang wird mit Dante der Sittenzerfall bezeichnet.<br />

Es grassiere Opportunismus, Wucher, Korruption <strong>und</strong> Eitelkeit. 49 Nicht mehr <strong>die</strong><br />

Tugend zähle, sondern nur noch der Wert der fiorini, <strong>die</strong> begehrten Goldmünzen der<br />

Florentiner. 50 "Sie seien nun <strong>die</strong> beste Verwandtschaft," meint der Sienese Cecco<br />

Angiolieri sarkastisch. 51<br />

Wucher, Gewinnstreben <strong>und</strong> Neid werden als Ursache sowohl für <strong>die</strong> Zerstörung<br />

der Kommunen als auch für <strong>die</strong> Kriege zwischen den Städten gegeisselt. 52 Jeder<br />

Nachbar <strong>und</strong> jedes Gemeinwesen suche vom anderen gewaltsam zu profitieren.<br />

Habsucht fordere zu Herrschsucht <strong>und</strong> zu instabilen politischen Ordnungen heraus. 53<br />

das Geld der Florentiner angespielt, <strong>die</strong> Gold-Fiorini, <strong>die</strong> im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>die</strong> stärkste <strong>und</strong><br />

gefragteste Währung war]. ... Havvi di quei, che son di buona fede, ma que' malvagi sanno lor<br />

mostrare, che 'l mal, che fanno, pur da ben procede. Fanno lor far quel, che non credon fare, fanno lo<br />

rubator chi guardar crede. Quest'è, perchè non sanno riparare." BINDO BONICHI (ca. 1275-1338):<br />

Rime, Sonett 16<br />

45 ebd.<br />

46 "Questi non volieno a reggimento né pari né compagnoni, né all'ufficio del priorato né agli<br />

altri consequenti ufici mettere, se non cui a loro piacea, che facessono a loro volontà, schiudendo<br />

molti de' più degni di loro per senne e per virtù, e non dano parte né a grandi né mezzani né minori,<br />

come si convenia a buono reggimento di Comune." GIOVANNI VILLANI (1300/48): Nuova Cronica,<br />

XII.118, S. 232 f.<br />

47 REMIGIO GIROLAMI (um 1300): Sermones, zit. in HYDE (1972). HYDE geht <strong>die</strong>sen <strong>von</strong><br />

Remigio Girolami angedeuteten Konfliktlinien im einzelnen nach.<br />

48 BINDO BONICHI (ca. 1275-1338): Rime, Sonett 8<br />

49 GRAZIOLO BAMBAGLIOLI (1335): Trattato sopra le virtù morali, c. 11r; GIOVANNI VILLANI<br />

(1300/48): Nuova Cronica, XII.2, S. 23<br />

50 BINDO BONICHI (ca. 1275-1338): Rime, Sonett 16<br />

51 Zitiert bei MARTINES (1979), S. 79 mit Literaturangabe<br />

52 Dazu LENHEITH (1952), S. 132 ff.; RUBINSTEIN (1957), S. 168 ff.; BECKER (1966); HYDE<br />

(1972), S. 276; SAVONA (1975), S. 95 ff.; MARTINES (1979), S. 79 ff.<br />

53 DANTE (1321): Paradiso XV.97, S. 708 ff.; OTTIMO-COMMENTO (1334), III, S. 356;<br />

ALBERTINO MUSSATO (1328): De traditione Patavii ad Canem Grandem anno 1328, zitiert bei<br />

RUBINSTEIN (1957), S. 172 n. 2; GIOVANNI VILLANI (1300/1348): Nuova Cronica, XII.139, Bd. 3, S.<br />

279; Convivio, IV. Gegen <strong>die</strong> Arroganz <strong>und</strong> Herrschsucht der Florentiner siehe auch Inferno XXVI.1<br />

188


Die Folge da<strong>von</strong> sei, dass sich <strong>die</strong> Städte mit Tyrannen füllen; 54 wenn nicht ein<br />

einzelner Bürger <strong>die</strong> andern unterdrücke, dann hätten einige gemeinsam <strong>die</strong><br />

Gewaltherrschaft inne. 55 In den Zivil- <strong>und</strong> Strafprozessen würde willkürlich<br />

vorgegangen, ohne, dass <strong>die</strong> Gesetze befolgt würden. Die Gerichtsbarkeit gliche<br />

Rachefeldzügen, um jene, <strong>die</strong> gefährlich werden könnten, auszuschalten, während<br />

exzessive Steuern, eingesetzt für Prachtentfaltung <strong>und</strong> Söldnertruppen, den Bürgern<br />

ihr Hab <strong>und</strong> Gut raubten. Die Einsicht in <strong>die</strong> Finanzverwaltung würde verweigert,<br />

während <strong>die</strong> Henkersgesellen <strong>die</strong> gesamte Bevölkerung in Angst <strong>und</strong> Schrecken<br />

versetzen. 56 Resigniert meint der Dante-Kommentator Jacopo della Lana: "Es besteht<br />

kein Zweifel, dass all jene, <strong>die</strong> im gegenwärtigen Zeitalter nicht ungerecht sein wollen<br />

<strong>und</strong> sich für das Gemeinwohl einsetzen, vergebliche Mühe leisten.” 57<br />

Dante <strong>und</strong> viele andere auch klagen, dass <strong>die</strong> alten Tugenden der cortesia, der<br />

höfischen Freigebigkeit <strong>und</strong> Grosszügigkeit verschw<strong>und</strong>en seien. <strong>Der</strong> Welt des<br />

monetären Ver<strong>die</strong>nstes setzt der Sienese Folgore da San Gimignano das fröhliche<br />

Treiben der jungen adligen Gesellschaft in Siena entgegen. Er besingt <strong>die</strong> Jagd, <strong>die</strong><br />

Sommerfrische auf dem Land, das Spiel, das feine Essen <strong>und</strong> <strong>die</strong> kostbaren Kleider. 58<br />

Eine Reaktion auf das Klima zunehmender wirtschaftlicher Kalkulation ist auch <strong>die</strong><br />

Brigata spenderaccia, ein B<strong>und</strong> junger Sieneser Magnatensprösslinge, <strong>die</strong> es sich<br />

Ende des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts zum Ziel machen, auf einfallsreichste Art <strong>und</strong> Weise so<br />

viel Geld wie möglich auszugeben, dabei <strong>über</strong> den Geiz der anderen spottend. 59 Doch<br />

auch das aristokratische Lebensideal ist in einer Krise. Grosszügige äusserliche Prach-<br />

ff. <strong>und</strong> <strong>die</strong> dazu verfassten Kommentare <strong>von</strong> JACOPO DELLA LANA (vor 1328), I, S. 416 f.; GUIDO DA<br />

PISA (vor 1333), S. 514 ff. ; OTTIMO-COMMENTO (1334), I, S. 441 ff.<br />

54 DANTE, z. B. Purgatorio VI.124 f.; JACOPO DELLA LANA (vor 1328); OTTIMO-COMMENTO<br />

(1334); FRANCESCO DA BARBERINO (1308/1313): Documenti d’amore; GIOVANNI VILLANI: Nuova<br />

Cronica, MATTEO DA FRESCOBALDI: Fiorenza mia; ALBERTINO MUSSATO (1315): Ecerinis, II.76, S.<br />

118 (s. a. Kommentar); TOLOMEO DA LUCCA: De regimine principum, siehe auch RUBINSTEIN (1965)<br />

55 FRANCESCO DA BARBERINO (1308/1313): Documenti d’amore; BINDO BONICHI (ca. 1275-<br />

1338): Rime, Sonett 16<br />

56 GIOVANNI VILLANI (1300/48): Nuova Cronica, XII.118, S. 232; GRAZIOLO BAMBAGLIOLI<br />

(1334): Dictamina, S. 105 ff.; siehe auch JACOPO DELLA LANA (vor 1328): Commento alla<br />

Commedia, Bd. I, S. 234 <strong>und</strong> OTTIMO-COMMENTO (1334), I, S. 213 f.<br />

57 ”E senza dubbio tutti quelle che della presente etade hanno voluto non essere iniqui e<br />

attendere al bene comune, hanno perduto loro ovra, perchè lo popolo è disposto come mala coltura,<br />

nella quale ogni sementa fa mala prova etc.” JACOPO DELLA LANA (vor 1328), Bd. III, S. 268; siehe<br />

auch VILLANI (1300/48): Nuova Cronica; ARMANNINO GIUDICE; DINO COMPAGNI (1312): Cronica,<br />

III.7. Zum Begriff der gente comune, das heisst jener Gruppe <strong>von</strong> Bürgern, <strong>die</strong> sich in der Regierung<br />

ihrer Stadt für das Gemeinwohl einsetzten siehe JONES (1965), S. 77 f.; BECKER (1965), S. 678; HYDE<br />

(1972), S. 281<br />

58 Dazu PICONE (1988)<br />

59 Ebd., S. 24 ff. mit Literaturangaben<br />

189


tentfaltung entspricht nicht dem verloren geglaubten höfischen Ideal. Die <strong>von</strong> Folgore<br />

da San Gimignano besungene Lebensweise verurteilt Dante als vanitas. 60<br />

Sozialkritisch äussert sich dar<strong>über</strong> Cenne della Chitarra aus Arezzo, indem er Folgores<br />

Schilderung der höfischen Lebensfreuden das Los der Armen gegen<strong>über</strong>stellt, denen<br />

jeder Tag <strong>und</strong> jeder Monat Mühsal bringt. 61 Bindo Bonichi warnt alle vor den alten<br />

Kriegern. Welch Unglück für <strong>die</strong> Witwen <strong>und</strong> Waisen, <strong>die</strong> noch dem alten Eid der<br />

Ritter trauten. 62<br />

<strong>Der</strong> Vorwurf der Habsucht trifft im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert auch <strong>die</strong> Gelehrten, <strong>die</strong><br />

grossen Königshäuser <strong>und</strong> <strong>die</strong> Kirche. 63 Die Gelehrten würden nicht mehr, wie einst<br />

<strong>die</strong> antiken Philosophen, nach Ehre streben, sondern ihre Stu<strong>die</strong>n allein nach dem<br />

Geld ausrichten. 64 Unter den Herrscherhäusern gilt das französische Königshaus als<br />

besonders geizig sowie dessen süditalienischer Zweig, <strong>die</strong> Anjou in Neapel. 65 <strong>Der</strong><br />

Klerus wird verurteilt, kirchliche Ämter <strong>und</strong> göttliche Gnade zu verkaufen <strong>und</strong><br />

Menschen zu exkommunizieren, allein, um nachher in der Lage zu sein, gegen Geld<br />

den Bann wieder aufzuheben. Während <strong>die</strong> Geistlichen den rechten Weg priesen,<br />

nähmen sie in hochmütiger Weise selbst den linken, verfielen der Scheinheiligkeit, der<br />

sinnlichen Begierde <strong>und</strong> dem Geiz. 66 Den Bettelorden wird ebenfalls Unkeuschheit<br />

<strong>und</strong> Geldgier vorgeworfen. Es heisst, sie hätten schon mehr Geld zusammengehäuft<br />

als Papst Silvester <strong>von</strong> Kaiser Konstantin je erbeutet hatte. 67<br />

6.4. Politische Klage in Siena<br />

Ratsprotokolle, Petitionen, <strong>die</strong> im Consiglio generale behandelt werden 68 <strong>und</strong><br />

Sieneser Gesetzestexte aus dem Bereich des Strafrechts 69 legen Zeugnis da<strong>von</strong> ab, dass<br />

60 DANTE (1314): Inferno XXI.37 ff., S. 183<br />

61 MASSÈRA (1920), Bd. 1, S. 175 ff.<br />

62 BINDO BONICHI (ca. 1275-1338): Rime, Canzone 3<br />

63 Ein häufiges Thema in der Commedia DANTES, siehe D’ENTRÈVES (1952), S. 52 ff. ; siehe<br />

auch OTTIMO-COMMENTO (1334), III, S. 236; JACOPO DELLA LANA (vor 1328), III, S. 159;<br />

CONVENEVOLE DA PRATO (1328/35): Regia Carmina, 35, vv 1 ff., S. 65 f.<br />

64 Ebd.<br />

65 DANTE (1315): Purgatorio XX.43; DANTE (1321): Paradiso XIX.118 ff. OTTIMO-<br />

COMMENTO (vor 1334), II, S. 362; ebd., Bd. III, S. 442 ff.; ebd., Bd. II, S. 104; GIOVANNI VILLANI<br />

(1300/48): Nuova Cronica, XIII.10, III, S. 320<br />

66 CONVENEVOLE DA PRATO (1328/35): Regia Carmina, 55, vv. 24 ff., S. 84 ff.<br />

67 BINDO BONICHI (ca. 1275-1338): Rime<br />

68 Viele transkribiert <strong>von</strong> CARBONE (1977), II<br />

69 Costituto 1309/10, V, S. 207 ff.; Const. 1337/39, III, cc. 127r ff.; Statuti Senesi 23 (1323-<br />

1339), einzelne Artikel<br />

190


der Inhalt der so zahlreichen politischen Lamenti in Siena Gegenstand der öffentlichen<br />

Diskussion ist. Im folgenden soll der Frage nachgegangen werden, wie sich <strong>die</strong> Bürger<br />

<strong>von</strong> Siena politisch mit den Lastern ihrer Zeit auseinandersetzen. Aus dem zahlreichen<br />

Archivmaterial ist <strong>die</strong> Auseinandersetzung mit jenen Lastern ausgewählt worden, <strong>die</strong><br />

im Inferno <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s abgebildet sind:<br />

Mit den Lastern Habgier <strong>und</strong> Geiz (avaritia) beginnt man sich in Siena politisch<br />

zu befassen, als der Wucher <strong>die</strong> wirtschaftliche Entwicklung zu gefährden droht. Im<br />

September 1336 wird vom Consiglio generale erstmals ein Gesetz verabschiedet, das<br />

den bis anhin freien Geldverleih <strong>und</strong> das Pfandgeschäft einschränkt. <strong>Der</strong> oberste<br />

Zinssatz für den Geldverleih wird auf 10% festgesetzt, der Zinssatz für Pfandgeschäfte<br />

auf 15%:<br />

”Denn <strong>die</strong> lange Erfahrung habe gezeigt, dass etwas gegen den sich<br />

vergrössernden Schl<strong>und</strong> der Wucherei <strong>und</strong> <strong>die</strong> sich in der Folge ausbreitende<br />

Verzweiflung in der Stadt <strong>und</strong> im Distrikt <strong>von</strong> Siena getan werden müsse ...<br />

Ansonsten würden Handel <strong>und</strong> Handwerk in der Stadt gänzlich zerstört <strong>und</strong><br />

vom Schlechten verzehrt, bis hin zum Nichts, weil <strong>die</strong> Gewerbetreibenden<br />

<strong>die</strong> grossen <strong>und</strong> unerträglichen Kosten der Wucherei nicht begleichen<br />

können.” 70<br />

Beanstandet wird, dass ein jeder ins Zinsgeschäft einzusteigen versuche, auch<br />

Diener, Mägde, Handwerker, Witwen <strong>und</strong> Waisen. Dies bedeute aber, dass ”für <strong>die</strong><br />

Erhöhung eines einzelnen zahllose Leute in den Abgr<strong>und</strong> stürtzten.” 71 Trotz <strong>die</strong>ses<br />

Gesetzes hört der Unmut <strong>über</strong> Wucher <strong>und</strong> seine Zerstörung <strong>von</strong> Existenzen auch in<br />

der Folge nicht auf. So wird der Kommune im Consiglio generale weiterhin<br />

vorgeworfen, durch ihre Gesetzgebung den Wucher zu unterstützen, indem sie dafür<br />

sorge, dass <strong>die</strong> Schuldner gefangen genommen, eingekerkert <strong>und</strong> ihres Hab <strong>und</strong> Guts<br />

entledigt würden. Auch <strong>die</strong> Grausamkeit einiger Gläubiger wird beklagt. 72<br />

70 "In primis cum ex vera, longha et probata experientia demostretur quod nisi circa<br />

divulgatam voraginem et disperationem usurariorum civitatis et comitatus senensis provedeatur, ad<br />

quam avaritiam et perditionem nedum alii, set famuli et ancille et quod peius est vidue et foretanei, ac<br />

etiam artifices sunt dediti, ex quo mercantie et mercatores et artifices civitatis senensis totaliter sunt<br />

dispersi et de malo in peius consumando ad nicchilum sunt deducti, quia tam magnis et<br />

intollerabilibus costis usrarum respondere non possunt et inconveniens sit quod pro exaltatione unius,<br />

multi immo infiniti cecidant in prof<strong>und</strong>um ..." Statuti Senesi 23, cc. 496r-496v (September 1336),<br />

zitiert nach CARBONE (1977), II, S. 69 ff.<br />

71 Siehe vorangehende Fn.<br />

72 CARBONE (1977), II, S. 71 ff.<br />

191


Das Laster der vanagloria, der Eitelkeit oder Ruhmsucht, erfasst <strong>die</strong> Sieneser<br />

Gesetzgebung vor allem im Rahmen der Luxusordnung. 73 Zu grosse Prachtentftaltung<br />

wird als nicht ehrenhaft angesehen. Ins Visier genommen wird namentlich <strong>die</strong><br />

Aufmachung der Frauen. Ihnen wird das Tragen <strong>von</strong> langen Schleppen, echten<br />

Goldkronen <strong>und</strong> Perlenschmuck verboten. Kleider dürfen nicht mehr als fünf<br />

Perlenknöpfe zählen. Einschränkende Vorschriften werden auch für das Feiern <strong>und</strong><br />

Festen erlassen. <strong>Der</strong> Brauch, Geschenke auszutauschen, wird unterb<strong>und</strong>en, im Fall<br />

<strong>von</strong> Hochzeiten <strong>und</strong> Taufen wird der Höchstbetrag, den das Geschenk kosten darf,<br />

vorgeschrieben.<br />

Hochmut (superbia), Verrat (proditio), Zwietracht (discordia) <strong>und</strong> Grausamkeit<br />

(crudelitas) werden oft gemeinsam angeprangert. Besonders seit dem unglücklichen<br />

Krönungszug Kaiser Heinrichs VII. (1311-1313) - der zwar am Widerstand des<br />

Papstes <strong>und</strong> der Guelfen scheitert, der aber der ghibellinischen Partei in Italien wieder<br />

Auftrieb gibt - leidet Siena als guelfische Kommune unter Verschwörungen <strong>und</strong><br />

Rebellen. 74 Namentlich der Contado, das Umland <strong>von</strong> Siena, wird da<strong>von</strong> hart<br />

getroffen. Banden, zusammengesetzt aus Gesetzlosen, freigesetzten Söldnertruppen,<br />

Sieneser Aufständischen <strong>und</strong> nachbarlichen Gegnern aus Pisa <strong>und</strong> Arezzo fallen<br />

immer wieder in den Contado <strong>von</strong> Siena ein. Im Consiglio generale klagen Bürger,<br />

dass sich <strong>die</strong> Rebellen "angefeuert vom Geist des Teufels" sich mit den Feinden<br />

sowohl der Stadt Sienas <strong>und</strong> ihres Contado als auch der guelfischen Liga vereint<br />

hatten,<br />

"... um <strong>die</strong> Regierung der Nove zu stürzen <strong>und</strong> zu töten <strong>und</strong> ihre<br />

Beamten zu vertreiben. Vertreiben wollten sie auch alle Menschen, Frauen,<br />

Kinder <strong>und</strong> Männer, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Stadt Siena bis anhin im friedlichen Zustand<br />

bewohnt hatten, damit sie <strong>die</strong> Stadt <strong>und</strong> ihr Contado vollständig zerstören<br />

können. ... Unterstützt wurden <strong>die</strong> Rebellen <strong>von</strong> deutschen Söldnern,<br />

Pisanern <strong>und</strong> Aretinern <strong>und</strong> <strong>von</strong> anderen Gesetzlosen, Verrätern <strong>und</strong> Feinden<br />

der Stadt Siena ... Und sie rückten mit ihrem Heer gegen <strong>die</strong> Stadt<br />

Siena vor, vorbei an vielen Orten im Distrikt <strong>und</strong> Contado <strong>von</strong> Siena, <strong>die</strong><br />

r<strong>und</strong> um <strong>die</strong> Stadt Siena liegen. ... Sie nahmen <strong>die</strong> Menschen <strong>die</strong>ser Orte<br />

gefangen, plünderten <strong>und</strong> töteten sie. Viele Häuser, Paläste, Türme <strong>und</strong><br />

Glockentürme des sienesischen Distrikts <strong>und</strong> Contado legten sie auf<br />

hässliche <strong>und</strong> grausame Weise in Schutt <strong>und</strong> Asche. Und sie flüchteten<br />

73 Dazu LISINI (1930)<br />

74 Dazu BOWSKY (1960); DERS. (1972)<br />

192


nach Arezzo <strong>und</strong> Pisa <strong>und</strong> nach anderen den Sienesen feindlichen Orten ....<br />

Dies alles, um den friedlichen Zustand der Stadt <strong>und</strong> des Popolo <strong>von</strong> Siena<br />

<strong>und</strong> der guelfischen Partei <strong>und</strong> aller ihrer Fre<strong>und</strong>e zu zerstören <strong>und</strong> zu<br />

vernichten, bis Siena zerstört <strong>und</strong> verlassen dagelegen wäre, armselig, all<br />

seiner Ehre für immer beraubt ...." 75<br />

Die Reaktion der Kommune <strong>von</strong> Siena besteht zum einen aus dem Ausbau ihres<br />

Sicherheitsdispositivs. Sowohl <strong>die</strong> Milizarmee, zusammengesetzt aus Bewohnern der<br />

Stadt <strong>und</strong> des Contado, wie auch das Söldnerheer werden verstärkt. Zum anderen<br />

wird, um ”Liebe, Einheit <strong>und</strong> Eintracht unter den Bürgern zu erhalten,” <strong>die</strong><br />

Rekrutierungsbasis für das Regierungsamt der Nove erweitert, wenn auch in beschränkten<br />

Ausmass. 76<br />

Grosse Anstrengungen unternimmt <strong>die</strong> Kommune, um <strong>die</strong> Fehdelust (guerra)<br />

zwischen Familien zurückzudämmen <strong>und</strong> unkontrollierbare Volksausbrüche (furor) zu<br />

vermeiden <strong>und</strong> damit auch der Gefahr einer Teilung der Kommune (divisio)<br />

entgegenzutreten. Besonders im Visier hat <strong>die</strong> Kommune <strong>die</strong> Magnaten oder Casaten,<br />

also <strong>die</strong> Familienmitglieder der r<strong>und</strong> 50 grossen Häuser in Siena. In Gesetzen <strong>und</strong><br />

Voten des Consiglio generale werden sie regelmässig als emuli pacis, "Feinde des<br />

Friedens", beschimpft. 77 Ihnen wird vorgeworfen, <strong>die</strong> Gesetze nicht ausreichend zu<br />

respektieren. 78 Man fürchtet sie als Rebellen <strong>und</strong> Verräter der Kommune <strong>und</strong> wegen<br />

der Unruhe, <strong>die</strong> sie durch ihre Fehdebereitschaft stiften. 79 Trotz der Anstrengungen der<br />

Kommune, <strong>die</strong> Selbstjustiz zu verdrängen, ist <strong>die</strong> private Fehde auch noch im 14.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert ein Teil des gesellschaftlichen Ehrenkodex. 80 Da sie nicht gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

auszurotten ist, wird <strong>die</strong> Möglichkeit der Vergeltung auf den engen Familienkreis<br />

beschränkt. Doch wenn <strong>die</strong> grossen Geschlechter der Stadt in <strong>die</strong> Fehde verstrickt<br />

75 "... spiritu diabolico instigati et inflammati, deliberate et appensate fecerunt coniurationem<br />

.... ad destructionem et mortem status pacifici civitatis et populi sen. et partis guelfe et omnium<br />

amicorum suorum et ad hoc ut dicta civitas esset destructa et desolatat et omni suo honore perpetuo<br />

spoliata, privata et destructa ...." Consiglio Generale 95, cc. 163r-163v (April 1321); zitiert nach<br />

CARBONE (1977), II, S. 54 ff. Statuti senesi 23, c. 132v (März 1324), zit. n. CARBONE (1977), II, S.<br />

50 ff.<br />

76 "... de maiori numero dictum offitium reformare ad hoc ut inde inter cives amor, unitas et<br />

concordia consequetur ita quod civitas in quiete et pace auctore domino conservetur." ARCHIVIO DI<br />

STATO, SIENA: Statuti Senesi 18, c. 404r (13. September 1318); <strong>die</strong>sselbe Begründung wurde auch für<br />

<strong>die</strong> Vergrösserung der Rekrutierungsbasis im Jahr 1336 angeführt: Statuti senesi 23, c. 512r (Juli<br />

1336).<br />

77 Consiglio generale 119, c. 80v (Dezember 1336), zit. nach CARBONE (1977), II, S. 11<br />

78 Siehe CARBONE (1977), Bd. 1, S. 106 ff.<br />

79 Dazu RUBINSTEIN (1939)<br />

80 Siehe z.B. WALEY (A happy ending of a private feud)<br />

193


sind, droht der Kommune akute Gefahr auseinanderzubrechen, da <strong>die</strong>se Familien auf<br />

eine umfangreiche Sippe <strong>und</strong> Gefolgschaft im Volk zurückgreifen können. So tritt <strong>die</strong><br />

Sieneser Regierung der Nove immer wieder als Vermittler bei Familienfehden auf <strong>und</strong><br />

erzwingt <strong>die</strong> Aushandlung <strong>von</strong> Friedensverträgen. Ein Bruch <strong>die</strong>ser Friedensverträge,<br />

der Mord oder Körperverletzungen zur Folge hat, wird mit dem Tod bestraft. 81<br />

Um Gewalttaten auf den Strassen zu verhindern, gilt deshalb auch ein allgemeines<br />

Verbot, Waffen zu tragen. Ausgenommen da<strong>von</strong> sind nur jene, <strong>die</strong> einen Racheakt zu<br />

befürchten haben. Sie erhalten eine spezielle Bewilligung, dürfen aber nur sogenannte<br />

Defensivwaffen tragen. 82 Auf den Aufruf ”a l'arme a l'arme” (zu den Waffen), sei es<br />

um einen Staatsstreich zu inszenieren oder um einem einzelnen Bürger zu schaden,<br />

steht <strong>die</strong> Todesstrafe, falls in der Folge ein Bürger verletzt oder seines Besitzes<br />

beraubt wurde. 83 Ausserdem wird der Kampfsport verboten 84 <strong>und</strong> auch den Malern der<br />

Stadt wird nicht erlaubt, Schutzhelme zum Zweck des Spiels farblich zu gestalten. 85<br />

Besonders will <strong>die</strong>se Anordnung das giuoco de l'elmora treffen, ein beliebter<br />

Volkssport, bei dem <strong>die</strong> Bewohner der drei Stadtteile Sienas als Kämpfer auf dem<br />

Campo gegeneinander antreten. Das Spiel wird verboten, nachdem es 1325 <strong>die</strong><br />

Leidenschaften der Beteiligten entfesselt hatte <strong>und</strong> aus dem Faustkampf eine echte<br />

Schlacht wurde. 86 . Das Gemenge des spielerischen Kampfes hatte ausserdem<br />

Gelegenheit geboten, einen Volksaufstand oder eine Rebellion auszulösen. 87<br />

Betrug (fraus) im Geschäftsverkehr wird scharf geahndet. Auf Falschmünzerei<br />

<strong>und</strong> Urk<strong>und</strong>enfälschung steht gar <strong>die</strong> Todesstrafe. 88 Betrügerische Geschäftsleute<br />

werden im Palast der Kommune 89 <strong>und</strong> in den Zunfthäusern 90 öffentlich aufgemalt.<br />

Auch das Abbild <strong>von</strong> jenen, welche das Delikt des Verrats (proditio) begangen haben,<br />

prangt gemeinsam mit ihrer Tat an den Aussenwänden des Palasts der Kommune. 91<br />

Besonders gebrandmarkt werden auch Korruption <strong>und</strong> Betrug in den Gerichtshöfen.<br />

Um <strong>die</strong>se zu verhindern, ist es dem Podestà sowie allen auswärtigen Richtern<br />

<strong>und</strong> Notaren verboten, Geschenke <strong>von</strong> den Bewohnern Sienas <strong>und</strong> des Contado<br />

81 Const. 1337/39, III.147, c. 149v f.; Costituto 1309/10, V.50, II, S. 253 f.<br />

82 Costituto 1309/10, V.1 ff., II, S. 227 ff.; Const. 1337/39, III.1 ff., cc. 127r ff.<br />

83 Costituto 1309/10, V.13, II, S. 237 f.; Const. 1337/39, III.348, c. 183v<br />

84 Costituto 1309/10, V.55 ff., II,, S. 256 ff.; Const. 1337/39, V.31 ff., cc. 131v ff.<br />

85 Costituto 1309/10, V.55, Bd. II, S. 257 f.<br />

86 Siehe auch AGNOLO DI TURA DEL GRASSO (um 1350): Cronaca senese, ad annum 1325<br />

87 Ebd.<br />

88 Costituto 1309/10, V.296, Bd. II, S. 357<br />

89 Costituto 1309/10, V.90, Bd. II, S. 271 f.<br />

90 Zum Bsp. im Statuto dell' Arte della Lana, publiziert <strong>von</strong> MILANESI (1854-56)<br />

91 Const. 1337/39, III.340, c. 182rv<br />

194


anzunehmen, ”damit kein Gr<strong>und</strong> zur Vertrautheit mit irgend jemandem besteht.” 92<br />

Nicht erlaubt sind auch Kommissionen für <strong>die</strong> Richter nach der Urteilsverkündung. 93<br />

Ausserdem beauftragt <strong>die</strong> Kommune <strong>die</strong> Zunft der Richter <strong>und</strong> Notare, dafür zu<br />

sorgen, dass Betrug <strong>und</strong> Korruption sofort denunziert werden. Zweimal im Jahr laden<br />

<strong>die</strong> Richter <strong>und</strong> Notare entweder einen Franziskaner- oder Dominikanermönch ein,<br />

um den Zunftmitgliedern Standhaftigkeit in der Gesetzesanwendung zu predigen. 94<br />

Dennoch gibt es immer wieder Petitionen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> fehlende Rechtsdurchsetzung in<br />

den Gerichtshöfen anklagen. Es wird kritisiert, einige würden ohne Schuld in den<br />

Gefängnissen sitzen, ”nur weil sie nicht erschienen, um sich zu verteidigen, da sie vor<br />

der Barschheit der Richter Angst hatten.” 95 Den Richtern wird vorgeworfen, ”dass in<br />

den Gerichtshöfen kein anderes Recht herrsche als das Recht des Geldes.” 96 Die Folge<br />

sei, dass <strong>die</strong> bestochenen Richter falsch urteilen, <strong>die</strong> Unschuldigen dem Galgen<br />

ausliefern <strong>und</strong> <strong>die</strong> Schuldigen frei sprechen würden. 97 Kritik wird laut, dass das <strong>von</strong><br />

mächtigen Bürgern begangene Unrecht weniger geahndet werde als das der Armen. 98<br />

Auch hören <strong>die</strong> Befürchtungen nicht auf, <strong>die</strong> sich fragen, ”ob das Recht wirklich<br />

jedem <strong>die</strong>ne, der es gerichtlich beanspruche.” 99 Den Beamten der Kommune wird<br />

vorgeworfen, gegen Geld, <strong>die</strong> gerichtlich ausgesprochenen Verbannungen rasch<br />

wieder aufzuheben. 100 Immer wieder wird auch auf Ungerechtigkeiten in der<br />

Steuerpolitik hingewiesen. Während <strong>die</strong> Armen Sienas oder einzelne Contado-<br />

Gemeinden unter zu hohen Abgaben litten, würde manch Wohlhabender versuchen,<br />

92 Costituto 1309/10, I.173 ff., Bd. I, S. 159 ff., ebd.,V.486, II, S. 462<br />

93 Ebd., V.485, II, S. 461 f.<br />

94 Statuto dei giudici e notai (1303/06), S. 149<br />

95 "... et est verum quod aliqui, et precpue de comitatu, sunt in cerceribus sine culpa sed solum<br />

quia non comparuerunt et non venuerunt se defendere propter terrorem solum et dominorum et<br />

iudicorum asperitatem ..." Consiglio generale 60, c. 49v (August 1301), zit. nach CARBONE (1977),<br />

Bd. II, S. 43<br />

96 "... e che non si trova altra ragione che di fiorini, ma non si trova né per lege né per statuti<br />

..." A.S.S.: Consiglio generale 60, c. 91r (Dezember 1301); zit. nach CARBONE (1977), Bd. II, S. 79;<br />

siehe auch ebd., S. 81 ff.<br />

97 Ebd., S. 78 ff.<br />

98 Fallbeispiele <strong>von</strong> Petitionen wegen ungerechter Behandlung <strong>von</strong> "pauperes" <strong>und</strong> Klage, dass<br />

das Unrecht, das <strong>von</strong> "potentes" begangen wird, weniger untersucht werde: Consiglio generale 67, cc.<br />

54r-55r (Juli 1305); ebd. 84, cc. 44r-44v (Juli 1314); ebd. 85, cc. 140r-140v (Juni 1315); ebd. 74, cc.<br />

85v-86r (Febraur 1309) u. a. aus den Jahren 1308, 1310, 1312, 1313 <strong>und</strong> 1332; alle zitiert bei<br />

CARBONE (1977), Bd. II, S. 89 ff. <strong>und</strong> S. 102 ff.<br />

99 "... quod metus alicuius persone non cesset ius servare omni petenti, sec<strong>und</strong>um formam<br />

statuti ..." Consiglio generale 108, c. 72r (1329); zit. nach CARBONE (1977), Bd. 1, S. 160<br />

100 Immer wieder wurde Kritik am Cameraio der Biccherna, am Consiglio Generale <strong>und</strong> an<br />

anderen Ufficiali laut, wie leicht sie alle bereit seien, <strong>die</strong> Strafe der Verbannung durch eine Geldstrafe<br />

zu ersetzen: Consiglio generale 111, cc. 10r-10v (Januar 1331); Capitano del Popolo 1, c. 72v; siehe<br />

Carbone (1977), Bd. 1, S. 168 ff.; s. a. BOWSKY (1967)<br />

195


sich den Steuern zu entziehen; den Beamten, welche <strong>die</strong> Aufgabe haben, <strong>die</strong><br />

Vermögen der Einwohner Sienas <strong>und</strong> der Dörfer des Contado einzuschätzen, wird<br />

Parteilichkeit vorgeworfen. 101<br />

Die Schwierigkeiten, Recht <strong>und</strong> Gerechtigkeit durchzusetzen, führen auch hier zu<br />

verschärften Kontrollmechanismen der Kommune. Dafür zu sorgen, dass <strong>die</strong> pauperes<br />

<strong>und</strong> miserabiles vor Gewalttaten <strong>von</strong> Magnaten geschützt werden <strong>und</strong> <strong>die</strong>se nicht<br />

ungeahndet blieben, ist verfassungsmässig <strong>die</strong> Aufgabe des Capitano del Popolo.<br />

Immer wieder wird er in Petitionen <strong>von</strong> Bürgern daran erinnert. 102 Zu seiner<br />

Unterstützung betraut man schliesslich auch den Söldnerführer der Kommune damit,<br />

den Capitano di Guerra. Im Jahr 1329 wird ausserdem ein Gesetz erlassen, dass den<br />

Podestà dazu auffordert, alle drei Monate jeden einzelnen Advokaten <strong>und</strong> Prokurator<br />

zu kontrollieren, ob er sich des Betruges, der Korruption oder anderer unrechtmässiger<br />

Delikte schuldig gemacht habe. Gerechtigkeit in der Steuerpolitik erhofft man sich<br />

durch <strong>die</strong> Tavola dei possessioni, einer Zusammenstellungen <strong>von</strong> allem mobilen <strong>und</strong><br />

immobilen Eigentum, das <strong>die</strong> Einwohner <strong>von</strong> Siena in der Stadt <strong>und</strong> im Contado<br />

besitzen. 103<br />

6.5. Die Krise der italienischen Kommunen<br />

Die vielen uns <strong>über</strong>lieferten Lamenti <strong>und</strong> politischen Voten zeugen einerseits vom<br />

freien Geist, der in den Kommunen Italiens herrscht <strong>und</strong> der regen Anteilnahme der<br />

Bürger am politischen Geschehen. Andererseits sind sie aber auch Zeugnis der Krise,<br />

in der sich <strong>die</strong> italienischen Kommunen im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert befinden.<br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> hat es vermieden, durch besondere architektonische oder<br />

geographische Details <strong>die</strong> Stadt zu kennzeichnen. Es könnte irgendeine italienische<br />

Stadt mit wehrhaften Mauern, Geschlechtertürmen, Loggien <strong>und</strong> Plätzen sein. Die<br />

Häuser sind sowohl aus grauem Stein <strong>und</strong> weissem Marmor wie auch aus rotem<br />

Ziegel. Selbst eine Kirche mit einem schönen Turm ist zu sehen, dessen Fensterbögen<br />

101 Zum Beispiel Consiglio generale 41, cc. 91r-91v (Mai 1291); ebd. 56, c. 38r (1299); ebd.<br />

87, cc. 172v-173r (November 1316); ebd., cc. 57r-60r (Juli 1316); ebd. 122, c. 47r (1338) ; Statuti<br />

senesi 23, c. 27v (Juli 1322); siehe ausführlich CARBONE (1977), Bd. 1, S. 185 ff.; ebd., II, S. 116 ff.<br />

102 ”Non è d'altronde un caso la reiterata frequenza con cui si ricorda al capitano del popolo di<br />

esporre tuttal la sua autorità nella difesa delle ‘pauperes’ e ‘miserabiles persone’ ‘ad hoc ut per<br />

potentes non graventur, sed habeant per quem in sua iustitia defendantur contra quoscumque’.<br />

CARBONE (1977), Bd. 1, S. 90; s.a. Statuti senesi 29, 25r-25v (1313-1322)<br />

103 Zur Tavola dei possessioni siehe BOWSKY (1970), S. 87 ff.; CHERUBINI (1977), S. 231 ff.<br />

<strong>und</strong> siehe oben Kapitel eins.<br />

196


jene weissen Travertinsäulchen zieren, <strong>die</strong> auf den orientalischen Einfluss in der<br />

gotischen Architektur Italiens hinweisen. Direkt vor der Stadt steigen sanfte Hügel zu<br />

rauhen Bergkuppen an. Zwischen den Trümmern <strong>und</strong> Rauchschwaden der verbrannten<br />

Erde wachsen noch vereinzelt Olivenbäume. Meer ist keines zu sehen, jedoch ein<br />

Wasserlauf, der <strong>von</strong> den Anhöhen niederrauscht.<br />

Das Bild <strong>von</strong> Gewaltszenen, wo Krieg, Zerstörung, Unrecht <strong>und</strong> Furcht <strong>die</strong> Stadt<br />

<strong>und</strong> ihr Contado niederzwingen, ist den Bürgern der italienischen Kommunen nicht<br />

unbekannt; kaum ein grösserer Ort ist während des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>von</strong><br />

Parteikonflikten, Bürgerkrieg <strong>und</strong> Rebellionen verschont geblieben, <strong>die</strong> in den<br />

Lamenti so beklagt werden. 104 Politisch sind <strong>die</strong> zahlreichen Kommunen, <strong>die</strong> sich um<br />

1100 in den Städten Mittel- <strong>und</strong> Oberitaliens formiert hatten, bis ins frühe 14.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert deshalb fast alle gescheitert. Vielerorts wurden <strong>die</strong> Bürgerräte aufgelöst<br />

oder sie führen nur mehr ein Schattendasein. An <strong>die</strong> Stelle der fremden, <strong>von</strong> den<br />

Kommune für eine beschränkte Amtszeit gewählten Podestà <strong>und</strong> Capitani del Popolo<br />

sind meist alleinherrschende Signori getreten, <strong>die</strong> alle danach trachten, eine<br />

Familiendynastie zu begründen. In Mailand zum Beispiel bauen seit 1277 <strong>die</strong> Visconti<br />

ihre Herrschaft <strong>über</strong> <strong>die</strong> Lombardei aus, während in Verona seit 1262 <strong>die</strong> Familie<br />

della Scala regiert, deren Macht in den Dreissiger Jahren des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts bis in<br />

<strong>die</strong> Emilia <strong>und</strong> in <strong>die</strong> Toscana, nach Lucca, reicht. Nördlich des Apennins haben<br />

solche Herrschaften <strong>von</strong> einzelnen Signori oder Familien <strong>die</strong> Kommunen bis ins Jahr<br />

1338, als der <strong>Freskenzyklus</strong> entsteht, vollständig verdrängt. Einzig Venedig ist noch<br />

eine Stadtrepublik, <strong>die</strong> wie <strong>die</strong> Kommunen auf den Gr<strong>und</strong>sätzen der Rechtsherrschaft,<br />

Machtteilung <strong>und</strong> Machtkontrolle beruht. Doch nicht nur in Oberitalien, wo sich <strong>die</strong><br />

Einzelherrschaft zunächst durchgesetzt hat, schwindet <strong>die</strong> Kommune als Machtträger<br />

<strong>und</strong> politische Organisationsform. In der Nachbarschaft Sienas sind im Jahr 1338 nur<br />

noch Florenz im Norden <strong>und</strong> Perugia im Süden unabhängige Kommunen. In den<br />

anderen Städten der Toskana hat sich entweder <strong>die</strong> Herrschaft einer Familie<br />

durchgesetzt, wie z. B. in Pisa <strong>die</strong> Donatico, oder <strong>die</strong> Stadt ist unter <strong>die</strong> Herrschaft<br />

eines Kriegsherrn gefallen, wie z. B. Lucca, das 1338 zum Territorium Mastino II.<br />

della Scala gehört. Andere Städte wiederum, <strong>die</strong> einst ebenfalls unabhängige<br />

Kommunen waren, wie z. B. Prato, Pistoia <strong>und</strong> Arezzo gehören 1338 zum<br />

Einzugsgebiet <strong>von</strong> Florenz, während Siena sein Contado in Richtung Süden <strong>über</strong><br />

Massa Marittima <strong>und</strong> Grossetto ausgedehnt hat.<br />

104 U. a. WALEY (1969), S. 128 ff.; TABACCO (1979), S. 352 FF.; MARTINES (1979), S. 62 ff.;<br />

ebd., S. 94 ff.; JONES (1997) <strong>und</strong> oben, Kapitel eins<br />

197


Sind nicht Einzelherrscher an der Macht, droht den Kommunen <strong>die</strong> Gefahr der<br />

Oligarchisierung. 105 Die politische Macht konzentriert sich immer mehr in einem<br />

kleinen Regierungsrat, der <strong>von</strong> der oberen Mittelschicht dominiert wird. Das Ideal der<br />

Kommune ist aber auch noch im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert eine breite<br />

Regierungsbeteiligung, an der sowohl <strong>die</strong> Reichen <strong>und</strong> Mächtigen wie auch <strong>die</strong><br />

Mittelschicht <strong>und</strong> <strong>die</strong> Kleinen teilhaben. 106 So ist auch <strong>die</strong> Regierung der mezza gente<br />

in Siena jeweiligem Druck <strong>von</strong> oben <strong>und</strong> unten ausgesetzt. Die gefährlichste Rebellion<br />

erlebt <strong>die</strong> Regierung der Nove 1318, als <strong>die</strong> mächtige Familie der Tolomei versucht,<br />

<strong>die</strong> Macht an sich zu reissen. Ihr Staatsstreich blieb jedoch erfolglos, da ihnen <strong>die</strong><br />

Unterstützung eines grossen Teils der Bevölkerung fehlt.<br />

Ein Gr<strong>und</strong> für das verbreitete Scheitern der Kommunen in Mittel- <strong>und</strong> Oberitalien<br />

sind zum einen <strong>die</strong> starken anarchischen Tendenzen, <strong>von</strong> der <strong>die</strong> Gesellschaft auch<br />

noch im 13. <strong>und</strong> frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert geprägt ist <strong>und</strong> gegen <strong>die</strong> sich <strong>die</strong> Kommune<br />

als Machtträgerin durchzusetzen hat. 107 Die anarchischen Tendenzen, <strong>die</strong> auf <strong>die</strong><br />

feudale Gesellschaftsordnung der postkarolingischen Anarchie zurückgehen, paaren<br />

sich mit weiterhin starken Bindungen an einzelne Personen <strong>und</strong> Geschlechtsverbände.<br />

Sie beeinträchtigen innerhalb der städtischen Gesellschaft den Aufbau friedlicher<br />

Konfliktlösungsmechanismen. Zum anderen werden <strong>die</strong> Machtkämpfe, <strong>die</strong> für <strong>die</strong><br />

Bürger der unterlegenen Partei meist das politische Exil bedeuten, <strong>von</strong> den Rivalitäten<br />

der Städte untereinander gefördert. Zum Nachteil wirkt sich für <strong>die</strong> Kommunen auch<br />

aus, dass <strong>die</strong> Signori, <strong>die</strong> sich in Oberitalien seit Mitte des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts als<br />

Stadtherrn aufschwingen, militärisch oft schlagkräftiger sind <strong>und</strong> aggressiver <strong>die</strong><br />

Vergrösserung <strong>und</strong> Vereinheitlichung ihres Territoriums vorantreiben. Die Wahl <strong>von</strong><br />

Signori in Kommunen, <strong>die</strong> bis Ende des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>die</strong> Regierung der<br />

Bürgerschaft aufrecht erhalten haben, geschieht meist zur Zeit militärischer<br />

Bedrängnis. Verstärkt werden all <strong>die</strong>se Rivalitäten schliesslich <strong>von</strong> den<br />

gegensätzlichen Interessen der Päpste <strong>und</strong> Kaiser in Italien. Sie spielen in den lokalen<br />

Konflikten <strong>die</strong> Rolle <strong>von</strong> Polarisierungsmächten <strong>und</strong> prägen <strong>die</strong> Parteinamen der<br />

Guelfen <strong>und</strong> Ghibellinen. Seit dem Tod Friedrich II. 1250 ist das Kaisertum in Italien<br />

jedoch nur noch zur Zeit der Romzüge präsent, 1310/13 Heinrich VII. <strong>und</strong> 1327/29<br />

Ludwig der Bayer. Das Papsttum resi<strong>die</strong>rt nach der Niederlage Bonifaz VIII. gegen<br />

das französische Königshaus seit 1309 in Avignon. Die Päpste sind französischer<br />

105 TABACCO (1979), S. 330 ff.; MARTINES (1979), S. 130 ff.<br />

106 GIOVANNI VILLANI : Nuvoa Cronica, XI.118; HYDE (1972), S. 280<br />

107 TABACCO (1979)<br />

198


Herkunft. Engster Alliierter der Päpste ist in Italien des frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>erts König<br />

Robert <strong>von</strong> Anjou, der in Neapel resi<strong>die</strong>rt <strong>und</strong> <strong>über</strong> das südliche Italien herrscht, ohne<br />

das aragonesische Sizilien.<br />

Doch nicht nur <strong>die</strong> Kommune als politische Organisationsform ist Anfang des 14.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts in der Defensive. Gleichzeitig wankt auch das Selbstverständnis des<br />

städtischen Bürgertums, das <strong>die</strong> kommunale Entwicklung in Italien <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Durchsetzung <strong>von</strong> Rechtsherrschaft im 13. Jahrh<strong>und</strong>ert vorangetrieben hatte.<br />

Die Widersprüche jener Zeit zeigen sich gerade auch an der Figur Dantes, der im<br />

kommunalen Umfeld gross geworden ist. 108 So ist er einerseits <strong>von</strong> der Erziehbarkeit<br />

der Menschen <strong>über</strong>zeugt <strong>und</strong> schreibt deshalb seine Commedia auch absichtlich in der<br />

Volkssprache. 109 Er glaubt an den Seelenadel im Gegensatz zum Geburtsadel 110 <strong>und</strong> an<br />

<strong>die</strong> individuelle Entfaltung des einzelnen. 111 Gleichzeitig zeichnet er jedoch ein<br />

Idealbild <strong>von</strong> einer Gesellschaft, das an einem idealen Rittertum der alten<br />

Geschlechter orientiert ist. 112 Die Auswüchse des kommerziellen Aufstiegs der<br />

italienischen Kommunen verursachen bei ihm eine Rückwendung zu einer<br />

idealisierten Vergangenheit, als cortesia <strong>und</strong> larghezza noch wahre Tugenden waren.<br />

Die Geldwirtschaft, <strong>die</strong> Dante letztlich verachtet, legte damals jedoch <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>lagen,<br />

<strong>die</strong> den Gedanken an individuelle Entfaltung <strong>und</strong> Seelenadel erst möglich machten.<br />

Das kommerzielle Wachstum liess individuellen Aufstieg zu, finanzierte den relativ<br />

hohen Bildungsstand in den italienischen Kommunen <strong>und</strong> sorgte dafür, dass sich im<br />

politischen Leben Bürger durchsetzten, <strong>die</strong> nach der unpersönlichen Herrschaft des<br />

Rechts streben, durch welche <strong>die</strong> Selbstjustiz des feudalen Familienverbandes<br />

zurückgedrängt wurde. 113<br />

108 Dazu BECKER (1966); HYDE (1972); JONES (1978), S. 258 ff.; MARTINES (1979), S. 81 ff.<br />

Dazu auch OTTIMO-COMMENTO (1334), Bd. III, S. 445: <strong>Der</strong> Florentiner Notar, der den Ottimo-<br />

Commento geschrieben hat, war ein grosser Verehrer des Seelenadels <strong>und</strong> der römischen Republik.<br />

Gleichzeitig verurteilt er aber <strong>die</strong> Könige <strong>von</strong> Portugal <strong>und</strong> Norwegen für ihren bürgerlichen <strong>und</strong><br />

<strong>über</strong>haupt nicht königlichen Hofstaat: ”Riprende il re di Portogallo, però che tutto dato ad acquistare<br />

avere, quasi come uno mercatante mena sua vita, e con tutti li grossi mercatanti del suo regno ha<br />

affare di moneta: nulla cosa reale, nulla cosa magnifica si puote scrivere di lui; e meno di quello di<br />

Norvegia, però che sì come le sue isole sono partite ad ultimo estremo dalla terra, così la sua vita è in<br />

istremo di razionabilitade e di civilitade.”<br />

109 Vgl. Convivio, I.1<br />

110 Convivio , IV.3 ff., S. 271 ff.; dazu s. a. unten Kapitel 9.3.<br />

111 Dazu siehe BUCK (1987), S. 158 ff.<br />

112 DANTE (1321): Paradiso XV.97 ff., S. 708 ff.<br />

113 Dazu besonders BECKER (1966), S. 671 ff.; MARTINES (1979), S. 81 ff.; vgl. JONES (1978)<br />

199


<strong>Der</strong> Sieneser Kommune <strong>und</strong> der Regierung der Nove gelingt es schliesslich, bis<br />

ins frühe 14. Jahrh<strong>und</strong>ert weder <strong>die</strong> Selbständigkeit zu verlieren, noch das System der<br />

Kommune aufzugeben. Doch das Schreckgespenst des Inferno, das in so vielen Teilen<br />

Italiens zeitweise Wirklichkeit wird, ist letztlich auch für <strong>die</strong> Sieneser Kommune<br />

nichts Unbekanntes. Wenden wir uns nun der nächsten Wand zu <strong>und</strong> vertiefen das<br />

Thema der Läuterung mit den zwei Elementen, <strong>die</strong> Dante in der Commedia<br />

vorgezeichnet hat: Individuelle Tugend <strong>und</strong> politische Reformen, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

Gerechtigkeit verwirklichen. Wie <strong>die</strong>se zwei Elemente in Italien <strong>und</strong> in Siena zur Zeit<br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s diskutiert werden <strong>und</strong> wie sie sich im Bild des Palazzo<br />

Pubblico manifestieren, ist Gegenstand des nächsten Kapitels: Das Purgatorium in der<br />

Allegorie des Buon Governo.<br />

200


7. Das Purgatorium in der Allegorie des Buon Governo<br />

7.1. Politische Reformansätze <strong>und</strong> individuelle Läuterung<br />

Dantes Commedia ist einerseits ein grosses Lamento <strong>über</strong> <strong>die</strong> zeitgenössischen<br />

Verhältnisse, andererseits zeigt sie aber auch einen Weg aus dem status miseriae auf:<br />

Dieser Weg beruht zum einen auf der individuellen Läuterung <strong>und</strong> dem Streben nach<br />

Tugend, zum anderen auf politischen Reformen, <strong>die</strong> Rechtsdurchsetzung garantieren<br />

<strong>und</strong> damit einen Raum der Gerechtigkeit <strong>und</strong> des Friedens begründen. In den drei<br />

zentralen Gesängen des Purgatorio (XVI, XVII, XVIII), <strong>die</strong> ausserdem genau <strong>die</strong><br />

Mitte aller Gesänge der Commedia sind, beschreibt Dante sowohl seine Vorstellungen<br />

zur politischen Ordnung als auch seine Idee <strong>von</strong> der Tugend. Für <strong>die</strong> mittlere Wand<br />

des <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>über</strong>nimmt <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> <strong>die</strong>se beiden Gr<strong>und</strong>ideen zur<br />

Erreichung individueller Glückseligkeit. Um den Weg vom Inferno zum irdischen<br />

Para<strong>die</strong>s zu gehen, sind einerseits politische Reformen nötig, <strong>die</strong> einen Raum der<br />

Gerechtigkeit <strong>und</strong> des Friedens schaffen, andererseits individuelle Tugend. Den<br />

politischen Reformansatz veranschaulichen <strong>die</strong> Figur der Kommune <strong>und</strong> <strong>die</strong> grosse<br />

Justitia links aussen. Die Idee der individuellen Läuterung versinnbildlichen <strong>die</strong><br />

Tugenden, <strong>die</strong> sich auf der Thronbank <strong>und</strong> oberhalb der Figur der Kommune befinden.<br />

Die Pax indessen, <strong>die</strong> aus der Reihe herausragt, verheisst das Glück vom Frieden, das<br />

durch Gerechtigkeit <strong>und</strong> Tugend eintrifft.<br />

Die politischen Reformvorschläge, <strong>über</strong> <strong>die</strong> im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert gesprochen<br />

wird, setzen auf drei unterschiedlichen politischen Ebenen an: auf universaler Ebene,<br />

auf der Ebene Italiens sowie auf regionaler oder lokaler Ebene.<br />

Dante ist im Italien des frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>erts der herausragende Verfechter<br />

eines Weltkaisertums. 1 Ausführlich bespricht er <strong>die</strong>ses in der Monarchia, während er<br />

im XVI. Gesang des Purgatorio seine Vorstellung dar<strong>über</strong> zusammenfasst: Er wünscht<br />

sich ein <strong>von</strong> den päpstlichen Herrschaftsansprüchen unabhängiges Kaisertum, das<br />

seinen Sitz in Rom hat <strong>und</strong> als Schiedsrichter <strong>über</strong> den einzelnen Gemeinwesen steht.<br />

Die Durchsetzung des römischen Rechts soll Ungerechtigkeiten <strong>und</strong> Kriege<br />

verhindern, zur Erziehung der Menschen beitragen <strong>und</strong> dem einzelnen den Freiraum<br />

schaffen, sich als Mitglied einer dem Kaiser untergeordneten, politischen<br />

Gemeinschaft sittlich zu vervollkommnen. 2 Dantes Idealbild eines Herrschers<br />

1 Convivio, IV.4.; Purgatorio VI.76 ff.; ebd. XVI.94 ff. sowie ausführlich in Monarchia<br />

2 Siehe u. a. BUCK (1976/77), S. 20; D'ENTRÈVES PASSERIN (1952), S. 26 ff.; Kommentar zur<br />

Ausgabe der Monarchia <strong>von</strong> IMBACH / FLÜELER (1989)<br />

201


entsprechen <strong>die</strong> biblischen Könige David, Salomo <strong>und</strong> Ezechia, Ripheus aus Troja, <strong>die</strong><br />

römischen Kaiser Trajan <strong>und</strong> Konstantin sowie der Normannenkönig Wilhelm II.<br />

(1166-1189). 3 Für <strong>die</strong> Personen der zeitgenössischen Herrscher <strong>und</strong> Kaiser hat er<br />

jedoch wenig <strong>gute</strong> Worte übrig. Gegen <strong>die</strong> Lebenden hält er im Paradiso eine<br />

Strafrede; <strong>die</strong> im Jahr 1300 schon Verstorbenen büssen aufgr<strong>und</strong> ihrer Habsucht <strong>und</strong><br />

Machtgier entweder im Purgatorio oder sind wie Kaiser Friedrich II. (1210-1250), den<br />

er zu den Epikuräern zählt, im Inferno zu finden. 4 Ausgenommen <strong>von</strong> Dantes<br />

Invektiven ist nur Kaiser Heinrich VII. (1308-1313), <strong>von</strong> dem er sich vergeblich <strong>die</strong><br />

Verwirklichung des Weltkaisertums erhofft hatte. 5 Im päpstlichen Machtstreben<br />

indessen sieht Dante einen der wesentlichen Gründe, weshalb <strong>die</strong> Habsucht auf Erden<br />

um sich greife, <strong>die</strong> nur Krieg <strong>und</strong> Unheil verursache. Für <strong>die</strong> geistlichen Würdenträger<br />

zähle nur noch das kanonische Recht, während das Evangelium schweige. 6 <strong>Der</strong> Kirche<br />

verweigert Dante deshalb jegliche weltliche Herrschaft, ordnet sie <strong>die</strong>ser aber nicht<br />

unter. Er lässt ihr <strong>die</strong> Unabhängigkeit der ”zweiten Sonne”, beschränkt ihr<br />

Tätigkeitsfeld aber auf <strong>die</strong> Seelsorge. 7<br />

Für eine politische Lösung , <strong>die</strong> nicht in Weltdimensionen denkt, aber <strong>die</strong> gesamte<br />

Peninsula Italien umfasst, setzt sich in den Dreissiger Jahren des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts zum<br />

Beispiel <strong>die</strong> Kommune <strong>von</strong> Prato ein. Nachdem Prato, das sich in der Nachbarschaft<br />

<strong>von</strong> Florenz befindet, im Jahr 1328 den napolitanischen König Robert <strong>von</strong> Anjou als<br />

ihren Herrn anerkannt hat, gibt es ein reich illustriertes Prachtmanuskript in Auftrag,<br />

das den König <strong>von</strong> Neapel als Friedensbringer <strong>und</strong> Retter Italiens preist. 8 Mit dem Text<br />

der Dichtung <strong>die</strong>ses Carmine Regiae betraut sie den einheimische Notar Convenevole<br />

da Prato, ein Lehrer <strong>von</strong> Petrarca. In der Carmine Regiae wird König Robert <strong>von</strong><br />

Anjou aufgerufen, <strong>über</strong> Italien ein Königreich zu errichten, den Stuhl Petri nach Rom<br />

zurückzuführen <strong>und</strong> eine Kirchenreform einzuleiten. 9 Auch hier wird der verderbte<br />

Zustand der Kirche als wesentliche Ursache des sittlichen Niedergangs in Italien<br />

genannt. Dem Klerus wird vorgeworfen, dass er keine Reue für sein entartetes Leben<br />

zeige <strong>und</strong> meine, sich vor weltlichen Gerichten nicht verantworten zu müssen, sondern<br />

danach strebe, eine weltliche Herrschaft zu errichten. In der Folge würden Papst <strong>und</strong><br />

Klerus geringgeschätzt <strong>und</strong> viele würden sich dem Gottes<strong>die</strong>nst entfremden, weshalb<br />

3 Paradiso XX.37 ff.<br />

4 Paradiso IXX.100 - 148, Purgatorio VII.64 ff.; Inferno X.119<br />

5 Paradiso XXX.133 ff.<br />

6 Paradiso XXIX.94 ff.<br />

7 Purgatorio XVI.65 ff., S. 427 ff. <strong>und</strong> Fn. 1<br />

8 CONVENEVOLE DA PRATOS Carmine Regiae war ein Auftragswerk der Kommune <strong>von</strong> Prato;<br />

siehe Einleitug der Ausgabe <strong>von</strong> Grassi 1982.<br />

9 Ebd., 37a, vv. 1 ff., S. 66 f.; ebd., 38, vv. 1 ff.; ebd. 43a, vv. 1 ff., S. 70 f.; ebd., 53, bes. vv.<br />

25 ff., S. 79<br />

202


Gottlosigkeit <strong>und</strong> letztlich generellen Missachtung <strong>von</strong> Ehre <strong>und</strong> Sittlichkeit um sich<br />

griffen. 10<br />

Marsilius <strong>von</strong> Padua legt in den Zwanziger Jahren des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts einen<br />

theoretischen Entwurf vor, der auf der Idee der Volkssouveränität aufbaut. 11 Seinen<br />

Defensor Pacis schreibt auch er in der konkreten Absicht, ein politisches Modell zu<br />

entwerfen, das den Frieden in Italien sichern soll. Wie Dante oder <strong>die</strong> Kommune <strong>von</strong><br />

Prato sieht auch er im Verlangen der Kurie nach weltlicher Macht <strong>die</strong> Hauptquelle für<br />

den in Italien so oft beklagten Unfrieden. Doch zweifelt er an der Idee des<br />

Weltkaisertums. Er ist sich nicht sicher, ob es nicht zweckmässiger sei, aufgr<strong>und</strong> der<br />

Vielfalt <strong>von</strong> Sprachen <strong>und</strong> Sitten auf ein Weltkaisertum zugunsten einer Staatenwelt<br />

<strong>von</strong> Individualeinheiten zu verzichten. 12 Ohne sich dabei auf eine bestimmte<br />

Staatsform festlegen zu wollen, warnt er jedoch davor, in der Gesetzgebung jemals<br />

einem Herrscher freie Hand zu geben. 13 Denn für Marsilius <strong>von</strong> Padua, der im<br />

Defensor pacis auf seiner Erfahrung als Bürger einer italienischen Kommune aufbaut,<br />

besitzt allein das Volk das Recht auf Gesetzgebung. Gesetze sind deshalb entweder<br />

<strong>von</strong> der Gesamtheit der Bürger oder <strong>von</strong> einem Teil der Bürger, dem valentior pars,<br />

der <strong>die</strong> Gesamtheit repräsentiert, zu verabschieden. Gleichzeitig entwirft er eine<br />

Ordnungskonzeption, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Kirche dem Staat unterordnet <strong>und</strong> ihr jeglichen Anspruch<br />

versagt, auf der Gr<strong>und</strong>lage des religiösen Glaubens in irdische Angelegenheiten<br />

einzugreifen. Befugt, den irdischen Bereich zu regeln, ist allein der weltliche<br />

Gesetzgeber.<br />

Die politische Entwicklung, <strong>die</strong> sich im Italien des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts letztlich<br />

durchsetzt, ist <strong>die</strong> Ausbildung <strong>von</strong> staatlichen Individualeinheiten auf regionaler <strong>und</strong><br />

lokaler Ebene. Weder sind <strong>die</strong> Macht <strong>und</strong> das Interesse der deutschen Kaiser genügend<br />

gross, um eine Universallösung im Sinne Dantes zu erzwingen, noch kann das Haus<br />

Anjou, das in Neapel resi<strong>die</strong>rt, seine Herrschaft auf ganz Italien ausdehnen.<br />

Gleichzeitig ist das Papsttum, das ebenfalls Machtansprüche erhebt, im frühen 14.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert in Italien wenig präsent; denn in den Jahren 1306 bis 1377 resi<strong>die</strong>rt der<br />

päpstliche Hof, mit französischen Päpsten an seiner Spitze, in Avignon. Diese<br />

politische Entwicklung, <strong>die</strong> sich bis in <strong>die</strong> 30er Jahre des frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

verfestigt hat, wird auch im <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s sichtbar: Dantes<br />

Weltgedicht erhält seinen Wirkungsraum im politischen Raum der Sieneser<br />

Kommune. Sie sieht sich als Herrschaftsträgerin, <strong>die</strong> auf der Gr<strong>und</strong>lage <strong>von</strong> Gesetzen<br />

10 Ebd., 55 , vv. 24 ff., S. 84 ff.<br />

11 Zu Marsilius <strong>von</strong> Padua siehe u. a. BLYTHE (1991), S. 193 ff.; RAUSCH (1986), S. 150 ff.,<br />

beide mit Literaturangaben<br />

12 Dazu auch VASOLI (1975), S. 55<br />

13 Dazu besonders RUBINSTEIN (1965)<br />

203


alleine für <strong>die</strong> öffentliche Ordnung verantwortlich ist, um einen Raum der<br />

Gerechtigkeit, Tugend <strong>und</strong> des Friedens zu schaffen.<br />

Die These, dass Dantes Universalkonzeption in Siena auf den politischen Raum<br />

der Kommune <strong>über</strong>tragen wurde, drängt sich nicht zuletzt auch auf, weil <strong>die</strong><br />

Commedia im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert das grosse Buch der Läuterung ist: Sie vereint<br />

nicht nur ihren politischen Reformvorschlag mit der Klage <strong>über</strong> <strong>die</strong> zeitgenössischen<br />

Verhältnisse, sondern auch mit der individuellen Läuterung. Dabei legt Dante das<br />

besondere Gewicht gerade auf <strong>die</strong> persönliche renovatio, während <strong>die</strong> politischen<br />

Reformvorschläge auf <strong>die</strong> Schaffung <strong>von</strong> politischen Rahmenbedingungen<br />

ausgerichtet sind, <strong>die</strong> <strong>die</strong> individuelle Entfaltung <strong>von</strong> Tugend <strong>und</strong> damit Glückseligkeit<br />

ermöglichen. Denn er ist <strong>über</strong>zeugt da<strong>von</strong>, dass das Menschengeschlecht an sich nicht<br />

verwerflich ist, es aber an Möglichkeiten der individuellen Entfaltung fehlt:<br />

”So oft Natur ihr feindlichen Geschicken<br />

begegnet, bringt sie üble Frucht hervor,<br />

so wie der Samen tut auf falschem Boden.<br />

Wenn auf den Gr<strong>und</strong>, den <strong>die</strong> Natur gelegt hat,<br />

achthaben wollte eine Welt, so könnte<br />

ein wohlgeartetes Geschlecht sie haben;<br />

ihr aber zwingt zum Ordenskleide manchen,<br />

der <strong>die</strong> Natur bestimmt, das Schwert zu tragen,<br />

<strong>und</strong> macht zum König, der zum Pfaffen taugt;<br />

drum muss ein Weg abirren <strong>von</strong> der Strasse.” 14<br />

Gr<strong>und</strong>lage <strong>von</strong> jeglichem Glück ist in der Commedia <strong>die</strong> Ausbildung des freien<br />

Willens, <strong>die</strong> Gott dem Menschen als grösste Gabe geschenkt hat. 15 Diese zentrale<br />

Bedeutung, <strong>die</strong> dem einzelnen während des Läuterungsprozesses zuteil wird, gab dem<br />

Werk auch seine universelle Gültigkeit, unabhängig vom konkreten politischen Raum.<br />

Es spricht in einem christlichen Universum jeden an, der nach individueller<br />

Glückseligkeit auf Erden strebt, <strong>die</strong> Dante dem antiken, in der Philosophie <strong>und</strong> der<br />

Vernunft begründeten Tugendideal gleichsetzt. Die Politik selbst ist nicht ein Ziel an<br />

sich, sondern sie ist ein Instrument, um Rahmenbedingungen zu schaffen, <strong>die</strong><br />

Gerechtigkeit <strong>und</strong> Frieden garantieren.<br />

All <strong>die</strong> frühen Kommentatoren nehmen Dantes Selbstverständnis der Commedia<br />

auf, „<strong>die</strong> Lebenden aus dem Zustand des Elends in <strong>die</strong> Glückseligkeit zu führen.“ <strong>und</strong><br />

14 Paradiso VIII.139 ff.<br />

15 Purgatorio XVI.67 ff; ebd., XXVII.139 ff.; Paradiso V.19 ff.<br />

204


sehen sich als Mitstreiter im Kampf gegen <strong>die</strong> zeitgenössischen Missstände. 16 Die<br />

Commedia gilt als Ausdruck des menschlichen Aufbruchs zur Vollkommenheit aus<br />

dem freien Willen heraus 17 <strong>und</strong> als Hilfe für <strong>die</strong> Entwicklung des einzelnen <strong>und</strong> der<br />

ganzen Menschheit, für <strong>die</strong> der Mensch <strong>die</strong> Kraft in sich selbst findet. 18 In <strong>die</strong>sem<br />

Sinne wird sie vor allem in den Kommunen Mittelitaliens rezipiert, woher fast alle<br />

frühen Kommentatoren kommen. Auch Jacopo della Lana stellt seinen Kommentar<br />

unter das Motto des menschlichen Entwicklungsvermögens. Er fordert den einzelnen<br />

auf, sich mehr als ursprünglich gedacht zuzutrauen <strong>und</strong> glaubt an <strong>die</strong> Lernfähigkeit<br />

seines Publikums. 19 Im Ottimo-Commento wird <strong>die</strong> Erschliessung der Commedia "für<br />

alle" schliesslich zu einem programmatisch hervorgehobenen, mit dem Gemeinwohl<br />

begründeten Ziel. 20<br />

Für <strong>die</strong>se sittliche Vervollkommnung setzt Dante <strong>die</strong> Kenntnisse der vier<br />

Kardinaltugenden voraus. Sie spielen eine wesentliche Rolle als Leitsterne für den<br />

Aufstieg auf den Läuterungsberg, werden <strong>von</strong> Dante im einzelnen jedoch nicht<br />

ausgeführt. Detailliert behandelt werden sie jedoch in der zahlreichen Tugendliteratur,<br />

<strong>die</strong> auch zunehmend in der Volkssprache geschrieben wird. Die Tugendliteratur bildet<br />

im 13. <strong>und</strong> frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert einen Gegenpol zu den vielen Klagen <strong>über</strong> <strong>die</strong><br />

menschliche Habgier <strong>und</strong> den Zerfall der Sitten, <strong>die</strong> im vorhergehenden Kapitel<br />

beschrieben wurden. Beliebt sind sowohl Gedichte <strong>über</strong> <strong>die</strong> vier Kardinaltugenden –<br />

Gerechtigkeit, Klugheit, Tapferkeit <strong>und</strong> Mässigkeit – als auch eigentliche<br />

Tugendtraktate. Diese Traktate sind vor allem Zitatensammlungen, <strong>die</strong> sich an den vier<br />

Kardinaltugenden orientieren. Manchmal werden <strong>die</strong> Zitate zu den vier<br />

Kardinaltugenden mit solchen zu den drei theologischen Tugenden (Glaube, Liebe,<br />

Hoffnung) <strong>und</strong> den sieben Todsünden (Hochmut, Neid, Zorn, Trägheit, Geiz,<br />

Verschwendung, Schlemmerei, Wollust) erweitert; manchmal wird auch nur <strong>die</strong><br />

Tugend der göttlichen Liebe den vier Kardinaltugenden vorangestellt <strong>und</strong> wie bei<br />

Dante als Urkraft zur Erreichung des antiken Tugendideals behandelt. 21 Zur<br />

Veranschaulichung der Materie <strong>und</strong> Unterhaltung des Publikums werden <strong>die</strong> eher<br />

trockenen Zitatensammlungen bisweilen durch Anekdoten, Exempeln <strong>von</strong><br />

hervorragenden Männern oder Tiervergleiche bereichert. Andere versuchen wiederum<br />

<strong>die</strong> Erziehung zur Tugend allegorisch zu verkleiden <strong>und</strong> ihr Publikum dabei in eine<br />

16 BUCK (1987); SANDKÜHLER (1989)<br />

17 Guido da Pisa in SANDKÜHLER (1967), S. 187<br />

18 Graziolo Bambaglioli in SANDKÜHLER (1989), S. 172<br />

19 SANDKÜHLER (1987), S. 180<br />

20 Siehe oben, Kapitel 5<br />

21 z. B. ANONIMO (1313/1323) [Fra Tommaso de' Gozzadini?]: Fiore di virtù oder<br />

GRAZIOLO DE' BAMBAGLIOLI (um 1335/40): Trattato sopra le virtù morali<br />

205


andere Welt zu entführen, wo sich ihnen das Wissen <strong>über</strong> <strong>die</strong> Tugenden <strong>und</strong> <strong>die</strong> zu<br />

vermeidenden Laster eröffnet. 22<br />

Immer sind Tugendtraktate auch in Werken zu finden, <strong>die</strong> als politische<br />

Führungslehre gedacht sind. Diese Bücher werden seit dem 13. Jahrh<strong>und</strong>ert sowohl im<br />

speziellen für <strong>die</strong> hohen Amtspersonen der Kommune verfasst, namentlich für <strong>die</strong><br />

Podestà, als auch allgemein für <strong>die</strong> Bürger, <strong>die</strong> am politischen Leben in der Kommune<br />

teilhaben. 23 Überliefert sind gar rhetorische Werke, <strong>die</strong> es dem einzelnen Bürger<br />

erlauben sollen, sich im Consiglio generale zu den einzelnen Tugenden äussern zu<br />

können. 24 Ausserdem werden in den italienischen Kommunen gerne auch<br />

Fürstenspiegel in <strong>die</strong> eigene Sprache <strong>über</strong>setzt, <strong>die</strong> im Frankreich des 13. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

für <strong>die</strong> Könige verfasst werden <strong>und</strong> <strong>die</strong> nebst einer politischer Führungslehre jeweils<br />

auch eine Tugendlehre enthalten. 25<br />

Die Ethik, <strong>die</strong> in <strong>die</strong>sen Werken rezipiert wird, orientiert sich zu einem grossen<br />

Teil an der römischen Stoa, <strong>die</strong> auf den vier Kardinaltugenden aufbaut. Die Zitate zu<br />

den Tugenden sind teils Originalwerken entnommen, teils Schriften der Kirchenväter<br />

oder früheren Sentenzensammlungen. Manche der Werke beginnen sich ab Mitte des<br />

13. Jahrh<strong>und</strong>erts auch nach der "modernen", um 1250 wiederentdeckten aristotelischen<br />

Tugendlehre zu richten. 26 Andere kombinieren wiederum <strong>die</strong> beiden Traditionslinien,<br />

indem sie entweder eine traditionelle, sich an den Kardinaltugenden orientierende<br />

Sentenzensammlung neben <strong>die</strong> aristotelische Nikomachische Ethik setzen 27 oder eine<br />

solche Sentenzensammlung mit Zitaten aus Aristoteles ergänzen. 28 Eine<br />

Popularisierung erfährt auch <strong>die</strong> Tugendlehre des Thomas <strong>von</strong> Aquin, der in der<br />

22 Zum Bsp. BRUNETTO LATINI (1260/67): Tesoretto (Verirrter, der das Reich Amors sucht)<br />

oder BONO GAMBIONI (um 1280): Libro de' vizi e delle virtudi in der Tradition der Psychomachia (6.<br />

Jh.), <strong>die</strong> den Kampf der Tugenden <strong>und</strong> Laster um <strong>die</strong> Seele des einzelnen beschreibt. Obwohl <strong>die</strong><br />

beiden Autoren ganz unterschiedliche Traditionen bearbeiten, stehen bei beiden <strong>die</strong> gesellschaftlichenpolitischen<br />

Tugenden im Vordergr<strong>und</strong> <strong>und</strong> beide zeichnen das Idealbild eines italienischen<br />

Stadtbürgers.<br />

23 Zum Bsp. GIOVANNI DA VITERBO (ca. 1240): De regimine civitatum; BRUNETTO<br />

LATINI (1260/66): Li livres dou Tresor; ENRICO DA RIMINI (ca. 1290): Tractatus pulcherrimus<br />

de quatuor virtutibus cardinalibus. Siehe auch HERTTER (1910).<br />

24 GUIDO FABA (frühes 13. Jh.): Summa de vitiis et virtutibus<br />

25 In Italien zirkuliert der Fürstenspiegel <strong>von</strong> Aegidius Romanus sowohl in französischem als<br />

auch in italienischem Volgare. Hier<strong>von</strong> gibt es eine sienesische sowie eine, etwas veränderte<br />

venezianische Version: EGIDIO ROMANO (1286): Li livres dou governement des rois; EGIDIO<br />

ROMANO (1288): Del reggimento de' principi di Egidio Romano; FRA PAOLO MINORITA (1315):<br />

De regimine rectoris; siehe auch BERGES (1938)<br />

26 Siehe TUVE (1963)<br />

27 Zum Bsp. BRUNETTO LATINI (1260/66): Li livres dou Tresor (verwendet das alexandrinische<br />

Kompendium des Aristoteles)<br />

28 Zum Bsp. BARTOLOMEO DA SAN CONCORDIA: Ammaestramenti degli antichi<br />

206


Summa theologica <strong>die</strong> christliche Tradition mit der Ethik der Stoa <strong>und</strong> des Aristoteles<br />

verbindet <strong>und</strong> ein ganzes System <strong>von</strong> Tugenden <strong>und</strong> Lastern entwirft. 29<br />

Vor <strong>die</strong>sem Hintergr<strong>und</strong> fügt sich der <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s in <strong>die</strong><br />

damalige politische <strong>und</strong> ethische Diskussion ein. In der Commedia Dantes haben <strong>die</strong><br />

Sienesen sowohl das Bild des viel beklagten Inferno gef<strong>und</strong>en wie auch das des<br />

irdischen Para<strong>die</strong>ses, wo sich das ersehnte Glück des zoon politikon verwirklicht.<br />

Dazwischen schiebt sich das Purgatorium, wo <strong>die</strong> aktuellen Fragen zur Erneuerung der<br />

menschlichen Gesellschaft im Zentrum stehen: Die Erneuerung der Rechtsherrschaft<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> individuelle Läuterung durch Tugend, <strong>die</strong> sich gegenseitig bedingen, um das<br />

Glück des Friedens auf Erden zu verwirklichen. <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> hat <strong>die</strong>se Fragen<br />

im politischen Raum der Sieneser Kommune behandelt <strong>und</strong> als solche im Purgatorium<br />

abgebildet. Wie <strong>die</strong>se Fragen spezifisch im <strong>Freskenzyklus</strong> ihren Niederschlag<br />

gef<strong>und</strong>en haben, wird im Folgenden behandelt. Ausgeklammert wird - weil das Thema<br />

später behandelt wird - <strong>die</strong> Auseinandersetzung im <strong>Freskenzyklus</strong> mit der Kommune<br />

als politische Organisationsform, <strong>die</strong> hier an <strong>die</strong> Stelle <strong>von</strong> Dantes Weltkaisertum<br />

getreten ist.<br />

7.2. Justitia: politische Erneuerung in Siena<br />

Das Thema der politischen Erneuerung nimmt im Purgatorium <strong>Ambrogio</strong><br />

<strong>Lorenzetti</strong>s <strong>die</strong> Figur der Gerechtigkeit auf, <strong>die</strong> am äusseren linken Bildrand<br />

abgebildet ist. Sie ist nach der Kommune <strong>die</strong> zweitgrösste Figur der Allegorie. Eine<br />

Kordel, <strong>die</strong> <strong>von</strong> Justitia ausgeht <strong>und</strong> am Handgelenk der Kommune endet, stellt<br />

bildlich eine direkte Beziehung zwischen den beiden Figuren her. Sie verdeutlicht<br />

nicht nur <strong>die</strong> Partnerschaft, <strong>die</strong> zwischen Justitia <strong>und</strong> der Kommune besteht, sondern<br />

bindet auch letztere an <strong>die</strong> Autorität der ersteren, also <strong>die</strong> politische Herrschaft der<br />

Kommune an <strong>die</strong> Gerechtigkeit.<br />

Diese Justitia erscheint nicht als ein persönliches Attribut, sondern bezieht sich auf<br />

<strong>die</strong> Ordnung des Gemeinwesens selbst. Als solche nimmt sie das zur Entstehungszeit<br />

des <strong>Freskenzyklus</strong> zentrale Thema der politischen Erneuerung in Siena auf: Die<br />

Totalrevision der Sieneser Rechtsgr<strong>und</strong>lagen. Sie bezieht sich in erster Linie auf <strong>die</strong><br />

Revision der Verfassung, <strong>die</strong> im Jahr 1336 vom Consiglio generale in Siena eingeleitet<br />

<strong>und</strong> 1339 abgeschlossen wird. Mit <strong>die</strong>ser Verfassungsrevision wird <strong>die</strong> Neuordnung<br />

der Sieneser Rechtsgr<strong>und</strong>lagen abgeschlossen, <strong>die</strong> 1334 mit der Sichtung des Caleffo<br />

begonnen wurde. Während der Caleffo <strong>die</strong> Gefolgschaftsverträge mit den Kommunen,<br />

29 So zum Beispiel in der äusserst populären Fiore di virtù (1310/1313)<br />

207


Städtchen <strong>und</strong> Burgherrn des Contado enthält <strong>und</strong> damit <strong>die</strong> territoriale<br />

Machtexpansion Sienas dokumentiert, enthält <strong>die</strong> Verfassung <strong>die</strong> gesamte<br />

Rechtsordnung der Stadt <strong>und</strong> Kommune <strong>von</strong> Siena. Dort, wo möglich, sucht sie auch<br />

einheitliche Strukturen im Sieneser Contado <strong>und</strong> Territorium zu schaffen.<br />

Auch bei Dante ist <strong>die</strong> Gerechtigkeit als Herrschaftstugend zentrales Thema der<br />

politischen Erneuerung. Im 16. Gesang des Purgatorio preist er sie als <strong>die</strong> Tugend, <strong>die</strong><br />

der Welt den Weg zeigt. Sie beinhaltet für ihn <strong>die</strong> Herrschaftspflichten <strong>von</strong><br />

Gesetzgebung <strong>und</strong> Rechtsdurchsetzung <strong>und</strong> ist gleichzeitig an <strong>die</strong> göttliche<br />

Gerechtigkeit geb<strong>und</strong>en. <strong>Der</strong> Gesetzgeber, so Dante, "muss mindestens <strong>die</strong> Türme der<br />

wahren Stadt erkennen," das heisst sich an der Idee der göttlichen Gerechtigkeit zu<br />

orientieren wissen. 30 Das Recht, welches in <strong>die</strong>sem Sinne geschaffen wurde, ist für<br />

Dante das römische Recht, das er gerne auch in seiner Zeit als das allein massgebende<br />

Recht sehen würde. <strong>Der</strong> Korpus des römischen Rechts ist seit dem 12. Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>die</strong><br />

Gr<strong>und</strong>lage des Rechtsstudiums in den italienischen Städten <strong>und</strong> gilt nicht nur bei<br />

Dante, sondern allgemein als Inbegriff einer <strong>gute</strong>n Rechtsordnung.<br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s Justitia links aussen ist Teil einer ganzen Figurengruppe.<br />

Sie ist so ausgestaltet, dass wir alle <strong>von</strong> Dante im 16. Gesang des Purgatorio<br />

genannten Anforderungen an <strong>die</strong> Gerechtigkeit als Herrschaftstugend bildlich<br />

umgesetzt finden: <strong>die</strong> Bindung des menschlichen Rechts an <strong>die</strong> göttliche<br />

Gerechtigkeit, <strong>die</strong> Pflicht <strong>von</strong> Gesetzgebung <strong>und</strong> Rechtsdurchsetzung <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Vorbildlichkeit des römischen Rechts. Sie spiegeln sich alle drei in der Figurengruppe<br />

der Justitia wider <strong>und</strong> werden gedanklich näher ausgeführt. Die Justitia ist als<br />

Personifikation deshalb <strong>die</strong> schwierigste Figur des gesamten <strong>Freskenzyklus</strong>. In ihr<br />

verschränken sich <strong>die</strong> Sieneser Verfassungs- <strong>und</strong> Gesetzgebung mit neoplatonischer<br />

Rechtsphilosophie, Elementen der aristotelischen Gerechtigkeitslehre <strong>und</strong> der<br />

Vorbildlichkeit des römischen Rechts. Gleichzeitig ist <strong>die</strong> Justitia wie bei Dante in<br />

einen herrschaftlichen Bezug gesetzt, der <strong>die</strong> geistlichen Würdenträger aus der<br />

weltlichen Macht verbannt: Das gesamte Bild der Mittelwand, das <strong>die</strong><br />

Zusammenhänge der staatlichen Rechtsordnung darstellt, enthält keinerlei Figur aus<br />

der kirchlichen Hierarchie.<br />

Die neoplatonische Rechtsphilosophie, <strong>die</strong> das menschliche Recht an <strong>die</strong> Idee der<br />

göttlichen Gerechtigkeit bindet, kommt in der Figur Sapientias zum Ausdruck, <strong>die</strong><br />

oberhalb Justitias schwebt. Sie stellt den Bezug zur Idee der Gerechtigkeit her <strong>und</strong><br />

steht für <strong>die</strong> Beziehung der menschlichen Gesetzgebung zum göttlichen Recht. 31<br />

30 Purgatorio XVI.95 f.<br />

31 RUBINSTEIN (1959), S. 183<br />

208


Justitia blickt zur Sapientia auf. Ähnlich wie im <strong>Freskenzyklus</strong> wird <strong>die</strong>se Beziehung<br />

auch im Vorwort zur Sieneser Verfassung beschrieben: Dort ist es <strong>die</strong> Stadt Siena, <strong>die</strong><br />

für <strong>die</strong> Edition einer gerechten Gesetzesordnung "ihre Augen des Geistes zum Gipfel<br />

der Gerechtigkeit emporhebt.“ 32 Eingeb<strong>und</strong>en in <strong>die</strong> göttliche Ordnung ist Justitia nicht<br />

das Recht selbst, sondern eine Idee, <strong>die</strong> vor der Schaffung des Rechts da war <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

an <strong>die</strong> göttliche Weisheit geb<strong>und</strong>en ist. 33 Als Idee ist Justitia heilig, la santa giustizia;<br />

so wird sie auch in der Verslegende des <strong>Freskenzyklus</strong> genannt. Die heilige<br />

Gerechtigkeit vermittelt zwischen dem göttlichen Recht bzw. Naturrecht <strong>über</strong> ihr <strong>und</strong><br />

dem positiven Recht unter ihr. Zwischen göttlichem Recht <strong>und</strong> Naturrecht wird im<br />

frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert nicht scharf unterschieden. Massgebend für <strong>die</strong><br />

Naturrechtslehre ist in jener Zeit Thomas <strong>von</strong> Aquin, der <strong>von</strong> einer göttlichen Ordnung<br />

ausgeht, <strong>die</strong> vernünftig nach Zwecken geordnet ist. 34 Diese wird nicht nur Auserwählten<br />

offenbart, sondern erschliesst sich auch dem natürlichen Licht der Vernunft<br />

(lumen rationis). Als sapientia, Weisheit, bezeichnet Thomas <strong>von</strong> Aquin <strong>die</strong> Fähigkeit,<br />

richtig gemäss den göttlichen Gründen zu urteilen. Die Richtigkeit eines Urteils kann<br />

sowohl durch <strong>die</strong> Wesensverwandtschaft mit den göttlichen Dingen wie durch den<br />

vollkommenen Gebrauch der Vernunft zustande kommen. 35<br />

Das Göttliche im Wesen Sapientias kommt durch ihre <strong>über</strong>irdische Gestalt zum<br />

Ausdruck, <strong>die</strong> an einen heiligen Seraphim erinnert. Ihr Blick ist ernst, an ihren Körper<br />

hat sie ein Buch gepresst, vielleicht ist es <strong>die</strong> Bibel, vielleicht das alttestamentarische<br />

Buch der Weisheit Salomos, dessen erster Vers oberhalb der Gestalt Justitias steht:<br />

DILIGITE IUSTITIAM QUI IUDICATIS TERRAM – ehrt <strong>die</strong> Gerechtigkeit, ihr, <strong>die</strong><br />

<strong>über</strong> <strong>die</strong> Erde regiert. <strong>Der</strong>selbe Vers findet sich bei Dante im 18. Gesang des Paradiso,<br />

wo er <strong>die</strong> Seelen besingt, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Herrschaftstugend der Gerechtigkeit vorbildlich<br />

umgesetzt haben. 36 Als der Wanderer Dante sich im Para<strong>die</strong>s dem Himmel der<br />

Gerechten nähert, formieren sich <strong>die</strong> Glücklichen, <strong>die</strong> als einzelne Lichtquellen<br />

erscheinen, zum Schriftzug Diligite iustitiam qui iudicatis terram.<br />

Die Justitia bildet <strong>die</strong> Gerechtigkeit im <strong>Freskenzyklus</strong> jedoch nicht nur als eine<br />

transzendente Idee ab, sondern auch als einen Wert, der sich durch <strong>die</strong> staatliche<br />

Rechtsordnung verwirklicht. Als solche erscheint Justitia hier in aristotelischer<br />

Tradition. Links <strong>und</strong> rechts, oberhalb der Waagschalen, <strong>die</strong> an den Seiten der Justitia<br />

32 "ad apicem montis iustitie mentis oculos elevavit ... " ASCHERI / FUNERAI (1989), S. 152<br />

33 KANTOROWICZ (1990), S. 128<br />

34 WELZEL (1962), S. 57 ff.<br />

35 "... sapientia importat quandam rectitudinem judicii sec<strong>und</strong>um rationes divinas. Rectitudo<br />

autem judicii potest contingere dupliciter: uno modo, sec<strong>und</strong>um perfectum usum rationis; alio modo,<br />

propter connaturalitatem quandam ad ea de quibus jam es judicandum ..." THOMAS VON AQUIN:<br />

Summa theologica, II-II.45.2, S. 169 f.; siehe auch ebd., II-II.45.1 ad 2<br />

36 PARADISO XVIII., bes. 76-99<br />

209


herunterhängen, sind <strong>die</strong> Worte distributiva <strong>und</strong> commutativa zu lesen. Sie verweisen<br />

auf <strong>die</strong> aristotelische Theorie der Gerechtigkeit, das heisst auf <strong>die</strong> Nikomachische<br />

Ethik des Aristoteles, wo <strong>die</strong> iustitia distributiva <strong>und</strong> <strong>die</strong> iustitia commutativa als Teile<br />

der Gerechtigkeit erörtert werden. 37 Sie regeln <strong>die</strong> Einhaltung der Gleichheit oder<br />

Rechtsmitte. Aristoteles unterscheidet zwischen der iustitia distributiva <strong>und</strong> der iustitia<br />

commutativa, da nicht in allen Fällen <strong>die</strong> Rechtsmitte auf <strong>die</strong>selbe Art <strong>und</strong> Weise<br />

bestimmt wird. Die distributive Gerechtigkeit ist <strong>die</strong> zuteilende Gerechtigkeit, <strong>die</strong><br />

jedem soviel gibt, wie ihm zusteht. Sie bezieht sich auf <strong>die</strong> staatliche Zuteilung <strong>von</strong><br />

Ehre, Geld <strong>und</strong> anderen Gemeinschaftsgütern. Ihr Richtmass ist <strong>die</strong> Würdigkeit. Die<br />

kommutative Gerechtigkeit indessen ist <strong>die</strong> ausgleichende Gerechtigkeit, <strong>die</strong> auf<br />

Gegenseitigkeit beruht. Sie regelt <strong>die</strong> Beziehungen der Staatsbürger untereinander <strong>und</strong><br />

zwar sowohl <strong>die</strong> freiwilligen (z. B. ein Vertrag) wie <strong>die</strong> unfreiwilligen. Zum<br />

unfreiwilligen Verkehr zählt Aristoteles alle Handlungen, <strong>die</strong> durch <strong>die</strong><br />

Strafgerichtsbarkeit gesühnt werden. <strong>Der</strong> Richter gleicht den Schaden aus, den <strong>die</strong> eine<br />

Person der anderen zugefügt hat.<br />

Bei <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> sorgt Justitia selbst für <strong>die</strong> Einhaltung der Rechtsmitte:<br />

mit ihren Daumen fixiert sie <strong>die</strong> Waagschalen an ihrer Seite. Auf den Waagschalen<br />

selber sind Engel am Werk, welche <strong>die</strong> Akte der kommutativen <strong>und</strong> distributiven<br />

Gerechtigkeit vollziehen. Mit den Engeln als Vollstrecker der Gerechtigkeit hat<br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> <strong>die</strong> Figur des Himmelsboten gewählt, der zwischen der<br />

göttlichen <strong>und</strong> menschlichen Ebene vermittelt. Die Engel werden hier zum Bindeglied<br />

zwischen der Idee <strong>und</strong> der Verwirklichung der Gerechtigkeit. Sie verdeutlichen noch<br />

einmal, dass <strong>die</strong> irdische Durchsetzung der Gerechtigkeit an <strong>die</strong> göttliche Ordnung<br />

geb<strong>und</strong>en ist. Betrachtet man <strong>die</strong> Tätigkeit der Engel, fällt nun aber auf, dass ihre Akte<br />

nur zum Teil den aristotelischen Erläuterungen <strong>die</strong>ser Gerechtigkeitsteile<br />

<strong>über</strong>einstimmen. Doch hilft zur Erläuterung, wie schon Rubinstein festgehalten hat,<br />

<strong>die</strong> Aristotelesrezeption durch <strong>die</strong> Scholastik <strong>und</strong> <strong>die</strong> Rechtswissenschaften im frühen<br />

14. Jahrh<strong>und</strong>ert.<br />

Auf der Seite der iustitia distributiva ist ein Engel abgebildet, der sowohl Ehre als<br />

auch Strafe zuteilt. Während er einen vor ihm knienden Bürger krönt, hat er am Hals<br />

des anderen das Schwert angesetzt. Das Richtmass seiner Handlung ist hier mit der<br />

aristotelischen Definition der distributiven Gerechtigkeit <strong>die</strong> Würdigkeit, für deren<br />

Vergeltung <strong>die</strong> staatliche Autorität verantwortlich ist. Das heisst, würdiges oder<br />

unwürdiges Verhalten, beziehungsweise Rechtstreue oder Rechtsbruch, sind<br />

ausschlaggebend, ob Ehre oder Strafe folgt. Gleichzeitig wird der Akzent auf das<br />

Gewaltmonopol der staatlichen Autorität gelegt: Während jener Bürger, der <strong>die</strong> Krone<br />

empfängt, einen Palmwedel als Zeichen <strong>von</strong> Gewaltlosigkeit in der Hand hält,<br />

37 ARISTOTELES: Nikomachische Ethik, 1130b 30; ebd. 1131a 1<br />

210


identifiziert ein Dolch den anderen als Gewalttätigen. Anders als bei Aristoteles fällt<br />

hier auch <strong>die</strong> Bestrafung dessen, der sich "unwürdig" verhalten hat, unter <strong>die</strong><br />

distributive Gerechtigkeit. Dies entspricht der Rechtslehre der italienischen Juristen im<br />

frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Strafgerichtsbarkeit als eine Form der distributiven<br />

Gerechtigkeit betrachten. 38 Niedergeschlagen hat sich <strong>die</strong>s auch in der italienischen<br />

Version des Fürstenspiegels <strong>von</strong> Egidio Romano, wo <strong>die</strong> distributive Gerechtigkeit<br />

ebenfalls als Tugend beschrieben wird, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Guten ehrt <strong>und</strong> <strong>die</strong> Schlechten bestraft.<br />

<strong>Der</strong> Palmwedel des <strong>gute</strong>n Bürgers schliesslich ist im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert öfters auf<br />

Heiligentafeln als Symbol des Sieges im Martyrium zu sehen, eines Sieges also, der<br />

gewaltlos erfochten wird <strong>und</strong> auf das Reich Gottes ausgerichtet ist. Die Verwendung<br />

der christlichen Symbolik verbindet Justitia nicht nur erneut mit der göttlichen<br />

Ordnung, sondern vermag gleichzeitig auch <strong>die</strong> Botschaft zu vermitteln, dass <strong>die</strong><br />

Kommune <strong>von</strong> Siena den Gerechten <strong>und</strong> Tugendhaften, der auf <strong>die</strong> Gewalt verzichtet,<br />

schon im irdischen Raum belohnt.<br />

<strong>Der</strong> Engel der iustitia commutativa regelt indessen mit Aristoteles <strong>die</strong> Beziehung<br />

der Staatsbürger untereinander, beschränkt sich aber auf den freiwilligen Verkehr, da<br />

der unfreiwillige Verkehr, der Ausgleich des Schadens durch den Richter, schon unter<br />

der distributiven Gerechtigkeit abgehandelt worden ist. So halten <strong>die</strong> zwei knienden<br />

Männer auch jeweils Gegenstände in der Hand, <strong>die</strong> als Masseinheit interpretiert<br />

werden können, deren allgemeinen Anerkennung <strong>und</strong> Anwendung gr<strong>und</strong>legend für<br />

einen fairen Geschäfts- <strong>und</strong> Handelsverkehr sind. Während der eine zwei<br />

unterschiedlich lange Latten hält, eine canna <strong>und</strong> ein possetto, <strong>die</strong> als Längenmass<br />

<strong>die</strong>nen, trägt der andere ein Hohlgefäss, un staio oder stataio, das ebenfalls für das<br />

Massnehmen <strong>von</strong> Handelsgut verwendet wird. 39 Beide Masseinheiten werden vom<br />

Engel berührt <strong>und</strong> erhalten somit eine Weihe göttlicher Gerechtigkeit. Diese<br />

Interpretation der kommutativen Gerechtigkeit als Gr<strong>und</strong>satz <strong>von</strong> Treu <strong>und</strong> Glauben<br />

im Geschäftsverkehr entspricht auch ihrer zeitgenössischen Erläuterung: Sie gilt als<br />

<strong>die</strong> Gerechtigkeit, <strong>die</strong> beim Abschluss <strong>von</strong> Kauf-, Miet- <strong>und</strong> Frachtverträgen <strong>und</strong><br />

generell im Geschäftsverkehr der Bürger zum Tragen kommt. 40<br />

Die Justitia als allgemeine Gerechtigkeit, <strong>die</strong> <strong>von</strong> Thomas <strong>von</strong> Aquin auch<br />

Gesetzesgerechtigkeit genannt wird, kann im Sinne <strong>von</strong> Aristoteles auch als Ausdruck<br />

der Sieneser Anstrengungen gedeutet werden, <strong>die</strong> Gerechtigkeit im eigenen<br />

Gemeinwesen zu verwirklichen. Während <strong>die</strong> neoplatonische Philosophie den<br />

38 RUBINSTEIN (1959), S.183<br />

39 DONATO (1995), S. 35<br />

40 EGIDIO ROMANO (1286): Droiture de vendre et d'achter. FRA PAOLO MINORITA (1315): De<br />

regimine rectoris: justixia comutative, la quale se trova en comprar, en vender, en afitar et en noliçar e<br />

generalemente en lo patiçar che fa un citadin con l'oltro.<br />

211


Schwerpunkt auf <strong>die</strong> Idee der Gerechtigkeit legt, beschreibt Aristoteles <strong>die</strong><br />

Gerechtigkeit als einen Wert, der sich in der Polis, dem Staat, verwirklicht. 41 Gr<strong>und</strong>lage<br />

hierfür ist eine Gesetzesordnung, <strong>die</strong> nicht einen Teil der Bürger begünstigt <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Handlungen aller Bürger auf das Gemeinwohl ausrichtet. Eine solche Gesetzesordnung<br />

hat für Thomas <strong>von</strong> Aquin mit Aristoteles architektonischen Charakter. Sie gilt als<br />

allgemeine Gerechtigkeit, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Sieneser Statuten als Tugend bezeichnen, "<strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

Stadt erblühen lässt <strong>und</strong> durch welche Königreiche, Städte <strong>und</strong> jede beliebige<br />

herrschaftliche Niederlassung erhalten bleiben." 42 Diese Tugend, <strong>die</strong> sich durch <strong>die</strong><br />

Wahrung der Gerechtigkeit für jeden Einzelnen, ob klein oder mächtig, im<br />

Gemeinwesen verwirklicht, wird <strong>von</strong> den Juristen in Kombination mit der<br />

neoplatonischen Rechtslehre eben auch santa giustizia genannt, 43 entsprechend der<br />

Verslegende im <strong>Freskenzyklus</strong>. Gerne wird in <strong>die</strong>sem Zusammenhang auch<br />

Augustinus zitiert, dass ein Reich ohne Justitia einer Räuberbande gleiche. 44 Das<br />

Gesetz, das eine gerechte Ordnung verwirklicht, ist indessen "kluge Abwehr <strong>von</strong> allem<br />

Schlechten, scharfsinnige Unterweisung in der Tugend, Beispiel aller <strong>gute</strong>n Beispiele,<br />

nicht täuschende Regel <strong>von</strong> Falschem, sondern Lehre, <strong>die</strong> Wahrheit verkündet, das<br />

Licht des Himmlischen." 45 Solch kluge Gesetzesnormen <strong>und</strong> ihre Beachtung sollen in<br />

Verbindung mit dem vernunftgemässem Leben gerechter Menschen <strong>die</strong> Ketten aller<br />

Vergehen lösen <strong>und</strong> deren Fortgang verhindern. 46<br />

Einen wesentlichen Beitrag zur Durchsetzung einer Rechtsordnung im Innern der<br />

politischen Gemeinschaft der Kommune leistete in Siena der Popolo. Zu Beginn des<br />

13. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>von</strong> wirtschaftlich aufstrebenden Bürgern begründet, will er <strong>die</strong><br />

Macht der grossen Familien brechen, <strong>die</strong> sich der Unterwerfung unter <strong>die</strong> Gesetze der<br />

Kommune widersetzen. Damit gehen vom Popolo in der Geschichte der Kommune <strong>die</strong><br />

wichtigsten Impulse aus, um eine gerechte Ordnung im Sieneser Herrschaftsraum zu<br />

verwirklichen. In <strong>die</strong>sem Sinne prangt in Justitias Krone ein Diamant in seinen Farben,<br />

rot <strong>und</strong> weiss. Die Szenen auf den Waagschalen mit den zwei Teilen der Gerechtigkeit<br />

41 WELZEL (1962), S. 28 ff.<br />

42 Statuti 23, ff. 229r - 229v: "quia sec<strong>und</strong>um quod sapiens scribit conservatione iustitie una<br />

queque civitas floret, quia illa est virtus per quam et regna et civitates et quelibet opida conservantur et<br />

expediat quod sine impedimento ullo in civitate Sen. ipsa iustitia observatur ut status civitatis Sen.<br />

stetur semper pacificus et tranquillus." Siehe auch EGIDIO ROMANO (1286), I.II.11, S. 45: "sanz justise<br />

general, qu l'en apele droiture et justise de loy, le reaumes ne puent durer."<br />

43 So z. B. auch <strong>von</strong> GRAZIOLO DE' BAMBAGLIOLI (um 1335/40): Trattato sopra le virtù<br />

morali, 3r<br />

44 Ebd. 3r sowie FRA PAOLO MINORITA (1315): De regimine rectoris, S. 13<br />

45 "Cunctorum malorum sagax proibitrix, virtutum preceptrix subtillima, exemplorum bonourm<br />

exempla, non fallax regula obliquorum, doctrina vercium, lumen celorum." Statuti senese dell'arte de<br />

giudici e notai del sec. XIV, S. 47<br />

46 Ebd., S. 47<br />

212


können andererseits als das Festhalten <strong>von</strong> zwei wesentlichen Momenten <strong>die</strong>ser<br />

Verwirklichung gesehen werden:<br />

Im Sinne der austeilenden Gerechtigkeit ist <strong>die</strong> Durchsetzung einer<br />

Rechtsprechung, <strong>die</strong> den einzelnen, unabhängig <strong>von</strong> der Macht seiner Familie, in<br />

seinen Rechten schützt, für <strong>die</strong> politische Gestaltungskraft der Kommunen<br />

bestimmend. Ist Ende des 11. Jahrh<strong>und</strong>erts noch <strong>die</strong> Fehde das übliche Mittel der<br />

Rechtsdurchsetzung, wird im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert das Gesetz als das "Z<strong>und</strong>er der<br />

Schwachen" bezeichnet. Wesentlicher Anteil an <strong>die</strong>ser Entwicklung hat der Popolo,<br />

dessen Mitglieder sich für ihre Interessendurchsetzung nicht auf einen mächtigen<br />

Familienverband stützen können. So heisst es auch in einer Petition, <strong>die</strong> längere<br />

Öffnungszeiten der Gerichte fordert, "wenn sich <strong>die</strong> Nove für <strong>die</strong> Verteidigung der<br />

Rechte der einzelnen Personen einsetzen, danken <strong>die</strong>s vor allem <strong>die</strong> einzelnen Bürger<br />

des Popolo (singulares cives populares)." 47 Um <strong>die</strong> Gesetzesherrschaft mit Nachdruck<br />

auch gegen<strong>über</strong> den Mitgliedern der mächtigen Familien durchzusetzen, hat der<br />

Popolo Mitte des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts das Amt des Capitano del Popolo geschaffen, der in<br />

Konkurrenz zum Podestà für <strong>die</strong> wirksame Rechtsherrschaft in der Kommune zu<br />

sorgen hat. Einer seiner wesentlichen Aufgaben ist auch noch im frühen 14.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert der Schutz der Schwachen gegen Gewalttaten <strong>von</strong> Magnaten, also der<br />

Schutz der Bevölkerung gegen<strong>über</strong> Angehörigen grosser Familien, <strong>die</strong> sich aufgr<strong>und</strong><br />

ihrer Vormachtstellung Übergriffe erlauben. Dabei steht ihm besonders <strong>die</strong> Stadtmiliz<br />

zur Verfügung, <strong>die</strong> compagnie del popolo, <strong>die</strong> im <strong>Freskenzyklus</strong> als Fusssoldaten<br />

rechts <strong>von</strong> der Figur der Kommune abgebildet sind, das Schild mit dem Löwenstemma<br />

des Popolo vor sich tragend. Später bittet in einer Petition dann auch eine Gruppe <strong>von</strong><br />

Magnaten, dass ihnen - im Sinne <strong>von</strong> Gerechtigkeit, Gleichheit <strong>und</strong> Frieden - ebenfalls<br />

ein besonderer Schutz gegen<strong>über</strong> Gewalttaten <strong>von</strong> anderen Magnaten zuteil werde, da<br />

"seit langem nicht nur ein grosser Unterschied zwischen den Magnaten <strong>und</strong> Mächtigen<br />

einerseits <strong>und</strong> den Popolani andererseits bestehe, sondern auch innerhalb der Gruppe<br />

der Magnaten selbst, weil einige mächtiger als <strong>die</strong> anderen seien, obwohl sie alle zu<br />

den Magnaten zählten." 48<br />

Die Szene der kommutativen Gerechtigkeit ist indessen Ausdruck des steten<br />

Bemühens der Sieneser Kommune, durch eine <strong>gute</strong> Handels- <strong>und</strong> Wirtschaftsordnung<br />

das Wachstum zu fördern. Die ersten Spuren einer eigenen Handels- <strong>und</strong><br />

47 Consiglio generale 58, cc. 95v-96v (Dezember 1300): " ... et quando hec contingunt fieri,<br />

comune conservatur illesum et singulares cives populares nimium gratulantur." Zitiert nach CARBONE<br />

(1977), II, Dokument 14., siehe auch weiter unten.<br />

48 Consiglio generale 129,cc. 58r-58v (18. Dezember 1341): "et quod quemadmodum inter<br />

magnates et potentes ex una parte et populares ex altera est magna et longa differentia, ita etiam inter<br />

magnates et magnates est magna differentia, quia aliqui sunt maiores et non nulli sunt minores, licet<br />

omnes indistincte in libro magnatum sripti reperiantur." Zitiert nach CARBONE (1977), Dokument 5<br />

213


Kreditgesetzgebung reichen in Siena in das Jahr 1180 zurück. Obwohl der Popolo in<br />

Siena nicht auf den Zünften sondern auf der Stadtmiliz beruht, ist er aber auch hier<br />

eine treibende Kraft. So sorgt er Mitte des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts dafür, dass auch <strong>die</strong><br />

Mächtigen <strong>und</strong> Reichen besteuert werden. Zur Zeit der Nove sind dem Capitano del<br />

Popolo weiterhin wesentliche Aufgaben im Bereich des Gewerbes zugewiesen, dem<br />

<strong>die</strong> meisten der Popolani angehören. Er hat das Initiativrecht für wirtschaftliche<br />

Förderungsmassnehmen, wacht <strong>über</strong> Fleisch-, Fisch-, Getreidehandel <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Einhaltung der Steuerreglemente, kontrolliert den Geldumlauf <strong>und</strong> hat <strong>die</strong><br />

Oberaufsicht <strong>über</strong> das staatliche Salzmonopol, das Wirtshauswesen <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Benutzungsrechte des Gemeindewaldes, <strong>die</strong> Selva del Lago, südlich der Stadt. Einen<br />

wesentlichen Beitrag zur Weiterentwicklung der Sieneser Wirtschaftsordnung hat aber<br />

auch <strong>die</strong> Mercanzia gespielt, <strong>die</strong> Zunft der Bankiers <strong>und</strong> Grosshändler, <strong>die</strong> in Siena<br />

Ausdruck der sich <strong>über</strong>schneidenden Interessen <strong>von</strong> reicheren Popolani <strong>und</strong> grossen<br />

Familien ist, da sie teils gemeinsam im internationalen Handelsgeschäft tätig sind. So<br />

senden <strong>die</strong> Nove im Jahr 1319 Botschafter nach Venedig, um alle Gesetze <strong>die</strong>ser Stadt<br />

nach Siena zu bringen, <strong>die</strong> das Vertragsrecht betreffen, da "bekannterweise <strong>die</strong><br />

Venezianer angesichts ihrer <strong>gute</strong>n Gesetze <strong>und</strong> Statuten, was <strong>die</strong> Verträge angeht, in<br />

Eintracht, Frieden <strong>und</strong> Einheit leben." 49 Als Symbol für <strong>die</strong> Einhaltung <strong>von</strong> Treu <strong>und</strong><br />

Glauben im Handelsverkehr, zeigt <strong>die</strong> Szene schliesslich zwei Gegenstände, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

wichtigsten Sektoren der Sieneser Wirtschaft <strong>und</strong> ihre Exportgüter charakterisieren. So<br />

verweisen <strong>die</strong> Latten, <strong>die</strong> für das Massnahmen <strong>von</strong> Stoffbahnen verwendet werden, auf<br />

das für Siena so bedeutsame Tuchgewerbe, während das Hohlgefäss vor allem zur<br />

Messung <strong>von</strong> Getreide benutzt wird <strong>und</strong> somit auf <strong>die</strong> Landwirtschaft im Sieneser<br />

Contado Bezug nimmt. Zur Sicherung des rechtmässigen Handels wird in der<br />

Mercanzia ein Satz aller Masse, Gewichte <strong>und</strong> Waagen aufbewahrt, <strong>die</strong> jährlich<br />

<strong>über</strong>prüft werden <strong>und</strong> nach denen alle Gewerbetreibende im Februar jedes Jahres ihre<br />

Masse richten <strong>und</strong> eichen müssen. 50<br />

Nebst neoplatonischer <strong>und</strong> aristotelischer Rechtsphilosophie spiegelt <strong>die</strong> Figur der<br />

Justitia auch <strong>die</strong> Vorbildlichkeit des römischen Rechts wider, <strong>die</strong> <strong>von</strong> der Verfassungs<strong>und</strong><br />

Gesetzgebung der Sieneser Kommune ebenfalls angestrebt wird. Deutlich wird<br />

<strong>die</strong>s durch das Erscheinungsbild Justitias, das Antike <strong>und</strong> Gegenwart miteinander<br />

49 "Item cum vulgariter et publice dicatur per civitate senarum et alibi quod comune et homines<br />

civitatis Venetiarum vivant in maxima concordia, pace, et unitate de contractibus que fiunt in dicta<br />

civitate, ex eo quod haben leges honestas et bonas statutm et ordinatum est quod domini Novum ...<br />

Statuti 8, c. 196v. Zitiert nach BOWSKY (1981), S. 218<br />

50 Für den grossen Wert, der in Siena auf <strong>die</strong> Prüfung <strong>von</strong> Gewichten <strong>und</strong> Massen gelegt wird<br />

siehe Statuto della Mercanzia, bes. III.23 f. ("De le channe et de' passetti") sowie IV. 24 f. ("De' pesi<br />

co le stateie") sowie Costituto 1309/10, I. 240-260; ebd. II. 234 - 270. Gleichzeitig ist Justitia selbst<br />

eine Waage, wie sie auch im Handelsverkehr benutzt wird.<br />

214


vereint. Während Justitias herausragende Monumentalität an <strong>die</strong> römische Antike<br />

erinnert, entspricht ihr Kleid der zeitgenössischen Mode. Dieselbe Verbindung <strong>von</strong><br />

antikem Vorbild <strong>und</strong> zeitgenössischer Umsetzung findet sich auch im Vorwort der<br />

Sieneser Verfassung <strong>von</strong> 1337/39. Hier offenbart sich der Korpus des römischen<br />

Rechts als grosses Vorbild für <strong>die</strong> Sieneser Gesetzgebung. So beginnt <strong>die</strong> Sieneser<br />

Verfassung mit den selben zwei Worten, Deo auctore, <strong>die</strong> auch <strong>die</strong> Sammlung des<br />

römischen Rechts einleiten, 51 <strong>und</strong> der Text des Vorworts ist insgesamt gespickt mit<br />

Zitaten aus dem römischen Rechtskorpus. 52 Gleichzeitig wird mit der neuen<br />

Verfassung jedoch auch der Anspruch erhoben, "neuen Formen menschlicher<br />

Hervorbringung Rechnung zu tragen." 53 Damit wird <strong>die</strong> eigene Verfassung an <strong>die</strong> Seite<br />

des römischen Rechts gestellt. Ein Vorgehen, das im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert politisch<br />

brisant <strong>und</strong> hochaktuell ist; denn damit setzen <strong>die</strong> Sienesen ihre eigene Verfassung mit<br />

jener des Kaisertums gleich, das im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert den römischen<br />

Rechtskorpus für sich beansprucht.<br />

Antike <strong>und</strong> Gegenwart im Erscheinungsbild Justitias spiegeln das Postulat der<br />

Sieneser Kommune wider, <strong>die</strong> oberste politische Autorität im Herrschaftsraum der<br />

Sienesen zu sein. Sie fordert das merum et mixtum imperium, uneingeschränkte<br />

Gesetzgebungs- <strong>und</strong> Rechtsprechungsgewalt. 54 Die Kommune <strong>von</strong> Siena versteht sich<br />

als ihr eigener Fürst, eine Ambition, <strong>die</strong> sich auch in der majestätischen Erhabenheit<br />

widerspiegelt, <strong>die</strong> <strong>von</strong> der Personifikation der Kommune ausgeht. Im Vorwort der<br />

Verfassung heisst es deshalb auch, dass <strong>die</strong> Stadt durch <strong>die</strong> Verwirklichung der<br />

Gerechtigkeit nicht nur <strong>die</strong> res publica aufrechterhalten kann, also Siena als freies<br />

Staatswesen zu bewahren vermag, sondern dadurch auch „majestätisch werde - foret<br />

augusta.“ 55 In <strong>die</strong>sem Sinne hatte <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> in einem ersten Entwurf <strong>die</strong><br />

Herrscherfigur, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Sieneser Kommune personifiziert, als kaiserliche Gestalt<br />

abgebildet. 56 Damit hätte er fast bildlich <strong>die</strong> <strong>von</strong> Dante im XVI. Gesang des Purgatorio<br />

geforderte politische Erneuerung auf Siena <strong>über</strong>tragen.<br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> hat sich für <strong>die</strong> Darstellung der Gerechtigkeit als<br />

Herrschaftstugend, wie sie Dante im XVI. Gesang des Purgatorio beschreibt, <strong>von</strong><br />

seinem grossen Lehrer Giotto inspirieren lassen. 57 <strong>Der</strong> Florentiner Giotto (1266-1337),<br />

ein Gefährte Dantes, hat im Jahr 1305 in der Arenakapelle <strong>von</strong> Padua eine Justitia<br />

51 ASCHERI (1991), S. 163 ff.<br />

52 ASCHERI / FUNARI (1989), S. 352 ff.<br />

53 "novas formas humana producente natura novis remediis indigebat." Ebd., S. 352<br />

54 MYRON PIPER (1941), S. 12 ff.; zur Verwendung des Begriffs "merum et mixtum imperium"<br />

in den Sieneser Unterwerfungsverträge siehe Caleffo Vecchio , passim <strong>und</strong> im Libro de Censi, passim.<br />

55 Constitutum 1337/39, Proemium, ASCHERI / FUNARI (1989), S. 352<br />

56 SEIDEL (1997), S. 83<br />

57 WIERUSZOWSKI (1944)<br />

215


entworfen, <strong>die</strong> klar veranschaulicht, dass <strong>die</strong> Gerechtigkeit eine Tugend ist, <strong>die</strong><br />

Herrschaft begründet. Er hat sie deutlich als Tugend dargestellt, <strong>die</strong> nicht ein<br />

persönliches Attribut ist, sondern sich auf <strong>die</strong> Ordnung des Gemeinwesens bezieht.<br />

Abgebildet ist eine thronende Dame mit Krone <strong>und</strong> Balkenwaage. Auf den<br />

Waagschalen befindet sich jeweils ein Engel in Aktion. Während der eine einen<br />

Gerechten durch Krönung belohnt, bestraft der andere den Übeltäter durch das<br />

Schwert. Unterhalb der Justitia sind Adlige auf Falkenjagd, eine kleine Gruppe<br />

tanzender <strong>und</strong> musizierender Mädchen sowie zwei reisende Kaufleute abgebildet. Als<br />

Kontrast zur Justitia erscheint <strong>die</strong> Ungerechtigkeit als mürrischer Herrscher mit Haken<br />

<strong>und</strong> Klaue. Im Hintergr<strong>und</strong> ist das Tor einer Stadt zu sehen, während sich unterhalb<br />

des Tyrannen Szenen <strong>von</strong> Raub, Vergewaltigung <strong>und</strong> Krieg aneinanderreihen.<br />

Diese Gerechtigkeitsfigur in Padua ist eindeutig <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s Vorbild<br />

gewesen. Während er <strong>die</strong> Justitia durch Sapientia <strong>und</strong> <strong>die</strong> Ergänzung der<br />

Waagschalenszenen erweitert hat, wurden <strong>die</strong> glücklichen Handlungen unterhalb der<br />

Gerechtigkeit Giottos zum Bild des Irdischen Para<strong>die</strong>ses: Auf das Purgatorium folgt<br />

das Irdische Para<strong>die</strong>s, wo sich das Glück des Menschen als zoon politikon entfaltet.<br />

Gleichzeitig hat <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> auch schon im Purgatorium auf <strong>die</strong> Wirkungen<br />

hingewiesen, <strong>die</strong> eine direkte Folge der Reformen sind, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Gerechtigkeit als<br />

Herrschaftstugend stärken. Hier, im Purgatorium, entfalten sich <strong>die</strong>se Wirkungen<br />

jedoch noch nicht in ein narratives Panoramabild, sondern sie erscheinen in der Form<br />

der Allegorie <strong>und</strong> einzelnen symbolischen Szenen.<br />

Unterhalb <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s Justitia sitzt <strong>die</strong> Concordia, eine Personifikation<br />

der Eintracht. Concordia gilt in der römischen Tradition als Tochter der Justitia <strong>und</strong> ist<br />

hier als ihre direkte Wirkung abgebildet. Auf dem Schoss hält sie ein Hobel, der das<br />

harmonische Zusammenfügen <strong>von</strong> Einzelteilen unterstreicht. Als Werkzeug ist <strong>die</strong><br />

Hobel das Gegenstück zur Säge, mit der sich Divisio im Inferno selbst entzweit. In<br />

ihrer Hand führt Concordia zwei einfache Kordeln zusammen, <strong>die</strong> sich <strong>von</strong> den Engeln<br />

auf den Waagschalen lösen. Die doppelt gedrehte Kordel hat <strong>die</strong> Farben rot <strong>und</strong> weiss,<br />

also <strong>die</strong>selben Farben wie der Sieneser Popolo, der sich besonders für <strong>die</strong><br />

Verwirklichung der Gerechtigkeit in der Sieneser Kommune eingesetzt hat. Auch sind<br />

rot <strong>und</strong> weiss <strong>die</strong> Farben der beiden Engel <strong>und</strong> damit eine Wiederholung der auf den<br />

Waagschalen dargestellten Teile der aristotelischen Gerechtigkeit.<br />

Die Kordel ist, wie schon oft in der Literatur hervorgehoben, eine <strong>von</strong> Cicero<br />

geprägte Metapher, <strong>die</strong> zur Zeit <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s gerne rezipiert wird. Sie wird<br />

einerseits mit der Gerechtigkeit, wo sie im Bild <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s ihren Ausgang<br />

nimmt, in Verbindung gebracht, <strong>die</strong> als "Band der menschlichen Gesellschaft"<br />

beschrieben wird. Andererseits wird <strong>die</strong> Kordel auch als eine Metapher für <strong>die</strong><br />

216


Eintracht selbst verwendet. Sie gilt als "Sicherheitsseil einer Gesellschaft" oder als<br />

"ein doppeltes Band", das aus Rechten <strong>und</strong> Pflichten besteht, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Individuen einer<br />

Gemeinschaft einen. 58 So beschreibt auch Brunetto Latini im Tesoretto, er würde <strong>die</strong><br />

Bürger seiner Kommune gerne sehen, "dass sie alle gemeinsam am Seile ziehen, dem<br />

Seil der Eintracht <strong>und</strong> der <strong>gute</strong>n Taten." 59 In umgekehrtem Sinne hat der Sienese Bindo<br />

Bonichi das Bild des Seils verwendet, wenn er klagt, dass <strong>die</strong> Bürger nicht alle am<br />

selben Strick ziehen wollen. 60 Die Verslegende des Inferno verwendet ebenfalls <strong>die</strong><br />

Verneinung des gemeinsamen Bandes im negativen Sinne: "Wo Justitia gefesselt ist,<br />

wird sich nie jemand auf das Gemeinwohl einigen, noch sich am Band des Rechts<br />

halten." So erscheint <strong>die</strong> Kordel im Purgatorium als Verbindungsglied zwischen<br />

Justitia <strong>und</strong> der Kommune: Die Hand der Kommune, mit der sie den Herrschaftsstab<br />

hält, ist an das Band der Gerechtigkeit gefesselt, während Justitia <strong>die</strong> Taten der Bürger<br />

auf das Gemeinwohl ausrichtet, dadurch Eintracht erzeugt <strong>und</strong> bewirkt, dass sich alle<br />

freiwillig am doppelten Band der Gerechtigkeit, Eintracht <strong>und</strong> <strong>gute</strong>n Taten halten. 61<br />

Die Reihe der Männer besteht aus zwölf Paaren, durch <strong>die</strong> in der Mitte das Seil<br />

läuft. Ob <strong>die</strong> Zahl 24 gewählt wurde, um auf <strong>die</strong> historisch glorreiche Zeit Sienas unter<br />

der Regierung der 24 anzuspielen, als <strong>die</strong> Stadt für kurze Zeit an der Spitze der<br />

Toskana stand, ist schwer zu sagen. In der Zahlensymbolik verkörpert 24 jedoch <strong>die</strong><br />

58 SKINNER (1986), S. 12 f.; siehe Kapitel 4<br />

59 "Ma tutti per comune / tirassero una fune / di pace e di ben fare ..." Tesoretto (1260/67), vv.<br />

175-177<br />

60 BINDO BONICHI (ca. 1327-1338): Rime, Sonett 16<br />

61 Zum Konzept des Gemeinwohls, das <strong>die</strong> Sorge der Nove für <strong>die</strong> Durchsetzung der<br />

Gerechtigkeit als Ursache des Gemeinwohls beschreibt, siehe folgendes Sieneser Dokument. Es<br />

berücksichtigt dabei sowohl das Recht jedes einzelnen als auch <strong>die</strong> Rechte der Kommune als Ganzes:<br />

Consiglio generale 58, 95v-96v (Dezember 1300): "primum membrum est gubernatores, sec<strong>und</strong>um<br />

defensores [entsprechend dem Namen Nove gubernatores et defensores ... ]: gubernare pertinet ad<br />

comunis pacificum statum et honoruem, defendere pertinet ad iuris civium et singularum personarum<br />

et propter conservationem et defensionem; et quando hec contingunt fieri, comune conservatur illesum<br />

et singulares cives populares nimium gratulantur; et non debet pro singulari comune decipi vel<br />

diminui, nec pro comuni singularis persona ledi in suo iure, et tunc comune bonum operatur et<br />

gratissimum Deo, qui est vera salus et iustitia, et gentibus gratiosum." Zitiert nach CARBONE (1977),<br />

II, Dokument 14. Vgl. REMIGIO GIROLAMI (1302/04) <strong>und</strong> seine Definition des<br />

Verhältnismässigkeitsprinzips (i. s. <strong>von</strong> erforderlich) für den Eingriff in <strong>die</strong> Rechte des Einzelnen zur<br />

Durchsetzung des Gemeinwohls. Konkret geht es hier um finanzielle Schäden bei einem<br />

Friedensschluss, nachdem gewalttätige Auseinandersetzungen <strong>die</strong> Vermögensverhältnisse verändert<br />

haben: "In fine notandum quod in talibus remissionibus non videtur extendi ad dampna illata quando<br />

spolium actu existit apud dampnificantem et scitur persona dampnificata, precipue quando est<br />

indigens. Sec<strong>und</strong>um enim Senecam in libro 'de Clementia' princeps debet se habere ad modum medici.<br />

Unde, sicut medicus conservat quantum bonum potest bonum cuiuslibet membri cum bono communi<br />

corporis hominis, ita princeps debet conservare illesum bonum cuiuslibet civis quantum potest cum<br />

bono corporis populi; ut scilicet saltem de fisco tali leso provideatur, si remissio ad dampna omnia<br />

sine ulla exceptione universaliter extenditur." De bono pacis, S. 135 (geschrieben zur Zeit der Kämpfe<br />

zwischen den Schwarzen <strong>und</strong> den Weissen in Florenz).<br />

217


universitas, <strong>die</strong> Gesamtheit einer Körperschaft. In <strong>die</strong>sem Sinne hat auch Nicola<br />

Pisano <strong>die</strong> Zahl 24 im Perugianer Stadtbrunnen 1260 verwendet, <strong>die</strong> 24 Ältesten der<br />

Apokalypse werden ebenfalls als Repräsentanten der Ecclesia universalis gedeutet. 62<br />

Dante hat sie ebenfalls paarweise in der Prozession Beatrices auftreten lassen, in<br />

<strong>die</strong>sem Fall aber als Symbole der 24 Bücher des Alten Testaments. 63<br />

Ein wesentliches Detail in <strong>die</strong>sem Zusammenhang ist, dass <strong>die</strong> Männer, <strong>die</strong><br />

dargestellt sind, unterschiedlicher sozialer Herkunft sind. Sie verdeutlichen damit das<br />

Ideal der Kommune, alle Schichten der Gesellschaft - <strong>die</strong> minores, mediocres <strong>und</strong><br />

maiores - in der politischen Organisation zu vereinen. 64 Zuvorderst schreiten ritterliche<br />

Würdenträger in langen Amtsroben mit pelzbesetzten Gewändern <strong>und</strong> Handschuhen,<br />

wie sie ein Podestà oder Capitano del Popolo tragen. Es folgen Juristen in roter Tracht,<br />

junge Adlige in kurzer französischer Mode <strong>und</strong> erfolgreiche Kaufleute, <strong>die</strong> sich in<br />

teures, schweres Tuch gehüllt haben. Die zwölf Männer der hinteren Reihen sind<br />

einfacher gekleidet, alle im selben schlichten Stil, den damals sowohl <strong>die</strong><br />

Geschäftsleute der gente media als auch städtische Handwerker pflegen. Als 24, <strong>die</strong><br />

<strong>die</strong> universitas der Sieneser Kommune verkörpern, entsprechen sie dem Consiglio<br />

generale als Repräsentationsorgan aller Bürger, der <strong>die</strong> Sieneser Gesetzesordnung<br />

verabschiedet. Für seine Beschlüsse, <strong>die</strong> er nach Auszählung der Stimmen jeweils cum<br />

summa concordia, in grösster Eintracht, erlässt, gilt das einfache, teils auch<br />

qualifizierte Mehrheitsprinzip. <strong>Der</strong> Regierungsrat der Nove ist indessen den gente<br />

media vorbehalten, der oberen Mittelschicht. Um Liebe <strong>und</strong> Eintracht zu erhalten, wird<br />

<strong>die</strong> Sieneser Regierung der Nove aber regelmässig vom Consiglio generale beauftragt,<br />

ihre Regierungsbasis nach unten zu erweitern. Nach oben, also für <strong>die</strong> Magnaten oder<br />

grossen Familien, bleibt das Amt der Nove zwar durchwegs geschlossen, doch haben<br />

<strong>die</strong>se durch andere hohe Ämter, wie den Konsuln der Mercanzia oder den Vorstehern<br />

der Finanzbehörde, den Provveditori der Biccherna, direkten Zugang zum<br />

Regierungsgremium.<br />

Die Zahl 24 entspricht schliesslich auch dem Kreis der wichtigsten Ämter der<br />

Kommune: Die drei Herren zuvorderst mit Handschuh <strong>und</strong> Pelzbesatzungen könnten<br />

<strong>die</strong> drei wichtigsten Repräsentationspersonen der Sieneser Kommune darstellen: <strong>Der</strong><br />

Podestà, Capitano del Popolo <strong>und</strong> dahinter das relativ neue Amt des Capitano di<br />

Guerra. Neben ihm, in Juristentracht der Maggior Sindaco. Hinter <strong>die</strong>sen wichtigen,<br />

jeweils <strong>von</strong> Fremden besetzten Ämtern, würden <strong>die</strong> Ordini der Sieneser Bürgerschaft<br />

62 SEIDEL (1997), S.<br />

63 Purgatorio. XIX.83-84<br />

64 In unruhigeren Zeiten, 1318 <strong>und</strong> 1336, entschied der Grosse Rat in Siena, <strong>die</strong><br />

Rekrutierungsbasis für das Amt der Nove zu vergrössern, "damit <strong>von</strong> nun an unter den Bürgern Liebe,<br />

Einheit <strong>und</strong> Eintracht herrsche, so dass <strong>die</strong> Stadt mit Gottes Hilfe in Ruhe <strong>und</strong> Frieden bewahrt<br />

werde." Siehe oben, Kapitel 1<br />

218


folgen: Zunächst <strong>die</strong> vier Provveditori della Biccherna, in deren Amt fast<br />

ausschliesslich Magnaten gewählt werden, <strong>die</strong> drei Konsuln der Cavalieri sowie <strong>die</strong><br />

vier Konsuln der Mercanzia. Einer <strong>die</strong>ser Konsuln ist ein Magnat, während <strong>die</strong> drei<br />

anderen der gente media angehören, <strong>die</strong> mit den Nove den Abschluss der Prozession<br />

bilden. Eine solche Interpretation, ohne den popolo minuto, würde weniger dem Ideal<br />

der Kommune, sondern den tatsächlichen Machtverhältnissen entsprechen, wobei <strong>die</strong><br />

minori in der Stadtmiliz mit dem Wappen des Popolo ihr Abbild finden.<br />

Die Szene der 24 Bürger befindet sich auf der gleichen Höhe wie Concordia. Wir<br />

befinden uns damit auf der untersten Ebene des Bildes, wo sich in allegorischer <strong>und</strong><br />

symbolischer Form <strong>die</strong> Wirkungen ankünden, <strong>die</strong> <strong>von</strong> der Stärkung der Gerechtigkeit<br />

in der Sieneser Kommune ausgehen. Solche symbolische Szenen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Wirkungen<br />

der Rechtsherrschaft zeigen, finden sich auch auf der rechten Seite des Bildes, also<br />

rechts des Podests, auf dem <strong>die</strong> Sieneser Kommune als Herrscherin sitzt.<br />

Rechts wiederholt sich das links durch <strong>die</strong> Bürger laufende Band der<br />

Gerechtigkeit. Hier wird es zum Strick für Übeltäter, <strong>die</strong> sich nicht an <strong>die</strong> gerechte<br />

Ordnung der Gemeinschaft halten. Dargestellt ist eine Gruppe <strong>von</strong> Gefangenen, <strong>die</strong><br />

sich aus einer Reihe <strong>von</strong> adligen Rebellen <strong>und</strong> einem zerlumpten Strassenräuber<br />

zusammensetzt. Die Rebellen, <strong>die</strong> sich der Ordnung der Kommune nicht unterwerfen<br />

wollten, sind in ihrer ritterlichen Rüstung dargestellt. Das Tuch, welches <strong>über</strong> ihr<br />

Haupt geworfen ist, identifiziert sie als Aufständische oder Mörder. Hinter ihnen <strong>und</strong><br />

an ihrer Seite verdeutlichen Bürger einer kleineren Landkommune <strong>und</strong> zwei<br />

Feudalherren den Vorteil einer gerechten Herrschaft: Ohne Mühe vergrössert eine<br />

solche Kommune ihr Territorium. Während <strong>die</strong> Feudalherren ihre Burgen anbieten,<br />

<strong>über</strong>reichen <strong>die</strong> Landbewohner den Schlüssel ihres befestigten Dorfes.<br />

Direkt rechts vom Herrschaftspodest findet sich schliesslich noch eine Kompanie<br />

<strong>von</strong> Fusssoldaten. <strong>Der</strong> weisse Löwe auf rotem Gr<strong>und</strong>, der ihre Schilder ziert, ist das<br />

Wappen des Popolo. Damit wird nochmals eine Verbindung zur Justitia links aussen<br />

hergestellt, <strong>die</strong> in ihrer Krone seine Farben trägt. Mit der Regierung der gente media<br />

hat er zwar seine Oppositionsrolle innerhalb der kommunalen Verfassung verloren,<br />

doch sehen sich <strong>die</strong> Nove als Ausdruck des Popolo, der weiterhin eine politische Rolle<br />

in Siena spielt, nun aber als Stadtmiliz, <strong>die</strong> <strong>von</strong> der Oligarchie kontrolliert wird. Die<br />

Nove haben auch seine Ziele in ihr Regierungsprogramm aufgenommen: Sie drängen<br />

darauf, in der Stadt wie im umliegenden Territorium eine öffentliche Rechtsordnung<br />

durchzusetzen, <strong>die</strong> auch jenen Schutz gewährt, <strong>die</strong> nicht zu den mächtigen Familien<br />

gehören. Gleichzeitig bauen sie <strong>die</strong> Administration der Kommune aus <strong>und</strong> setzen sich<br />

für <strong>die</strong> Erhaltung <strong>und</strong> Vergrösserung der kommunalen Rechte im umliegenden<br />

Territorium ein.<br />

219


Die grosse Justitia links aussen, <strong>die</strong> sich auf <strong>die</strong> staatliche Ordnung Sienas bezieht,<br />

ist auch <strong>die</strong> Hauptperson der Verslegenden. Deutlich wird <strong>die</strong>s gerade im Bild des<br />

Purgatorio: Schräg unterhalb ihrer Figur befindet sich ein Textrahmen, der aus dem<br />

Fries unterhalb des Bildes heraussticht <strong>und</strong> einen Vers enthält, der ganz ihr gewidmet<br />

ist:<br />

"Wo <strong>die</strong>se heilige Tugend [Gerechtigkeit] regiert,<br />

führt sie <strong>die</strong> vielen Seelen zur Einheit,<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong>se, so vereint,<br />

setzen das Gemeinwohl als ihren Herrn ein.<br />

Dieser, um seinen Staat zu regieren, entscheidet,<br />

niemals <strong>die</strong> Augen abzuwenden<br />

vom Glanz der Antlitze<br />

der Tugenden, <strong>die</strong> ihn umgeben.<br />

Deshalb werden im Triumph<br />

Steuern, Abgaben <strong>und</strong> Landherrschaften <strong>über</strong>reicht;<br />

Deshalb, ohne Krieg,<br />

tritt jegliche bürgerliche Wirkung ein -<br />

nützlich, nötig <strong>und</strong> freudig."<br />

Hauptperson bleibt <strong>die</strong>se Justitia auch in den Verslegenden des Inferno <strong>und</strong> des<br />

irdischen Para<strong>die</strong>ses: Im Inferno beschreibt sie ein entsprechender Textrahmen wie im<br />

Purgatorium, der sich ebenfalls im Fries unterhalb der Figur der Justitia befindet. Hier<br />

liegt Justitia aber am Boden gefesselt <strong>und</strong> der Vers erzählt da<strong>von</strong>, dass ihre Knechtung<br />

zum Aufstieg der Tyrannei, zur Ausbreitung der Laster <strong>und</strong> zur Oberhand jener führt,<br />

<strong>die</strong> den Frieden hassen. Die Verse schliesslich, <strong>die</strong> sich auf der Seite des Inferno <strong>und</strong><br />

des irdischen Para<strong>die</strong>ses in den weissen Streifen entlang des unteren Bildrandes<br />

ziehen, sind schliesslich direkt an <strong>die</strong> Regierenden gerichtet, um sie an <strong>die</strong> Herrschaft<br />

Justitias zu mahnen: Während <strong>die</strong> Verse im Inferno dazu aufrufen, Geist <strong>und</strong> Intellekt<br />

darauf zu richten, dass jeder Justitia untertan ist, <strong>die</strong> Tyrannen zu stürzen <strong>und</strong> zur<br />

Erlangung <strong>von</strong> Frieden jeden, der <strong>die</strong> Gerechtigkeit verletzt, fortzujagen, fordern <strong>die</strong><br />

Verse im irdischen Para<strong>die</strong>s dazu auf, den Blick nie <strong>von</strong> ihr zu wenden <strong>und</strong> schildern<br />

nochmals ihre strahlende Wirkung der dolce vita.<br />

Justitia als Tugend der Polis nimmt direkten Bezug auf <strong>die</strong> Verfassungsrevision,<br />

<strong>die</strong> mit einem Beschluss des Consiglio generale 1336 in Gang gesetzt wird. 65 Auf <strong>die</strong>se<br />

65 Dazu siehe ASCHERI / OTTAVIANO (1990), S. 213 ff.<br />

220


Verfassungsrevision bezieht sich namentlich das Purgatorium im <strong>Freskenzyklus</strong> sowie<br />

<strong>die</strong> gesamte Verslegende. Im Purgatorium ist Justitia gross auf den Thron gehoben,<br />

während das Inferno sie am Boden liegend zeigt, "gefesselt <strong>von</strong> den Ketten aller<br />

Vergehen" <strong>und</strong> das irdische Para<strong>die</strong>s eine Welt veranschaulicht, wo ihr Licht <strong>von</strong> der<br />

Stadt <strong>über</strong> <strong>die</strong> Landschaft strahlt. Die Herrschaft Justitias, nach der Dante in den<br />

mittleren Gesängen des Purgatorio verlangt, soll auch in Siena Hauptperson der<br />

politischen Läuterung sein <strong>und</strong> zur Verwirklichung der dolce vita führen, dem Glück<br />

des irdischen Para<strong>die</strong>ses. Ausdrückliches Ziel der Verfassungsrevision ist, Justitia,<br />

"<strong>die</strong> allein auf ihrem verlassenen Thron lange Zeit getrauert hatte“,"auf unbebaute<br />

Einöde blickte" <strong>und</strong> "vom spriessenden Unkraut der Laster verdunkelt wurde“, 66 wieder<br />

zur Herrschaft zur verhelfen. Diese Verfassungsrevision ist Höhepunkt der in <strong>die</strong>sen<br />

Jahren generell stattfindenden Durchsicht der Sieneser Rechtsordnung. Ihr voraus ging<br />

<strong>die</strong> Neuordnung des Caleffo in den Jahren 1334/36, der <strong>die</strong> städtische<br />

Machtausdehnung festhält mit den errungenen Rechten Sienas im Territorium oder<br />

Contado. Auch das Ziel <strong>die</strong>ser Neuordnung ist, eine klare Auslegung der<br />

Rechtsgr<strong>und</strong>lagen zu haben, "da <strong>die</strong> Stadt Siena, virtute iustitie dotata, immer<br />

wünscht, unter den Regeln der Gerechtigkeit regiert zu werden <strong>und</strong> bewusst vermeiden<br />

will getäuscht zu werden oder zu täuschen." 67 Und schliesslich, so lässt uns der<br />

Chronist Agnolo di Tura del Grasso wissen, wird in jenen Jahren vielen Zünften<br />

verordnet, "Statuten <strong>und</strong> Gesetze zu erlassen, per vivare con justitia." 68 Überliefert ist<br />

uns aus jenen Jahren namentlich ein neues Statut der Mercanzia. Vom Willen, auch <strong>die</strong><br />

Rechte des Landbesitzes im Contado besser zu regeln, zeugt schliesslich eine ebenfalls<br />

genau in <strong>die</strong>ser Zeit erfolgten Neuauflage des Statuts des Campaio, der <strong>die</strong><br />

Verwüstungen <strong>von</strong> landwirtschaftlichem Boden, sei er in Besitz <strong>von</strong> Städtern oder<br />

Bürgern des Contado, gerichtlich verfolgt. 69<br />

Die Werte, nach denen <strong>die</strong> Sieneser Gesetzgebung durch das Schaffen <strong>von</strong><br />

Rahmenbedingungen strebt, sind Tugend, Frieden, Glück, Wohlstand <strong>und</strong> Sicherheit:<br />

”Damit in Zukunft vom Recht, das eigentlich <strong>die</strong> Laster ausrotten<br />

<strong>und</strong> das Leben auf den richtigen Pfad führen soll, nicht weiterhin<br />

Unterdrückung der Tugenden <strong>und</strong> Zerstörung der Sitten entsteht, wurde<br />

vom ehrwürdigen Rat ... befohlen, dass weise, gelehrte, erfahrene <strong>und</strong><br />

rechtschaffene Männer das Überflüssige in den Gesetzen entfernen ...<br />

<strong>und</strong> das Widersprüchliche ans Licht bringen sollen. ... Das kurze Werk<br />

66 "visa est quasi sola in deserto solio sedens diu lugxisse iustitia [sua prop]rie loca inculta<br />

respiciens, super excrescente vitiorum gramine offuscata." ASCHERI / FUNARI (1989), S. 352<br />

67 ".... cumque senensis civitas, iustitie virtute dotata, semper desideret sub iustitie regula<br />

gubernari, et mentaliter effugiat falli et fallere; ..." Caleffo dell'Assunta, publiziert in PAOLI (1866), S.<br />

61<br />

68 AGNOLO DI TURA DEL GRASSO, S. 523<br />

69 ASCHERI (1991), S. 175; für den Campaio siehe auch BOWSKY (1981), S. 82<br />

221


soll ein jeder mit flacher Hand, klarem Blick <strong>und</strong> aufrichtigem Sinne in<br />

<strong>die</strong> Hand nehmen, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Regierenden <strong>die</strong>ser sehr bedeutenden<br />

Republik sollen <strong>von</strong> nun an zu vortrefflichen Dienern der Gerechtigkeit<br />

werden; denn durch <strong>die</strong> Regeln <strong>die</strong>ses Werkes werden <strong>die</strong> Wege der<br />

Redlichkeit <strong>und</strong> Wahrheit zur deutlichen Erkenntnis offengelegt ... Da<br />

der Weg der wertvollen Tugend den Menschen nun erschlossen ist,<br />

kann nun das Unglück, das dem Verbrechen folgt, gerächt werden. Die<br />

Süsse des Friedens ist <strong>die</strong> Folge ... <strong>und</strong> allen, <strong>die</strong> sich der Kraft jener<br />

Gesetze be<strong>die</strong>nen, sei es in aller Zeit <strong>und</strong> Ewigkeit erlaubt, glücklich,<br />

nicht in Armut <strong>und</strong> ohne Angst zu leben.” 70<br />

Die Kommune <strong>von</strong> Siena setzt für das Erreichen <strong>von</strong> Frieden <strong>und</strong> Wohlstand auf eine<br />

gestärkte Rechtsordnung. Die Verantwortlichen in der Kommune werden aufgerufen,<br />

auf <strong>die</strong>ser Gr<strong>und</strong>lage der Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen <strong>und</strong> damit <strong>die</strong><br />

Rahmenbedingungen zu schaffen, <strong>die</strong> dem einzelnen den Weg der Läuterung<br />

offenlegen.<br />

7.3. Tugenden: Individuelle Läuterung<br />

Hauptthema im 17. <strong>und</strong> 18. Gesang des Purgatorio ist <strong>die</strong> Liebe als Triebkraft des<br />

menschlichen Handelns, auf <strong>die</strong> wir im nächsten Abschnitt zu sprechen kommen.<br />

Diese Liebe kombiniert Dante aber mit der dem Menschen eingeborene Urteilskraft,<br />

zwischen Gut <strong>und</strong> Böse zu unterscheiden, sowie dem Gr<strong>und</strong>satz <strong>von</strong> der Freiheit des<br />

menschlichen Willens. Dabei bezieht er sich auf <strong>die</strong> Sittenlehre der antiken<br />

Philosophen, <strong>die</strong> für ihn <strong>die</strong> Ethik am tiefest gehend erörtert haben. Dante spielt hier<br />

auf <strong>die</strong> in seiner Zeit so beliebte Tugendliteratur an, <strong>die</strong> sowohl <strong>die</strong> Ethik der<br />

römischen Stoa mit den vier Kardinaltugenden rezipiert als auch <strong>die</strong> Nikomachische<br />

Ethik des Aristoteles, <strong>von</strong> welcher Auszüge auch gerne den vier Kardinaltugenden<br />

zugewiesen werden. 71 Entsprechend ist Dantes Purgatorio das Reich der vier<br />

70 "Ne igitur de cetero inde virtutis oppressio sive morum corruptio, <strong>und</strong>e vitiorum<br />

exterminatio ac vite speratur correctio, sacro approbata consilio saluberima lege iubente de tam amara<br />

prof<strong>und</strong>itate librorum resecatis superfluis, similibus et contrariis prorsus eiectis et ambiguis data luce,<br />

per sapientes viros dotatos scientie ac experientie .... Hoc igitur opus exiguum claritate lustratura<br />

latentes et amplos thesauros aperiens tamquam donum desursum a luminum patre proveniens, placida<br />

manu et claro vultu ac sincera mente unusquisque suscipiat et maxime Reipublice presides ut optimi<br />

fiant ministri iustitie, per cuius regulas aperta via rectitudinis et veritatis cognitione dilucida, refrenatis<br />

obnoxiis iurgiorumque propulsa materia, respirent a controversiis cum levi dispendio litigantes et,<br />

dicte pretiose virtutis viribus reseratis, ardua scelerum succedente vindicta que pacis dulcedinem<br />

secum ducat ... et legis virtute fruentes in omne tempus evumque felices nec in paupertate vivere nec<br />

in anxietate deficere permictantur." Prohemium constituti Comunis Senarum (1337/39), S. 352 f.,<br />

publ. bei ASCHERI / FUNARI (1989)<br />

71 So zum Bsp. BARTOLOMEO DA SAN CONCORDIA: Ammaestramenti degli antichi; ANONIMO<br />

(1313/23): Fiore di virtù sowie auch THOMAS VON AQUIN in der Summa theologica<br />

222


Kardinaltugenden: Am Fuss des Läuterungsberges sind sie der Strahlenkranz, in<br />

welchem das Antlitz Catos, dem Wächter des Purgatoriums, leuchtet; am Ende des<br />

Läuterungsprozesses sind sie das Tugendideal, das Dante erreicht hat. Im irdischen<br />

Para<strong>die</strong>s entlässt ihn Vergil aus seiner Obhut, den nun ist sein Auftrag erfüllt, seinen<br />

Schützling bis zur Verwirklichung des antiken Tugendideals zu geleiten. Während <strong>die</strong><br />

vier am Fuss des Läuterungsberges als Sternenlichter im Himmelsgewölbe funkeln,<br />

werden sie auf dem Gipfel des Berges zu weiblichen Wesen, <strong>die</strong> dem Wanderer im<br />

irdischen Para<strong>die</strong>s erscheinen, der nun gemäss ihrem Ideal handelt.<br />

Prudentia, <strong>die</strong> Klugheit, Justitia, <strong>die</strong> Gerechtigkeit, Fortitudo, <strong>die</strong> Tapferkeit <strong>und</strong><br />

Temperantia, <strong>die</strong> Mässigkeit, beherrschen auch das Purgatorium <strong>Ambrogio</strong><br />

<strong>Lorenzetti</strong>s. Sie erscheinen als Regentinnen in edlen Gewändern, gotischen<br />

Königinnen gleich, mit langen, offenen Mänteln <strong>und</strong> edelsteinbesetzten Kronen. Ihr<br />

Platz ist auf der Thronbank, links <strong>und</strong> rechts des Regenten. Zu den vier Tugenden, <strong>die</strong><br />

den Kanon des antiken Tugendideals bilden, haben sich ausserdem Pax, der Frieden<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Magnanimitas, der Grossmut gesellt. Während sich <strong>die</strong> Pax durch ihre<br />

Lässigkeit aber stark <strong>von</strong> den Vieren unterscheidet, ist Magnanimitas in ganz ähnlicher<br />

Ausstattung dargestellt. So hat Pax auch eine andere Bedeutung <strong>und</strong> Funktion in der<br />

Allegorie, auf <strong>die</strong> wir später zu sprechen kommen. Magnanimitas indessen ergänzt das<br />

Viergespann. Sieht man <strong>von</strong> bildtechnischen Überlegungen ab, mag <strong>die</strong> Wahl auf<br />

Magnanimitas gefallen sein, weil sie in der Tugendliteratur des frühen 14.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts nebst den Kardinaltugenden stark präsent ist. In der Tradition der Stoa<br />

gilt sie als Synonym oder Untertugend der Fortitudo, während ihr auch Aristoteles<br />

einen wichtigen Platz in seiner Tugendreihe einräumt.<br />

Fast scheint es so, dass sich in <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s Purgatorium auch Cato<br />

Uticensis, der Wächter des Läuterungsberges, verbirgt. So ist <strong>die</strong> Figur des Herrschers,<br />

den <strong>die</strong> Tugenden flankieren, in ein Kleid gehüllt, dass trotz gotischen Goldbordüren<br />

noch den Schnitt einer Toga erkennen lässt. Diese Anspielung auf das antike Rom, der<br />

politischen Heimat Catos, setzt sich auch zu Füssen der Figur fort, wo eine Wölfin, ein<br />

menschliches Zwillingspaar säugend, an <strong>die</strong> römischen Gründungslegende erinnert.<br />

Auch ähnelt seine menschliche Gestalt der Beschreibung Dantes <strong>von</strong> Cato. Er schildert<br />

ihn als Ehrfurcht einflössenden Greis, mit langem gelocktem, graumeliertem Haar <strong>und</strong><br />

einem Bart, der in zwei Streifen zur Brust hinunter fällt. Mit Cato Uticensis, dem<br />

Widersacher Caesars, hat Dante ausserdem eine, in der Toskana des frühen 14.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts sehr populäre Figur als Wächter des Läuterungsberges gewählt: Er gilt<br />

als "Spiegel <strong>und</strong> Beispiel für alle Bürger" 72 <strong>und</strong> will man damals einen Bürger für sein<br />

72 "Elli era padre e marito de la città di Roma, et era specchio et esemplo di tutti cittadini."<br />

ANONIMO (um 1300): Fatti di Cesare, S. 15<br />

223


vorbildliches <strong>und</strong> herausragendes Tun auszeichnen, wird ihm der Name "Cato"<br />

verliehen. 73 Verehrt wird Cato sowohl für seine Tugendhaftigkeit wie auch für seinen<br />

starken Willen, weil er den Tod nicht scheute, als ihm nach dem Sieg Caesars <strong>die</strong><br />

Gefahr drohte, unter <strong>die</strong> Herrschaft einer oppressiven Macht zu fallen. Auch Dante hat<br />

ihn deshalb als Wächter des Purgatorio gewählt. Er preist ihn als Freiheitshelden, der<br />

den Tod dem Anblick des Tyrannen vorzieht, im Bewusstsein, dass durch den Verlust<br />

politischer Freiheit, auch <strong>die</strong> Freiheit verloren geht, Tugend zu verwirklichen. 74<br />

Die fünf Kardinaltugenden, <strong>die</strong> links <strong>und</strong> rechts des beispielhaften Bürgers sitzen,<br />

haben im Purgatorium <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s <strong>die</strong> Funktion, dem Betrachter den Weg<br />

der individuellen Läuterung zu weisen. Sie sind Ziel des Läuterungsprozesses, der<br />

vom status miserie zum ersehnten irdischen Glück des einzelnen führt. Gleichzeitig<br />

hat schon das Streben nach der Verwirklichung <strong>die</strong>ser Tugenden purgatorische<br />

Wirkung. Denn Tugend, so heisst es in den meisten Traktaten jener Zeit, verwirklicht<br />

sich nicht in der speculatio, sondern in der operatio, in dem Streben nach tugendhafter<br />

Handlung. Die Kardinaltugenden werden deshalb auch als purgatorische Kräfte<br />

betrachtet: Die Klugheit reinigt den Intellekt <strong>von</strong> der Dunkelheit, <strong>die</strong> Gerechtigkeit den<br />

Willen, Rechtswidriges zu unterlassen, <strong>die</strong> Stärke oder der Mut <strong>die</strong> Regungen <strong>von</strong><br />

Angst <strong>und</strong> Niedertracht in gefährlichen Situationen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Mässigkeit reinigt das<br />

sinnliche Verlangen <strong>von</strong> schlechten Begierden. 75<br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s Kardinaltugenden halten alle Gegenstände, <strong>die</strong> ihr<br />

spezifisches Wesen näher beschreiben. Als Damen, <strong>die</strong> mit Attributen versehen sind,<br />

gleichen sie den seit der Karolingerzeit beliebten Personifikationen <strong>von</strong> Tugenden.<br />

Aussergewöhnlich dabei ist jedoch, dass <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> sie nicht mit den in der<br />

bildenden Kunst immer wieder verwendeten Attributen versehen hat, sondern fast<br />

durchgehend andere Gegenstände wählt. Teilweise nehmen <strong>die</strong>se Gegenstände gerade<br />

auch <strong>die</strong> eben beschriebene purgatorische Wirkung auf: Prudentia hält ein Licht,<br />

Fortitudo ist gegen Gefahr gerüstet <strong>und</strong> hält mutig den Schlagstock, während Justitia<br />

<strong>die</strong> Symbole der Rechtsprechung hält, <strong>die</strong> den Willen zügelt, Unrecht zu tun.<br />

Insgesamt sagen <strong>die</strong> Attribute aber noch mehr <strong>über</strong> das Wesen der fünf Tugenden aus.<br />

Mit <strong>die</strong>sen Attributen werden wir schliesslich in <strong>die</strong> damals so beliebten<br />

Tugendtraktate entführt, deren Kenntnis auch <strong>von</strong> Dante vorausgesetzt wird.<br />

73 VALERIUS MAXIMUS, Facta et dicta memorabilia, II.10.8, S. 70 f.; s. a. Volgarefassung<br />

VALERIO MASSIMO; siehe zur Auseinandersetzung mit der Gestalt Cato Uticensis in der Antike GOAR<br />

(1987) 74 Convivio IV.28; Purgatorio I. 37 ff., bes. auch 71-72; Monarchia II.5.15<br />

75 FRA PAOLO MINORITA (1315): De regimine rectoris, S. 5<br />

224


Die erste Dame, links neben der Figur der Kommune, ist Prudentia. Sie trägt ein<br />

blaues, brokatbestickten Kleid, um ihr Haar hat sie ein weisses Tuch geschlungen. Sie<br />

ist <strong>die</strong> älteste der Damen. In der Hand hält sie eine Öllampe mit drei brennenden<br />

Fackeln. Im Schein der Flammen lassen sich drei Wörter entziffern, "Praeteritum<br />

Praesens Futurum" - "Vergangenheit Gegenwart Zukunft", auf welche Prudentia<br />

zeigt. Die Wörter zieren einen Fächer, der im Schoss der edlen Dame ruht.<br />

Als älteste der Damen ist Prudentia <strong>die</strong> ”Mutter” des sittlichen Handelns. 76 Sie geht<br />

den vier anderen Tugenden voraus, mit der Öllampe weist sie den Weg. 77 Klug handeln<br />

heisst, sich in einer konkreten Situation für das sittlich Gute zu entscheiden. 78<br />

Eingeb<strong>und</strong>en in das System der Kardinaltugenden, ist <strong>die</strong> Klugheit an <strong>die</strong> Regeln des<br />

sittlichen Handelns geb<strong>und</strong>en: Taktieren, Integrieren <strong>und</strong> Verschlagenheit sind nicht<br />

Akte der Prudentia. 79 Als ”Mutter” der politischen Tugenden setzt <strong>Ambrogio</strong><br />

<strong>Lorenzetti</strong> sie in Bezug zur göttlichen Tugend der Sapientia. Auch <strong>die</strong> göttliche<br />

Weisheit ist im Unterschied zu den anderen Tugenden in fortgeschrittenem Alter<br />

abgebildet <strong>und</strong> erscheint hier als ”Mutter” der drei theologischen Tugenden. 80 Während<br />

Sapientia jedoch <strong>die</strong> letzten Ziele des menschlichen Lebens zu erkennen sucht, ist<br />

Prudentias Gegenstand der Einzelsachverhalt. 81<br />

Prudentias Erscheinungsbild ist ohne Parallele in der Kunst des 13. <strong>und</strong> 14.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts, ihre traditionellen Attribute sind <strong>die</strong> Schlange, das Buch oder der<br />

Spiegel. 82 Doch aus <strong>die</strong>ser Zeit gibt es kaum einen Tugendtraktat oder Vers <strong>über</strong> <strong>die</strong><br />

76 ”Prudentia dicitur genetrix virtutum.” THOMAS VON AQUIN, zitiert nach PIEPER (1958); S. 4;<br />

GUIDO FABA (frühes 13. Jh.): Summa de vitiis et virtutibus: ”discretione, que virtutum est mater.”<br />

77 BRUNETTO LATINI (1260/66): Trésor, II.57, S. 231: ”prudence ... k’ele vait par devant les<br />

autres vertus et porte la lumiere et moustre as autres la voie; car ele done le conseil, mais les autres .iii.<br />

font l’oevre.” FRA PAOLO MINORITA (1315): De regimine rectoris, cap. VI, S. 5: ”[C]hè prudentia si è<br />

una vertude enluminativa delle entellecto humano a descerner entro quelle cose le qual sè da sequire o<br />

da laxare.”<br />

78 BRUNETTO LATINI (1260/66): Trésor, II.31, S. 201; ARISTOTELES: Nikomachische Ethik,<br />

VI.9.1142 a 12 ff., S. 140 f.; zu THOMAS VON AQUIN siehe PIEPER (1958); S. 9<br />

79 PIEPER (1958), S. 17 f.; GRAZIOLO BAMBAGLIOLI (1335): Trattato sopra le virtù morali, c.<br />

6r: GRAZIOLO BAMBAGLIOLI spricht wie Thomas <strong>von</strong> Aquin <strong>von</strong> der prudentia de la carne, <strong>die</strong> er als<br />

Opportunismus beschreibt. Er beklagt sich dar<strong>über</strong>, dass ihr aufgr<strong>und</strong> <strong>von</strong> Habgier <strong>und</strong> Eitelkeit ein<br />

Grossteil der Menschen verfallen seien. Siehe auch BRUNETTO LATINI (1260/67): Trésor, II.56, S. 230<br />

f. für <strong>die</strong> Einbindung der Klugheit in <strong>die</strong> Reihe der Kardinaltugenden sowie ebd, II.58, S. 232, gegen<br />

Opportunismus. GRAZIOLO BAMBAGLIOLO <strong>und</strong> BRUNETTO LATINI verwenden beide das auf Seneca<br />

zurückgehende Bild eines Menschen, der seine Meinung entsprechend der Umgebung, in der er sich<br />

befindet, ändert.<br />

80 Sapientia als Mutter der Fides, Spes <strong>und</strong> Caritas, bzw. Sophie als Mutter <strong>von</strong> Pistis, Elpis<br />

<strong>und</strong> Agapè geht auf eine byzantinische Heiligenlegende zurück. Dazu siehe: VAN ESBROECK (1981),<br />

S. 128 ff.<br />

81 Zu THOMAS VON AQUIN: PIEPER (1958), S. 10; ARISTOTELES: Nikomachische Ethik, VI.7 f.,<br />

1141a 9 ff., S. 137 ff.; CICERO: De officiis, I.153, S. 133 f.<br />

82 Dazu PFEIFFENBERGER (1966), S. V.1 ff.; siehe zur Schlange als Bild der Klugheit auch<br />

BRUNETTO LATINI: Trésor, I.137; GUIDO FABA (frühes 13. Jh.): Summa de vitiis et virtutibus, S. 140<br />

225


vier Kardinaltugenden, der nicht den zeitlichen Bezug der Klugheit thematisiert. 83 Mit<br />

Cicero werden das Erinnerungsvermögen, <strong>die</strong> Unterscheidungskraft <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Voraussicht als <strong>die</strong> drei wesentlichen Teile der Klugheit betrachtet <strong>und</strong> auf <strong>die</strong><br />

Zeitachse bezogen. 84 <strong>Der</strong> Kluge weiss, in der Gegenwart das Richtige vom Falschen zu<br />

unterscheiden <strong>und</strong> in seiner Entscheidfindung sowohl <strong>die</strong> Vergangenheit als auch <strong>die</strong><br />

Zukunft zu berücksichtigen.<br />

Massgebend an der Seite der Kommune plaziert, ist <strong>die</strong> Klugheit <strong>die</strong> politische<br />

Tugend schlechthin. Als staatsbürgerliche Tugend fordert sie allgemein, dass durch sie<br />

der Mensch sein Handeln auf das Gemeinwohl ausrichtet. 85 Unter der Tugend der<br />

Prudentia werden in Tugendtraktaten gerne <strong>die</strong> Qualitäten aufgeführt, <strong>die</strong> <strong>von</strong> einem<br />

politisch verantwortlichen Bürger in den Kommune erwartet werden: 86 Als erste<br />

Voraussetzung gilt <strong>die</strong> tugendhafte Herrschaft <strong>über</strong> <strong>die</strong> eigene Person: Nur derjenige<br />

sei zu Herrschaft fähig, der sich auch selbst gemäss den Regeln der Tugend zu lenken<br />

vermag. 87 Weitere Eigenschaften, <strong>die</strong> verlangt werden, sind <strong>die</strong> Bereitschaft, Rat<br />

einzuholen, Kritik zu ertragen <strong>und</strong> sich vor Schmeichlern zu hüten. Besonders wichtig<br />

sind für <strong>die</strong> Bürger italienischer Kommunen <strong>die</strong> Redekunst <strong>und</strong> das Wissen, wann zu<br />

schweigen ist. 88<br />

Fortitudo, Prudentias Nachbarin, blickt ernst <strong>und</strong> ist schwer bewaffnet. Über ihren<br />

roten Rock hat sie sich ein dunkles, Bronze schimmerndes Kleid gestreift, das weit<br />

<strong>über</strong> das Knie hinabfällt. Ein Brustharnisch bedeckt ihren Oberkörper. Schützend trägt<br />

83 U.a.: BRUNETTO LATINI (1260/66): Trésor, II.58, S. 233; FRA GUIDOTTO: Fiore di<br />

Rettorica, S. 209 / S. 229; BONO GAMBIONI (um 1300): Libro de’ vizi e delle virtudi, S. 58; JOHN OF<br />

WALES (ca. 1260): Breviliquium de virtutibus, zit. nach SWAN (1978), S. 50; BINDO BONICHI (ca.<br />

1275-1338): Rime, Canzone 6; THOMAS VON AQUIN (1269/72): Summa theologica, II-II.48.1, S. 239;<br />

EGIDIO ROMANO (1286): Livre dou gouvernement des rois, I.II.8, S. 40; AN.: Fiore di virtù, S.886;<br />

FRA PAOLO MINORITA (1315), De regimine rectoris, cap. VII, S. 6 f.<br />

84 CICERO: De inventione, II.53.160, S. 327<br />

85 THOMAS VON AQUIN (1269/72): Summa theologica, II-II.50.1 ff., S. 269 ff.; GRAZIOLO<br />

BAMBAGLIOLI (1335): Trattato sopra le virtù morali, c. 7r<br />

86 GRAZIOLO BAMBAGLIOLI (1335): Trattato sopra le virtù morali, c. 7r ff.; FRANCESCO DA<br />

BARBERINO (1308/1313): Documenti d’amore, VII.6, III, S. 77 ff.; THOMAS VON AQUIN behandelt <strong>die</strong><br />

politische Führungskunst <strong>und</strong> den Staatsbürgersinn unter der Tugend der Klugheit: Summa theologica,<br />

II-II.47.10 ff., S. 218 ff.; ebd. 50.1 f., S. 269 ff.; für Politik als Klugheitslehre s.a. EGIDIO ROMANO<br />

(1286): Livre dou gouvernement des rois, I.II.7, S. 38 f.; dazu BERGES (1938), S. 221.<br />

87 GRAZIOLO BAMBAGLIOLI (1335): Trattato sopra le virtù morali, c. 7r; THOMAS VON AQUIN:<br />

(1269/72): Summa theologica, II-II.50.2; EGIDIO ROMANO (1286), Livre dou gouvernement des rois,<br />

teilt seinen Fürstenspiegel in drei Teile: Erstens Herrschaft <strong>über</strong> sich selbst, zweitens <strong>über</strong> <strong>die</strong> Familie<br />

<strong>und</strong> drittens poltische Herrschaft. FRA PAOLO MINORITA (1315): De regimine rectoris, cap. VI, S. 5;<br />

BINDO BONICHI (ca. 1275-1338): Rime, Canzone 11; BARTOLOMEO DA SAN CONCORDIA:<br />

Ammaestramenti degli antichi<br />

88 GRAZIOLO BAMBAGLIOLI (1335): Trattato sopra le virtù morali, c. 7v ff.; zur Redekunst<br />

unter der Klugheit, s.a.: BRUNETTO LATINI (1260/66): Trésor, II.62 ff., S. 236 ff. sowie allgemein<br />

ARTIFONI (1986)<br />

226


sie einen Schild vor sich her, ihre rechten Faust umschliesst drohend einen<br />

Schlagstock. Auf ihrem Kopf sitzt ein Helm, der mit Diamanten besetzt <strong>und</strong> mit einer<br />

Strahlenkrone verziert ist.<br />

Fortitudo scheint sich auf den Krieg zu beziehen - im Unterschied zu guerra im<br />

Inferno aber nicht auf Parteifehden, sondern auf den Krieg, bellum, den <strong>die</strong> Kommune<br />

rechtmässig führt, also auf der Gr<strong>und</strong>lage eines Beschlusses des Consiglio generale.<br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> geht hier nämlich einen anderen Weg als üblich. Fortitudo-<br />

Darstellungen seiner Zeit zeigen <strong>die</strong> Tugend der Stärke nicht als Kriegerin, sondern in<br />

Formen, <strong>die</strong> mit Cicero <strong>und</strong> Seneca den Aspekt der Grossgesinntheit in den<br />

Vordergr<strong>und</strong> stellen. 89 Seneca hat sie gar als ihr Synonym begriffen <strong>und</strong> in <strong>die</strong>sem<br />

Zusammenhang <strong>die</strong> Aspekte Geduld <strong>und</strong> Beständigkeit eingeschlossen. 90<br />

Magnanimitas ist jedoch im Bild selbst präsent. Gestützt auf Aristoteles erscheint <strong>die</strong><br />

Stärke hier deshalb als <strong>die</strong> Tugend, <strong>die</strong> sich mit dem besonderen Thema der<br />

Todesgefahr <strong>und</strong> des Krieges auseinandersetzt. 91 Wahre Tapferkeit, so heisst es in einer<br />

Aristotelesrezeption, <strong>die</strong> auf das Umfeld der Kommune gemünzt ist, verlange vom<br />

Bürger, dass er erstens nicht für sein eigenes Wohl kämpfe, sondern für das der<br />

Kommune, zweitens um der Gerechtigkeit willen vor Todesgefahren nicht<br />

zurückschrecke, drittens der Gefahr ruhig ins Auge blicke, viertens seine Mitkämpfer<br />

nicht im Stich lasse <strong>und</strong> fünftens der Kommune im Bewusstsein der Gefahren des<br />

Krieges <strong>die</strong>ne. 92 Fortitudos Stellung zwischen Prudentia <strong>und</strong> Pax scheint nicht zufällig<br />

zu sein. Rechts mahnt <strong>die</strong> Klugheit, dass sie der Tapferkeit in der Schlacht vorangehen<br />

muss. Links weist <strong>die</strong> Pax darauf hin, dass Krieg nur mit Aussicht auf Frieden geführt<br />

werden soll. 93<br />

Magnanimitas, <strong>die</strong> enge Gefährtin Fortitudos, ist gleich rechts <strong>von</strong> der Figur der<br />

Kommune zu sehen. In der einen Hand hält sie eine Krone; mit der anderen schöpft sie<br />

aus einer reichlich mit Gold gefüllten Schale.<br />

89 CICERO: De inventione, II.54.163, S. 331; DERS.: De officiis, I.63, S. 59; ebd. I.79, S. 171<br />

90 Dazu BRUNETTO LATINI (1260/66): Trésor, II.81, S. 260<br />

91 ARISTOTELES: Nikomachische Ethik, III.9, 1115a 25 ff., S. 59 f.; THOMAS VON AQUIN<br />

(1269/72): Summa theologica, II-II.123.5, S. 17 ff.; ebd. 123.11, S. 36; EGIDIO ROMANO (1286): Livre<br />

dou gouvernement des rois, I.II.13, S. 50; s. a. JACOPO DELLA LANA (vor 1328), III, canto 15<br />

92 ”... quando l’omo se mete in perigolo per schivar penna de algun statuto e per atrovar un<br />

grande honor; costu’ fase çò per privada utilitade; ma colui che çò fase per vertude de forteça sì guarda<br />

no a si, mo ad utilitade del comun. ... la forteça fortificha la irascibilitade proprieamente contra’<br />

perigoli de morte per justa chaxon. ... segondo che dise Aristotele, ananti lo perigolo è quieto, no irado<br />

nè furioso ... lu el qual aveva forteça verasia en l’anema, abandonado una fiada da li soi cavaleri,<br />

avanti volse morir che scampar. ... Colui ch’è forte veraxiamente, conoxando el perigolo, se ’nde mete<br />

per servisio del so comun.” FRA PAOLO MINORITA (1315): De regimine rectoris, cap. X, S. 11 f.; vgl.<br />

CICERO: De officiis, I.62, S. 57 f.<br />

93 Zu THOMAS VON AQUIN siehe PIEPER (1958), S. 118; CICERO: De officiis, I.79, S. 71<br />

227


Mit Aristoteles wird <strong>die</strong> Magnanimitas <strong>von</strong> der Fortitudo als <strong>die</strong> Tugend<br />

abgegrenzt, <strong>die</strong> das friedliche Feld der Ehre besetzt, während <strong>die</strong> Fortitudo den<br />

Bereich der Todesgefahren abdeckt. 94 Die Ehre, auf welche <strong>die</strong> Krone in den Händen<br />

der Magnanimitas hindeutet, wird zum Massstab für das sittlich Grosse. Zwar soll der<br />

Grossgesinnte <strong>die</strong> menschliche Ehre geringschätzen, doch soll er sich Taten zum Ziel<br />

setzen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> grössten Ehren einbringen, das heisst er soll Grosses auf den Gebieten<br />

der Gerechtigkeit, des Gemeinwohls oder auch der Gottesverehrung leisten. 95<br />

Prominent neben der Figur der Kommune plaziert, lebt in der Magnanimitas <strong>die</strong><br />

ciceronische Definition der Grossgesinntheit als <strong>die</strong> Kraft weiter, <strong>die</strong> den Menschen zu<br />

”tapferen Taten des Friedens” animiert <strong>und</strong> als solche <strong>die</strong> Tapferkeit im Krieg<br />

<strong>über</strong>steigt. 96 Sie festigt den Geist für <strong>die</strong> Verwirklichung <strong>von</strong> Gerechtigkeit <strong>und</strong><br />

Gemeinwohl. 97 Für Cicero ist es eine bürgerliche Pflicht, dass jene, denen <strong>von</strong> der<br />

Natur <strong>die</strong> Dynamik des Handelns gegeben wird, danach streben, ein öffentliches Amt<br />

zu besetzen <strong>und</strong> das Gemeinwesen zu führen. Andernfalls könne <strong>die</strong> Bürgerschaft<br />

weder gelenkt, noch Seelengrösse ans Licht gerückt werden. Die Grossgesinntheit<br />

veranlasst den Bürger, sich für sein Gemeinwesen zu engagieren, ungeachtet der<br />

Launenhaftigkeit, der er sich durch <strong>die</strong> politische Tätigkeit aussetzt. 98 Mit Aristoteles<br />

<strong>und</strong> Cicero <strong>über</strong>nimmt Magnanimitas eine ähnliche Orientierungsfunktion für das<br />

sittliche Handeln im politischen Raum wie <strong>die</strong> Prudentia. So wie <strong>die</strong> Klugheit dem<br />

staatsbürgerlichen Handeln vorangehen muss, hat <strong>die</strong> Grossgesinntheit <strong>die</strong> Funktion,<br />

den Geist des Bürgers auf <strong>die</strong> Verwirklichung <strong>von</strong> Gerechtigkeit <strong>und</strong> Gemeinwohl<br />

auszurichten.<br />

Das Gold, das Magnanimitas verteilt, verdeutlicht <strong>die</strong> Art <strong>und</strong> Weise, wie der<br />

Grossgesinnte mit den weltlichen Gütern umgeht. Während Cicero vom<br />

Grossgesinnten verlangt, das Geld zu verachten, wenn er keines besitzt <strong>und</strong>, falls er<br />

reich ist, <strong>die</strong>ses auszugeben, da ”nichts eine so engstirnige <strong>und</strong> kleinliche Gesinnung<br />

verrät wie Reichtum zu lieben,” 99 rückt <strong>die</strong> Aristotelesrezeption den Aspekt des<br />

Geldausgebens in den Vordergr<strong>und</strong>. <strong>Der</strong> Grossgesinnte weiss <strong>von</strong> irdischen Dingen<br />

94 ARISTOTELES: Nikomachische Ethik, IV.7, 1123b 20 f.; THOMAS VON AQUIN (1269/72):<br />

Summa theologica, II-II.129.1, S. 98; ebd., II-II.129.5, S. 112 ff.; EGIDIO ROMANO (1286): Livre dou<br />

gouvernement des rois, I.II.22, S. 72; FRA PAOLO MINORITA (1315): De regimine rectoris, cap. XIV,<br />

S. 17<br />

95 THOMAS VON AQUIN (1279/62): Summa theologica, II.-II.129.3, bes. auch ad 4, S. 103 ff.;<br />

siehe auch Kommentar, bes. S. 507.<br />

96 CICERO: De officiis, I.74 ff., S. 67 ff.<br />

97 Ebd., I.62, S. 57<br />

98 Ebd., I.69 ff., S. 63 ff., bes. I.72, S. 65<br />

99 Ebd. I.68, S. 63<br />

228


Abstand zu halten, doch schätzt er das Geld als nützliches Mittel <strong>und</strong> als Multiplikator<br />

der Ehre. 100<br />

An der Seite der Magnanimitas befindet sich Temperantia, das Mass oder <strong>die</strong><br />

Besonnenheit. Sie zeigt auf eine Sanduhr, <strong>die</strong> sie auf ihre rechte Handfläche gestellt<br />

hat. Im Augenblick ist der Sand zur Hälfte in das untere Glas gerieselt. Mit der<br />

Sanduhr geht <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> wieder neue Wege. Üblicherweise halten <strong>die</strong><br />

Temperantia-Figuren im 13. <strong>und</strong> frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert zwei Krüge in der Hand,<br />

gefüllt mit heissem <strong>und</strong> kaltem Wasser, <strong>die</strong> <strong>von</strong> ihnen ausgeleert werden.<br />

Unterstrichen wird das ”temperierende”, ausgleichende Moment <strong>die</strong>ser Tugend. In<br />

Kirchen erscheint sie oft auch als Figur der Keuschheit. Giotto hat ihr in der Arena-<br />

Kapelle ein geb<strong>und</strong>enes Schwert gegeben <strong>und</strong> ihr einen Zügel durch den M<strong>und</strong><br />

gezogen, damit <strong>die</strong> bremsende Wirkung auf <strong>die</strong> menschlichen Leidenschaften in den<br />

Vordergr<strong>und</strong> rückend. 101<br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s Sanduhr ist ein Instrument der Zeitmessung, das den<br />

kontinuierlichen, regelmässigen Lauf der Zeit (tempus) verdeutlicht. Mit Cicero<br />

erscheint Temperantia hier als <strong>die</strong> Tugend, <strong>die</strong> Ordnung, Beständigkeit <strong>und</strong> Mass in<br />

den Ablauf aller Handlungen <strong>und</strong> Äusserungen hineinbringt. 102 Im Ambiente der<br />

Sieneser Kaufleute wird sie deshalb auch als Tugend beschrieben, <strong>die</strong> bewirke, dass<br />

Verträge geschlossen <strong>und</strong> eingehalten würden. 103<br />

Das Mass, das im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert als <strong>die</strong> goldene Regel angeführt wird, <strong>die</strong><br />

Ordnung im Leben des einzelnen Menschen herstellt, veranschaulicht <strong>die</strong><br />

Momentaufnahme des durchgerieselten Sandes: Temperantia hält <strong>die</strong> Mitte. Die Regel,<br />

dass Tugend jedes Übermass flieht, geht auf Aristoteles zurück, der <strong>die</strong> Mitte als <strong>die</strong><br />

Leitlinie für das gesamte sittliche Verhalten betrachtet. 104 Zur Zeit <strong>Ambrogio</strong><br />

<strong>Lorenzetti</strong>s wird <strong>die</strong>se Regel der Temperantia zugewiesen. Sie gilt bei den<br />

Zeitgenossen als <strong>die</strong> Tugend, <strong>die</strong> immer dann Anwendung findet, wenn der Mittelweg<br />

100 ARISTOTELES: Nikomachische Ethik, IV.8, 1124 a 21 ff.; THOMAS VON AQUIN (1269/72):<br />

Summa theologica, II-II.129.8, S. 123 ff.; Ebd., II-II.134.2 ad 2; EGIDIO ROMANO (1286): Livre dou<br />

gouvernement des rois, I.II.21, S. 69 f.<br />

101 PFEIFFENBERGER (1966), S. V:14 ff.; in Handschriften der Somme le Roi des 15.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts findet sich Temperantia mit dem Attribut der Uhr abgebildet; siehe TUVE (1963)<br />

102 CICERO: De inventione, II.54.164, S. 331; ders.: De officiis, I.15, S. 17; ebd., I.93 ff., S. 83<br />

ff.; siehe auch: GUIDO FABA (frühes 13. Jh.): Summa de vitiis et virtutibus, S. 138 f.; BRUNETTO<br />

LATINI (1260/66): Trésor, II.74, S. 250 f.;: JACOPO DELLA LANA (vor 1328), III, S. canto 21;<br />

GRAZIOLO BAMBAGLIOLI (1335): Trattato sopra le virtù morali, c. 21r ff.; THOMAS VON AQUIN<br />

(1269/72): Summa theologica, II-II.141.8, S. 263; ebd. 143.1 (Schönheit); ebd. 155.4; ebd. 156.3; zu<br />

Thomas <strong>von</strong> Aquin auch PIEPER (1958), S. 138 ff.; vgl. ANONIMO (1313/1323): Fiore di virtù, S. 433;<br />

OTTIMO-COMMENTO (1334), III, S. 467<br />

103 BINDO BONICHI (ca. 1275-1338): Rime, Canzone 6<br />

104 ARISTOTELES: Nikomachische Ethik, II.5, 1106b 15 ff., S. 35<br />

229


eingehalten wird: 105 Sie ist <strong>die</strong> donna dell’onore, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Mitte zwischen Zuvielem <strong>und</strong><br />

Zuwenigem trifft. 106 Die Mitte bestimmt sich für Thomas <strong>von</strong> Aquin durch <strong>die</strong><br />

Vernunft, entsprechend den individuellen Voraussetzungen. 107 Im besonderen Bereich<br />

der Temperantia, der Begierde, ist <strong>die</strong> Mitte so festzulegen, dass <strong>die</strong> Triebkräfte weder<br />

unterdrückt, noch zügellos befriedigt werden. 108<br />

Auf <strong>die</strong> zwei Tugenden, Magnanimitas <strong>und</strong> Justitia, <strong>die</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> an<br />

<strong>die</strong> Seite der Temperantia gesetzt hat, soll das Mass vielleicht im Besonderen seine<br />

Wirkung entfalten. So betont Aristoteles, wie wichtig es sei, dass der Grossgesinnte<br />

wisse, <strong>die</strong> Mitte zwischen eigener Unter- <strong>und</strong> Überschätzung einzuhalten, um weder<br />

kleinmütig noch aufgeblasen zu sein. 109 Bei Aufwendungen für grosse Taten sind<br />

sowohl Engherzigkeit <strong>und</strong> Grosstuerei als auch Verschwendung <strong>und</strong> Geiz zu meiden. 110<br />

Gerne wird zur Zeit <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s angeführt, wie nötig <strong>die</strong> Gerechtigkeit <strong>die</strong><br />

Tugend des Masses habe, will sie nicht in Grausamkeit umkippen: Ihre Wahrheit soll<br />

<strong>von</strong> der Barmherzigkeit <strong>und</strong> der Schonung gemildert werden. Umgekehrt müsse aber<br />

105 BONO GAMBIONI (um 1300): Libro de’ vizi e delle virtudi, S. 62<br />

106 GRAZIOLO BAMBAGLIOLI (1335): Trattato sopra le virtù morali, c. 21r; s. a. JACOPO DELLA<br />

LANA (vor 1328), III, canto 21: ”Temperanza ... circa ogni opera di virtude non si faccia nè poco, nè<br />

troppo ... ella guarda l’onore suo all’uomo; l’onore dell’uomo è libertà della volontade.” Ebenfalls<br />

OTTIMO-COMMENTO (1334), III, S. 468<br />

107 Zu ARISTOTELES: Nikomachische Ethik, II.6, 1107a 1, S. 56; s.a. II.9, 11091 20, S. 42 f.<br />

sowie BRUNETTO LATINI (1260/66): Trésor, II.15 ff., S. 184 ff.; zur Mitte als Richtmass der Vernunft<br />

bei Thomas <strong>von</strong> Aquin siehe PIEPER (1958), S. 66, 106; bei der Gerechtigkeit ist <strong>die</strong>se Mitte eine<br />

sachbestimmte Mitte, während bei den anderen Tugenden wie der Temperantia, Fortitudo oder<br />

Magnanimitas <strong>die</strong> Mitte den persönlichen Voraussetzungen entsprechend festzulegen sei. Dazu auch<br />

FRA PAOLO MINORITA (1315): De regimins rectoris, S. 15<br />

108 Zu Thomas <strong>von</strong> Aquin siehe PIEPER (1958), S. 144 ff.; s. a. BRUNETTO LATINI (1260/66):<br />

Trésor, II.20, S. 191; ebd. II.77, S. 255 (in Verbindung mit Verteidigung Institution der Ehe). EGIDIO<br />

ROMANO (1286), S. 59, macht den König aufmerksam, dass bei zu grosser Genusssucht, das Volk<br />

sich gegen ihn wenden werde. FRA PAOLO MINORITA (1315), S. 14, warnt den Rektor vor<br />

Masslosigkeit im Essen, Trinken <strong>und</strong> in der Geschlechtsliebe, weil <strong>die</strong> ehrenhaften Bürger es nicht<br />

dulden werden. GIOVANNI DA VITERBO (ca. 1240), zit. bei HERTTER (1910), S. 61, rät den Rektoren,<br />

<strong>die</strong> während ihrer Amtszeit getrennt <strong>von</strong> ihren Ehefrauen leben, entweder zu versuchen, enthaltsam zu<br />

sein oder sich vorzusehen, dass ihre sexuellen Abenteuer nicht publik würden.<br />

109 ARISTOTELES: Nikomachische Ethik, IV.9, 1125a 17 ff., S. 88 f.; s. a. PIEPER (1958), S. 181<br />

ff.: wahre Selbsteinschätzung des Menschen durch <strong>die</strong> Tugend der Demut, <strong>die</strong> Thomas <strong>von</strong> Aquin mit<br />

der Magnanimitas in Verbindung setzt.<br />

110 ARISTOTELES: Nikomachische Ethik, IV. 6, 1123a 18 ff., S. 83<br />

230


auch <strong>die</strong> Wahrheit der Gerechtigkeit <strong>die</strong> Barmherzigkeit <strong>und</strong> Milde mässigen. 111 Justitia<br />

wird so auch zur Mitte zwischen Straferlass <strong>und</strong> Strenge. 112<br />

Justitia, <strong>die</strong> rechts <strong>von</strong> der Temperantia sitzt, schliesst <strong>die</strong> Reihe der noblen<br />

Damen, <strong>die</strong> gemeinsam mit der Figur der Kommune auf der Thronbank sitzen, ab.<br />

Streng <strong>und</strong> ernsthaft hält sie das Schwert aufrecht. Auf ihrem Knie, unterhalb des<br />

Schwertknaufes, liegt der abgeschlagene Kopf eines bärtigen Mannes, während sich in<br />

ihrer andere Hand eine Krone befindet. Diese Figur der Gerechtigkeit unterscheidet<br />

sich <strong>von</strong> jener Figur der Justitia links aussen durch ihr Äusseres, mit der sie sich in <strong>die</strong><br />

Reihe der Kardinaltugenden einordnet. Ihre Grösse <strong>und</strong> Haltung sind <strong>die</strong> gleichen wie<br />

<strong>die</strong> der Prudentia, Magnanimitas, Fortitudo <strong>und</strong> Temperantia. Dem Betrachter<br />

erscheint sie deshalb wie <strong>die</strong> anderen vier Tugenden als Ausprägung eines<br />

tugendgemässen Verhaltens. So ist sie also nicht einfach eine Wiederholung der<br />

grossen Figur der Justitia, sondern setzt gedanklich einen anderen Ansatzpunkt zum<br />

Thema der Gerechtigkeit. Im Blickpunkt stehen hier das gerechte Handeln des Bürgers<br />

oder Magistraten, während <strong>die</strong> grosse Figur der Justitia einen Wert symbolisiert, der<br />

sich auf das Gemeinwesen bezieht. Wie eng <strong>die</strong> Gerechtigkeit, <strong>die</strong> der einzelne<br />

Staatsbürger <strong>und</strong> Amtsinhaber verwirklichen kann, an <strong>die</strong> gerechte Ordnung im<br />

Staatswesen selbst gekoppelt ist, scheinen ihre doppelte Position zu verdeutlichen:<br />

Gemeinsam bilden sie einen abschliessenden Rahmen im Bild des Purgatorio. Auch<br />

einzelne Attribute wiederholen sich in den beiden Figuren. Während das Schwert <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> Krone im der grossen Figur der Justitia sich auf <strong>die</strong> Strafrechtsordnung der<br />

Kommune bezieht, werden sie in der kleinen Justitia zu Symbolen für das gerechte<br />

Verhalten des einzelnen.<br />

Das Schwert in der einen Hand der Justitia veranschaulicht <strong>die</strong> Gerechtigkeitsforderungen,<br />

zu denen der einzelne im Gemeinwesen rechtlich verpflichtet ist <strong>und</strong><br />

deren Nichterfüllung staatliche Sanktionen zur Folge hat. Das gerechte Handeln fällt<br />

somit mit der äusseren Gesetzestreue zusammen. Die Krone auf der anderen Seite<br />

ergänzt <strong>die</strong> Gerechtigkeit durch <strong>die</strong> moralisch verpflichtenden Gerechtigkeitsforderun-<br />

111 ”Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit ist <strong>die</strong> Mutter der Auflösung,” aber ”Gerechtigkeit<br />

ohne Barmherzigkeit ist Grausamkeit” (gestützt auf Matthäus), THOMAS VON AQUIN, zit. n. PIEPER<br />

(1958), S. 110; s. a. GRAZIOLO BAMBAGLIOLI (1335): Trattato sopra le virtù morali, c. 21r f. :”ut<br />

iustitie veritas per misericordiam et clementiam ac misericordia et clementia per veritatem et iustitiam<br />

temperetur”, c. 21v (gestützt auf Salomo); Brunetto Latini (1260/66): Trésor, II.112, S. 294:<br />

”Comment on doit moderer justice: en justice doit on garder dou trop et dou poi, et faire moienement.<br />

... en tel maniere qu ta doctrine ne deviegne vil par trop grant humilité, ne ne to moustre si dur et si<br />

cruel que tu en perdes la grasce de le gent” (gestützt auf Seneca).<br />

112 JOHN OF WALES (ca. 1260): Breviloquium de virtutibus, zit. nach TUVE (1963); siehe auch<br />

Moralium dogma philosophorum, ebenfalls bei TUVE (1963)<br />

231


gen. 113 Ihre Erfüllung hängt vorwiegend <strong>von</strong> der Ehrenhaftigkeit des einzelnen ab - wie<br />

schon bei der Magnanimitas symbolisiert durch <strong>die</strong> Krone. Letztlich berührt das<br />

Ehrenhafte <strong>die</strong> innere Verhaltensmotivation <strong>und</strong> fordert vom Gerechten, dass er nicht<br />

nur das Gerechte tut, sondern auch <strong>die</strong> entsprechende innere Haltung hat. Mit der<br />

Gerechtigkeit werden deshalb, gestützt auf Cicero <strong>und</strong> Macrobius, auch alle Tugenden<br />

in Verbindung gebracht, <strong>die</strong> im gesellschaftlichen Verkehr - einschliesslich im<br />

Umgang mit Gott - dem Anderen das ihm Gebührende zuerkennen. Solche Tugenden<br />

sind zum Beispiel Fre<strong>und</strong>schaft, Fre<strong>und</strong>lichkeit, Dankbarkeit, Ehrerbietung oder auch<br />

<strong>die</strong> Gottesverehrung (religio). 114<br />

Mit Schwert <strong>und</strong> Krone scheint sich Justitia auch besonders an jene zu wenden,<br />

<strong>die</strong> rechtsprechende Funktionen im Gemeinwesen zu erfüllen haben. Das Schwert als<br />

uraltes Symbol der Gerichtsgewalt mahnt, nur dann rechtsprechend tätig zu werden,<br />

wenn <strong>die</strong> Kompetenz der Gerichtsbarkeit auch <strong>von</strong> der Kommune verliehen worden<br />

ist. 115 Die Anwendung <strong>von</strong> privater Gewalt zur Durchsetzung des Rechts ist verboten.<br />

Traditionell bringt das Schwert auch <strong>die</strong> Gleichheit aller vor dem Gesetz zum<br />

Ausdruck. 116 Die Krone in der anderen Hand vermag in <strong>die</strong>ser Hinsicht dem<br />

Magistraten vor Augen zu führen, dass ”keine andere Tugend zu mehr Ehre zu helfen<br />

vermag als <strong>die</strong> Gerechtigkeit.” 117 Wiederholt heisst es, um der Gerechtigkeit genüge zu<br />

tun, solle der Rektor insbesondere darauf achten, nicht einen Unschuldigen zu<br />

verurteilen, mit dem Ziel, durch seinen Richterspruch <strong>die</strong> Massen zu beruhigen. 118<br />

113 Zur Unterscheidung zwischen rechtlich verpflichtenden Gerechtigkeitsforderungen <strong>und</strong><br />

moralisch verpflichtenden Gerechtigkeitsforderungen THOMAS VON AQUIN (1269/72): Summa<br />

theologica, II-II.102 ad 2 sowie ebd. II-II.106.4 ad 1; siehe PIEPER (1958), S. 57<br />

114 PIEPER (1958), S. 105 ff. (zu THOMAS VON AQUIN); s. für Untertugenden zur Iustitia auch<br />

BRUNETTO LATINI (1260/67): Trésor, II.94 ff., S. 275 ff.; BONO GAMBIONI (um 1300): Libro de’ vizi<br />

e delle virtudi, S. 62 ff.; JOHN OF WALES (ca. 1260): Breviloquium de virtutibus, zit. n. SWANSON<br />

(1989), S. 49<br />

115 KISSEL (1984); s. a. AN. (1313/1323): Fiore di virtù, S. 891<br />

116 KISSEL (1984)<br />

117 FRA PAOLO MINORITA (1315): De regimine rectoris, cap.VIII, S. 7: ”De’ancora considerar<br />

lo retor che per alguna oltra vertude el no po aquistar tanto honor con per justixia.”<br />

118 GRAZIOLO BAMBAGLIOLI (1335): Trattato sopra le virtù morali, c. 12r: ”per altrui fallo<br />

punir l’innocente e gravissimo errore ...”; FRANCESCO DA BARBERINO (1308/13): Documenti d’amore,<br />

IX.2, III, S. 292: ”Chela ragion richeggia di ciascuno per campar molti non uccider uno.” FRANCESCO<br />

DA BARBERINO gibt den Rektoren noch eine Reihe <strong>von</strong> weiteren Ratschlägen, für <strong>die</strong> er sich u. a. auch<br />

an der <strong>von</strong> ihm in Florenz erlebten Gerichtspraxis orientiert. So soll der Richter zum Beispiel auch auf<br />

<strong>die</strong> Prozesskosten für <strong>die</strong> Parteien achten <strong>und</strong> versuchen, den Prozess so schnell wie möglich zu<br />

beenden. Prozesse, in den Ausländer verwickelt sind, soll er aufgr<strong>und</strong> der nur temporären<br />

Aufenthaltsdauer rascher abwickeln. Er soll sich auch hüten, nach Gründen zu suchen, um schöne<br />

Frauen vor seine Gerichtsbank zu zitieren. Auch soll er nicht auf den Charme der Frauen achten, <strong>die</strong><br />

vor ihm prozessieren <strong>und</strong> sich nicht durch ihre Tränen <strong>und</strong> ihr Mitleid erweichen lassen. Ebd., S. 292<br />

ff.<br />

232


7.4. Die göttliche Liebe als Urkraft <strong>von</strong> Tugend <strong>und</strong> Gemeinsinn<br />

Das Idealbild des Bürgers definiert sich in den italienischen Kommunen <strong>über</strong> das<br />

Vorbild des römischen Bürgers Cato, der als Inbegriff der Verwirklichung vom<br />

antiken Tugendideal gilt. <strong>Der</strong> Heide Cato ist auch im Purgatorio Dantes der Wächter<br />

des Läuterungsberges. Gleichzeitig befinden wir uns jedoch im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

in einem christlichen Universum. So steigen auch bei Dante im Laufe des<br />

Läuterungsprozesses <strong>die</strong> drei theologischen Tugenden Glaube, Liebe, Hoffnung, am<br />

Himmelsfirmament auf. Sie haben <strong>die</strong> Funktion, den Bussprozess des Wanderers bis<br />

zur Spitze des Läuterungsprozesses zu unterstützen. Während <strong>die</strong><br />

Unterscheidungskraft <strong>von</strong> Gut <strong>und</strong> Böse sowie <strong>die</strong> Fähigkeit, das antike Tugendideal<br />

sowohl zu erkennen wie auch zu wollen, in der Natur des Menschen angelegt sind,<br />

gelten <strong>die</strong> drei christlichen Tugenden als Gnadengeschenke Gottes. Für Dante sind sie<br />

<strong>die</strong> Kraft, <strong>die</strong> den Willen der Menschen stärkt, ihre Handlungen in <strong>die</strong> richtige<br />

Richtung zu lenken. Antriebskraft für jegliche Handlung ist für Dante <strong>die</strong> Liebe, <strong>die</strong> an<br />

sich nie schlecht ist, <strong>die</strong> jedoch im Gegenstand zu irren vermag. Richtet sich <strong>die</strong>se<br />

Liebe jedoch auf das erste Gut, Gott, <strong>und</strong> hält in den anderen Gütern Mass, kann sie<br />

nicht zu schlechten Lüsten führen, <strong>die</strong> der Vernunft widersprechen. Damit wird der<br />

Gegensatz <strong>von</strong> antikem <strong>und</strong> christlichem Tugendideal aufgehoben; Glaube, Liebe <strong>und</strong><br />

Hoffnung werden in das Weltbild des zoon politikon integriert. So tanzen auch im<br />

Irdischen Para<strong>die</strong>s Dantes <strong>die</strong> drei christlichen Tugenden gemeinsam mit ihren vier<br />

antiken Schwestern. Idealbild eines Christen wird somit der Bürger der „im<br />

Zusammenwirken mit der Gnade handelt <strong>und</strong> wie Cato, der Römer, seinen freien<br />

Willen ausübt.“<br />

Auch im <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s sind <strong>die</strong> drei christlichen Tugenden<br />

Teil des Purgatorio <strong>und</strong> anschliessend des Irdischen Para<strong>die</strong>ses. Es sind himmlische<br />

Wesen. Im Unterschied zu den Tugenden, <strong>die</strong> da antike Tugendideal versinnbildlichen,<br />

sind sie <strong>über</strong>natürlich als Gnadengeschenke Gottes in <strong>die</strong> Seele eingegossen.<br />

Caritas schwebt oberhalb der Figur der Kommune. Es ist keine göttliche Liebe der<br />

geistlichen Kontemplation. Auch stellt sie nicht <strong>die</strong> christliche Nächstenliebe in den<br />

Vordergr<strong>und</strong>. Sie ist ein geflügeltes, weibliches Wesen, in glühend rotes Licht<br />

getaucht. Nackt, nur ein zartdurchsichtiges Tuch umspielt <strong>die</strong> Konturen ihres<br />

Oberkörpers. In der Hand hält sie den Pfeil <strong>und</strong> das <strong>von</strong> Leidenschaft brennende Herz.<br />

In der Gestaltung der Caritas führt <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> eine Entwicklung zu<br />

Ende, <strong>die</strong> vorwiegend in der Toskana in der zweiten Hälfte des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

einsetzt. Vermehrt erscheint <strong>die</strong> Caritas nicht mehr als <strong>die</strong> schenkende, christliche<br />

Nächstenliebe mit Früchtekorb, Füllhorn, Blumen oder Kindern, sondern als <strong>die</strong> Liebe,<br />

233


<strong>die</strong> sich in Leidenschaft Gott hinwendet. So haben 1266/68 Giovanni <strong>und</strong> Nicola<br />

Pisano am Fuss der Sieneser Domkanzel eine Caritas-Figur entworfen, aus deren<br />

Füllhorn Flammen aufsteigen. Mit brennendem Herz hat sie Giotto in der Arena-<br />

Kapelle in Padua 1305 dargestellt. Ein Motiv, das Andrea Pisano an der Bronzetür des<br />

Florentiner Baptisteriums 1330/36 wiederholt hat.<br />

Geistesgeschichtlich vorbereitet wird <strong>die</strong> Neugestaltung der Caritas <strong>von</strong> der<br />

italienischen Dichtung des dolce stil nuovo, <strong>die</strong> zunächst in Bologna, dann in Florenz<br />

im späten 13. <strong>und</strong> frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert zur Blüte gelangt. Sie ist sowohl <strong>von</strong> der<br />

provenzalischen Lyrik der Troubadouren beeinflusst, als auch <strong>von</strong> der Liebesmystik<br />

eines Hugo <strong>von</strong> St. Victoire, Bernhard <strong>von</strong> Clairvaux oder Bonaventura. Die göttliche<br />

Liebe wird zu einer den Kosmos durchwaltenden Kraft, in der Erotisches <strong>und</strong><br />

Göttliches zusammenfliessen. Amor, im Mann durch <strong>die</strong> Schönheit der Frau<br />

entflammt, ist göttlichen Ursprungs. Er entzündet im Mann eine Liebesglut, durch <strong>die</strong><br />

er sich zur Geliebten <strong>und</strong> damit zu Gott hinwendet. Amor dringt <strong>über</strong> das Auge, das<br />

als edelstes Sinnesorgan gilt, ins Herz des Liebenden ein. Die Frau als Geliebte ist das<br />

Medium Amors <strong>und</strong> wird zu einem unnahbaren Wesen vollkommener Tugend. Die<br />

Liebe zur Frau – zur donna gentile – läutert <strong>und</strong> veredelt das Herz des liebenden<br />

Mannes. Die fedeli d‘amore tragen in sich den Seelenadel <strong>und</strong> verwirklichen <strong>die</strong><br />

Tugend.<br />

Dante selbst zählte sich zu den fedeli d‘amore; in seinen Jugendjahren gehörte er<br />

zu den herausragenden Exponenten des dolce stil nuovo. Den Begründer <strong>die</strong>ser<br />

Dichtung, den Bolognesen Guido Guinizelli, ehrt er im 26. Gesang des Purgatorio. In<br />

der Commedia ist es schliesslich seine geliebte <strong>und</strong> verehrte Beatrice, <strong>die</strong> ihn auf den<br />

Pfad der Läuterung führt. Sie ist es, <strong>die</strong> Vergil als Retter schickt, um Dante ins<br />

Irdische Para<strong>die</strong>s bis zur Erlangung des antiken Tugendideals zu geleiten.<br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s Caritas ist ganz dem dolce stil nuovo verpflichtet. Ihr<br />

Äusseres ruft <strong>die</strong> Gestalt Amors wach, der das Herz des Liebenden auf den Pfad der<br />

Tugend führt. Gott ist il primo Amore; er schuf <strong>die</strong> Welt in einem ersten göttlichen<br />

Liebesakt. Die Tugenden auf der Thronbank <strong>über</strong>nehmen <strong>die</strong> Rolle der donne gentile.<br />

Gleichzeitig rufen sie als Personifikationen dem Betrachter in Erinnerung, welch<br />

Tugenden durch <strong>die</strong> Kraft der göttlichen Liebe in Wirkung gesetzt werden.<br />

<strong>Der</strong> Leidenschaftlichkeit der Caritas ordnen sich im <strong>Freskenzyklus</strong> auch <strong>die</strong><br />

beiden anderen christlichen Tugenden unter. So betonen <strong>die</strong> Figuren <strong>von</strong> Fides <strong>und</strong><br />

Spes nicht das Dogmatische des christlichen Glaubens <strong>und</strong> der christlichen Hoffnung,<br />

sondern <strong>die</strong> emotionale Bindung zu Christus: Während Fides inbrünstig das Kreuz des<br />

234


Messias an ihre Brust drückt, blickt Spes sehnsüchtig nach oben, wo sich ihr<br />

persönlich das Antlitz des Gottessohnes offenbart.<br />

Wie sehr sich <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> mit der Darstellung der Caritas als Amor in<br />

einer Tradition findet, <strong>die</strong> im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>über</strong> <strong>die</strong> Grenze des reinen<br />

Dichterkreises hinauswächst, zeigt sich am Beispiel des sehr populären Tugendtraktats<br />

Fiore di virtù. <strong>Der</strong> Lehre <strong>über</strong> <strong>die</strong> vier Kardinaltugenden wird <strong>die</strong> Erläuterung der<br />

göttlichen Liebe im Sinne des dolce stil nuovo vorangestellt. 119 Die Einleitung hierzu<br />

endet mit einem Zitat des Gründervaters des dolce stil nuovo, Guido Guinizelli,<br />

nachdem seine Auffassung der göttlichen Liebe <strong>von</strong> einzelnen Gedanken der Summa<br />

theologica des Thomas <strong>von</strong> Aquin theoretisch abgestützt worden ist:<br />

"Und <strong>die</strong> Liebe nimmt ihren Ausgang <strong>von</strong> den Augen ... denn der<br />

menschliche Wille bewegt sich zunächst aufgr<strong>und</strong> dessen, was durch das<br />

Auge erkannt wird. Dann setzt sich <strong>die</strong> Erinnerung in Gang <strong>und</strong> wandelt sich<br />

in Gefallen. Und in Erinnerung an <strong>die</strong>ses Gefallen steigt im Herzen das<br />

Verlangen, was gefallen hat, zu begehren. Und <strong>die</strong>se Sehnsucht gründet in<br />

der Hoffnung, <strong>die</strong>ses auch zu besitzen. Und daraus wächst <strong>die</strong> hohe Tugend<br />

der Liebe, <strong>die</strong> Form <strong>und</strong> F<strong>und</strong>ament, Führerin <strong>und</strong> Schlüssel, Säule aller<br />

Tugenden ist ... So ist <strong>die</strong> Tugend der Liebe, dass sie nie ein Laster beachtet<br />

<strong>und</strong> jede niederträchtige Sache flieht <strong>und</strong> mit der Tugend bleibt. Und das<br />

solch Gute findet stets im edlen Herzen Zuflucht (core gentile), wie <strong>die</strong><br />

Vögel im Laub des Waldes; <strong>und</strong> das solch Gute zeigt seine Tugend wie das<br />

Licht, wenn es in <strong>die</strong> Finsternis hineingestellt, <strong>die</strong> Dunkelheit erleuchtet." 120<br />

Die drei christlichen Tugenden sind im Purgatorium <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s in das<br />

Leben eines italienischen Bürgerideals integriert, das sich an den antiken Römern<br />

orientiert. In der Glut der göttlichen Liebe wird <strong>die</strong> Tugend zur Leidenschaft. <strong>Der</strong><br />

bew<strong>und</strong>ernde Blick auf <strong>die</strong> Antike wird ergänzt <strong>von</strong> christlicher Hingabe, <strong>die</strong> ihren<br />

Ausdruck auch in den zahlreichen Laienbrüder- <strong>und</strong> -schwesternschaften findet, <strong>die</strong><br />

sich gerade auch im Siena des frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>erts grossen Zulaufs erfreuen.<br />

119 Zum dolce stil nuovo siehe VOSSLER(1904); HAUSMANN (1986)<br />

120 "E amore descende dagl'ochi ... ché imprimeramente le voluntà de le persone se moveno per<br />

questa conocscensa, po' si muda la memoria e convertissesse in plasere. E immaginando questo cotale<br />

plasere, se move uno desiderio dal core in desiderare la cosa che gl'è plaçuta; e questo desiderio nasce<br />

d'una sperança, che vene da podere avere quello che gli è plaçuto. E de questo nasce la somaria virtù<br />

d'amore, la quale è raise e fondamento, guida e clave e colunna de tute le virtù ... Così fa virtù<br />

d'amore, ch'ela no guarda mai alcuno vicio e schiva sempre omne vile cosa e demora cum la virtude. E<br />

lo bene così continuo rempadria in çiascuno core gentile, com fano li oselli alla verdura della selva; e<br />

demostra la soa vertù cum fa la lume ch'e posta in una oscurità, ch'ela alumina plue." Fiore di virtù, I.7<br />

ff., zit. nach CORTI (1959), S. 13. <strong>Der</strong> letzte Satz ist eine Paraphrase <strong>von</strong> Zeilen des Gedichts Guido<br />

Guinizellis "Al cor gentil reimpara sempre Amore", das für den in der Liebe begründeten Seelenadel<br />

programmatisch wurde. Siehe CORTI (1959), S. 15.<br />

235


In <strong>die</strong>sem Sinne unterscheidet <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> seine Darstellung der<br />

christlichen Tugenden im Palazzo Pubblico auch <strong>von</strong> jener im Bild der Maestà <strong>von</strong><br />

Massa Marittima. Auf dem Hochaltarbild, das er für <strong>die</strong> Augustinermönche gemalt hat,<br />

stellt er <strong>die</strong> drei christlichen Tugenden in der Bedeutung dar, wie sie Dante im<br />

Paradiso beschreibt: als Prüfungen im christlichen Dogma, <strong>die</strong> das theologische<br />

Wissen des Jenseitswanderers belegen, das Voraussetzung für <strong>die</strong> wahre mystische<br />

Erfahrung ist. Entsprechend hält <strong>die</strong> Fides <strong>von</strong> Massa Marittima den Spiegel der<br />

göttlichen Wahrheit in der Hand, während Spes auf den soliden Turm der Hoffnung<br />

blickt, der den Aufstieg vom Erdenleben zu Gott verdeutlicht. Caritas schliesslich<br />

bezieht sich wiederum auf <strong>die</strong> göttlichen Liebe als Hinwendung zum ersten Gut oder<br />

der ersten Liebe, il primo Amore; auch im Paradiso wird sie <strong>von</strong> Dante in <strong>die</strong>sem<br />

Sinne erörtert. So hält auch <strong>die</strong> Caritas <strong>von</strong> Massa Marittima Pfeil <strong>und</strong> Herz in der<br />

Hand, ist hier jedoch viel weniger sinnlich als im Palazzo Pubblico abgebildet. Damit<br />

entspricht sie auch dem stark <strong>von</strong> der Vernunft geprägten Vortrag Dantes in den<br />

Höhen des Paradiso. 121<br />

<strong>Der</strong> Caritas als Liebe, <strong>die</strong> sich in Leidenschaft dem Schönen <strong>und</strong> damit Gott <strong>und</strong><br />

der Tugend zuwendet, werden im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert auch alle Formen der wahren<br />

Liebe beigeordnet. So folgt auch in der Fiore di virtù nach der Einleitung <strong>über</strong> <strong>die</strong><br />

Liebe des dolce stil nuovo <strong>die</strong> Beschreibung der wahren Liebe: „Über alles soll der<br />

Mensch Gott lieben, dann sich selbst, dann den Vater, dann <strong>die</strong> Mutter, dann sein<br />

Vaterland, segondo lo so grado.“ Schliesslich, so heisst es, „soll der Mensch alle<br />

gemessen an ihrer Qualität lieben, also zunächst <strong>die</strong> Guten <strong>und</strong> dann <strong>die</strong> Schlechten<br />

<strong>und</strong> endlich soll er auch <strong>die</strong> Schlechten lieben, aber nicht ihre Laster.“ 122 Im einzelnen<br />

folgt dann eine ausführliche Diskussion der wahren Liebe zu Gott, zu den Verwandten,<br />

zu den Fre<strong>und</strong>en <strong>und</strong> zu den Frauen, denen für ihre Fähigkeit zur wahren Liebe<br />

gehuldigt wird.<br />

Als wahre Liebe gilt <strong>die</strong> Liebe, <strong>die</strong> ohne auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein,<br />

liebt. Mit dem Kirchenvater Augustinus ist es <strong>die</strong> Liebe, <strong>die</strong> das Gemeinsame dem<br />

eigenen Nutzen voranstellt. Ausgehend <strong>von</strong> <strong>die</strong>ser Definition beginnt man im Umfeld<br />

der italienischen Kommunen, wo <strong>die</strong> Parteikonflikte <strong>die</strong> politische Gemeinschaft<br />

bedrohen, <strong>die</strong> Caritas auf <strong>die</strong> politische Sphäre zu beziehen. Civitas, <strong>die</strong> Stadt, klinge<br />

wie caritas, predigt der toskanische Dominikanerbruder Giordano da Rivalto. 123 Als<br />

elterliche Liebe beschreiben zum Beispiel <strong>die</strong> Sienesen auch ihre Beziehung zu Massa<br />

Marittima, das sie 1335 nach einigen Schwierigkeiten endgültig in ihr<br />

121 Zur Ikonographie der Caritas-Figur: FREYAN (1984)<br />

122 AN. (1313/23): Fioré di virtù, S. 36 ff.<br />

123 GALETTI (1899), S. 238<br />

236


Herrschaftsgebiet eingliedern, während sie den Bürgern gleichzeitig alle Rechte eines<br />

Sieneser Stadtbürgers anbieten. 124 Für den Dominikaner Tolomeo da Lucca ist <strong>die</strong><br />

göttliche Liebe <strong>die</strong> Wurzel der amor patriae. In <strong>die</strong>ser engen Beziehung hat sie auch<br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> direkt oberhalb der Kommune dargestellt. Nicht <strong>von</strong> ungefähr<br />

trägt Caritas auch antike Züge <strong>und</strong> erinnert in ihren Formen an römische Skulpturen:<br />

Die Helden der Antike sind im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert für <strong>die</strong> Bürger der italienischen<br />

Kommunen hervorragende Exempel der Vaterlandsliebe. In ihnen erkennen sie <strong>die</strong><br />

Liebe zu einer abstrakten res publica, <strong>die</strong> gedanklich verschieden ist <strong>von</strong> den<br />

persönlichen Beziehungen, <strong>die</strong> das Lehnswesen des feudalen Mittelalters<br />

gekennzeichnet haben. 125 Die antiken Helden werden so zu Beispielen gelebter Caritas<br />

<strong>und</strong> zum Vorbild jener <strong>die</strong> "<strong>von</strong> der Flamme der Vaterlandsliebe stärker angezogen<br />

werden als <strong>von</strong> der angstvollen Flucht" <strong>und</strong> "<strong>die</strong> aus Liebe zur Freiheit <strong>und</strong><br />

Gerechtigkeit sich auch nicht scheuen, "dem Tod kraftvoll entgegenzutreten." 126 So<br />

werden <strong>von</strong> den Sieneser Gesetzgebung auch <strong>die</strong> neun Bürger, <strong>die</strong> zur Zeit der<br />

Rebellion <strong>von</strong> 1318 im Amt der Nove sind, dafür gelobt, dass sie "um Ehre, Frieden<br />

<strong>und</strong> Freiheit der Kommune <strong>und</strong> des Popolo <strong>von</strong> Siena zu erhalten, ihren Körper dem<br />

Tod aussetzten <strong>und</strong> sich in Todesgefahr begaben." 127<br />

Die göttliche Liebe wird zur Vaterlandsliebe <strong>und</strong> zur wahren Fre<strong>und</strong>schaft, <strong>die</strong><br />

durch das Streben nach dem Gemeinwohl den Frieden <strong>und</strong> damit das Überleben <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> Herrschaft der politischen Gemeinschaft sichert. Nicht nur wirkt sie auf den<br />

Menschen läuternd <strong>und</strong> veredelt sein Wesen, sondern auch <strong>die</strong> Gemeinschaft selbst<br />

erfährt ihre läuternde Wirkung. <strong>Der</strong> Bologneser Notar Graziolo Bambaglioli hat <strong>die</strong>se<br />

Zusammenhänge in seinem Traktat <strong>über</strong> <strong>die</strong> vier Kardinaltugenden <strong>und</strong> <strong>die</strong> sieben<br />

Todsünden, den er wie der Fiore di virtù mit der Tugend der göttlichen Liebe<br />

einleitet, zusammengefasst:<br />

124 Consiglio Generale, (5. Oktober 1335) ".... essendo che conferma faciando testimonianza<br />

gli scritti della fedelissima et antichissima vechiezza del comune <strong>die</strong> Siena, habbia trattato il comune<br />

di Massa et i suoi cittadini come veri e diletti figliuoli e il comune <strong>die</strong> Massa habba riconosciuito per<br />

padre il comune e cittadini sanesi con filiale devotione e reverentia durante i quali vicendevoli affetti<br />

la detta città <strong>die</strong> Massa duri in pace e quiete e si accrebbe <strong>die</strong> bene in meglio ..."<br />

125 TOLOMEO DA LUCCA (ca. 1302): De regimine principum, II.10, S. 245<br />

126 Es spricht <strong>die</strong> Caritas: "Set breviter quosdam referam, quos fervor amoris attraxit patrie plus<br />

quam fuga plena timoris ... Dicam mirando pro libertatis amore, aut Decios Fabiosque necem subiisse<br />

vigore." CONVENEVOLE DA PRATO, 46.21 ff., S. 73<br />

127 "Et Novem qui de mense sept. proxime praeterito et mense octobre presente fuerunt et ad<br />

praesens sunt in dicto offitio dominorum Novum, non solum discretis tractatibus et provisionibus<br />

procuraverunt honorem et statum pacificum civitatis sen. velut etiam se et corpora sua exposuerunt<br />

morti per honore statu pacifico et libertate comunis et populis comunis et populis civitatis sen.<br />

Manutendis et conservandis ... " Statuti 18, c. 416r-417v (entspricht Consiglio Generale, Oktober<br />

1318)<br />

237


"Menschen, Städte, Kommunen, Fürsten <strong>und</strong> Barone: Wenn <strong>die</strong> Liebe zum<br />

Gemeinwohl verordnet <strong>und</strong> Gesetze erlässt, dann hören Streitigkeiten <strong>und</strong><br />

Fehde auf. Dank dir, du w<strong>und</strong>erbare Fre<strong>und</strong>schaft bleiben <strong>die</strong> Wege <strong>und</strong><br />

Strassen offen. Die Welt hat Frieden <strong>und</strong> der Himmel Glückseligkeit. ... Oh<br />

edle Caritas, allein Fre<strong>und</strong>in der Vernunft, <strong>die</strong> sich nur <strong>von</strong> Tugend <strong>und</strong> Ehre<br />

ernährt. ... Amor du machst das Leben süss <strong>und</strong> sicher, vereinst <strong>die</strong> Kräfte<br />

<strong>und</strong> schaffst Wohlstand. Du fegst <strong>die</strong> Welt leer <strong>von</strong> Knechtschaft <strong>und</strong> je edler<br />

(gentile) <strong>und</strong> tüchtiger ein Mensch ist, desto mehr besitzt er <strong>von</strong> der Wonne<br />

der Liebe." 128<br />

7.5. Pax: Spiegel der Glückseligkeit<br />

In der Pax, dem Frieden, gipfelt das Purgatorium. Sie ist das glückliche Ergebnis<br />

des politischen <strong>und</strong> individuellen Läuterungsprozesses <strong>und</strong> weist damit schon auf <strong>die</strong><br />

nächste Wand im <strong>Freskenzyklus</strong> hin. <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> hat sie als grosse<br />

Verführerin dargestellt, <strong>die</strong> als Sehnsucht den Läuterungsprozess in Gang setzt. In ihr<br />

vereinen sich Monumentalität, Sinnlichkeit <strong>und</strong> Sanftheit in einer einzigen Figur. Sie<br />

ist ein Höhepunkt des Schaffens <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s <strong>und</strong> so konzipiert, dass das<br />

Auge des Betrachters an ihr hängen bleibt. Anmutig ist ihr klassischer Körper; sie ist<br />

nur in ein fliessend zartes Gewand gehüllt. Lässig entspannt lehnt sie sich auf ein<br />

seidenes Kissen zurück, unter dem der ausge<strong>die</strong>nte Waffenrock ruht. Auch ihre<br />

blossen Füsse ruhen ungezwungen auf Helm <strong>und</strong> Schild, <strong>die</strong> nicht mehr gebraucht<br />

werden. Doch nicht dem Betrachter wendet sie sich zu, sondern sie lässt ihren Blick in<br />

<strong>die</strong> Weite schweifen. 129 Er ist auf das fröhliche Treiben in Stadt <strong>und</strong> Land gerichtet, das<br />

auf der Längswand des irdischen Para<strong>die</strong>ses dargestellt ist. In der Pax spiegelt sich <strong>die</strong><br />

Glückseligkeit des Irdischen Para<strong>die</strong>ses wider, wo sich das Glück des zoon politikon<br />

entfaltet. Es ist eine Glückseligkeit, wo im Staatswesen <strong>die</strong> Gerechtigkeit regiert, wo<br />

<strong>die</strong> göttliche Liebe das Herz der Menschen getroffen hat <strong>und</strong> wo <strong>die</strong> Menschen als<br />

Bürger nach der Verwirklichung des antiken Tugendideals streben.<br />

128 "Huomini singolari, città, comuni e principi e baroni. Amor a ben comun dispone e lega;<br />

onde cessa la briga e stanno aperti cammini e le strade. Per te buon amistade il mondo a pace e 'l ciel<br />

felicitade. ... O nobil caritate, sol di ragion amica, honeste e vertu sol ti nutrica. ... Amor tu dai dolce e<br />

sicura vita, tu dai fortezza unita, tu dai prosperitate, tu empi il mondo di soavitate. E tant e l'uom gentil<br />

tanta valore quant el possiede del pacer d'amore." GRAZIOLO BAMBAGLIOLI: Trattato sopra le virtù<br />

morali, 3v f. Im Kommentar zitiert GRAZIOLO BAMBAGLIOLI vor allem Cicero (De amicitia),<br />

Augustinus (u. a. Sermo de caritate) <strong>und</strong> Aristoteles (Nikomachische Ethik) sowie auch Boethius (De<br />

consolatione philosophiae) zitiert.<br />

129 Vgl. GREENSTEIN (1988)<br />

238


In der Mitte zwischen der Kommune <strong>und</strong> der Gerechtigkeit130 erscheint sie als<br />

Wirkung einer öffentlichen Rechtsordnung, so wie es auch <strong>die</strong> Einleitung der Sieneser<br />

Verfassung <strong>von</strong> 1337/39 festgehalten hat. Sie ist „<strong>die</strong> Ruhe der Ordnung“, ein Ideal,<br />

das <strong>die</strong> Sieneser Rechtstexte immer wieder anführen. So erscheint sie auch als Spitze<br />

eines Dreiecks, dessen Basis <strong>die</strong> Reihe der sich einträchtig am Seil der Gerechtigkeit<br />

haltenden Bürger ist. Pax wird im Sieneser Rechtskorpus auch der rechtlich bindende<br />

Friedensvertrag genannt, auf den sich zwei verfeindete Parteien einigen. Als der<br />

Consiglio generale 1336 <strong>die</strong> Verfassungsrevision beschliesst, setzt er kurze Zeit darauf<br />

auch einen allgemeinen Friedensschluss durch, an den alle grossen <strong>und</strong> mächtigen<br />

Familien geb<strong>und</strong>en sind, <strong>die</strong> aufgr<strong>und</strong> <strong>von</strong> Fehden in Feindschaft leben:<br />

”Da dem Staat sehr nützlich ist, wenn er friedliche Bewohner hat <strong>und</strong> weil so<br />

viele wie möglich in der Gunst des Friedens leben sollen, müssen alle<br />

streitenden Casaten Frieden schliessen. Denn aus den Feindlichkeiten der<br />

Casaten entsteht viel Unheil. Es muss dafür gesorgt werden, dass nicht einer<br />

oder wenige Feinde des Friedens aufgr<strong>und</strong> ihrer Familienfehden <strong>die</strong> <strong>von</strong><br />

vielen gewünschte friedliche Ordnung verhindern. Sondern weil vom grossen<br />

Teil der Bevölkerung, also <strong>von</strong> der ganzen Gesellschaft gewünscht wird, dass<br />

<strong>die</strong> Kraft des Rechts sich durchsetzt <strong>und</strong> weil <strong>die</strong>s aufgr<strong>und</strong> <strong>von</strong> einem oder<br />

wenigen verhindert werden kann, verordnen wir ... dass alle <strong>und</strong> jegliche<br />

Fehde <strong>und</strong> Feindschaft zwischen den Casaten, seien <strong>die</strong>se aus den Reihen des<br />

Adels oder des Popolo, miteinander Frieden schliessen müssen. Dieser<br />

Friede muss jeweils vom Oberhaupt der Familie zusammen mit mindestens<br />

weiteren drei Vertretern seiner Vertragspartei geschlossen <strong>und</strong> <strong>von</strong> allen<br />

eingehalten werden.” 131<br />

Verstärkt wird <strong>die</strong> Position der Pax in der Allegorie ausserdem durch eine Diagonale.<br />

Von links unten wirkt Concordia, während <strong>von</strong> rechts oben her Caritas ihren Einfluss<br />

auf <strong>die</strong> Pax ausübt. 132 Im Sinne <strong>von</strong> Augustinus <strong>und</strong> Thomas <strong>von</strong> Aquin ist <strong>die</strong> Pax<br />

deshalb mehr als nur <strong>die</strong> durch <strong>die</strong> Rechtsordnung erzielte Eintracht; sie ist<br />

130 SKINNER (1986), S. 33<br />

131 "Cum rei publice multum expediat sibi subditos fore pacificos et bono pacis quantum est<br />

possibile reformari, et cum ubi maius vertitur periculum sit cautius et spetialius occurrendum,<br />

attendentes quod ex brigis sive inimicitiis que vertuntur de casato ad casatum precipue posset<br />

turbationis et scandali materia generari, ideo ad dictas brigas et inimicitias sedandas, spetialiter<br />

duximus providendum, attendentes igitur non esse consonum rationi quod in brigis predictis unus vel<br />

pauci emuli pacis impedire possint ordinatam voluntatem et pacificam plurimorum, sed quod a maiori<br />

parte universitatis fit, ac sic a tota universitate fieret, robur de iure habere debeat firmitatis, aliter raro<br />

vel numquam operationes universitatis sortirentur effectum si unus vel pauci universitatis ipsius posset<br />

eas ad libitum impedire, statuimus ... quod in omnibus et sngulis brigis et inimicitiis que sunt, seu in<br />

posterum forent, inter unum casatum ex una parte et aliud casatum ex alia parte, sive dicta casata sint<br />

nobilium sive popularium sive unum nobilium et aliud popoularium, ex quibuscumque iniuriis et<br />

offensionibus procederent, tres partes adminus hominum doctorum casatorum et utriusque ipsorum<br />

capudfamilias ... hin inde per se vel per procuratorem aut conimissarium suum ... fecerint pacem ..."<br />

Consiglio generale 119, cc. 80v-81r (Dezember 1336), zit. n. CARBONE (1977), II, S. 11 ff.<br />

132 RIKLIN (1996), S. 101<br />

239


gleichzeitig das direkte Werk der Gottesliebe, weil <strong>die</strong> einigende Kraft der Liebe das<br />

Gemeinsame dem eigenen Nutzen voranstellt.<br />

Wie <strong>die</strong> Monumentalität Justitias an <strong>die</strong> klassische Kunst erinnert, hat auch <strong>die</strong><br />

Pax Züge des antiken Roms. Während <strong>die</strong> Sieneser Verfassung <strong>von</strong> 1337/39 sich den<br />

römischen Rechtskorpus zum Vorbild nimmt, spielt das Äussere der Pax auf <strong>die</strong><br />

Verbindung <strong>von</strong> Recht <strong>und</strong> Frieden an, wie es das antike Rom gekannt hat: 133<br />

In der römischen Tradition wird der Friede als Rechtssicherheit definiert, der <strong>die</strong><br />

Bedingung für <strong>die</strong> sittliche Vervollkommnung des einzelnen Menschen legt. Es<br />

scheint, dass, indem <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> der Pax <strong>die</strong> Haltung der antiken Securitas<br />

(Sicherheit) verleiht, gerade auf <strong>die</strong>se Bedeutung des Friedens anspielt. Auf römischen<br />

Münzen, <strong>die</strong> dem Maler womöglich als Vorbild ge<strong>die</strong>nt haben, ist Securitas wie <strong>die</strong><br />

Pax des <strong>Freskenzyklus</strong> meist sitzend, das Haupt in <strong>die</strong> Hand gestützt, dargestellt.<br />

Gleichzeitig ruft <strong>die</strong> Pax aber auch <strong>die</strong> Gestalt der siegreichen Roma hervor. Sie<br />

wird in der Antike als Frau dargestellt, <strong>die</strong> nach gewonnener Schlacht auf den Waffen<br />

der besiegten Feinde sitzt. Mit der Pax verbindet sich im römischen Denken auch<br />

immer <strong>die</strong> Vorstellung des vorangegangenen Sieges. Ziel der kriegerischen Handlung<br />

ist, mit dem Gegner einen Vertrag zu schliessen, der <strong>die</strong> Bedingungen der zu<br />

verwirklichenden Rechtsordnung bestimmt.<br />

Auf dem Bild der Längswand, in das der Blick der Pax versunken ist, wird der<br />

antike Friedensgedanke in der Figur der Securitas fortgesetzt: Einerseits hält sie den<br />

Galgen in der Hand <strong>und</strong> symbolisiert damit <strong>die</strong> Rechtssicherheit. Andererseits<br />

erscheint sie als geflügelte Göttin in der Gestalt der antiken Victoria. Auch schwebt sie<br />

nicht <strong>über</strong> der Stadt selbst, sondern ist vor den Toren der Stadt plaziert. Wie <strong>die</strong><br />

siegreiche Roma verdeutlicht sie damit <strong>die</strong> Idee, durch <strong>die</strong> Ausdehnung der städtischen<br />

Rechtsordnung einen befriedeten Herrschaftsraum zu schaffen. Ziel der politischen<br />

Erneuerung in Siena ist schliesslich, gemäss römischen Vorbild einen Raum der<br />

Rechtssicherheit <strong>und</strong> des Friedens zu schaffen.<br />

Ziel der politischen Erneuerung in Siena ist jedoch nicht allein der Frieden,<br />

sondern im Sinne <strong>von</strong> Aristoteles <strong>und</strong> Dantes Purgatorio das Glück der Tugend.<br />

Gemeinsam mit den Kardinaltugenden auf der Thronbank versinnbildlicht sie deshalb<br />

auch den Sieg der Tugenden <strong>über</strong> <strong>die</strong> Laster des Inferno. <strong>Der</strong> politische Frieden setzt<br />

allein <strong>die</strong> Rahmenbedingungen für das Glück des einzelnen. Ziel ist der erfolgreiche<br />

Abschluss des individuellen Läuterungsprozesses. Als solches stellt <strong>die</strong> Pax auch den<br />

Seelenfrieden des einzelnen dar. Sie ist Sinnbild dafür, dass in der Seele des einzelnen<br />

133 Dazu KUBISCH (1997); MOMIGLIANO (1942); SIMON (1967):<br />

240


<strong>die</strong> Tugenden für das Glück des irdischen Para<strong>die</strong>ses den Sieg <strong>über</strong> <strong>die</strong> Laster zu<br />

erringen haben. Pax wird somit auch zur Darstellung <strong>von</strong> Vergils Worten auf dem<br />

Gipfel des Läuterungsberges, der Dante mit dem Satz entlässt: "Libero, diritto e sano è<br />

tuo arbitrio, e fallo fora non fare a suo senno - frei, gerade <strong>und</strong> ges<strong>und</strong> ist nun dein<br />

Wille, <strong>und</strong> Sünde wär es, wenn du ihm nicht folgtest." 134 Mit einer Willenskraft, <strong>die</strong><br />

durch <strong>die</strong> göttliche Liebe gestärkt wurde, hat Dante am Gipfel des Läuterungsberges<br />

das antike Tugendideal erreicht, das den vier beziehungsweise fünf Kardinaltugenden<br />

entspricht, <strong>die</strong> sich im Rathausbild <strong>von</strong> Siena auf der Thronbank aufreihen. Am Ende<br />

des Läuterungsprozesses ist <strong>die</strong> Freiheit des Willens <strong>und</strong> damit der Seelenfrieden<br />

erreicht.<br />

Für <strong>die</strong> bildliche Umsetzung <strong>die</strong>ses Gedankens verwendet <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong><br />

<strong>die</strong> Tradition der Psychomachia, <strong>die</strong> in allegorischen Bildern <strong>die</strong> Seele des Menschen<br />

als Schlachtfeld beschreibt, auf dem der Kampf der Tugenden gegen <strong>die</strong> Laster tobt.<br />

Auch hier tragen schliesslich <strong>die</strong> Tugenden den Sieg da<strong>von</strong> <strong>und</strong> "der milde Friede setzt<br />

dem Krieg ein Ende, jeglicher Schrecken endet, <strong>die</strong> Gürtel werden gelöst, <strong>und</strong> das<br />

geschürzte Gewand wird abgelegt." Im 9. Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>von</strong> Prudentius verfasst, erfreut<br />

sich <strong>die</strong>ses Werk <strong>über</strong> <strong>die</strong> Jahrh<strong>und</strong>erte grösster Beliebtheit. Auch zur Zeit <strong>Ambrogio</strong><br />

<strong>Lorenzetti</strong> kursieren sowohl Übersetzungen als auch Volgare-Versionen, <strong>die</strong> das Werk<br />

verarbeiten. 135 <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> hält sich mit der Darstellung der Pax aber an <strong>die</strong><br />

Originalschrift, <strong>die</strong> den Frieden im individuell-moralischen Bereich noch in antiker<br />

Tradition mit Worten umschreibt, <strong>die</strong> für den weltlichen-politischen Bereich Geltung<br />

haben. 136 Als Bildgr<strong>und</strong>lage für eine Pax, <strong>die</strong> ebenfalls beide Bereiche abzudecken hat,<br />

scheint sich der Text der Psychomachia deshalb angeboten zu haben:<br />

"Vollendete Tugend schafft Frieden, Friede ist das Ziel aller Mühen. Friede<br />

ist der Preis des beendeten Krieges, ist Lohn der Gefahr, im Frieden leuchten<br />

<strong>die</strong> Sterne, im Frieden hat das Irdische Bestand." 137<br />

Im Frieden "fällt das geschürzte Kleid wieder hinab zu den Füssen, <strong>und</strong> den schnellen<br />

Schritt verlangsamt das bürgerliche Leben." 138 Dieses bürgerliche Leben des zoon<br />

politikon, das sich im irdischen Para<strong>die</strong>s verwirklicht, ist nun Gegenstand des nächsten<br />

Bildes.<br />

134 Purgatorio XXVII.140-141<br />

135 Verarbeitung der Psychomachia: BONO GAMBIONI (um 1280): Libro de' vizi e delle virtudi;<br />

für Volgare<strong>über</strong>setzungen der Psychomachia siehe SEGRE / MARTI (1959); SEGRE (1953)<br />

136 Dazu KUBISCH (1997)<br />

137 "Pax plenum virtutis opus, pax summa labrorum, pax belli exacti pretium est pretiumque<br />

periculi, sidera pace vigent, consistunt terrea pace." PRUDENTIUS: Psychomachia: 768-771<br />

138 Ebd. 631-635<br />

241


8. Vivere civile im irdischen Para<strong>die</strong>s der Sieneser Kommune<br />

8.1. Das Porträt Sienas <strong>und</strong> seines Contado<br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> hat dem Raum des irdischen Para<strong>die</strong>ses deutlich einen<br />

Sieneser Anstrich verliehen. In den schönsten Farben sind Siena <strong>und</strong> sein Umland<br />

dargestellt. <strong>Der</strong> Blick fällt sowohl auf <strong>die</strong> Stadt als auch auf <strong>die</strong> Landschaft der<br />

südlichen Toskana.<br />

Um den städtischen Platz im Vordergr<strong>und</strong> gruppieren sich Paläste, Kirchen <strong>und</strong><br />

Türme. Aus dem Meer der Dächer ragen Kuppel <strong>und</strong> Turm des Sieneser Doms, gebaut<br />

in hellem <strong>und</strong> dunklem Marmor. Während eine Baustelle, an der eifrig gearbeitet wird,<br />

vom unaufhaltsamen Wachstum zeugt, strahlt das Leben in den Strassen Glück <strong>und</strong><br />

Wohlstand aus. Es wird gekauft, gehandelt, diskutiert <strong>und</strong> getanzt. Blumen <strong>und</strong><br />

Vogelkäfige zieren <strong>die</strong> offenen Fenster.<br />

Man blickt in <strong>die</strong> Werkstatt eines Tuchfabrikanten, eines Schusters <strong>und</strong> eines<br />

Goldschmieds. Ein Tuchhändler sitzt inmitten <strong>von</strong> Bahnen kostbaren Tuchs <strong>und</strong> führt<br />

seine Bücher nach. In einem der Geschäfte am Campo werden Spezereien verkauft,<br />

während Bauern vom Land Getreide, Holz <strong>und</strong> Lebensmittel in <strong>die</strong> Stadt bringen. Ein<br />

Gelehrter in der roten Robe des Juristen hält eine Vorlesung in einer der offen Loggien<br />

zum Campo hin. Draussen springen Kinder zwischen den Erwachsenen herum, <strong>die</strong><br />

Menschen greifen sich liebevoll am Arm. Den Platz <strong>über</strong>quert ein Hochzeitszug,<br />

während ein Edelmann mit seiner jungen Gefährtin zur Stadt hinaus auf <strong>die</strong> Jagd reitet.<br />

Ihnen entgegen kommt ein geistlicher Würdenträger, begleitet <strong>von</strong> seinem Diener. Am<br />

Rand der Strasse, <strong>die</strong> aus Rom her führt, sitzt ein blinder, um Almosen bittender<br />

Pilger.<br />

Die Mauer, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Stadt vom Land trennt, ist ins sienatypische warme Rot<br />

eingetaucht. Die Tore stehen offen. Von der Höhe der Stadt reicht <strong>die</strong> Aussicht <strong>über</strong><br />

<strong>die</strong> Hügel der Crete <strong>und</strong> <strong>die</strong> Getreidefelder der Maremma bis zum Monte Amiata<br />

Massiv <strong>und</strong> ans Meer. Rechts bricht ein Meeresarm in <strong>die</strong> Landschaft ein, an dem das<br />

Hafenstädtchen Talamone liegt. Weingärten, Oliven, Wasserläufe <strong>und</strong> Villen lockern<br />

<strong>die</strong> gepflegte Landschaft auf. Bauern bringen reichlich Ernte ein, pflügen, säen,<br />

dreschen <strong>und</strong> jagen. Mit schwer bepackten Maultieren nähern sie sich der Stadt <strong>und</strong><br />

versorgen sie mit Mehl <strong>und</strong> frischem Fleisch. Stromaufwärts eines Flusses, der sich<br />

durch <strong>die</strong> Hügel <strong>und</strong> Wälder der Umgebung schlingt, rauscht das Wasser durch eine<br />

Mühle. <strong>Der</strong> Müller hat <strong>die</strong> Arbeit kurzfristig niedergelegt <strong>und</strong> erfreut sich des<br />

strahlenden Sonnenscheins.<br />

242


Dem Betrachter offenbart sich das irdische Glück einer arbeitsteiligen<br />

Gesellschaft, in der jeder zufrieden seiner Tätigkeit nachgeht <strong>und</strong> seinen Teil zum<br />

Wohl aller beiträgt. Im Vordergr<strong>und</strong> steht <strong>die</strong> Aktivität der einzelnen Menschen, erst<br />

auf den zweiten Blick wird sich der Betrachter gewahr, dass sich das dargestellte<br />

Glück im Raum der Sieneser Kommune entfaltet. Die Stadt trägt aber eindeutige Züge<br />

Sienas: Links oben ragen Turm <strong>und</strong> Kuppel des Domes aus dem Häusermeer, am<br />

rechten Rand der Stadt erhebt sich <strong>die</strong> mächtige Porta Romana <strong>und</strong> der Platz, der sich<br />

im Vordergr<strong>und</strong> dazwischenschiebt, entspricht dem Campo. Die aus Backstein oder<br />

Marmor errichteten Paläste <strong>und</strong> Geschlechtertürme sind ausserdem mit<br />

architektonischen Details versehen, <strong>die</strong> heute noch so zu finden sind: Zinnen,<br />

Travertinsäulchen, doppelte Spitz- <strong>und</strong> R<strong>und</strong>bögen in allen Variationen, Loggien <strong>und</strong><br />

Balkone. Mit Dom, Campo <strong>und</strong> der Porta Romana als Teil des dritten <strong>und</strong> letzten<br />

Mauerrings sind ausserdem drei der wesentlichen städtebaulichen Projekte zur Zeit der<br />

Nove veranschaulicht. Nicht zu sehen ist der Palazzo Pubblico selbst, der sich im Bild<br />

jedoch wohl dort befinden würde, wo der Betrachter steht. Gleichzeitig entspricht <strong>die</strong><br />

Auslegeordnung der Stadt urbanistischen Gr<strong>und</strong>sätzen, wie sie seit dem 13.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert in den Sieneser Gesetzen festgelegt sind: Helle <strong>und</strong> gerade Hauptstrassen,<br />

Verwendung <strong>von</strong> qualitativ hochstehendem Baumaterial <strong>und</strong> <strong>die</strong> Pflicht der Bürger,<br />

ihre Häuser in <strong>gute</strong>m Zustand zu erhalten.<br />

Ausgeklammert sind im Bild <strong>die</strong> ärmlichen Gegenden Sienas. An Einfallstrassen,<br />

wie jener <strong>die</strong> durch <strong>die</strong> Porta Romana führt, waren im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert nämlich<br />

einfachere Holzhäuser zu finden. Die Stadtansicht ist kein Abbild im Sinne einer<br />

fotografischen Wiedergabe, sondern einzelne <strong>die</strong> Stadt auszeichnende bauliche <strong>und</strong><br />

urbanistische Komponenten werden zu einem Ganzen gefügt. Dabei fehlt jedoch <strong>die</strong><br />

Darstellung des Palasts der Kommune, der Ort also, wo sich der <strong>Freskenzyklus</strong><br />

befindet. Damit wird <strong>die</strong> Stadtansicht zu einem gerafften R<strong>und</strong>blick aus dem Gebäude<br />

des Kommunalpalasts: <strong>Der</strong> Blick beginnt im Südwesten mit dem Dom <strong>und</strong> schweift<br />

<strong>über</strong> <strong>die</strong> Paläste, <strong>die</strong> sich im Zentrum der Stadt r<strong>und</strong> um den Campo konzentrieren,<br />

Richtung Südwesten zur Porta Romana. Dabei sind auch alle drei Stadtteile, Città,<br />

Camollia <strong>und</strong> San Martino berücksichtigt: Die Öffnung des Marktplatzes in Richtung<br />

Stadt entspricht dem Croce del Travaglio, wo an der nordwestlichen Ecke des Campo<br />

<strong>die</strong> drei Stadteile aufeinandertreffen.<br />

Mit der Porta Romana fällt der Blick nach Süden, der hauptsächlichen<br />

Stossrichtung des Sieneser Eroberungsdrangs, um das Contado oder städtische<br />

Territorium zu vergrössern. Wie <strong>die</strong> Stadt ist auch das Contado keine fotografische<br />

Wiedergabe, sondern setzt <strong>die</strong> wesentlichen Elemente zur Illustration des Sieneser<br />

Herrschaftsgebietes zusammen: R<strong>und</strong> um Siena entrollt sich eine, in kleinere Parzellen<br />

243


aufgeteilte Kulturlandschaft mit Villen, Gärten, Weinbergen <strong>und</strong> Olivenhainen,<br />

während sich im weiteren Süden <strong>die</strong> Kornfelder, Wälder, Jagdgebiete, Wehrdörfer <strong>und</strong><br />

Kastelle der Maremma <strong>und</strong> des Monte Amiata-Massivs aneinanderreihen. 1 Die<br />

Ausdehnung in Richtung Süden ist den Sienesen seit dem 12. Jahrh<strong>und</strong>ert wichtig, als<br />

sie 1151 das erste Mal Grosseto besiegen, das sie aber erst 1335 endgültig in ihr<br />

Contado einverleiben. 2 Eine frühe Gesetzesbestimmung der Kommune verbietet all<br />

jenen, <strong>die</strong> in der Maremma Kastelle besitzen, an Sitzungen des Consiglio generale<br />

anwesend zu sein, wenn Themen besprochen werden, <strong>die</strong> <strong>die</strong> städtische<br />

Machtausdehnung in Richtung Süden betreffen. 3 Dabei spielt der sichere Zugang zum<br />

Meer eine wesentliche Rolle. Das Hafenstädtchen Talamone kauft <strong>die</strong> Sieneser<br />

Kommune im Jahr 1303 <strong>von</strong> der mächtigen Abtei San Salvatore im Herzen des<br />

Amiata-Massivs mit der Absicht, Sienas Abhängigkeit vom grossen Seehafen Pisa zu<br />

verringern. 4 In der Folge werden allen, <strong>die</strong> sich freiwillig dort ansiedeln, Parzellen<br />

<strong>und</strong> Baumaterial zur Verfügung gestellt <strong>und</strong> Steuerfreiheit gewährt. Ähnliche<br />

Sonderbedingungen erhalten auch <strong>die</strong> Personen, <strong>die</strong> sich in Castelfranco di Paganico<br />

niederlassen, eine Sieneser Neugründung des Jahres 1292, <strong>die</strong> auf der Strasse <strong>von</strong><br />

Siena nach Grosseto <strong>und</strong> Talamone liegt. 5 Vielleicht ist es im Bild <strong>Ambrogio</strong><br />

<strong>Lorenzetti</strong>s das befestigte Dorf auf dem Hügel oberhalb der Getreidefelder. Hier wird<br />

<strong>von</strong> der Sieneser Kommune auch jährlich im Mai <strong>und</strong> September eine grosse<br />

Warenmesse durchgeführt, um <strong>die</strong> Neugründung als Marktflecken durchzusetzen. Das<br />

Einzugsgebiet soll <strong>von</strong> Montalto im Westen bis Montepulciano im Osten <strong>und</strong> Massa<br />

Marittima im Süden reichen, <strong>und</strong> auch <strong>die</strong> Sieneser Kaufleute werden aufgefordert,<br />

daran teilzunehmen, um <strong>die</strong> wirtschaftliche Entwicklung des Ortes zu fördern. 6<br />

Wie <strong>die</strong> Stadt ist auch das Land nicht fotografisch abgebildet, sondern setzt sich<br />

aus Charakteristischem zusammen, das den Betrachter in den Herrschaftsraum der<br />

Sieneser Kommune entführt. Die Möglichkeit des Betrachters, einzelne Elemente zu<br />

identifizieren, schafft ein Abbild des Sieneser Territoriums, das nicht nur den<br />

Gebietsanspruch der Kommune im Süden festhält, sondern gleichzeitig auch aufzeigt,<br />

wo <strong>die</strong> Grenzen <strong>die</strong>ses Anspruchs sind. Damit kommt das Bild auch der damals <strong>von</strong><br />

Bürgern dem eigenen Gemeinwesen gegen<strong>über</strong> erhobenen Kritik entgegen, der Drang<br />

zur Machtexpansion sei unmässig, ein Vorwurf, der ja auch bei Dante Gr<strong>und</strong>lage für<br />

seine Forderung ist, ein Weltkaisertum, das, weil es universal ist, sich der ungestillten<br />

Habgier zu entziehen vermag. Entsprechend dem Stadtbild im <strong>Freskenzyklus</strong>, das <strong>die</strong><br />

1 CHERUBINI (1977), S. 262<br />

2 SCHNEIDER (1911); Caleffo Vecchio; PAOLI (1866)<br />

3 Constitutum 1337/39, I. 230<br />

4 Dazu BOWSKY (1970), S. 23 ff., mit weiteren Literaturangaben.<br />

5 BOWSKY (1970), S. 22<br />

6 Costituto 1309/10, I.528, I, S. 330<br />

244


ärmlichen Quartiere ausspart, ist aber auch <strong>die</strong> Landschaftsdarstellung <strong>die</strong> Wiedergabe<br />

eines angestrebten Idealbilds: In Wirklichkeit ist Talamone, das sich in einem<br />

sumpfigen, Malaria verseuchten Gebiet befindet, nur schwer zu besiedeln, während<br />

Castelfranco da Paganico ebenfalls nicht <strong>die</strong> erhoffte Entwicklung erlebt, da es, am<br />

Durchgang nach Süden gelegen, des öfteren feindlichen Heerscharen zum Opfer<br />

gefallen war. 7 Doch das Bild porträtiert das Ziel der Sienesen, im Süden der Stadt <strong>über</strong><br />

ein bevölkerungsreiches <strong>und</strong> produktives Land zu gebieten. Dieses Ziel entspricht<br />

auch der Politik der Kommune zur Zeit der Nove: Einerseits wird jährlich eine<br />

Kommission eingesetzt, <strong>die</strong> dem Consiglio generale Massnahmen zur<br />

Bodenmelioration im Contado vorzuschlagen hat, andererseits wird mit dem Capitano<br />

di Guerra in den Zwanziger Jahren ein stehendes Söldnerheer geschaffen, das das<br />

Umland vor einfallenden Rebellen <strong>und</strong> feindlichen Heerscharen schützen soll. Die<br />

Massnahmen, <strong>die</strong> zur Qualitätssteigerung des Sieneser Contado getroffen werden,<br />

haben ihre Parallele in entsprechenden Vorkehrungen zur Verschönerung des<br />

Stadtbildes: Die Sorge darum gehört zu den in der Verfassung genannten Aufgaben<br />

der Nove, <strong>die</strong> jährlich Beamte zu ernennen haben, sogenannte offitiales super<br />

pulcritudine, ornamentis et acconciamentis civitatis, <strong>die</strong> in der Volkssprache ufiziali<br />

sopra le beleze della città genannt werden <strong>und</strong> <strong>die</strong> für <strong>die</strong> bauliche Schönheit <strong>und</strong><br />

Infrastruktur der Stadt zuständig sind. 8<br />

Die Hervorhebung der menschlichen Aktivität im Bild verdeutlicht aber, dass <strong>die</strong><br />

Darstellung <strong>von</strong> Stadt <strong>und</strong> Land im Panoramabild nicht nur einen Herrschaftsraum<br />

absteckt, sondern auch als Kulisse für <strong>die</strong> arbeitsteilige Gesellschaft <strong>die</strong>nt. Wie das<br />

Bild den geographischen Raum verkürzt, werden <strong>die</strong> Tätigkeiten im Zeitraffer<br />

abgebildet. Deutlich wird <strong>die</strong>s namentlich in der Landwirtschaft: Auf den Feldern wird<br />

sowohl gesät als auch geerntet <strong>und</strong> <strong>über</strong> das Stoppelfeld im Vordergr<strong>und</strong> reiten <strong>die</strong><br />

Jäger, während <strong>die</strong> Mühle am Bach das Korn mahlt. Getreide ist damals nebst dem<br />

Tuch Sienas wichtigstes Exportgut, vorausgesetzt, dass keine Missernte eintritt. 9<br />

Spiegelbildlich erscheint in den Strassen der Stadt auch <strong>die</strong> gesamte Produktionskette<br />

des Tuchgewerbes: In einer Werkstatt am Platz wird Wolle sortiert, gewoben <strong>und</strong> das<br />

fertige Tuch auf Webfehler geprüft, während ein Händler, verborgen hinter<br />

Tuchbahnen, den fein säuberlich gefalteten Stoff verkauft. Den Wohlstand, den er aus<br />

7 BOWSKY (1981), S. 194<br />

8 Constitutum 1337/39, IV.322. Siehe auch Artikel im Statuto della Mercanzia, Appendix, S.<br />

262 (BSSP 1909), der <strong>die</strong> Einleitung <strong>die</strong>ser Verordnung in Volgare wiedergibt: "Ancho con ciò sia<br />

cosa che al bellezza et l'acconciamento de la città di Siena ragionevolemente si debbano da ogni<br />

cittadino desiderare et più acconciamenti siccome da molti si dicie si possono fare nella città di Siena,<br />

e' quagli potrebbero nell'utilità di cittadini in bellezza de la detta città ritornare .... " Siehe auch SEIDEL<br />

(1999), S. 29 ff.<br />

9 BOWSKY (1981), S. 201<br />

245


dem Handel mit dem feinen Tuch zieht, offenbart der schöne Palast <strong>über</strong> seinem<br />

Laden. Dass das Tuch aber nicht nur ein wichtiges Handelsgut für Sienas<br />

Luxusindustrie ist, sondern auch dem Bedürfnis des einfachen Bürgers <strong>die</strong>nt,<br />

veranschaulicht vis-à-vis vom reichen Händler ein kleiner Schneider, der auf einer<br />

Leine im Freien schlichte Kleider anbietet. Das Zusammenspiel zwischen Land <strong>und</strong><br />

Stadt, das für <strong>die</strong> Erreichung des Endprodukts Voraussetzung ist, zeigt schliesslich <strong>die</strong><br />

Figur des Schäfers, der vom Hauptplatz der Stadt seine Herde zum Tor hinaustreibt,<br />

während auf dem Land, unterhalb des befestigten Dorfes, sich einer seiner Kollegen<br />

mit den Tieren schon niedergelassen hat. Augenscheinlich wird <strong>die</strong>ses Zusammenspiel<br />

auch im Bereich der Getreidewirtschaft, wo sich <strong>die</strong> Produktionskette nach dem<br />

Mahlen des Korns für den Sieneser Hausgebrauch fortsetzt: Während Bauern <strong>die</strong> mit<br />

dem Mehl beladenen Maulesel zum Stadttor hinauftreiben, nimmt sie in der Stadt ein<br />

Bäcker in Empfang <strong>und</strong> lenkt sie in <strong>die</strong> Gasse, wo Kamine <strong>die</strong> Existenz <strong>von</strong> Backöfen<br />

verraten.<br />

Diese Darstellung der gesamten Produktionskette für zwei der wichtigsten<br />

Wirtschaftszweige Sienas ruft <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>lage des städtischen Wohlstands in<br />

Erinnerung <strong>und</strong> stellt sie idealerweise als ein gemeinsames Werk der arbeitsteiligen<br />

Gesellschaft <strong>von</strong> Stadt <strong>und</strong> Land dar. Dabei sollen sie dem Nutzen aller <strong>die</strong>nen, nicht<br />

zuletzt weil sie auch <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>bedürfnisse des Menschen abdecken, der nach<br />

Aristoteles auch aufgr<strong>und</strong> seines relativ schwachen Körperbaus auf <strong>die</strong> menschliche<br />

Gemeinschaft angewiesen ist. Diese Gr<strong>und</strong>idee setzt sich auch in der Darstellung der<br />

weiteren Aktivitäten fort: So bedeutet der Schuster auf dem Platz, dass der Mensch,<br />

der im Unterschied zum Tier nackt geboren ist, nebst Kleidern auch Schuhwerk<br />

benötigt, das ebenfalls <strong>die</strong> arbeitsteilige Gemeinschaft zu erzeugen vermag. <strong>Der</strong><br />

Käufer der Schuhe, der sich mit dem Esel als Bauer ausweist, zeigt wieder <strong>die</strong> ideale<br />

Verbindung zwischen Stadt <strong>und</strong> Land. <strong>Der</strong>selbe Gedanke liegt im Bild auch der<br />

gesamten Nahrungsmittelerzeugung nebst dem Getreideanbau zu Gr<strong>und</strong>e: So bringen<br />

Bauern auch Hühner, Eier <strong>und</strong> ein Schwein zum Schlachten in <strong>die</strong> Stadt, während ein<br />

Esel Holz für das Kochen der Speisen transportiert. Ein Wirtshausschild weist<br />

schliesslich auf eine Taverne hin, wo der Wein, der auf dem Land gedeiht, zum<br />

Verkauf angeboten wird. Diese materiellen Gr<strong>und</strong>bedürfnisse, <strong>die</strong> der Natur des<br />

Menschen entsprechenden - Kleider, Schuhe <strong>und</strong> ausgewogene Nahrung zur Stillung<br />

<strong>von</strong> Hunger <strong>und</strong> Durst - werden schliesslich durch den Häuser- <strong>und</strong> Mauerbau ergänzt.<br />

Das Bild hält <strong>die</strong>ses menschliche Schutzbedürfnis sowohl durch <strong>die</strong> schon errichteten<br />

Gebäude, Mauern <strong>und</strong> das Stadttor fest als auch durch <strong>die</strong> Bauarbeiten. Gleichzeitig<br />

bilden <strong>die</strong>se Tätigkeiten auch den Willen der Sienesen ab, politisch dafür zu sorgen,<br />

dass <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>bedürfnisse in Siena gedeckt werden: Regelmässig bespricht der<br />

Consiglio generale Fragen, <strong>die</strong> Qualität <strong>und</strong> Preis der Gr<strong>und</strong>nahrungsmittel wie<br />

246


Fleisch, Fisch, Brot <strong>und</strong> den in den Tavernen ausgeschenkten Wein betreffen. Auch<br />

hat er ein Monopol für Salz <strong>und</strong> Öl errichtet, reguliert den Getreidehandel, <strong>die</strong><br />

Lederproduktion, den Handel mit Baumaterial <strong>und</strong> fördert das Tuchgewerbe.<br />

Ausserdem organisiert er <strong>die</strong> Nutzung der Selva del Lago, eines grossen, im Besitz der<br />

Kommune stehenden Waldes sowie <strong>die</strong> Verwaltung der Mühlen am Fluss der Merse,<br />

<strong>die</strong> ebenfalls kommunaler Besitz sind. Als wichtige Aufgabe, <strong>die</strong> gr<strong>und</strong>legend für den<br />

Austausch zwischen Stadt <strong>und</strong> Land ist, betrachtet er auch den Ausbau des<br />

Strassennetzes <strong>und</strong> den Bau <strong>von</strong> Brücken, wie eine so schön auch im Bild <strong>Ambrogio</strong><br />

<strong>Lorenzetti</strong>s erscheint. 10<br />

Doch, wie schon <strong>die</strong> kostbare Tuchherstellung gezeigt hat, erschöpft sich das Bild<br />

nicht in dem für das Leben gr<strong>und</strong>sätzlich notwendigen Tätigkeiten einer arbeitsteiligen<br />

Gesellschaft, sondern preist auch den Wohlstand der hier<strong>von</strong> kommt. Offenbar wird<br />

<strong>die</strong>s nicht nur in den kostbaren Kleidern, <strong>die</strong> einige Sienesen im Bild tragen <strong>und</strong> dem<br />

Schmuck der Häuser, sondern auch in den weiteren Geschäftstätigkeiten. So ist im<br />

Zentrum des Platzes ein Spezereienhändler zu sehen, Ausdruck des bis in den Orient<br />

reichenden Grosshandels, der gemeinsam mit dem Bankgewerbe <strong>die</strong> in Siena reichste<br />

<strong>und</strong> wichtigste Zunft der Mercanzia formt. Wie auch das Geschäft der Sienesen mit<br />

dem Geld, hat er <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>lage für den in der Stadt anzutreffenden grossen Wohlstand<br />

geschaffen. Aus <strong>die</strong>sem Gesichtspunkt wäre auch logisch einen Geldhändler im Bild<br />

zu sehen, der sich vielleicht einst dort bef<strong>und</strong>en hat, wo heute, neben dem<br />

Tuchhändler, <strong>die</strong> Farbe fehlt. Reichtum <strong>und</strong> Luxus der wohlhabenden Familien Sienas<br />

kommt auch im Handwerker zum Ausdruck, der <strong>die</strong> Kunst in Siena vertritt: An der<br />

Seite des vermeintlichen Bankiers hat sich ein Goldschmied eingerichtet.<br />

Nebst den Gr<strong>und</strong>bedürfnissen <strong>und</strong> dem Luxus erscheint schliesslich eine weitere,<br />

den Menschen auszeichnende Tätigkeit, <strong>die</strong> eine arbeitsteilige Gesellschaft<br />

hervorbringt: In einer offenen Loggia am Campo, zwischen Schuhmacher <strong>und</strong><br />

Spezereienhändler, ist hinter einem Katheder ein Professor zu sehen, der zu einer<br />

Schar aufmerksamer Studenten spricht. Ergänzt wird <strong>die</strong>ser Unterricht in den<br />

Wissenschaften vom gelehrten Gespräch, das in der Loggia links am Platz vor sich<br />

geht, <strong>über</strong> <strong>die</strong> eine Eule wacht, wohl eine Anspielung auf <strong>die</strong> Eule der Athene, Symbol<br />

der Weisheit. Während sich zwei Männer angeregt unterhalten, beugen sich andere, in<br />

<strong>die</strong> Diskussion vertieft, <strong>über</strong> einen Gegenstand auf einem Tisch, der jedoch nicht mehr<br />

erhalten ist. Die Farbe ist hier, wie beim vermeintlichen Bankier, abgeblättert <strong>und</strong> in<br />

späterer Zeit nicht mehr erneuert worden. Die beiden Szenen sind Sinnbild für <strong>die</strong><br />

Sprachfähigkeit, <strong>die</strong> gemäss Aristoteles <strong>die</strong> wesentliche Naturgabe des Menschen ist,<br />

<strong>die</strong> ihn vom Tier unterscheidet. Sie ist Beweis für seine Vernunft, <strong>die</strong> er <strong>von</strong> Natur aus<br />

anstelle eines kräftigen Körperbaus, der es mit den Tieren aufnehmen könnte, erhalten<br />

10 BOWSKY (1981), S. 209<br />

247


hat. Sie ist auch Ausdruck seiner Geselligkeit <strong>und</strong> ermöglicht, dem anderen restlos<br />

darzustellen, was der eine auf seinem Gebiet erfasst hat. 11 Gleichzeitig sind Gedeih <strong>und</strong><br />

Entwicklung der Wissenschaften in Siena auch ein grosses Anliegen der Sieneser<br />

Regierung <strong>und</strong> des Consiglio generale. 12 Seit Mitte des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts wird <strong>die</strong><br />

Universität mit öffentlichen Geldern gefördert <strong>und</strong> 1321 bezahlen <strong>die</strong> Sienesen gar den<br />

Umzug aller Professoren <strong>und</strong> Studenten der angesehenen Universität <strong>von</strong> Bologna<br />

nach Siena, da sie mit der dortigen Kommune in Konflikt geraten sind. Siena hofft den<br />

Glanz Bolognas auf <strong>die</strong> eigene, sich nur schwer durchsetzende Institution zu lenken.<br />

Ihr fehlt aber nicht nur der Ruf der altwürdigen, im 12. Jahrh<strong>und</strong>ert gegründeten<br />

Universität, sondern auch <strong>die</strong> Auszeichnung des durch den Papst oder Kaiser<br />

verliehenen studium generale. 1326 kehrt ein grosser Teil der Gelehrten deshalb an<br />

ihren ursprünglichen Wirkungsort zurück, nachdem der Streit dort beigelegt ist. Eine<br />

neue Krise in Bologna 1338/39, <strong>die</strong> <strong>die</strong>smal <strong>von</strong> der Kirche ausgeht, versuchen <strong>die</strong><br />

Sienesen erneut, wenn auch ohne Erfolg, zu nutzen, um vom Papst das Privileg des<br />

studium generale zu erhalten.<br />

Mit Aristoteles wird Siena als arbeitsteilige, Stadt <strong>und</strong> Land umfassende,<br />

Gemeinschaft porträtiert, wo sich der Mensch als Bürger <strong>und</strong> zoon politikon gemäss<br />

seiner Natur zu verwirklichen mag. Es ist <strong>die</strong> Gemeinschaft, <strong>die</strong> der Sieneser Politik<br />

als Idealbild vorschwebt. Das Glück, das sich hierdurch einstellt, wird im Bild direkt<br />

offensichtlich. Gezeigt wird nicht <strong>die</strong> ganze Wahrheit, <strong>die</strong> auch Missernte, Krieg <strong>und</strong><br />

Armut kennt, sondern Siena in glücklichen Zeiten, so wie Agnolo di Tura del Grasso<br />

das Jahr 1338 beschreibt: "Die Stadt Siena war in <strong>die</strong>sem Jahr friedlich, in<br />

ausgezeichnetem Zustand <strong>und</strong> erfüllt <strong>von</strong> Glück, <strong>und</strong> das Geld war für <strong>die</strong> meisten<br />

Personen im Überfluss vorhanden." 13 Die Menschen gehen zufrieden ihrem Tagwerk<br />

nach, während auch Zeit für <strong>die</strong> Muse bleibt: Tänzer bevölkern den Hauptplatz, der<br />

Edle geht zum Vergnügen mit der holden Dame auf Falkenjagd, während <strong>die</strong><br />

lieblichen Villen in der Landschaft an geruhsame Erholung <strong>von</strong> städtischer Hektik<br />

denken lassen. Auch werden, wie der Hochzeitszug zeigt, Feste gefeiert. <strong>Der</strong> Akt der<br />

Ehe stellt ausserdem <strong>die</strong> Verbindung zur Familie her, <strong>die</strong> gemäss Aristoteles, der so<br />

auch <strong>von</strong> der christlichen Lehre rezipiert wird, als Kern der Gesellschaft gilt. Die<br />

Gemeinschaft <strong>von</strong> Mann, Frau <strong>und</strong> Kind wiederholt sich auch ausserhalb der Stadt, wo<br />

eine Familie mit einem Esel <strong>über</strong> das Land zieht. Als Paar erscheinen auch <strong>die</strong> beiden<br />

Edlen, <strong>die</strong> sich gemeinsam bei der Jagd vergnügen, während <strong>die</strong> Frauen der Bauern<br />

<strong>und</strong> der Bauarbeiter an der Seite der Männer tätig sind. Jene der wohlhabenderen<br />

Bürger indessen erscheinen in den Fenstern, an den Türschwellen <strong>und</strong> auf den Dächern<br />

11 THOMAS VON AQUIN, De regimine principum, S. 6 f.<br />

12 PRUNAI (1949); DERS. (1950)<br />

13 "La città di Siena er in questo tempo pacifico e grande stato e felicità, e la pecunia erano<br />

abondanti per le più persone." AGNOLO DI TURA DEL GRASSO, Cronica,. S. 522<br />

248


der Paläste, sich um den Haushalt kümmernd oder das Treiben in der Stadt<br />

beobachtend. Gleichzeitig tauchen immer wieder Kinder im betriebsamen Geschehen<br />

auf. Auffallend ist, dass in <strong>die</strong>sem bürgerlichen Leben <strong>die</strong> religiöse Lebensform fast<br />

ausgespart ist: Weder Mönche, Prediger noch Nonnen bevölkern <strong>die</strong> Strasse, nur ein<br />

christlicher Würdenträger, den ein Diener begleitet, reitet auf <strong>die</strong> Stadt zu, während<br />

sich ein Pilger auf der Strasse nach Rom niedergelassen hat.<br />

Zusammenfassend kann <strong>die</strong>ses Bild also als ein idealisiertes Porträt Sienas <strong>und</strong><br />

seines Contado gesehen werden, das in den Farben der Stadt <strong>und</strong> ihres Umlands <strong>die</strong><br />

arbeitsteilige, auf der Familie begründete Gemeinschaft der Menschen als <strong>die</strong> ideale<br />

Form des Zusammenlebens darstellt, philosophisch mit Aristoteles <strong>und</strong> der ihn<br />

rezipierenden Scholastik begründet. Ein solches Leben ist, wie <strong>die</strong> Verslegende<br />

bedeutet, utile, necessario e di diletto - notwendig, nützlich <strong>und</strong> mit Freuden erfüllt.<br />

Egidio Romano hat auf der Gr<strong>und</strong>lage <strong>von</strong> Aristoteles all das Gute, das vom<br />

bürgerlichen Leben kommt, weil der Mensch <strong>die</strong> natürliche Veranlagung hat, Städte<br />

<strong>und</strong> Staaten zu begründen, aufgelistet: Erstens <strong>die</strong> grosse Freude des Lebens in der<br />

Gemeinschaft, zweitens das Stillen der Gr<strong>und</strong>bedürfnisse zur Lebenserhaltung, drittens<br />

<strong>die</strong> Verteidigungsbereitschaft, viertens der Handel <strong>und</strong> <strong>die</strong> Märkte, <strong>die</strong> den Besitz <strong>und</strong><br />

Gebrauch <strong>von</strong> weiteren Gütern erlaubt, fünftens <strong>die</strong> Ehen, durch welche <strong>die</strong> Bürger<br />

Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Verwandte werden <strong>und</strong> sich wohlgesinnt sind, sowie sechstens der<br />

soziale Druck gegen<strong>über</strong> Übeltätern, vom schlechten Tun abzulassen. 14<br />

Liebe <strong>und</strong> Gerichtsbarkeit, <strong>die</strong> <strong>von</strong> Egidio Romano zuletzt als <strong>die</strong> beiden<br />

Errungenschaften der menschlichen Gemeinschaft angedeutet werden, haben im<br />

Porträt Sienas als Stadtstaat noch eine besondere Bedeutung, auf <strong>die</strong> wir weiter unten<br />

zu sprechen kommen. Insgesamt ist das Bild aber vor allem auch ein Loblied auf <strong>die</strong><br />

menschliche Kreativität, <strong>die</strong> sich in einem definierbaren Raum, nämlich Siena,<br />

entfaltet. Damit rückt es sich aber auch in <strong>die</strong> Nähe der zeitgenössischen<br />

Stadtchroniken, <strong>die</strong> dasselbe Selbstbewusstsein widerspiegeln: Hier werden nicht nur<br />

<strong>die</strong> Mauern, Paläste, Kirchen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Schönheit der Stadt gepriesen, sondern auch <strong>die</strong><br />

Fruchtbarkeit des Umlands <strong>und</strong> <strong>die</strong> Tätigkeiten der Bürger gerühmt. 15 So werden auch<br />

Handel <strong>und</strong> Gewerbe sowie Anzahl Schulen <strong>und</strong> grosser Familien statistisch<br />

festgehalten <strong>und</strong> als Ausdruck des städtischen Reichtums besungen. Gleichzeitig<br />

werden Parteikämpfe kritisiert, Tugend gelobt, Laster getadelt <strong>und</strong> <strong>die</strong> politischen<br />

Institutionen bewertet, ob sie der Gerechtigkeit <strong>und</strong> dem Gemeinwohl <strong>die</strong>nen.<br />

14 SEIDEL (1999), S. 12 ff.<br />

15 HYDE (1993); FASOLI (1972); SEIDEL (1999), S. 15 ff.; ebd. S. 45 f.<br />

249


8.2. Irdisches Para<strong>die</strong>s<br />

Für Dante versinnbildlicht das irdische Para<strong>die</strong>s das Ziel seiner politischen<br />

Reformvorstellung. Er wünscht sich eine geläuterte Welt, in der Rechtssicherheit <strong>und</strong><br />

Frieden dem einzelnen einen Freiheitsraum garantieren, um <strong>die</strong> irdische Glückseligkeit<br />

zu erlangen, <strong>die</strong> sich für ihn mit dem Bild des irdischen Para<strong>die</strong>ses deckt. Das Glück<br />

des irdischen Para<strong>die</strong>ses <strong>über</strong>lagert sich bei Dante mit der aristotelischen Definition<br />

des Glücks als <strong>die</strong> tugendgemässe Tätigkeit der Seele ein Leben lang. Gleichzeitig ist<br />

er sich mit Aristoteles gewiss, der Mensch sei ein zoon politikon, das <strong>die</strong> politische<br />

Gemeinschaft begründet, um einen Raum der Gerechtigkeit zu schaffen, wo er nicht<br />

nur <strong>die</strong> Möglichkeit hat, in der arbeitsteiligen Gemeinschaft seine materiellen<br />

Bedürfnisse zu stillen, sondern auch durch das Üben <strong>von</strong> Tugend das Glück zu<br />

erlangen.<br />

In der Commedia ist der Baum des Garten Eden, in dem sich <strong>die</strong> Verwirklichung<br />

des Glücks auf Erden spiegelt, ohne Blüten, entsprechend der Kritik Dantes am status<br />

miserie seiner Zeit, aus dem er <strong>die</strong> Menschen mit seinem Werk jedoch zu führen hofft.<br />

Überzeugt da<strong>von</strong>, dass <strong>die</strong> Menschen selbst für <strong>die</strong> Verwirklichung des Para<strong>die</strong>ses auf<br />

Erden verantwortlich sind, entwirft er sein politisches Reformprogramm, das dem<br />

einzelnen den Freiheitsraum garantieren soll, sich individuell zu läutern <strong>und</strong> Tugend<br />

zu üben. Während er dem Kaisertum <strong>die</strong> Aufgabe zuweist, durch Rechtssicherheit <strong>und</strong><br />

weltweiten Frieden dem einzelnen zu erlauben, sich als zoon politikon in<br />

kleinräumigeren politischen Gemeinschaften zu verwirklichen, lässt er der Kirche <strong>die</strong><br />

Aufgabe der Seelsorge, <strong>die</strong> den Menschen in der göttlichen Liebe bestärkt. Als der<br />

Jenseitswanderer Dante im Traum <strong>die</strong> Verwirklichung seiner politischen<br />

Reformvorstellungen erblickt, erblüht für einen kurzen Moment der Baum des Garten<br />

Eden.<br />

Während in der Commedia <strong>die</strong> Verwirklichung des irdischen Glücks eine<br />

Traumvision bleibt, folgt im <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s auf das Purgatorio<br />

das Bild des irdischen Para<strong>die</strong>ses, das sich in idealer Weise im Raum der Sieneser<br />

Kommune entfaltet. Die Durchsetzung der Gerechtigkeit durch <strong>die</strong> weltliche Macht<br />

der Kommune schafft Frieden <strong>und</strong> Rechtssicherheit <strong>und</strong> ermöglicht das individuelle<br />

Glück durch Tugend. <strong>Der</strong> Kirche als Institution ist jegliche Macht im Bereich der<br />

politischen Läuterung versagt geblieben, doch beschränkt auf den geistlichen Bereich,<br />

gehört sie wie bei Dante zum irdischen Para<strong>die</strong>s. <strong>Der</strong> geistliche Würdenträger, der dem<br />

offenen Stadttor zureitet, zeugt vom Schutz der Kirche durch <strong>die</strong> Macht der Sieneser<br />

Kommune. Während Dante jedoch unter dem Eindruck seiner politischen Verbannung,<br />

<strong>die</strong> er als ungerecht erfahren hat, sich eine universelle politische Ordnung wünscht,<br />

250


orientiert sich der <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s für <strong>die</strong> Darstellung des<br />

irdischen Para<strong>die</strong>ses an der sich damals herausbildenden Ordnung des<br />

Territorialstaates. Gezeigt wird das glückliche Leben im Raum der Sieneser<br />

Kommune, <strong>von</strong> der Inschrift des <strong>Freskenzyklus</strong> als dolce vita, süsses Leben,<br />

bezeichnet. Damit wird auch in der Bildlegende bewusst ein Begriff eingesetzt, der<br />

damals mit den Vorstellungen des Para<strong>die</strong>ses in Verbindung gebracht wird.<br />

Das irdische Para<strong>die</strong>s in der Commedia ist Symbol für <strong>die</strong> irdische Glückseligkeit,<br />

<strong>die</strong> sich durch Tugend in einer politischen Ordnung verwirklicht, wo Gerechtigkeit<br />

herrscht. Dante verwendet den Begriff in der Commedia aber nicht nur in <strong>die</strong>sem<br />

symbolischen Sinne, um <strong>die</strong> irdische Glückseligkeit des zoon politikon zu<br />

verdeutlichen, sondern beschreibt tatsächlich den Raum des irdischen Para<strong>die</strong>ses, den<br />

der Jenseitswanderer auf dem Gipfel des Läuterungsberges betritt: Es ist ein Ort des<br />

ewigen Frühlings mit einem lichten Laubwald, durch das ein Bächlein rauscht. An<br />

seinen Ufern wachsen Gras <strong>und</strong> Blumen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Früchte sind reichlich, während<br />

Vogelgesang <strong>und</strong> Blütenduft <strong>die</strong> Luft erfüllt <strong>und</strong> ein zarter Windhauch <strong>die</strong> Blätter<br />

streift. Dante entwirft hier das Bild einer Ideallandschaft mit der Lieblichkeit des locus<br />

amoenus, der seit Vergils Aeneis Hauptmotiv aller Naturschilderungen ist: Ein solch<br />

lieblicher Ort versammelt Bäume, eine Wiese <strong>und</strong> Wasser, während Vogelgesang,<br />

Blumen, Lufthauch <strong>und</strong> Früchte als bereichernde Elemente hinzutreten. 16<br />

Die meisten <strong>die</strong>ser Elemente, <strong>die</strong> einen locus amoenus beschreiben, den Dante als<br />

Topos für seine Schilderung des irdischen Para<strong>die</strong>ses nutzt, 17 finden sich auch im<br />

Sieneser Panoramabild: Wasserläufe durchziehen <strong>die</strong> Landschaft, Olivenbäume <strong>und</strong><br />

Platanenhaine spenden Schatten, so auch einem Hirten unterhalb des kleinen<br />

Wehrdorfes auf dem Hügel. Am Rande der Strasse, <strong>die</strong> zur Stadt führt, wachsen Gras<br />

<strong>und</strong> Blumen, während <strong>die</strong> Vögel in den Weinreben zwitschern. Volieren <strong>und</strong> Pflanzen<br />

in den Fenstern der Wohnhäuser spenden auch der Stadt Vogelgesang <strong>und</strong> Blütenduft.<br />

Auf den Frühling als <strong>die</strong> dem locus amoenus zugeordnete Jahreszeit verweist<br />

schliesslich ein Medaillon im Fries, der oben das Bild umrahmt. Hier erscheint er<br />

gemeinsam mit dem Sommer, im Gegensatz zu den unwirtlichen Jahreszeiten Herbst<br />

<strong>und</strong> Winter auf der Seite des Inferno. Untypisch für einen locus amoenus sind im Bild<br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s aber <strong>die</strong> Entfaltung <strong>von</strong> menschlicher Aktivität, eine gepflegte,<br />

also mit Arbeit verb<strong>und</strong>ene Kulturlandschaft sowie <strong>die</strong> Stadtkulisse. Liebliche Orte<br />

sind nämlich traditionell nur solche, <strong>die</strong> ausschliesslich dem Genuss <strong>die</strong>nen <strong>und</strong> sich<br />

fern der Stadt befinden. So ist allein der Hirte, der sich an den Stamm des<br />

Olivenbaums anlehnt, um mit einem Fre<strong>und</strong>, der sich im Rasen niedergelassen hat, zu<br />

16 CURTIUS (1954), S. 191 ff.<br />

17 Purgatorio XXVIII.6-36<br />

251


plaudern, eine Handlung, <strong>die</strong> dem locus amoenus entspricht. Über Vergil ist der locus<br />

amoenus nicht nur Topos der Naturschilderung geworden, sondern auch der<br />

Hirtendichtung.<br />

Dieser scheinbarer Widerspruch löst sich indessen auf, wenn wir uns wiederum<br />

Dantes Commedia vor Augen führen: Auf dem Gipfel des Läuterungsberg schildert<br />

der Dichter zwar das irdische Para<strong>die</strong>s als einen locus amoenus, gleichzeitig ist es<br />

jedoch Symbol für das aristotelische Glück des zoon politikon, das sich in einer<br />

arbeitsteiligen, politisch geordneten Gemeinschaft verwirklicht. Die menschliche<br />

Aktivität, <strong>die</strong> sich in einem <strong>von</strong> der Gerechtigkeit geordneten, politischen Raum<br />

entfaltet, hat Dante in der Gestalt Mathildas verdichtet, der Bewohnerin des irdischen<br />

Para<strong>die</strong>ses: Sie wird in allen frühen Dante-Kommentaren als <strong>die</strong> Personifikation der<br />

vita activa gedeutet, des tätigen Lebens also, das sich bei <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> im<br />

Raum der Sieneser Kommune entfaltet. 18<br />

Die gedankliche Verbindung des irdischen Para<strong>die</strong>ses als locus amoenus mit den<br />

Freuden des aristotelischen zoon politikon, wie sie das Panoramabild zeigt, findet<br />

schliesslich auch Bestätigung bei Thomas <strong>von</strong> Aquin: In De regimine principum<br />

erläutert <strong>die</strong>ser nicht nur <strong>die</strong> natürliche Begründung des Staates, weil der Mensch ein<br />

zoon politikon oder animal politicum et socialum ist, sondern beschreibt auch <strong>die</strong><br />

ideale Lage für eine Stadtgründung: Nebst der Hügellage für ein ges<strong>und</strong>es Klima <strong>und</strong><br />

der Fruchtbarkeit der Landschaft, <strong>die</strong> sie umgibt, spielt auch <strong>die</strong> amoenitas, <strong>die</strong> Anmut<br />

des Ortes, eine wesentliche Rolle; denn, so Thomas <strong>von</strong> Aquin, “ohne Anmut kann das<br />

Leben der Menschen nicht lange dauern.” 19 Wie sehr Siena sich <strong>die</strong>ser amoenitas<br />

gewahr sein will, hallt in der Bezeichnung Sienas auf dem Stadtsigel wider, wo es sich<br />

Sena amoena nennt. Ein Abbild des Sigels hält mit derselben Inschrift <strong>die</strong><br />

Personifikation der Kommune in der Hand.<br />

8.3. Die Stadt der Gerechtigkeit<br />

Deutlich wird im <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s, dass es an den Menschen<br />

liegt, <strong>die</strong> Rahmenbedingungen für das Glück des irdischen Para<strong>die</strong>ses zu schaffen.<br />

Denn das Bild erschöpft sich nicht in der Wiedergabe <strong>von</strong> Momentaufnahmen<br />

friedlichen Lebens. Vielmehr stellt es Siena als einen politischen Raum dar, der, im<br />

Diesseits begründet, dem einzelnen ermöglicht, das Glück der Tugend zu erringen.<br />

18 Purgatorio XXVIII.37 JACOPO DELLA LANA (1328), II, ad locum; OTTIMO-COMMENTO<br />

(1334), II, ad locum<br />

19 THOMAS VON AQUIN (1265/66): De regimine principum, II.4, S. 69; s. a. SEIDEL (1999), S.<br />

36 ff.<br />

252


Offen gelegt wird <strong>die</strong> Darstellung Sienas als politischer Raum in der Figur der<br />

Securitas. In der Gestalt der geflügelten Victoria gleitet sie durch <strong>die</strong> Lüfte <strong>über</strong> Stadt<br />

<strong>und</strong> Land, unter ihr das muntere Leben. In der Hand einen Galgen, an dem der Körper<br />

eines toten Mannes baumelt, greift Securitas das Thema der Rechtssicherheit auf.<br />

Durch sie erscheinen Siena <strong>und</strong> sein Umland als ein geordneter Herrschaftsraum. Ein<br />

Pergament, das sie oberhalb des Stadttores entrollt, erinnert den Betrachter an <strong>die</strong><br />

Werte der Mittelwand: Solange in Siena <strong>die</strong> Gerechtigkeit regiert, können <strong>die</strong><br />

Menschen ohne Angst, frei ihres Weges gehen. Zur Durchsetzung der Gerechtigkeit in<br />

Stadt <strong>und</strong> Land finden sich deshalb auch Ordnungshüter der Kommune, <strong>die</strong> <strong>Ambrogio</strong><br />

<strong>Lorenzetti</strong> dezent im Hintergr<strong>und</strong> auftreten lässt: Zwei der Polizisten mit hohen Hüten<br />

verschwinden gerade in der Stadt hinter einer Hausecke, am Eingang zum Sieneser<br />

Campo, während ein anderer am Kopf der Brücke steht, <strong>über</strong> welche <strong>die</strong> Strasse zur<br />

Stadt hin führt. In einer solch geordneten Welt florieren Landwirtschaft, Gewerbe <strong>und</strong><br />

Handel, während es allen möglich ist, selbst einer einfachen Familie mit Kleinkind,<br />

samt Sack <strong>und</strong> Pack <strong>über</strong> <strong>die</strong> Landstrassen zu ziehen.<br />

Die Präsenz der Justitia im Panoramabild des irdischen Para<strong>die</strong>ses offenbart sich<br />

auch in der Lichtgebung 20 <strong>und</strong> verbindet sich mit dem Herrschaftsanspruch der<br />

Sieneser Kommune, der schon im vorangehenden Bild zum Tragen kam. Freiwillig<br />

unterwerfen sich dort ländliche Feudalherren <strong>und</strong> kleinere, ländliche Kommunen einer<br />

Herrschaft Sienas, <strong>die</strong> an <strong>die</strong> Gerechtigkeit geb<strong>und</strong>en ist. Vorteil ihrer Unterwerfung<br />

ist <strong>die</strong> Durchsetzung einer ordentlichen, städtischen Gerichtsbarkeit auch in ihrem<br />

Einflussbereich. Dieses Thema weiterführend, strahlt auf der Längswand das Licht <strong>von</strong><br />

der Stadt <strong>über</strong> <strong>die</strong> Landschaft aus, genauer <strong>über</strong> <strong>die</strong> südliche Toskana bis zum Hafen<br />

Talamone. Und je weiter ein Gebiet <strong>von</strong> der Stadt entfernt ist, also je schwieriger <strong>die</strong><br />

Sieneser Gerichtsbarkeit durchzusetzen ist, desto dunkler wird <strong>die</strong> Farbgebung. So<br />

schildert auch der Vers, der sich unterhalb des Bildes entlangzieht, <strong>die</strong> Gerechtigkeit<br />

als <strong>die</strong> Tugend, <strong>die</strong> heller als alles andere leuchtet.<br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> setzt <strong>die</strong> Lichtmetaphorik der Gerechtigkeit im<br />

<strong>Freskenzyklus</strong> konkret um: Lichtquelle für <strong>die</strong> malerische Umsetzung <strong>von</strong> Stadt <strong>und</strong><br />

Land des irdischen Para<strong>die</strong>ses ist nicht der natürliche Lichteinfall im Raum, also das<br />

Fenster am rechten Ende des Bildes. Lichtquelle ist <strong>die</strong> grosse Figur der Justitia im<br />

Bild des Purgatorio. Konsequent beleuchtet <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> sowohl alle Gebäude<br />

der Stadt wie auch <strong>die</strong> Landschaft <strong>von</strong> links nach rechts. 21<br />

Diese Justitia, <strong>die</strong> als Lichtquelle <strong>die</strong>nt, ist eine Gerechtigkeit, <strong>über</strong> der Sapientia,<br />

<strong>die</strong> göttliche Weisheit schwebt. Die Stadt erstrahlt also im Licht einer santa iustitia,<br />

20 SEIDEL (1999), S. 62 ff.<br />

21 SEIDEL(1999), S. 67<br />

253


<strong>die</strong> sich an der Idee göttlicher oder vollkommener Gerechtigkeit orientiert. Damit<br />

verbindet sich im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>die</strong> Vorstellung der vera civitas oder des<br />

himmlischen Jerusalems, das den irdischen Städten als Vorbild <strong>die</strong>nt. 22 So fordert auch<br />

Dante für <strong>die</strong> Verwirklichung seines politischen Reformprogramms einen Kaiser, der<br />

als Rechtsherrscher mindestens <strong>die</strong> Türme der heiligen Stadt zu erkennen vermag. Sein<br />

geliebtes Florenz indessen, das ihn aufgr<strong>und</strong> des Parteienhasses, der Ungerechtigkeiten<br />

<strong>und</strong> der Laster seiner Mitbürger enttäuscht hat, setzt er in Bezug zum höllischen<br />

Babylon, dem Gegensatz zur himmlischen Stadt Jerusalem.<br />

In <strong>die</strong>sem Sinne <strong>über</strong>lagert sich auch bei <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> das Bild des<br />

irdischen Para<strong>die</strong>ses nicht nur mit der aristotelischen Glückseligkeitslehre, sondern<br />

auch mit dem Bild des himmlischen Jerusalems. Ins Auge fällt hier der Einzug des<br />

geistlichen Würdenträgers, der <strong>die</strong> Hand zur Geste des Segensgrusses geformt hat. 23<br />

Die Szene erinnert an den Einzug Christi in <strong>die</strong> heilige Stadt, wie sie Duccio zwanzig<br />

Jahre früher auf dem Hochaltarbild des Sieneser Domes dargestellt hat, als er<br />

Jerusalem einen Sieneser Anstrich verlieh. 24 Deutlicher wird <strong>die</strong> Bildlegende: Das<br />

Leben in der Stadt, <strong>die</strong> der Gerechtigkeit huldigt, wird mit den Worten dolce vita<br />

umschrieben, eine Auszeichnung <strong>die</strong> in der Commedia dem Leben in der himmlischen<br />

Stadt vorbehalten ist.<br />

Herauskristallisiert wird <strong>die</strong> Überlagerung <strong>von</strong> irdischem Para<strong>die</strong>s <strong>und</strong> vera civitas<br />

im <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s aber vor allem durch <strong>die</strong> Stadt des Inferno, so<br />

wie Dante <strong>die</strong> Stadt der Ungerechtigkeit als den Widerpart der ewigen Stadt<br />

bezeichnet. <strong>Der</strong> Gewaltherrscher trägt nicht nur diabolische Züge, sondern auch solche<br />

der grossen Hure Babylons. Die Gerechtigkeit, <strong>die</strong> im irdischen Para<strong>die</strong>s <strong>die</strong><br />

Lichtquelle der Stadt ist, liegt hier kraftlos zu Füssen ihres Zwingherrns. Stadt <strong>und</strong><br />

Land bleiben dementsprechend im Dunkeln liegen.<br />

8.4. Die Stadt der Eintracht<br />

Im Purgatorio wird <strong>die</strong> Eintracht als direkte Folge der Rechtsherrschaft durch <strong>die</strong><br />

Figur der Concordia allegorisch vorweggenommen. Im anschliessenden Bild, das der<br />

Verwirklichung des Läuterungsprozesses gewidmet ist, vermag sie ihre Wirkung<br />

vollends zu entfalten. Vor dem Hintergr<strong>und</strong> des Parteienhaders im 13. <strong>und</strong> frühen 14.<br />

22 Dazu BRAUNFELS (1953), S. 22, 48 f., bes. S. 85<br />

23 Im Bildband CASTELNUOVO (1995) sind in der Detailabbildung <strong>die</strong>ser Szene Konturen eines<br />

Palmwedels zu erkennen, ev. Anspielung auf den Bischof <strong>und</strong> den Einzug am Palmsonntag, vgl.<br />

BRAUNFELS (1953), S. 85: In Siena begaben sich Anfang des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts der Bischof <strong>und</strong> das<br />

ganze Volk am Palmsonntag zur Porta Salaria, um dort Christus zu begrüssen.<br />

24 DEUCHLER (1980)<br />

254


Jahrh<strong>und</strong>ert, der <strong>die</strong> Kommunen Italiens gewaltsam spaltet <strong>und</strong> sie als politische<br />

Organisationsform fast gänzlich verschwinden lässt, rückt sie ins Zentrum des<br />

irdischen Para<strong>die</strong>ses. In aufregender Weise verbirgt sie sich in den Figuren der Tänzer<br />

<strong>und</strong> Tänzerinnen, <strong>die</strong> sich in der Mitte des Hautplatzes anmutig zu den Rhythmen<br />

eines Tamburins im Kreise drehen. Sie sind nicht nur ein zentrales Element der<br />

inhaltlichen Aussage des irdischen Para<strong>die</strong>ses, sondern auch der Bildkomposition.<br />

Denn <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> hat sie zum Zentrum seines perspektivischen Aufbaus<br />

gemacht <strong>und</strong> hat damit, ähnlich wie <strong>die</strong> Lichtgebung, <strong>die</strong> gestalterische Technik zur<br />

Unterstreichung der Bildaussage genutzt. Durch ihre geschmeidigen, nach aussen<br />

gerichteten Bewegungen scheinen <strong>die</strong> jungen Tänzer das Raumgefühl im Bild zu<br />

verteilen.<br />

Hinweis darauf, dass <strong>die</strong> Gruppe der Tänzer allegorischen Sinngehalt hat, gibt ihre<br />

im Vergleich zu den Figuren der Umgebung <strong>über</strong>dimensionale Grösse. Die Statur der<br />

Tänzer entspricht jener Concordias im Bild des Purgatorio, wo <strong>die</strong>se als einzige<br />

Personifikation gemeinsam mit Personen des wirklichen Lebens vor dem Podest<br />

abgebildet ist. Die Eintracht als Folge der Gerechtigkeit, <strong>die</strong> sich schon auf der<br />

untersten Ebene des vorangehenden Bildes angekündigt hat, wird durch <strong>die</strong> Tänzer in<br />

das pulsierende Leben der Stadt <strong>über</strong>tragen. Allegorisch scheint auch <strong>die</strong> Zahl der<br />

Tänzer besetzt: Die Zahl zehn gilt sowohl als Zahl der Vollkommenheit <strong>und</strong> Einheit,<br />

wie auch als numero comune, <strong>die</strong> all <strong>die</strong> anderen Ziffern beinhaltet. Als solche gilt sie<br />

als Gegenteil <strong>von</strong> Parteienhader <strong>und</strong> Zwietracht. So wird im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert der<br />

Ausdruck verwendet, dass eine Stadt nicht per sette, dem italienischen Wort für<br />

sieben, sondern per <strong>die</strong>ci, das italienische Wort für zehn, regiert werden soll. <strong>Der</strong><br />

Ausdruck sette ist gleichzeitig Synonym für das Wort parte, Teil oder Partei, <strong>und</strong> wird<br />

für schädliche Parteienbildung innerhalb der Kommune verwendet. Per <strong>die</strong>ci regieren<br />

indessen heisst, dass <strong>die</strong> Bürger der Stadt comunaliter, das heisst einträchtig für das<br />

Gemeinwohl <strong>und</strong> <strong>die</strong> Kommune handeln. 25<br />

Indem <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> <strong>die</strong> Eintracht durch das Bild des Tanzes darstellt,<br />

folgt er einer Verknüpfung, wie sie in ähnlicher Weise schon Giotto in der Arena-<br />

Kapelle <strong>von</strong> Padua abgebildet hat. Dort erscheint unterhalb der Tugend der Justitia<br />

eine Gruppe tanzender Mädchen, <strong>die</strong> als Folge der Gerechtigkeit das Glück der<br />

Eintracht widerspiegeln. <strong>Der</strong> Tanz setzt Concordia in Bezug zur Musik <strong>und</strong> Harmonie<br />

<strong>und</strong> bildet hiermit einen beliebten ciceronischen Metapher der Eintracht ab, ähnlich<br />

wie schon <strong>die</strong> Kordel im vorangehenden Bild. 26 Diese Metapher Ciceros hat besonders<br />

<strong>über</strong> den Kirchenvater Augustinus grosse Beliebtheit erlangt, der <strong>die</strong> Concordia mit<br />

25 HYDE (1972), S. 283<br />

26 FRUGONI, (1991), S. 162<br />

255


singenden <strong>und</strong> tanzenden Menschen gleichsetzt <strong>und</strong> in der musikalische Harmonie <strong>die</strong><br />

Eintracht der gut geordneten Stadt erkennt. 27<br />

Doch nicht nur allegorisch spiegelt sich <strong>die</strong> Concordia im Panoramabild der <strong>gute</strong>n<br />

Regierung wider. Bewohner der Stadt <strong>und</strong> des Landes, Bauern, Handwerker,<br />

Kaufleute, Adlige <strong>und</strong> Geistliche begegnen sich hier in Frieden. Dargestellt ist <strong>die</strong><br />

arbeitsteilige Gesellschaft, wo ein jeder glücklich seiner Tätigkeit nachgeht, ohne den<br />

anderen in seinem Werk zu behindern. Emsig arbeiten <strong>die</strong> Handwerker, rechnet der<br />

Kaufmann <strong>und</strong> stu<strong>die</strong>ren <strong>die</strong> Gelehrten, während <strong>die</strong> Bauern fleissig <strong>die</strong> Felder<br />

bestellen <strong>und</strong> Nahrungsmittel in <strong>die</strong> Stadt schaffen, indessen <strong>die</strong> Adligen auf <strong>die</strong><br />

Falkenjagd gehen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Knappen sie begleiten. Stadt <strong>und</strong> Land sind als Einheit<br />

dargestellt. Während <strong>die</strong> Bewohner vom Land den städtischen Markt bevölkern, haben<br />

jene der Stadt Villen in der nahen Umgebung gebaut. Gleichzeitig herrscht auch ein<br />

einträchtiges Zusammenleben <strong>von</strong> Frauen, Männern <strong>und</strong> Kindern. Seite an Seite sind<br />

Frauen <strong>und</strong> Männer als Arbeiter in der Stadt <strong>und</strong> auf dem Land zu sehen wie auch als<br />

Paar, das gemeinsam jagen geht, das als junge Familie durchs Land zieht oder<br />

Hochzeit feiert. Kleine Jungs spielen zwischen den Erwachsenen.<br />

So wie <strong>über</strong> Parteistreitigkeiten zur Zeit <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s geklagt wird, ist<br />

der Ruf nach Eintracht <strong>die</strong> am meisten gehörte Aufforderung an <strong>die</strong> Bürger der<br />

italienischen Städte. 28 <strong>Der</strong> zerstörerischen Wut der Zwietracht wird das Ideal der<br />

Eintracht entgegengesetzt. Mit dem zunehmenden Verschwinden der Kommunen <strong>von</strong><br />

der politischen Landkarte Mittel- <strong>und</strong> Oberitaliens wird es für <strong>die</strong> Bürger zu einer<br />

Überlebensfrage ihres politischen Gemeinwesens. Immer wieder wird das Diktum<br />

Sallusts zitiert, mit der Eintracht wachse das Kleine, während durch Zwietracht das<br />

Grosse zerstört werde. Prägnant fasst es <strong>die</strong> Erfahrung vieler zusammen, <strong>die</strong> sowohl<br />

den Aufstieg ihrer eigenen Kommune erlebten als auch den Niedergang aufgr<strong>und</strong><br />

ungelöster Parteikonflikte. So spiegeln sich <strong>die</strong> Themen Wachstum <strong>und</strong> Zerstörung<br />

auch im <strong>Freskenzyklus</strong> wider: Während das Bild des Inferno <strong>von</strong><br />

Zerfallserscheinungen <strong>und</strong> gewaltsamen Szenen geprägt wird - Menschen sterben,<br />

Paläste fallen zusammen, Handwerk, Handel <strong>und</strong> Ackerbau liegen brach <strong>und</strong><br />

brandschatzende Truppen besetzen das Land -, ist das irdische Para<strong>die</strong>s ein Schauplatz<br />

<strong>von</strong> Wachstum <strong>und</strong> Gemeinschaftssinn. In der Stadt wird fleissig gebaut, <strong>die</strong> Äcker<br />

werden bestellt <strong>und</strong> das <strong>von</strong> den Sienesen befriedete Gebiet reicht bis in den Süden ans<br />

Meer.<br />

27 SEIDEL (1999), S. 9 f.<br />

28 WALEY (1969)<br />

256


Als wesentlich erachtet wird das Moment der Eintracht gerade auch deshalb, weil<br />

der Mensch philosophisch mit Aristoteles als zoon politikon bzw. animal politicum<br />

begriffen wird, der <strong>die</strong> politische Gemeinschaft gründet, mit dem Ziel, Glückseligkeit<br />

zu erlangen. <strong>Der</strong> Bestand der Kommune erscheint zur Zeit <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s<br />

deshalb nicht als letztes Ziel, sondern hat instrumentellen Charakter. 29 Das tugendhafte<br />

Leben, das der einzelne in der polis oder civitas zu verwirklichen mag, ermöglicht ihm<br />

letztlich, in den Genuss der göttlichen Verheissung zu gelangen. So hält auch Dante in<br />

der Commedia fest, dass es für den Menschen nichts Schlimmeres gebe, als nicht<br />

Bürger zu sein. Diese Aussage erläutert der Ottimo-Commento mit dem Hinweis, dass<br />

der Mensch <strong>die</strong> politische Gemeinschaft braucht, um <strong>die</strong> Tugend zu erlernen <strong>und</strong> zu<br />

üben, <strong>die</strong> ihm letztlich das Glück des ewigen Lebens verheisst:<br />

"<strong>Der</strong> Mensch ist ein animale civile politico, weil es in seiner Natur<br />

liegt als ein denkendes Wesen nach der höchsten Vollendung des Geistes<br />

zu streben, <strong>die</strong> <strong>die</strong> höchste Glückseligkeit ist: Diese kann er aber nicht<br />

ohne moralischen Tugenden erreichen. Die moralischen Tugenden kann er<br />

aber nur haben, wenn er sie durch Gebrauch erlernt <strong>und</strong> <strong>die</strong>se auch in <strong>die</strong><br />

Tat umsetzt. Dies geschieht, indem er sich mit den anderen Menschen<br />

unterhält <strong>und</strong> Teil der politischen Menge ist, mit der er politisch leben<br />

soll." 30<br />

So ruft auch der Prediger Remigio Girolami Anfang des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts, als<br />

Florenz unter schwersten Parteikämpfen leidet, seinen Mitbürgern zu, den Hader zu<br />

beenden <strong>und</strong> sich auf das Glück der Eintracht <strong>und</strong> des Friedens zu besinnen; denn, ”ist<br />

<strong>die</strong> Stadt zerstört, ist der Bürger nicht mehr als eine Skulptur aus Stein oder ein<br />

gemaltes Bild, weil er <strong>von</strong> der Tugend <strong>und</strong> der Tätigkeit, <strong>die</strong> er vorher hatte,<br />

ferngehalten werde." 31 Wenn es der Aufrechterhaltung der Kommune nütze, solle der<br />

Bürger selbst vor kirchlichen Strafen, <strong>die</strong> ihm androhen, seine Seele zu verdammen,<br />

nicht zurückschrecken; denn Remigio Girolami ist <strong>über</strong>zeugt, dass es schliesslich<br />

keinen Zielkonflikt zwischen der irdischen <strong>und</strong> der himmlischen Glückseligkeit gebe.<br />

Im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert wird mit Aristoteles <strong>die</strong> civitas, <strong>die</strong> der Mensch als<br />

Wirkungsfeld für Tugend benötigt, Etappe auf der Suche nach der höchsten<br />

Glückseligkeit. Damit ist aber auch <strong>die</strong> Eintracht im Gemeinwesen ethisch besetzt: Sie<br />

ist <strong>die</strong> Summe des individuellen Strebens nach Tugend in einem <strong>von</strong> Gerechtigkeit<br />

geordneten Raum. Und mit der Bindung der Eintracht an <strong>die</strong> Gerechtigkeit entsteht das<br />

Gemeinwohl: So heisst es auch im Begleittext des <strong>Freskenzyklus</strong>, dass dort, wo <strong>die</strong><br />

29 Es macht <strong>die</strong> Würde des Menschen aus, dass er <strong>von</strong> Natur aus frei ist <strong>und</strong> um seiner selbst<br />

willen existiert (Summa theologiae: II-II, q. 65, a.2).<br />

30 .OTTIMO-COMMENTO (1334), III, Kommentar zu Paradiso VIII.115-117<br />

31 "... destructa civitate remanet civis lapideus aut depictus quia scilicet caret virtute et<br />

operatione quam prius habebat." De bono communi 100 r A, S. 63; DERS. (1302/04): De bono pacis, S.<br />

129<br />

257


heilige Gerechtigkeit regiert, <strong>die</strong>se <strong>die</strong> vielen Seelen zur Einheit führt <strong>und</strong> so vereint,<br />

bewirken sie schliesslich das Gemeinwohl. Eine Petition an den Sieneser Consiglio<br />

generale im Jahr 1300, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Öffnungszeiten der kommunalen Gerichte verlängern<br />

will, konkretisiert den Begriff des Gemeinwohls in <strong>die</strong>sem Sinne:<br />

"Es muss so gehandelt werden, dass weder <strong>die</strong> Kommune durch den<br />

Einzelnen hintergangen <strong>und</strong> geschädigt wird, noch dass <strong>die</strong> einzelne Person<br />

für <strong>die</strong> Kommune in ihrem Recht verletzt wird. Dann nämlich verwirklicht<br />

sich das Gemeinwohl, das sowohl bei Gott, der das wahre Heil <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Gerechtigkeit ist, als auch bei den Menschen sehr beliebt ist."<br />

Falls das Recht des Einzelnen mit jenem der Kommune kolli<strong>die</strong>rt, löst Remigio<br />

Girolami den Konflikt mit dem Begriff der Verhältnismässigkeit, <strong>die</strong> den Eingriff in<br />

das Recht eines Einzelnen durch <strong>die</strong> Kommune dann erlaubt, wenn es für <strong>die</strong><br />

Durchsetzung eines Friedensschlusses innerhalb der Gemeinschaft erforderlich ist. Die<br />

Sieneser Petition schliesslich verbindet den Namen der Regierung Nove gubernatores<br />

et defensores comuni et populi mit der Idee eines Gemeinwohls, das sowohl den<br />

Einzelnen wie auch das Ganze berücksichtigt: Gubernatores, Regierende, bedeutet,<br />

dass sich <strong>die</strong> Nove für <strong>die</strong> Kommune einzusetzen, sich also um den Frieden <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Ehre der gesamten Kommune zu bemühen haben. Defensores, aber, Verteidiger,<br />

bezieht sich auf <strong>die</strong> Rechte des einzelnen Bürgers, <strong>die</strong> es durch eine geordnete<br />

Rechtsprechung zu verteidigen gelte. 32<br />

8.5. Die Stadt der Liebe<br />

Die Pax, <strong>die</strong> auf der Seite des Purgatorio das Glück des irdischen Para<strong>die</strong>ses<br />

betrachtet, bedeutet jedoch mehr als nur <strong>die</strong> Verwirklichung individueller Tugend in<br />

einem Raum sozialer Eintracht, der durch <strong>die</strong> Gerechtigkeit geordnet ist. <strong>Der</strong> Friede ist<br />

mehr als durch Gerechtigkeit erzielte Eintracht: Idealerweise ist er direkt ein Werk der<br />

Liebe. So ist denn auch im <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s nebst der<br />

Gerechtigkeit <strong>die</strong> göttliche Liebe das gestaltende Element des <strong>Freskenzyklus</strong>. Als <strong>die</strong><br />

den Kosmos durchwaltende Kraft, <strong>die</strong> das Weltall zusammenhält, verbirgt sie sich<br />

hinter dem Fries der Planeten <strong>und</strong> Jahreszeiten. Während das Inferno ohne Liebe ist,<br />

weil Hochmut, Geiz <strong>und</strong> Eitelkeit den Menschen <strong>von</strong> der göttlichen Liebe trennen,<br />

trifft sie im irdischen Para<strong>die</strong>s <strong>die</strong> Herzen. Als solche Kraft erscheint sie im<br />

Purgatorio, wo Caritas in der Gestalt Amors oder Eros auftritt. Sie entfaltet ihre<br />

Wirkung, indem sie zur wahren Liebe in allen Lebensbereichen führt. Die Eintracht<br />

wird durch <strong>die</strong> Präsenz der Liebe verfeinert.<br />

32 Siehe Zitate oben, Kapite7, Fn. 61<br />

258


Sinnbild, dass das irdischen Para<strong>die</strong>s gleichzeitig auch das Reich Amors ist, ist<br />

wiederum <strong>die</strong> Tanzszene: Die zehn jungen Leute, <strong>die</strong> einen Reigen tanzen, sind nicht<br />

nur eine Allegorie der Concordia. Sie sind auch eine Anspielung auf Amors Reich,<br />

geschildert vom französischen Roman de la Rose, der in der zweiten Hälfte des 13.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts entstanden <strong>und</strong> in den Städten Italiens rasch beliebt geworden ist. 33 Er hat<br />

auch zur Ausbreitung des Tanzens auf den Strassen beigetragen, so dass in Siena<br />

schliesslich Männern verboten wird, öffentlich in Frauenkleidern zu tanzen. Während<br />

der Rosenroman das Reich Amors als einen Ort des höfischen Vergnügens beschreibt,<br />

wo sich <strong>die</strong> zehn weiblichen Personifikationen der Lustbarkeiten im Reigen drehen,<br />

erscheint sein Reich im <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s indessen als “Wiese der<br />

Welt”, dargestellt mit Freuden des irdischen Lebens. Solch eine “Wiese der Welt” - lo<br />

prado del mondo - hat auch Brunetto Latini, der Lehrer Dantes, Amors Reich im<br />

Tesoretto genannt, dabei Motive des Rosenromans umdeutend. 34<br />

Im Gegensatz aber zum Roman de la Rose oder Tesoretto, wo Eros der Ratio<br />

entgegengesetzt ist, verbindet sich im <strong>Freskenzyklus</strong> das vernunftgemässe Handeln mit<br />

der Liebe. Dies entspricht dem Liebesbegriff Dantes in der Commedia. Dante hat hier<br />

den Gegensatz <strong>von</strong> Eros <strong>und</strong> Ratio <strong>über</strong>w<strong>und</strong>en: Die Liebe ist im Sinne des dolce stil<br />

nuovo eine Leidenschaft, <strong>die</strong> ihre Kraft vom Himmel nimmt <strong>und</strong> zur Verwirklichung<br />

des antiken Sittenideals führt, das in der Vernunft begründet ist. 35 Die Bejahung <strong>von</strong><br />

Amor oder Eros zeigt sich nicht nur in Dantes Huldigung <strong>von</strong> Guido Guinizelli, dem<br />

Begründer des dolce stil nuovo <strong>und</strong> der positiven Besetzung der Frauengestalten in der<br />

Commedia. Sie wird auch <strong>von</strong> den Seligen im Venushimmel des Paradiso offenbart,<br />

<strong>die</strong> den Aufstieg <strong>von</strong> der irdischen zur himmlischen Liebe verkörpern <strong>und</strong> ohne Reue<br />

auf ein leidenschaftliches Liebesleben auf Erden zurückblicken. Entsprechend hat<br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> der Caritas <strong>die</strong> Gestalt Amors gegeben, während sich in dessen<br />

Reich <strong>die</strong> wahre Liebe entfaltet: Ein Edler geht mit seiner Dame gemeinsam auf <strong>die</strong><br />

Jagd, es wird Hochzeit gefeiert <strong>und</strong> <strong>die</strong> Menschen berühren sich liebevoll, während <strong>die</strong><br />

Kinder zwischen den Erwachsenen spielen. Als wahr gelten mit Augustinus alle<br />

Formen der Liebe, <strong>die</strong> das Gemeinsame <strong>über</strong> den eigenen Nutzen stellen.<br />

Siena hat in der Tat ein besonderes Verhältnis zum Planeten Venus, dem Stern der<br />

Liebe <strong>und</strong> Mutter Amors. <strong>Der</strong> Gründungsmythos der Stadt, der im frühen 14.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert verbreitet ist, setzt den astrologischen Zeitpunkt der Stadtgründung auf<br />

den Monat Mai unter das Sternzeichen des Stiers. Herrschender Planet des Stiers ist<br />

33 MODERSOHN (1998),<br />

34 Ebd. S.<br />

35 HAUSMAN (1986), S. 300 ff. <strong>und</strong> S. 438 ff.; siehe zum dolce stil nuovo nächstes Kapitel,<br />

Seelenadel.<br />

259


<strong>die</strong> Venus, <strong>die</strong> als Leitstern Sienas im Planetenfries auch eine besondere Position<br />

einnimmt: Er befindet sich direkt oberhalb der Stadt Siena. Und während <strong>die</strong> anderen<br />

sechs Planeten alle <strong>von</strong> den Tierkreiszeichen flankiert sind, <strong>die</strong> sie besonders<br />

beeinflussen, beinhalten <strong>die</strong> Romben links <strong>und</strong> rechts des Medaillons der Venus <strong>die</strong><br />

Sieneser Wappen der Kommune <strong>und</strong> des Popolo. Zur Unterstreichung des Sieneser<br />

Bezugs erscheint <strong>die</strong> Venus ausserdem nur im Zeichen des Stiers <strong>und</strong> nicht der Waage,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong> Venus ebenfalls als Leitplanet hat: Die Venus selbst ist im Medaillon durch<br />

eine junge Frau personifiziert, <strong>die</strong> sich tanzend vor einem Stier bewegt <strong>und</strong> damit auch<br />

nochmals einen Verbindung zum Tanz im irdischen Para<strong>die</strong>s herstellt. 36<br />

Diese sich auch im <strong>Freskenzyklus</strong> manifestierende Huldigung der Venus durch <strong>die</strong><br />

Sienesen findet nur wenige Jahre nach Vollendung des Bildes eine weitere<br />

Bestätigung. Als bei Bauarbeiten für den Stadtpalast der Familie Malavolti eine antike<br />

Venusstatue gef<strong>und</strong>en wird, wird <strong>die</strong>se mit grossem Beifall auf dem Campo<br />

aufgestellt. <strong>Der</strong> Florentiner Bildhauer Lorenzo Ghiberti berichtet in seinen<br />

Aufzeichnungen aus dem frühen 15. Jahrh<strong>und</strong>ert, dass er <strong>von</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong><br />

eine Zeichnung <strong>die</strong>ser Statue gesehen habe. 37 Nicht zuletzt muss in Siena <strong>die</strong><br />

Verehrung der Venus eine solche Kraft erlangt haben, da <strong>die</strong> Venus damals auch mit<br />

der Jungfrau Maria gleichgesetzt wird, der traditionellen Stadtpatronin Sienas. Und<br />

schliesslich ist <strong>die</strong> Venus nicht nur der Planet der Liebe, sondern auch der Freude, des<br />

Überflusses <strong>und</strong> der Gerechtigkeit, also insgesamt der Werte, <strong>die</strong> das <strong>von</strong> den Sienesen<br />

angestrebte irdische Para<strong>die</strong>s auszeichnen.<br />

8.6. Vivere civile<br />

Die Stadt des irdischen Para<strong>die</strong>ses, <strong>die</strong> sich im Antlitz der anmutigen Pax spiegelt,<br />

ist nicht nur eine Stadt der Gerechtigkeit, der Eintracht <strong>und</strong> der Liebe, sondern auch<br />

eine Stadt der tugendgemässen Tätigkeit <strong>und</strong> der vita activa, des tätigen Lebens.<br />

Mathilde als <strong>die</strong> Personifikation der vita activa ist <strong>die</strong> Bewohnerin <strong>von</strong> Dantes<br />

irdischem Para<strong>die</strong>s; denn das Glück des zoon politikon verwirklicht sich in der<br />

tugendgemässen Tätigkeit der Seele ein Leben lang. Tugenden, <strong>die</strong> der vita activa<br />

zugeordnet werden, sind vor allem <strong>die</strong> vier Kardinaltugenden, <strong>die</strong> das antike<br />

Sittenideal beschreiben, in der Commedia <strong>und</strong> im <strong>Freskenzyklus</strong> gestärkt durch <strong>die</strong><br />

göttliche Liebe. Diese vita activa, <strong>die</strong> Dante auch vita civile nennt, entfaltet sich bei<br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> im Raum der civitas. Sie wird so zur vita civile oder vita politica<br />

bzw. zum vivere civile. Betont wird <strong>die</strong>ses Glück, das sich in <strong>die</strong>ser Stadt der<br />

36 Dazu SEIDEL (1997), S. 47 ff.<br />

37 GHIBERTI: I commentarii; siehe hierzu 2. Band, Julius <strong>von</strong> Schlosser, S. 141<br />

260


Gerechtigkeit, Eintracht <strong>und</strong> Liebe verwirklicht auch vom Begleittext des<br />

<strong>Freskenzyklus</strong>: In <strong>die</strong>ser Stadt stellt sich jegliche bürgerliche Wirkung ein, ogni civile<br />

effetto: nützlich, brauchbar sowie mit Freuden, utile, necessario e di diletto. Es ist das<br />

Glück der arbeitsteiligen politischen Gemeinschaft, wo ein jeder eine nützliche<br />

Tätigkeit ausführt <strong>und</strong> sich <strong>die</strong> Freuden individueller Tugend entfalten. Diletto ist auch<br />

das Wort, dass der Lehrer Dantes, Brunetto Latini, verwendet, um im Sinne <strong>von</strong><br />

Aristoteles das vollkommene, irdische Glück zu benennen. 38<br />

In <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s irdischem Para<strong>die</strong>s spiegelt sich das Selbstbewusstsein<br />

der italienischen Bürger wider, das sich seit dem 12. Jahrh<strong>und</strong>ert auch auf <strong>die</strong><br />

Bewertung der vita activa ausgewirkt hat. Denn im 12. Jahrh<strong>und</strong>ert ist <strong>die</strong> Stellung der<br />

vita contemplativa noch unangefochten <strong>und</strong> das mönchische Ideal, belebt <strong>von</strong> der<br />

Kirchenreform des 11. Jahrh<strong>und</strong>erts, dominiert 39 . Es ist <strong>von</strong> der Idee getragen, <strong>die</strong><br />

perfectio der Christusnachfolge sei einzig fern der Welt zu erreichen, denn lediglich<br />

<strong>die</strong> Verachtung der Welt, das Fliehen irdischer Güter <strong>und</strong> <strong>die</strong> Ablehnung familiärer,<br />

beruflicher <strong>und</strong> politischer Verantwortung führen sicher zum Heil der Seele. Als <strong>die</strong><br />

kommunale Bewegung im 12. Jahrh<strong>und</strong>ert den grossen Teil des westlichen Europas<br />

erfasst, wird sie deshalb <strong>von</strong> vielen Klerikern <strong>und</strong> Geistlichen verurteilt. Sie sehen<br />

darin oft nicht mehr als eine Gefahr für <strong>die</strong> Freiheit der Kirche, das Feilschen um<br />

Vorteile <strong>und</strong> das Streben nach Geld. Im städtereichen Italien, wo <strong>die</strong> Bischöfe anfangs<br />

Teil der kommunalen Bewegung sind, vernimmt man jedoch selten Kritik. Bald<br />

entwickelt sich hier auch ein Stolz der Bürger auf <strong>die</strong> vita activa. 40 Als sich um das<br />

Jahr 1230 Albertano da Brescia - Bürger in Brescia, <strong>von</strong> Beruf Richter - zu den beiden<br />

Lebensmodellen äussert, betont er <strong>die</strong> Existenzberechtigung der vita activa. So achtet<br />

er zwar <strong>die</strong> lange Tradition der vita contemplativa <strong>und</strong> billigt den Entscheid, sich aus<br />

der Welt zurückzuziehen. Gleichzeitig glaubt er aber, der Edelmut des Menschen<br />

verlange eigentlich, sich der Welt der Kommune auszusetzen, anstatt in der<br />

Einsamkeit <strong>die</strong> Freuden der Kontemplation zu suchen.<br />

Ideologische Unterstützung erhält <strong>die</strong> vita activa schliesslich <strong>von</strong> der<br />

Aristotelesrezeption, weil sie <strong>die</strong> civitas ins Zentrum ihrer Überlegungen rückt, was<br />

sich direkt auf <strong>die</strong> Bewertung des aktiven Lebensmodells auszuwirken beginnt. Mit<br />

der Aristotelesrezeption wird das Leben in der civitas nicht nur Voraussetzung, um<br />

durch das tugendhafte Leben in den Genuss der göttlichen Verheissung zu gelangen;<br />

<strong>die</strong> vita activa, <strong>von</strong> Thomas <strong>von</strong> Aquin auch vita civilis genannt, wird das Tor zur vita<br />

contemplativa. Nur wer das tugendhafte Leben verwirklicht, das eine <strong>von</strong><br />

38 Trésor II.40 (délit) ebd.II.47. Siehe hierfür <strong>die</strong> italienische Übersetzung des Trésor aus der<br />

zweiten Hälfte des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts, entsprechend: Tesoro, XI.38; ebd. XI.54-56<br />

39 Dazu siehe SCHMIDT (1993)<br />

40 Ebd., vgl. auch POCOCK (1975), S. 84 f.<br />

261


Gerechtigkeit geordnete politische Gemeinschaft bedingt, sei innerlich bereit für <strong>die</strong><br />

Kontemplation <strong>über</strong> <strong>die</strong> heilige Dreieinigkeit. Denn allein <strong>von</strong> aussergewöhnlich<br />

heiligen Menschen nimmt man an, dass sie dank besonderer Gaben in der Lage sind,<br />

fern der Städte bedürfnislos <strong>und</strong> selbstgenügsam zu leben <strong>und</strong> sich ganz dem Dienst an<br />

Gott zu widmen. So ist auch in der Commedia <strong>die</strong> vita activa der vita contemplativa<br />

vorgeordnet. Letztere gewinnt erst in den höchsten Sphären des himmlischen<br />

Para<strong>die</strong>ses an Bedeutung, wenn der geläuterte Jenseitswanderer zur Gottesschau<br />

aufsteigt.<br />

Die Betonung der vita acitva in der Commedia findet ihren Widerhall im<br />

Kommentar Jacopos della Lana: Er betrachtet <strong>die</strong> vita activa als das ver<strong>die</strong>nstvollere<br />

Lebensmodell. In <strong>die</strong>sem Zusammenhang betont er <strong>die</strong> Ehe als Teil der vita activa,<br />

wie sie auch im Bild <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s prominent durch einen Hochzeitszug<br />

hervorgehoben wird. Die Betonung des ehelichen Lebens, das mit der Sorge für Frau,<br />

Kinder <strong>und</strong> Verwandte einhergeht, führt ausserdem zur Abgrenzung der bürgerlichen<br />

Existenz vom Leben der Bettelmönche, <strong>die</strong> im Gegensatz zu den traditionellen, der<br />

vita contemplativa verpflichteten Orden in der Stadt ansässig <strong>und</strong> tätig sind. Für<br />

Jacopo della Lana wählt der Bürger, der in der vita activa gesellschaftliche<br />

Verpflichtungen eingeht, den Weg, der <strong>die</strong> meiste Anerkennung ver<strong>die</strong>nt, da er der<br />

Gemeinschaft den grössten Nutzen bringe, während er gleichzeitig sein individuelles<br />

Seelenheil gefährdet. Anders als <strong>die</strong> Bettelbrüder, <strong>die</strong> sich den Regeln der Armut, der<br />

Keuschheit <strong>und</strong> des Gehorsams unterwerfen würden <strong>und</strong> damit den sichersten Weg für<br />

ihr eigenes Seelenheil gingen, könne sich der Bürger, der sich um Frau, Familie <strong>und</strong><br />

Verwandte zu kümmern habe, nicht aus dem weltlichen Geschehen heraushalten. So<br />

gefährde er zwar sein Seelenheil durch <strong>die</strong> Notwendigkeit, Geld für Kleider <strong>und</strong><br />

Lebensmittel zu ver<strong>die</strong>nen <strong>und</strong> manchmal Rache zu üben, um <strong>die</strong> Ehre der Familie zu<br />

wahren. Doch gleichzeitig würden der Gesellschaft aufgr<strong>und</strong> des ehelichen Lebens<br />

sehr viele Vorteile erwachsen: Erstens sichere <strong>die</strong> Ehe das Überleben der Menschen.<br />

Damit schaffe sie zweitens <strong>die</strong> Voraussetzungen einer civitas, <strong>die</strong> allein dem<br />

Menschen <strong>die</strong> Möglichkeit gebe, Tugend zu üben. Und drittens <strong>die</strong>ne <strong>die</strong> Ehe auch der<br />

Kirche; denn ohne Nachkommen könnte <strong>die</strong> Kongregation der Gläubigen nicht bis<br />

zum Jüngsten Tag <strong>über</strong>dauern. 41<br />

Mit Dante ist der Raum des vivere civile schliesslich aber auch ein Raum der<br />

Philosophie. Sie ist <strong>die</strong> Königin des Frieses, das sich unterhalb des Purgatorio <strong>und</strong> des<br />

irdischen Para<strong>die</strong>ses entlangzieht. In der Monarchia hat Dante festgehalten, dass der<br />

Mensch das Ziel des irdischen Para<strong>die</strong>ses erreicht, wenn er den Lehren der<br />

Philosophen folgt <strong>und</strong> seine Handlungen nach den Gesetzen der intellektuellen <strong>und</strong><br />

41 JACOPO DELLA LANA (1328), III, S. 211<br />

262


moralischen Tugenden regelt. Diese Tugenden weist er der vita activa zu. In der<br />

Commedia setzt er <strong>die</strong>ses Verhältnis der Philosophie zur vita activa <strong>und</strong> zur irdischen<br />

Glückseligkeit allegorisch um. In der Gestalt Vergils begleitet <strong>die</strong> Philosophie den<br />

Jenseitswanderer zu den Höhen des irdischen Para<strong>die</strong>ses, um ihm beizustehen, <strong>die</strong> <strong>von</strong><br />

Gott dem Menschen geschenkte Freiheit zu verwirklichen <strong>und</strong> das antike Sittenideal,<br />

gestärkt <strong>von</strong> der göttlichen Liebe, zu erlangen. Im irdischen Para<strong>die</strong>s empfängt ihn<br />

schliesslich Mathilda, <strong>die</strong> Personifikation der vita activa oder vita civile. 42<br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> hat zur Darstellung der Philosophie eine weibliche<br />

Personifikation verwendet in der Gestalt der Philosophia des spätantiken Boethius<br />

(480 - 524 n. Chr.) Er beschreibt sie in seiner Schrift De consolatione philosophiae<br />

(Trost der Philosophie) als eine Dame, <strong>die</strong> wie bei <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> in ihren<br />

Händen einen Stapel Bücher <strong>und</strong> ein Zepter hält. Während sie bei Boethius ihr Alter<br />

<strong>und</strong> ihre Grösse jedoch ständig ändert, hat sie <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> ins Medaillon<br />

eingepasst <strong>und</strong> wie schon <strong>die</strong> Tugend der Weisheit als ältere Dame dargestellt. Auf<br />

dem Kopf trägt sie eine Krone aus Lorbeer. Ein Dichterkranz in Anspielung auf<br />

Dante? Boethius, dessen Werk in jener Zeit sehr beliebt ist <strong>und</strong> das auch Dante<br />

gekannt hat, beschreibt <strong>die</strong> Philosophie als Lehrerin <strong>und</strong> Trostspenderin. Mit den<br />

Unterweisungen Vergils in der Commedia haben <strong>die</strong> Ratschläge der boethischen<br />

Philosophia gemeinsam, dass sie das natürliche Streben des Menschen nach dem<br />

vollkommenen Gut lehren. Sie betonen ebenfalls <strong>die</strong> Tugend als Glückseligkeit, <strong>die</strong><br />

sich selbst Lohn ist sowie <strong>die</strong> Freiheit der menschlichen Entscheidung.<br />

<strong>Der</strong> Philosophie zugeordnet hat <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> <strong>die</strong> sieben liberalen Künste,<br />

<strong>die</strong> sich in den Medaillons unterhalb des Purgatorio <strong>und</strong> des irdischen Para<strong>die</strong>ses<br />

entlang ziehen. Ihre gemeinsame Abbildung mit der Philosophie hat sich vor<br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> schon in der Skulptur durchgesetzt. 43 In Nachahmung der<br />

Bildhauerkunst sind sie im <strong>Freskenzyklus</strong> als Grisailles zu sehen, in schwarz <strong>und</strong><br />

weiss. Während <strong>die</strong> liberalen Künste in den geistlichen Skultpurenprogrammen der<br />

Kathedralen <strong>und</strong> Kanzeln - mit oder ohne Philosophie - Unterbau des theologischen<br />

Wissens sind, haben sie im säkularen Raum während des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts eine<br />

42 Purgatorio XXVIII.37 ff.<br />

43 Ursprüngliche literarische Quelle für <strong>die</strong> weibliche Personifikation der Philosophie <strong>und</strong> der<br />

sieben liberalen Künste ist <strong>die</strong> spätantike Literatur des 5. <strong>und</strong> 6. Jahrh<strong>und</strong>erts. Während <strong>die</strong><br />

Philosophie in De consolatione philosphiae (Trost der Philosophie) <strong>von</strong> Boethius (480 - 524 n. Chr.)<br />

als weibliche Figur auftritt, erscheinen <strong>die</strong> sieben liberalen Künste als soche im allegorischen Gedicht<br />

<strong>über</strong> <strong>die</strong> Heirat der Philologie mit Merkur, “De nuptiis Philologiae et Mercurii”, verfasst <strong>von</strong><br />

Martianus Capellus (ca. 400/450 n. Chr.). Die beiden Werke sind gemeinsam mit dem im 12.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert verfassten Anticlaudianus des Alain de Lille (1128-1203), wo <strong>die</strong> sieben liberalen Künste<br />

ebenfalls als weibliche Personifkationen erscheinen, <strong>die</strong> wichtigsten Quellen für <strong>die</strong> ikonographische<br />

Übereinkunft zur Darstellung des profanen Wissens.<br />

263


Bedeutung angenommen, <strong>die</strong> sie direkt mit dem irdischen Para<strong>die</strong>s in Bezug setzt. So<br />

wird seit Mitte des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>die</strong> Vorstellung erkennbar, dass der Mensch durch<br />

das Studium der artes liberales wieder Adam vor dem Sündenfall gleichzuwerden<br />

vermag. 44 Als Töchter der Philosophie fügen sie sich somit direkt in den Pfad zur<br />

Erreichung des irdischen Para<strong>die</strong>ses ein. Drei der sieben Künste, das Trivium mit der<br />

Grammatik, Dialektik <strong>und</strong> Rhetorik erscheinen unterhalb des Purgatorio, <strong>die</strong> anderen<br />

vier, das Quadrivium mit der Arithmetik, Geometrie, Musik <strong>und</strong> Astrologie, sind<br />

gemeinsam mit der Philosophie unterhalb des irdischen Para<strong>die</strong>ses abgebildet. 45<br />

Als Künste des Wortes wird das Trivium zur Zeit <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s direkt mit<br />

der Idee einer politischen Ordnung in Verbindung gesetzt, <strong>die</strong> danach strebt,<br />

Gerechtigkeit durchzusetzen. Sie fügen sich deshalb auch in den Bereich des<br />

Läuterungsprozesses. Während Grammatica als <strong>die</strong> Basis aller Wissenschaft einem<br />

kleinen Jungen <strong>die</strong> Regeln der Sprache lehrt, erscheint Dialectica als Kunst der<br />

Argumentation. In der einen Hand hält sie <strong>die</strong> Maske eines Christuskopfs mit<br />

Kreuznimbus, in der anderen einen Satyrkopf. Sie scheint eine Disputation mit<br />

christlichen <strong>und</strong> heidnischen Argumenten zu führen, wobei sie sich aber Christus<br />

zuwendet. Retorica schliesslich, <strong>die</strong> aufgr<strong>und</strong> einer später durchgebrochenen Tür nicht<br />

mehr zu sehen ist, gilt als <strong>die</strong> krönende Kunst des Sprechens, <strong>die</strong> auf Grammatik <strong>und</strong><br />

Dialektik aufbaut. Im Trésor, dem Werk das Dante in der Commedia empfiehlt, preist<br />

sie Brunetto Latini, inspiriert <strong>von</strong> Cicero, als <strong>die</strong> höchste aller Wissenschaft, um eine<br />

Stadt zu regieren. “Denn wenn der Mensch nicht in geordneter Weise reden könnte,<br />

gäbe es in der Stadt keinerlei Gerechtigkeit, noch gäbe es Geselligkeit.” 46 Er fordert<br />

alle auf, sich zu beeilen, <strong>die</strong> Kunst des schönen Redens zu lernen. Viele kleine oder<br />

grösseren Dinge im Leben seien nur durch sie zu erreichen, da helfe weder<br />

Waffengewalt noch andere Begabung. Sein Lob spiegelt den tatsächlichen Gebrauch<br />

der Rhetorik im Leben der italienischen Kommunen wider. 47 Das Wort ist sowohl das<br />

Überzeugungsinstrument der Bürger in den vielen Räten, <strong>die</strong> <strong>die</strong> politische Ordnung<br />

der Kommunen bestimmen, als auch das wichtigste Medium im Gerichtswesen, wo<br />

vor dem Richter für oder gegen den Angeklagten gesprochen wird. Mit Cicero wird<br />

<strong>die</strong> Rhetorik gleichzeitig an <strong>die</strong> Ethik geb<strong>und</strong>en. Ciceros De inventione, das <strong>die</strong><br />

Redekunst mit der Lehre der Kardinaltugenden verbindet, sowie das pseudociceronische<br />

Werk Ad Herennium gehören in jener Zeit zu den Standardwerken der<br />

Rhetorik <strong>und</strong> sind auch Gr<strong>und</strong>lage für <strong>die</strong> rhetorische Lehre im Trésor.<br />

Das Quadrivium Arithmetica, Geometria, Musica <strong>und</strong> Astrologia gelten als<br />

theoretische Künste <strong>und</strong> werden der Mathematik zugerechnet. Gleichzeitig findet sich<br />

44 FASOLI (1951), S. 24<br />

45 WAGNER (1983) sowie Brunetto Latini, Trésor, I<br />

46 Trésor, III. mit Hinweis auf Cicero (De Inventione 1.1.)<br />

47 vgl. ARTIFONI (1986)<br />

264


ihre praktische Umsetzung im Leben des vivere civile: Die Arithmetica, einst<br />

dargestellt mit dem Gestus des Fingerrechnens (nicht mehr zu sehen), verdeutlicht der<br />

Kaufmann, der an der Hausecke zum Campo hin zwischen Tuchbahnen <strong>über</strong> seinem<br />

Geschäftsbuch sitzt. Die Musica, mit einem Saiteninstrument in der Hand (nur schwer<br />

zu sehen), wiederholt sich in der Tanzszene, <strong>die</strong> <strong>von</strong> einem Sänger begleitet wird, der<br />

auch <strong>die</strong> Schellentrommel spielt. Geometria schliesslich, mit einem Zirkel <strong>über</strong> eine<br />

Platte gebeugt, gilt als Kunst des Baugewerbes <strong>und</strong> der Maurer. Auch sie findet<br />

Anwendung in der Stadt des irdischen Para<strong>die</strong>ses, wo Arbeiter dabei sind, einen Turm<br />

in <strong>die</strong> Höhe zu ziehen. Was im irdischen Para<strong>die</strong>s fehlt, ist eine praktische Umsetzung<br />

der Astrologia, <strong>die</strong> sich in jener Zeit grosser Beliebtheit erfreut. Im Medaillon des<br />

Quadriviums ist sie mit einer Sphära abgebildet, <strong>die</strong> <strong>die</strong> <strong>die</strong> Laufbahnen der Planeten<br />

um <strong>die</strong> Erde zeigt. War wohl einst eine astrologische Karte in der <strong>von</strong> der Eule<br />

bewachten Loggia am Marktplatz zu sehen? Dort sind drei Bürger abgebildet, <strong>die</strong> sich,<br />

ins Gespräch vertieft, <strong>über</strong> einen Gegenstand auf einem Tisch beugen, wo heute ein<br />

weisser Fleck ist.<br />

Sehen wir eventuell <strong>von</strong> der Astrologie ab, auf <strong>die</strong> wir gleich noch zu sprechen<br />

kommen, kann zusammenfassend festgehalten werden, dass das Trivium mit den<br />

Künsten des Wortes auf den politischen Prozess <strong>und</strong> damit auf <strong>die</strong> Läuterung Bezug<br />

nimmt, während <strong>die</strong> theoretischen Wissenschaften des Quadriviums sich durch<br />

praktische, sie umsetzende Tätigkeiten im irdischen Para<strong>die</strong>s vergegenwärtigen. Alle<br />

sieben Wissenschaften umfasst schliesslich <strong>die</strong> Philosophia, Königin der liberalen<br />

Künste. Als Meisterin, <strong>die</strong> sowohl das Glück der Tugend als auch das Studium der<br />

freien Künste lehrt, hat sie einen zweifachen Bezug sowohl zum Läuterungsprozess als<br />

auch zum irdischen Para<strong>die</strong>s des vivere civile: Tugend <strong>und</strong> Studium läutern den<br />

Menschen <strong>und</strong> lassen ihn <strong>die</strong> Erbsünde <strong>über</strong>winden, während ihre Verwirklichung das<br />

irdische Glück des zoon politikon bedeutet, das sich in der arbeitsteiligen, <strong>von</strong> der<br />

Gerechtigkeit gelenkten politischen Gemeinschaft verwirklicht. Gleichzeitig<br />

konkretisiert sich auch <strong>die</strong> Philosophie als getätigte Wissenschaft im irdischen<br />

Para<strong>die</strong>s, wiedergegeben sowohl <strong>von</strong> der Vorlesung der Sieneser Universität als auch<br />

den gelehrten Diskussionen in der Loggia, <strong>die</strong> ein Eule, Symbol der Weisheit,<br />

bewacht. Die Philosophie gehört folglich sowohl als Meisterin der Tugend, Politik <strong>und</strong><br />

angewandten Theorie wie auch als Sinnbild der wissenschaftlichen Lehre zur vita<br />

civile, <strong>die</strong> in einer wohl geordneten civitas zur Blüte gelangt.<br />

8.7. <strong>Der</strong> Makrokosmos des vivere civile<br />

Die Astrologie als Kunst des Quadriviums findet ihre Fortsetzung im Fries<br />

oberhalb des Bilderzyklus. Hier erscheinen in sieben Medaillons <strong>die</strong> damals bekannten<br />

265


sieben Planeten. Mit Ptolomäus wird <strong>die</strong> Erde als Mittelpunkt des Kosmos betrachtet,<br />

während Mond, Merkur, Venus, Sonne, Mars, Jupiter <strong>und</strong> Saturn in <strong>die</strong>ser Reihenfolge<br />

um <strong>die</strong> Erde kreisen. In entsprechender Abfolge hat sie auch <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong><br />

abgebildet. Gleichzeitig hat er ihnen auch jeweils <strong>die</strong> Tierkreiszeichen zugeordnet, <strong>die</strong><br />

<strong>von</strong> besagtem Planeten besonders beeinflusst werden. Ausgenommen hier<strong>von</strong> ist nebst<br />

dem Mond <strong>und</strong> der Sonne (nicht mehr zu sehen) nur Sienas Geburtsstern, <strong>die</strong> Venus,<br />

<strong>die</strong> statt dessen in den Romben links <strong>und</strong> rechts ihres Medaillons <strong>die</strong> Wappen der<br />

Kommune <strong>und</strong> des Sieneser Popolo zeigt. In jener Zeit wird <strong>die</strong> Astrologie nicht <strong>von</strong><br />

der Astronomie unterschieden. 48 Sie gelten beide als <strong>die</strong> Wissenschaft, <strong>die</strong> den Himmel<br />

ausmisst, <strong>die</strong> Distanz zwischen den Sternen berechnet, <strong>die</strong> Laufbahnen der Planeten<br />

verfolgt <strong>und</strong> sie in Beziehung zum Fixsternhimmel mit den zwölf Tierkreiszeichen<br />

setzt. Dabei wird da<strong>von</strong> ausgegangen, dass <strong>die</strong> Konstellationen <strong>von</strong> Planeten <strong>und</strong><br />

Tierkreiszeichen Einfluss auf <strong>die</strong> gesamte Natur der Erde haben. Sowohl das Klima,<br />

das Wetter <strong>und</strong> <strong>die</strong> Naturereignisse als auch <strong>die</strong> Instinkte der Tiere <strong>und</strong><br />

Impulshandlungen der Menschen sollen sie beeinflussen, doch ohne <strong>die</strong> Freiheit des<br />

menschlichen Willens zu verhindern. Die Lehre der Scholastik, der auch Dante folgt,<br />

sieht den Menschen als vernunftbegabtes Wesen, das im Gegensatz zu den Tieren,<br />

auch wenn er <strong>von</strong> den Sternen beeinflusst ist, <strong>die</strong> Freiheit hat, <strong>über</strong> sein Verhalten zu<br />

entscheiden.<br />

Während der Fries der liberalen Künste <strong>von</strong> links nach rechts gelesen wird,<br />

beginnt <strong>die</strong> Abfolge des Planetenfrieses rechts aussen mit dem Mond als Stern, der in<br />

nächster Entfernung <strong>die</strong> Erde umkreist. Damit hat <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> nicht nur<br />

erreicht, dass <strong>die</strong> Venus als Planet der Liebe mit besonderem Bezug zu Siena oberhalb<br />

des irdischen Para<strong>die</strong>ses zu stehen kommt, sondern hat auch Mars <strong>und</strong> Saturn der Seite<br />

des Inferno zugewiesen. Mars ist der Planet des Krieges, während Saturn als Stern der<br />

Dunkelheit gilt, der das Böse erhält <strong>und</strong> das Gute meidet. Als gente saturnina werden<br />

Menschen bezeichnet, <strong>die</strong> weder Gerechtigkeit, noch Recht kennen <strong>und</strong> sich<br />

betrügerisch, ohne Vernunft, tierisch <strong>und</strong> grausam aufführen. 49 Jupiter indessen gilt als<br />

gutmütiger Stern, kann jedoch in der Konstellation mit Mars <strong>und</strong> Saturn auch Unheil<br />

bringen. Die Einflüsse <strong>von</strong> Mond <strong>und</strong> Merkur, <strong>die</strong> sich mit der Venus auf der Seite des<br />

irdischen Para<strong>die</strong>ses befinden, sind weniger explizit. Doch Merkur, der Götterbote,<br />

den das Medaillon als Mann in Bewegung zeigt, in der Hand ein Buch, wird mit<br />

Wissenschaft <strong>und</strong> Handel in Verbindung gebracht, während der Mond Zeichen der<br />

Fruchtbarkeit ist. Als solche haben sie beide auch eine Beziehung zur Stadt <strong>und</strong> zur<br />

Landschaft des irdischen Para<strong>die</strong>ses. Die Sonne schliesslich strahlt <strong>über</strong> dem<br />

Purgatorio <strong>und</strong> stärkt als sol iustitiae, als <strong>die</strong> Sonne der Gerechtigkeit, den<br />

48 vgl. auch ORR (1956)<br />

49 SEIDEL (1999), S. 58 ff.; s. a. GREENSTEIN (1988); BURKE (1994)<br />

266


Läuterungsprozess zur Verwirklichung des irdischen Para<strong>die</strong>ses. Dante hat im<br />

Sonnenhimmel all <strong>die</strong> Seligen versammelt, <strong>die</strong> sich für <strong>die</strong> Gerechtigkeit auf Erden<br />

eingesetzt haben. PIVIERE, das unter einem der Medaillons, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Sonne flankieren,<br />

noch zu lesen ist, deutet vielleicht darauf hin, dass sich <strong>die</strong> Medaillons links <strong>und</strong> rechts<br />

der Sonne, <strong>die</strong> heute zu einem grossen Teil verdeckt sind, auf <strong>die</strong> Gerechtigkeit<br />

beziehen, <strong>die</strong> in allen kleineren, der Sieneser Kommune untergeordneten<br />

Gemeinschaften zu verwirklichen ist. Piviere werden <strong>die</strong> Kirchgemeinden auf dem<br />

Land genannt, denen der Sieneser Consiglio generale an der Seite der politischen<br />

Gemeinden im Contado, der Dörfer <strong>und</strong> Kastelle, auch Verwaltungsaufgaben<br />

<strong>über</strong>tragen hat. 50<br />

Mit den Planeten kann der Fries oberhalb der drei Wandflächen als <strong>die</strong> Darstellung<br />

der universellen Rahmenbedingungen gedeutet werden, in deren Lauf der Stadtstaat<br />

<strong>von</strong> Siena eingebettet ist. Dabei halten <strong>die</strong> Planeten <strong>und</strong> <strong>die</strong> ihnen zugeordneten<br />

Tierkreiszeichen nicht ein partikulares Horoskop fest, sondern geben <strong>die</strong><br />

gr<strong>und</strong>sätzliche Ordnung der damaligen Schau auf das Weltall wieder. Allein <strong>die</strong><br />

Umkehr der Leserichtung <strong>von</strong> rechts nach links hat <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> ermöglicht,<br />

Planeten, <strong>die</strong> besonders günstig auf das irdische Para<strong>die</strong>s, Siena <strong>und</strong> das Purgatorio zu<br />

beziehen sind, <strong>über</strong> der entsprechenden Wandfläche leuchten zu lassen. Zwar ist auch<br />

Siena den Einflüssen der Planeten ausgesetzt, doch verdeutlicht das Bild auch, dass <strong>die</strong><br />

<strong>gute</strong>n Einflüsse zu nutzen sind, während sich das Gemeinwesen den schlechten<br />

entgegenzustellen hat. So ist das Inferno auch ein schlechtes Beispiel dafür, was<br />

geschieht, wenn ein Gemeinwesen <strong>die</strong> Verantwortung für sein politisches Geschick<br />

nicht <strong>über</strong>nimmt, den negativen Einflüssen <strong>von</strong> Mars <strong>und</strong> Saturn erliegt <strong>und</strong> sich<br />

weigert, den Weg der Läuterung zu gehen. So klagt auch Dante im 16. Gesang des<br />

Purgatorio, wo er <strong>von</strong> den notwendigen politischen Reformen spricht, dass <strong>die</strong><br />

Menschen auf Erden "jede Ursache vom Himmel her leiten wollen, als ob er alles<br />

notwendig selbst mit sich bewegen würde." 51 Wenn <strong>die</strong> Welt entgleise, so sei jedoch<br />

<strong>die</strong> Schuld allein in den Menschen selbst zu suchen, denn sie hätten <strong>von</strong> der Natur den<br />

Geist erhalten, der nicht <strong>von</strong> den Sternen gelenkt wird <strong>und</strong> der weiss, zwischen Gut<br />

<strong>und</strong> Böse zu unterscheiden. <strong>Der</strong> Himmel, so Dante, gebe nur <strong>die</strong> Impulse, während <strong>die</strong><br />

Menschen <strong>die</strong> politische Verantwortung tragen, auf Erden <strong>die</strong> Sonne der Gerechtigkeit<br />

scheinen zu lassen - in Dantes politischer Reformvorstellung soll hierfür ein<br />

reformiertes Weltkaisertum verantwortlich sein, während in Siena <strong>die</strong> Kommune an<br />

<strong>die</strong> Stelle <strong>von</strong> Dantes Weltkaiser tritt.<br />

50 Costituto 1309/10, III.221, II, S. 98f.; ebd., VI.18, S. 553<br />

51 „Voi che vivete ogne cagion recate pur suso al cielo, pur come se tutto movess seco con<br />

necessitate.“Purgatorio XVI.67 - 69<br />

267


Schliesslich erschöpft sich der universelle Rahmen, in dem sich Siena als<br />

politische Gemeinschaft bewegt, nicht allein in den Planeten, <strong>die</strong> um <strong>die</strong> Erde kreisen.<br />

Die Stadt <strong>und</strong> ihr Contado sind auch dem Jahreswechsel ausgesetzt. So erscheinen<br />

auch vier Medaillons mit den Jahreszeiten im Fries des Makrokosmos. Sie werden alle<br />

<strong>von</strong> Romben eingerahmt, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Wappen der Kommune <strong>und</strong> des Popolo <strong>von</strong> Siena<br />

zeigen (der Frühling ist zerstört, doch ist eine Kopie da<strong>von</strong> im Freskenzyzyklus <strong>von</strong><br />

Asciano erhalten, der für <strong>die</strong> Darstellung der Jahreszeiten <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s<br />

Ikonographie <strong>über</strong>nommen hat). Diese Medaillons sind im Fries so verteilt, dass <strong>die</strong><br />

sonnigen Jahreszeiten Frühling <strong>und</strong> Sommer auf der Seite des irdischen Para<strong>die</strong>ses zu<br />

sehen sind, während Herbst <strong>und</strong> Winter oberhalb des Inferno dargestellt sind, jeweils<br />

als weibliche oder männliche Personifikationen. In <strong>die</strong>ser Anordnung entsprechen sie<br />

auch ihrer Zuweisung nach den vier Himmelsrichtungen gemäss der Enzyklopä<strong>die</strong><br />

Isidors <strong>von</strong> Sevilla: <strong>Der</strong> Frühling im Osten, der Herbst im Westen, während der<br />

Sommer in <strong>die</strong> Nähe der Südwand gesetzt ist <strong>und</strong> der Winter in <strong>die</strong> Nähe des Nordens.<br />

Gleichzeitig verdeutlichen sie aber, dass auch hier der Mensch <strong>die</strong> Verantwortung<br />

trägt, ob sich der Jahresreigen zu seinem Vorteil oder seinem Nachteil auswirkt: So hat<br />

sich der Frühling, eine anmutige junge Dame, mit Blüten geschmückt - in den Armen<br />

liegen Blumensträusse -, während der Sommer, ebenfalls weiblich, eine Sichel <strong>und</strong><br />

einen B<strong>und</strong> Korn sowie Zwiebeln in der Hand hält <strong>und</strong> einen gew<strong>und</strong>enen Laubkranz<br />

auf dem Haupt trägt. Sowohl <strong>die</strong> Weiblichkeit der Figuren als auch <strong>die</strong> reichen Gaben<br />

der Natur verherrlichen <strong>die</strong> fruchtbare Kraft der Erde, <strong>die</strong> Sichel verweist auf das<br />

Werk des Menschen, das sich <strong>die</strong>se Kraft nutzbar zu machen weiss. Die männlichen<br />

Personifikationen des Herbst <strong>und</strong> des Winters indessen rücken <strong>die</strong> negativen Aspekte<br />

<strong>die</strong>ser beiden Jahreszeiten in den Vordergr<strong>und</strong>: <strong>Der</strong> Herbst als <strong>die</strong> Zeit der Weinernte<br />

besingt nicht <strong>die</strong> Freude an der Frucht, sondern <strong>die</strong> Lust <strong>und</strong> <strong>die</strong> Trunkenheit, <strong>die</strong> <strong>von</strong><br />

zu viel Wein herrührt. So personifiziert ihn ein älterer Mann mit nacktem Oberkörper,<br />

dessen rötlich schimmernde Haut an zu hohen Alkoholkonsum denken lässt. <strong>Der</strong><br />

Winter wiederum ist ein Edelmann, der sich wohl bekleidet mit geschmücktem Hut<br />

<strong>und</strong> Umhang gegen das kalte Winterwetter schützt, das vom Himmel fallende<br />

Schneeflocken darstellen. Mit einem Schneeball in der Hand, der zum Wurf bereit ist,<br />

erinnert <strong>die</strong>ser reiche Mann aber nochmals an <strong>die</strong> in Siena zur Zeit der Nove<br />

verschmähte Figur des Magnaten, der nicht bereit ist, auf <strong>die</strong> gewaltsame<br />

Durchsetzung seiner Anliegen zu verzichten <strong>und</strong> sich den Gesetzen der Kommune<br />

unterzuordnen.<br />

<strong>Der</strong> Makrokosmos mit dem Reigen der Planeten <strong>und</strong> der Jahreszeiten, in deren<br />

Lauf <strong>die</strong> politischen Gemeinschaften <strong>und</strong> damit auch <strong>die</strong> Kommune <strong>von</strong> Siena<br />

eingebettet sind, wird schliesslich noch <strong>von</strong> zwei Medaillons ergänzt, <strong>die</strong> sich auf <strong>die</strong><br />

268


politische Sphäre beziehen. Das eine Wappen zeigt <strong>die</strong> Schlüssel des Papstes, das<br />

andere <strong>die</strong> Fleurs-de-lys mit den goldenen Lilien auf blauem Gr<strong>und</strong>. Beide <strong>die</strong>ser<br />

Wappen stellen einen direkten Bezug zu Sienas Positionierung in <strong>die</strong> politischen<br />

Konstellationen her, <strong>die</strong> <strong>über</strong> den Stadtstaat der Kommune <strong>und</strong> ihres Contado<br />

hinausgehen: Sie beziehen sich auf <strong>die</strong> guelfische Allianz, in der sich Siena seit<br />

Anfang der 70er Jahre des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts befindet <strong>und</strong> <strong>die</strong> auch <strong>von</strong> der Regierung<br />

der Nove gepflegt wird. Wichtigste Verbündete der Guelfenpartei, <strong>die</strong> Siena<br />

namentlich mit Florenz, lange auch mit Bologna <strong>und</strong> später mit Perugia eint, sind das<br />

Papsttum <strong>und</strong> das französischstämmige Haus Anjou in Neapel, das wie Frankreichs<br />

Königtum <strong>die</strong> Fleurs-de-lys im Wappen trägt. In <strong>die</strong>sem Verb<strong>und</strong> kämpft Siena im<br />

Laufe des frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>erts gegen <strong>die</strong> Kaiser Heinrich VII. (1308 - 1313) <strong>und</strong><br />

Ludwig der Bayer (1314 -1347), <strong>die</strong> anlässlich ihrer Krönungszüge nach Rom 1311/13<br />

<strong>und</strong> 1327/28 mehrmals ins Sieneser Contado einfallen. Durch ihre Aktionen gefährden<br />

sie sowohl das labile politische Gleichgewicht in Siena als auch <strong>die</strong> Regierung der<br />

Nove <strong>und</strong> bedrohen das politische System der Kommune. So fehlt im Fries des<br />

Sieneser Makrokosmos auch das zeitgenössische Wappen des Kaisers: Es bleibt hier<br />

inexistent. Da <strong>die</strong> Romzüge der Kaiser meist entweder <strong>die</strong> Stärkung oder gar den<br />

Aufstieg ghibellinischer Alleinherrscher zu Folge haben, wird das Guelfentum im<br />

Laufe der ersten Jahrzehnte des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts immer mehr zu einer Partei, <strong>die</strong> sich<br />

<strong>über</strong> <strong>die</strong> republikanische Freiheit definiert. Diese Freiheit bedeutet Unabhängigkeit<br />

nach Aussen <strong>und</strong> ein politisches System im Innern, das auf Machtteilung <strong>und</strong><br />

Gesetzesherrschaft beruht. Die Allianz mit den Anjou gewährt den guelfischen<br />

Kommunen, zu denen Ende der Dreissiger Jahre nur noch Florenz, Siena <strong>und</strong> Perugia<br />

gehören, <strong>die</strong> politische Unterstützung eines der grossen Königshäuser in Europa.<br />

Gleichzeitig sind <strong>die</strong> Kommunen der guelfischen Allianz aber auf der Hut, weder<br />

durch angiovinische noch durch päpstliche Machtpolitik ihre politische Freiheit zu<br />

verlieren, <strong>die</strong> als ein Gut betrachtet wird, “das alle Schätze der Erde <strong>über</strong>trifft.” 52<br />

Wie sich <strong>die</strong>ses republikanische Selbstbewusstsein im <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong><br />

<strong>Lorenzetti</strong>s, wo <strong>die</strong> Sieneser Kommune an <strong>die</strong> Stelle <strong>von</strong> Dantes Weltkaiser getreten<br />

ist, niedergeschlagen hat, ist Gegenstand des nächsten Kapitels.<br />

52 Zitat aus dem Florentiner Archiv, 1329 siehe RUBINSTEIN (1986), S. 6; siehe ebenfalls DERS.<br />

(1952)<br />

269


9. Republikanisches Selbstbewusstsein<br />

9.1. Civitas<br />

Dantes Commedia ist politisch auf seine Idealvorstellung eines Weltkaisertums<br />

ausgerichtet. Doch wenn Dante <strong>von</strong> Heimat spricht, denkt er in erster Linie an seinen<br />

Geburtsort Florenz, <strong>die</strong> civitas Florentia. Florenz ist ihm liebster Ort, den er verloren<br />

hat, sein Heim, nach dem er sich zurücksehnt. Die Stadt Florenz ist sein edles<br />

Vaterland, <strong>die</strong> nobil patria, wo er politisch gross geworden ist. Die Welt ausserhalb<br />

<strong>von</strong> Florenz empfindet er als Fremde, das Exil als bittere Erfahrung. Dantes politisches<br />

Interesse hat in Florenz begonnen <strong>und</strong> bleibt auch, wenn er <strong>von</strong> einer Welt träumt, wo<br />

der Kaiser als Universalmacht Gerechtigkeit <strong>und</strong> Frieden durchsetzt, auf <strong>die</strong> Stadt<br />

ausgerichtet, <strong>die</strong> civitas, wo der Mensch sich als Bürger verwirklicht. Das Imperium<br />

wird zum Instrument, um weltweit <strong>die</strong> civitas auf Erden, <strong>die</strong> civilitas humana zu<br />

verwirklichen. In seiner Idealvorstellung setzt er es gleich mit der heiligen Stadt<br />

Jerusalem, Rom <strong>und</strong> dem irdischen Para<strong>die</strong>s, wo das gerechte <strong>und</strong> tugendhafte Volk<br />

beheimatet ist, popolo giusto e sano. Florenz indessen wird zum höllischen Babylon,<br />

dem Ort der Barbaren <strong>und</strong> zur degenerierten Tochter Roms. 1<br />

Im <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s wird nun all <strong>die</strong>s, was Dante durch das<br />

Imperium auf universeller Ebene zu verwirklichen sucht, wieder auf <strong>die</strong> lokale Ebene<br />

projiziert. Konkret wird es auf <strong>die</strong> civitas Senarum, auf <strong>die</strong> Stadt Siena <strong>über</strong>tragen: Sie<br />

ist der Raum des irdischen Para<strong>die</strong>ses, orientiert sich an der Gerechtigkeit des heiligen<br />

Jerusalems <strong>und</strong> sieht sich als stolze Tochter Roms. Durch ihre Gerechtigkeit wird im<br />

<strong>Freskenzyklus</strong> der Läuterungsprozess in Gang gesetzt, der im Raum der Sieneser<br />

Kommune eine Welt des Friedens <strong>und</strong> der Tugend hervorbringt. Mit Dante zeigen <strong>die</strong><br />

Fresken den Weg vom status miserie zur Glückseligkeit, doch ist der Raum des<br />

irdischen Para<strong>die</strong>ses nun wieder geographisch beschränkt auf eine spezifische civitas.<br />

Schon Brunetto Latini hat Dante gelehrt, <strong>die</strong> civitas sei der Ort, wo <strong>die</strong> Menschen<br />

zusammenkommen, um rechtmässig zu leben. 2 Sie ist ein Wohnort fern der Gewalt,<br />

definiert sie ein Lehrbuch für <strong>die</strong> Stadtregenten Mitte des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts: “civitas<br />

citra vim habitas.” 3 Ihre Gr<strong>und</strong>lage sind weder Gewalt noch persönliche Treue- <strong>und</strong><br />

Schutzverhältnisse, sondern das <strong>von</strong> der Gemeinschaft der Bürger, beziehungsweise<br />

dem Consiglio generale erlassene Recht, das schriftlich festgehalten wird. Die civitas<br />

als Rechts- <strong>und</strong> Friedensordnung entspricht dem Selbstverständnis der Kommunen, <strong>die</strong><br />

1 Paradiso XXXI.31-40<br />

2 BRUNETTO LATINI (1258/66): La Rettorica, S. 136<br />

3 GIOVANNI DA VITERBO (CA. 1240): De regimine civitatum, IV.19<br />

270


sich seit Ende des 11. Jahrh<strong>und</strong>erts als Schwurgemeinschaften in den Städten Mittel<strong>und</strong><br />

Oberitaliens formiert haben, um in Zeiten politischer Anarchie auf der Gr<strong>und</strong>lage<br />

der Übereinkunft der Gemeinschaft Frieden <strong>und</strong> Gerechtigkeit durchzusetzen. So hält<br />

auch Brunetto Latini fest, “man werde nicht Bürger derselben Kommune genannt, weil<br />

man mit anderen <strong>von</strong> derselben Mauer umschlossen werde, sondern weil man<br />

gemeinsam nach denselben Gesetzen lebe.” 4 Für <strong>die</strong> Kommunen <strong>die</strong>nt der Begriff der<br />

civitas, um ihre politische Autorität gegen<strong>über</strong> der hierarchisch-herrschaftlichen<br />

Ordnung des imperium, Kaisertum oder der ecclesia, Papsttum, zu legitimeren, denen<br />

sie als politische Organisation, <strong>die</strong> auf der Gemeinschaft der Bürger beruht, ein neues<br />

Prinzip menschlichen Zusammenwirkens entgegensetzen. 5 Mit dem Begriff der civitas<br />

knüpfen sie nämlich an eine in Italien noch tiefer verwurzelte Tradition an als <strong>die</strong><br />

Ordnungsmächte des mittelalterlichen Denkens: Durch ihn vergleichen sie sich mit der<br />

antiken Stadt Rom, <strong>die</strong> als Sinnbild <strong>von</strong> Macht <strong>und</strong> Recht gilt. 6 Er legitimiert ihr<br />

Unabhängigkeitsstreben <strong>und</strong> ihre Freiheit, <strong>die</strong> in römischer Tradition auf Machtteilung<br />

<strong>und</strong> Gesetzesherrschaft beruht, den Gr<strong>und</strong>prinzipien der kommunalen Ordnung. Die<br />

meisten der Kommunen betrachten sich deshalb als Töchter Roms, 7 während das<br />

römische Recht ihnen <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>lagen für <strong>die</strong> Kodifizierung des Gemeinschaftsrechts<br />

liefert. 8 Gleichzeitig ermöglicht der civitas-Begriff einen Bezug zur himmlischen Stadt<br />

Jerusalem, in der sich das Ideal einer gerechten Ordnung widerspiegelt. 9 Die<br />

Aristotelesrezeption Mitte des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts bestätigt <strong>die</strong> Kommune in mehrfacher<br />

Weise: Die Werte Gerechtigkeit <strong>und</strong> Gemeinwohl, <strong>die</strong> dem römischen Recht zu<br />

Gr<strong>und</strong>e liegen, sind auch fester Bestandteil der aristotelischen Staatslehre. Gleichzeitig<br />

rückt <strong>die</strong> civitas als Freiheitsraum, wo sich der Mensch durch Tugend entfaltet, in das<br />

Zentrum politischen Denkens. Diese Vorstellungswelt der civitas liegt auch Dantes<br />

Läuterungsweg zugr<strong>und</strong>e, der im <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s wieder in den<br />

Raum einer italienischen Kommune zurückgesetzt wurde. 10 <strong>Der</strong> zeitgenössische Dante-<br />

Kommentator Guido da Pisa hat das Selbstbewusstsein der civitas als Raum der<br />

Glückseligkeit, der sich in einer italienischen Stadtkommune verwirklicht, direkt mit<br />

4 "... onde non sono detti cittadini d'uno medesimo comune perchè siano insieme accolti dentro<br />

ad uno muro, ma quelli che insieme sono accolti a vivere ad una ragione." BRUNETTO LATINI<br />

(1258/66): La Rettorica, S. 138<br />

5 TABACCO (1979), S. 230 ff.<br />

6 BRAUNFELS (1953), S. 18<br />

7 BUCK (1963)<br />

8 Vgl. hierzu <strong>die</strong> Einleitung des Caleffo Vecchio aus dem Jahr 1204, <strong>die</strong> <strong>von</strong> Begriffen der<br />

römischen Rechtslehre durchzogen ist: ... ratio m<strong>und</strong>o leges imposuit et mores instituit, ut legum metu<br />

humana coherceatur audacia et tuta sit inter inprobos innocentia .... Inde surrexit imperandi iudicandique<br />

officium et dati sunt gentibus unversis rectores et domini, qui legibus regant et obtemperent moribus, et<br />

singulis tuentes, inontes reprobosque frangentes, iustitia mediante sua iure conservent..." Caleffo<br />

Vecchio, I, S. 3 <strong>und</strong> KANTOROWICZ (1990), S. 125 ff.<br />

9 BRAUNFELS (1953), S. 18 f.<br />

10 Siehe auch Kommentar des OTTIMO-COMMENTO zu Paradiso VIII.115-118<br />

271


dem Läuterungsweg Dantes in Verbindung gesetzt: Er vergleicht den Weg vom Elend<br />

ins Glück mit dem Glück, das einem Bewohner des Contado widerfährt, wenn er<br />

Bürger einer Stadt wird <strong>und</strong> an den Freuden des bürgerlichen Lebens, negotium civile,<br />

teilhaben kann. 11<br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> hat <strong>die</strong> civitas Senarum zunächst als römische Kaisergestalt<br />

abgebildet. 12 Dies entspricht sowohl der Konzeption des Purgatorio Dantes als auch<br />

dem Vorwort zur Sieneser Verfassung, wo Siena <strong>die</strong> eigenen Gesetze dem römischen<br />

Recht gleichsetzt <strong>und</strong> somit das merum et mixtum imperium beansprucht,<br />

vollkommene Rechtsgewalt. Die Kaisergestalt, <strong>die</strong> kürzlich unterhalb der definitiven<br />

Regentengestalt entdeckt wurde, ist indessen nicht auf <strong>die</strong> Gegenliebe <strong>von</strong> <strong>Ambrogio</strong><br />

<strong>Lorenzetti</strong>s Auftraggeber gestossen; denn <strong>die</strong> Sieneser Regierung der Nove steht an<br />

der Spitze einer Stadt, <strong>die</strong> sich im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert dem zeitgenössischen<br />

Kaisertum widersetzt, das sich in der Nachfolge der antiken Kaiser sieht. Die<br />

Personifikation, <strong>die</strong> schliesslich Siena als Machtträgerin darstellt, scheint das<br />

Selbstverständnis der Sienesen besser wiederzugeben. Es ist weiterhin eine<br />

Regentenfigur, <strong>die</strong> herrschaftliche Aura besitzt. Jedoch sind der Olivenkranz <strong>und</strong> das<br />

kurz geschorene Haupt verschw<strong>und</strong>en, <strong>die</strong> an <strong>die</strong> Ikonographie des antiken Kaisertums<br />

erinnert hätte. <strong>Der</strong> Herrscher ist nun ein ehrwürdiger Greis mit Bart <strong>und</strong> langem,<br />

graumeliertem Haar. Er trägt den Hut des obersten Richters in Siena, dem Podestà, der<br />

<strong>die</strong> Stadt nach aussen repräsentiert. In den Händen hält er <strong>die</strong> Insignien der Macht, den<br />

Gerichtsstab, den vigor iustitie, 13 <strong>und</strong> das Stadtsiegel, das im Amtsraum der Sieneser<br />

Regierung, den Nove, aufbewahrt ist. 14 Gehüllt ist <strong>die</strong> Figur in eine römisch-gotisch<br />

angehauchte Toga, in Schwarz <strong>und</strong> Weiss, den Farben des Sieneser Stadtwappens. Auf<br />

Rom, aber nicht auf das Kaisertum, sondern auf <strong>die</strong> civitas, verweist schliesslich auch<br />

<strong>die</strong> Wölfin, <strong>die</strong> zu Füssen des Greises Zwillingsknaben säugt.<br />

Zunächst wird in <strong>die</strong>ser Ikonographie Sienas deutlich, dass darauf verzichtet<br />

wurde, <strong>die</strong> civitas als weibliche Personifikation abzubilden. Dies hätte der antiken<br />

Tradition entsprochen, auf <strong>die</strong> seit dem 13. Jahrh<strong>und</strong>ert wieder vermehrt<br />

zurückgegriffen wird. So erscheint zum Beispiel im Peruginer Stadtbrunnen, für den<br />

<strong>die</strong> Regierung 1278 den berühmten Bildhauer Nicola Pisano verpflichtet hatte, <strong>die</strong><br />

11 GUIDO DA PISA (vor 1333), S. 404: "Et dicitur comedia a comos, quod est , et oda,<br />

quod est , inde comedia, quasi ; quia incipit a miseria et finit in felicitatem,<br />

sicut villani qui in villa vel comitatu habitantes, dum efficiuntur cives, de rustico opere ad civile<br />

negotium transeunt."<br />

12 Siehe oben; Abbildung bei SEIDEL (1997), S. 83<br />

13 Vgl. <strong>die</strong> Abbildung eines Podestà mit Gerichtsstab in den Bildern der eroberten Kastelle,<br />

SEIDEL (1982)<br />

14 Constitutum 1337/39, IV.54<br />

272


Stadt Perugia als weibliche Augusta Perusia. 15 Gleichzeitig wird sie auch in direkte<br />

Verbindung zu den weiblichen Personifikationen der antiken Roma <strong>und</strong> der Victoria<br />

Magna gesetzt, sowie, als Symbol des <strong>von</strong> ihr beherrschten Territoriums, durch <strong>die</strong><br />

Personifikationen der Stadt Chiusi <strong>und</strong> des Trasimenischen Sees ergänzt. Im<br />

<strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s verbirgt sich <strong>die</strong>se weibliche civitas indessen in<br />

der Figur der Pax, <strong>die</strong> <strong>die</strong> siegreiche Roma nachbildet 16 <strong>und</strong> ihren Blick auf <strong>die</strong><br />

Längswand richtet, wo Siena <strong>und</strong> sein Territorium nun nicht als Personifikationen<br />

sondern als Panoramabild wiedergegeben sind. Auf ihrem Haupt ist auch der römische<br />

Olivenkranz wiederzufinden, den ursprünglich <strong>die</strong> Personifikation der Kommune<br />

getragen hat.<br />

Mit dem Greis, der Siena als Machtträgerin abbildet, wurde hingegen eine Figur<br />

gewählt, <strong>die</strong> bildhafter als <strong>die</strong> weibliche civitas ins Purgatorio Dantes passt. Sie<br />

erinnert an Cato, den Wächter des Läuterungsberges, der im Strahlenkranz der<br />

Kardinaltugenden erscheint <strong>und</strong> das zu erstrebende Idealbild des Bürgers ist, der das<br />

Glück der Tugend in der gut geordneten civitas verwirklicht. Gleichzeitig knüpft <strong>die</strong><br />

Figur des Greises an <strong>die</strong> politische Ikonographie an, <strong>die</strong> nicht <strong>die</strong> civitas selbst,<br />

sondern <strong>die</strong> politische Organisationsform darstellt, durch welche <strong>die</strong> Städte Mittel- <strong>und</strong><br />

Oberitaliens gross geworden sind. Es ist <strong>die</strong> Ikonographie der Kommune, <strong>die</strong> erstmals<br />

Giotto als Greis personifiziert hat, zunächst in Padua um 1307, dann in Florenz um<br />

1334. 17 Mit der Darstellung der Kommune als Machtträgerin setzt <strong>die</strong> Stadt Siena ein<br />

Zeichen, dass sie, im Unterschied zu den meisten anderen Städten Mittel- <strong>und</strong><br />

Oberitaliens, an ihrer herkömmlichen politischen Organisationsform, der Kommune,<br />

festhält. Diese Verbindung der Kommune zur civitas Senarum kommt im<br />

<strong>Freskenzyklus</strong> nicht nur in der Pax <strong>und</strong> dem Panoramabild des irdischen Para<strong>die</strong>ses<br />

zum Ausdruck, sondern auch in den vier Buchstaben, welche <strong>die</strong> Personifikation<br />

bezeichnen: C. S. C. V. - Comune Senarum Civitatis Virginis, <strong>die</strong> Kommune <strong>von</strong><br />

Siena, der Stadt der Jungfrau - Jungfrau, weil <strong>die</strong> Sieneser Kommune sie zur<br />

Stadtherrin erkoren hat.<br />

Während <strong>die</strong> frühere Darstellung der weiblichen Civitas das Selbstbewusstsein der<br />

italienischen Kommunen widerspiegelt, ist <strong>die</strong> Ikonographie der Kommune Zeugnis<br />

ihrer Krise. Sie erscheint erst Anfang des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts, als viele Städte Nord- <strong>und</strong><br />

Mittelitaliens aufgr<strong>und</strong> der Parteikämpfe das politische System der Kommune<br />

zugunsten der Alleinherrschaft schon aufgegeben haben. 1307, als Giotto im Auftrag<br />

der Kommune <strong>von</strong> Padua ihre Personifikation entwirft, stellt er sie als Comune pelato<br />

15 FASOLA (1951); HOFFMANN-CURTIUS (1968)<br />

16 Siehe oben, Kapitel sieben.<br />

17 WIERUSZOWSKI (1944)<br />

273


dar, <strong>die</strong> <strong>von</strong> ihren Bürgern zerpflückt <strong>und</strong> zerrissen wird. 18 Eingebettet in ein grösseres<br />

ikonographisches Programm, das auch Planeten, <strong>die</strong> Zeichen des Zodiakus, Tugenden<br />

sowie Tiere zeigt, ist <strong>die</strong>se Ikonographie der Kommune ein Warnbild, durch <strong>die</strong><br />

grenzenlose Verfolgung des eigenen Nutzens <strong>die</strong> Kommune nicht zu vernichten. Diese<br />

Darstellung der Kommune ist heute nur noch schriftlich <strong>über</strong>liefert sowie auch jene,<br />

<strong>die</strong> Giotto um 1334 im Palast des Florentiner Podestà entworfen hat. Schriftliche<br />

Quellen beschreiben hier ebenfalls das Bild der Comune rubato da molti, der<br />

Kommune also, <strong>die</strong> <strong>von</strong> ihren Bürgern geplündert wird. Ihr entgegengesetzt wurde hier<br />

aber auch <strong>die</strong> Kommune, <strong>die</strong> ihre Funktion als Machtträgerin wahrnimmt. Gemäss der<br />

Beschreibung des Bildes muss <strong>die</strong>se Figur ganz ähnlich wie jene in Siena ausgeschaut<br />

haben: Dargestellt war sie als greiser Richter <strong>und</strong> <strong>über</strong> ihr schwebte <strong>die</strong> Waage der<br />

Gerechtigkeit, während an ihren Seiten <strong>die</strong> Kardinaltugenden sassen.<br />

Bildhaft <strong>über</strong>liefert ist uns indessen noch eine <strong>von</strong> Giotto inspirierte Version der<br />

Comune pelato, <strong>die</strong> in Stein gehauen ist. Sie wird 1330 <strong>von</strong> den Sieneser Bildhauern<br />

Agostino di Giovanni <strong>und</strong> Agnolo di Ventura in das Grabmal des Aretiner Bischofs<br />

Guido Tarlati gemeisselt. Auftraggeber des Grabmals ist der Bruder des Bischofs, der<br />

sich <strong>die</strong> Macht <strong>über</strong> <strong>die</strong> Stadt hat sichern wollen, nachdem sich Bischof Guido Tarlati<br />

1321 <strong>von</strong> den Aretiner zum Signore <strong>und</strong> Stadtherrn hat ausrufen lassen <strong>und</strong> <strong>die</strong>se<br />

Stellung bis zu seinem Tode inne hatte. So erzählen <strong>die</strong> Steintafeln des Grabmals vom<br />

misslichen Zustand der Kommune, bevor der Bischof <strong>die</strong> Macht in der Stadt<br />

<strong>über</strong>nommen hat, <strong>und</strong> schildern dessen erfolgreiche Herrschaft. <strong>Der</strong> Comune pelato<br />

wird indessen eine Comune in signoria entgegengesetzt, an deren Seite, in gleicher<br />

Höhe, der Bischof sitzt. Weitere Tafeln halten <strong>die</strong> Wehrhaftigkeit <strong>und</strong> <strong>die</strong> Siege<br />

Arezzos unter seiner Herrschaft fest, <strong>die</strong> zu einer Vergrösserung des Aretiner Contado<br />

geführt haben.<br />

Im <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s fehlt <strong>die</strong> Comune pelato. Abgebildet ist<br />

aber <strong>die</strong> Kommune als Machtträgerin, <strong>die</strong> in den Läuterungsprozess integriert ist,<br />

durch den das Glück des irdischen Para<strong>die</strong>ses im Raum der civitas zu verwirklichen<br />

ist. Im Gegensatz zu Arezzo ist <strong>die</strong> Kommune alleinige Machtträgerin, sekun<strong>die</strong>rt <strong>von</strong><br />

der Gerechtigkeit, an <strong>die</strong> sie geb<strong>und</strong>en ist <strong>und</strong> beruhend auf der Gemeinschaft der<br />

Bürger. Die Seite der schlechten Regierung ist ins Bild des Inferno <strong>über</strong>führt, wo <strong>die</strong><br />

grenzenlose Verfolgung der eigenen Interessen <strong>die</strong> Kommune vernichtet <strong>und</strong> den<br />

Tyrannen hat aufsteigen lassen, der <strong>die</strong> Hölle auf Erden bewirkt. Die selbstbewusste<br />

Darstellung der Kommune ist hier also Teil <strong>von</strong> Dantes Läuterungsweg <strong>und</strong> weist dem<br />

Betrachter den Pfad zur Entfaltung in der civitas.<br />

18 Ebd.<br />

274


Die Übertragung <strong>von</strong> Dantes Läuterungsweg in den Raum einer definierten<br />

Civitas, <strong>die</strong> an der Macht der Kommune festhält, hat dazu geführt, dass der<br />

<strong>Freskenzyklus</strong> republikanisches Ideengut wiedergibt. Denn <strong>die</strong> Kommune, in der das<br />

Misstrauen gegen<strong>über</strong> der Macht eines Einzelnen <strong>die</strong> politische Organisation<br />

bestimmt, kennt einige politische Gr<strong>und</strong>prinzipien der Machtkontrolle, <strong>die</strong> Bestandteil<br />

des republikanischen Denkens der Neuzeit werden: Gesetzesherrschaft,<br />

Machtbeteiligung, Machtteilung <strong>und</strong> begrenzte Amtszeiten. Gleichzeitig entwickelt<br />

sich in den Kommunen auch <strong>die</strong> Idee, dass nicht Geburt sondern Tugend <strong>über</strong> <strong>die</strong><br />

Eignung zur Herrschaft entscheidet. All <strong>die</strong>se Elemente sind Teil der<br />

Verfassungsgeschichte der italienischen Kommunen. Als <strong>die</strong> Kommunen zunehmend<br />

<strong>von</strong> der politischen Landkarte verschwinden, beginnen <strong>die</strong> bedrängten Bürger, <strong>die</strong><br />

Vorteile ihrer politischen Organisationsform auch ideologisch zu untermauern:<br />

Ansatzpunkte hierfür, <strong>die</strong> auch im <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s Spuren<br />

hinterlassen haben, sind <strong>die</strong> römische Geschichte, <strong>die</strong> Lehre des Seelenadels sowie <strong>die</strong><br />

Aristotelesrezeption. In den folgenden Abschnitten wird <strong>die</strong>sen einzelnen<br />

Ansatzpunkten nachgegangen.<br />

9.2. Römische Geschichte<br />

An das antike Rom erinnern im <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s mehrere<br />

Figuren: Die Kommune in ihrer gotisch-römischen Toga, zu ihren Füssen <strong>die</strong> säugende<br />

Wölfin, <strong>die</strong> sich im Panoramabild wiederholt, wo sie als vorspringende Skulptur am<br />

Stadttor erscheint. An Rom erinnern auch Pax <strong>und</strong> Securitas, <strong>die</strong> ausgesprochen<br />

klassische Formen haben, teilweise auch Caritas <strong>und</strong> <strong>die</strong> grosse Justitia. Caritas<br />

umhüllt ein zart durchsichtiges Tuch, das <strong>die</strong> Linien der Pax wiedergibt, während<br />

Justitias Monumentalität, ähnlich wie <strong>die</strong> Figur der Pax, <strong>die</strong> antike Roma ins<br />

Gedächtnis ruft. Ausserdem sind auf der Seite des Inferno in den Medaillons, <strong>die</strong> sich<br />

unterhalb des grossflächigen Bildes entlangziehen, antike Tyrannen abgebildet. Zu<br />

erkennen ist noch das Abbild Neros, der einen Speer in sein Herz stösst, schwach auch<br />

das eines Mannes, der <strong>über</strong> einen Toten triumphiert. Schriftlich <strong>über</strong>liefert ist, das sich<br />

einst auch Geta <strong>und</strong> Antiochus hier eingereiht hatten. Geta, römischer Kaiser um 300<br />

n. Chr., starb, <strong>von</strong> seinem Bruder niedergestochen, in den Armen seiner Mutter,<br />

während Antiochus, König in Syrien, <strong>von</strong> seinen eigenen Leuten erschlagen wurde,<br />

nachdem ihn <strong>die</strong> römische Republik besiegt hatte.<br />

Wie sehr <strong>die</strong> römische Geschichte zur Zeit <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s im Bewusstsein<br />

der Bevölkerung verankert ist, verrät Dante im fünfzehnten Gesang des Paradiso, wo<br />

er wehmütig <strong>von</strong> Zeiten spricht, als <strong>die</strong> <strong>gute</strong>n alten Florentiner Mütter, am Spinnrad<br />

275


sitzend, ihren Kindern <strong>die</strong> sagenumwitternden Geschichten aus Troja, Fiesole <strong>und</strong><br />

Rom erzählten. 19 Er denkt dabei an <strong>die</strong> Gründungslegende der Florentiner, <strong>die</strong> ihre<br />

Stadt als “Tochter Roms” bezeichnen. Eine ähnliche Legende kennt auch Siena, das<br />

wie mindestens vierzig weitere Städte Mittel- <strong>und</strong> Oberitaliens, sich auf Rom<br />

zurückführt. Sienas Stadtlegende schildert <strong>die</strong> Stadt als Gründung der Söhne des<br />

Remus, Aschius <strong>und</strong> Senus. Auf der Flucht vor ihrem wütenden Onkel Romulus, der<br />

ihren Vater umgebracht hatte, sollen sie auf der Höhe <strong>von</strong> Siena halt gemacht <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Gr<strong>und</strong>mauern eines Kastells gelegt haben. Mit sich führten sie aus Rom den Schrein<br />

der Wölfin, <strong>die</strong> in Siena zum Wahrzeichen der römischen Gründung wurde. 20<br />

Doch nicht nur in Legenden spinnt sich <strong>die</strong> Geschichte Roms weiter. Die<br />

Rückbesinnung auf <strong>die</strong> römische Vergangenheit, <strong>die</strong> den Kommunen seit dem 12.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert politische Legitimation verschafft, führt zu einer generellen<br />

Auseinandersetzung mit der römischen Geschichte. 21 Als Siena im Jahr 1224 Grossetto<br />

unterwirft, beschreiben <strong>die</strong> offiziellen Dokumente der Stadt den Verlauf der Schlacht<br />

in den Worten Julius Caesars <strong>und</strong> seines Berichts <strong>über</strong> <strong>die</strong> Einnahme Marseilles. Auch<br />

das Vorwort zum Geschichtswerk des Titus Livius, <strong>die</strong> Agricola des Tacitus sowie der<br />

Panegyrikus auf Trajan <strong>die</strong>nen zur Verherrlichung des Siegs der Sienesen. 22 Im Lob<br />

der eigenen Grosstat zieht <strong>die</strong> Kommune den direkten Vergleich mit der<br />

Rechtsherrschaft des antiken Roms <strong>und</strong> seiner Unterwerfung des gesamten<br />

Erdkreises. 23<br />

Wie sehr <strong>die</strong> römische Geschichte schliesslich zum Bestandteil der Stadtkultur der<br />

Kommunen wird, verdeutlichen <strong>die</strong> vielen Kompen<strong>die</strong>n <strong>und</strong> volkssprachlichen Werke,<br />

<strong>die</strong> Anfang des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts im Umlauf sind. Sehr populär sind Li Fait des<br />

Romains, eine Kompilation aus Sallusts De coniuratione Catilinae, Lucans Pharsalia,<br />

der Lebensbeschreibung Caesars durch Sueton sowie Caesars eigener Schrift De bello<br />

19 Paradiso XV. 124-126<br />

20 RONDONI (1895)<br />

21 RUBINSTEIN (1942)<br />

22 Memoriale dell offese in: BANCHI (1875), S. 200 f.; SCHMEIDLER (1909), S. 35<br />

23 "Infrascripte glorie civitas memento senensis; ut de bono in melius semper suscipias<br />

incrementum. / Decens videtur et in posterum non modice profuturum, ut quum gloriose contingunt<br />

perpetue memorie, laudabiliter commendentur, ut exemplum posteris relinquatur, ut eos titolorum<br />

fama illiciat ad virtutes. Sic namque fertur romanos predecessorum suorum magnalia in postibus<br />

intuentes depicta, orbem sibi satagerunt subicere universum; ..."; Memoriale delle Offese (1224), S.<br />

224 f. [Sinngemäss <strong>und</strong> im Zusammenhang: "Bisher sei hier in Siena, ein Buch gewesen, in das immer<br />

der Podestà <strong>die</strong> der Stadt zugefügten Unbilden hätte eintragen sollen. Viel besser sei es doch, das<br />

Lobenswerte aufzuzeichnen, das geschehe, damit <strong>die</strong> Nachkommen ein Beispiel hätten <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Tugenden belohnt würden. So hätten <strong>die</strong> Römer immer <strong>die</strong> Grosstaten ihrer Vorfahren an <strong>die</strong><br />

Türpfosten aufgemalt <strong>und</strong> durch das Beispiel, das sie da sahen, angespornt, sich den Erdkreis<br />

unterwarfen. Darum habe er [Bernardo Orlandi de' Rossi, im Jahr 1224 Podestà in Siena] befohlen, in<br />

<strong>die</strong>ses Buch vor allem den Sieg <strong>und</strong> Triumph zu ewigem Gedächtnis schriftlich einzutragen, da das<br />

menschliche Gedächtnis nicht alles behalten könne; <strong>und</strong> <strong>die</strong>s Beispiel empfehle er seinen Nachfolgern,<br />

damit Siena stets vom Guten zum Besseren erhöht werde ..."; nach SCHMEIDLER (1907), S. 36].<br />

276


gallico. Diese Kompilation, <strong>die</strong> Anfang des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts in Frankreich<br />

geschrieben wurde, ist in Italien sowohl in der französischen Originalfassung als auch<br />

in einer um 1300 entstandenen italienischen Übersetzung, sehr verbreitet. 24 Auch schon<br />

Brunetto Latini hatte <strong>die</strong>ses Werk gemeinsam mit Sueton für einen Abriss <strong>über</strong> <strong>die</strong><br />

römische Geschichte im Trésor genutzt. 25 Zusätzlich stehen mehrere Übersetzungen<br />

antiker Autoren zur Verfügung, <strong>die</strong> fast alle in den ersten Jahrzehnten des 14.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts entstehen: <strong>von</strong> Titus Livius sicherlich das erste Buch der Ab urbe condita<br />

(1323), 26 <strong>von</strong> Sallust <strong>die</strong> Verschwörung des Catilina <strong>und</strong> der Iugurtinische Krieg (beide<br />

um 1302); 27 ausserdem wird auch <strong>die</strong> Weltgeschichte des Paulus Orosius 28 <strong>über</strong>setzt,<br />

sowie in mehreren Versionen <strong>die</strong> Aeneis des Vergil. 29 Das Interesse an der Aeneis, <strong>die</strong><br />

auch als historische Quelle gesehen wird, geht nicht zuletzt auf Dante zurück. Zwei<br />

der Vergil<strong>über</strong>tragungen stammen <strong>von</strong> Autoren, <strong>die</strong> auch <strong>die</strong> Commedia kommentiert<br />

haben, eine dritte vom Sienesen Ciampolo di Meo Ugurgieri (um 1320-1340), der in<br />

seine Übersetzung Zitate <strong>von</strong> Dantes Commedia flicht. Die Version Guidos da Pisa ist<br />

gleichzeitig Teil einer grösseren volkssprachlichen Kompilation <strong>über</strong> <strong>die</strong> gesamte<br />

Geschichte Italiens (Fiore d'Italia, vor 1337). 30 Dabei richtete er sich bewusst an das<br />

breitere Publikum, <strong>von</strong> ihm umschrieben als "<strong>die</strong> vielen, <strong>die</strong> begehren zu wissen ...<br />

aber daran gehindert wurden, zu stu<strong>die</strong>ren." 31 Ein ähnliche Gesamtdarstellung in<br />

Volkssprache verfasst auch der Bolognese Armannino Giudice. Nebst den antiken<br />

Autoren Sallust, Vergil, Homer, Lucan <strong>und</strong> Boethius sind auch <strong>die</strong> Bibel, <strong>die</strong><br />

Kirchenväter <strong>und</strong> <strong>die</strong> Commedia Dantes Bausteine seiner Fiorità d'Italia (um 1325). 32<br />

24 Dazu FLUTRE (1933) sowie SEGRE / MARTI (1959), S. 87 f. mit Literaturangaben.<br />

25 Brunetto Latini ist ausserdem bekannt als Übersetzer <strong>von</strong> Ciceros Reden, siehe SEGRE<br />

(1953), S. 381 ff. sowie GUTHMÜLLER (1989), S. 244<br />

26 Übersetzt <strong>von</strong> FILIPPO DA SANTA CROCE; als Vorlage für seine Übersetzung ins Italienische<br />

<strong>die</strong>nte ihm eine verlorengegangen franz. Version; siehe GUTHMÜLLER (1989), S. 340; SEGRE (1953),<br />

S. 467 ff.. Die dritte <strong>und</strong> <strong>die</strong> vierte Deche der Ab urbe condita wurden in den Jahren um 1338/1346<br />

<strong>von</strong> GIOVANNI BOCCACCIO <strong>über</strong>setzt. GIOVANNI VILLANI bezeichnete in seiner Chronik Titus Livius<br />

als "maestro della storia".<br />

27 Beide <strong>über</strong>setzt vom Pisaner Dominikanerpater BARTOLOMEO DA SAN CONCORDIA. Siehe<br />

SEGRE (1953), S. 399 ff.; GUTHMÜLLER (1989), S. 244<br />

28 Die erste christliche Weltgeschichte, geschrieben auf Anfrage des Kirchenvater Augustinus;<br />

<strong>über</strong>setzt wurde sie Ende des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>von</strong> BONO GAMBIONI (dokumentiert <strong>von</strong> 1261-1292).<br />

Siehe SEGRE (1953), S. 317 f. <strong>und</strong> GUTHMÜLLER (1989)<br />

29 SEGRE (1953), S. 567 ff.<br />

30 Geplant waren sieben Bücher, das erste <strong>über</strong> <strong>die</strong> Könige in Italien vor Aeneas Ankunft, das<br />

zweite <strong>über</strong> Aeneas, das dritte <strong>über</strong> <strong>die</strong> Könige, <strong>die</strong> nach ihm regierten, das vierte <strong>über</strong> <strong>die</strong> Gründung<br />

Roms <strong>und</strong> <strong>die</strong> Zeit der sieben Könige, das fünfte <strong>über</strong> <strong>die</strong> "Konsuln, Diktatoren <strong>und</strong> Tribunen", das<br />

sechste <strong>über</strong> Julius Caesar <strong>und</strong> Pompejus, das siebte <strong>über</strong> <strong>die</strong> Imperatoren, <strong>die</strong> nach Caesar folgten.<br />

Überliefert sind uns aber nur <strong>die</strong> zwei ersten Bücher. Siehe VOLPI (1907), S. 394<br />

31 "... sono molti i quali vorrebono sapere ... ed abbiano avuto impedimento del non studiare<br />

..."; GUIDO DA PISA (vor 1337), Fiore d'Italia, Proemio, zitiert nach VOLPI (1907), S. 394<br />

32 Siehe Dizionario bibliografico italiano,, ad litteram (Bd. 4, S. 224) mit Literaturangaben.<br />

277


In der Auseinandersetzung mit der römischen Geschichte wird zwischen einzelnen<br />

Epochen unterschieden. Bekannt ist, dass nach der Gründung Roms durch Romulus<br />

nacheinander sieben Könige herrschten. Die nächste Epoche ist jene der Konsuln, <strong>die</strong><br />

mit dem ersten Konsuln, Brutus dem Älteren beginnt, der den letzten König,<br />

Tarquinius Superbus, vertrieben hatte. Die Zeit der Konsuln <strong>und</strong> des römischen Senats<br />

soll r<strong>und</strong> 460 Jahre gedauert haben, bis Julius Caesar das Imperium errichtete. 33<br />

Während Dante seine Interpretation der römischen Geschichte auf <strong>die</strong> translatio<br />

imperii ausrichtet, um seine Idee des Weltkaisertums mythisch zu <strong>über</strong>höhen, 34<br />

identifizieren sich <strong>die</strong> Kommunen mit dem Rom der republikanischen Epoche, als <strong>die</strong><br />

Führung der Stadt in den Händen gewählter Konsuln lag <strong>und</strong> der Senat <strong>die</strong> Gesetze<br />

verabschiedete. 35 So wird das Rom jener Zeit in den volkssprachlichen Werken als<br />

comune bezeichnet, 36 entsprechend der eigenen politischen Organisation. Die<br />

Bew<strong>und</strong>erung Roms zur Zeit der Republik wird auch im Kommentar Jacopo della<br />

Lanas deutlich: Rom zur Zeit der Konsuln preist er für seine kurzen Amtszeiten, <strong>die</strong><br />

nicht zu verlängern waren <strong>und</strong> <strong>die</strong> verhinderten, dass sich ein Einzelner der Herrschaft<br />

bemächtigte. 37<br />

Deutlich wird <strong>die</strong> starke Identifizierung der Kommunen mit dem Rom der<br />

republikanischen Epoche zunehmend dann, als <strong>die</strong> Kommunen sich in der Krise<br />

befinden. Denn <strong>die</strong> Geschichte Roms wird den Bürgern der Kommune nicht nur<br />

Beispiel des Aufstiegs sondern auch des Niedergangs. Angesichts einer grossen Zahl<br />

<strong>von</strong> Parteikämpfen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Kommunen an den Rand ihrer Existenz drängen, erhält<br />

neben der “Erfolgsstory Rom” vermehrt auch der Teil der Geschichte Roms<br />

Beachtung, der <strong>die</strong> Fragilität <strong>und</strong> Zerstörung der politischen Strukturen beschreibt. 38<br />

In den Blickpunkt rückt vor allem <strong>die</strong> Endzeit der Republik mit der Verschwörung<br />

Catilinas <strong>und</strong> dem Bürgerkrieg, der zur Macht<strong>über</strong>nahme Caesars führte. So schreibt<br />

schon Mitte des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts Rolandino <strong>von</strong> Padua, als seine Stadt unter der<br />

Herrschaft Ezzelinos leidet, dass Padua, das sich einst ein zweites Rom rühmte, nun<br />

33 Fait des Romains, zitiert auch <strong>von</strong> BRUNETTO LATINI (1260/66): Trésor, I.36 f.<br />

34 Paradiso VI<br />

35 GIOVANNI VILLANI: Cronica, III.3<br />

36 BRUNETTO LATINI in seinen Übersetzungen der Reden Ciceros (vor 1294); AN. (um 1300): I<br />

fatti di Cesare, dazu RUBINSTEIN (1979), S. 186; AN. (um 1300): I conti di antichi cavalieri;<br />

ARMANNINO GIUDICE (1325): La fiorità d'Italia<br />

37 JACOPO DELLA LANA (vor 1328), III, S. 91: "Cacciato lo re furoni li senatori insieme e<br />

feciono costituzioni che a pena della testa nullo si osasse fare re di Roma, e costituinno molte leggi,<br />

ordini, e statuti, e feciono che due delli senatori fossono appellati Consoli, e avessono tale offizio solo<br />

per uno anno, e convenisse vacare due anni acciò che niuno s' appropiasse la signorìa." Siehe auch:<br />

"..., e poi per uno tempo si ressero a Senatori, in lo quale tempo erano accettati tutti li savi e vertudiosi<br />

e preposti, e aveano officio, chi era prefetto sovra una cosa e chi sovra un 'altra; ... Si che li uomini<br />

vedendosi acquistare l'onore e lo stato, tutti si dilettavano d' acquistare scienzia e virtude." Ebd., S. 250<br />

38 RUBINSTEIN (1957)<br />

278


zerstört sei, wie einst das antike Rom durch <strong>die</strong> principes. 39 Brunetto Latini rät dem<br />

Podestà, wenn er in eine Stadt berufen wird, in der Parteikämpfe herrschen, den<br />

Bürgern <strong>die</strong>ser Kommune <strong>die</strong> Gefahren eines Bürgerkriegs mit dem Beispiel Roms zu<br />

illustrieren. 40 Die Geschichte Roms wird so für <strong>die</strong> Bürger der Kommunen sowohl ein<br />

Beispiel der <strong>gute</strong>n als auch der schlechten Regierung: ”il suo frutto è tutto contraio al<br />

primo: il cominciamento fu con virtù e con acquisto, con vizio e con diminuizione il<br />

fine;” ”<strong>die</strong> Frucht Roms”, so heisst es im Ottimo-Commento, ”ist das Gegenteil ihres<br />

Anfangs: es begann mit Tugend <strong>und</strong> Eroberung <strong>und</strong> endete mit Laster <strong>und</strong><br />

Untergang.” 41 Das Diktum Sallusts, dass <strong>die</strong> kleinen Dinge durch <strong>die</strong> Eintracht<br />

wachsen, durch Zwietracht aber zerstört werden, sowie dessen Verurteilung des<br />

Niedergangs römischer Tugend, den Sallust für <strong>die</strong> politische Krise am Ende der<br />

Republik verantwortlich macht, sind im frühen Trecento Gemeinplätze, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

Kommunen auf ihre eigene Situation <strong>über</strong>tragen. 42<br />

Im Zuge <strong>die</strong>ser Spiegelung der Vergangenheit in der eigenen Gegenwart wird der<br />

Verschwörer Catilina zum Prototypen des Magnaten, der sich in einer Kommune zum<br />

Parteiführer aufschwingt <strong>und</strong> <strong>die</strong> Macht an sich zu reissen sucht. Die Magnaten<br />

werden mit Catilina gleichgesetzt, “weil sie <strong>die</strong> politische Ordnung zerstörten, <strong>die</strong><br />

Magistraten ermordeten, <strong>die</strong> Ämter nach ihrem Gutdünken besetzten <strong>und</strong> schliesslich<br />

<strong>die</strong> Tyrannei errichteten.” 43 Cicero indessen, der im Senat <strong>die</strong> Reden gegen Catilina<br />

39 Ebd., S. 173<br />

40 Trésor, III.82. S. 404<br />

41 OTTIMO-COMMENTO, III, S. 370<br />

42 RUBINSTEIN (1965), S. 58 f.; ders. (1979), S. 195 f.; s. a. Bemerkung eines Notars in den<br />

offiziellen Dokumenten der Kommune <strong>von</strong> Siena, Consiglio generale 152, c. 10v : Mit der Eintracht<br />

florieren Sicherheit, Frieden <strong>und</strong> Wohlstand ("floret securitas et pax et bonorum hab<strong>und</strong>antia<br />

ceterorum") <strong>und</strong> dank der Eintracht wachsen <strong>die</strong> kleinen Dinge ("parve res crescunt"); mit der<br />

Zwietracht dagegen fällt das Grösste auseinander ("maxima dilabuntur").<br />

43 Zu Catilina <strong>und</strong> seinen Gefährten: "Costore pensarono di fare novitade per mutare lo stato di<br />

Roma et il loro migliorare, ma con danno della comune gente. Sempre quegli rei cictadini animosi, che<br />

non anno richezze, hanno invidia a quegli buoni che amano el comune bene et in buono stato si sanno<br />

mantenere. Però questi cotali rei di grande affare inducano quanto possono gli altri poveri malvagi a<br />

mal fare: rifugiosano di ladroni et d'asessini, et quegli honorano; e buoni costumi biasimano, ragione<br />

hanno in hodio e l'altrui desiderano. Et per questo ha in hodio ogni cosa che a questo gli nuoce et<br />

veggiano oggi e cictadini moderni e quali non sono di tanto cuore che grandi fatti si sappiano mectere<br />

a fare, pongonsi a rubare vedove et pupilli et huomini meno possenti, et in quello che possono mai non<br />

finano malfare, ritenendo e difendendo gente d'ogni mala conditione et fama per tenere in paura gli<br />

oppressi cattivelli. Ma la giustitia di Dio non gli obliera. Catellina e suoi maseguaci erano huomini di<br />

tanto cuore che voleano guastare e rumpere el buono stato di Roma... Catellino con Lentulo et con<br />

Cetegio, volendo essere signori, cominciarono a trattare con molti altri di volere uccidere li dictatori,<br />

senatori e tutti gli altri magistrati che erano in quel tempo... Rinnovare volea a suo modo tutti gli<br />

uficiali et per tirannia el mondo occupare." ARMANNINO GIUDICE (um 1325), La Fiorita d'Italia, c.<br />

183v; zitiert in FLUTRE (1933), S. 384 Siehe auch <strong>die</strong> Beschreibung DINO COMPAGNIS <strong>von</strong> Corso<br />

Donati, des Parteiführers der Schwarzen: "Uno cavaliere della somiglianza di Catellina romano, ma<br />

più crudele di lui, gentile di sangue, bello del corpo, piacevole parlatore, addorno di belli costumi,<br />

279


hielt, wird zum glorreichen Beispiel eines Bürgers niederer Herkunft, der dank seiner<br />

Vernunft <strong>und</strong> rednerischen Begabung ins höchste Staatsamt gewählt wurde <strong>und</strong> in der<br />

Folge Catilinas Bande in Schach zu halten wusste. 44<br />

Mit der Krise ihres politischen Systems greifen <strong>die</strong> Bürger der Kommunen auch<br />

wieder vermehrt auf den römischen Begriff der libertas zurück, der schon im 12.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert, als <strong>die</strong> Kommunen einen Abwehrkampf gegen <strong>die</strong> Ansprüche des<br />

Kaisertums führten, ein politisches Schlagwort war. Dieser Begriff kommt ihrem<br />

Selbstverständnis gleich, ihre gemässigte politische Ordnung im Innern <strong>und</strong> ihre<br />

Unabhängigkeit nach Aussen militärisch zu verteidigen. 45 Im Zuge der zunehmenden<br />

Auseinandersetzung mit der römischen Geschichte wird dann Brutus der Ältere, der<br />

den letzten römischen König vertrieben hat, zum Begründer der römischen Freiheit, 46<br />

während Caesar als ihr Usurpator verurteilt wird. 47 So hält auch der Ottimo-Commento<br />

im Kommentar zur Commedia fest: Mit Caesars Einzug in Rom “begannen der Tod<br />

der <strong>gute</strong>n Bürger, <strong>die</strong> Gefangennahme der libertas, das Exil der Tugend <strong>und</strong> der<br />

Einzug der Laster in der Öffentlichkeit.” 48 Diesem negativen Caesar-Bild, das sich in<br />

den Kommune Italiens herausbildet, kann sich selbst Dante in der Commedia nicht<br />

ganz entziehen, wenn er ihn als den Mann beschreibt, den alle Welt fürchtet. 49<br />

sottile d'ingegno, con l'animo dempre intento a malfare...". DINO COMPAGNI (1312), Cronica, II.20.<br />

Siehe für <strong>die</strong> Paraphase Sallusts durch ALBERTINO MUSSATO: RUBINSTEIN (1957), S. 172<br />

44Trésor, I.36: "Tulio era cittadino di Roma nuovo e di non grande altezza; ma per lo senno fue<br />

in sì alto stato che tutta Roma si tenea alla sua parola, e fue al tempo di Catellina, di Pompeio e di Iulio<br />

Cesare, e per lo bene della terra fue al tutto contrario a Catellina,", I fatti di Cesare, I. 9, S. 13; ebd.<br />

III.10; "In questo tempo era dictatore uno che have nome Tullio, huomo di grande senno e di molta<br />

scientia adorno, ma non era di gran gentilezza. Costui manteneva la cictade in ragione et era amato da<br />

tutta la gente." La fiorità d'Italia, c. 183v, S. 385. Siehe auch <strong>die</strong> Dante-Kommentare zu Inferno IV.<br />

141. Ausserdem Convivio, IV.5: "E non puose Iddio le mani quando uno nuovo cittadino di picciola<br />

condizione, cioè Tullio, contra tanto cittadino quanto era Catellina la romana libertà difese?" Ebenso<br />

GIOVANNI VILLANI: Cronica, I.30;<br />

45 Zum Begriff der libertas siehe: SKINNER (1978), I, S. 3 ff.; BENSON (1985); RUBINSTEIN<br />

(1986); MUNDY (1989)<br />

46 GUIDO DA PISA (vor 1333), S. 77 f.; ebd., S. 80; REMIGIO GIROLAMI: De via paradisi, 272 v,<br />

zitiert in DAVIS (1984), S. 260; THOMAS VON AQUIN (1265/66): De regimine principum, I.4, S. 18;<br />

47 THOMAS VON AQUIN, In sec.libr. sent., XLIV, q. 2 art. 2: Caeser als gewalttätiger Zerstörer<br />

der römischen Freiheit, zit. in DAVIS (1984); BRUNETTO LATINI (1258/66): Rettorica:"E poi nelle<br />

guerra di Pompeio e di Iulio Cesare si tenne con Pompeio, sì come tutt'i savi ch'amavano lo stato di<br />

Roma." Ebd., S. 137. Siehe auch AN. (um 1300): Conti di antichi cavalieri: "E Luces disse a loro, che<br />

non piacesse a dio che la terra del comune di Roma se rende ad un solo cictadino: ' Cesar uno<br />

cictadino de Roma ène. Si quello ch'apartene al comune rendessemo a lui, de ciò l'onore del comune<br />

abbasseria... E [Luces] Domices disse che volea pria morire che scampare per mano del nemico di<br />

Roma." Ebd. S. 87 f.<br />

48 "col suo si doveano ... uccidere li cari cittadini, e carcerare la libertà, cattivare virtude, o<br />

mandare in esilio, e li vizi deducere in publico." OTTIMO-COMMENTO (1334), II, S. 146<br />

49 Paradiso XI.69. In Anklang an Lucans Pharsalia, "colui ch'a tutto 'l mondo fé paura - der,<br />

der alle Welt mit Furcht erfüllte" Siehe auch BUCK (1987), S. 41<br />

280


Als Caesars Gegenspieler, der für <strong>die</strong> Aufrechterhaltung der römischen Republik<br />

kämpfte, gilt neben Pompejus vor allem Cato Uticensis. 50 Gelobt wird er nicht nur für<br />

seine Tugend, sondern gerade auch für seinen Widerstand gegen <strong>die</strong> Herrschaft<br />

Caesars. Er wird als Ausdruck seiner Tugend, seines Gerechtigkeitssinns <strong>und</strong> seiner<br />

Vaterlandsliebe gedeutet. Sein Selbstmord am Ende des Bürgerkriegs, als Caesars Sieg<br />

feststeht, lässt ihn zum Vorbild des politischen Freiheitskämpfers werden, der den Tod<br />

der Knechtschaft vorzieht. Es ist gerade <strong>die</strong>ser Selbstmord, den auch Dante preist, als<br />

er ihn als Wächter des Läuterungsberges im Purgatorio auftreten lässt. 51 Gemeint damit<br />

ist <strong>die</strong> Freiheit, Tugend zu üben, <strong>die</strong> nur in einer gemässigten Herrschaft möglich ist.<br />

<strong>Der</strong>selbe Gedanke findet sich auch in einem Exempelbuch, das für Bürger geschrieben<br />

wurde, <strong>die</strong> Regierungsverantwortung tragen: “<strong>Der</strong> Tod Catos soll allen in Zukunft ein<br />

Beispiel sein, danach zu streben, immer in Freiheit zu leben <strong>und</strong> es vorzuziehen zu<br />

sterben, als wie Sklaven ihr Dasein unter einer signoria zu fristen.” 52<br />

Im <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s wird der erfolgreiche Teil der römischen<br />

Geschichte an <strong>die</strong> Regierungsform der Kommune geb<strong>und</strong>en, während der Niedergang<br />

mit der Epoche des römischen Kaisertums in Verbindung gebracht wird, <strong>die</strong> zur<br />

Herrschaft der Tyrannen degenerierte. Die Sieneser Kommune identifiziert sich mit<br />

der römischen Republik, <strong>die</strong> Vorbild ist sowohl für Tugend als auch für Macht,<br />

Rechtsherrschaft <strong>und</strong> Vaterlandsliebe. Deutlich wird <strong>die</strong>s sowohl in der Figur der<br />

Kommune, in der sich Cato als “Vater <strong>und</strong> Gatte Roms <strong>und</strong> Beispiel für alle Bürger”<br />

verbirgt, als auch in der Pax, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Macht der civitas Senarum verdeutlicht. Deutlich<br />

wird <strong>die</strong>s auch in den Figuren der Justitia links aussen, der Securitas, <strong>die</strong> als geflügelte<br />

Victoria <strong>über</strong> dem Sieneser Territorium schwebt, <strong>und</strong> gar in der Caritas im Sinne der<br />

Vaterlandsliebe, amor patriae. Auch wenn sich in <strong>die</strong> Darstellung <strong>die</strong>ser Werte<br />

50 "Catone ebbe in sè attemperamento: molto piangeva lo pericolo del suo Comune, molto<br />

riprendeva li mali. Quanto a sé, al suo vivare non richiedeva né troppo né poco; non voleva cominciare<br />

se non cose oneste ... apparechiato stava di morire per la republica, cioè per lo suo Comune, se<br />

bisognasse. Non si credeva essere ingenerato a sé proprio valere, ma a tutti ... Elli era padre e marito<br />

de la città di Roma, et era specchio et esemplo di tutti cittadini." AN. (UM 1300), I fatti di Cesare, S.<br />

15; " Era ancora in questo tempo questo vertudioso Cato romano, del quale tanto si parla. Costui fu<br />

uomo aspro et forte in giustitia e in ragione mantenere, amatore e difenditore della re pubblica".<br />

ARMANNINO GIUDICE (1325), La fiorita d'Italia, c. 183 r, S. 383<br />

51 "Libertà va cercando, ch'è sì cara, come sa chi per lei vita rifiuta." Purgatorio I.71-72. Siehe<br />

auch Monarchia II.5.15: "... accedit et illud inenerrabile sacrifitium severissimi vere libertatis tutoris<br />

Marci Catonis. Quorum alteri pro salute patrie mortis tenebras non horruerunt ..."<br />

52 "Unde Sancto Augustino sovr'a la morte tale de Catone disse che la morte d'ontale, come<br />

Catone, che convenevole era asempio ... a quelli ch' erano 'loro e devano venire, sempre de volere<br />

franchi prima volere morire che vivere servi e socto signoria." AN. (um 1300): Conti di antichi<br />

cavalieri, S. 100. Mit seiner Berufung auf den Kirchenvater Augustinus weicht der Autor der<br />

Verurteilung des Selbstmordes durch <strong>die</strong> christliche Lehre aus. Insgesamt ist <strong>die</strong>s eine vollständige<br />

Verkehrung <strong>von</strong> Augustinus, der in De civitate dei (I.22-I.24) den Selbstmord Catos verurteilt hat.<br />

Vgl. Li Fait des Romains, S. 432.<br />

281


Symbole der römischen Kaiserzeit mischen, so ist doch das Wesentliche, dass <strong>die</strong><br />

Kommune mit Cato Leitfigur des Purgatorio ist. 53 Sie verdeutlicht, dass der Ausweg<br />

aus dem Inferno nicht durch <strong>die</strong> Macht<strong>über</strong>nahme eines Einzelnen erfolgen kann,<br />

sondern allein im Rahmen der bisherigen politischen Ordnung durch Gerechtigkeit <strong>und</strong><br />

Tugend.<br />

Das Inferno indessen wird mit der antiken Tyrannenherrschaft in Verbindung<br />

gebracht, <strong>die</strong> entweder wie Antiochus der römischen Republik unterlegen war, oder<br />

wie Nero <strong>und</strong> Geta auf sie folgte. Die Darstellung römischer Kaiser unter dem Bild des<br />

Inferno verwirft auch das zeitgenössische Kaisertum, das <strong>die</strong> Sienesen im 14.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert als eine ihnen feindlich gesinnte Macht erfahren haben. Sowohl Heinrich<br />

VII. als auch Ludwig der Bayer treten in Italien als Alliierte der Signori auf, durch <strong>die</strong><br />

das System der Kommune zunehmend <strong>von</strong> der politischen Landkarte verschwindet<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>die</strong> Bürger, <strong>die</strong> am republikanischen System ihrer Kommune festhalten<br />

möchten, als Tyrannen bezeichnen. Eine Verbindung zum zeitgenössischen Kaisertum<br />

stellt ausserdem das kaiserliche Abbild im Planeten Jupiter her. <strong>Der</strong> gewaltsame Tod,<br />

den <strong>die</strong> Tyrannen in den Medaillons erleiden, ist indessen Mahnung an jeden, der<br />

versuchen will, <strong>die</strong> Macht an sich zu reissen.<br />

Im <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s verteidigt Siena in den 30er Jahren des<br />

14. Jahrh<strong>und</strong>erts seine römische libertas. Sie ist in den Jahrzehnten davor auch<br />

Kernbegriff <strong>von</strong> Sienas politischem Vokabular, wenn es um <strong>die</strong> Aufrechterhaltung der<br />

Kommune im Innern oder <strong>die</strong> Verteidigung Sienas nach Aussen geht. Nicht nur <strong>die</strong><br />

Aufdeckung <strong>von</strong> Verschwörungen zur Auslieferung der Stadt an den Kaiser oder zur<br />

Errichtung einer Signoria wird als Verteidigung <strong>von</strong> Sienas Freiheit bezeichnet,<br />

sondern auch das mutige Eintreten gegen eine solche Macht<strong>über</strong>nahme. Als <strong>die</strong><br />

regierenden Nove im Jahr 1318 den Staatsstreich <strong>von</strong> Sozzo di Deo Tolomei<br />

verhindern, werden sie in römischer Tradition gelobt ”sich für <strong>die</strong> libertas der<br />

Kommune <strong>von</strong> Siena dem Tod ausgesetzt zu haben.” 54 So wird auch <strong>die</strong> Stärkung der<br />

Stadtmiliz, der compagnie del popolo, mit der Aufrechterhaltung <strong>und</strong> Verteidigung des<br />

Wohls, salus, sowie der pax, iustitia <strong>und</strong> libertas <strong>von</strong> Siena <strong>und</strong> seines Contado<br />

53 Siehe auch JACOPO DELLA Lana (vor 1328), der einen Hinweis gibt, wie im <strong>Freskenzyklus</strong><br />

Cato nicht nur mit den antiken Kardinaltugenden, sondern auch den theologischen dargestellt werden<br />

konnte: "Quasi a dire lo detto Cato fue vertudioso delle sopradette quattro vertudi morali, le quali lo<br />

faceano lucido e appariscente quasi come avesse avuto le tre teologiche, le quali fanno risplendere e<br />

parere, come lo raggio del sole, quelle cose ch' ello illumina." Ebd. II., S. 15 Siehe auch Convivio,<br />

IV.28: "E qual uomo terreno più degno fu di sinificare Iddio, che Catone? Certo nullo."<br />

54 "Et Novem qui de mense sept. proxime praeterito et mense octobre presente fuerunt et ad<br />

praesens sunt in dicto offitio dominorum Novum, non solum discretis tractatibus et provisionibus<br />

procuraverunt honorem et statum pacificum civitatis sen. velut etiam se et corpora sua exposuerunt<br />

morti per honore statu pacifico et libertate comunis et populis comunis et populis civitatis sen.<br />

Manutendis et conservandis ... " Statuti 18, c. 416r-417v (entspricht Consiglio Generale, Oktober<br />

1318)<br />

282


egründet 55 . Sie ist auch Argument, als Sienas militärische Macht, vor allem zur<br />

Abwehr äusserer Feinde im Contado, durch das Amt des ständigen Söldnerführers,<br />

Capitano di Guerra, gestärkt wird. 56 Die Stadtmiliz, <strong>die</strong> im Purgatorio unterhalb des<br />

Podiums in der Gruppe der Fusssoldaten rechts der Kommune erscheint, soll <strong>die</strong> Stadt<br />

<strong>und</strong> ihr Contado “im Frieden der Freiheit <strong>und</strong> der Gerechtigkeit, pace libertatis et<br />

iustitie” bewahren. Nebst der Aufdeckung <strong>von</strong> Verschwörungen hat <strong>die</strong> Bürgermiliz<br />

vor allem auch <strong>die</strong> Aufgabe, dafür zu sorgen, dass <strong>die</strong> Straftaten <strong>von</strong> mächtigen<br />

Magnaten, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se an einfachen Bürgern verüben, geahndet werden. Ihre Kapitäne,<br />

Bannerträger <strong>und</strong> Berater kommen auch alle zwei Monate zusammen, um <strong>über</strong><br />

Nützliches zu beraten, wie <strong>die</strong> libertas comunis Senarum bewahrt werden kann. 57<br />

Die Verteidigung der politischen Freiheit ist schliesslich auch zum wesentlichen<br />

gemeinsamen Interesse der guelfischen Liga geworden, <strong>die</strong> sich zur Zeit <strong>Ambrogio</strong><br />

<strong>Lorenzetti</strong>s als Städteb<strong>und</strong> gegen <strong>die</strong> Alleinherrschaft versteht. Ihr Wappen, das <strong>die</strong><br />

päpstlichen Schlüssel zeigt, sowie jenes des Hauptalliierten, des Königshauses Anjou<br />

in Neapel, sind, wie schon oben erwähnt, beide im Fries des Makrokosmos zu sehen.<br />

Diese politische Freiheit werten <strong>die</strong> guelfischen Städte aber auch höher als ihre Allianz<br />

mit dem Papsttum oder den Anjou. Als <strong>die</strong> Bürger <strong>von</strong> Bologna 1334 den päpstlichen<br />

Legaten Bertrand del Pogetto verjagen, “um ihre althergebrachte Freiheit<br />

wiederherzustellen,” 58 sind auch Truppen aus Florenz <strong>und</strong> Siena zur Stelle, um den<br />

Bolognesen zu helfen. Und als dann im Jahr 1342 <strong>die</strong> Florentiner durch eine<br />

Verschwörung ihrer Magnaten unter <strong>die</strong> Signoria des Herzogs <strong>von</strong> Athen fallen, der<br />

zum Hofstaat des Hauses Anjou gehört, unterstützen Siena <strong>und</strong> Perugia sowohl <strong>die</strong><br />

geheimen Machenschaften gegen den Herzog als schliesslich auch seine Vertreibung<br />

im Juli 1343. 59<br />

Diese libertas wird nicht zuletzt auch so hoch bewertet, weil <strong>die</strong> Bürger im Sinne<br />

des Vorbilds Cato <strong>die</strong> politische Freiheit als Voraussetzung für <strong>die</strong> moralische Freiheit<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Entfaltung <strong>von</strong> Tugend denken. <strong>Der</strong> Florentiner Francesco da Barbarino<br />

55 "Cum sotietates et vicariatus civitatis et iurisdictionis Senarum et ipsorum capitanei et<br />

vexilliferi et universa ipsorum potentia ad hoc fuerint principaliter adinvenda et instituta ut per eam<br />

supradicta civitas et comitatus eiusdem in pace libertatis et iustitie defenderentur ..." Capitano del<br />

Popolo 1, c. 32r (ebenfalls in Statuti 29, c. 20r; Statuti 21, c. 43r). Es ist <strong>die</strong> Einleitung zum Ordinament,<br />

das <strong>die</strong> Stadtmiliz <strong>und</strong> <strong>die</strong> Militärorganisation des Contado stärkte <strong>und</strong> das an der Consiglio<br />

Generale - Sitzung vom 19. April 1313 verabschiedet wurde. Die Reorganisation der militärischen<br />

Struktur des Popolo, d.h. der Stadtmiliz hat auch Eingang gef<strong>und</strong>en in der Verfassung <strong>von</strong> 1337/39:<br />

Const. 1337/39, III.336: Quomodo sotietates convocentur pro libertate civitatis et contra volentes<br />

currere civitatem. Siehe dazu ausführlicher oben, Kapitel 1.<br />

56 Ebenso bei der Einführung der Quattrini, Statuti 11, c. 371v-372r, Mai 1334<br />

57 Constitutum 1337/39, III.335; siehe oben, Kapitel1.<br />

58 GRAZIOLO BAMBAGLIO (1334): Dictamina, S. 93 f.<br />

59 Siehe PAOLI (1872) <strong>und</strong> <strong>die</strong> dort publizierten Dokumente.<br />

283


ezeichnet deshalb alle, <strong>die</strong> in der Stadt eines Tyrannen leben, als Verrückte. 60 In<br />

<strong>die</strong>sem Sinne warnt auch der Sienese Bindo Bonichi seine Mitbürger davor, sich einen<br />

Signore zum Herrscher zu wählen. Sein Gedicht malt als Konsequenz das Bild des<br />

Inferno <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s: Unweigerlich pervertiere der Signore zum Tyrannen<br />

<strong>und</strong> das Recht hätte keinen Wert mehr, dort, wo der Mächtige befehle <strong>und</strong> ungerecht<br />

gegen <strong>die</strong> Schwachen vorgehe. Denn der Mächtige mache aus Schwarz Weiss <strong>und</strong><br />

interpretiere <strong>die</strong> Gesetze, wie sie ihm nützten. Er werde zum Sklaven seiner Wollust,<br />

seines Geizes <strong>und</strong> anderer Sünden, während all <strong>die</strong> anderen Opfer ihrer Angst <strong>und</strong> zu<br />

Dienern des dunklen Lasters würden. Die Dunkelheit breite sich dermassen aus, dass<br />

<strong>die</strong> Freude am Leben verloren gehe <strong>und</strong> Traurigkeit <strong>die</strong> Herzen erfülle: “Deshalb hüte<br />

der Weise sich davor, seine libertas zu verlieren.” 61 Dies ist nichts anderes, als <strong>die</strong><br />

libertas, nach der Cato strebte, <strong>die</strong> ihm so viel wert war, dass er dafür sein Leben<br />

hingab <strong>und</strong> <strong>die</strong> auch der Gr<strong>und</strong> ist, weshalb Dante ihn zum Wächter des Purgatorio<br />

erkoren hat.<br />

9.3. Seelenadel<br />

Die Helden der römischen Republik üben auf <strong>die</strong> Bürger der italienischen<br />

Kommunen nicht zuletzt solch grosse Anziehungskraft aus, weil <strong>die</strong>se für sie Werte<br />

verkörpern, nach denen sie selbst streben, <strong>die</strong> jedoch in der noch immer sehr<br />

anarchisch geprägten Gesellschaft mir ihren grossen Familien <strong>und</strong> persönlichen<br />

Treueverhältnissen nur schwer durchzusetzen sind. Sie sind Abbild <strong>von</strong><br />

Gemeinschaftswerten, wenn <strong>die</strong> Macht nicht an eine einzelne Persönlichkeit geb<strong>und</strong>en<br />

ist, sondern an politische Institutionen. Ein Gr<strong>und</strong>satz, dem auch das politische System<br />

der Kommunen verpflichtet ist, der sich aber im personen- <strong>und</strong> familienbezogenen<br />

politischen Umfeld nur schwer behaupten kann. Cato Uticensis <strong>und</strong> Cicero, aber auch<br />

Marcus Regulus, <strong>die</strong> Gebrüder Decii <strong>und</strong> Drusi, Marcus Curtius, Mutius, Brutus der<br />

Ältere, Torquatus, Quintus Cincinnatus, Lucius Valerius, Camillus, Scipio <strong>und</strong><br />

Zaleucus <strong>die</strong>nen deshalb alle als Beispiele <strong>von</strong> Bürgern, <strong>die</strong> sich für das Gemeinwohl<br />

einsetzen, <strong>die</strong> ihr Vaterland bis zur Selbstaufopferung lieben <strong>und</strong> <strong>die</strong> unbestechlich,<br />

gerecht <strong>und</strong> massvoll sind. 62 Sie sind Personifikationen staatsmännischer Tugend in<br />

60 FRANSCO DA BARBERINO (1308/13): Documenti d'Amore, II.114, II, S. 219: "Nella terra del<br />

tiranno / folli son quey che vi stanno."<br />

61 "... El signor si perverte e vien tiranno / quando fa contra quel che gli è commesso;/ e ciò<br />

avvene spesso / per l'elezion che va per modo iniquo: / non si elegge il miglior, come d'antiquo / ma<br />

per lignaggio, ovver qual è maggiore / ten loco di pastore, / tal ch'alla greggia fa disnore e danno."<br />

BINDO BONICHI (ca. 1275-1338): Rime, Cazone 20.<br />

62 Siehe allgemein zur Rezeption der römischen Helden im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert: Jacobs<br />

(1991), S. 103 f.; Davis (1984), S. 257 ff., Rubinstein (1979), S. 186. Als Quelle für <strong>die</strong> Namen <strong>und</strong><br />

284


einer Zeit, als sich <strong>die</strong> Idee des Staates als eine unpersönliche, territoriale<br />

Rechtsordnung herausbildet.<br />

Als solche sind <strong>die</strong> Helden der römischen Republik für <strong>die</strong> Bürger der Kommunen<br />

ausserdem Bestätigung, dass Tugend <strong>und</strong> Weisheit für <strong>die</strong> Wahl in <strong>die</strong> höchsten<br />

politischen Ämter ausschlaggebend sein sollen. Sie repräsentieren damit ihre eigene<br />

politische Ideologie, dass nicht familiäre Abstammung <strong>und</strong> Geburt zur politischen<br />

Führung befähigen, sondern allein <strong>die</strong> Vorzüge des Einzelnen. 63 Die Helden der<br />

römischen Republik sind damit auch ein Gegenbild zu den Familiendynastien, <strong>die</strong><br />

allmählich <strong>die</strong> Macht in den Städten Italiens <strong>über</strong>nehmen <strong>und</strong> teils mit grösserem<br />

Erfolg als <strong>die</strong> Kommunen <strong>die</strong> Vergrösserung des Territoriums <strong>und</strong> Vereinheitlichung<br />

des Rechtsraums vorantreiben.<br />

Während <strong>die</strong> Helden der römischen Republik aber eigentlich erst im frühen 14.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert vermehrt in Erscheinung treten, als das politische System der Kommune<br />

zunehmend in eine Krise gerät, ist ihre politische Ideologie, dass allein Tugend den<br />

Menschen adelt, schon älter. Sie hat ihre Blütezeit in der zweiten Hälfte des 13.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts, nachdem sich in den Kommunen der Popolo durchgesetzt <strong>und</strong> <strong>die</strong> Macht<br />

der grossen Geschlechter zurückgedrängt hat. Zu den grössten Verfechtern des<br />

Seelenadels, der Adel als seelische Eigenschaft definiert, gehört Brunetto Latini, 64 aber<br />

auch der jüngere Dante. 65 Allgemein wird der Seelenadel Ende des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

<strong>von</strong> den Dichtern des dolce stil nuovo besungen, deren wichtigster Vertreter der junge<br />

Dante ist. 66<br />

Philosophisch stützt sich <strong>die</strong> Theorie des Seelenadels auf gedankliche Vorarbeiten,<br />

<strong>die</strong> im 12. Jahrh<strong>und</strong>ert in Frankreich <strong>und</strong> der Provence entstehen. Hier wird auf der<br />

Gr<strong>und</strong>lage antiker <strong>und</strong> christlicher Quellen der Geburtsadel verworfen <strong>und</strong> nur der<br />

Seelenadel als wahrer Adel anerkannt. Römische Philosophen wie Seneca, Sallust <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> Taten der jeweiligen römischen Helden <strong>die</strong>nen nicht nur antike Geschichtswerke <strong>und</strong><br />

mittelalterliche Kompilationen, sondern auch <strong>die</strong> Kapitel <strong>von</strong> De civitate dei, in denen sich der<br />

Kirchenvater Augustinus mit der römischen Geschichte befasst, sowie <strong>die</strong> antike "exempla"-<br />

Sammlung des Valerius Maximus. Letztere ist im frühen Trecento besonders beliebt <strong>und</strong> wird auch ins<br />

Volgare <strong>über</strong>setzt (SEGRE (1953), S. 449 f.) Auf Anfrage wird gar eine zweite, verbesserte <strong>und</strong> mit<br />

einem zusätzlichen Kommentar versehene Redaktion angefertigt, "da <strong>die</strong> Laien eine solch grosse<br />

Zuneigung zu <strong>die</strong>sem Buch gefasst hatten." (Firenze, Bibl. Nazionale, cod. Palat. 862, c. 1r).<br />

63 JACOPO DELLA LANA (vor 1328), III, S. 250; siehe Zitat oben, Fussnote 36<br />

64 Trésor: II.54; II.114; siehe auch DAVIS (1967), S. 484 ff.<br />

65 Convivio, IV.1.9.: "... io intendo riducere la gente in diritta via sopra la propria conoscenza<br />

della verace nobiltade.". Es folgt eine ausführliche Widerlegung des Geburtsadel zugunsten des<br />

Seelenadels. Die folgenden Ausführungen stützen sich namentlich auf das Convivio Dantes. Siehe<br />

DAVIS (1967), S. 434ff., CORTI (1959), S. 64 ff.; VOSSLER (1904), S. 24 ff.; SKINNER (1988), S. 432;<br />

SKINNER (1978), S. 45 f.<br />

66 CORTI (1959); VOSSLER (1904); HAUSMANN (1986), bes. S. 311, mit vielen<br />

Literaturangaben<br />

285


Juvenal haben sich entsprechend geäussert. Die biblische Schöpfungsgeschichte lässt<br />

<strong>die</strong>selbe Schlussfolgerung zu: Denn, so heisst es, da Gott nicht zwei Adame<br />

geschaffen habe - einen aus Silber für <strong>die</strong> Adligen <strong>und</strong> einen aus Erde für das gemeine<br />

Volk -, könne Adel auch nicht vererbbar sein. Gleichzeitig entsteht an den Höfen der<br />

Provence <strong>die</strong> Dichtung der Troubadours, <strong>die</strong>, um ihre Liebe zu der höheren Herrin zu<br />

rechtfertigen, dem Feudaladel der Damen ihren eigenen Seelenadel entgegensetzen. Im<br />

Umfeld der italienischen Kommunen werden <strong>die</strong>se Theorien des Seelenadels nicht nur<br />

rezipiert, sondern auch umgeformt <strong>und</strong> weiterentwickelt. In der Dichtung des dolce stil<br />

nuovo werden Tugend <strong>und</strong> Seelenadel zu einer Sache der Leidenschaft; nur <strong>die</strong><br />

sehnsüchtige Liebe zur Tugend hat <strong>die</strong> Kraft, den Menschen zu erhöhen. Geburtsadel<br />

wird indessen mit Schlamm gleichgesetzt, der, auch wenn <strong>von</strong> der Sonne bestrahlt,<br />

gemein bleibt: ”Denn niemand möge glauben, es gebe Adel ausserhalb des Herzens,<br />

als Würde, <strong>die</strong> vererbbar, wenn er kein Herz hat, das zur Tugend fähig.” 67 Als Gründer<br />

<strong>die</strong>ser Lehre gilt der Bologneser Dichter Guido Guinizelli, den Dante in der Commedia<br />

als Vater des dolce stil nuovo verehrt <strong>und</strong> zu dessen Schülern er sich selbst zählt. 68<br />

Dabei wird <strong>die</strong> Frau, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Troubadours als gesellschaftlich höher gestellte Herrin<br />

besungen haben, zum Medium einer Liebe, <strong>die</strong> göttlichen Ursprungs ist <strong>und</strong> das Herz<br />

des liebenden Mannes veredelt <strong>und</strong> läutert.<br />

Mit der Dichtung des dolce stil nuovo erlebt <strong>die</strong> Theorie des Seelenadels Ende des<br />

13. Jahrh<strong>und</strong>erts in der Toskana ihren Höhepunkt. Zur Zeit, als der <strong>Freskenzyklus</strong><br />

entsteht, ist <strong>die</strong> ausschliessliche Definition des Adels als Tugend schon wieder in der<br />

Defensive. Ein Gr<strong>und</strong> für <strong>die</strong>se Entwicklung mag das rasche Schwinden der<br />

Kommunen als politische Ordnung in den italienischen Städten sein, durch das auch<br />

der politische Einfluss der Mittelschicht abnimmt. Doch selbst dort, wo sich <strong>die</strong> Städte<br />

weiterhin als Kommunen organisieren, wirkt <strong>die</strong> glanzvolle Lebensform der<br />

Magnaten, <strong>die</strong> durch Reichtum <strong>und</strong> Stärke ihres Geschlechterverbandes aus der<br />

Gemeinschaft hervorstechen, so anziehend auf <strong>die</strong> übrige Bürgerschaft, dass <strong>die</strong><br />

ideelle Verteidigung des Seelenadels zu Lasten des Geschlechtsadels nachlässt. 69<br />

Philosophische Unterstützung erhält <strong>die</strong> Rechtfertigung des Geschlechtsadels<br />

67 "... che non dé dar om fé / che genzilezza sia fòr di coraggio / in degnità d'ere', / sed a vertute non ha<br />

gentil core ..." GUIDO GUINIZELLI in: HAUSMANN (1986), S. 301 f.; deutsche Übersetzung <strong>von</strong> HAUSMANN<br />

68 Purgatorio XVI.97 ff.; siehe auch Purgatorio XXIV.37 ff. sowie Purgatorio XI.97<br />

69 Dazu JONES (1978). Nicht zuletzt ist <strong>die</strong> ritterliche Tradition in den Kommunen ein Teil der<br />

gesellschaftlichen Realität. Selbst als der Popolo <strong>die</strong> grossen Geschlechter der Stadt in ihrer Macht<br />

beschneidet, ernennt er sich jeweils einen Capitano zum Führer, der nobile ist <strong>und</strong> einer Familie<br />

ritterlicher Tradition enstammt. Seine Kriegsfertigkeit <strong>und</strong> sein hoher gesellschaftlicher Status<br />

garantieren dem Popolo <strong>die</strong> bessere Durchsetzung seiner Forderungen.<br />

286


ausserdem durch <strong>die</strong> Aristotelesrezeption. Von Aristoteles wird Adel als ein äusseres<br />

Glücksgut bezeichnet, das manchen Menschen dank ihrer Geburt zufällt. 70<br />

Im <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s indessen verbindet sich das römische<br />

Heldentum nochmals mit der älteren Theorie des Seelenadels im Sinne der höfischen<br />

Dichtung <strong>und</strong> des dolce stil nuovo. Die Kommune, gekleidet in <strong>die</strong> römische Toga der<br />

libertas, ist umgeben <strong>von</strong> adligen Hofdamen, <strong>die</strong> in königlichen Gewändern<br />

erscheinen. Sie verkörpern <strong>die</strong> gentilezza, <strong>die</strong> sich allein durch <strong>die</strong> Tugend auszeichnet<br />

<strong>und</strong> sie tragen “den Adel nach aussen”: Es sind donne gentile, dazu auserkoren, <strong>die</strong><br />

Männerwelt zu veredeln. Das Bindeglied zwischen ihnen <strong>und</strong> der Tugend des Mannes,<br />

<strong>die</strong> sich in der Figur der Kommune <strong>und</strong> Catos spiegelt, ist Amor, der göttlichen<br />

Ursprungs ist. Abgebildet ist er in der Figur der Caritas, glühend vor Leidenschaft.<br />

Dabei kann sich der <strong>Freskenzyklus</strong> nicht nur auf <strong>die</strong> Dichtung des dolce stil nuovo<br />

stützen, sondern auch auf den populären Tugendtraktat Fiore di virtù. Er verbindet <strong>die</strong><br />

Lehre der vier Kardinaltugenden mit der Theorie des Seelenadels Guido Guinizellis,<br />

der Liebe zur Frau <strong>und</strong> ihren vorbildlichen Eigenschaften. Ausserdem führt er auch<br />

Dantes Argumente aus dem Convivio an, wo <strong>die</strong>ser in philosophischer Parallele zur<br />

Dichtung des dolce stil nuovo den Geburtsadel ideell verwirft.<br />

Während der <strong>Freskenzyklus</strong> mit Dantes Commedia auf dem aristotelischen<br />

Konzept des Menschen als zoon politikon aufbaut, folgt er in der Frage des Adels<br />

weder Aristoteles noch dem schon <strong>von</strong> Aristoteles beeinflussten Adelskonzept der<br />

Commedia, sondern hält sich an <strong>die</strong> im kommunalen Umfeld entstandene Theorie des<br />

Seelenadels, entsprechend der Lehre <strong>von</strong> Dantes Convivio. Dies entspricht auch den<br />

Gedankengängen, <strong>die</strong> der Commedia-Kommentator Jacopo della Lana zum Thema<br />

70 ARISTOTELES: Nikomachische Ethik, I.1099a 31 ff. ; ALBERTUS MAGNUS: Quaestiones<br />

super Evangelium, XXV.4, siehe VOSSLER (1904), S. 31 Fn. 1. Für THOMAS VON AQUIN: "Nobilitas<br />

enim est virtus generis, hoc est inclinatio ad virtuten descendens a parentibus in filios, et in parentes ab<br />

aliis prioribus, et sic sec<strong>und</strong>um quandam antiquitatem. Similiter nobilitas es divitiae antiquae."<br />

THOMAS VON AQUIN: In libros politicos expositio, I.4.7, zitiert nach CORTI (1959), S. 64; EGIDIO<br />

ROMANO (1277/79): De regimine principum, I.4.5.; Ebd., II.3.18. Ausführlich zitiert <strong>und</strong> erläutert bei<br />

VOSSLER (1904), S. 30 ff. Siehe auch CORTI (1959), S. 64 <strong>und</strong> SKINNER (1988), S. 432; Siehe auch<br />

BARTOLUS DE SASSOFERRATO, der Mitte des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts Dantes Argumente gegen den<br />

Geschlechtsadel jurisitisch widerlegt. Dazu SKINNER (1988), S. 432. Dante selbst kam mit der<br />

Autorität des Aristoteles in Konflikt. So muss er in späteren Jahren feststellen, dass der Satz, den er im<br />

Convivio widerlegt - "gentilezza è antica richezza e belli costumi" (Adel ist alter Reichtum <strong>und</strong> <strong>gute</strong><br />

Sitten) - nicht, wie ursprünglich <strong>von</strong> ihm angenommen, <strong>von</strong> Kaiser Friedrich II. stammt, sondern <strong>von</strong><br />

seinem verehrten Lehrer Aristoteles. DANTE: Convivio, IV.3.6.; ebd. IV.10.1 ff.: Widerlegung des<br />

Teilsatzes "gentilezza è antica richezza", mit den "belli costumi" war er natürlich einverstanden. Vgl.<br />

DANTE: Monarchia, II.3.3; dazu siehe auch CORTI (1959), S. 65; DAVIS (1967), S. 437 Fn. 76.<br />

THOMAS VON AQUIN: In Libros Politicorum Aristotelis Expositio, I.4.7: "Nam generis praestantia seu<br />

nobilitas nihil aliud est quam divitiae antiquae et virtus." Zitiert nach CORTI (1959), S. 64. Vgl. Dantes<br />

Zurückweisung der kaiserlichen Autorität durch <strong>die</strong> philosophische Autorität des Aristoteles in Convivio,<br />

IV.6.1 ff.<br />

287


Adel ausführt. 71 Gleichzeitig fügt sich <strong>die</strong> Theorie des Seelenadels jedoch mit der<br />

glanzvollen Lebensweise der Magnaten zu einem harmonischen Ganzen. <strong>Der</strong> Stolz auf<br />

<strong>die</strong> reichen Geschlechter der Stadt kommt im jungen Mann zum Ausdruck, der mit<br />

seiner Dame zur Falkenjagd reitet. Das Inferno im <strong>Freskenzyklus</strong> zeigt indessen <strong>die</strong><br />

Auswirkungen, wenn nicht mehr <strong>die</strong> Tugend im politischen Raum entscheidend ist,<br />

sondern allein <strong>die</strong> Stärke <strong>und</strong> <strong>die</strong> Macht jener Familien, <strong>die</strong> sich des Geschlechtsadels<br />

rühmen.<br />

Die Verteidigung des Seelenadels spiegelt sich schliesslich auch im Planetenfries.<br />

Gr<strong>und</strong>lage dafür ist wiederum der spätantike, christliche Boethius, der Dante <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Dichtung des dolce stil nuovo wesentlich beeinflusst hat. So wie <strong>die</strong> Planeten <strong>und</strong><br />

Jahreszeiten des Frieses Gott als Weltenherrscher <strong>und</strong> den Kosmos durchwaltende<br />

Liebe offenbaren, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Weltordnung zusammenhält, verweisen sie noch auf ein<br />

weiteres Gedicht <strong>von</strong> Boethius aus De consolatio philosophiae: Auf der Gr<strong>und</strong>lage der<br />

christlichen Schöpfungsgeschichte verbindet das Gedicht <strong>die</strong> Bilder <strong>von</strong> Sonne, Mond<br />

<strong>und</strong> Sternenhimmel mit der Zurückweisung des Geschlechtsadels:<br />

Alle Geschlechter der Sterblichen hier wachsen aus ähnlicher Wurzel;<br />

Denn ein einziger Vater ist, einer leitet das Weltall.<br />

Seine Sichel gab er dem Mond, gab der Sonne <strong>die</strong> Strahlen,<br />

Gab <strong>die</strong> Menschen der irdischen Welt wie dem Himmel <strong>die</strong> Sterne.<br />

In <strong>die</strong> Glieder verschloss er den Geist, den er vom hohen Throne herabholt.<br />

Also erschuf er <strong>die</strong> Sterblichen gleich, sie alle aus edlem Keime.<br />

Lärmt ihr <strong>von</strong> Ahnen, <strong>von</strong> Herkunft! Schaut auf euer erstes Entstehen,<br />

Auf zu Gott dem Erzeuger, er hat niemand unedel gebildet;<br />

Nur wer durch Laster das Schlechtere nährt, trennt sich selber vom Ursprung. 72<br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s <strong>Freskenzyklus</strong> ist nicht nur eine späte Bekräftigung der<br />

Definition des Adels als Tugend, wie ihn <strong>die</strong> Dichtung des dolce stil nuovo in der<br />

Theorie des Seelenadels herausgearbeitet hat, sondern <strong>über</strong>trägt <strong>die</strong>se Theorie auch auf<br />

<strong>die</strong> politische Sphäre. Wie wir uns solches konkret vorzustellen haben, zeigt uns der<br />

Sienese Bindo Bonichi, der sich im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert noch einmal heftig gegen<br />

<strong>die</strong> falsche Definition des Adels wehrt. 73 Für ihn ist sie der Gr<strong>und</strong> für <strong>die</strong> politische<br />

Misere <strong>und</strong> den Verlust der Freiheit in den italienischen Städten. Denn, so meint er,<br />

"auch wenn einst das Volk jemanden als adlig auserkoren hat, weil er <strong>die</strong> <strong>gute</strong>n<br />

Menschen schützte <strong>und</strong> <strong>die</strong> schlechten bestrafte, so sei heute ein jeder, der <strong>von</strong><br />

71 Siehe oben zur römischen Republik sowie Kommentar zu Paradiso XVI.1-9<br />

72 BOETHIUs: De Consolatio philosophiae, III., 6.c., S. 63<br />

73 BINDO BONICHI (ca. 1275-1338): Rime, Canzone 2 ,ebd., Canzone 10; ebd. Canzone 20<br />

288


herrschaftlichem oder kaiserlichem Geschlecht sei, ein 'Fresser der kleinen Tiere'." 74<br />

Wer indessen den Seelenadel in sich trage, verstehe es, "<strong>die</strong> unerträgliche Arroganz<br />

<strong>und</strong> Ignoranz der Fürsten, Barone <strong>und</strong> Ritter richtig einzuschätzen, <strong>die</strong> so viel Wert auf<br />

ihre Ehrenbezeichnungen legten. Denn unter <strong>die</strong>sem Schein verstecken sich boshafte<br />

<strong>und</strong> wilde Tyrannen." Weil Bindo Bonichi <strong>die</strong> libertas so viel wert ist, warnt er jede<br />

Kommune davor, sich einen solchen Mann zum Herrscher zu wählen. 75<br />

9.4. Aristotelesrezeption<br />

Aristoteles hat <strong>die</strong> italienischen Kommunen in ihrem Selbstverständnis als polis<br />

oder civitas bestärkt, während <strong>die</strong> Bürger der Kommunen sich mit seinem Konzept des<br />

zoon politikon oder animal politicum identifizieren. Die civitas wird zu einem<br />

Freiheitsraum, der das Üben <strong>von</strong> Tugend <strong>und</strong> damit das vollkommene irdische Glück<br />

ermöglicht. An <strong>die</strong>ser Sichtweise lässt auch Dante keinen Zweifel: Aristoteles ist für<br />

ihn <strong>die</strong> politische Autorität, auf der sowohl sein Konzept des Bürgers als auch des<br />

irdischen Para<strong>die</strong>ses beruhen. Seine Verb<strong>und</strong>enheit zur Lehre des Aristoteles kommt<br />

auch in der Wertschätzung <strong>von</strong> dessen Person zum Ausdruck: In der Commedia preist<br />

er ihn als "il maestro di color che sanno", als Meister jener, <strong>die</strong> berühmt durch Wissen<br />

<strong>und</strong> als herausragende Gestalt der famiglia filosofica, zu der alle, auch Plato <strong>und</strong><br />

Sokrates, in Bew<strong>und</strong>erung <strong>und</strong> Verehrung aufblicken. Mit grosser Anerkennung<br />

bezeichnet er im Convivio den Geist, den <strong>die</strong> Natur Aristoteles geschenkt habe, als<br />

"quasi göttlich", während seine Lehre heute weltumspannend sei. 76 <strong>Der</strong> Ottimo-<br />

Commento (1334) bemerkt zu Dantes Wertschätzung <strong>von</strong> Aristoteles, dass "seine<br />

Philosophie, wie Strahlen der Weisheit, <strong>die</strong> Welt erleuchtet, sich dank ihm der Nebel<br />

vor den Augen der Menschen gehoben <strong>und</strong> ihren Geist darauf ausgerichtet habe,<br />

weiter nach der Wahrheit zu forschen." 77 "Wer immer Philosophie stu<strong>die</strong>rt, liest seine<br />

Bücher", heisst es auch in den Chiose Marciane (vor 1337) zu Aristoteles, dem<br />

74 "Elesse il popolo uno, / lo più degno d'onore / che fusse protettore / degli uomin boni e<br />

punitor de' mali. / Or si trova chiascuno / di lignaggio signore, / ovver imperadore, / divorator de'<br />

minori animali ..." BINDO BONICHI (ca. 1275-1338): Rime, Canzone 20.<br />

75 "Qual'om [uom discreto e saggio ...] porria stimare la pessima arroganza e la grande<br />

ignoranza de' principi, baroni, e cavalieri che voglio dimostrare di voler onoranza, e sotto tal<br />

sembianza vi<strong>von</strong> tiranni dispietati e feri. E dilettan parlar di cose bone? Questo procede sol dal cor<br />

villano: Ama rana pantano, e sia cui voglia, sorcio prender esca. Ebd., Canzone 2<br />

76 "... e tiene questa gente [Aristoteles <strong>und</strong> <strong>die</strong> Peripatetiker] oggi lo reggimento del mondo in<br />

dottrina per tutte parti, e puotesi appellare quasi cattolica oppinione." Convivio, IV.6, 16<br />

77 "Dice il testo, che Aristotile fu maestro di coloro che sanno, il quale con li comandamenti di<br />

filosofia, siccome con diversi raggi di sapienza, alluminò il mondo, e siccome forbita la caligine delli<br />

occhi racconciò le menti delli uomini a continuare la sperienza della veritade." OTTIMO-COMMENTO<br />

(1334), S. 51.<br />

289


volkstümlichen Inferno-Kommentar sienesischer Färbung. 78 In der Tat sind <strong>die</strong> Werke<br />

des Aristoteles Anfang des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts Gr<strong>und</strong>lage für das Studium der<br />

Philosophie.<br />

In der politischen Philosophie beginnt sich Aristoteles Mitte des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

durchzusetzen, nachdem <strong>die</strong> Nikomachische Ethik <strong>und</strong> <strong>die</strong> Politik durch<br />

Übersetzungen aus dem Arabischen <strong>und</strong> Griechischen im Abendland bekannt werden.<br />

In Florenz <strong>und</strong> der Toskana hält das politische Denken des Aristoteles erstmals mit<br />

Brunetto Latini Einzug, dem verehrten Lehrer Dantes, der auch noch im frühen 14.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>von</strong> Giovanni Villani gepriesen wird, weil er <strong>die</strong> Florentiner darin<br />

unterwiesen habe, "ihre Stadt nach der Politik zu führen." 79 . So weist Brunetto Latini<br />

Aristoteles im Trésor einen prominenten Platz zu. Besonders angezogen fühlt sich der<br />

Florentiner Bürger <strong>von</strong> der aristotelischen These, dass <strong>die</strong> Staatskunst <strong>die</strong> im höchsten<br />

Sinne massgebende Wissenschaft sei. 80 Kenntnis da<strong>von</strong> erhält er durch <strong>die</strong> Nikomachische<br />

Ethik (I.1, 1094a 27 ff.), <strong>die</strong> ihm in der Form des Alexandrinischen<br />

Kompendiums vorliegt. Dieses <strong>über</strong>setzte er ins Französische <strong>und</strong> setzte es in klar<br />

betonender Absicht an den Beginn des zweiten Buches seines Trésor, das <strong>die</strong><br />

Tugendlehre behandelt. 81 Dass <strong>die</strong> Politik <strong>die</strong> höchste aller Künste sei, wiederholt<br />

Brunetto Latini mit Bezug auf Aristoteles noch drei weitere Male im Verlauf seines<br />

Werkes: Noch vor der eben zitierten Stelle ein erstes Mal in der Einleitung zum Trésor<br />

selbst, 82 ein zweites Mal in dem der Nikomachischen Ethik folgenden<br />

Tugendkompendium unter der Fortuna 83 <strong>und</strong> ein drittes Mal in den einleitenden Worten<br />

zum letzten Teil des Trésor, der <strong>die</strong> Politik behandelt:<br />

78 "Il maestro di color che sanno si è Aristotile, il quale più perfetti libri fece in filosofia che<br />

niuno altro che fosse o prima oposcia. E chiunque appare filosofia legge i suoi libri, e da quegli<br />

appara." AN. (vor 1337), S. 28; zu den Chiose Marciane siehe SANDKÜHLER (1987), S. 189<br />

79 "... [Brunetto Latini] fu mondano uomo, ma di lui avemo fatta menzione peroch'egli fu<br />

cominciatore e maestro in digrossare i Fiorentini e fargli scorti in bene parlare e reggere la nostra<br />

republica secondo la politica." GIOVANNI VILLANI (1300-48), Cronica, VIII.10*; siehe auch<br />

WIERUSZOWSKI (1971), S. 523<br />

80 "Donques li ars ki ensegne la la cité governer est principale et soveraine et dame de tous ars,<br />

pur ce que desous lui sont contenues maintes honorables art, si come est retorique, et la science de fere<br />

ost et de governer sa maisnie. Et encore est ele noble, pur ce k'ele met en ordre et adrece toutes ars ki<br />

sous li sont, et li sien compliement; et sa fin si est fin et compliement des autres." Trésor, II.3, S. 176<br />

81 "Aprés çou ke li mestres ot mis en roumanç le livre Aristotle, ki est autresi comme<br />

fondemens de cest livre, volt li parsivre sa matire sor les ensegnemens de moralités, por mieus<br />

descovrir les dis d'Aristotle selonc ce que trueve par mains autres sages." Ebd., II.50, S. 224<br />

82 "La tierce est politique; et sans faille c'est la plus haute science et dou plus noble mestier ki<br />

soit entre les homes, car ele nos ensegne governer les estranges gens d'un regne et d'une vile, un<br />

peuple et une comune en tens de pes et de guerre, selonc raison et selonc justice." Ebd., I.4, S. 21<br />

83 "Segnorie est uns des biens ki vient par Fortune. Et ja soient signories de maintes manieres,<br />

sor les autres est la plus digne cele des rois et de governer cités et gens; c'est li plus nobles mestiers<br />

c'on puisse avoir au monde, et entour ce est la tierce science de pratike, si comme li mestres devise ça<br />

en ariere ou conte de philosophie." Ebd., II.119, S. 301<br />

290


"In <strong>die</strong>sem letzten Teil nun will Meister Brunetto Latini [nachdem er <strong>die</strong><br />

Natur, den Weltenlauf, <strong>die</strong> Tugenden <strong>und</strong> Laster sowie <strong>die</strong> Rhetorik<br />

behandelt hatte], dem Fre<strong>und</strong> das Versprechen einlösen, das er ihm am<br />

Anfang des ersten Buches gegeben hat, dort wo er sagte, dass er sein<br />

Buch mit der Politik beende, d.h. mit der Regierung <strong>von</strong> Städten, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

edelste <strong>und</strong> höchste Wissenschaft <strong>und</strong> edelste Aufgabe sei, <strong>die</strong> es auf<br />

Erden gebe, wie Aristoteles in seinem Buch beweise." 84<br />

Als Brunetto Latini seinen Trésor in den frühen sechziger Jahren des 13.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts zusammenstellt, ist für ihn Aristoteles <strong>die</strong> politische Autorität, doch hat<br />

er noch keinen Zugriff auf <strong>die</strong> Politik. Die zwei Gelehrten, <strong>die</strong> einen wesentlichen<br />

Anteil an der Verbreitung der in der Politik enthaltenen Ideen haben, sind der<br />

Dominikaner Thomas <strong>von</strong> Aquin <strong>und</strong> sein Schüler, der Augustiner Egidio Romano.<br />

Mit Thomas <strong>von</strong> Aquin finden <strong>die</strong> aristotelischen Konzepte Aufnahme in <strong>die</strong> Gattung<br />

der Fürstenspiegel. Während <strong>die</strong> wissenschaftlichen Kommentare zur Politik vor allem<br />

im Bereich der Universitäten <strong>und</strong> Ordensschulen eine Rolle spielen, wenden sich <strong>die</strong><br />

Fürstenspiegel direkt an <strong>die</strong> Träger <strong>von</strong> Regierungsverantwortung. 85 Thomas widmet<br />

sein De regimine principum dem König <strong>von</strong> Zypern (begonnen 1271-73; 86<br />

vervollständigt <strong>von</strong> seinem Schüler Tolomeo da Lucca ca. 1302); Egidio Romano<br />

schreibt seinen Fürstenspiegel im Auftrag des französischen Königs (geschr. 1277-79).<br />

Erfolgreicher als das Werk des Lehrers ist zunächst dasjenige des Schülers. "Auch<br />

wenn nicht jeder König oder Fürst sein kann, so muss doch jeder mit aller Kraft<br />

danach streben, der Herrschaft würdig zu werden," 87 leitet Egidio Romano seinen<br />

84 "Es premiers livres devant sont devisees les natures et li commencemens des choses dou<br />

siecle, et li ensegnement des visces et des vertus, et la doctrine de bone parleure. Mais en ceste<br />

derraine partie vieut mestre Brunet Latin acomplir a son ami ce ke li avoit promis entour le<br />

commencement dou premier livre, la u il dist que son livre defineroit en politique, c'est a dire des<br />

governemens des cités, ki est la plus noble e et la plus haute science et li plus nobles offices ki soit en<br />

tiere, selonc ce que Aristotles prueve en son livre."Ebd., III.73, S. 391. Abgesehen vom Trésor des<br />

Brunetto Latini gibt es auch noch weitere italienische volkssprachliche Versionen der Nikomachischen<br />

Ethik aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts, <strong>die</strong> nicht zuletzt auch <strong>die</strong> aristotelische Betonung<br />

der Politik in eine breitere Öffentlichkeit tragen. So z.B. <strong>die</strong> vom Florentiner Taddeo di Alderotto,<br />

Professor der Medizin, oder <strong>die</strong> vom Sienesen Niccolo Angelico, der ursprünglich aus England<br />

stammte <strong>und</strong> der in der zweiten Hälfte des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts Logik <strong>und</strong> Naturphilosophie an der<br />

Sieneser Universität lehrt. Sie gehören alle wie auch Dante zu jenem recht grossen Kreis <strong>von</strong><br />

Gelehrten des späten 13. <strong>und</strong> frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>erts, <strong>die</strong>, eingebettet in <strong>die</strong> politische Kultur der<br />

Kommunen, sich der Aufgabe widmen, einem durchschnittlich gebildeten Bürgertum Zugang zu den<br />

sie besonders interessierenden Aspekten universitärer Bildung zu verschaffen. Dazu GUTHMÜLLER<br />

(1989), S. 201 ff.; s. a. FIORAVANTI (1991), S. 263<br />

85 Zu den Fürstenspiegeln siehe BERGES (1938); QUAGLIONI (1987) <strong>und</strong> <strong>die</strong> dort zitierte<br />

Literatur.<br />

86 Für <strong>die</strong> Datierung siehe FLÜELER (1992)<br />

87 "... nam licet intitulatus si hic liber de eruditione principum totius tamen populus eru<strong>die</strong>ndus<br />

est per ipsum. Quamvis non nonquolibet possit esse rex vel princeps: quilibet tamen summo opere<br />

studere debet ut talis sit quod dignus sit regere et principari quod esse non potest nisi sicantur et<br />

observentur qua in hoc opere sunt dicenda: totus ergo populis auditor ... [es folgt ein Hinweis Egidios,<br />

291


Fürstenspiegel ein. Damit empfiehlt er sein Werk jedermann. Das Werk wird sofort ins<br />

Französische <strong>über</strong>setzt <strong>und</strong> schon kurz darauf, im Jahr 1288, <strong>über</strong>setzt es ein Sienese<br />

ins Italienische. Anfang des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>über</strong>trägt es der Venezianer Fra Paolo<br />

Minorita ins Venezianische, doch in einer gekürzten, <strong>von</strong> ihm etwas veränderten<br />

Fassung (1313-1315), <strong>die</strong> er dem Dogen der Insel Kreta widmet, <strong>die</strong> damals unter<br />

venezianischer Herrschaft steht. Aber auch das Werk des Thomas <strong>von</strong> Aquin bleibt<br />

nicht nur auf einen kleinen Kreis <strong>von</strong> Lesern beschränkt. Noch ruhen in den<br />

italienischen Bibliotheken Volgare-Übersetzungen in Handschriften des frühen 14.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts, <strong>die</strong> aber noch nicht wissenschaftlich untersucht sind. 88<br />

Das Gedankengut des Aquinaten, damit auch jenes des Aristoteles, wird<br />

ausserdem <strong>über</strong> <strong>die</strong> Form der Predigt in eine breitere Öffentlichkeit getragen. Seit dem<br />

Jahr 1278 werden seine Schriften den Studenten des Dominikanerordens dringlich<br />

empfohlen, nach seiner Heiligsprechung im Jahr 1323 werden sie Pflichtlektüre. 89 Die<br />

Dominikaner gehören nicht nur zu den eifrigsten Predigern im frühen 14.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert, 90 sondern stehen auch in besonders enger Beziehung zur Politik der<br />

Stadtkommunen. 91 In Siena werden sie eingeladen, im Palast der Kommune den<br />

Regierenden zu predigen, 92 Teile des Staatsarchivs befinden sich unter ihrer Obhut,<br />

während <strong>die</strong> Zunft der Richter <strong>und</strong> Notare alle sechs Monate abwechselnd in ihrem<br />

Kloster oder in jenem der Franziskaner ihre Generalversammlung abhält, um <strong>die</strong><br />

Brüder bei <strong>die</strong>ser Gelegenheit <strong>über</strong> Gesetzestreue <strong>und</strong> Tugend sprechen zu hören. 93<br />

dass er <strong>die</strong> Sprache des Buches dem nicht hoch gebildeten Geist des Volkes angepasst habe]." EGIDIO<br />

ROMANO (1277/79), I.I.1. Siehe auch. sienesische Version: "Concio sia cose chè questo libro sia fatta<br />

principalmente per insegnare ai re ed ai principi, nientemeno il popolo può essere insegnato per questo<br />

libro. E perciò che fra 'l popolo poca di gente siano, che abbiano grande sottigliezza d'ingegna, e con<br />

più e grande il popolo meno è la intendimento, secondo che dice il filosofo; perciò in questo libro, che<br />

insegna ciscuno del popolo esser savio e tale che sia degno di governare, l'uomo <strong>die</strong> parlare<br />

leggiermente e grossamente, perciò che 'l popolo non può molto sottili ragioni intendare .... E ciò non<br />

potrebbe il popolo apprendere per questo libro, se le ragioni non fussero leggiero e per esemplo."<br />

EGIDIO ROMANO (1288), ibid.<br />

88 Hinweise bei BERGES (1938), S. 318; Inhaltsverzeichnis eines Volgarizzamento aus dem 14.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert (Mss. Vaticano-Chigiano M. VIII. 158) bei DE LUCA (1954), S. 795 f.<br />

89 Literaturangaben bei BERG / KASPER (1984)<br />

90 DELCORNO (1974); DELCORNO (1977); BATAILLON (1977) [beide mit ausführlichen<br />

Literaturangaben]<br />

91 Dazu VAUCHEZ (1977); SZABÒ-BECHSTEIN (1977)<br />

92 Bspw. für das Jahr 1338: "Si pagano lire 9 e 10 soldi a Frater Pietro di Feci Frate dell'Ordine<br />

dei Predicatori per sua provisione di predicare nel Palazzo."; (zitiert nach Mancini, Mescholane di<br />

Antichità, Bd. 13, c. 128v<br />

93 "Item statutum et ordinatum est quod cum humane convenit creature in cunctis negotiis<br />

Deum habere pre oculis et tam operibus [quam] sermone eidem debitam reverentiam exibere, consules<br />

... teneantur singulis annis ... facere generalem convocationem iudicum et notariorum dicte universitatis<br />

... videlicet de mense ianuarii apud locum fratrum Predicatorum et de mense maii apud locum<br />

fratrum Minorum; et in dicta convocatione fiat sermo per unum ex fratribus dictorum locorum dictis<br />

iudicibus et notariis, et per illum qui sermonem fecerit fiat extortatio circa constantiam legalitas et<br />

conservationis virtutis de his que spectant ad animarum salutem pro dicta universitate et ad bonum<br />

292


Spuren da<strong>von</strong>, wie sehr sich bis in <strong>die</strong> Dreissiger Jahre des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

Aristoteles als Autorität der Politik in der Laienkultur durchgesetzt hat, hinterlassen<br />

<strong>die</strong> Kommentare des Jacopo della Lana (1328) <strong>und</strong> des Ottimo-Commento (1334) zum<br />

12. Gesang des Inferno, in dem Dante <strong>von</strong> der Strafe der in <strong>die</strong> Hölle verdammten<br />

Tyrannen berichtet. Den Begriff des Tyrannen verbinden beide sofort mit der<br />

aristotelischen Staatslehre <strong>und</strong> erweitern ihn um alle mögliche Formen <strong>von</strong><br />

Gewaltherrschaften. Das Gegenteil der Gewaltherrschaften ist <strong>die</strong> aristotelische polis<br />

bzw. polizia oder vita politica. 94 Gleichzeitig empfehlen sie als weiterführende<br />

Literatur <strong>die</strong> Nikomachische Ethik <strong>und</strong> <strong>die</strong> Politik des Aristoteles sowie <strong>die</strong><br />

Fürstenspiegel des Egidio Romano <strong>und</strong> Thomas <strong>von</strong> Aquin. 95<br />

Nebst den Konzepten der polis <strong>und</strong> des Menschen als zoon politikon, der in der<br />

politischen Gemeinschaft Tugend <strong>und</strong> damit irdische Glückseligkeit zu verwirklichen<br />

sucht, ist <strong>die</strong> aristotelische Verfassungslehre für <strong>die</strong> Bürger der italienischen<br />

Kommunen <strong>von</strong> besonderem Interesse. Sie stellt nämlich <strong>die</strong> begrifflichen Gr<strong>und</strong>lagen<br />

bereit, <strong>die</strong> es erlauben, sich mit verschiedenen Herrschaftsformen eines Staates<br />

auseinanderzusetzen. Auf der Gr<strong>und</strong>lage des Aristoteles wird es schliesslich möglich,<br />

<strong>die</strong> Verfassungen der eigenen Gegenwart zu beschreiben, eine Wertung vorzunehmen<br />

<strong>und</strong> das eigene System der Kommune gegen<strong>über</strong> der Einzelherrschaft zu verteidigen.<br />

Im achten Buch der Nikomachischen Ethik sowie im dritten <strong>und</strong> vierten Buch der<br />

Politik erläutert Aristoteles eine erste, einfache Staatsformenlehre. Je nachdem, ob<br />

einer, ob wenige oder ob viele an den Staatsgeschäften teilnehmen, unterscheidet er<br />

drei <strong>gute</strong>, am Gemeinwohl orientierte Verfassungen (Monarchie, Aristokratie, Politie)<br />

<strong>und</strong> drei schlechte, <strong>die</strong> bloss <strong>die</strong> Interessen der Regierenden verfolgen (Tyrannis,<br />

Oligarchie, Demokratie). 96 In einer zweiten Staatsformenlehre, in der er nach der<br />

bestmöglichen Verfassung fragte, entwickelte er <strong>die</strong> Idee einer zweigliedrigen<br />

statum et commodum civitatis Senarum et offitii dominorum Novem." Statuto dei giudici e notai<br />

(1303/06), I.5, S. 49. Beispiel eines prominenten politischen Predigers, der mit aristotelischen<br />

Konzepten arbeitet <strong>und</strong> dessen Predigten uns <strong>über</strong>liefert sind, ist im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert der<br />

Florentiner Dominikaner Remigio Girolami. Siehe <strong>die</strong> Ausgabe seiner Predigten durch Salvadori /<br />

Federici sowie seine politischen Traktate De bono pacis <strong>und</strong> De bono communi, <strong>die</strong> er in den Jahren<br />

1302/04, einer Zeit schwerer Parteikämpfe in Florenz, schrieb; weitere Literaturangaben unten S. *.<br />

94 JACOPO DELLA LANA (1328), I, S. 234 ff.; OTTIMO-COMMENTO (1334), I, S. 211 ff.<br />

95 "Abbiamo toccato brevemente de' modi delle polizìe; e però chi ha diletto di volerne sapere<br />

più diffusamente, trovi l' Etica e la Politica là dove apieno si tratta di quelle: ancora lo libro che fe' fra<br />

Gilio 'De regimine principum', in lo quale distintamente nella terza principal parte sì contene." JACOPO<br />

DELLA LANA (1328), I, S. 237; "Di questa materia tratta pienamente Aristotile ne' suoi libri morali, e<br />

frate Gilio, e Tommaso 'de regimine principum'". OTTIMO-COMMENTO (1334), I, S. 216<br />

96 ARISTOTELES: Politik, III.1279a, S. 189 f.; Ebd.., IV.1289a, S. 239 f.; ARISTOTELES:<br />

Nikomachische Ethik, VIII.1160b, S. 197 f.<br />

293


Mischverfassung aus Oligarchie (hier im Sinne <strong>von</strong> Herrschaft der reichen Minderheit)<br />

<strong>und</strong> Demokratie (hier im Sinne <strong>von</strong> Herrschaft der armen Mehrheit). 97<br />

In der Rezeption der aristotelischen Staatsformenlehre werden <strong>die</strong> Verfassungen<br />

der italienischen Kommunen in erster Linie als eine Herrschaft der Vielen oder als<br />

Volksherrschaft bezeichnet. Weshalb <strong>die</strong>se Zuordnung <strong>die</strong> richtige sei, obwohl in den<br />

italienischen Städten ein Podestà als einzelner an der Spitze der Regierung stehe, wird<br />

auf <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>legung seiner Macht durch das Volk zurückgeführt: "Auch wenn das<br />

Volk sich einen Herrscher wählt, der <strong>über</strong> sie regiert, so ist das Volk doch mehr<br />

Herrscher als der Herrscher selbst, denn er wird vom Volk gewählt, <strong>und</strong> das Volk<br />

bestraft ihn bei schlechter Amtsführung. Und das Volk verabschiedet Gesetze, <strong>die</strong> der<br />

Herrscher, den sie gewählt haben, nicht <strong>über</strong>schreiten darf." 98 Die Wahl des Podestà,<br />

<strong>die</strong> kurzen Amtszeiten in den Kommunen sowohl des Podestà wie auch der anderen<br />

Regierungsmitglieder, Gesetze, <strong>die</strong> vom Volk verabschiedet werden, der Gr<strong>und</strong>satz<br />

der Gesetzmässigkeit der Herrschaft <strong>und</strong> Kontrollverfahren, <strong>die</strong> am Ende jeder<br />

Amtszeit das Handeln der Regierung auf ihre Gesetzmässigkeit <strong>über</strong>prüfen, werden als<br />

Elemente der Volksherrschaft gedeutet.<br />

Anfang des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts zeichnet sich eine Tendenz ab, <strong>die</strong> Kommunen im<br />

aristotelischen Schema mit der Herrschaft der Wenigen gleichzusetzen. 99 Sie<br />

widerspiegelt eine zunehmende Oligarchisierung innerhalb der kommunalen<br />

Regierungssysteme. Denn, nachdem sich Mitte des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>die</strong> unteren<br />

Volksschichten eine Regierungsbeteiligung erkämpft hatten, beginnt sich <strong>die</strong><br />

politische Macht immer mehr in einem kleinen Rat zu konzentrieren, der zunehmend<br />

<strong>von</strong> der oberen Mittelschicht dominiert wird. Diese Entwicklung, <strong>die</strong> auch in Siena zu<br />

beobachten ist, tritt fast durchgehend in allen Städten auf, <strong>die</strong> am System der<br />

Kommune festhalten <strong>und</strong> sich der Alleinherrschaft einer Familie widersetzen. Das<br />

97 Aristoteles, Politik, IV ff. 1288b ff. Dazu RIKLIN (1988), S. 341 ff.<br />

98 "La quinta signoria si è quanto la città ha molti signori, sì come tutto 'l popolo; ... donde noi<br />

vedemo comunemente ne l[e] città d'Italia, che tutto 'l popolo è a chiamare ed ellegere el signore e a<br />

punirlo quand'elli fa male, e che tutto chiamin ellino alcuno signore che li governi, neente meno el<br />

popolo è più signore di lui, perciò ch'esso l'elegge ed esso el punisce quand'elli fa male." EGIDIO<br />

ROMANO (1288): Del reggimento de' principi di Egidio Romano, III.II.2, S. 271; zitiert nach der Übersetzung<br />

eines Sienesen aus dem Jahr 1288. Diese Textstelle ist keine Ergänzung des sienesischen<br />

Übersetzers; sie ist sowohl in der lateinischen Originalversion als auch in der französischen<br />

Übersetzung vorhanden. <strong>Der</strong> letzte Satz steht nur in der lat. <strong>und</strong> franz. Version: "... et etablist touz li<br />

peuples les establissemenz que li sires qu'il ont establi ne puet trespasser." Vgl. TOLOMEO DA LUCCA<br />

(ca. 1302): De regimine principum, IV.1, S. 270.<br />

99 Als <strong>die</strong> Kommune <strong>von</strong> Padua 1328 <strong>von</strong> Can Grande della Scala in sein Reich einverleibt<br />

wird, beschreibt ALBERTINO MUSSATO <strong>die</strong> Verfassungsgeschichte Paduas als einen Werdegang <strong>von</strong><br />

einer "pollitia" oder "communitas" zu einer "oligarcia", dann zu einer "democratia" <strong>und</strong> letztlich zu<br />

einer "tiranides" (De Lite inter Naturam et Fortunam, zitiert bei RUBINSTEIN (1957), S. 170.), Siehe<br />

auch BARTOLUS DA SASSOFERRATO (1355/57), der <strong>die</strong> Regierung der Sieneser Kommune unter den<br />

Nove als eine Regierung der Wenigen charakterisiert.<br />

294


Ideal der Kommune bleibt aber eine breite Regierungsbasis, <strong>die</strong> alle Bürger, <strong>die</strong><br />

grandi, mezzani <strong>und</strong> minori, an der Regierung teilhaben lässt. Verfassungsänderungen,<br />

<strong>die</strong> den Kreis jener, <strong>die</strong> in <strong>die</strong> Regierung gewählt werden können, vergrössert, werden<br />

mit den Begriffen racommunare la città oder recare la città più a comune<br />

umschrieben. Im Rahmen der zweiten aristotelischen Staatsformenlehre wird <strong>die</strong><br />

Verfassung der Kommunen dann als Mischverfassung bezeichnet, <strong>die</strong> Elemente der<br />

Herrschaft der Vielen mit solchen der Herrschaft der Wenigen verbindet. 100<br />

Die aristotelische Staatsformenlehre gestattet aber nicht nur <strong>die</strong> Verfassung der<br />

italienischen Kommunen in ein Schema einzuordnen, sondern macht auch eine relative<br />

Wertung der verschiedenen Verfassungen möglich. Abhängig <strong>von</strong> der jeweiligen<br />

politischen Auffassung, gehen hier jedoch <strong>die</strong> Meinungen auseinander. Deutlich wird<br />

<strong>die</strong>s schon im Trésor Brunetto Latinis. Er ist <strong>über</strong>zeugt da<strong>von</strong>, dass <strong>die</strong> Städte Italiens,<br />

<strong>die</strong> als Kommunen organisiert sind, gegenwärtig <strong>die</strong> beste Verfassung hätten, weil hier<br />

<strong>die</strong> Bürger ihre Herrscher, <strong>die</strong> Podestà, für eine beschränkte Amtszeit selbst wählten<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong>se Wahl jeweils auf Personen falle, <strong>von</strong> denen sie sich für <strong>die</strong> Gemeinschaft der<br />

Stadt <strong>und</strong> für alle Untergebenen den grössten Nutzen versprächen. Er unterscheidet <strong>die</strong><br />

Verfassung der italienischen Kommunen deshalb sowohl <strong>von</strong> jener der französischen<br />

Städte, <strong>die</strong> nicht <strong>die</strong>selbe Unabhängigkeit besitzen, als auch <strong>von</strong> jener der<br />

zeitgenössischen Herrscher, <strong>die</strong> ihre Regierungsmacht an ihre Nachkommen vererben<br />

oder, wie der Kaiser <strong>und</strong> Papst, auf Lebenszeit gewählt werden. 101 Diese Überzeugung<br />

veranlasst ihn auch, in seine Übersetzung der aristotelischen Ethik vom Original<br />

abzuweichen <strong>und</strong> den Text bei der Wertung der verschiedenen Staatsformen in seinem<br />

Sinn umzuändern. Während sich Aristoteles im Klassifikationsschema der<br />

Nikomachischen Ethik für das Königtum ausspricht <strong>und</strong> es vor <strong>die</strong> <strong>gute</strong> Herrschaft der<br />

100 Enrico da Rimini <strong>und</strong> Benzo d'Alessandria: für Venedig; allgemein Engelbert v. Admont<br />

(gest. 1331, De regimine principum), der <strong>die</strong> Verfassungen der für ihn am besten regierten italienischen<br />

Städte als eine zweigliedrige Mischverfassung aus Aristokratie <strong>und</strong> Demokratie beschreibt; dazu<br />

siehe BLYTHE (1992). Albertino Mussato beschreibt im Jahr 1313 den Werdegang der Kommune <strong>von</strong><br />

Padua <strong>von</strong> einer Verfassung der "nobilibus plebeisque mixta" zu einer "tribuniciam potestatem" <strong>und</strong><br />

dann zu einer Regierung der "insignes prioresque Guelforum" (De gestis post mortem Henrici VII, S.<br />

715 ff.); siehe RUBINSTEIN (1957), S. 170 <strong>und</strong> RUBINSTEIN (1965).<br />

101 "Et si comme les gens et les habitations sont diverses, et li us et li droit sont divers parmi le<br />

monde, tot autresi ont il diverses manieres de signories; ... Mais tous signours et tous officiaus, u il<br />

sont perpetuaus a tousjours par lui et par ses oirs, si comme sont rois et quens et chastelains et li autre<br />

samblable; ou il sont a tous les jours de lor vie, si comme est mesire li apostoiles ou l'empereour de<br />

Rome et li autre esleu a lor vie; u il sont par annees, si comme sont maieur et prouvost et la poestés et<br />

la eschievins des cités et des viles; ... Et cil sont en .ii. manieres; uns ki sont en France et es autres<br />

païs, ki sont sozmis a la signorie des rois et des autres princes perpetueus, ki vendent les provostés et<br />

les baillent a ciaus ki plus l'achatent (poi gardent sa bonté ne le proufit des borgois); l'autre est en<br />

Ytalie, que li citain et li borgois et li communité des viles eslisent lor poesté et lor signour tel comme il<br />

quident qu'il soit plus proufitables au commun preu de la vile et de tous lor subtés." Trésor, III.73, S.<br />

391 f.<br />

295


Wenigen <strong>und</strong> der Vielen setzt, gibt Brunetto Latini der Herrschaft der Vielen den<br />

Vorzug. Diese bezeichnet er als <strong>die</strong> Herrschaft der Kommune, entsprechend der<br />

Verfassung, <strong>die</strong> er näher im letzten Teil des Trésor beschreibt <strong>und</strong> <strong>die</strong> er <strong>von</strong> seiner<br />

Heimatstadt Florenz <strong>und</strong> den anderen Städten Mittel- <strong>und</strong> Oberitaliens her kennt. 102<br />

Thomas <strong>von</strong> Aquin hingegen, der im Königreich <strong>von</strong> Neapel gross geworden ist<br />

<strong>und</strong> sich später vor allem in Paris aufhält, spricht sich für eine gemässigte<br />

Alleinherrschaft aus. In der Summa theologica erweitert er das aristotelische Modell<br />

der zweigliedrigen Mischverfassung zu einer dreigliedrigen Mischverfassung, indem<br />

er <strong>über</strong> <strong>die</strong> zwei <strong>von</strong> Aristoteles verwendeten Bausteine "Volksherrschaft" <strong>und</strong><br />

"Herrschaft der Wenigen" ein monarchisches Element setzt. Das monarchische<br />

Element an der Spitze der Verfassung soll Garant sein für Einigkeit <strong>und</strong> Frieden,<br />

während das aristokratische <strong>und</strong> das demokratische Element institutionelle Schranken<br />

errichten, <strong>die</strong> eine Tyrannenherrschaft zu verhindern suchen. So sollen einige Wenige<br />

kraft ihrer Tugend an der Herrschaft des Einzelnen teilhaben, der Herrscher <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Amtsträger sollen jedoch sowohl aus allen als auch <strong>von</strong> allen gewählt werden. 103 Als<br />

eine solche Mischverfassung betrachten namentlich <strong>die</strong> Bürger <strong>von</strong> Venedig ihr<br />

politisches System, wo ein auf Lebenszeit gewählter Doge <strong>von</strong> einem Kleinen <strong>und</strong><br />

einem Grossen Rat umgeben ist. In der Ausgewogenheit ihrer Verfassung, <strong>die</strong> sich<br />

durch das Amt des Dogen wesentlich <strong>von</strong> jenen der Kommunen Mittel- <strong>und</strong><br />

Oberitaliens unterscheidet, sehen sie den Gr<strong>und</strong> für ihren Erfolg in der Wahrung <strong>von</strong><br />

Frieden, Sicherheit, Gemeinwohl, Recht <strong>und</strong> Freiheit.<br />

<strong>Der</strong> Augustinerpater Egidio Romano schliesslich hält sich in seinem sehr<br />

populären Fürstenspiegel wiederum an das Muster seines Auftraggebers, des<br />

französischen Königshauses. Er plä<strong>die</strong>rt für eine Erbmonarchie. Stoff für sein Plädoyer<br />

bieten ihm gerade <strong>die</strong> politischen Zustände in den italienischen Städten. So sei dort <strong>die</strong><br />

Herrschaft der Vielen oft durch Tyrannen abgelöst worden, eben weil <strong>die</strong> Kommunen<br />

ihre Regierung wählten. Die Unfähigkeit der Parteien, sich in der Wahl zu einigen, säe<br />

oft Zwietracht, weshalb in der Folge der Regierungssitz vakant bleibe, bis sich meist<br />

ein Tyrann durchsetze. Insgesamt widmet Egidio Romano ein ganzes Kapitel der<br />

Widerlegung <strong>von</strong> Argumenten, "<strong>die</strong>", wie er sagt, "einige Leute vorbringen würden,<br />

um zu beweisen, dass Länder <strong>und</strong> Städte besser <strong>von</strong> mehreren regiert werden als <strong>von</strong><br />

einem."<br />

102 Seignouries sont de .iii. manieres, l'une est des rois, la seconde est des bons, la tierce est des<br />

communes, laquele est la trés millour entre ces autres. Et chascune maniere a son contraire; ..." Ebd.,<br />

II.44, S. 211. Vgl. Text im alexandrinischen Kompendium: "Principatus civiles tres sunt, principatus<br />

regum et principatus bonorum et principatus comunitatum. Et omnium optimus est regum principatus,<br />

et omnis principatus contrarium habens corrumpet ipsum et tollet a forma sua..." HERMANNUS<br />

ALEMANNUS (1244), S. LXXIII<br />

103 THOMAS VON AQUIN (1269/72), Summa theologica, I-II.105.1, zitiert bei RIKLIN (1992), S.<br />

71 <strong>und</strong> BLYTHE (1992), S. 51 f.<br />

296


<strong>Der</strong> <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s reiht sich in <strong>die</strong>se Diskussion ein, <strong>die</strong><br />

auf der Gr<strong>und</strong>lage der aristotelischen Verfassungs- oder Staatsformenlehre geführt<br />

wird. Auf das Inferno des entfesselten Egoismus, wo im Sinne des Aristoteles jeder<br />

nur seinen eigenen Nutzen sucht, folgt nicht <strong>die</strong> Alleinherrschaft, sondern eine durch<br />

Gerechtigkeit gestärkte <strong>und</strong> geläuterte Kommune, <strong>die</strong> das Gemeinwohl verwirklicht.<br />

Dargestellt ist im Purgatorio <strong>die</strong> Kommune. Sie ist an <strong>die</strong> Gerechtigkeit geb<strong>und</strong>en,<br />

versinnbildlicht auch das Gemeinwohl <strong>und</strong> beruht auf der Basis einer vielfältigen<br />

Bürgerschaft. Die Reihe der Bürger, <strong>die</strong> sich am Seil der Gerechtigkeit <strong>und</strong> Eintracht<br />

halten, zeigt sowohl Bürger in aufwendiger <strong>und</strong> reicher Tracht als auch solche, <strong>die</strong> ein<br />

schlichtes Kleid tragen. Sie entsprechen dem Ideal der Kommune, das trotz<br />

Oligarchisierung auch noch im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>von</strong> einer breiten Bürgerbasis<br />

ausgeht. Die Alleinherrschaft indessen erscheint im Inferno in der Figur des Tyrannen.<br />

<strong>Der</strong> <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s argumentiert so auf der Gr<strong>und</strong>lage der<br />

aristotelischen Staatsformenlehre für <strong>die</strong> Beibehaltung des politischen Systems der<br />

Kommune als einer Herrschaftsform, <strong>die</strong> auf einer Vielzahl <strong>von</strong> Herrschaftsträgern<br />

beruht. Im Inferno zerstören <strong>die</strong> Gewaltherrschaften das politische Leben einer Stadt,<br />

<strong>die</strong> vita politica oder polizie. Entsprechend den Ausführungen Jacopo della Lanas <strong>und</strong><br />

des Ottimo-Commento zum 12. Gesang des Inferno sind hier mit dem Tyrannen, <strong>über</strong><br />

dem <strong>die</strong> Inschrift TYRAMNIDES prangt - Gewaltherrschaften - alle drei korrumpierten<br />

Formen der aristotelischen Staatslehre dargestellt, d.h. Regierungen <strong>von</strong> Einem,<br />

Wenigen oder Vielen, <strong>die</strong> nur ihr eigenes Interesse verfolgen. Im Purgatorio aber<br />

vermag einzig <strong>die</strong> Kommune, <strong>die</strong> durch Gerechtigkeit geeint das Gemeinwohl<br />

verwirklicht, <strong>die</strong> Voraussetzung für das irdische Para<strong>die</strong>s schaffen.<br />

9.5. Tolomeo da Lucca<br />

In den Ausführungen Tolomeos da Lucca finden sich alle Elemente, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

Sieneser Kommune als Machtträgerin des Purgatorio theoretisch bestärken. 104 Tolomeo<br />

da Lucca (1236-1327) ist Schüler <strong>und</strong> Vertrauter <strong>von</strong> Thomas <strong>von</strong> Aquin <strong>und</strong> beendet<br />

unter dessen Namen den <strong>von</strong> Thomas unvollendet gelassenen Fürstenspiegel. Er<br />

verleiht dem Werk seines Lehrers im zweiten Teil eine politische Wendung, <strong>die</strong> das<br />

krisengeschüttelte System der Kommune, wie es sich in Nord- <strong>und</strong> Mittelitalien<br />

104 Vgl. SCHMIDT (1996); BARON (1992), S. 72 ff.; MUNDY (1989), S. 822 ff.; RUBINSTEIN<br />

(1979), S. 190 f.; DAVIS (1974); SKINNER (1978), S. 55; BLYTHE (1992), S. 92 ff. sowie <strong>die</strong> dort<br />

besprochene Literatur.<br />

297


herausgebildet hat, als <strong>die</strong> beste Herrschaftsform darstellt. 105 Dabei verknüpft er <strong>die</strong><br />

aristotelische Staatsformenlehre mit all den Elementen, <strong>die</strong> zum republikanischen<br />

Selbstbewusstsein der Bürger in den italienischen Kommunen gehören: Er greift auf<br />

den Begriff der civitas zurück, vergleicht <strong>die</strong> Kommunen mit der griechischen Polis<br />

<strong>und</strong> der römischen Republik <strong>und</strong> sieht <strong>die</strong> Tugend als einziges Kriterium für<br />

Herrschaftsfähigkeit. Und schliesslich beschreibt er sie auch noch als politisches<br />

System, das allein <strong>die</strong> Rahmenbedingungen zu schaffen vermag, um das irdische<br />

Para<strong>die</strong>s zu verwirklichen.<br />

Während zum Beispiel Thomas <strong>von</strong> Aquin im ersten Teil des Fürstenspiegels oder<br />

Egidio Romano <strong>die</strong> Kommunen Italiens als schlechte Beispiele für <strong>die</strong> Herrschaft der<br />

Vielen beschreiben, weil sie <strong>von</strong> Parteikonflikten zerrissen würden <strong>und</strong> sich deshalb<br />

meist in eine Tyrannei verkehrten, folgt Tolomeo da Lucca <strong>die</strong>ser Argumentation<br />

nicht. Sie ist für ihn kein Argument gegen <strong>die</strong> Herrschaftsform der Vielen, sondern<br />

zeigt für ihn nur auf, dass eine Alleinherrschaft in Italien nicht zu verwirklichen ist,<br />

weil <strong>die</strong> Bereitschaft der Bevölkerung zu gering sei, sich unterzuordnen. In Italien<br />

könnten nur Herrschaftsformen <strong>gute</strong> Resultate erzielen, <strong>die</strong> durch Mässigkeit <strong>und</strong><br />

Ämterrotation der Freiheitsliebe der Bevölkerung Rechnung trügen:<br />

"All jene, <strong>die</strong> standhaften Sinnes <strong>und</strong> furchtlosen Herzens sind, <strong>und</strong> <strong>die</strong> ihrer<br />

Intelligenz vertrauen, können nicht anders regiert werden als mittels einer<br />

gemässigten Herrschaft (principatus politicus) ... Eine solche Herrschaft<br />

findet sich vorwiegend in Italien, weil <strong>die</strong> Bevölkerung hier aufgr<strong>und</strong> <strong>die</strong>ser<br />

Eigenschaften weniger unterwürfig ist. Dies führt aber auch dazu, dass eine<br />

Alleinherrschaft (principatus despoticus) nur errichtet werden kann, wenn<br />

<strong>die</strong> Herrscher tyrannisieren. Von daher kommt es auch, dass <strong>die</strong> Inseln<br />

Italiens, <strong>die</strong> immer <strong>von</strong> Königen oder Fürsten regiert wurden wie Sizilien,<br />

Sardinien <strong>und</strong> Korsika, immer Tyrannenherrschaften waren. Und in den<br />

Teilen Liguriens, der Emilia <strong>und</strong> Flaminia, <strong>die</strong> heute Lombardei heisst, kann<br />

niemand eine ununterbrochene Herrschaft ausüben, ohne dabei ein Tyrann zu<br />

sein, ausgenommen der Doge <strong>von</strong> Venedig, dessen Herrschaft aber<br />

gemässigt ist: Daraus ergibt sich, dass sich in <strong>die</strong>sen Regionen eine<br />

Herrschaft auf Zeit viel besser behauptet." 106<br />

105 Tolomeo da Lucca vermied es dabei, sich namentlich zu nennen. Seine Gedanken galten als<br />

das Werk des Aquinaten, was ihm sicherlich grössere Autorität <strong>und</strong> Wirkung verlieh.<br />

106 "Qui autem virilis animi et in audacia cordis, et in confidentia suae intelligentiae sunt, tales<br />

regi non possunt nisi principatu politico, communi nomine extendendo ipsum ad aristocraticum. Tale<br />

autem dominium maxime in Italia viget: <strong>und</strong>e minus subiicibiles fuerunt semper propter dictam<br />

causam. Quod si velis trahere ad despoticum principatum, hoc esse non potest nisi domini tyrannizent:<br />

<strong>und</strong>e partes insulares eiusdem, quae semper habuerunt reges et principes, ut Sicilia, Sardinia et<br />

Corsica, semper habuerunt tyrannos. In partibus autem Liguriae, Aemiliae et Flaminiae, quae ho<strong>die</strong><br />

Lombardia vocatur, nullus principatum habere potest perpetuum, nisi per viam tyrannicam, duce<br />

Venetiarum excepto, qui tamen temperatum habet regimen: <strong>und</strong>e principatus ad tempus melius<br />

sustinetur in regionibus supradictis." TOLOMEO DA LUCCA (ca. 1302): De regimine principum, IV.8,<br />

S. 276<br />

298


Die Herrschaft auf Zeit entspricht der kommunalen Verfassungsordnung, <strong>die</strong> sich<br />

durch rasche Ämterrotation <strong>und</strong> beschränkte Amtszeiten auszeichnet.<br />

Tolomeo da Lucca ist der Spross einer Luccheser Mittelstandsfamilie. Nach dem<br />

Eintritt in den Dominikanerorden stu<strong>die</strong>rt er in Paris <strong>und</strong> kehrt gemeinsam mit Thomas<br />

<strong>von</strong> Aquin im Jahr 1268 nach Italien zurück. Nach dessen Tod im Jahr 1274 ist<br />

Tolomeo Prior in mehreren toskanischen Häusern der Dominikaner. 107 Er stirbt 1327<br />

hochbetagt als Bischof <strong>von</strong> Torcello (in der Nähe <strong>von</strong> Venedig), nachdem er in den<br />

ersten zwei Jahrzehnten des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts einige Zeit am päpstlichen Hof in<br />

Avignon verbracht hat.<br />

Thomas <strong>von</strong> Aquin beschreibt im ersten, <strong>von</strong> ihm verfassten Teil des<br />

Fürstenspiegels, <strong>die</strong> natürliche Begründung der civitas, leitet das Konzept des<br />

Menschen als animal politicum her <strong>und</strong> erörtert <strong>die</strong> einfache aristotelische<br />

Staatsformenlehre. Dabei gibt er der Herrschaft des Einzelnen den Vorzug. Da<br />

Thomas <strong>von</strong> Aquin aber mit Aristoteles <strong>die</strong> vorherrschende augustinische Staatslehre<br />

zu <strong>über</strong>winden sucht, <strong>die</strong> Herrschaft als göttliche Strafe für <strong>die</strong> schuldhafte Natur des<br />

Menschen betrachtet, anerkennt er gr<strong>und</strong>sätzlich jede am Gemeinwohl orientierte<br />

Herrschaft als gut. In der Fortsetzung des Fürstenspiegels gibt Tolomeo da Lucca<br />

indessen der politischen Theorie des Thomas <strong>von</strong> Aquin eine republikanische<br />

Wendung. Dies erreicht er, indem er <strong>die</strong> augustinische Staatslehre partiell wieder<br />

einführt, um theoretische Gr<strong>und</strong>lagen zu schaffen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> kommunale Regierungsform<br />

als <strong>die</strong> einzige ideale Verfassung gelten lassen. So <strong>über</strong>nimmt er <strong>von</strong> Augustinus <strong>die</strong><br />

Theorie, dass politische Herrschaft <strong>die</strong> Folge der Vertreibung aus dem irdischen<br />

Para<strong>die</strong>s sei, sich also auf <strong>die</strong> <strong>von</strong> Sünde befleckte Natur des Menschen zurückführt, 108<br />

<strong>über</strong>trägt <strong>die</strong>sen Gedanken aber nur auf <strong>die</strong> Alleinherrschaft. Die <strong>gute</strong> Herrschaft der<br />

Wenigen <strong>und</strong> der Vielen, <strong>die</strong> Tolomeo da Lucca unter der Bezeichnung des regimen<br />

politicum zusammenfasst, sind für ihn hingegen Herrschaftsformen, <strong>die</strong> den<br />

Verhältnissen des irdischen Para<strong>die</strong>ses, dem status innocentiae, entsprechen.<br />

Für Tolomeo da Lucca kann es, wenn <strong>die</strong> menschliche Natur noch so vollkommen<br />

wäre, wie sie einst zur Zeit des status innocentiae war, also vor dem Sündenfall, keine<br />

königliche Herrschaft (regimen regale) geben, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Menschen dazu verurteilt, einem<br />

Herrscher zu <strong>die</strong>nen. Gleichzeitig aber stellt er sich <strong>die</strong> Zeit des status innocentiae<br />

nicht als herrschaftsfrei vor, sondern er meint, wäre der Mensch ohne Sünde, gäbe es<br />

nur freiwillige Unterwerfung unter jene, <strong>die</strong> dank ihrer <strong>über</strong>legenen Natur <strong>und</strong> ihres<br />

107 Für <strong>die</strong> enge Beziehung der Dominikaner zur Politik der Stadtkommunen siehe VAUCHEZ<br />

(1977); SZABÒ-BECHSTEIN (1977).<br />

108 Zur Staatslehre des Augustinus siehe KOSLOWSKI (1982), S. 58 ff.<br />

299


Ver<strong>die</strong>nstes ausgewählt würden, <strong>die</strong> Gemeinschaft zu regieren. Eine Herrschaft, <strong>die</strong><br />

auf dem Gr<strong>und</strong>satz aufbaut, jedem entsprechend seiner natürlichen Veranlagungen <strong>und</strong><br />

Meriten einen Platz in der Regierung <strong>und</strong> Organisation der Gesellschaft zu geben,<br />

nennt er politische Herrschaft (regimen politicum) 109 <strong>und</strong> setzt sie mit den <strong>gute</strong>n Ausprägungen<br />

sowohl der aristotelischen Herrschaft der Vielen (politia) als auch der<br />

Herrschaft der Wenigen (aristocratia) gleich 110 sowie schliesslich auch mit der<br />

zweigliedrigen Mischverfassung der zweiten Staatsformenlehre des Aristoteles, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

Herrschaft der Vielen mit der Herrschen der Wenigen verbindet. Da <strong>die</strong><br />

Herrschaftsform des einen für Tolomeo da Lucca unweigerlich mit der sündhaften<br />

Natur des Menschen verb<strong>und</strong>en ist, glaubt er, <strong>die</strong> Form des <strong>gute</strong>n, am Gemeinwohl<br />

orientierten Königtums ausschliessen zu können, weshalb er das regimen regale dem<br />

regimen despoticum annähert. 111 Die Verbindung <strong>von</strong> Augustinus <strong>und</strong> Aristoteles<br />

erlaubt ihm so eine Zweiteilung der Verfassungsformen: Auf der einen Seite <strong>die</strong><br />

Monarchie in Verbindung mit der sündhaften Natur der Menschen, auf der anderen<br />

Seite <strong>die</strong> "politischen" Staatsformen, <strong>die</strong> auf einer Mehrzahl <strong>von</strong> Herrschaftsträgern<br />

beruhen. Sie entsprechen dem Zustand <strong>von</strong> Herrschaft, den <strong>die</strong> Menschen zur Zeit des<br />

status innocentiae verwirklicht hätten, wenn sie durch den Sündenfall nicht aus dem<br />

irdischen Para<strong>die</strong>s vertrieben worden wären.<br />

Indessen geht Tolomeo da Lucca da<strong>von</strong> aus, dass <strong>die</strong> Menschen auch nach dem<br />

Sündenfall <strong>die</strong> Möglichkeit haben, durch Tugend <strong>und</strong> Weisheit einen Zustand zu<br />

verwirklichen, der jenem des status innocentiae beziehungsweise dem irdischen<br />

Para<strong>die</strong>s gleichkommt. Dies erlaubt ihm <strong>die</strong> Schlussfolgerung zu ziehen, "... dass all<br />

jene, <strong>die</strong> standhaften Sinnes <strong>und</strong> furchtlosen Herzens sind, <strong>und</strong> <strong>die</strong> ihrer Intelligenz<br />

vertrauen, nicht anders regiert werden könnten als mittels eines principatus politicus....<br />

In jenen Provinzen aber, <strong>die</strong> serviler Natur sind, kann nur ein principatus despoticus<br />

herrschen, eingeschlossen das principatus regale." 112<br />

Tolomeo da Lucca ist schliesslich <strong>über</strong>zeugt da<strong>von</strong>, dass <strong>die</strong> Bevölkerung in<br />

Italien <strong>die</strong> charakterlichen Voraussetzungen besitzt, um ein principatus politicus oder<br />

109 "Primo quidem, si referamus dominium ad statum integrum humanae naturae, qui status<br />

innocentiae apellatur, in quo non fuisset regale regimen sed politicum, eo quod tunc non fuisset<br />

dominium quod servitutem haberet, sed praeeminentiam et subiectionem in disponendo et gubernando<br />

multitudinem sec<strong>und</strong>um merita cuiuscumque, ut sic vel in influendo vel in recipiendo influentiam<br />

quilibet esset dispositus sec<strong>und</strong>um congruentiam suae naturae." TOLOMEO DA LUCCA (ca. 1302): De<br />

regimine principum, II.9, S. 244<br />

110 Ebd., IV.1, S. 270<br />

111 Ebd.., II.8 f., S. 243 f.; III.7; III.11 ("de principatu despotico, quis est et qualiter ad regalem<br />

reducitur); siehe BLYTHE (1992), S. 98 ff.<br />

112 "Quaedam autem provinciae sunt servilis naturae: et tales gubernari debent principatu<br />

despotico, includendo in despotico etiam regale. Qui autem virilis animi et in audacia cordis, et in<br />

confidentia suae intelligentiae sunt, tales regi non possunt nisi principatu politico, communi nomine<br />

extendendo ipsum ad aristocraticum." Ebd.., IV.8, S. 276 [Im Text in umgekehrter Reihenfolge<br />

zitiert.]<br />

300


egimen politicum zu verwirklichen. Gleichzeitig bewirke jedoch ihre Freiheitsliebe,<br />

<strong>die</strong> er dem Einfluss des Planeten Mars zuschreibt, dass eine Alleinherrschaft nur als<br />

Tyrannei ausgeübt werden könne. Nur ein regimen politicum trage durch Mass <strong>und</strong><br />

Ämterrotation dem Wesen der Bevölkerung Italiens Rechnung, da niemand, "der sich<br />

nach Freiheit sehne, vor den Regierenden den Hals zu beugen habe." 113 Seine Schrift ist<br />

sowohl eine Warnung an <strong>die</strong> Bürger der Kommunen, ihr politisches System nicht<br />

aufzugeben als auch Ausdruck des Selbstbewusstseins eines Bürgers, der sich mit dem<br />

System der Kommune identifiziert. Deutlich wird <strong>die</strong>ser zeitgenössischer Bezug<br />

sowohl in Tolomeos Ausführungen, wie <strong>die</strong> Verfassung eines regimen politicum<br />

ausgestaltet sein muss als auch im bewussten Vergleich der italienischen Kommunen<br />

mit Vorbildern aus der Zeit des antiken Griechenlands <strong>und</strong> Roms.<br />

Tolomeo da Lucca knüpft das regimen politicum an Voraussetzungen, <strong>die</strong> er<br />

weitgehend den Verfassungen der italienischen Kommunen nachzeichnet. Nebst den<br />

Gr<strong>und</strong>sätzen zeitlicher Beschränkung <strong>von</strong> Herrschaft <strong>und</strong> Vielzahl <strong>von</strong><br />

Herrschaftsträgern (pluralitas), bedingt es folgende Merkmale: Die Herrschaft muss<br />

gesetzmässig sein <strong>und</strong> auf schriftlich niedergelegten Gesetzen beruhen, <strong>die</strong> das Volk<br />

(multitudo) verabschiedet hat. An <strong>die</strong>se Gesetze sind <strong>die</strong> Regierenden geb<strong>und</strong>en. Diese<br />

werden jeweils ohne Rücksicht auf familiäre Herkunft gewählt. Ausschlaggebend für<br />

<strong>die</strong> Wahl sollen Tugend <strong>und</strong> Glaube an <strong>die</strong> Gebote Gottes sein. Um zu garantieren,<br />

dass <strong>die</strong> Regierenden im Interesse aller handeln, empfiehlt Tolomeo da Lucca <strong>die</strong><br />

Wahl <strong>von</strong> Bürgern aus der Mittelschicht; denn <strong>die</strong> allzu mächtigen Reichen hätten <strong>die</strong><br />

Neigung, zu tyrannisieren, während solche aus zu tiefer sozialer Stellung oft<br />

versuchten, auf Kosten der Reichen nur <strong>die</strong> Interessen der Armen zu vertreten. Die<br />

zeitliche Beschränkung der Herrschaft ist notwendig, damit sich <strong>die</strong> Bürger darin<br />

kontinuierlich ablösen. Als wichtig erachtet Tolomeo da Lucca, dass den<br />

Untergebenen sowohl möglich sei, <strong>die</strong> Regierenden abzusetzen als auch selbst zu<br />

gegebener Zeit an <strong>die</strong> Herrschaft zu gelangen. So verlangt er auch ein<br />

Kontrollverfahren am Ende jeder Amtszeit, ob <strong>die</strong> Regierenden in der vergangenen<br />

Periode gesetzmässig gehandelt haben. Insbesondere in der Durchsetzung der<br />

Strafgerichtsbarkeit fordert er, dass das Gesetzesmass ja nicht <strong>über</strong>schritten werde.<br />

Eher rät er zu einer nicht allzu harten Anwendung des Rechts <strong>und</strong> regt dazu an,<br />

gegebenenfalls auch <strong>von</strong> der Möglichkeit Gebrauch zu machen, Strafen zu erlassen.<br />

Während sich Tolomeo da Lucca für <strong>die</strong> Ausgestaltung des regimen politicum an<br />

der kommunalen Verfassung orientiert, wie sie sich während des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

113 "Confidentia subditorum sive dominandi in suo tempore congruo, reddit ipsos ad libertatem<br />

audaces, ne colla submittant regentibus: <strong>und</strong>e oportet politicum regimen esse suave." Ebd.., II.8, S.<br />

244<br />

301


namentlich in seiner Heimat, der Toskana, herausgebildet hat, sind seine grossen<br />

Vorbilder des regimen politicum in der griechischen <strong>und</strong> römischen Antike zu finden.<br />

Zwar bindet er das regimen politicum an das biblische Bild des irdischen Para<strong>die</strong>ses,<br />

doch schliesst <strong>die</strong>s für ihn <strong>die</strong> Möglichkeit nicht aus, dass auch Nicht-Christen<br />

möglich ist, ihre Natur bis hin zur Imitierung des status innocentiae zu<br />

vervollkommnen. So führt ihn seine Auseinandersetzung mit der Politik des<br />

Aristoteles dazu, <strong>die</strong> italienischen Kommunen direkt mit der griechischen Polis <strong>und</strong><br />

der zweigliedrigen Mischverfassung Karthagos zu vergleichen, “um zu zeigen, dass<br />

<strong>die</strong> Herrschaft bei den Griechen, besonders zur Zeit des Aristoteles, stark mit der<br />

unseren <strong>über</strong>einstimmte.” 114 Die Karthager, <strong>die</strong> Tolomeo da Lucca als Chalcedonier<br />

bezeichnet, sind für ihn Griechen. <strong>Der</strong> Vergleich ihrer Verfassung mit jener der Städte<br />

in der Toskana interessiert ihn besonders, weil <strong>die</strong> Verfassung Karthagos stabil<br />

gewesen sei, <strong>die</strong> Eintracht der Bürger zu erhalten vermochte <strong>und</strong> <strong>die</strong> Stadt vor einer<br />

Tyrannenherrschaft bewahrt hatte.<br />

Die antiken, heidnischen Römer aus der Zeit der Republik sind indessen für<br />

Tolomeo da Lucca das beste Beispiel <strong>von</strong> Männern, <strong>die</strong> ein solches Mass an Tugend<br />

<strong>und</strong> Weisheit erlangten, dass sie in Nachahmung des status innocentiae ein regimen<br />

politicum zu verwirklichen wussten. 115 Sie haben für ihn <strong>die</strong> beste Ordnung aller Zeiten<br />

errichtet, weshalb er zur Illustration, gestützt auf <strong>die</strong> Geschichtsschreibung, <strong>die</strong><br />

Institutionen des römischen Staatswesens einzeln darstellt. 116 Dabei unterscheidet er<br />

verschiedene Epochen der republikanischen Verfassung Roms <strong>und</strong> ordnet sie jeweils<br />

einer aristotelischen Staatsform zu, <strong>die</strong> unter seinen Begriff des regimen politicum<br />

fällt: Die frühe Epoche der Konsuln nennt er als Beispiel der Herrschaft der Wenigen<br />

(aristocratia), <strong>die</strong> Zeit der Volkstribunen <strong>und</strong> des Senats als Herrschaft der Vielen<br />

(politia) 117 <strong>und</strong> zuletzt beschreibt er <strong>die</strong> römische Verfassung auch als Mischverfassung<br />

114 "Haec pro tanto sunt dicta ad ostendendum regimen Graecorum multum concordare cum<br />

nostro, etiam tempore Aristotelis." Ebd.., IV.19, S. 285. Direkter Vergleich mit der Verfassung <strong>von</strong><br />

Karthago. Die Karthager, <strong>die</strong> Tolomeo da Lucca als Chalcedonier bezeichnet, waren für ihn Griechen.<br />

115 "... quia Romana respublica magis ordinem praecipuum tenuit, et post Tarquinium expulsum<br />

a regno gradu officialium ponitur ab historiarum sciptoribus, de ipsis specialiter tamquam aliorum<br />

exemplaribus est agendum" Ebd.., IV.26, S. 289; es folgte ein Überblick <strong>über</strong> <strong>die</strong> verschiedenen<br />

Institutionen Roms während der römischen Republik.<br />

116 "... quia Romana respublica magis ordinem praecipuum tenuit, et post Tarquinium expulsum<br />

a regno gradu officialium ponitur ab historiarum sciptoribus, de ipsis specialiter tamquam aliorum<br />

exemplaribus est agendum" Ebd., IV.26, S. 289; es folgte ein Überblick <strong>über</strong> <strong>die</strong> verschiedenen<br />

Institutionen Roms während der römischen Republik.<br />

117 "De hoc autem principatu in praesenti libro est pertractandum: quem Philsophus sic<br />

distinguit in 3 Polit., et supra ostensum est in principio libri: quia si tale regimen gubernatur per<br />

paucos et virtuosos, vocatur "Aristocratia," ut per duos consules, vel etiam dictatorem in urbe Romana<br />

in principio expulsis regibus. Si autem per multos, veluti per consules, dictatorem et tribunos, sicut in<br />

processu temporis in eadem contigit urbe, postea vero senatores, ut historiae narrant; tale regimen<br />

"Politiam" appellant ..." Ebd., IV.1, S. 270<br />

302


einer Herrschaft der Vielen <strong>und</strong> der Wenigen, entsprechend der zweiten<br />

Staatsformenlehre des Aristoteles in der Politik: Die Konsuln, Diktatoren <strong>und</strong><br />

Vorsteher des Reiterheers bezeichnet er als aristokratisches Element, während <strong>die</strong><br />

Volkstribunen, <strong>die</strong> einige Zeit später eingeführt wurden, der Verfassung ein<br />

demokratisches Element hinzufügten. Verstärkt sei das demokratische Element durch<br />

<strong>die</strong> zunehmende Macht des Senats geworden, da er vom Volk (multitudo) gewählt<br />

wurde. Zuletzt habe <strong>die</strong> römische Verfassung, weil <strong>die</strong> Macht einiger Weniger<br />

<strong>über</strong>handnahm, auch oligarchische Züge erhalten. Obwohl Tolomeo da Lucca<br />

vielmehr <strong>die</strong> Blütezeit der römischen Republik betont, führt er schliesslich auch <strong>die</strong><br />

Dekadenz der römischen Verfassung am Ende der republikanischen Epoche vor<br />

Augen. So verurteilt er im Rahmen seiner Darstellung Roms als Mischverfassung das<br />

Hervortreten des oligarchischen Elements <strong>und</strong> weist darauf hin, dass in jener Zeit der<br />

Bürgerkrieg ausbrach, der im antiken Rom das regimen politicum beendet hat. Das<br />

römische Kaisertum, das auf den Sieg Caesars <strong>über</strong> Pompejus <strong>und</strong> Cato folgte,<br />

verurteilt er als regimen despoticum. 118<br />

Indem Tolomeo da Lucca <strong>die</strong> Verfassungen Roms mit den Staatsformen des<br />

Aristoteles in Beziehung setzt, gibt er schliesslich dem historischen Selbstbewusstsein<br />

der italienischen Kommunen einen anerkannten theoretischen Rahmen. Ihr<br />

Selbstbewusstsein, das sich auf <strong>die</strong> römische Republik beruft <strong>und</strong> vor der Usurpation<br />

der Macht durch einen einzelnen warnt, fügt sich so in <strong>die</strong> Aristotelesrezeption ein, <strong>die</strong><br />

im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>die</strong> Auseinandersetzung um <strong>die</strong> politischen<br />

Herrschaftsformen bestimmt. Es widerspricht namentlich dem in jener Zeit äusserst<br />

populären Fürstenspiegel des Egidio Romano, der ebenfalls auf der Gr<strong>und</strong>lage des<br />

Aristoteles <strong>die</strong> Idee der Erbmonarchie nach Vorbild des französischen Königtums<br />

verbreitet. Die lange Blütezeit der römischen Republik <strong>über</strong> eine Zeitdauer <strong>von</strong> 444<br />

Jahren sowie <strong>die</strong> Tatsache, dass sich <strong>die</strong> Form des regimen politicum insbesondere im<br />

zeitgenössischen Italien ausgebreitet hat, 119 sind für Tolomeo da Lucca ausserdem<br />

Beweis, dass <strong>die</strong> Bevölkerung in Italien gr<strong>und</strong>sätzlich <strong>die</strong> charakterlichen<br />

Voraussetzungen für ein regimen politicum wie Standfestigkeit, Kühnheit <strong>und</strong> Glaube<br />

an <strong>die</strong> eigene Intelligenz erfüllt. Ihre geringe Bereitschaft, sich unterzuordnen sei <strong>die</strong><br />

118 "Per quod habetur quod in regimine Romano a regum expulsione dominium fuerit<br />

politicum, usque ad usurpationem imperii, quod fuit quando Julius Caesar ... singulare sibi assumpsit<br />

dominium et monarchiam, convertitque politiam in despoticum principatum, sive tyrannicum." Ebd.,<br />

IV.1, S. 270<br />

119 Ebd.., II.8, S. 243; IV.8, S. 276. Besonders geeignet für ein "regimen politicum" hält<br />

Tolomeo da Lucca ganz allgemein <strong>die</strong> Städte (sowohl <strong>die</strong> in Italien als auch in Germanien, Gallien<br />

oder in Skythien / an der Levante), während er den Eindruck hat, dass grössere territoriale Einheiten<br />

wie <strong>die</strong> Provinzen eher zu einem "regimen regale" neigten. Dabei erwähnt er als Ausnahme <strong>die</strong> Weltherrschaft<br />

der antiken römischen Republik sowie <strong>die</strong> Herrschaft einiger zeitgenössischer italienischer<br />

Städte, <strong>die</strong> "obwohl sie ihre Macht in <strong>die</strong> Provinz ausgedehnt hätten, dennoch 'politisch' regierten."<br />

Ebd.., IV.2, S. S. 271. Vgl. BLYTHE (1992), S. 108<br />

303


Kehrseite <strong>die</strong>ser charakterlichen Eigenschaften <strong>und</strong> führe dazu, dass <strong>die</strong> Herrschaft<br />

eines einzelnen unweigerlich in <strong>die</strong> Tyrannei münde. 120 Für Tolomeo da Lucca gibt es<br />

nur das Festhalten am regimen politicum in Nachahmung der antiken römischen<br />

Republik. Von all den Verfassungen der römischen Republik <strong>und</strong> somit <strong>von</strong> allen<br />

Formen des regimen politicum scheint er jene vorzuziehen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> grösste Zahl <strong>von</strong><br />

Bürgern berücksichtigt; das heisst, als Rom eine zweigliedrige Mischverfassung war,<br />

zusammengesetzt aus dem aristokratischen Element der Konsuln <strong>und</strong> den<br />

demokratischen Elementen der Volkstribunen <strong>und</strong> des Senats, jedoch noch ohne<br />

oligarchische Ausrichtung wie in der Spätzeit der Republik. Seine Präferenz entspricht<br />

damit dem Herrschaftsideal der Kommune, das <strong>von</strong> einer breiten politischen<br />

Beteiligung ausgeht, <strong>die</strong> sowohl <strong>die</strong> kleinen <strong>und</strong> mittleren als auch <strong>die</strong> reichen Bürger<br />

miteinschliesst.<br />

In der Schrift Tolomeos da Lucca verbinden sich nicht nur zeitgenössische Politik,<br />

römische Geschichte <strong>und</strong> aristotelische Staatsformenlehre. Diese drei Elemente<br />

werden ausserdem mit der Auseinandersetzung <strong>über</strong> das Verhältnis <strong>von</strong> Tugend <strong>und</strong><br />

Politik ergänzt <strong>und</strong> gipfeln schliesslich im Bild der gut geordneten civitas als Sinnbild<br />

des irdischen Para<strong>die</strong>ses.<br />

Die antiken Römer sind für Tolomeo da Lucca nicht nur das grosse Vorbild für<br />

Standfestigkeit, Kühnheit <strong>und</strong> Selbstvertrauen, <strong>die</strong>, wie er glaubt, Bewohner eines<br />

Landes besitzen müssten, wollten sie ein regimen politicum verwirklichen. Sie sind für<br />

ihn auch das herausragende Beispiel <strong>von</strong> Tugend <strong>und</strong> Weisheit, um in Überwindung<br />

der Erbsünde den status innocentiae nachzuahmen. So füllt seine Lobpreisung der<br />

römischen Tugend nicht weniger als drei Kapitel (III.4-6). Dabei betont er<br />

insbesondere <strong>die</strong> Vaterlandsliebe der Römer (amor patriae), ihr Streben nach<br />

Gerechtigkeit (zelo iustitiae) sowie ihre Sorge für das Gemeinwohl (zelo civilis<br />

benevolentiae). Die grosse Autorität für das Lob der Römer ist für Tolomeo da Lucca<br />

der Kirchenvater Augustinus, der im Kapitel V.18 <strong>von</strong> De civitate dei <strong>die</strong> Tugend der<br />

Helden der römischen Republik darstellt. Während Augustinus aber gleichzeitig <strong>die</strong><br />

Ruhm- <strong>und</strong> Herrschsucht der Römer verurteilt, schenkt Tolomeo da Lucca der Kritik<br />

des Kirchenvaters keine Beachtung. Zur Zeit der Republik ist für ihn <strong>die</strong> Macht der<br />

Römer in jeder Hinsicht gerechtfertigt; denn ihre Herrschaft sei ein regimen politicum<br />

gewesen, milde, gemässigt <strong>und</strong> "in Liebe verb<strong>und</strong>en mit den unterworfenen<br />

Völkern." 121 Seine Meinung belegt er unter anderem mit dem Zitat der freiwilligen<br />

Bindung der Juden an <strong>die</strong> Römer unter der Herrschaft des Judas Makkabäus (1. Makk.<br />

120 Ebd.., II.8, S. 244<br />

121 "Quantum autem antiqui Romani in hac excelluerint virtute, <strong>und</strong>e exteras nationes ad suum<br />

traherent amorem, seque eisdem sponte subjicerent .... " Ebd., III.6, S. 254.<br />

304


8). Auch führt er <strong>die</strong> Mahnung Catos am Endzeit der Republik in Sallusts Catillina an,<br />

dass der römische Staat nicht durch Waffengewalt gross geworden sei, sondern durch<br />

Tätigkeit daheim, gerechte Herrschaft draussen sowie freien Geist <strong>und</strong> Tugend. 122 Ganz<br />

im Gegensatz zu Augustinus unterstreicht Tolomeo da Lucca nicht nur <strong>die</strong> freiwillige<br />

Bindung der Völker an Rom, sondern auch <strong>die</strong> Demut der römischen Bürger, wenn sie<br />

an <strong>die</strong> politische Macht gelangten, da sich Überheblichkeit <strong>von</strong> Machthabern nicht mit<br />

der Freiheitsliebe des römischen Volkes vertragen hätten. 123 Seine Argumentation stützt<br />

Tolomeo da Lucca wiederum auf das alttestamentarische Buch der Makkabäer, aus<br />

dem er einen Satz zu Ehren des römischen regimen politicum immer wieder zitiert (1.<br />

Makk. 8.14-16):<br />

"Und bei all [ihrer Macht] hat sich niemand <strong>von</strong> ihnen eine Krone<br />

aufgesetzt <strong>und</strong> sich in Purpur gekleidet, um damit anzugeben, sondern<br />

sie hatten einen Rat eingesetzt; der bestand aus dreih<strong>und</strong>ertzwanzig<br />

Männern; <strong>die</strong> berieten sich täglich, um das Volk immer gut zu regieren.<br />

Und jährlich wählte man einen Mann, der in allen ihren Ländern zu<br />

gebieten hatte; dem mussten sie alle gehorsam sein. Und es herrschte<br />

weder Neid noch Zwietracht bei ihnen."<br />

Tugend <strong>und</strong> Weisheit der Römer zur Blütezeit der Republik sind für<br />

Tolomeo da Lucca schliesslich Vorbild, um den status innocentiae auf Erden<br />

<strong>und</strong> damit das Glück des irdischen Para<strong>die</strong>ses zu verwirklichen. Raum <strong>die</strong>ser<br />

Verwirklichung ist auf der Gr<strong>und</strong>lage des Aristoteles <strong>die</strong> polis oder civitas, bei<br />

Tolomeo da Lucca ausschliesslich geordnet als regimen politicum. 124<br />

Das Ver<strong>die</strong>nst jedes einzelnen soll bestimmen, ob er in einem politischen<br />

Amt einsitzt, zeitweise Rektor oder einfach nur Untergebener ist. Harmonie ist<br />

für Tolomeo das Ideal, das sich dann einstellt, wenn jeder <strong>die</strong> Tätigkeit<br />

ausführt, <strong>die</strong> seiner Veranlagung entspricht <strong>und</strong> <strong>die</strong> Gesetze <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

122 "Quantus vero fuerit amor patriae in antiquis Romanis, Salustius refert in Catilinario ex<br />

sententia Catonis, quasdam de eis connumerando virtutes, in quibus dictus amor includitur. 'Nolite',<br />

inquit, 'existimare majores nostros armis rempublicam ex parva magnam fecisse: quippe amplior nobis<br />

quam ipsis armorum est copia; sed quia in eis fuit domi industria, foris justum imperium, in<br />

consulendo animus liber, neque delicto neque libidini obnoxius ....' " Ebd., III.4, S. 255<br />

123 "Unde regiones Romanorum sub Marte ponuntur ab ipso, et ideo minus subjicibiles: propter<br />

quod ex eadem caus praefata gens ponitur insueta pati cum suis terminis, et subdi nescia, nisi cum non<br />

possit resistere; et quia impatiens alieni arbitrii, et per consequens superioris invidia. Inter Romanos<br />

Praesides, ut 1 Mac. 8, cap. scribitur, nemo portabat diadema, nec induebatur purpura; et ulterius<br />

subditur effectus istius humiitatis, quia non est invidia nec zelus inter eos. Quadam igitur placabilitate<br />

animi, ut natura requirit subditorum illius regionis, et incessu humili rempublicam gubernabant...."<br />

Ebd., II.8, S. 244<br />

124 vgl. ALBERTUS MAGNUS, <strong>die</strong> Kommune sei <strong>die</strong> wahre "civilitas". Denn <strong>die</strong> Bürger, <strong>die</strong> ihre<br />

Stadt selbst regierten, müssten sich nicht dem Zwang eines Dritten beugen, sondern hätten <strong>die</strong><br />

Möglichkeit, nach eigenem Ermessen zu handeln.<br />

305


Rechtsdurchsetzung das Handeln der Bürger auf <strong>die</strong> Tugend ausrichten. Ein<br />

solche Ordnung vergleicht er mit den Stimmen einer Melo<strong>die</strong>, in der Töne, <strong>die</strong><br />

miteinander in Einklang gebracht einen für das Ohr lieblichen <strong>und</strong> angenehmen<br />

Gesang erzeugen. 125<br />

“Wenn <strong>die</strong> ratio als <strong>die</strong> höchste Kraft <strong>die</strong> tieferen Kräfte regiert, <strong>und</strong><br />

jene sich nach ihrem Befehl bewegen, entsteht dolcezza, eine<br />

Vollkommenheit der Freude, an <strong>die</strong> sich <strong>die</strong> Kräfte gegenseitig<br />

bereichern. Das nennt man Harmonie.” 126<br />

Ausgehend <strong>von</strong> der aristotelischen These, dass <strong>die</strong> Tugend sich nicht in der<br />

speculatio, sondern in der operatio verwirklicht, virtus sich also nicht auf <strong>die</strong><br />

gedankliche Auseinandersetzung beschränkt, sondern Handlung benötigt,<br />

erachtet er das Glück, dass der Mensch als Bürger in der politischen<br />

Gemeinschaft erzielt als das grösste auf Erden:<br />

“Wenn eine Welt, <strong>die</strong> <strong>von</strong> göttlicher Gerechtigkeit gelenkt wird, in der<br />

Kontemplation einen süssen Zauber erzeugt, wieviel grösser noch ist<br />

der Zauber in der operatio ... Dank der vita politica wird das Leben<br />

deshalb vollkommen <strong>und</strong> glücklich.” 127<br />

Freiheitssinn, Selbstvertrauen in <strong>die</strong> eigene Intelligenz <strong>und</strong> gemässigte<br />

Herrschaft nach dem Vorbild der römischen Republik werden bei Tolomeo da<br />

Lucca schliesslich zur Voraussetzung für das Glück des zoon politikon, das sich<br />

in der individuellen Entfaltung <strong>von</strong> Tugend verwirklicht. Symbol <strong>die</strong>ses Glücks<br />

ist der status innocentiae oder das irdische Para<strong>die</strong>s.<br />

9.6. Tolomeo da Lucca, Dante <strong>und</strong> der <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s<br />

Bei Tolomeo da Lucca finden wir das Bindeglied zwischen der Commedia Dantes<br />

<strong>und</strong> der selbstbewussten Darstellung der Sieneser Kommune im <strong>Freskenzyklus</strong><br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s. Tolomeo da Lucca <strong>und</strong> Dante legen ihrem Werk dasselbe<br />

Menschenbild zugr<strong>und</strong>e, das sich auch im <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s<br />

wiederholt. Es ist der Mensch als zoon politikon, der in einer <strong>von</strong> Gerechtigkeit<br />

geordneten politischen Gemeinschaft das Glück des irdischen Para<strong>die</strong>ses durch<br />

Tugend zu verwirklichen sucht. Gemeinsam ist auch allen, entsprechend der Tradition,<br />

125 TOLOMEO DA LUCCA (ca. 1302): De regimine principum, IV.23<br />

126 "Et si virtus suprema, quae est ratio, ceteras dirigat inferiores potentias, et ad suum<br />

moveantur imperium, tunc insurgit quaedam suavitas et perfecta delectatio virium in alterutrum, quam<br />

harmoniam vocamus." Ebd. IV.23<br />

127 "Si ergo talis dispositio suavitatem facit contemplando, multo magis operando. ... Ergo sic<br />

politice vivere, perfectam et felicem vitam facit." Ebd. IV.23<br />

306


in der auch Dante gross geworden ist, <strong>die</strong> Verehrung der Helden der römischen<br />

Republik. Sie <strong>die</strong>nen den Bürgern der italienischen Kommune als Vorbild für<br />

Gerechtigkeitssinn, Gemeinsinn <strong>und</strong> Tugend. Während Dante das Glück des Bürgers<br />

jedoch universal denkt <strong>und</strong> deshalb den Kaiser als universelle Ordnungsmacht einsetzt,<br />

bleiben Tolomeo da Lucca <strong>und</strong> der <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s auf der<br />

Ebene der partikularen Staatlichkeit.<br />

Dante, der als Bürger einer Kommune gross geworden ist, der aber aufgr<strong>und</strong> <strong>von</strong><br />

politischen Krisen <strong>und</strong> Realpolitik <strong>die</strong> Ungerechtigkeit seines politischen<br />

Gemeinwesens leibhaftig erfahren hat, träumt <strong>von</strong> einer Weltordnung, in der ein<br />

Kaiser, gestützt auf das römische Recht, Frieden <strong>und</strong> Gerechtigkeit durchsetzt <strong>und</strong> so<br />

jedem <strong>die</strong> Möglichkeit gibt, als Bürger seiner Kommune Tugend zu verwirklichen.<br />

Das aristotelische Glück des zoon politikon, für dessen politische Rahmenbedingungen<br />

<strong>die</strong> Menschen selbst verantwortlich sind, setzt er mit dem Glück des irdischen<br />

Para<strong>die</strong>ses gleich. Die Auseinandersetzung mit politischer Freiheit, gemässigter<br />

Herrschaft <strong>und</strong> Tugend führen Tolomeo da Lucca indessen dazu, <strong>die</strong> mögliche<br />

Verwirklichung des irdischen Para<strong>die</strong>ses auf den politischen Raum eines regimen<br />

politicum zu beschränken. Besonders geeignet für ein regimen politicum hält er ganz<br />

allgemein <strong>die</strong> Städte, civitates, während <strong>die</strong> Provinzen eher zur Alleinherrschaft<br />

neigten. Als Ausnahme erwähnt er jedoch Rom zur Zeit der Republik, als <strong>die</strong> Konsuln,<br />

Volkstribunen <strong>und</strong> Senatoren den Weltkreis regierten sowie <strong>die</strong> Herrschaft einiger<br />

zeitgenössischer Städte Italiens, <strong>die</strong>, “obwohl sie ihre Macht in <strong>die</strong> Provinz ausgedehnt<br />

hatten, dennoch politisch regierten.” 128 Seine Absicht ist nicht <strong>die</strong> Reform der<br />

Weltordnung, sondern <strong>die</strong> Stärkung der Kommunen in Mittelitalien, <strong>die</strong> durch das<br />

Vordringen der Alleinherrschaft Anfang des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts sowohl in der<br />

politischen Theorie wie in der Wirklichkeit in der Defensive sind. 129<br />

Mit Dante gehen wir im <strong>Freskenzyklus</strong> den Weg vom Inferno <strong>über</strong> das<br />

Purgatorium zum irdischen Para<strong>die</strong>s. Die zwei Gr<strong>und</strong>aussagen des Purgatoriums sind<br />

<strong>die</strong> notwendige Errichtung eines Herrschaftsraums, der Gerechtigkeit garantiert, sowie<br />

<strong>die</strong> individuelle Läuterung durch das Streben nach Tugend. Die Durchsetzung der<br />

Gerechtigkeit, <strong>die</strong> Dante in den mittleren Gesängen des Purgatorio fordert, erzieht den<br />

Menschen zur Tugend <strong>und</strong> schafft einen Raum des Friedens. Direkt auf <strong>die</strong> Tugend<br />

wirkt ausserdem <strong>die</strong> göttliche Liebe. Im Sinne des dolce stil nuovo richtet sie das<br />

menschliche Verlangen auf Tugend <strong>und</strong> Seelenadel aus. Ihre göttliche Kraft verbirgt<br />

sich auch im Fries oberhalb des Bilderzyklus, wo in den Planeten <strong>und</strong> Jahreszeiten<br />

128 Ebd.., IV.2, S. S. 271<br />

129 Nicht unwahrscheinlich ist <strong>die</strong> Annahme, dass Dante selbst für <strong>die</strong> Gleichsetzung des<br />

aristotelischen Glücks mit dem Bild des irdischen Para<strong>die</strong>ses <strong>von</strong> Tolomeo da Lucca beeinflusst war.<br />

Während seinen Wanderjahren als Exilierter hält sich Dante um 1309 in Lucca auf.<br />

307


Gott als <strong>die</strong> den Kosmos durchwaltende, erste Liebe erscheint. Im irdischen Para<strong>die</strong>s<br />

entfaltet sich schliesslich das Glück des zoon politikon, das in einem Herrschaftsraum<br />

Wirklichkeit wird, wo <strong>die</strong> Gerechtigkeit regiert <strong>und</strong> <strong>die</strong> göttliche Liebe <strong>die</strong> Herzen der<br />

Menschen trifft. Den Weg dorthin weist auch <strong>die</strong> Philosophie, <strong>die</strong> gemeinsam mit<br />

ihren Töchtern, den liberalen Künsten, das F<strong>und</strong>ament des Purgatoriums <strong>und</strong> des<br />

irdischen Para<strong>die</strong>ses bildet. Die Abhängigkeit des <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>von</strong> Dantes<br />

Läuterungsweg in der Commedia zeigt sich nicht zuletzt auch in der ursprünglichen<br />

Gestaltung der Herrscherfigur im Purgatorium. Zunächst <strong>von</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> mit<br />

Lorbeerkranz dargestellt, glich sie zuerst dem Abbild einer römischen Kaiserfigur. Sie<br />

wird noch im Rahmen des Auftrags durch <strong>die</strong> Figur ersetzt, <strong>die</strong> wir heute sehen <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> nun vielmehr an Cato, den Wächter des Läuterungsbergs, erinnert: Sinnbild<br />

römischer Freiheit <strong>und</strong> Vorbild der Bürgertugend.<br />

Das Werk <strong>von</strong> Tolomeo da Lucca enthält <strong>die</strong> theoretischen Gr<strong>und</strong>lagen, <strong>die</strong> es den<br />

Sienesen einfach macht, Dantes Universalkonzeption auf <strong>die</strong> lokale Ebene<br />

zurückzuführen. Denn namentlich, was <strong>die</strong> Städte Italiens betrifft, gründet es auf<br />

demselben Menschenbild wie Dantes Commedia, beschreibt <strong>die</strong> Verwirklichung des<br />

irdischen Para<strong>die</strong>ses aber besonders im Raum der italienischen Kommunen. Für <strong>die</strong><br />

Bürger in den Städten Italiens gibt es keine andere Möglichkeit, das irdische Para<strong>die</strong>s<br />

zu verwirklichen, als in der Nachfolge der römischen Republik an den politischen<br />

Gr<strong>und</strong>sätzen festzuhalten, <strong>die</strong> sie in den kommunalen Verfassungen entwickelt haben<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> jenen eines regimen politicum entsprechen. Damit stärkt es nicht nur ihr<br />

Selbstbewusstsein im Rahmen der aristotelischen Staatsformenlehre, sondern bestätigt<br />

sie auch in ihrer mythologischen Anknüpfung an <strong>die</strong> römische Republik. Gleichzeitig<br />

können wir da<strong>von</strong> ausgehen, dass das Werk Tolomeos da Lucca in Siena bekannt ist,<br />

da es als Schrift Thomas <strong>von</strong> Aquins gilt, der im Jahr 1323 heilig gesprochen wurde.<br />

Es erlaubt schliesslich, <strong>die</strong> Verteidigung des politischen Systems der Kommune in den<br />

nach Dante konzipierten Läuterungsweg einzubetten. An <strong>die</strong> Stelle des Kaisers tritt im<br />

Purgatorium <strong>die</strong> Kommune als regimen politicum, während das Inferno das regimen<br />

despoticum zeigt. Unterstrichen wird der Bezug zur aristotelischen Staatsformenlehre<br />

<strong>von</strong> den Begleitversen. Das aristotelische Unterscheidungskriterium einer <strong>gute</strong>n oder<br />

schlechten Verfassung aufnehmend, betonen sie im Purgatorium <strong>die</strong> Herrschaft des<br />

Gemeinwohls, während sie das Inferno als einen Ort schildern, wo ausschliesslich der<br />

Eigennutz das Handeln der Menschen bestimmt. Vorbild für <strong>die</strong> Sieneser Kommune<br />

ist <strong>die</strong> römische Republik im Sinne <strong>von</strong> Cato Uticensis, während der Fries unterhalb<br />

des Inferno an <strong>die</strong> Dekadenz antiker Verfassungen mahnt; mit den Abbildungen der<br />

römischen Kaiser Nero <strong>und</strong> Geta erinnert es auch an das Imperium als regimen<br />

despoticum. Cato ist der Wächter des Purgatoriums <strong>und</strong> mit Sallusts Catilina, den auch<br />

Tolomeo da Lucca mehrmals zitiert, ebenso <strong>die</strong> moralische Stimme Roms. Sie warnte<br />

308


<strong>die</strong> Bürger davor, dass Rom nur wegen seines freien Geistes, seiner Tugend, seiner<br />

Tätigkeit zuhause <strong>und</strong> seiner gerechten Herrschaft ausserhalb gross geworden sei. Dies<br />

entspricht auch der Legitimation, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Sienesen im <strong>Freskenzyklus</strong> der Herrschaft<br />

<strong>und</strong> Machtausdehnung ihrer Kommune zugr<strong>und</strong>e legen.<br />

Die Darstellung der Kommune als regimen politicum im Rahmen des dantesken<br />

Läuterungsweges bietet sich für <strong>die</strong> Sienesen nicht zuletzt auch deshalb an, weil sich<br />

Tolomeo da Lucca für seine Beschreibung der gemässigten Herrschaft an den<br />

Verfassungen der Kommunen Italiens <strong>und</strong> namentlich der Toskana orientiert. Die <strong>von</strong><br />

ihm genannten Gr<strong>und</strong>sätze haben sich auch in Siena im Laufe des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

herausgebildet. Wir finden sie in den uns seit Mitte des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>über</strong>lieferten<br />

Verfassungen <strong>und</strong> auch in jener <strong>von</strong> 1337/39. Diese Totalrevision des Sieneser<br />

Rechtskorpus, dem das Ziel zugr<strong>und</strong>e liegt, durch eine nützliche <strong>und</strong> widerspruchsfreie<br />

Edition der Sieneser Gesetze der Gerechtigkeit zur Herrschaft zu verhelfen, kann<br />

schliesslich ja auch als Urtext des <strong>Freskenzyklus</strong> betrachtet werden. Sie beschreibt<br />

Siena als gemässigte Herrschaft, <strong>die</strong> auf einer Vielzahl <strong>von</strong> Herrschaftsträgern <strong>und</strong> den<br />

vom Consiglio generale verabschiedeten Gesetzen beruht. An <strong>die</strong>se Gesetze ist alles<br />

öffentliche Handeln geb<strong>und</strong>en. Die Amtsträger werden für eine zeitlich beschränkte<br />

Frist gewählt <strong>und</strong> am Ende jeder Amtsperiode findet ein Kontrollverfahren statt. Die<br />

kurzen Amtszeiten, <strong>die</strong> sich auf zwei bis sechs Monate erstrecken, garantieren eine<br />

rasche Ämterrotation. Eine unmittelbar anschliessende Amtszeitverlängerung ist fast<br />

durchgehend ausgeschlossen. Ausserdem spiegelt <strong>die</strong> Sieneser Verfassung, indem sie<br />

<strong>die</strong> Rekrutierungsbasis für den kleinen Regierungsrat, das Amt der Nove, auf <strong>die</strong><br />

mercatores <strong>und</strong> media gente einengt, <strong>die</strong> Empfehlung Tolomeos da Lucca wider, vor<br />

allem Bürger aus der Mittelschicht in das Regierungsamt zu wählen.<br />

Diese Gr<strong>und</strong>sätze, <strong>die</strong> jenen eines regimen politicum entsprechen, haben auch ihre<br />

Spuren im Purgatorium <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s hinterlassen. Offenbar werden sowohl<br />

<strong>die</strong> Bindung der Herrschaft an Recht <strong>und</strong> Gerechtigkeit als auch <strong>die</strong> pluralitas oder<br />

Vielzahl <strong>von</strong> Herrschaftsträgern. Die Kordel, <strong>die</strong> <strong>von</strong> der Gerechtigkeit ausgeht, ist um<br />

das Handgelenk der Kommune geb<strong>und</strong>en, während eine Vielzahl <strong>von</strong> Bürgern <strong>die</strong>ses<br />

Band der Gerechtigkeit halten. In ihrer unterschiedlichen Ausstattung könnte <strong>die</strong> Reihe<br />

der Bürger auch <strong>die</strong> <strong>von</strong> Tolomeo da Lucca für das regimen politicum geforderte<br />

multitudo wiedergeben. <strong>Der</strong> Zahl Vier<strong>und</strong>zwanzig wird oft <strong>die</strong> Bedeutung der<br />

Gesamtheit, universitas, zugeschrieben. So könnten <strong>die</strong> vier<strong>und</strong>zwanzig Männer<br />

namentlich auch <strong>die</strong> multitudo des Consiglio generale wiedergeben, dem obersten<br />

Gesetzgebungsorgan der Sieneser Kommune, das <strong>die</strong> universitas der Bürger vertritt.<br />

Denn deutlich wird in <strong>die</strong>ser Reihe, dass <strong>die</strong> vorderen zwölf Männer <strong>die</strong> reiche Tracht<br />

der Adligen, Ritter, Juristen <strong>und</strong> Grosskaufleute tragen, während <strong>die</strong> hinteren zwölf<br />

309


einfacher gekleidet sind, wie es einem Mann der Mittelschicht entspricht. Das<br />

eigentliche Regierungsgremium, der Rat der Nove, ist in Siena zwar der Mittelschicht<br />

vorbehalten, doch sind gerade im Consiglio generale auch <strong>die</strong> sehr reichen Bürger<br />

vertreten. Sie sind ausserdem oft in Ämtern der Kommune zu finden, <strong>die</strong> wichtige<br />

Regierungsentscheide gemeinsam mit den Nove fällen.<br />

Symbol der Aufrechterhaltung einer unabhängigen Regierung, <strong>die</strong> auf<br />

Gesetzesbindung <strong>und</strong> Vielzahl <strong>von</strong> Herrschaftsträgern beruht, ist in Siena indessen der<br />

Popolo, der in der Stadtmiliz organisiert ist. Hier sind auch <strong>die</strong> kleineren Bürger<br />

organisiert, während <strong>die</strong> Angehörigen <strong>von</strong> mächtigen Familien, <strong>die</strong> generell den Ruf<br />

haben, zur Tyrannis zu neigen, da<strong>von</strong> ausgeschlossen sind. Das Wappen des Popolo ist<br />

an der Seite der Kommune zu sehen, auf dem Schild der Fusssoldaten. Es zeigt den<br />

weissen Löwen auf rotem Gr<strong>und</strong>. Die Nove, <strong>die</strong> im Konsens mit den grossen Familien<br />

regieren, sehen sich gleichzeitig als Ausdruck einer Regierung des Popolo. <strong>Der</strong> Popolo<br />

soll verhindern, dass eine der grossen Familien <strong>die</strong> Macht an sich reisst. Seine<br />

besonderen Ideale sind öffentliche Rechtsdurchsetzung <strong>und</strong> Rechtsgleichheit, <strong>die</strong> in<br />

der grossen Figur der Justitia zum Ausdruck kommen. So prangen in Justitias Krone<br />

mit dem weiss-roten Edelstein auch <strong>die</strong> Farben des Popolo.<br />

Des weiteren verdeutlichen <strong>die</strong> Männer, <strong>die</strong> der Sieneser Kommune ihre Burgen<br />

<strong>und</strong> den Schlüssel ihrer Landsgemeinde anbieten, <strong>die</strong> gr<strong>und</strong>sätzliche Legitimation der<br />

Sieneser Machtausdehnung. Gemäss der Mahnung Catos soll sie auf freiwilliger<br />

Unterwerfung beruhen, <strong>die</strong> sich auf Tugend <strong>und</strong> Rechtsherrschaft der Sieneser<br />

Kommune zurückführt. Festgehalten sind <strong>die</strong>se Gr<strong>und</strong>sätze sowohl in der Sieneser<br />

Verfassung <strong>von</strong> 1337/39 als auch im Caleffo dell'Assunta, dem zweiten Urtext des<br />

<strong>Freskenzyklus</strong>.<br />

Tolomeos da Lucca Schrift enthält vielleicht auch einen Hinweis, weshalb <strong>die</strong><br />

Gerechtigkeit im <strong>Freskenzyklus</strong> als Iustitia distributiva <strong>und</strong> Iustitia commutativa<br />

dargestellt ist. Denn <strong>die</strong>se beiden Gerechtigkeitsteile sind für ihn wesentliche<br />

Merkmale eines regimen politicum. Damit bezieht er sich direkt auf <strong>die</strong><br />

Nikomachische Ethik des Aristoteles. Ausgehend <strong>von</strong> der Relativität dessen, was in<br />

einer politischen Gemeinschaft als gerecht bezeichnet wird, kommt Aristoteles<br />

nämlich zum Schluss, dass menschliche Gesetze, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Gleichheit <strong>und</strong> Rechtsmitte<br />

verwirklichen, nur in einer politischen Gemeinschaft zu finden sind, "wo eine Anzahl<br />

freier <strong>und</strong> gleichgestellter Menschen zwecks vollkommenen Selbstgenügens in<br />

Lebensgemeinschaft stehen." 130 Dort richte sich das Recht teils nach der Regel der<br />

Proportionalität (distributive Gerechtigkeit), teils nach der Regel der Zahl<br />

(kommutative Gerechtigkeit). Unter Menschen, bei denen <strong>die</strong> Voraussetzungen der<br />

Freiheit oder Gleichheit nicht zutrifft, gibt es nach Aristoteles nur ein <strong>die</strong>sem Recht<br />

130 ARISTOTELES: Nikomachische Ethik, 1134a 25 f.<br />

310


ähnliches Recht. Dieser Freiheitsbegriff entspricht aber jenem, den Tolomeo da Lucca<br />

für das regimen politicum voraussetzt <strong>und</strong> der dem regimen regale beziehungsweise<br />

dem regimen despoticum fehlt.<br />

Auf der Gr<strong>und</strong>lage <strong>von</strong> Tolomeo da Lucca macht der <strong>Freskenzyklus</strong> deutlich, dass<br />

in Siena <strong>die</strong> Reform des Gemeinwesens nur im Rahmen des regimen politicum<br />

erfolgen kann. Das Purgatorium kann nur im Verfassungsrahmen der Kommune<br />

stattfinden, den <strong>die</strong> Sienesen durch <strong>die</strong> Totalrevision vom 1337/39 erneuert haben,<br />

während eine Alleinherrschaft aufgr<strong>und</strong> der Freiheitsliebe der Bevölkerung<br />

unweigerlich dem Zustand des Inferno <strong>und</strong> dem regimen despoticum gleichzusetzen<br />

ist. Indessen erscheint <strong>die</strong> Sieneser civitas, <strong>die</strong> gemäss Vorbild römischer Tugend ihre<br />

Macht an <strong>die</strong> Gerechtigkeit bindet, als Bild des irdischen Para<strong>die</strong>ses, wo <strong>die</strong> Menschen<br />

das Glück des zoon politikon verwirklichen.<br />

Die Sehnsucht nach Frieden <strong>und</strong> Harmonie, <strong>die</strong> in den Gesängen der Commedia,<br />

in der Abfolge der Bilder <strong>und</strong> im Vorwort zur Sieneser Verfassung deutlich wird,<br />

findet sich auch als Ziel des regimen politicum: Durch <strong>die</strong> richtigen politischen<br />

Rahmenbedingungen, <strong>die</strong> in der Verantwortung des Menschen liegen, vermag es <strong>die</strong><br />

Zustände vor dem Sündenfall wieder herzustellen. Das Bild der Musik, das Tolomeo<br />

da Lucca verwendet, um das Glück, das sich in der Folge einstellt, zu beschreiben,<br />

spiegelt sich nicht zuletzt in den Tänzern <strong>und</strong> Sängern wider, <strong>die</strong> sich im irdischen<br />

Para<strong>die</strong>s <strong>von</strong> Siena im Licht der Gerechtigkeit drehen. Dieses Glück der vita politica,<br />

das <strong>die</strong> Fresken im Palazzo Pubblico <strong>von</strong> Siena besingen, stuft Tolomeo da Lucca gar<br />

höher ein als jenes der vita contemplativa. Damit bestätigt er <strong>die</strong> Sienesen schliesslich<br />

auch, den dantesken Läuterungsweg bis zur Stufe des irdischen Para<strong>die</strong>ses darzustellen<br />

<strong>und</strong> sich auf den Teil zu beschränken, der in der Verantwortung der Sieneser<br />

Kommune <strong>und</strong> damit jener Bürger ist, <strong>die</strong> den Raum mit den Fresken betreten.<br />

311


10. Schluss<br />

Wie schon in der Einleitung festgehalten, hat Dante das Ideal der Kunst im frühen<br />

Trecento mit dem Begriff "visibile parlare" - "sichtbares Sprechen" umschrieben.<br />

Dieser Begriff aus der Commedia <strong>die</strong>nt Hans Belting als Gr<strong>und</strong>lage, um <strong>die</strong> Gattung<br />

der Monumentalallegorie im frühen Trecento, zu der er auch <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s<br />

<strong>Freskenzyklus</strong> zählt, als "sprechende Malerei" zu charakterisieren. <strong>Der</strong> Rückgriff auf<br />

<strong>die</strong> theoretischen Ausführungen Hans Beltings hat <strong>die</strong>ser Arbeit erlaubt, anzunehmen,<br />

dass <strong>die</strong> Bilder des <strong>Freskenzyklus</strong> eine <strong>von</strong> den Inschriften getrennte Aussage haben.<br />

<strong>Der</strong> Betrachter ist aufgerufen, sich in <strong>die</strong> Bilder zu vertiefen <strong>und</strong> sie zu deuten. 1<br />

Sehen <strong>und</strong> Deuten sind zwei unterschiedliche Akte, doch in ihrer Ausführung sind<br />

sie nicht wirklich zu trennen. Trotzdem hat <strong>die</strong> Arbeit versucht, sich in der ersten<br />

Bildbeschreibung zunächst auf das eigentliche, gegenständliche Sehen zu beschränken.<br />

Das weitergehende Deuten ist dann in zweifacher Hinsicht angegangen worden:<br />

Zunächst wurden <strong>die</strong> vielen verschiedenen Deutungen des <strong>Freskenzyklus</strong>, <strong>die</strong> in der<br />

kritischen Literatur zu finden sind, dargestellt. Dann wurde in einem zweiten Teil der<br />

Versuch einer eigenen Deutung unternommen.<br />

<strong>Der</strong> <strong>Freskenzyklus</strong> ist, weil es viele verschiedene Interpretationen gibt, ein<br />

Exerzierfeld der Ikonographie genannt worden. Es hat nun eine weitere Deutung<br />

erhalten. Hintergr<strong>und</strong> <strong>die</strong>ser Deutung ist <strong>die</strong> intensive Auseinandersetzung mit der<br />

Politik <strong>und</strong> der Kultur der italienischen Stadtkommunen, <strong>die</strong> wiederum aufgr<strong>und</strong> des<br />

ursprünglichen Untersuchungsgegenstands – dem <strong>Freskenzyklus</strong> – angegangen wurde.<br />

Im besonderen hat sich <strong>die</strong> Untersuchung deshalb auf <strong>die</strong> Stadt Siena gerichtet, ihr<br />

politisches <strong>und</strong> kulturelles Umfeld, auf den Maler <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> <strong>und</strong> auf <strong>die</strong><br />

Zeit des frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>erts. Sie hat schliesslich zum Ergebnis geführt, dass<br />

damals kein anderes Werk in genau <strong>die</strong>sem Umfeld einflussreicher war als <strong>die</strong><br />

Commedia Dantes. Es wurde offenbar, dass sie zwar das Werk eines Weltbürgers war,<br />

aber eines Weltbürgers Florentiner „Nation“ (florentinus natione), der als Bürger einer<br />

Kommune in der Toskana gross geworden ist. Die Commedia <strong>und</strong> ihre<br />

Rezeptionsgeschichte gaben Einblick in <strong>die</strong> im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert geführte<br />

Auseinandersetzung <strong>über</strong> das Vorhandensein einer politischen <strong>und</strong> moralischen Krise,<br />

<strong>über</strong> Reform <strong>und</strong> Läuterung <strong>und</strong> <strong>die</strong> zu erstrebenden politischen <strong>und</strong> ethischen Ideale.<br />

1 Vgl. auch <strong>die</strong> Inschrift der Fontana Maggiore in Perugia, 1266, <strong>die</strong> den Betrachter auffordert,<br />

sich den Brunnen genau anzuschauen: HOFFMANN-CURTIUS (1968), S. 24 [ASPICE QUI TRANSIS<br />

JOCUNDUM VIVERE FONTES / SI BENE PROSPICIAS MIRA VIDERE POTES].<br />

312


Es zeigte sich, dass das Ziel <strong>von</strong> Dantes Werk, den Menschen auf Erden den Weg vom<br />

Elend in <strong>die</strong> Glückseligkeit zu zeigen, damals äusserst "sinnvoll" war. <strong>Der</strong> <strong>von</strong> ihm<br />

aufgezeigte Läuterungsweg entsprach den zeitbedingten Sorgen <strong>und</strong> Nöten, aber auch<br />

den Hoffnungen <strong>und</strong> Wünschen. Insbesondere aber gab er <strong>die</strong> Vorstellung wieder, dass<br />

auf Erden der Mensch <strong>und</strong> seine <strong>von</strong> ihm geschaffenen Institutionen dafür<br />

verantwortlich sind, Gerechtigkeit, Frieden <strong>und</strong> das Glück der Tugend zu<br />

verwirklichen. Damit eroberte er sich im Raum der Kommunen eine Verbreitung wie<br />

kein anderes Werk in jener Zeit. So war es schliesslich auch möglich, anzunehmen,<br />

dass Dantes Commedia dem <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s als Gr<strong>und</strong>lage<br />

<strong>die</strong>nte, um den Weg vom Inferno <strong>über</strong> das Purgatorium zum irdischen Para<strong>die</strong>s<br />

aufzuzeigen.<br />

Wesensmerkmale der dantesken Deutung<br />

Was ist das Wesentliche <strong>die</strong>ser dantesken Deutung? Das Wesentliche ist, dass sie<br />

den <strong>Freskenzyklus</strong> in Verbindung mit dem Werk deutet, das zur Zeit <strong>von</strong> <strong>Ambrogio</strong><br />

<strong>Lorenzetti</strong> das Publikum in den italienischen Kommunen am meisten berührt hat. Wie<br />

umfassend <strong>die</strong>ses Publikum war, widerspiegelt <strong>die</strong> Kommentarliteratur der Commedia:<br />

Hier finden wir als Autoren sowohl Notare, <strong>die</strong> typischerweise in der Verwaltung der<br />

Kommunen tätig waren, als auch Geistliche <strong>und</strong> Mönche <strong>von</strong> Bettelorden, <strong>die</strong> mit den<br />

Bürgern der Kommune in enger Verbindung standen. Schliesslich ist einer der<br />

<strong>über</strong>lieferten Kommentare wahrscheinlich das Werk eines Bänkelsängers, der <strong>die</strong><br />

Commedia auf öffentlichen Plätzen vortrug. Wird der <strong>Freskenzyklus</strong> dantesk gedeutet,<br />

reiht sich <strong>die</strong>se Deutung ausserdem in das schon vorher sichtbar gemachte Interesse<br />

<strong>von</strong> Auftraggeber <strong>und</strong> Maler ein: Im Palazzo Pubblico zeigten sich erstmals 1321 in<br />

der Maestà Simone Martinis Spuren <strong>von</strong> Dantes Commedia. <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s<br />

Beschäftigung damit veranschaulichen <strong>die</strong> beiden Maestà <strong>von</strong> San Galgano <strong>und</strong> Massa<br />

Marittima <strong>und</strong> <strong>die</strong> Verkündigungstafel für <strong>die</strong> Gabella. Die Annahme endlich, dass<br />

<strong>Ambrogio</strong>s Bruder, Pietro, Urheber der Miniaturen ist, <strong>die</strong> eine der Commedia-<br />

Handschriften mit dem Kommentar <strong>von</strong> Jacopo della Lana schmücken, stellt nochmals<br />

direkte Verbindung her zwischen der Commedia <strong>und</strong> dem Umfeld, in dem der<br />

<strong>Freskenzyklus</strong> entstand.<br />

Wenn <strong>die</strong> Deutung des <strong>Freskenzyklus</strong> als dantesk bezeichnet wird, will das nicht<br />

heissen, dass <strong>die</strong> Wandbilder eine Illustration <strong>von</strong> Dantes Commedia sind. Sie<br />

<strong>über</strong>nehmen vielmehr den auf <strong>die</strong> Politik ausgerichteten Sinn <strong>von</strong> Dantes Werk <strong>und</strong><br />

sind eine Auseinandersetzung mit dessen Ziel, den Menschen auf Erden einen Weg<br />

313


vom Elend zur Glückseligkeit zu zeigen. Den drei Wandbildern liegt Dantes<br />

Läuterungsweg zu Gr<strong>und</strong>e <strong>von</strong> der Hölle auf Erden <strong>über</strong> <strong>die</strong> Prinzipien der politischen<br />

<strong>und</strong> individuellen renovatio bis zum irdischen Para<strong>die</strong>s als Glück des zoon politikon.<br />

Ausgerichtet auf den politischen Raum der Kommune, veranschaulichen sie den Weg<br />

vom irdischen Elend <strong>über</strong> <strong>die</strong> Läuterung hin zur Glückseligkeit des Menschen als<br />

Bürger.<br />

Schauen wir uns <strong>die</strong> Bilder gemeinsam mit Dante an, lösen sich viele<br />

Konfliktlinien auf, <strong>die</strong> uns heute als Widerspruch erscheinen. Um sein oberstes Ziel<br />

darzulegen - den Weg vom Elend ins Glück - ist es für Dante kein Problem, auf <strong>die</strong><br />

gesamte ihm zur Verfügung stehende Überlieferung zurückzugreifen, Elemente da<strong>von</strong><br />

herauszulösen <strong>und</strong> sie neu zusammenzusetzen. So wählt er zum Beispiel den<br />

römischen Freiheitshelden <strong>und</strong> Selbstmörder Cato zum Wächter des Läuterungsberges<br />

oder kürt <strong>die</strong> Frauen zu Retterinnen der Menschheit, insbesondere Beatrice, seine<br />

donna gentile, <strong>die</strong> ihm zunächst den antiken Dichter Vergil als Wegbegleiter durchs<br />

christliche Jenseits sendet. Ähnliche Freiheiten nimmt sich auch der <strong>Freskenzyklus</strong><br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s heraus: Antike <strong>und</strong> christliche Tugendlehre, römischrepublikanisches<br />

Heldentum, höfisches Frauenideal, vernunftbetonte Stoa <strong>und</strong><br />

Sinnlichkeit des dolce stil nuovo, Aristoteles, Rom <strong>und</strong> <strong>die</strong> Bibel vereinen sich auch<br />

hier zu einem Ganzen, um den Menschen den Weg aus dem Elend zu weisen. Dieser<br />

führt <strong>über</strong> <strong>die</strong> gerechte, am Gemeinwohl orientierte Herrschaft <strong>und</strong> <strong>über</strong> <strong>die</strong><br />

individuelle Tugend zum bürgerlichen Glück in der civitas.<br />

Wie in Dantes Commedia werden im <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s<br />

Denktraditionen nicht getrennt oder einzeln begriffen, sondern verbinden sich in<br />

harmonischer Ordnung. <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s <strong>Freskenzyklus</strong> ist wie <strong>die</strong> Commedia<br />

noch eine christliche Universalschau, <strong>die</strong>, indem sie Neues aufnimmt oder Altes<br />

wiederfindet, sich nicht an den Widersprüchen mit der <strong>über</strong>kommenen Tradition oder<br />

zwischen einzelnen Traditionslinien stösst. Texte, <strong>die</strong> im Lauf der dantesken Deutung<br />

nebst der Commedia herangezogen wurden, sind deshalb nicht wegen einer<br />

bestimmten Traditionslinie gewählt worden, sondern weil sie im Umfeld der<br />

Kommunen eine spezifische, <strong>die</strong> danteske Deutung erhellende Aussage haben. Die<br />

Vermischung der Traditionslinien <strong>und</strong> Quellengattungen wurde dabei bewusst in Kauf<br />

genommen. Die Texte sollten nicht in eine Tradition hineingestellt werden, sondern<br />

aufzeigen, wie aktuell Dante in den italienischen Kommunen war <strong>und</strong> wieviel Sinn es<br />

machte, <strong>die</strong> Commedia für das Gr<strong>und</strong>schema des <strong>Freskenzyklus</strong> zu verwenden. Mit<br />

Tolomeo da Lucca fand sich ausserdem ein Text, der aufzeigt, wie Dantes politische<br />

Auseinandersetzung <strong>und</strong> das republikanische Denken in den italienischen Kommunen<br />

314


gr<strong>und</strong>sätzlich <strong>von</strong> denselben Themen geprägt waren: Römische Geschichte <strong>und</strong><br />

römisches Heldentum, Tugend- <strong>und</strong> Seelenadel, Aristotelesrezeption <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Verbindung des politischen Ideals mit der christlichen Tugend der Caritas <strong>und</strong> den<br />

biblischen Bildern vom irdischen Para<strong>die</strong>s, status innocentiae <strong>und</strong> himmlischen<br />

Jerusalem. Es waren damit auch <strong>die</strong> Brücken geschlagen, <strong>die</strong> es möglich machten, den<br />

dantesken Läuterungsweg in den politischen Raum der Kommune zu verlegen.<br />

Die Tatsache, dass der <strong>Freskenzyklus</strong> aus unserer heutigen Sicht Traditionslinien<br />

vermischt, macht deutlich, dass er einer anderen Geisteshaltung angehört als zum<br />

Beispiel jener Petrarcas. Petrarca, <strong>die</strong> Leitfigur der humanistischen Bewegung Mitte<br />

des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts, legt Wert auf <strong>die</strong> Authentizität der antiken Quellen, nimmt <strong>die</strong><br />

römische Antike bewusst als eine, <strong>von</strong> der eigenen Gegenwart unterschiedliche<br />

Epoche wahr, setzt sich mit dem Konflikt <strong>von</strong> Christen- <strong>und</strong> Heidentum auseinander<br />

<strong>und</strong> beginnt den Disput zwischen Humanismus <strong>und</strong> Scholastik. 2 Im <strong>Freskenzyklus</strong><br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s wie in der Commedia Dantes spielen indessen Widersprüche der<br />

Denktraditionen an sich keine Rolle. Vielmehr steht jeweils <strong>die</strong> Aussage selbst im<br />

Vordergr<strong>und</strong>, für deren Darstellung Elemente aus verschiedenen<br />

Überlieferungssträngen herausgelöst <strong>und</strong> teils neu kombiniert werden, ohne jedoch <strong>die</strong><br />

Harmonie <strong>und</strong> Ordnung des christlichen Universums in Frage zu stellen. 3 Diese<br />

Freiheit Dantes, Elemente der Überlieferung neu zu kombinieren, wird aus der<br />

zeitlichen Distanz erkennbar. Sein ausgesprochen freier Umgang mit der<br />

Überlieferung muss aber auch schon <strong>von</strong> seinen Zeitgenossen erfasst worden sein: Auf<br />

einem der Entwürfe für seine Grabinschrift wird er als Theologus gepriesen, der "alle<br />

Glaubenswahrheit besitze, weil sich in seiner reinen Brust <strong>die</strong> Philosophie aufhalte". 4<br />

Bezeichnender Weise gaben sich <strong>die</strong> frühen Kommentatoren auch jeweils Mühe,<br />

Dantes Rechtgläubigkeit zu untermauern. 5 <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> hat <strong>die</strong>sen freien<br />

Umgang mit der Tradition <strong>von</strong> Dante <strong>über</strong>nommen. Sie entspricht schliesslich auch<br />

der Methode <strong>von</strong> Tolomeo da Lucca: Auch er kombiniert unterschiedlichste<br />

Traditionen in neuer Form, um sie entschieden auf <strong>die</strong> Verteidigung der<br />

republikanischen Regierungsform auszurichten.<br />

2 u. a. KRISTELLER (1976); BUCK (1976); WITT (1982), bes. S. 12<br />

3 Für den historischen Paradigmenwechsel <strong>von</strong> harmonisierender Synthese zur Wahrnehmung<br />

<strong>von</strong> Widersprüchen siehe gr<strong>und</strong>legend BLUMENBERG (1966), S. 442; siehe auch PANOFSKY (1980), S.<br />

156 u. S. 165<br />

4 Theologus, nullius dogmatis expers, quod foveat claro phylosophia sinu. FELTEN (1989), S.<br />

211<br />

5 SANDKÜHLER (1989), S. 170 f.<br />

315


<strong>Der</strong> <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> Commedia haben dasselbe Ziel, nämlich das Streben<br />

zum Glück des zoon politikon aufzeigen, beziehungsweise den Weg zum vivere civile.<br />

Vivere civile wird im Bürgerhumanismus des späten 14. <strong>und</strong> 15. Jahrh<strong>und</strong>erts eine<br />

wesentliche Rolle spielen. 6 Während <strong>die</strong>ser aber zunehmend mit der Vorstellung einer<br />

christlichen Universalordnung in Widerspruch gerät, ist das hier noch nicht der Fall,<br />

weder bei Dante noch bei <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>. 7 So darf deshalb auch bei Dante <strong>die</strong><br />

Idee des Weltkaisertums, das für ihn das universelle Prinzip des Weltfriedens ist, nicht<br />

gegen das vivere civile des zoon politikon ausgespielt werden. 8 Wächter des<br />

Purgatoriums ist Cato, der für <strong>die</strong> Bürger der Kommunen Sinn- <strong>und</strong> Vorbild für<br />

Tugend war <strong>und</strong> den sie als Helden der römischen republikanischen Freiheit verehrten.<br />

Die Regierung der Vielen nennt Dante in der Monarchia "populi zelatores libertatis" -<br />

Eiferer nach der Freiheit des Volkes. 9 Während Dante aber universellen Frieden <strong>und</strong><br />

Gerechtigkeit für das Glück des Einzelnen in den Vordergr<strong>und</strong> schiebt <strong>und</strong> mit den, zu<br />

seiner Zeit auf universeller Ebene bekannten politischen Institutionen lösen möchte,<br />

konzentriert sich der <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s auf <strong>die</strong> Verwirklichung des<br />

zoon politikon in einer italienischen Stadtkommune, <strong>von</strong> der Dante ursprünglich<br />

ausgegangen ist. Bei <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> wird das vivere civile deshalb Ausdruck des<br />

stadtrepublikanischen Weltbilds, das aber in den Makrokosmos der Planeten <strong>und</strong><br />

universellen Mächte eingebettet bleibt. An <strong>die</strong> Stelle des Kaisers treten bei <strong>Ambrogio</strong><br />

<strong>Lorenzetti</strong> <strong>die</strong> Wappen des Papstes <strong>und</strong> der Anjou, <strong>die</strong> aus guelfischer Sicht Garant der<br />

christlichen Weltordnung sind. Widersprüche <strong>die</strong>ser universellen Konstruktion mit<br />

dem stadtrepublikanischen Weltbild werden nicht als solche ausgetragen <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Unvereinbarkeit, <strong>die</strong> sich de facto auf politischer Ebene ergibt, wird nicht als solche<br />

herausgestellt.<br />

Wie <strong>die</strong> Commedia ist <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s <strong>Freskenzyklus</strong> noch der christlichen<br />

Universalschau verpflichtet. Wie sie weist er aber auch in <strong>die</strong> Zukunft: Gemeinsam ist<br />

ihnen das Irdische, auf das <strong>die</strong> Universalschau ausgerichtet ist. 10 Bei Dante wird das<br />

Jenseits zu einem Spiegel, um <strong>über</strong> den Zustand der Menschen auf Erden zu sprechen.<br />

Sein Ziel ist, den Weg zum irdischen Glück zu zeigen, für das <strong>die</strong> Menschen auf Erden<br />

selbst Verantwortung tragen, sowohl für sich persönlich als auch für <strong>die</strong> politischen<br />

Rahmenbedingungen. Diese Hinwendung des Menschen auf <strong>die</strong> Verwirklichung des<br />

6 Dazu u. a. BARON (1966); DERS. (1988), I, S. 55 ff.; POCOCK (1975), S. 49 ff. Siehe auch<br />

LEONARDO BRUNI (1436): Vita di Dante für <strong>die</strong> Hervorhebung <strong>von</strong> Dantes vita activa <strong>und</strong> Bürgersinn.<br />

Dazu auch BARON (1955), I, S. 296 <strong>und</strong> II, S. 577<br />

7 Vgl. ebenso noch Coluccio Salutati: BARON (1955), I, S. 85 ff.; DONATO (1985), S. 133 f.:<br />

8 Dazu auch BUCK (1976/77)<br />

9 Monarchia, I.12.9<br />

10 AUERBACH (2001)<br />

316


irdischen Glücks ist auch Gegenstand des <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s. Die<br />

Verantwortung für den Weg dorthin tragen <strong>die</strong> Bürger der Kommune selbst: Zeichen<br />

hierfür war in Siena <strong>die</strong> im Jahr 1334 gross eingeleitete Rechts- <strong>und</strong><br />

Verfassungsrevision, mit der <strong>die</strong> Bürger <strong>die</strong> Rahmenbedingungen zu schaffen hofften,<br />

um das individuelle Glück auf Erden zu verwirklichen: "Allen, <strong>die</strong> sich der Kraft jener<br />

Gesetze be<strong>die</strong>nen, sei es in aller Zeit <strong>und</strong> Ewigkeit erlaubt, glücklich, nicht in Armut<br />

<strong>und</strong> ohne Angst zu leben." 11<br />

Das weltliche Glück, an das Dante <strong>und</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> denken, stellt sich<br />

durch verantwortungsbewusstes, vernünftiges politisches Handeln ein, aber auch kraft<br />

göttlicher Liebe. Als ein sinnliches Gnadengeschenk leitet sie den Menschen auf dem<br />

beschwerlichen Pfad der Tugend mit dem Ziel, das antike Tugendideal zu<br />

verwirklichen. Damit löst sich auch <strong>die</strong> Frage der Säkularität des <strong>Freskenzyklus</strong>. Es ist<br />

nicht wesentlich, wie christlich <strong>die</strong> Quellen sind, <strong>die</strong> dem Bildprogramm zugr<strong>und</strong>e<br />

liegen, sondern wichtig ist <strong>die</strong> Bejahung des Irdischen <strong>und</strong> der Verantwortlichkeit, <strong>die</strong><br />

der Mensch für seinen historischen Zustand auf Erden hat. 12 Die weltlichen Freuden<br />

erhalten gleichzeitig eine positive Bewertung. Im Bild des irdischen Glücks wird<br />

gearbeitet, gelehrt <strong>und</strong> gerichtet, aber auch gejagt, geliebt, getanzt <strong>und</strong> gespielt.<br />

Verdichtet wird das weltliche Glück in der herausragenden Figur der Pax, <strong>die</strong> durch<br />

Schönheit <strong>und</strong> klassische Züge besticht <strong>und</strong> in deren Blickfeld sich das irdische<br />

Para<strong>die</strong>s entfaltet. Es ist eine Kombination <strong>von</strong> politischem Frieden, der durch<br />

Gerechtigkeit erzielt wird <strong>und</strong> damit den Raum für <strong>die</strong> Tugend schafft, <strong>und</strong> dem<br />

inneren Frieden, <strong>die</strong> der einzelne verwirklicht, wenn er nach Tugend strebt. Pax,<br />

Sinnbild der irdischen Glückseligkeit, nimmt schon im Purgatorium das Ziel der<br />

Läuterung voraus, das sich in allen Einzelheiten auf dem nächsten Wandbild entfaltet.<br />

Ansporn hierfür ist <strong>die</strong> Kraft der Liebe, <strong>die</strong> in Siena besondere Energien freisetzt; denn<br />

<strong>über</strong> <strong>die</strong> Stadt wacht nicht nur <strong>die</strong> Jungfrau Maria, <strong>die</strong> den Menschen in göttlicher<br />

Liebe zugetan ist, sondern auch <strong>die</strong> Liebesgöttin Venus.<br />

Die zunehmende Trennung der Traditionslinien in den folgenden Jahrzehnten wird<br />

wohl auch dazu beigetragen haben, dass der <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s als<br />

Ganzes keine eigentliche Rezeptionsgeschichte erfahren hat. Ein einziges ähnliches<br />

Werk soll es in Siena selbst gegeben haben <strong>und</strong> zwar in Form <strong>von</strong> drei Wandteppichen<br />

aus dem frühen 15. Jahrh<strong>und</strong>ert, <strong>die</strong> für den neuen grossen Saal des Consiglio generale<br />

im erweiterten Teil des Palazzo Pubblico in Auftrag gegeben wurden. 13 Gleichzeitig<br />

11 Siehe oben, S. 208<br />

12 Vgl. BLUMENBERG (1966), bes. S. 15 <strong>und</strong> S. 436<br />

13 SOUTHARD (1980), S. 362<br />

317


können wir jedoch feststellen, dass einzelne Elemente, <strong>die</strong> im <strong>Freskenzyklus</strong> vereint<br />

werden, selbständige ikonographische Traditionslinien besitzen, <strong>die</strong> sich in späterer<br />

Zeit fortsetzen. Ohne auf <strong>die</strong>se Traditionslinien im einzelnen einzugehen, seien sie zur<br />

Veranschaulichung <strong>die</strong>ses Gedankens nur kurz erwähnt: Bilderzyklen römischer<br />

Helden, 14 <strong>die</strong> Darstellung <strong>von</strong> Tugenden als Hofdamen, 15 <strong>die</strong> Ikonographie der<br />

Kommune, 16 Aristoteles als Lehrer der Politik, 17 Zyklen <strong>von</strong> Planeten <strong>und</strong> liberalen<br />

Künsten, 18 <strong>die</strong> Darstellungen <strong>von</strong> der Hölle <strong>und</strong> dem Jüngsten Gericht. 19<br />

Die Werke nach <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> zeigen auch, dass sich zunehmend ein<br />

Spannungspotential zwischen der weltlichen <strong>und</strong> der religiösen Sphäre sowie zwischen<br />

Vernunft <strong>und</strong> Sinnlichkeit aufbaut. 20 Während bei <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> irdische<br />

Lebensfreude mit göttlicher Caritas im Einklang steht, <strong>die</strong> ausserdem an <strong>die</strong> Gestalt<br />

des antiken Amor oder Eros erinnert, brechen zunehmend Konfliktlinien auf. Dieses<br />

Spannungspotential wird schon zur Zeit <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s in den Wandbildern der<br />

Bettelorden erkennbar: Bei den Franziskanern in Assisi erscheint Amor mit<br />

Krallenfüssen als Kontrast zur Keuschheit, 21 während <strong>die</strong> Dominikaner in ihren<br />

Bildprogrammen irdische Freuden wie Tanzen oder Jagen negativ besetzen. 22<br />

Politische Bildprogramme des Bürgerhumanismus indessen verzichten mit der<br />

Betonung des römischen, republikanischen Heldentums auf <strong>die</strong> positive Kraft der<br />

Liebe. Das zunehmende Spannungsverhältnis zwischen Weltanschauungen, <strong>die</strong> der<br />

<strong>Freskenzyklus</strong> noch vereint, offenbart auch <strong>die</strong> Episode in Siena <strong>von</strong> 1357: 23 Die antike<br />

Venusstatue, welche <strong>die</strong> Bürger im Jahr 1343 mit Freudenklängen auf den Brunnen<br />

vor dem Palazzo Pubblico gestellt hatten, wird zerstört, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Marmorscherben<br />

werden im Florentiner Contado verscharrt: Ihrer Verehrung wird das Unglück<br />

zugeschrieben, das seit der Pest 1348 <strong>über</strong> Siena hereingebrochen war. 24<br />

14 DONATO (1985)<br />

15 TUVE (1963) mit Literaturangaben<br />

16 WIERUSZOWSKI (1944); ASCHERI (1991), S. 170 f.<br />

17 DONATO (1988), S. 1140 ff.; RUBINSTEIN (1958), S. 193, jeweils mit Literaturangaben<br />

18 SCHLOSSER (1896); FELDGES-HENNING (1972) mit Literaturangaben<br />

19 BASCHET (1993); EDGERTON (1985)<br />

20 Vgl. PANOFSKY (1980), S. 156 ff.<br />

21 PANOFSKY (1980), S. 164, Abb. 88 (Unterkirche <strong>von</strong> Assisi, ca. 1320/25)<br />

22 Pisa Campo Santo, Triumph des Todes <strong>von</strong> Bonamico Buffalmacco, ca. 1330/45: BASCHET<br />

(1993), S. 293 ff.; BELLOSI (1974); BELTING / BLUME (1989), Abb. 96; Florenz, S. Maria Novella<br />

(Spanische Kapelle), Allegorie des Dominikanerordens <strong>von</strong> Andrea da Firenze, 1366-68; BELTING /<br />

BLUME (1989), Abb. XIII<br />

23 GHIBERTI (1447/48): I Commentarii, S. 56<br />

24 Vgl. MEISS (1951)<br />

318


Das Verhältnis der dantesken Deutung zu anderen Deutungen<br />

Wie verhält sich nun <strong>die</strong> dargelegte Deutung zu den Deutungen der anderen<br />

Autoren? Kehren wir zurück zum Begriff visibile parlare. Er enthält das Wort<br />

Sprechen. Ein Bild aber, das spricht, tritt in einen Dialog mit dem Betrachter. In der<br />

"sprechenden Malerei" entwickelt sich zwischen dem Bild <strong>und</strong> dem Betrachter ein<br />

Spiel <strong>von</strong> Fragen <strong>und</strong> Antworten. Konkret heisst das also, dass ein solcher Dialog<br />

zwischen dem <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s <strong>und</strong> dem Betrachter des frühen<br />

Trecento stattgef<strong>und</strong>en hat, aber auch zwischen dem Bild <strong>und</strong> dem Betrachter der<br />

folgenden Jahrh<strong>und</strong>erte <strong>und</strong> insbesondere findet <strong>die</strong>ser auch zwischen dem Bild <strong>und</strong><br />

dem Betrachter <strong>von</strong> heute statt. Was den historischen Betrachter vom aktuellen<br />

unterscheidet, ist der Zeithorizont. <strong>Der</strong> zeitliche Abstand ist heute nicht aufzuheben. Er<br />

kann jedoch Erkenntnisgewinn bedeuten, oder zu anderer Erkenntnis führen. 25 Die<br />

Distanz deckt Traditionslinien auf, beziehungsweise lässt den Bruch solcher<br />

Traditionslinien sichtbar werden.<br />

Im Fall des <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s befinden wir uns in der<br />

Situation, dass keine ausführlichen Interpretationen <strong>von</strong> Betrachtern früherer<br />

Jahrh<strong>und</strong>erte <strong>über</strong>liefert sind. Dafür sind jedoch sehr viele Deutungen aus dem 20.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert im Umlauf. Sie sind nicht nur zahlreich, sondern auch vielfältig <strong>und</strong><br />

teilweise sind sie bewusst zueinander widersprüchlich. Hier haben sich nicht nur<br />

unterschiedlichste Dialoge zwischen Bild <strong>und</strong> jeweiligem Betrachter entwickelt,<br />

sondern <strong>die</strong> Betrachter haben auch begonnen, sich gegenseitig aufeinander zu<br />

beziehen. Die entstandene Diskussion ist jedoch <strong>von</strong> Uneinigkeit geprägt, welche<br />

Fragen das Bild aufwirft <strong>und</strong> welche Antworten entsprechend gegeben werden sollen.<br />

Andere Interessen, Aufmerksamkeiten <strong>und</strong> Offenheiten führen bei den einzelnen<br />

Betrachtern zu anderen Fragen <strong>und</strong> damit zu anderen Antworten. Wer den Biographien<br />

<strong>und</strong> den Forschungsinteressen der einzelnen Interpreten des <strong>Freskenzyklus</strong> nachgeht,<br />

wird sicherlich einige Beziehungen zwischen den Lebensläufen, Bibliographien <strong>und</strong><br />

der jeweiligen Interpretation des Wandbilds feststellen können. Wesentlich ist, dass<br />

der Betrachter sich wirklich auf den Dialog mit der "sprechenden Malerei" einlässt,<br />

das heisst, nicht zufällige Beliebigkeit "im Dialog des verstehenden Lesens mit sich<br />

selbst" walten lässt. 26<br />

Das Resultat <strong>die</strong>ser vielen Betrachtungen kann nur Antwortmannigfaltigkeit sein.<br />

Welche philosophischen Schlüsse aus <strong>die</strong>ser Feststellung gezogen werden können,<br />

25 GADAMER (1990/93), bes. I, S. 170, S. 312; II, S. 14, S. 332, S. 402, S. 475<br />

26 GADAMER (1993), II, S. 7; DERS. (1990), I, S. 131 <strong>und</strong> vgl. S. 372 ff.<br />

319


lässt <strong>die</strong>se Arbeit bewusst offen. Hans-Georg Gadamer würde <strong>die</strong>se unabschliessbare<br />

Mannigfaltigkeit als Teil des Verstehens <strong>und</strong> des Verständnisses <strong>von</strong> Kunstwerken<br />

bezeichnen, sich aber gleichzeitig dagegen wehren, <strong>die</strong>se gegen <strong>die</strong> unverrückbare<br />

Identität des Werks auszuspielen. 27 Mieke Bal <strong>und</strong> Norman Bryson indessen, <strong>die</strong> einen<br />

wegweisenden Artikel <strong>über</strong> Arts and Semiotics in der Tradition des<br />

Dekonstruktivismus <strong>von</strong> <strong>Der</strong>rida publiziert haben, würden behaupten, dass für <strong>die</strong><br />

Anerkennung oder Durchsetzung einer Interpretation das akademische Machtgefüge<br />

eine Rolle spielt. 28 Alois Riklin hat in seiner Synthese der Interpretationen versucht, <strong>die</strong><br />

einzelnen Interpretationen abzuwägen <strong>und</strong> zu einer Gesamtschau zusammenzufügen.<br />

Aber auch für ihn ist "ein Gr<strong>und</strong> für <strong>die</strong> Faszination des Werks <strong>von</strong> <strong>Lorenzetti</strong> seine<br />

Ambivalenz, Mehrdeutigkeit, ja Vieldeutigkeit." 29<br />

Die hier dargelegte Betrachtung <strong>und</strong> Deutung des <strong>Freskenzyklus</strong> reiht sich in <strong>die</strong>se<br />

Antwortmannigfaltigkeit ein. Vorverständnis <strong>und</strong> Interesse haben <strong>die</strong> Betrachtung<br />

beeinflusst. Gleichzeitig wurde versucht, durch kritisches Quellenstudium <strong>die</strong><br />

Beliebigkeit in der Deutung zu vermeiden. 30 Die Auseinandersetzung mit dem<br />

Künstler, den Auftraggebern <strong>und</strong> der Stadtkultur des frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>erts in den<br />

italienischen Kommunen waren Teil der Spurensuche, um sich dem historischen<br />

Betrachter anzunähern. Dies kann immer nur eine Annäherung sein, da <strong>die</strong> Quellen,<br />

<strong>die</strong> hierfür herangezogen wurden, selbst wieder der Deutung unterliegen. Die<br />

Interpretation war schliesslich das Resultat eines Prozesses, der <strong>von</strong> sehr vielen<br />

Wechselwirkungen geprägt war. 31 Im Zentrum <strong>die</strong>ser Wechselwirkungen stand das<br />

Bild. Vom Bild führte der Weg jedoch zur Erforschung des Umfelds, <strong>die</strong> sich wieder<br />

an das Bild rückkoppelte <strong>und</strong> <strong>die</strong> gleichzeitig beeinflusst war <strong>von</strong> den Deutungen der<br />

anderen Interpreten. Im Wechselspiel <strong>die</strong>ses Prozesses kristallisierte sich schliesslich<br />

eine eigene Deutung des Bildes heraus. Bei <strong>die</strong>ser Deutung ist anzunehmen, dass <strong>die</strong><br />

Auseinandersetzung mit der Commedia Dantes ebenfalls nicht unabhängig <strong>von</strong> <strong>die</strong>sem<br />

Wechselspiel war. Das Lesen eines so vielschichtigen Werks wie der Commedia<br />

Dantes wurde nicht nur <strong>von</strong> der Kommentarliteratur des frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

beeinflusst, sondern auch vom Bild <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s selbst. Diese<br />

Wechselwirkung wurde jedoch bewusst in Kauf genommen. Schliesslich gehören<br />

beide Werke demselben Umfeld an.<br />

27 GADAMER (1993), II, S. 7<br />

28 BAL / BRYSON (1991), S. 207; s. a. SAUERLÄNDER (1995), S. 386<br />

29 RIKLIN (1996), S. 118<br />

30 Vgl. GADAMER (1990), I, S. 271; vgl. auch ebd., S. 172<br />

31 Vgl. ebd., S. 287<br />

320


Die kritische Frage stellt sich nun aber, ob das Kunstwerk, wie es hier betrachtet<br />

wurde, <strong>über</strong>haupt mit "eigenen" Augen gesehen wurde <strong>und</strong> nicht "durch <strong>die</strong> Brille<br />

zuvor erworbenen Bücherwissens." 32 Diese Kritik ist im gewissen Sinn berechtigt, aber<br />

nur, wenn <strong>die</strong> Wechselwirkungen, <strong>die</strong> das Bild provoziert, vernachlässigt werden.<br />

Wechselwirkungen verlangen Innehalten, um das Bild mit dem "erworbenen<br />

Bücherwissen" rückzukoppeln. Das Auge sieht, <strong>und</strong> <strong>die</strong>se Sinneserfahrung setzt <strong>die</strong><br />

intellektuelle Auseinandersetzung in Gang, <strong>die</strong> unter anderem auch <strong>von</strong> dem Wissen<br />

profitiert, das bis dahin erworben worden ist. In der Commedia folgt auf Dantes<br />

visibile parlare der Moment des Innehaltens. Dante lässt den Jenseitswanderer seinen<br />

Weg unterbrechen, um <strong>die</strong> Kunst der sprechenden Malerei auf ihn einwirken zu<br />

lassen. 33 <strong>Der</strong> Betrachter verweilt. Verweilen aber ist gemäss Hans-Georg Gadamer "<strong>die</strong><br />

eigentliche Auszeichnung in der Erfahrung <strong>von</strong> Kunst." 34 Es ist <strong>die</strong>ses Verweilen, das<br />

schliesslich zu den beschriebenen Wechselwirkungen geführt hat <strong>und</strong> das jeder<br />

ernsthaften Betrachtung <strong>und</strong> auch <strong>die</strong>ser Betrachtung zugr<strong>und</strong>e liegt.<br />

Weshalb das Interesse am <strong>Freskenzyklus</strong> heute?<br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> hat den <strong>Freskenzyklus</strong> im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert ausgeführt.<br />

Die Betrachtung des Kunstwerks erfolgt indessen in der Gegenwart. Als ein<br />

"dauerndes Monument" ragt es in unsere Zeit hinein 35 <strong>und</strong> hat, wie wir gesehen haben,<br />

sehr viele Betrachter des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts angesprochen.<br />

Was können wir daraus schliessen? Auf <strong>die</strong>se Frage kann nur eine Teilantwort<br />

gegeben werden, da es wohl auch in den Wissenschaften Modewellen gibt. Ausserdem<br />

ist <strong>die</strong> absolute Zahl jener, <strong>die</strong> sich mit so einem Bild näher befassen <strong>und</strong><br />

auseinandersetzen können, heute viel höher als je zuvor. Vielleicht sind es aber<br />

zunächst <strong>die</strong> Bilder <strong>von</strong> Krieg <strong>und</strong> Frieden in einer urbanen, für uns<br />

wiedererkennbaren Landschaft, <strong>die</strong> entführen <strong>und</strong> faszinieren. Sie evozieren Ängste<br />

<strong>und</strong> Wünsche: Angst vor Gewalt, zerstörerischem Trieb, Tod <strong>und</strong> Mangelwirtschaft<br />

einerseits, das Verlangen nach Wohlstand, Glück, Liebe <strong>und</strong> Sicherheit andererseits.<br />

Wie Dantes Commedia zieht der <strong>Freskenzyklus</strong> mit narrativen Elementen, mit<br />

Hässlichkeit <strong>und</strong> mit Schönheit in Bann <strong>und</strong> spricht den einzelnen auf emotionaler<br />

Ebene an. 36 Gleichzeitig werden <strong>die</strong>se Emotionen mit der intellektuellen<br />

32 FÖRDERER / RIKLIN (1996), S. 13<br />

33 Purgatorio X.97-98<br />

34 GADAMER (1993), II, S. 7<br />

35 GADAMER (1990), I, S. 125 f.<br />

36 Vgl. ebd., S. 135; STARN (1995), bes. S. 159 f.<br />

321


Auseinandersetzung <strong>über</strong> Werte verb<strong>und</strong>en, auf <strong>die</strong> eine politische Gemeinschaft<br />

beruht. Schliesslich scheint das Interesse am <strong>Freskenzyklus</strong> heute auch da<strong>von</strong><br />

beeinflusst zu sein, dass er als Herrschaftsträgerin <strong>die</strong> Kommune abbildet, also eine<br />

politische Ordnung, <strong>die</strong> nach geteilter <strong>und</strong> gesetzmässiger Herrschaft strebte.<br />

<strong>Der</strong> <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s ist im frühen Trecento entstanden <strong>und</strong><br />

damit in einer gesellschaftlichen Realität, <strong>die</strong> eine andere ist als heute. Zu denken ist<br />

hier an <strong>die</strong> Stellung der Frau, <strong>die</strong> Rolle der Religion, <strong>die</strong> Beziehungen zwischen der<br />

städtischen <strong>und</strong> der ländlichen Bevölkerung oder an den Prozentsatz jener, <strong>die</strong> an der<br />

geteilten Herrschaft Anteil hatten. Gleichzeitig spricht der <strong>Freskenzyklus</strong> aber Themen<br />

an, <strong>die</strong> uns auch heute beschäftigen: Krieg, Laster, Gewalt, Todesangst, Tyrannei, das<br />

Verhältnis <strong>von</strong> Eigennutz <strong>und</strong> Gemeinwohl, Gerechtigkeit, Tugend, Liebe, Eintracht,<br />

politische Partizipation, Frieden, Glück, Bildung <strong>und</strong> Rechtssicherheit. Nach der<br />

sittlich-politischen Zerstörung weist das Bild dem Handelnden <strong>die</strong> Richtung <strong>und</strong> stellt<br />

Ordnung dar. Das Bild spricht <strong>von</strong> Krise <strong>und</strong> artikuliert <strong>die</strong>se Krise. Es spricht aber<br />

auch <strong>von</strong> einem Ausweg aus der Krise <strong>und</strong> offenbart im Ergebnis das "vivere civile".<br />

Die danteske Deutung des <strong>Freskenzyklus</strong> <strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong>s kann schliesslich auch<br />

als ein Beitrag verstanden werden, darzulegen, wie sich <strong>die</strong> Menschen damals mit dem<br />

Phänomen <strong>von</strong> Krise auseinandersetzten <strong>und</strong> wie sie auf Fragen Antwort gaben, <strong>die</strong><br />

<strong>über</strong>zeitlichen oder universellen Inhalt haben: 37 Die Frage nach der Gerechtigkeit, nach<br />

der wahren politischen Ordnung, nach dem individuellen Glück, nach der Tugend <strong>und</strong><br />

nach der Liebe.<br />

37 Vgl. FÖRDERER/RIKLIN (1996), S. 15; GADAMER (1993), II, S. 423<br />

322


LITERATURVERZEICHNIS<br />

<strong>Ambrogio</strong> <strong>Lorenzetti</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> Fresken im Palazzo Pubblico (inkl. Literatur zur<br />

Kunst <strong>und</strong> Architektur im frühen 14. Jahrh<strong>und</strong>ert)<br />

ASCHERI, MARIO (1991): "Statuti, legislazione e sovranità: il caso di Siena", in: G.<br />

Chittolini/ D. Willoweit, Statuti, città, territori in Italie e Germania tra Medioevo ed<br />

Età moderna, Bologna, S. 145 – 194, bes. S. 163 ff.<br />

BAGNOLI, A./ BELLOSI, L. (1985) (Hrsg): Simone Martini e "chompagni", Florenz<br />

BAL, MIEKE / BRYSON, NORMAN (1991): "Semiotics and Art History", Art Bulleti, 73,<br />

S. 174-208<br />

BÄRTSCHMANN, OSKAR (1984): Einführung in <strong>die</strong> kunstgeschichtliche Hermeneutik,<br />

Darmstadt<br />

BASCHET, JÉROME (1993), Les justices de l'au-delà, Rom<br />

BELLOSI, LUCIANO (1974): Buffalmacco e il Trionfo della Morte, Turin<br />

BELTING, HANS (1990): Bild <strong>und</strong> Kult, eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter<br />

der Kunst, München<br />

BELTING, HANS (1989): "Das Bild als Text, Wandmalerei <strong>und</strong> Literatur im Zeitalter<br />

Dantes", in: Belting H. / Blume D. (Hrsg.): Malerei <strong>und</strong> Stadtkultur in der Dantezeit,<br />

München, S. 23-64<br />

BELTING, HANS (1985): The new Role of Narrative in Public Painting of the Trecento,<br />

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Tura del Grasso detta la cronaca maggiore, hrsg. <strong>von</strong> Alessandro Lisini <strong>und</strong> Fabio<br />

Iacometti in: Rerum Italicarum Scriptores, Band XV.6, Bologna 1939-47, S. 255-564<br />

ALBERTINO MUSSATO (1315): Ecerinis, hrsg. <strong>und</strong> <strong>über</strong>setzt <strong>von</strong> Hubert Müller in:<br />

<strong>Der</strong>s., Früher Humanismus in Oberitalien, Frankfurt 1987<br />

ANONIMO (um 1252/57): Storie de Troja et de Roma altrimenti dette Liber Ystoriarum<br />

Romanorum, hrsg. <strong>von</strong> E. Monaci, Rom 1920 (Volgarefassung eines lateinischen<br />

Werks um 1100/1110)<br />

ANONIMO (um 1200): Chronica de origine civitatis, hrsg. <strong>von</strong> O. Hartwig, in: Quellen<br />

<strong>und</strong> Forschungen zur Ältesten Geschichte der Stadt Florenz, I, Marburg 1875, S. 37 ff.<br />

ANONIMO (1280-1300): Il 'Novellino', in: C. Segre / M. Marti, La Prosa del Duecento,<br />

Mailand / Neapel 1959<br />

ANONIMO (um 1300): I fatti di Cesare, hrsg. <strong>von</strong> Luciano Banchi, Bologna 1863<br />

ANONIMO (um 1300): I conti di antichi cavalieri, hrsg. <strong>von</strong> A. del Monte, Mailand<br />

1972<br />

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ANONIMO (um 1300): Cato, ammaestramenti a Lelio Albano, nicht publiziert, in:<br />

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149, hrsg. <strong>von</strong> Jacob Ulrich, Zeitschrift für romanische Philologie, 19 (1985), S. 235 -<br />

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ANONYMUS LOMBARDUS (vor 1324): Anonymus Latin commentary on Dante's<br />

“Commedia”, reconstructed text, hrsg. <strong>von</strong> Vincenzo Cioffari, Spoleto 1989 (inkl.dem<br />

<strong>von</strong> Sandkühler als Anonymus theologus bezeichneten Kommentar)<br />

ANONIMO (vor 1337): Chiose anonime alla prima cantica della Divina Commedia,<br />

hrsg. <strong>von</strong> F. Selmi, Turin 1865<br />

ANONIMO (um 1350): Cronaca Senese, hrsg. <strong>von</strong> Alessandro Lisini <strong>und</strong> Fabio<br />

Iacometti in: Rerum Italicarum Scriptores, Band XV.6, Bologna 1939-47, S. 41-252<br />

ARISTOTELES: Nikomachische Ethik, hrsg. <strong>und</strong> <strong>über</strong>setzt <strong>von</strong> Günther Bien, 4. Aufl.,<br />

Hamburg 1985<br />

ARISTOTELES: Politik, hrsg. <strong>und</strong> <strong>über</strong>setzt <strong>von</strong> Brunoni Kreisky, Stuttgart 1989<br />

ARMANNINO GIUDICE (um 1325): La fiorita d'Italia, Auszüge publiziert in: L. - F.<br />

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BARTOLOMEO DA SAN CONCORDIA (um 1330): Ammaestramenti degli antichi, Florenz<br />

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BARTOLUS DA SASSOFERRATO (1355/57): De regimine civitatum, hrsg. <strong>von</strong> D.<br />

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BERNARDINO DA SIENA (1425): Le prediche volgari, Predicazione del 1425 in Siena,<br />

Band II, hrsg. <strong>von</strong> Ciro Cannaiozzi, Florenz 1958<br />

BINDO BONICHI (ca. 1275-1338): Rime di Bindo Bonichi, hrsg. <strong>von</strong> Pietro Bilancioni,<br />

Scelta di curiosità letterarie indedite o rare dal secolo XIII al XVIII, Bologna 1867<br />

BOCCACCIO, GIOVANNI (um 1360): Kleine Abhandlung zum Lobe Dantes, dt. <strong>über</strong>setzt<br />

<strong>von</strong> Otto <strong>von</strong> Taube, in: Dante Alighieri, Die göttliche Komö<strong>die</strong>, Zürich 1991<br />

BOETHIUS, ANCIUS MANLIUS SEVERINUS: Trost der Philosophie, Zürich 1990 (dt.<br />

Übersetzung <strong>von</strong> De consolationae philosophiae)<br />

BONO GAMBIONI (um 1280): Libro de' vizi e delle virtudi, hrsg. <strong>von</strong> Cesare Segre,<br />

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BRUNETTO LATINI (um 1280): Tesoro, hrsg. <strong>von</strong> L. Scarabelli, Florenz 1844<br />

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BRUNETTO LATINI (1260/66): Li livres dou Trésor, hrsg. <strong>von</strong> Francis J. Carmody,<br />

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CONVENEVOLE DA PRATO (1328/35): Regia Carmina, hrsg. <strong>von</strong> C. Grassi, Prato 1982<br />

CICERO, MARCUS TULLIUS: De officiis. Von den Pflichten, zweisprachige Ausgabe,<br />

neu <strong>über</strong>tragen <strong>von</strong> H. Merklin, mit einem Nachwort <strong>von</strong> M. Fuhrmann, Frankfurt am<br />

Main / Leipzig 1991<br />

CICERO, MARCUS TULLIUS: Vier Reden gegen Catilina, lateinisch / deutsch, <strong>über</strong>setzt<br />

<strong>und</strong> hrsg. <strong>von</strong> Dietrich Klose, Stuttgart 1972<br />

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