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Bourdieus Kapitalsorten und die Auswirkungen auf schulische Bildung

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Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg<br />

Sommersemester 2006<br />

Institut für <strong>Bildung</strong>swissenschaft<br />

Seminar: Theorie <strong>und</strong> Praxis der Schule<br />

Seminarleiter: Dr. Gerstner<br />

<strong>Bour<strong>die</strong>us</strong> <strong>Kapitalsorten</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

<strong>Auswirkungen</strong> <strong>auf</strong> <strong>schulische</strong> <strong>Bildung</strong><br />

Jochen Storch<br />

Gronauer Straße 87<br />

64625 Bensheim<br />

JochenSt.@gmx.de<br />

Politische Wissenschaft / Englische Philologie<br />

Abschlussziel: Staatsexamen<br />

Fachsemester: 3<br />

Hochschulsemester: 6<br />

Abgabedatum: 28.09.2006<br />

3


Inhalt<br />

1. Einleitung 3<br />

2. Kapital bei Bour<strong>die</strong>u<br />

2.1 Ökonomisches Kapital 3<br />

2.2 Kulturelles Kapital 4<br />

2.2.1 Der inkorporierte Zustand 4<br />

2.2.2 Der objektivierte Zustand 5<br />

2.2.3 Der institutionalisierte Zustand 5<br />

2.3 Soziales Kapital 6<br />

3. Kritische Würdigung 7<br />

4. Bibliographie<br />

5. Plagiatserklärung<br />

4


1. Einleitung<br />

Die bildungspolitische Debatte der letzten Jahre kreist in Deutschland immer wieder<br />

um <strong>die</strong> zentrale Problematik des Zusammenhangs von sozialer Herkunft <strong>und</strong><br />

<strong>schulische</strong>n Erfolgschancen. Soziale Herkunft wird hier größtenteils als ökonomische<br />

Komponente verstanden, berechnet in ökonomischen Maßen wie dem Einkommen<br />

der Eltern der Schüler. Außer Acht gelassen wird hierbei allzu oft, dass das<br />

ökonomische Setting einer Familie lediglich der Ausdruck einer anderen, nicht immer<br />

in mathematischen Größen bezifferbaren „Kapitalsorte“ ist, nämlich des jeweilig<br />

unterschiedlichen <strong>Bildung</strong>sniveaus des engsten sozialen Milieus der Kinder, der<br />

Familie. Das Seminarthema „Theorie <strong>und</strong> Praxis der Schule“ nehme ich im<br />

Folgenden zum Anlass, mit dem Soziologen Pierre Bour<strong>die</strong>u einen der<br />

bedeutendsten Theoretiker zu Wort kommen zu lassen; mit seinem wegweisenden<br />

Beitrag zur Debatte löst er sich von einer rein ökonomischen Sichtweise <strong>auf</strong> den<br />

Kapitalbegriff <strong>und</strong> erweitert ihn zu mehreren Ausformungen. Die Struktur <strong>die</strong>ser<br />

Arbeit ist wie folgt: Zunächst werden anhand des ökonomischen, des kulturellen <strong>und</strong><br />

des sozialen Kapitals <strong>die</strong> 3 gr<strong>und</strong>legenden Züge der <strong>Kapitalsorten</strong> <strong>Bour<strong>die</strong>us</strong> erklärt,<br />

<strong>die</strong> Implikationen <strong>die</strong>ser Begrifflichkeiten für <strong>die</strong> Institution Schule <strong>und</strong> das Phänomen<br />

der Chancenungleichheit erläutert, um schließlich eine kritische Würdigung des<br />

<strong>Bour<strong>die</strong>us</strong>chen Konzepts vornehmen zu können.<br />

2. Kapital bei Bour<strong>die</strong>u<br />

Ökonomisches Kapital<br />

Der Begriff „Kapital“ stammt aus der Ökonomie. Er meint <strong>die</strong> hier individuell wie<br />

kollektiv akkumulierbare Aneignung von materiellen Dingen. Die ausschließlich<br />

ökonomisch – materielle Dimension des Begriffs sieht Bour<strong>die</strong>u gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

problematisch, denn „[d]ieser wirtschaftswissenschaftliche Kapitalbegriff reduziert <strong>die</strong><br />

Gesamtheit der gesellschaftlichen Austauschverhältnisse <strong>auf</strong> den bloßen<br />

Warenaustausch, der […] vom Eigennutz geleitet ist.“ 1 Sofern ausschließlich <strong>die</strong>ser<br />

materielle Ansatz verfolgt wird, werden alle Austauschbeziehungen ignoriert, <strong>die</strong> von<br />

nicht-materieller, uneigennütziger Natur sind. 2 Die Ökonomie vereinnahmt den<br />

Kapitalbegriff insofern für sich, als dass der Warenaustausch als einzige Form<br />

sozialen Austauschs gewertet wird <strong>und</strong> alle anderen Formen hier keine<br />

Berücksichtigung finden. 3 Neben der Wirtschaftswelt sieht Bour<strong>die</strong>u eine Welt, deren<br />

„Güter“ nicht quantifizierbar <strong>und</strong> mit einem objektiven Preis auszeichenbar sind;<br />

dennoch spiegeln <strong>die</strong>se Güter einen ebenso hohen Machtfaktor in sozialen<br />

Beziehungen wider. Aus <strong>die</strong>sem Gr<strong>und</strong> ist es nicht ausreichend, den Kapitalbegriff<br />

zur Wirtschaft hin zu verengen; vielmehr ist es wichtig, soziale<br />

Austauschbeziehungen in ihrer Ganzheit zu betrachten <strong>und</strong> „<strong>die</strong> Gesetze zu<br />

bestimmen, nach denen <strong>die</strong> verschiedenen Arten von Kapital […] gegenseitig<br />

ineinander transformiert werden. Von zentraler Bedeutung, insbesondere hinsichtlich<br />

einer Analyse von sozialer Ungleichheit <strong>und</strong> <strong>schulische</strong>r Chancenungleichheit, ist der<br />

Terminus des kulturellen Kapitals.<br />

1<br />

Bour<strong>die</strong>u, Pierre: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg: VSA-Verlag, 1992, 50.<br />

2<br />

Ibid., 50-51.<br />

3<br />

Ibid., 51.<br />

5


Kulturelles Kapital<br />

Unter „Kulturellem Kapital“ versteht Bour<strong>die</strong>u <strong>die</strong> Gesamtheit der individuell<br />

akkumulierten kulturellen Inhalte, mit dem spezifischen Blick <strong>auf</strong> <strong>die</strong> Schule lässt sich<br />

hier von <strong>Bildung</strong> sprechen. 3 Zustandsformen kulturellen Kapitals lassen sich nach<br />

Bour<strong>die</strong>u unterscheiden: Der inkorporierte, der objektivierte <strong>und</strong> der institutionalisierte<br />

Zustand. 4<br />

Der inkorporierte Zustand<br />

In Abgrenzung an Theorien, <strong>die</strong> unterschiedlichen <strong>schulische</strong>n Erfolg entweder mit<br />

unterschiedlichen wirtschaftlichen Investitionen („Humankapital-Schule“ 5 ) oder der<br />

Verschiedenheit von Begabung <strong>und</strong> Fähigkeit erklären 6 , führt Bour<strong>die</strong>u den Begriff<br />

des inkorporierten, also „körpergeb<strong>und</strong>en[en]“ kulturellen Kapitals ein. Das Kapital<br />

wird über <strong>die</strong> Zeitinvestition in <strong>Bildung</strong> akkumuliert <strong>und</strong> ist an <strong>die</strong> Person geb<strong>und</strong>en,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong> Invesition „in sich“ vornimmt; somit ist der Erwerb <strong>die</strong>ser Form des Kapitals<br />

nicht delegierbar. 7 Diese Besonderheit der Kapitalsorte lässt sie in den Vorzug<br />

kommen, größtmöglichste Sicherheit vor Ausbeutungsversuchen durch <strong>die</strong> Eigner<br />

ökonomischen oder sozialen Kapitals zu erlangen. Denn im Gegensatz zu einer<br />

materiell übertragbaren Sache, <strong>die</strong> als Objekt durch ein Subjekt lediglich besessen<br />

werden kann, verschmilzt in <strong>die</strong>ser Kapitalform das Subjekt mit dem Objekt zu einer<br />

untrennbaren Einheit: „Inkorporiertes Kapital ist ein Besitztum, das zu einem festen<br />

Bestandteil der Person, zum Habitus geworden ist; aus „Haben“ ist „Sein“<br />

geworden.“ 8 Die Verinnerlichung kulturellen Kapitals verläuft durch Zeitinvestition,<br />

wodurch <strong>die</strong> „Dauer des <strong>Bildung</strong>serwerbs“ 9 zum wichtigsten Indikator zur<br />

Bestimmung der Kapitalform wird. Hinsichtlich der Schule attestiert Bour<strong>die</strong>u dem<br />

inkorporierten kulturellen Kapital, wie ein natürlicher vor<strong>schulische</strong>r<br />

Selektionsmechanismus zu wirken: Kinder wachsen in verschiedenen familiären<br />

Milieus <strong>auf</strong>, <strong>die</strong> Dauer, <strong>die</strong> Intensität <strong>und</strong> der Grad des Schulstoffbezugs der<br />

vor<strong>schulische</strong>n <strong>Bildung</strong> prägt <strong>die</strong> Chancenungleichheit bereits am ersten Schultag.<br />

An <strong>die</strong>sem Punkt, an dem Bour<strong>die</strong>u den Ursprung der Ungleichheit umschreibt,<br />

manifestiert sich seine Hauptthese: „In der engsten Beziehung zum Schulerfolg des<br />

Kindes steht - mehr noch als <strong>die</strong> vom Vater erzielten Abschlüsse <strong>und</strong> mehr als des<br />

von ihm absolvierten <strong>Bildung</strong>sgangs – das allgemeine <strong>Bildung</strong>sniveau der Eltern.“ 10<br />

Ein wichtiger Aspekt ist in <strong>die</strong>sem Zusammenhang <strong>die</strong> Art der Weitergabe kulturellen<br />

Kapitals: Sie läuft meist nicht inten<strong>die</strong>rt, sondern im Hintergr<strong>und</strong> während der<br />

Sozialisierung des Kindes ab. 11 Diese Tatsache ist ein entscheidender Gr<strong>und</strong> für <strong>die</strong><br />

weitgehende Nichtberücksichtigung der Kapitalform. Je nach Stärke des<br />

„Kulturkapitals“ 12 des familiären Umfelds akkumulieren Kinder einen<br />

4<br />

Bour<strong>die</strong>u (1992), 53.<br />

5<br />

Ibid., 54.<br />

6<br />

Ibid., 53.<br />

7<br />

Ibid., 55.<br />

8<br />

Ibid., 56.<br />

9<br />

Ibid., 56.<br />

10<br />

Bour<strong>die</strong>u, Pierre: Wie <strong>die</strong> Kultur zum Bauern kommt. Hamburg: VSA-Verlag, 2001, 2.<br />

11<br />

Ibid., 5.<br />

12<br />

Bour<strong>die</strong>u (1992), 58.<br />

6


unterschiedlichen Grad an vor<strong>schulische</strong>r <strong>Bildung</strong>. Im Idealfall ist nach Bour<strong>die</strong>u <strong>die</strong><br />

„gesamte Zeit der Sozialisation zugleich eine Zeit der Akkumulation.“ 13 Die Tatsache,<br />

dass <strong>die</strong> Stärke der Akkumulation in verschiedenen familiären Umfeldern<br />

unterschiedlich ist, weist <strong>auf</strong> einen ersten Ursprung der Chancenungleichheit der<br />

Kinder. Die Zeitkomponente verbindet den Ansatz des ökonomischen mit dem des<br />

kulturellen Kapitals; so ist es in verschiedenen wirtschaftlichen Konstellationen<br />

entweder möglich oder unmöglich, dem Kind Zeitressourcen zur Akkumulation<br />

kulturellen Kapitals zur Verfügung zu stellen. 14 Die Persistenz <strong>die</strong>ser strukturellen<br />

Chancenungleichheit ist nach Bour<strong>die</strong>u eine der entscheidenden Probleme <strong>und</strong> lässt<br />

sich <strong>auf</strong> ein ihr innewohnendes Charakteristikum zurückführen: Ihre<br />

Reproduktionsfähigkeit. Ein Ausbruch aus dem Kreisl<strong>auf</strong> der strukturellen<br />

Ungleichheit wird dann schwer möglich, wenn <strong>die</strong> jeweiligen Sozialmilieus ihre Kinder<br />

mit ihren spezifischen Erwartungshorizonten <strong>und</strong> Zielvorstellungen prägen, <strong>und</strong> zwar<br />

bevor <strong>die</strong> Schule ihr Potential als homogenisierende Institution ausspielen kann; wie<br />

es Girard <strong>und</strong> Bastide treffend formulieren: „Die Pläne der Familien reproduzieren<br />

gleichsam <strong>die</strong> soziale Stratifikation, <strong>die</strong> sich im Übrigen in den verschiedenen<br />

Schularten wiederfindet.“ 15<br />

Der objektivierte Zustand<br />

Das objektivierte kulturelle Kapital gewinnt seine Bedeutung aus seiner ambivalenten<br />

Rolle als Teilaspekt des Objekts, dass allerdings nur über <strong>die</strong> entsprechende<br />

Existenz inkorporierten kulturellen Kapitals zur Entfaltung kommen kann. Als<br />

Beispiele für <strong>die</strong> Kapitalsorte lassen sich Güter wie Bücher, Lexika, Instrumente oder<br />

Maschinen anführen. 16 Der Eigner ökonomischen Kapitals, beispielsweise in Form<br />

eines Computers, kann <strong>die</strong> Funktionslogik seines Guts nicht verstehen <strong>und</strong> somit<br />

dessen Potentiale nicht ausschöpfen, wenn ihm das entsprechende Wissen, <strong>die</strong><br />

entsprechende Theoriekenntnis fehlt, er nicht über das notwendige objektivierende<br />

Kulturkapital verfügt. In <strong>die</strong>ser Zustandsform erschließt sich das Objekt dem Subjekt<br />

in seiner Ganzheit. 17 Hier wird der Unterschied zwischen materieller Übertragung<br />

<strong>und</strong> symbolischer Aneignung kulturellen Kapitals deutlich. In materieller,<br />

ökonomischer wie juristischer Hinsicht kann eine Übertragung eines Guts problemlos<br />

von statten gehen, indem nach Zahlung des K<strong>auf</strong>preises ein neuer Eigentümer im<br />

rechtmäßigen Besitz des Gegenstands ist. Die Einzigartigkeit des kulturellen Kapitals<br />

besteht nun aber gerade in der Schwierigkeit seiner Übertragung. Aus <strong>die</strong>ser<br />

besonderen Problematik folgert Bour<strong>die</strong>u <strong>die</strong> Uneindeutigkeit gesellschaftlicher<br />

Rollenverteilung; in einer Gesellschaft, in der <strong>die</strong> Besitzer ökonomischen Kapitals,<br />

also beispielsweise Produktionsmittel, nicht über das nötige inkorporierte kulturelle<br />

Kapital zum Verständnis des jeweiligen Guts verfügen, aber gleichzeitig <strong>die</strong> Besitzer<br />

<strong>die</strong>ses Kapitals nicht <strong>die</strong> Besitzer des Guts sind, drängt sich eine Frage <strong>auf</strong>: Wer ist<br />

Herrscher, wer ist Beherrschter? 18 Nichtsdestotrotz erkennt Bour<strong>die</strong>u das<br />

ökonomische Kapital als <strong>die</strong> dominante Kapitalsorte an, wodurch sich für <strong>die</strong><br />

<strong>Bildung</strong>sinstitutionen wie <strong>die</strong> Schule ein enormer Konkurrenz- <strong>und</strong> im gleichen<br />

Atemzug Selektionseffekt einstellt, dergestalt dass der Wettl<strong>auf</strong> um Arbeitsplätze ein<br />

13 Ibid., 58.<br />

14 Bour<strong>die</strong>u (1992), 59.<br />

15 Bour<strong>die</strong>u (2001), 6.<br />

16 Vgl. Bour<strong>die</strong>u (1992), 53.<br />

17 Vgl. Bour<strong>die</strong>u (1992), 60-61.<br />

18 Vgl. Bour<strong>die</strong>u (1992), 60.<br />

7


Wettl<strong>auf</strong> um inkorporiertes kulturelles Kapital wird – ein Rennen, das, wie bereits im<br />

letzten Kapitel analysiert, mit ungleichen Startvoraussetzungen beginnt.<br />

Der institutionalisierte Zustand<br />

Als Antwort <strong>auf</strong> <strong>die</strong> Eigenart des inkorporierten Zustands kulturellen Kapitals, das<br />

körpergeb<strong>und</strong>en an den Eigner ein biologisch bedingtes Ende zu erwarten hat, hat<br />

sich <strong>die</strong> institutionalisierte Form, wie der Name bereits erkennen lässt,<br />

„institutionalisiert“, d.h. juristisch abgesichert <strong>und</strong> von Person zu Person übertragbar<br />

gemacht. Als klassisches Beispiel fungiert hier der amtliche Titel: „Durch den<br />

<strong>schulische</strong>n oder akademischen Titel wird dem von einer bestimmten Person<br />

besessenen Kulturkapital institutionelle Anerkennung verliehen.“ 19 Die eigentlich<br />

nicht exakt bestimmbare Akkumulation kulturellen Kapitals wird in <strong>die</strong>sem Prozess<br />

standardisiert, d.h. es werden Standards zur Abgrenzung der Titel festgelegt, „relativ<br />

unabhängig […] von dem kulturellen Kapital, das <strong>die</strong>ser tatsächlich zu einem<br />

gegebenen Zeitpunkt besitzt.“ 20 Diese Standardisierung hat zur Folge, dass dem<br />

natürlichen Kontinuum des Grads kulturellen Kapitals <strong>die</strong> Vorstellung einer<br />

stufenweisen Ausprägung <strong>die</strong>ses Kapitals entgegengesetzt <strong>und</strong> legitimiert wird:<br />

Minimale Leistungsunterschiede ziehen maximale Konsequenzen für <strong>die</strong> <strong>schulische</strong><br />

L<strong>auf</strong>bahn nach sich. 21 Ein weiteres Wesensmerkmal der Kapitalsorte liegt in ihrer<br />

wechselseitigen Umwandelbarkeit in ökonomisches Kapital: Einem <strong>schulische</strong>n Titel<br />

kann ein Geldwert zugewiesen werden. 22<br />

Soziales Kapital<br />

In Abgrenzung zum ökonomischen wie zum kulturellen Kapital ist <strong>die</strong> Kapitalsorte<br />

„Soziales“ Kapital“ zwar auch individuell akkumulierbar, jedoch ohne den<br />

Kollektivzusammenhang nicht zu denken. Bour<strong>die</strong>u definiert den Terminus als „<strong>die</strong><br />

Gesamtheit der aktuellen <strong>und</strong> potentiellen Ressourcen, <strong>die</strong> mit dem Besitz eines<br />

dauerhaften Netzes von […] institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen<br />

Kennens oder Anerkennens verb<strong>und</strong>en sind.“ 23 Mit dem institutionalisierten<br />

kulturellen Kapital verbindet ihn der Aspekt der Institutionalisierung, z.B.<br />

gekennzeichnet durch <strong>die</strong> Übernahme eines gemeinsamen Namens. Der Grad des<br />

Sozialkapitals bestimmt sich nicht nur aus der Größe des eigenen<br />

Personennetzwerkes, sondern auch im Besonderen aus der Größe des sozialen<br />

Kapitals des oder der Bekannten. Zu unterscheiden sind hierbei 2 verschiedene<br />

Profite, <strong>die</strong> aus einer sozialkapitalbasierten Austauschbeziehung gewonnen werden<br />

können, nämlich materielle wie symbolische. 24 Die symbolischen Profite ziehen ihre<br />

große Bedeutung aus der Tatsache, dass das eigene Prestige mit von dem der<br />

Gruppenmitglieder abhängt; so kann besonders viel Sozialkapital aus der<br />

Bekanntschaft mit Mitgliedern einer „erlesenen <strong>und</strong> angesehenen“ 25 Gruppe<br />

19 Bour<strong>die</strong>u (1992), 62.<br />

20 Ibid., 61-62.<br />

21 Ibid., 62.<br />

22 Ibid., 62.<br />

23 Ibid., 63.<br />

24 Ibid., 65.<br />

25 Ibid., 65.<br />

8


gewonnen werden. Im Gegensatz zur Familie, <strong>die</strong> zu den<br />

„Verwandtschaftsbeziehungen“ 26 zählen, konstituiert sich <strong>die</strong> soziale Gruppe<br />

bewusst in einem institutionalisierten Prozess, den<br />

„Institutionalisierungsriten“ 27 Kennzeichnend für <strong>die</strong>sen Prozess ist <strong>die</strong> Umwandlung<br />

von Zufallsbeziehungen in dauerhafte Beziehungsgeflechte, <strong>die</strong> mit der Zeit ein<br />

Gefühl der Verpflichtung entstehen lassen, entweder basierend <strong>auf</strong> „subjektiven<br />

Gefühlen“ 28 , oder „institutionellen Garantien“ 29 . In Form der Gruppe wird soziales<br />

Kapital reproduziert, ein Phänomen, das wir bereits bei der Analyse des kulturellen<br />

Kapitals kennen gelernt haben. Nachdem sich <strong>die</strong> Gruppe institutionalisiert, erfolgt<br />

ihre Reproduktion über <strong>die</strong> Austauschbeziehungen, „der Austausch macht <strong>die</strong><br />

ausgetauschten Dinge zu Zeichen der Anerkennung […].“ Im selben Maße wie sich<br />

<strong>die</strong> Gruppe konstituiert <strong>und</strong> reproduziert, achtet sie <strong>auf</strong> <strong>die</strong> Einhaltung der Grenzen<br />

der Austauschbeziehungen. So ist jedes Neumitglied eine potentielle Gefahrenquelle<br />

für den Gruppencharakter. 30<br />

Der Beitrag des Konzepts des sozialen Kapitals zur Problematik der<br />

Chancenungleichheit lässt sich, ähnlich dem Konzept des kulturellen Kapitals,<br />

anhand der Reproduktionsfähigkeit erkennen. Kinder aus familiären Milieus mit<br />

einem geringen <strong>Bildung</strong>sniveau werden somit beispielsweise nicht den gleichen<br />

Zugang zu symbolischem Sozialkapital haben wie solche aus einem bildungsstarken<br />

familiären Umfeld. Denn der Theorie <strong>Bour<strong>die</strong>us</strong> folgend, ist nicht nur <strong>die</strong> Weite des<br />

Netzwerks, sondern insbesondere das Prestige der einzelnen Mitglieder des<br />

Netzwerks entscheidend für <strong>die</strong> Akkumulation von Sozialkapital. Wenn man <strong>die</strong>sen<br />

Gedanken zu Ende denkt <strong>und</strong> den Begriff „Gruppe“ <strong>auf</strong> gesellschaftliche Klassen<br />

bzw. Schichten abstrahiert, wird der Zusammenhang zwischen kulturellem <strong>und</strong><br />

sozialem Kapital deutlich: Ein hoher Grad an institutionalisiertem kulturellen Kapital in<br />

Form von Titeln führt zu einem hohen Prestige, wodurch es den Eignern wiederum<br />

leicht fällt, ihr Sozialkapital zu erhöhen, getreu dem Motto „Wer hat, dem wird<br />

gegeben“: „[d]er Ertrag der für <strong>die</strong> Akkumulation <strong>und</strong> Unterhaltung von Sozialkapital<br />

erforderlichen Arbeit [ist] umso größer […], je größer <strong>die</strong>ses Kapital selber ist.“ 31<br />

3. Kritische Würdigung<br />

<strong>Bour<strong>die</strong>us</strong> Beitrag zur Debatte um den Ursprung der Chancenungleichheit der<br />

Schüler ist ohne Zweifel als bedeutend zu bezeichnen, vor allem weil er durch <strong>die</strong><br />

theoretische Darlegung der verschiedenen <strong>Kapitalsorten</strong> <strong>die</strong> Perspektive <strong>auf</strong> <strong>die</strong><br />

Problemlage fruchtbar erweitert. Er befreit sich von einem Kapitalbegriff, der<br />

ausschließlich von der Ökonomie bestimmt wird <strong>und</strong> legt durch <strong>die</strong> Analyse anderer<br />

Kapitalformen, insbesondere durch <strong>die</strong> Entfaltung des kulturellen Kapitals den<br />

eigentlichen Kern des Themas frei: Die wichtigste Ursache der Ungleichheit ist weder<br />

in unterschiedlichen Begabungen, noch in unterschiedlichen Geldinvestitionen,<br />

sondern in der Chancenungleichheit zu suchen, der <strong>die</strong> Kinder bereits vor dem<br />

Eintritt in <strong>die</strong> Schule ausgesetzt sind. Die Diskrepanz zwischen den Chancen erklärt<br />

sich größtenteils aus den unterschiedlichem Vorraten kulturellen Kapitals innerhalb<br />

26<br />

Ibid., 65.<br />

27<br />

Ibid., 65.<br />

28<br />

Ibid., 65.<br />

29<br />

Ibid., 65.<br />

30<br />

Vgl. Bour<strong>die</strong>u (1992), 66.<br />

31<br />

Ibid., 67.<br />

9


der verschiedenen familiären Milieus. Doch wer hieraus schlussfolgert, dass<br />

Bour<strong>die</strong>u <strong>die</strong> Schule von der Schuld an der Problematik befreit, sieht sich getäuscht;<br />

er kritisiert <strong>die</strong> Institution Schule <strong>auf</strong>s Schärfste, gerade weil sie eine wesentliche<br />

Mitverantwortung für <strong>die</strong> Reproduktionsfähigkeit bestehender sozialer Strukturen der<br />

Ungleichheit trägt. Getreu dem Titel seines Aufsatzes „Die konservative Schule“ wirft<br />

Bour<strong>die</strong>u der Schule vor, <strong>die</strong> Chancenungleichheit zu konservieren, zu wahren,<br />

anstatt Schülern <strong>die</strong> Chance zu ermöglichen, sich aus ihrem sozialen Milieu zu<br />

befreien. Das Ideal der „formalen Definition <strong>schulische</strong>r Gerechtigkeit“ 32 führt somit<br />

zu einer Aufrechterhaltung der Ungleichheit: […] [I]ndem das Schulsystem alle<br />

Schüler, wie ungleich sie auch in Wirklichkeit sein mögen, in ihren Rechten wie<br />

Pflichten gleich behandelt, sanktioniert es faktisch <strong>die</strong> ursprüngliche Ungleichheit<br />

gegenüber der Kultur.“ 33 Eine gute Pädagogik dagegen müsste es als oberstes Ziel<br />

ansehen, <strong>die</strong> vor<strong>schulische</strong>n Unterschiede im kulturellen Kapital zu kompensieren,<br />

<strong>und</strong> somit „allen <strong>die</strong> Mittel an <strong>die</strong> Hand zu geben, all das zu erwerben, was unter dem<br />

Anschein der „natürlichen“ Begabung nur den Kindern der gebildeten Klassen<br />

gegeben ist.“ 34 Ein möglicher Ausweg aus dem Dilemma der sich reproduzierenden<br />

sozialen Strukturen könnte dann entstehen, wenn Eltern aus einem bildungsarmen<br />

Milieu ihren Kindern den Zugang zu den höheren Schulzweigen ermöglichen. Doch<br />

Bour<strong>die</strong>u betrachtet <strong>die</strong>se Option als unrealistisch. Nach ihm werden <strong>die</strong> sozialen<br />

Strukturen in ihrer Ungleichheit sowohl von der Gesellschaft wie von der Schule in<br />

der Gestalt bewahrt, dass <strong>die</strong> sozial niederen Klassen ihren Erwartungshorizont an<br />

<strong>die</strong> aktuelle Struktur anpassen, ohne sich eine Befreiung zuzutrauen: „So trägt alles<br />

dazu bei, <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong>, wie man sagt, „keine Zukunft haben“, zu „vernünftigen“<br />

oder, […], zu „realistischen“ Erwartungen, was sehr oft heißt, zum Verzicht <strong>auf</strong> das<br />

Hoffen anzuhalten.“ 35<br />

Fraglos zielt Bour<strong>die</strong>u dar<strong>auf</strong> ab, den Begabungsmythos, mit dem allzu oft der wahre<br />

Ursprung der Ungleichheit verschleiert wird, zu entkräften. An <strong>die</strong>sem Punkt kann ich<br />

zwar seine Argumentation nachvollziehen, jedoch komme ich nicht zu derselben<br />

extremen Folgerung, dass <strong>die</strong> soziale Ungleichheit überhaupt keinen relevanten<br />

Bezug zu unterschiedlichen Fähigkeiten oder Begabungen besitzt. Die Kinder sind<br />

beim Eintritt in <strong>die</strong> Schule meiner Ansicht nach nicht das ausschließliche Produkt des<br />

Grads an kulturellem Kapital innerhalb ihrer familiären Umfelder; Bour<strong>die</strong>u übersieht<br />

an <strong>die</strong>sem Punkt, dass Kinder sehr wohl unterschiedliche Begabungen <strong>auf</strong>weisen,<br />

<strong>und</strong> das unabhängig von ihrer sozialen Disposition. Nichtsdestotrotz stimmte ich<br />

vollkommen überein, dass <strong>die</strong> Schule nicht nur das Potential, sondern auch <strong>die</strong><br />

Pflicht hat, <strong>die</strong> Strukturen der Ungleichheit zu zerbrechen, anstatt sie zu<br />

konservieren. Ihr kommt „faktisch <strong>und</strong> von Rechts wegen […] [<strong>die</strong> Erfüllung der<br />

Funktion zu], […] unterschiedslos allen Mitgliedern der Gesellschaft <strong>die</strong> Befähigung<br />

zu den kulturellen Praktiken zu geben, <strong>die</strong> der Gesellschaft als <strong>die</strong> nobelsten<br />

gelten.“ 36<br />

Alles in Allem ist festzuhalten, dass Pierre Bour<strong>die</strong>u mit seinen bildungstheoretischen<br />

Beiträgen ein hochaktuelles Thema berührt. Seine Theorie ist gekennzeichnet durch<br />

seine Konstruktivität, sie entlarvt bisherige Mythen, aber verharrt nicht in <strong>die</strong>ser<br />

destruktiven Position, sondern zeigt Lösungswege <strong>auf</strong>.<br />

32 Bour<strong>die</strong>u (2001), 10.<br />

33 Ibid., 10.<br />

34 Ibid., 10.<br />

35 Bour<strong>die</strong>u (2001), 8.<br />

36 Ibid., 18.<br />

10


Plagiatserklärung<br />

Folgende Erklärung ist ab sofort allen<br />

Hausarbeiten beizulegen:<br />

Von Plagiat spricht man, wenn Ideen <strong>und</strong> Worte anderer als eigene ausgegeben<br />

werden. Dabei spielt es keine Rolle, aus welcher Quelle (Buch, Zeitschrift,<br />

Zeitung, Internet usw.) <strong>die</strong> fremden Ideen <strong>und</strong> Worte stammen, ebenso wenig, ob<br />

es sich um größere oder kleinere Übernahmen handelt oder ob <strong>die</strong> Entlehnung<br />

wörtlich oder übersetzt oder sinngemäß ist. Entscheidend ist allein, ob <strong>die</strong> Quelle<br />

angegeben ist oder nicht. Wird sie verschwiegen, liegt ein Plagiat, eine<br />

Täuschung, vor.<br />

In solchen Fällen kann keine Leistung des Stu<strong>die</strong>renden anerkannt werden: Es<br />

wird kein Leistungsnachweis (auch kein Teilnahmeschein) ausgestellt, eine<br />

Wiederholung der Arbeit ist nicht möglich <strong>und</strong> <strong>die</strong> Lehrveranstaltung wird in der<br />

Institutskartei als "nicht bestanden (P)" registriert.<br />

Ich erkläre hiermit, <strong>die</strong>sen Text zur Kenntnis genommen <strong>und</strong> in <strong>die</strong>ser Arbeit kein<br />

Plagiat im o.g. Sinne begangen zu haben.<br />

Datum, Unterschrift<br />

11

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