humanistisch! Das Magazin #12 - 1/2021
Die Stühle bleiben leer: Kultur in der Coronakrise – ein Zwischenbericht
Die Stühle bleiben leer: Kultur in der Coronakrise – ein Zwischenbericht
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<strong>#12</strong> / Januar <strong>2021</strong><br />
Die Stühle<br />
bleiben leer<br />
Kultur in der Coronakrise – ein Zwischenbericht<br />
18 Leicht gesagt, schwer<br />
gehört: Eine Erzählung<br />
aus Corona-Zeiten<br />
20 Meet a Humanist:<br />
Joachim Kahl stellt<br />
sich vor<br />
28 Neue Chance nach Trump:<br />
Amerikas Humanist*innen<br />
und die Wahlen
<strong>humanistisch</strong>! <strong>#12</strong> / Januar <strong>2021</strong><br />
<strong>#12</strong> / Januar <strong>2021</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />
INHALT<br />
editorial<br />
03<br />
Editorial<br />
04<br />
Kurznachrichten<br />
06<br />
Kultur in<br />
der Coronakrise<br />
10<br />
Kunst & Kultur in Zahlen<br />
12<br />
In den Augen<br />
vieler Betrachter:<br />
der KulTurm Nürnberg<br />
14<br />
Supermärkte bleiben offen<br />
15<br />
Nah am Puls –<br />
Neues aus der HV<br />
17<br />
Buchtipps<br />
18<br />
Leicht gesagt.<br />
Schwer gehört.<br />
20<br />
Meet a humanist –<br />
Joachim Kahl<br />
Die säkulare<br />
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Preis je 20er Bogen: 24 Euro.<br />
22<br />
Der Kulturrucksack<br />
im Klassenzimmer<br />
24<br />
Der Mensch als<br />
begründendes Wesen<br />
26<br />
Weltspiegel<br />
28<br />
Ein <strong>humanistisch</strong>er Kommentar<br />
zur US-Wahl 2020<br />
31<br />
Nachschlag & Impressum<br />
Über einen<br />
Spendenaufschlag<br />
von 40 Cent<br />
unterstützen<br />
Käufer*innen<br />
wohltätige gemeinnützige<br />
Zwecke von<br />
Initiativen und<br />
Projekten der<br />
Humanistischen<br />
Vereinigung.<br />
Humanismus befürwortet künstlerische Kreativität und Imagination<br />
und erkennt die transformative Macht der Kunst an.<br />
Humanismus bekräftigt die Wichtigkeit von Literatur, Musik sowie<br />
der visuellen und darstellenden Künste für die persönliche Entwicklung<br />
und Erfüllung.<br />
So steht es in der Amsterdam-Deklaration der Humanists International, in der<br />
sich die Humanist*innen dieser Welt auf gemeinsame Ziele geeinigt haben. Die<br />
Herausforderungen der Coronavirus-Pandemie stellen uns derzeit vor die Frage: Wie<br />
ernst nehmen wir diese Passage, welche wirkliche Bedeutung messen wir ihr bei?<br />
Seit bald einem Jahr nun befinden sich erhebliche Teile des Kulturbetriebs in<br />
einem Ausnahmezustand sondergleichen: Aufführungen und Konzerte, Lesungen und<br />
Podiumsdiskussionen, aber auch Kabaretts vor Publikum können nicht stattfinden.<br />
Museen wurden monatelang geschlossen, sie sind es wieder oder dürfen nur unter<br />
Auflagen öffnen. Selbst privaten Chören ist es verwehrt, die geliebten Gesangsproben<br />
abzuhalten. Und vom Ausnahmezustand am wenigsten schwerwiegend betroffen<br />
sind dabei ja diejenigen, die sich „nur“ auf der Seite der Konsument*innen künstlerischer<br />
Tätigkeit bewegen.<br />
Dramatisch sieht es vielfach auf der Seite der Kunst- und Kulturschaffenden aus,<br />
die durch ihre Arbeit vor Publikum einen Lebensunterhalt zu bestreiten haben, und<br />
nicht selten auch den einer Familie mit Kindern. Für viele von ihnen haben die Einschränkungen<br />
aufgrund der Pandemie eine sehr existenzielle Bedeutung gewonnen,<br />
in der sie sich ihrer Berufung, ihrer Einkommenschancen und jeglicher Planbarkeit<br />
zugleich beraubt sehen. Unser Titelbeitrag will deshalb den Blick auf die Situation<br />
des Kulturwesens in der Corona-Krise lenken und zur praktizierten Solidarität anstiften.<br />
Wenn auch geringfügiger, sind schließlich die Menschen auf der Konsument*innen-Seite<br />
ebenfalls betroffen: Gemeinsame Erlebnisse wie der Genuss von künstlerischem<br />
und kulturellen Schaffen gehören zu dem, was uns in unseren Leben miteinander<br />
und das noch über Jahre hinweg verbindet, durch die geteilten Erinnerungen<br />
in unseren Freundschaften. Wir sollten deshalb zugleich kritisch bedenken, was es<br />
mit uns macht, wenn Teile des Kulturbetriebs auf bis jetzt noch unabsehbare Zeit<br />
in „Lockdowns“ oder anderen harten Einschränkungen verharren müssen sollten.<br />
Bleiben Sie gesund!<br />
Es grüßt Sie herzlich<br />
Ihr<br />
Arik Platzek<br />
Redakteur<br />
Liebe Leserinnen,<br />
liebe Leser,<br />
3
<strong>humanistisch</strong>! <strong>#12</strong> / Januar <strong>2021</strong><br />
<strong>#12</strong> / Januar <strong>2021</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />
WENIG NEUES<br />
UM ASSISTIERTEN<br />
SUIZID<br />
Foto: ©perfectlab/adobestock.com<br />
<strong>Das</strong> Bundesverfassungsgericht hatte im Februar 2020 den<br />
Paragraf 217 des deutschen Strafgesetzbuches für verfassungswidrig<br />
und nichtig erklärt und deutlich entschieden:<br />
Aktive Sterbehilfe, wie beispielsweise in den Niederlanden,<br />
bleibt zwar verboten, doch wer nicht mehr leben will, hat in<br />
Deutschland das Recht auf assistierten Suizid. Grundlage für<br />
die deshalb zu schaffenden, gesetzlichen Regelungen sind unter<br />
anderem Empfehlungen des Deutschen Ethikrates. In seiner<br />
jüngsten öffentlichen Plenarsitzung zu diesem Thema kam das<br />
Gremium jedoch keinen Schritt voran, im Gegenteil: Schon die<br />
Fragestellung „Recht auf Selbsttötung?“ geht deutlich hinter<br />
das Urteil zurück, Referent*innen stellten immer noch die Frage<br />
ob Suizid moralisch erlaubt sei – und positionierten sich damit<br />
eher auf Seite derjenigen, die ihn grundsätzlich als unmoralisch<br />
ablehnen.<br />
Zum Thema hat die Humanistische Vereinigung im April<br />
2020 einen Gesetzesentwurf vorgelegt, der den assistierten Suizid<br />
erlaubt, aber auch die Einrichtung einer Suizidpräventionsberatung<br />
vorsieht. Details unter <strong>humanistisch</strong>e-vereinigung.de<br />
Wie steht es<br />
um Apostaten?<br />
Anfang Oktober 2020 stellten die Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses,<br />
Gyde Jensen, und die FDP-Fraktion im Bundestag die<br />
Anfrage „Religions- und Weltanschauungsfreiheit von Apostat*innen<br />
und religionsfreien Menschen“. Noch nie wurde von der Bundesregierung<br />
so ein Bericht eingefordert.<br />
In ihrer Antwort vom 6. November betonte die Bundesregierung,<br />
dass sie sich auf internationaler Ebene für Menschenrechte stark machen<br />
wolle. Auch äußerte sie sich besorgt darüber, „dass das Menschenrecht<br />
auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit weltweit zunehmend<br />
eingeschränkt wird“. In manch anderen Punkten blieb sie unkonkret.<br />
So vermochte sie weder über die Zahl der nichtreligiösen Schutzsuchenden<br />
in Deutschland etwas zu sagen, noch über die Gefahren, denen<br />
diese auch hierzulande möglicherweise ausgesetzt sind. Ebenfalls nicht<br />
weiter äußern wollte sie sich über ein besonderes Schutzbedürfnis von<br />
Apostat*innen und Nichtreligiösen in den Ländern, die vom Bundesministerium<br />
für wirtschaftliche Zusammenarbeit als „bilaterale Partner“<br />
angesehen werden.<br />
Kreationismus aktuell<br />
Ist es religiöser Übereifer?<br />
Ist es Wissenschaftsfeindlichkeit?<br />
Um die Frage, wie<br />
die Welt erschaffen wurde,<br />
wird in einem kleinen Ort im<br />
Westerwald jedenfalls heftig<br />
gestritten. Mit einem zwischenzeitlich<br />
überraschenden<br />
Ergebnis. In der Gemeinde<br />
Hellenhahn-Schellenberg sollte<br />
ein Themen-Wanderweg mit<br />
20 Schildern entstehen, der die<br />
Entwicklung des Lebens auf<br />
der Erde zeigt. Eine Attraktion<br />
für den kleinen Ort, Bürgermeisterin<br />
und Gemeinde-<br />
rat waren begeistert. Doch<br />
sie hatten die Rechnung ohne<br />
einige religiöse Mitbürger*-<br />
innen gemacht, die den „Evolutions-Weg“<br />
als irrgeleitete<br />
Wissenschafts-Propaganda<br />
verurteilten und alle Hebel<br />
in Bewegung setzten, um<br />
diese „Sünde“ und vorgebliche<br />
Verschwendung von Steuergeldern<br />
zu verhindern. Tatsächlich<br />
hatten die Evolutionsgegner<br />
Erfolg. Mit 339:250<br />
Stimmen wurde der Weg per<br />
Bürgerentscheid abgelehnt.<br />
Lobbyismus ist in einem demokratischen<br />
Staat vollkommen<br />
legitim, vorausgesetzt, es ist<br />
nachzuvollziehen, wer auf wen<br />
Einfluss nimmt. <strong>Das</strong> deshalb von<br />
der großen Koalition geplante<br />
und schon nachgebesserte<br />
Lobbyregister steht jedoch weiter<br />
massiv in der Kritik: Laut verschiedenen<br />
Medienberichten werden<br />
sich Kirchen und Religionsgemeinschaften<br />
voraussichtlich<br />
nicht im geplanten Lobbyregister<br />
registrieren müssen, nicht-religiöse<br />
Weltanschauungsgemeinschaften<br />
wie die Humanistische<br />
Vereinigung hingegen schon.<br />
„Wir erwarten, dass die<br />
Regierungsfraktionen beim<br />
Transparenz<br />
für manche<br />
VERLÄNGERTE<br />
HÄNGEPARTIE?<br />
Lobbyregister nachbessern“,<br />
forderte Klaus Müller, Vorstand<br />
des Bundesverbandes der Verbraucherzentrale.<br />
„Gravierende<br />
Schwächen“ attestierte auch<br />
Albrecht von der Hagen vom<br />
Verband der Familienunternehmer<br />
dem Entwurf. Er kritisierte<br />
ebenfalls die geplanten Ausnahmen<br />
für Arbeitgeberverbände,<br />
Gewerkschaften, Kirchen und<br />
kommunale Verbände.<br />
Apropos Transparenz: Die<br />
Humanistische Vereinigung ist<br />
2019 der Initiative Transparente<br />
Zivilgesellschaft beigetreten und<br />
legt seither ihre wichtigsten<br />
aktuellen Informationen und<br />
Daten offen.<br />
Foto: ©Mummert-und-Ibold/adobestock.com<br />
Nach dem Vorbild der Nachbarländer<br />
Belgien und Niederlande<br />
fordert die Humanistische Vereinigung<br />
die Einrichtung einer<br />
<strong>humanistisch</strong>en Militärseelsorge.<br />
Rund die Hälfte aller Bundeswehrsoldat*innen<br />
versteht sich<br />
laut einer Studie als nichtreligiös,<br />
heißt es zur Begründung. Derzeit<br />
leisten 110 evangelische, 80<br />
katholische und bald auch 10<br />
jüdische Geistliche ihren Dienst<br />
in der Bundeswehr. Sie sind dabei<br />
nicht nur für seelsorgerischen<br />
Beistand, sondern auch für den<br />
sogenannten Lebenskundlichen<br />
Deutsche Unternehmen sollen Menschenrechte<br />
achten und Umweltzerstörung<br />
vermeiden, auch wenn ihre<br />
Geschäfte im Ausland stattfinden. Nicht<br />
nur zahlreiche NGOs, auch Bundeskanzlerin<br />
Angela Merkel befürwortet mittlerweile<br />
einen gesetzlichen Rahmen, das so<br />
genannte Lieferkettengesetz. Freiwillige<br />
Selbstverpflichtungen hatten in der Vergangenheit<br />
keine erkennbaren Fortschritte<br />
gebracht.<br />
Nach zahlreichen vollmundigen Ankündigungen<br />
verschiedener politischer<br />
<strong>humanistisch</strong>!net<br />
Nichtreligiöse Seelsorge<br />
für die Bundeswehr<br />
Unterricht verantwortlich, an<br />
dem teilzunehmen alle Soldat*innen<br />
verpflichtet sind - auch dann,<br />
wenn sie selbst einer anderen<br />
oder keiner Religion angehören.<br />
Diese große Lücke in der seelsorgerischen<br />
Begleitung möchte<br />
die Humanistische Vereinigung<br />
(HV) gerne schließen. Sie hat<br />
deshalb ein Eckpunktepapier vorgelegt,<br />
in dem sie rund 90 <strong>humanistisch</strong>e<br />
Militärseelsorger*innen<br />
für die mehr als 90.000 nichtreligiöse<br />
Soldat*innen in der<br />
Bundeswehr fordert.<br />
Mandatsträger*innen steckt das Gesetz<br />
aber noch immer in der Warteschleife,<br />
nicht einmal über Eckpunkte besteht in<br />
der Koalition Einigkeit. Nun droht sich<br />
die jahrelange Wartezeit aufgrund der<br />
Corona-Pandemie noch zusätzlich zu<br />
verlängern. Wirtschaftsministerium,<br />
Industrie und Wirtschaftsverbände verweisen<br />
nämlich auf die außerordentlichen<br />
Belastungen durch die Pandemie, vor<br />
deren Hintergrund ein solches Gesetz eine<br />
angeblich unzumutbare Belastung für<br />
deutsche Unternehmen darstelle.<br />
Wir sind auch online!<br />
News, Interviews, Kommentare.<br />
4<br />
5
<strong>#12</strong> / Januar <strong>2021</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />
Support<br />
your local<br />
Artist!<br />
MIT DEM NEUERLICHEN LOCKDOWN<br />
VERSCHÄRFT SICH DIE SITUATION VON<br />
KÜNSTLER*INNEN UND KULTURSCHAFFENDEN<br />
DRAMATISCH.<br />
Ein Zwischenbericht<br />
von Matthias Mainz.<br />
Foto: © adobestock.com; Icons: flaticon.com<br />
D<br />
ie Einsicht, dass die Corona-Krise nicht<br />
mit dem Ende dieses Jahres vorüber sein<br />
wird, scheint in breiten Teilen der Gesellschaft<br />
mittlerweile Konsens zu sein. Auch<br />
wenn die Aussicht auf die baldige Einführung<br />
von Impfstoffen Anlass zu Hoffnung<br />
gibt, befinden wir uns vermutlich gerade<br />
erst in der Halbzeit des pandemischen<br />
Gesellschaftsspiels, an dem wir unfreiwillig<br />
und einsichtsvoll teilnehmen, ohne<br />
dass das Virus uns vorher gefragt hätte.<br />
Die Auswirkungen der Krise auf unser<br />
Zusammenleben sind eminent, und es<br />
ist eigentlich erstaunlich, dass all die<br />
Zumutungen, die Selbstquarantänen,<br />
Social Distancing und die Einschränkungen<br />
unserer Bewegungsfreiheit nicht<br />
zu größeren Verwerfungen führen als zu<br />
der erstaunlichen Koalition aus Wutbürger*innen,<br />
neuen Rechten und altlinken<br />
Esoteriker*innen, die lautstark von Diktatur<br />
grölen.<br />
Zu Beginn des ersten Lockdowns ab<br />
März konnte man dabei den Eindruck<br />
haben, als teile sich die Gesellschaft<br />
in drei Lager: Familien um gutbezahlte<br />
Doppelverdiener*innen mit einem unverhofften<br />
Zugewinn an Familienzeit<br />
und Niedriglöhner*innen in Service- und<br />
Pflegeberufen, die sich als systemrelevant<br />
geadelt sehen konnten, ohne davon<br />
irgendeinen Nutzen zu haben. Die dritte<br />
Gruppe der Selbstständigen, vor allem im<br />
Kulturbereich, fand sich von einem auf<br />
den anderen Tag ohne Arbeitsmöglichkeit<br />
und Einkommen wieder.<br />
„Kulturbereich“ ist dabei ein sehr<br />
breiter Begriff: Grob unterscheiden kann<br />
man eine institutionalisierte Kultur aus<br />
Museen, Opernhäusern und Theatern von<br />
der freien Kultur aus soloselbstständigen<br />
Künstler*innen, freien Ensembles bis zu<br />
Festivals und freien Kultureinrichtungen.<br />
Am Ende macht den Unterschied nicht die<br />
Kunst, sondern ob das Geld aus fest ein-<br />
geplanten öffentlichen Haushaltsposten<br />
kommt, wie bei jeder anderen öffentlichen<br />
Behörde auch, oder aus jährlich zu erwirtschaftenden<br />
Betriebseinnahmen und<br />
jährlich zu verhandelnden öffentlichen<br />
Zuschüssen. Keine Institution kann dabei<br />
ohne freie Künstler*innen arbeiten, die<br />
zum Beispiel als Schauspieler*innen und<br />
Regisseur*innen, Autor*innen und Komponist*innen<br />
Werke schaffen, die in den<br />
Institutionen zur Aufführung gelangen.<br />
Hilfen und<br />
falsche Geschenke<br />
In der Corona-Krise wurden die unterschiedlichen<br />
Beschäftigungsverhältnisse<br />
schlagartig existenziell und in<br />
den Orchestern blieben die Stühle der<br />
Aushilfen neben denen der festangestellten<br />
Musiker*innen leer. Ende März hatte<br />
die Bundesregierung in Zusammenarbeit<br />
mit den Ländern eilig erste Corona-Hilfen<br />
ausgegeben, die sich bis zum Jahresende<br />
unter dem Namen „Corona-Schutzschild<br />
für Deutschland“ zu einem Gesamtvolumen<br />
von 353 Milliarden Euro ausgeweitet<br />
hatten.<br />
Die ersten Hilfen für Selbstständige<br />
hatten jedoch einen entscheidenden Makel:<br />
Sie sollten nur für betriebliche Ausgaben<br />
verwendet werden können, nicht<br />
aber für Lebenshaltungskosten, wofür<br />
die Betroffenen nach dem Willen des Bundes<br />
zusätzlich Grundsicherung (Hartz IV)<br />
beantragen sollten. Solo-Selbstständige<br />
verdienen ihr Einkommen in der Regel<br />
als Privatentnahme direkt aus dem, was<br />
nach Abzug der betrieblichen Ausgaben<br />
übrigbleibt und viele nutzen dafür<br />
nicht einmal nach privat und beruflich<br />
getrennte Bankkonten. Nach der Online-<br />
Beantragung fanden die meisten nach<br />
wenigen Tagen 9000 Euro auf ihrem Konto,<br />
die sie kaum ausgeben konnten und<br />
von denen sie ihre Miete nicht bezahlen<br />
durften. Der Aufschrei vor allem unter<br />
den Angehörigen der Kulturberufe war<br />
verständlicherweise groß und der Unternehmerlohn<br />
in den Corona-Hilfen bleibt<br />
seitdem das für sie bestimmende Thema,<br />
nicht zuletzt, weil bald die ersten Hilfen<br />
zurückgezahlt werden müssen.<br />
Bundesländer mit sehr starker<br />
Kreativwirtschaft hatten lange ergebnislos<br />
im Sinne der Künstler*innen mit<br />
dem Bund um den Unternehmerlohn<br />
gestritten und Baden-Württemberg und<br />
Nordrhein-Westfalen hatten in der Folge<br />
einen Extra-Anteil zu den Bundesmitteln<br />
eingeführt, aus dem der Unternehmerlohn<br />
entnommen werden durfte. Im<br />
Herbst schien sich ein Sinneswandel bei<br />
der Bundesregierung abzuzeichnen, als<br />
auch Bundeswirtschaftsminister Peter<br />
Altmeier vom Unternehmerlohn sprach.<br />
In den Bekanntmachungen zur Überbrückungshilfe<br />
III zeitgleich zum November-Lockdown<br />
wird nun eine nichtrückzahlbare<br />
Betriebskostenpauschale von<br />
insgesamt bis zu 5 000 Euro bis Juni<br />
<strong>2021</strong> eingeführt für Selbstständige, die<br />
keine Betriebskosten nachweisen können.<br />
Umgerechnet auf sieben Monate ist das<br />
ein geringer Maximalbetrag. Bundesfinanzminister<br />
Olaf Scholz meidet mit der<br />
Bezeichnung „Betriebskostenpauschale“<br />
hier weiterhin die Anerkennung von Privatentnahmen<br />
wie der Teufel das Weihwasser,<br />
auch, wenn die kleine Pauschale<br />
genau so verwendet werden wird.<br />
Zusätzlich hatten die Länder eigene<br />
Corona-Hilfen und Stipendienprogramme<br />
aufgesetzt, die wesentlich weniger<br />
restriktiv auf die Betriebskostenbeschränkung<br />
verzichteten. Neben grundsätzlichen<br />
Gerechtigkeitsfragen bei den<br />
unterschiedlichen Hilfen sind Detailfragen,<br />
zum Beispiel wer als Vollzeitkünstler*in<br />
gilt, hochproblematisch. So<br />
arbeiten zum Beispiel viele Autor*innen<br />
und Journalist*innen in Patchwork-Einkommensverhältnissen<br />
mit zusätzlichen<br />
Minijobs, um ihre oft lange unbezahlten<br />
Schaffensperioden abzufedern und fallen<br />
dabei durchs Raster der Corona-Förderungen,<br />
weil ihre künstlerische Arbeit<br />
steuerlich nur als Nebenverdienst gilt.<br />
Ende des Jahres 2020 scheinen die<br />
Nerven bei allen Akteur*innen blank<br />
zu liegen. Die Selbstständigen aus dem<br />
Kulturbereich werden nicht müde zu<br />
betonen, dass sie nicht arbeitslos seien,<br />
sondern zwangsweise ohne Einkommen.<br />
Die Veranstalter*innen, die das ganze<br />
Jahr über geplant, umgeplant, abgesagt,<br />
geöffnet und nun wieder geschlossen<br />
haben, können ihre mühsam erarbeiteten<br />
Hygienekonzepte im erneuten Lockdown<br />
nicht mehr umsetzen. Auf die zum Teil<br />
heftigen Reaktionen aus dem Kulturbereich<br />
ließen sich sowohl die Kulturstaatsministerin<br />
Monika Grütters zu Beginn<br />
der Krise wie die NRW-Kultusministerin<br />
6<br />
7
<strong>humanistisch</strong>! <strong>#12</strong> / Januar <strong>2021</strong><br />
<strong>#12</strong> / Januar <strong>2021</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />
Hallo Olaf<br />
(Scholz – vizekanzler)<br />
Ich hoffe, Du bekommst<br />
diese Nachricht<br />
irgendwie über Freunde<br />
oder Verwandte. Ich<br />
wollte Deine Adresse nicht<br />
suchen im Telefonbuch.<br />
Bei der Unterstützung<br />
für Künstler ist Dir<br />
ein Fehler unterlaufen:<br />
Ich habe im November 2019<br />
gar kein Geld verdient,<br />
also kann man<br />
dafür ja auch keine<br />
75% ausrechnen.<br />
Bitte mache das<br />
anders. Zum Beispiel<br />
nehme den JAHRES-<br />
MONATSDURCHSCHNITT.<br />
Danke!<br />
Ein Appell Helge Schneiders<br />
über Facebook an Olaf Scholz<br />
entlarvte in wenigen Sätzen die<br />
Schwächen der geplanten<br />
Hilfsprogramme. Zum Glück besserte<br />
das Ministerium bald nach.<br />
Pfeiffer-Pönsgen Ende des Jahres zu<br />
Äußerungen hinreißen, die Kulturszene<br />
wolle Extrawürste.<br />
Unterschiedlich grau<br />
Die Realität von Kulturschaffenden,<br />
Kulturinstitutionen und angeschlossenen<br />
Gewerben sieht dabei unterschiedlich<br />
grau aus. Weit weniger mediale Aufmerksamkeit<br />
als die Soloselbstständigen<br />
fanden bisher die Kulturinstitutionen:<br />
Was als Verödung der Innenstädte durch<br />
Massenpleiten in der Gastronomie droht,<br />
gilt in ähnlicher Weise für die Kulturbetriebe,<br />
denn Veranstalter, Konzerthäuser,<br />
Ensembles und Produktionsstätten<br />
können ihre notwendigen Deckungsbeiträge<br />
seit einem Jahr nicht erwirtschaften.<br />
Konzertorte wie die Jazzclubs<br />
in Deutschland finanzieren sich nur zu<br />
einem Teil aus den Konzerterlösen – Infrastruktur<br />
und Personal sind häufig von<br />
Zuschüssen ihrer Kommunen abhängig.<br />
Die Kosten des laufenden Betriebs werden<br />
häufig durch Zusatzeinahmen aus Vermietungen<br />
und anderen wirtschaftlichen<br />
Nebengeschäften aufgefangen.<br />
Der Stadtgarten Köln, seit den 1980er<br />
Jahren einer der wichtigsten Orte für<br />
zeitgenössischen Jazz in Europa, finanziert<br />
sich zum beträchtlichen Teil über<br />
die angeschlossene Gastronomie und den<br />
Weihnachtsmarkt. Andere Clubs erzielen<br />
ihre Zusatzeinnahmen mit Vermietungen<br />
und Veranstaltungen in den Sommermonaten.<br />
Diese Einnahmen brachen im<br />
ersten Pandemiejahr um weit mehr als<br />
die Hälfte ein. Kredite würde den Betrieben<br />
hier kaum helfen, weil Tilgungen<br />
nur über Einsparungen in ihrem eigentlichen<br />
Zweck denkbar sind: im Kulturprogramm.<br />
Der Geschäftsführer eines<br />
Konzertortes berichtet, dass er mit den<br />
in seinem Bundesland tatsächlich unbürokratisch<br />
umgesetzten Corona-Hilfen<br />
eine Insolvenz bisher vermeiden konnte.<br />
Die Angestellten, vor allem die aus dem<br />
hauseigenen Gastronomiebetrieb, hätten<br />
jedoch einen hohen Preis bezahlt durch<br />
die Lohnabschläge in Kurzarbeit, die dort<br />
doppelt schmerzen, weil auch die Zuverdienste<br />
wie Trinkgelder wegfallen.<br />
Die gute Nachricht ist also: Die unterschiedlichen<br />
Corona-Hilfen von Bund<br />
und Ländern haben Kulturschaffende wie<br />
Kulturbetriebe am Leben erhalten, die<br />
andernfalls schon jetzt insolvent wären<br />
– wo sie ankommen, sind die Hilfen<br />
wirksam. Ohne sie hätten weite Teile<br />
der Kulturlandschaft bereits dieses Jahr<br />
nicht überlebt. In eine sichere Zukunft<br />
blicken die Betroffenen trotzdem nicht.<br />
Freie Kultur und<br />
freiwillige Leistungen<br />
Neben den Deckungsbeiträgen aus dem<br />
wirtschaftlichen Betrieb bilden die<br />
städtischen Betriebskostenzuschüsse ein<br />
Standbein der freien Kulturinstitutionen.<br />
Die Zuschüsse kommen aus Haushaltsposten,<br />
die „freiwillige Leistungen“<br />
genannt werden, womit sich das Problem<br />
schon von selbst erklärt: Die Gewerbeund<br />
Bettensteuereinnahmen der Kommunen<br />
sind in diesem Jahr eingebrochen.<br />
Die kommunalen Anteile an der Finanzierung<br />
steigender Hartz-IV-Zahlen könnten<br />
die kommunalen Haushalte bei gesunkenen<br />
Einnahmen im den nächsten Jahren<br />
zusätzlich belasten. Die gute Nachricht<br />
auch hier: Die Länder kompensieren mit<br />
Mitteln aus dem Bundesrettungsschirm<br />
die Gewerbesteuerausfälle in diesem<br />
Jahr, so dass es zur Zeit nicht nach einer<br />
drohenden Pleite der Kommunen aussieht.<br />
Klar wird aber auch, dass der Einsatz<br />
des Bundes für die Steuerausfälle der<br />
Kommunen auch <strong>2021</strong> nötig sein wird.<br />
Vor diesem Hintergrund erscheinen die<br />
Hilfen wie eine Wette. Wer hält länger<br />
durch: Virus oder öffentliche Haushalte?<br />
Digitalisiert und<br />
versendet<br />
Foto: © Jörgens.mi / CC BY-SA 3.0<br />
Während des ersten Lockdowns begannen<br />
Musiker*innen zwar damit, ihre<br />
ungebrochene Kreativität in Livestreams<br />
aus Privat- und Wohnzimmerkonzerten<br />
unter Beweis zu stellen, und auch<br />
Orchester und Konzertbetriebe investierten<br />
in Streaming-Formate. Der Modernisierungsschub,<br />
als der das Streaming<br />
verstanden wird, vollzieht sich allerdings<br />
vor dem Hintergrund der Auswirkungen<br />
des Internets auf die Verwertung<br />
geistigen Eigentums, die zuerst die<br />
Musikindustrie betroffen hatten. Um die<br />
Jahrtausendwende war der Umsatz von<br />
Tonträgern etwa um die Hälfte eingebrochen<br />
und hatte sich seitdem auf diesem<br />
Niveau stabilisiert. Streamingdienste<br />
wie Spotify verschärfen dieses Ungleichgewicht,<br />
während heute weite Teile der<br />
Konsument*innen von ihrem Anspruch<br />
auf kostenlosen Content im Netz überzeugt<br />
sind. <strong>Das</strong> Livekonzert hatte dabei<br />
als Gegenbewegung zur Digitalisierung<br />
ein unerwartetes Comeback erlebt, und<br />
eine Reihe von Künstler*innen und Gewerben,<br />
von der Künstleragentur bis zum<br />
Bühnenbauer, hatten davon profitiert.<br />
Livestreams können deren Einnahmeausfälle<br />
unter Corona nicht ersetzen. Der<br />
Schub, den die Pandemie für die Digitalisierung<br />
der Arbeit von Künstler*innen<br />
und Veranstalter*innen darstellt, ist also<br />
äußerst ambivalent. Denn auf der einen<br />
Seite ist Sichtbarkeit und Content-Vermittlung<br />
im Netz eine wachsende Notwendigkeit,<br />
auf der anderen Seite lässt<br />
das ständige Zufüttern von Kostenlos-<br />
Content die Produzent*innen gleichzeitig<br />
zur Ursache eigener Probleme werden.<br />
Der Kulturbereich ist hier vielleicht Vorreiter<br />
von Entwicklungen, die die digitale<br />
Revolution auch für andere Berufssparten<br />
mit sich bringt. Die Corona-Krise<br />
beschleunigt und verschärft hier die<br />
Entwicklungen.<br />
Zwischen Systemrelevanz<br />
und Extrawurst<br />
Um der Angst vor Marginalisierung entgegenzuwirken,<br />
hatten die Künstler*innen<br />
früh den leidigen Begriff der Systemrelevanz<br />
für sich in Anspruch genommen.<br />
Einerseits geht es hier natürlich um die<br />
Bedeutung der Kultur für das immaterielle<br />
Vermögen und den Zusammenhalt<br />
unserer Gesellschaft. Im Umkehrschluss<br />
verbirgt sich aber das Gegenteil von<br />
Zusammenhalt: die Abwertung anderer<br />
Berufsgruppen als weniger oder gar nicht<br />
systemrelevant. Sehr viele Musiker*innen<br />
hatten das in ihrer Ablehnung von Hartz<br />
IV zum Ausdruck gebracht: ohne Einkommen,<br />
aber nicht ohne Arbeit zu sein und<br />
daher „nicht zu Hartz IV zu gehören“. Nun<br />
sind nicht alle anderen Bezieher*innen<br />
von Grundsicherung arbeitsverweigernd<br />
und das Kriterium für die Berechtigung<br />
dazu lautet ja eben gerade nicht Arbeitslosigkeit,<br />
sondern wirtschaftliche Notlage.<br />
Die Rufe aus dem Kulturlager nach<br />
Systemrelevanz und die Abgrenzung von<br />
Hartz IV tragen aber unschöne Untertöne<br />
bis hin zur Stigmatisierung von Grundsicherungsbezieher*innen.<br />
Der Vergleich<br />
der Forderungen aus der Kultur mit<br />
„Extrawürsten“ greift diese Untertöne<br />
sozusagen von Oben, aus der Perspektive<br />
der politischen Entscheidungsmacht, auf.<br />
Legitim wäre aber auch eine Kritik von<br />
der Seite und von Unten, durch Berufsgruppen,<br />
die ebenfalls unter der Krise leiden<br />
und deren Probleme weniger im Licht<br />
der Öffentlichkeit stehen. Prekäre Selbstständigkeit,<br />
Niedriglohn und mangelnde<br />
Absicherung bei Arbeitslosigkeit sind<br />
eben nicht nur Probleme des Kulturbereiches,<br />
sondern Teil der Lebenswirklichkeit<br />
derjenigen, die unser Gemeinwesens auf<br />
verschiedenen Ebenen zusammenhalten:<br />
der Niedriglöhner*innen im Gastronomie-<br />
und Service-Bereich, der überlasteten<br />
Arbeitnehmer*innen im Pflegebereich<br />
und der prekären Erwerbssituation in<br />
Publizistik und Journalismus, Bildung<br />
und Wissenschaft.<br />
Nach Corona<br />
<strong>Das</strong>s die freie Kultur in der Coronakrise<br />
nur durch massive Hilfsprogramme vor<br />
dem direkten Fall in Grundsicherung<br />
geschützt werden kann verdeutlicht, wie<br />
dünn das Eis für die allermeisten soloselbstständigen<br />
Geistesarbeiter*innen<br />
ist. Für sie gibt es bisher keine wirksame<br />
Arbeitslosenversicherung und die<br />
bürokratischen Zwangsmaßnahmen des<br />
Hartz-IV-Systems sind so unternehmerfeindlich,<br />
dass Grundsicherung während<br />
der Selbstständigkeit häufig mit neuen<br />
Schulden durch Rückforderungen ausgeht.<br />
Vor Einführung der ersten Corona-<br />
Hilfen waren deshalb die Rufe nach einem<br />
bedingungslosen Grundeinkommen<br />
lauter geworden. Seit der Einführung des<br />
Corona-Schutzschildes widerspricht vor<br />
allem der Bundesfinanzminister vehement<br />
sowohl den großen Forderungen<br />
nach einem bedingungslosen Corona-<br />
Grundeinkommen, wie auch dem wesentlich<br />
bescheideneren Wunsch nach Unternehmerlohn<br />
mit dem Argument, dafür sei<br />
die Grundsicherung da und Zuschüsse zu<br />
Lebenshaltungskosten würden Gleichbehandlungsgrundsätze<br />
verletzen. Mit ein<br />
bisschen Abstand betrachtet, stehen die<br />
Ablehnung von Zuschüssen zum Unternehmerlohn<br />
seitens der Bundesregierung<br />
und die Abwehr von Grundsicherung<br />
seitens der Kulturschaffenden vielleicht<br />
in einer wechselseitigen Beziehung zueinander<br />
und verbauen so den Blick auf<br />
den grundsätzlichen Reformbedarf des<br />
bestehenden Gefüges. Bereits die Entfristung<br />
der aktuellen Corona-Ausnahme-Grundsicherung<br />
mit einer deutlichen<br />
Anhebung der Zuverdienstgrenzen würde<br />
Selbstständigen mit ihren schwankenden<br />
Einkommen auch nach der Pandemie erheblich<br />
helfen. Zusätzlich oder alternativ<br />
wäre eine zugängliche und bezahlbare<br />
Arbeitslosenversicherung für Selbstständige<br />
sinnvoll – Beispiele dafür gibt es in<br />
der europäischen Nachbarschaft wie das<br />
französische Intermittent du Spectacle.<br />
Kunst und Kultur entfalten sich in<br />
einer ambivalenten Spannung von künstlerischer<br />
Intention und individuellem und<br />
gemeinschaftlichem Erleben. Die gleiche<br />
Musik wird von vielen gehört und doch<br />
von keinem gleich, und das Kunstwerk<br />
löst sich von der Intention der Künstler*in<br />
im Moment der Betrachtung. Kunst<br />
gibt uns die Möglichkeit, eine Vision für<br />
eine andere Gegenwart zu entwickeln, die<br />
wir in der Gemeinschaft erleben und diskutieren<br />
können.<br />
Am Ende geht es dabei nicht nur<br />
um die Frage, wie wir die Coronakrise<br />
überleben können. Sondern es geht dabei<br />
angesichts der fortschreitenden Polarisierung<br />
auch um die Vision, in welchem<br />
Land und in welcher Gemeinschaft wir<br />
uns nach der Krise wiederfinden möchten.<br />
Matthias Mainz<br />
Unser Gastautor Matthias Mainz ist transdisziplinär<br />
arbeitender Künstler und kuratierender<br />
Musiker und lebt in Köln und Berlin. Er ist<br />
Vorsitzender der Plattform für Transkulturelle<br />
Neue Musik e.V.. Corona-Stipendien des Landes<br />
NRW und des Bundes helfen auch ihm, 2020<br />
und <strong>2021</strong> weiterhin selbstständig künstlerisch<br />
tätig sein zu können. matthiasmainz.com<br />
8<br />
9
*<br />
15<br />
Seit seiner erstmaligen Verleihung im<br />
Jahr 1901, ging der Literaturnobelpreis<br />
15 Mal an eine*n Autor*in aus Frankreich.<br />
41<br />
450.300.000 $<br />
<strong>Das</strong> derzeit teuerste Gemälde der Welt ist<br />
„Salvator Mundi“ von (vermutlich) Leonardo<br />
da Vinci. Der saudische Kronprinz Mohammed<br />
bin Salman zahlte für die Darstellung von<br />
Jesus Christus 450.300.000 US-Dollar.<br />
„Die Wahrheit<br />
ist manchmal<br />
ein Fehler, den<br />
viele Menschen<br />
gemeinsam<br />
haben.“<br />
František Langer (1888-1965)<br />
50<br />
Tassen Kaffee soll der Schriftsteller<br />
Honoré de Balzac täglich getrunken haben.<br />
15<br />
<strong>humanistisch</strong>e Fotografen<br />
schlossen sich 1948<br />
in Paris zu der Künstlergruppe<br />
Groupe des XV zusammen.<br />
Tage lang hing Henry Matisses „Le Bateau“ verkehrt<br />
herum im New Yorker Museum of Modern Art,<br />
ohne dass jemand den Fehler bemerkt hätte.<br />
*Richtig ist: Heft um 180º Grad drehen!<br />
777 cm<br />
breit ist Pablo Picassos Monumentalgemälde<br />
„Guernica“, das er als Reaktion auf<br />
die Zerstörung der baskischen Stadt durch<br />
deutsche Bomber malte.<br />
45 £<br />
<strong>Das</strong> gleiche Gemälde wechselte<br />
1958 noch für 45 Pfund den Besitzer.<br />
Der weltweite Umsatz<br />
auf dem Kunstmarkt 2019:<br />
64,1 Milliarden $<br />
718<br />
450.000<br />
In Deutschland gibt es 718 Kunstmuseen.<br />
František Langer war ein tschechischer Autor, Dramaturg und<br />
Militärarzt. In seiner Geburtsstadt Prag gehört Langer zu einem<br />
literarischen Zirkel u.a. um Jaroslav Hašek, mit dem er die satirische<br />
Partei für gemäßigten Fortschritt in den Schranken der Gesetze<br />
gründet. Ab den 1920er-Jahren zählt Langer, „der unbequeme<br />
Schriftsteller mit <strong>humanistisch</strong>em Ideal“ (Dana Martinova), zu<br />
den bekanntesten Autor*innen der Tschechoslowakei. Als das<br />
Deutsche Reich die Tschechoslowakei besetzt, emigriert Langer<br />
über Umwege nach England, von wo aus er das Sanitätswesen<br />
der tschechischen Exilarmee organisiert.<br />
Ein späteres Mitglied der Groupe des XV war auch<br />
Robert Doisneau, laut der englischsprachigen<br />
Wikipedia „a champion of humanist photography“.<br />
450.000 Negative sind von ihm erhalten, darunter<br />
auch „Der Kuss“. Wegen ihrer vielen Reproduktionen<br />
gilt diese Aufnahme aus dem Jahr 1950<br />
als bekanntestes Foto der Welt.<br />
43.900<br />
Die Höhlenmalereien von Leang Bulu<br />
in Indonesien gelten als ältestes bekanntes<br />
gegenständliches Kunstwerk der Menschheit.<br />
Die Zeichnungen sind 43.900 Jahre alt.<br />
1.463<br />
2019 wurden in Deutschland 1.463 Kunstwerke<br />
und Antiquitäten gestohlen.
IN DEN<br />
AUGEN VIELER<br />
BETRACHTER<br />
Dem tristen Herbstwetter und allen<br />
Hürden durch die Corona-Pandemie<br />
zum Trotz wurde „Im Auge des Betrachters“,<br />
die erste Ausstellung im Nürnberger<br />
KulTurm gleich ein Erfolg. Moment,<br />
KulTurm? Der hieß bis zu seiner Eröffnung<br />
noch nJuHu³ und war Treff der Jungen<br />
Humanist*innen, wurde im Sommer aber in<br />
Eigenregie und mit großem Engagement zu<br />
einer Event- und Ausstellungsfläche umgebaut.<br />
Die JuHu-Vorsitzende und Mitorganisatorin<br />
Mira Illy erklärt die Idee dahinter:<br />
„Gerade in Nürnberg ist es ja so, dass die Subkultur<br />
nicht so ausgeprägt und es deswegen<br />
für junge Künstler*innen oft schwierig ist,<br />
einen Einstieg in die Kulturszene zu bekommen.<br />
Genau da setzen wir an.“ Kostenlose<br />
Ausstellungsräume für Kunst jeglicher Art<br />
aus dem Raum Nürnberg wollten die Jungen<br />
Humanist*innen schaffen, auch um jungen<br />
Künstler*innen durch die Corona-Krise zu<br />
helfen.<br />
Und das klappte gut: Der Umbau ging<br />
ohne größere Komplikationen über die Bühne,<br />
das Konzept funktioniert und erstaunlich<br />
viele Kunstinteressierte fanden gleich an den<br />
ersten beiden Ausstellungstagen den Weg<br />
in den Stadtmauerturm am Hallertor. Zudem<br />
konnten sich die Künstler*innen Wanjana<br />
Märzhäuser, Julian Hübner und Chris Kalaitsidis<br />
auch über mehrere verkaufte und vorbestellte<br />
Werke freuen.<br />
Der Ausstellungsraum im KulTurm soll<br />
künftig jungen Künstler*innen unter 27<br />
Jahren für Vernissagen, Ausstellungen,<br />
Performances jeder Art, für bildende Kunst<br />
und Musik, für Slams oder Lesungen zur<br />
Verfügung stehen.<br />
Neutormauer 3, 90403 Nürnberg<br />
facebook.com/kulturmnbg/<br />
Wer im KulTurm ausstellen<br />
oder auftreten möchte, schreibt<br />
am besten eine E-Mail an<br />
kulturm@juhus-nuernberg.net.<br />
Foto: Martin Bühner
<strong>humanistisch</strong>! <strong>#12</strong> / Januar <strong>2021</strong><br />
<strong>#12</strong> / Januar <strong>2021</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />
Die Supermärkte<br />
bleiben offen<br />
Über Kultur<br />
und Corona<br />
Wenn mich jemand noch vor einem Jahr gefragt<br />
hätte, was Kultur eigentlich sei, wäre meine<br />
Antwort darauf ziemlich lang ausgefallen und<br />
doch eher schwammig geblieben. Die Pandemie<br />
hat indes dazu geführt, sehr prägnant sagen zu können, wie sich<br />
Kultur definieren lässt: Kultur ist das, was durch Corona und<br />
jeden Lockdown nahezu unmöglich wird: der Besuch von Kinos,<br />
Konzerten, Lesungen, Museen und Theatern.<br />
Aber nicht allein die jeweilige künstlerische Darbietungsart<br />
definiert einen kulturellen Teilbereich. Die besagten Aktivitäten<br />
finden in der Öffentlichkeit statt, sie setzen Gemeinsamkeit voraus<br />
und erzeugen diese. Der gesellige Austausch über vorhandene<br />
Weltsichten und gänzlich neue Welteinblicke, wie Kulturorte<br />
jeglicher Couleur solche anbieten, sorgt für das Selbstverständnis<br />
einer Gesellschaft. Aus diesem Austausch geht der Aufbruch<br />
in eine veränderte, vermeintlich bessere Zukunft hervor. Ohne<br />
Kultur in diesem Sinne gibt es keine von Debatten abhängende<br />
Zukunft, sondern bloß eine ins Unendliche ausgedehnte Gegenwart.<br />
Über die Gegenwart hinaus<br />
Ohne Abwechslung, ohne Multiperspektivität wäre diese Gegenwart<br />
so lebenswert wie eine Sandwüste. Allerdings kann der<br />
Mensch niemals damit aufhören, auch in einer Sandwüste nach<br />
Wasser zu suchen. Diese Suche, das kreative Ausgleichen, Umspielen<br />
und Verändern von Gegebenheiten und Unwägbarkeiten<br />
ist das, was weiter gefasst als Kultur bezeichnet werden kann.<br />
Die Bedeutung der Kunst für den Menschen wird hier besonders<br />
sinnfällig: Der Chemiker Theodor Scheerer beschrieb 1867 eine<br />
„<strong>humanistisch</strong>e Kunst“ als die, welche nicht unbedingt Schönes<br />
oder harmonische Beziehungen hervorbringt, sondern den Erfindungsreichtum<br />
des Menschen feiert. Sich zu helfen wissen:<br />
das sei <strong>humanistisch</strong>e Kunst. Die <strong>humanistisch</strong>e Kunst macht,<br />
erprobt und hilft, während andere noch klagen oder große<br />
Reden schwingen. Sie ist nicht auf Kunstschaffende im engeren<br />
Wortgebrauch angewiesen, weil jeder sie ausüben kann und zum<br />
Überleben ausüben muss. Alle Menschen sind Kulturwerktätige<br />
bzw. Kulturwerttätige. Auf diesem Mitmachen in Bild und Ton<br />
und Schrift und Wort basiert jede Demokratie.<br />
Kunst spendet Leben<br />
Kein Satz klingt daher in den Ohren der Mitmacher*innen<br />
schlimmer als der: „Aber die Supermärkte bleiben geöffnet!“<br />
Natürlich müssen Menschen essen und trinken, um zu leben,<br />
doch verwandelt erst die besagte Kultur das <strong>Das</strong>ein als Aufrechterhaltung<br />
körperlicher Grundfunktionen in eine Welt der<br />
Möglichkeiten und des geistigen Wachstums. Kultur ist dieses<br />
Leben der zweiten Ordnung, das Leben 2.X. Künstler*innen in<br />
der engeren Wortbedeutung kommt eine doppelte Aufgabe zu:<br />
Sie ermutigen jeden Menschen dazu, künstlerisch zu schaffen<br />
und Ausübende der <strong>humanistisch</strong>en Kunst zu sein, und sie<br />
schaffen Werke und mit ihnen Werte, über die gemeinschaftlich<br />
diskutiert werden kann. Gemessen daran erscheint es unverantwortlich,<br />
Künstler*innen mehr oder weniger ihrem Schicksal zu<br />
überlassen. Der finanzielle Ausgleich, den Soloselbstständige erhalten,<br />
entspricht in keiner Weise ihrer Funktion, weil sie mehr<br />
als nur Rädchen im Getriebe unserer Gesellschaft sind, nämlich<br />
Maschinist*innen, Maschinenmeister*innen, die unser inneres<br />
Wohlergehen zu einem äußeren machen.<br />
Vom Wort zur Tat<br />
Die Wortschöpfung der Soloselbstständigkeit ist dabei ungewollt<br />
schon eine unglückliche. Sie erinnert an jene Vogelfreiheit,<br />
deren Wortbedeutung die Gebrüder Grimm in ihrem Deutschen<br />
Wörterbuch zusammenfassen: Vogelfreie sind zu ihrem eigenen<br />
Vorteil ungebunden, niemandem untertan, gehören nur sich<br />
selbst. Nachteilig wirkt sich für sie dementgegen aus, dass zwischenmenschliche<br />
Verantwortung und gesellschaftliche Solidarität<br />
für sie keine oder eine massiv eingeschränkte Gültigkeit<br />
besitzen. Die Solist*innen, die durch ihre Arbeit den Spirit aller<br />
stärken, sitzen daheim, verkümmern, und kaum eine/r nimmt<br />
Notiz davon. Also: Kunst rettet unser geistiges Leben, retten wir<br />
die Kunst!<br />
Martin A. Völker<br />
Jugendfeiergruppe erhält<br />
Preis für Radiosendung<br />
Erfreuliche Nachrichten beim <strong>humanistisch</strong>en Nachwuchs: Für ein<br />
Interview mit Zeitzeuge Reiner Wagner wurde den Jugendlichen ein<br />
Preis verliehen. Im Rahmen des Vorbereitungsprogramms auf die<br />
Jugendfeier 2020 produzierten die Jugendfeierlinge im Juli eine Online-Radiosendung<br />
via Zoom, unterstützt vom Jugendradio Freespirit.<br />
Sie führten virtuelle Interviews, eines davon war das „Zeitzeugengespräch“<br />
mit Reiner Wagner, der seine Kindheit und Jugend während<br />
des Nationalsozialismus in Nürnberg verbrachte. Als Zeitzeuge,<br />
der im Februar bereits persönlich im Gespräch mit den Jugendfeierlingen<br />
von der Zeit des Naziregimes berichtet hatte, beantwortete er<br />
in der Radiosendung weitere Fragen. Er erzählte vom Spielen auf der<br />
Straße, vom Beitritt zum Jungvolk, von der Schulzeit und vom noch<br />
vor Kriegsende ausgebombten Haus in Ziegelstein. Die Siegerehrung<br />
des Hörwettbewerbs „Hört Hört!“ 2020 wurde am 14. November<br />
2020 online und live übertragen.<br />
HV IM FORUM<br />
DER RELIGIONEN<br />
Am 17. September wurde die Humanistische Vereinigung einstimmig<br />
in Hannovers Forum der Religionen aufgenommen. Zuvor hatte der<br />
Regionalgeschäftsführer Norddeutschland, Jürgen Steinecke, im Saal<br />
an der Basilika der katholischen Kirche die Humanistische Vereinigung<br />
vorgestellt. Auf Nachfrage erläuterte er, warum es in Hannover zwei<br />
<strong>humanistisch</strong>e Interessenvertretungen für religionsfreie Menschen<br />
gibt. Er betonte dabei, dass die HV – im Gegensatz zu einzelnen<br />
Landesverbänden des Humanistischen Verbands Deutschlands – auf<br />
der gesamten Bundesebene einheitlich arbeitet und Einrichtungen<br />
betreibt.<br />
<strong>Das</strong> Forum der Religionen ist ein Treffpunkt aller Religionsgemeinschaften<br />
in Hannover. Dort begegnen sich Delegierte aus rund<br />
vierzig religiösen Gemeinschaften und Gruppen, zu denen auch die<br />
<strong>humanistisch</strong>en Organisationen gezählt werden. Dreimal jährlich<br />
kommen die Delegierten zusammen, um einander besser kennen zu<br />
lernen und über aktuelle Fragen des Zusammenlebens in einer multireligiösen<br />
Stadt zu sprechen. Auch Vertreter*innen der Stadtgesellschaft,<br />
insbesondere aus den Bereichen Religionswissenschaft, Kultur,<br />
Weltanschauungen und Politik, werden vom Forum eingeladen.<br />
UNTERSTÜTZUNG FÜR<br />
SEELSORGE-PROJEKT<br />
Die Humanistische Vereinigung bekommt<br />
erneut Zuwachs im Norden. Der Regionalgeschäftsführer<br />
der Humanistischen Vereinigung<br />
für Norddeutschland, Jürgen Steinecke,<br />
begrüßte am 9. Oktober mit Axel Kittel ein<br />
besonderes Neumitglied aus der Region<br />
Oldenburg. Der 57-jährige Kapitänleutnant<br />
unterstützt den Einsatz der Humanistischen<br />
Vereinigung für eine <strong>humanistisch</strong>e Militärseelsorge<br />
der Bundeswehr. Er ist selbst ein<br />
engagierter Humanist und setzt sich seit<br />
langem insbesondere für den Aufbau einer<br />
<strong>humanistisch</strong>en Militärseelsorge ein. Er wird<br />
künftig auch die Entwicklung einer Regionalgruppe in Oldenburg<br />
vorantreiben, um unser Netzwerk im nordwestlichen Teil der Bundesrepublik<br />
weiter zu stärken.<br />
14<br />
15
<strong>humanistisch</strong>! <strong>#12</strong> / Januar <strong>2021</strong><br />
<strong>#12</strong> / Januar <strong>2021</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />
BRASS-ENSEMBLE<br />
KONTAKTBLECH<br />
SCHREIBT<br />
MAL WIEDER!<br />
Jonny G. Rieger<br />
Fahr zur Hölle, Jonny!<br />
Als Ende der 1920er-Jahre<br />
Die Humanistische Vereinigung plant, im Raum Nürnberg ein Brass-<br />
Ensemble zu gründen und lädt seine musikalischen Mitglieder und<br />
andere Interessierte herzlich dazu ein, gemeinsam Musik zu machen.<br />
Nicht Virtuosität, sondern der gemeinsame Klang steht dabei im Vordergrund.<br />
Ziel des Projekts ist es, dass Menschen über die Musik miteinander<br />
in Kontakt kommen. Musikalisch liegt der Schwerpunkt auf<br />
technisch einfachen, aber harmonisch interessanten Bläsersätzen aus<br />
der Romantik. Diese sollen aber auch durch Wiener Klassik und Barock<br />
ergänzt werden. Wer spieltechnisch in einem evangelischen Posaunenchor<br />
mithalten kann und Interesse hat, immer wieder neue Stücke<br />
kennenzulernen, ist herzlich dazu eingeladen, dem HV-Brass-Ensemble<br />
beizutreten. Der Leiter Johannes Bastorf ist ein ambitionierter<br />
Laienmusiker und kann Stücke auf die jeweilige Gruppe abgestimmt<br />
arrangieren.<br />
<strong>Das</strong> Brass-Ensemble probt immer montags oder freitags im<br />
Humanistischen Zentrum in Nürnberg, bei Interesse melden Sie sich<br />
bitte bei bastorf@<strong>humanistisch</strong>e-vereinigung.de.<br />
Vor Anbruch der kalten Jahreszeit hat die Humanistische Vereinigung<br />
ihre erste Wohlfahrtsmarke veröffentlicht. Über einen Spendenaufschlag<br />
unterstützen Käufer*innen wohltätige Zwecke. Schon lange<br />
geben gemeinnützige Organisationen zu bestimmten Anlässen Wohlfahrtsmarken<br />
heraus. Der Kaufpreis der Briefmarken liegt dabei stets<br />
ein wenig über dem eigentlichen Portowert, die Differenz verbleibt<br />
als Spende bei der herausgebenden Institution.<br />
Auch der Paritätische Wohlfahrtsverband gibt seit einigen Jahren<br />
solche sogenannten „Sonderpostwertzeichen“ heraus. Leider hat er<br />
für seine diesjährige Weihnachtsmarke allerdings ein dezidiert christliches<br />
Motiv gewählt, nämlich die Darstellung der Geburt Christi auf<br />
einem Fenster der Pfarrkirche St. Katharina in Bad Soden. Kurzerhand<br />
wurde deshalb in der Hauptgeschäftsstelle der HV in Nürnberg eine<br />
eigene Weihnachtsmarke entworfen. Diese zeigt ein neutrales Motiv,<br />
das nicht religiös aufgeladen ist: eine Winterlandschaft. Die säkularen<br />
Weihnachtsmarken gibt es selbstklebend im 20er-Set zu einem Preis<br />
von 24 Euro pro Bogen. Der Portowert beträgt 80 Cent pro Marke.<br />
Der Aufschlag von 40 Cent wird als Spende wohltätigen Initiativen der<br />
Humanistischen Vereinigung zugeführt.<br />
Die säkulare Weihnachtsmarke kann unter 0911-43104-0 oder<br />
weihnachtsmarke@<strong>humanistisch</strong>e-vereinigung.de bestellt werden.<br />
die Weltwirtschaftskrise auch in<br />
Deutschland ihre volle Kraft entfaltete,<br />
wurden binnen kürzester<br />
Zeit hunderttausende Menschen<br />
obdachlos, unter ihnen auch der<br />
Berliner Kunsthandwerker Jonny<br />
G. Rieger. Riegers neues Zuhause<br />
wurde die Straße. Er schloss sich<br />
der Bruderschaft der Vagabunden<br />
an, deren Gründer Gregor<br />
Gog über Rieger sagte: „In der<br />
Rocktasche trug er, statt Brot, Gedichte.“ Ohne Geld und oft genug<br />
ohne Essen bereist Rieger die Welt, er zecht sich durch Hafenkneipen,<br />
verdingt sich als Landarbeiter auf sonnenverbrannten Inseln und<br />
schlägt sich durch die Halbwelt Shanghais.<br />
1936 verlegt die Büchergilde Gutenberg in Zürich erstmals Riegers<br />
autobiographischen Roman „Fahr zur Hölle, Jonny!“, der nun in einer<br />
ansprechenden neuen Edition bei Walde + Graf erschienen ist. <strong>Das</strong><br />
Buch ist aber nicht nur hübsch anzusehen – der atemlose Stil Jonny<br />
Riegers birst nur so vor überraschenden sprachlichen Einfällen.<br />
Walde + Graf Verlag, Berlin 2020, 240 Seiten, gebunden, 20 Euro.<br />
Jugendfeier<br />
online<br />
Ungewollte Premiere: Seit mehr als 100 Jahren ist die Jugendfeier<br />
die weltliche Alternative zu Kommunion und Konfirmation. Doch<br />
das alljährliche Fest der HV, mit dem Jugendliche im Alter von etwa<br />
14 Jahren symbolisch ihren Eintritt ins Erwachsenenleben besiegeln,<br />
konnte dieses Jahr leider nur online stattfinden.<br />
Schon das halbjährige Vorbereitungsprogramm auf die Jugendfeier<br />
hatte sich holprig gestaltet. <strong>Das</strong> gemeinsame Kennenlernen mit<br />
einem Ausflug zur Straße der Menschenrechte und einem Besuch des<br />
Hands-On-Museums turmdersinne im Januar fanden noch statt, doch<br />
danach geriet durch die Corona-Pandemie vieles durcheinander. Von<br />
März bis Juli konnten keinerlei Veranstaltungen stattfinden, dann<br />
musste am Ende sogar die für den Herbst geplante gemeinsame Berlin-Fahrt<br />
abgesagt werden. Bis zum Schluss gab es Hoffnung, dass der<br />
verschobene Festakt im November stattfinden könne. Aber aufgrund<br />
des erneuten, deutschlandweiten Teil-Lockdowns musste die Jugendfeier<br />
2020 letztendlich als virtuelle Videokonferenz durchgeführt<br />
werden - mit einem versöhnlichen Ende allerdings. Die erste Online-<br />
Jugendfeier war unter den gegebenen Bedingungen mit mehr 141<br />
Gästen im Stream ein voller Erfolg!<br />
Symposium-Sammelband<br />
erschienen<br />
Vor einigen Wochen ist der Sammelband<br />
zum turmdersinne-Symposium 2019 beim<br />
Springer-Verlag erschienen, „Bessere<br />
Menschen? Technische und ethische Fragen<br />
in der trans<strong>humanistisch</strong>en Zukunft“.<br />
Die Veranstaltung fand im Oktober<br />
letzten Jahres in der Stadthalle Fürth statt. Zehn mitreißende Beiträge<br />
aus verschiedenen Fachgebieten von Psychologie und Medizin, über<br />
Philosophie und Soziologie bis hin zu Gender Studies tasten sich an<br />
das Thema Transhumanismus aus unterschiedlichen Perspektiven<br />
heran. Die Beiträge beleuchten, wie sich das Verhältnis von Mensch<br />
und Maschine verändern wird, wie sich die Medizintechnik an der<br />
Schnittstelle von Enhancement und Therapie bewegt und wie die Gesellschaft<br />
auf die tiefgreifenden Veränderungen im Technologiezeitalter<br />
reagieren kann. Hier können Sie einen Blick in das Buch werfen:<br />
springer.com/de/book/9783662615690<br />
Ocean Vuong<br />
Auf Erden sind wir kurz<br />
grandios<br />
„Lass mich von vorn anfangen.<br />
Ma, ich schreibe, um dich<br />
zu erreichen – auch wenn jedes<br />
Wort auf dem Papier ein Wort<br />
weiter weg ist von dort, wo du<br />
bist.“ Der Brief eines Sohnes an<br />
die vietnamesische Mutter, die ihn nie lesen wird, weil sie ihn nicht<br />
lesen kann, wird in Ocean Vuongs Debütroman zu einer traurig-schönen<br />
Erzählung. Über Familie, den Krieg, den amerikanischen Traum,<br />
die Liebe. Über das Überleben eines schwulen Jungen mit einer prügelnden<br />
Mutter, die selbst nur die Gewalt weitergibt, die sie als Kind<br />
während des Vietnamkrieges erfahren hat.<br />
Schonungslos erzählt „Little Dog“ Episoden aus der Vergangenheit.<br />
<strong>Das</strong> ist nicht immer leicht zu verdauen, aber die sprachlichen Mittel,<br />
die Vuong dafür findet, machen Auf Erden sind wir kurz grandios<br />
unbedingt lesenswert. Aus jeder Seite spricht das außergewöhnliche<br />
literarische Talent Vuongs – wer es verpasst, ist selbst schuld.<br />
Hanser Verlag, München 2019, 240 Seiten, gebunden, 22 Euro.<br />
Mary MacLane<br />
Ich erwarte die Ankunft<br />
des Teufels<br />
Nach über 100 Jahren zum<br />
ersten Mal auf Deutsch erschienen<br />
ist Mary MacLanes Debüt<br />
„Ich erwarte die Ankunft des<br />
Teufels.“ Alles an MacLane ist<br />
Dandy. Die 19-Jährige ist künstlerisch<br />
exaltiert und witzig, dann<br />
wieder über die Maßen schonungslos<br />
mit sich und ihrer Umwelt,<br />
sie ist bis zum Größenwahn<br />
selbstbewusst und zu Tode betrübt. Oder in ihren eigenen Worten:<br />
„Ich bin bezaubernd originell. Ich bin herrlich erfrischend.<br />
Ich bin eine schockierende Bohémienne. Ich kann mich auf eine<br />
goldige Weist interessant geben – während ich in meinen Ärmel<br />
hineinlächle – und bin ein Bösewicht.“ Gefangen im „Sand und der<br />
Ödnis“ der Provinzstadt Butte in Montana, kommt MacLanes Pseudo-<br />
Tagebuch einem Ausbruchsversuch gleich. 1902 taugte der noch zu<br />
einem handfesten Skandal, heute ist er immerhin noch unbedingt<br />
lesenswert. Reclam, Ditzingen 2020, 206 Seiten, gebunden, 18 Euro.<br />
16<br />
17
<strong>humanistisch</strong>! <strong>#12</strong> / Januar <strong>2021</strong><br />
<strong>#12</strong> / Januar <strong>2021</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />
Schwer hörende Menschen stellt<br />
die Corona-Pandemie vor besondere<br />
Herausforderungen: Nicht<br />
nur, dass sie nicht gut hören –<br />
weil die Mimik des Gegenübers hinter<br />
einer Maske verborgen ist, verstehen sie<br />
auch schlecht. Frank Stößel sucht nach<br />
Lösungen.<br />
Kürzlich hatte ich einen Traum. Einen gestiefelten Kater mit durchsichtiger<br />
Nase-Mund-Maske im Brombeerstrauch sah ich vor mir.<br />
Inmitten eines Gewirrs schlangenartiger Kabel jonglierte er auf seinen<br />
Hinterpfoten stehend mit zwei dampfenden Kartoffeln. Um den Kater<br />
herum waren Mikrofone, Lautsprecher, Fernseher, Radios, Laptops<br />
und Telefone kreuz und quer miteinander verstöpselt. All das schien<br />
den Jongleur nicht zu stören. Er genoss offensichtlich coole Musik mit<br />
kabellosen Ohrhörern und ließ dazu seine Hüften locker kreisen.<br />
Komisch genug. Noch komischer aber war, dass der tanzende Kater<br />
Gesichtszüge meines vor Jahrzehnten verstorbenen Maler-Opas trug.<br />
Was wollte mir Opa nur sagen? So gut wie dem Kater in meinem<br />
Traum ist es ihm zu seinen Lebzeiten als fast tauber Mensch eben<br />
nicht gegangen. Was gab es denn schon zwischen 1900 und den sechziger<br />
Jahren für Schwerhörige an Hörhilfen, um leicht Gesagtes nicht<br />
so schwer zu verstehen?<br />
Armer Opa, durchfuhr es mich in Erinnerung an meinen schwerhörigen<br />
Großvater. Doch da leuchteten auch schon bunte Bilder<br />
aus meiner Kindheit auf. Bilder unserer gemeinsamen Einkäufe, bei<br />
denen Opa Farben und Pinsel für sein Hobby, die Malerei, kaufte oder<br />
Werkzeuge, Schrauben, Nägel und Praktisches für den Haushalt seiner<br />
Tochter erwarb. Arm kam mir Opa gar nicht vor damals, er hatte ja<br />
mich. Als Knirps mit elf Jahren fungierte ich nämlich als sein Adjutant<br />
und Übersetzer, und ich glaube, auch er war ganz glücklich, wenn wir<br />
beide zusammen in die Stadt gingen.<br />
Ich konnte damals noch das Gras wachsen hören, während Opa leicht<br />
Gesagtes nur sehr schwer hörte und schon gar nicht immer verstand,<br />
es sei denn, man sprach so laut man konnte direkt in sein „gutes“ Ohr.<br />
Dabei formte man die Hände zu einer Muschel, gerade so praktisch<br />
wie ein Bakelit-Schalltrichter, in welchen ich dann sprach, wenn wir<br />
zuhause waren.<br />
Opa war wegen einer Granatexplosion im Ersten Weltkrieg auf<br />
dem linken Ohr ganz taub geworden. Auf dem anderen Ohr war er<br />
schon davor schwerhörig. <strong>Das</strong> schwere Hören war für ihn ein großes<br />
Handikap. Anfangs half ihm noch lautes Sprechen seines Gegenübers<br />
von Angesicht zu Angesicht. Dabei war das Ablesen vom Mund eine<br />
große Hilfe. Bald half aber nur noch lautes Sprechen direkt ins rechte<br />
Ohr über den mit beiden Händen geformten Trichter oder in das Hörrohr,<br />
welches Opa außerhalb des Hauses nicht so gerne benutzte. Es<br />
war einfach nicht zu unpraktisch wegen seiner enormen Ausmaße.<br />
Schach matt an der Bäckerstheke<br />
An Theken und Schaltern mit lauter Geräuschkulisse war Opa bei<br />
Nachfragen seines Gegenübers aufgeschmissen oder beinahe Schach<br />
matt, wie er als Schachspieler zu sagen pflegte. In solchen Fällen leistete<br />
seine postkartengroße Schreibtafel mit Griffel gute Dienste. Wie<br />
ein Zauberer zog er sie<br />
dann aus seiner Weste.<br />
Man schrieb seine Frage oder<br />
seine Antwort darauf und gab die<br />
Schreibtafel an ihn zurück. So konnte das<br />
hin und her gehen, denn Opa unterhielt sich<br />
trotz seiner Hörbehinderung noch leidenschaftlich<br />
gerne mit den Menschen. Nachdem er verstanden hatte, schob man<br />
die Seele der Tafel, welche mit einer dünnen Wachsschicht überzogen<br />
war, aus dem Rahmen heraus und schob sie sogleich wieder hinein,<br />
und schon war die Tafel eine tabula rasa, wie Opa diese Zauberei erklärte,<br />
und somit frei für neue Botschaften.<br />
War die Verständigung in einem Geschäft sehr schwierig, bat Opa<br />
die Verkäuferin, ihre Nachfragen und Erklärungen auf die Zaubertafel<br />
zu schreiben. Auch die Verkäufer hatten ihren Spaß an dem irdischen<br />
Wunder. „Wie viel von dem Schweizer Käse soll es denn sein?“ stand<br />
dann zum Beispiel auf der Zaubertafel zu lesen. Als Antwort deklamierte<br />
Opa mit sonorer Stimme in seinem Stettiner Singsang, in<br />
welchem ich die Wellen der Ostsee rauschen hörte: „Bitte, ein halbes<br />
Fund Käseaufschnitt, vier Brötchen, und zwei Becher Buttermilch!“<br />
Die Leute im Laden drehten sich nach uns um und staunten, was der<br />
LEICHT GESAGT.<br />
SCHWER GEHÖRT.<br />
Illustration: Martin Rollmann<br />
stattliche ältere Herr da von<br />
sich gab. Weck bezeichnete er<br />
ungeniert nach pommerscher Art als<br />
Brötchen, irgendwie komisch, während<br />
ich an seiner Seite aus Scham vor den Blicken<br />
der Einheimischen zu schrumpfen schien. Ich durfte<br />
mit dem Geld aus Opas Portemonnaie bezahlen und<br />
nachzählen, ob das Restgeld stimmte. Anschließend setzten wir uns in<br />
einer Fensternische zur Brotzeit nieder.<br />
Opa öffnete sein Stettiner Taschenmesser, bei dessen Anblick<br />
meine Augen groß wie Kirschen wurden, schnitt zwei Brötchen auf,<br />
belegte eines mit dem frischen Käse und eines mit Wurst, die wir<br />
ähnlich dramatisch zuvor beim Metzger gekauft hatten, und überreichte<br />
mir beide Schrippen, wie er die Brötchen schmunzelnd nannte:<br />
„Nun iss` man schön mein Junge!“ Er selbst aber aß nichts. <strong>Das</strong> hätte<br />
ihn nur abgelenkt von seiner Freude darüber, dass er dem dünnen<br />
Hering, als den man mich zuhause gerne aufzog, etwas Ordentliches<br />
auf die Rippen gab. Die frische Buttermilch tranken wir in kräftigen<br />
Zügen, nachdem wir mit den Bechern wie zwei alte Stammtischbrüder<br />
angestoßen hatten: „Denn man Prost mein Junge!“ „Prost Opa, und<br />
danke!“<br />
Die Sprache hinter der Maske wiederfinden<br />
An diese Stadtgänge mit Opa muss ich in der letzten Zeit öfter<br />
denken, wenn ich nun 65 Jahre später als Hörgeräteträger beim<br />
Einkaufen so manches Mal meine Probleme bei der gegenseitigen<br />
Verständigung habe, weil ich trotz ausgeklügelter Im-Ohr-Hörgeräte<br />
mein Gegenüber kaum verstehe. Trägt die Verkäuferin eine sichtdichte<br />
Nasen-Mund-Maske wie jüngst in der Bäckerei, dann bin ich<br />
„Schach matt!“ wie Opa damals und versuche die Wende im Gespräch<br />
zu meinen Gunsten: „Ich kann Sie schon kaum verstehen wegen Ihrer<br />
Gesichtsmaske. Wenn Sie mir noch den Rücken zukehren, während sie<br />
den Käse aufschneiden, und mich dabei etwas fragen, dann verstehe<br />
ich überhaupt nichts mehr.“<br />
Im Bus dachte ich darüber nach, was Opa mir im Traum mit seiner<br />
durchsichtigen Maske, dem Kabelwirrwarr und den Bluetooth-Ohrhörern<br />
sagen wollte. Ach ja, ich habe doch zuhause dieses kleine Mikrofon,<br />
das sich mein Gegenüber ans Hemd oder die Bluse klemmen<br />
kann. Es leitet die Stimme meines Gegenübers an meine Hörgeräte<br />
weiter, so dass ich alles verstehen könnte. Eine wirkliche Hilfe wäre<br />
das aber auch nicht. Ich kann doch nicht jedes Mal einer Verkäuferin<br />
das Mini-Mikrofon anbieten, bevor wir unser Gespräch beginnen; das<br />
geht schon wegen der Hygieneregeln gar nicht.<br />
Wie wäre es dann mit der Zaubertafel? Sogleich googelte ich Zauberschreibtafeln,<br />
und siehe da, was gab es für eine Riesenauswahl an<br />
digitalen Schreibtafeln. Allerdings: Die Tafel müsste jedes Mal vor<br />
und nach Gebrauch desinfiziert werden – zu viel Aufwand. Und wenn<br />
mein Gegenüber ein Smartphone mit Whatsapp hätte? Vor meinem<br />
geistigen Auge sah ich schon eine Verkäuferin vor mir, wie sie mir<br />
einen Vogel zeigt: „Wegen ein paar Brötchen über den Tresen hinweg<br />
whatsappen, so ein Quatsch!“<br />
<strong>Das</strong> Glück: kabellos und transparent<br />
Dann kam mir wieder Opa als gestiefelter Kater mit durchsichtiger<br />
Nasen-Mund-Maske in den Sinn. Ob es schon transparente Masken<br />
gibt? Kaum gegoogelt, erwies sich die transparente Gesichtsmaske als<br />
längst diversifiziertes Produkt mit zig Einträgen. Transparenz wäre in<br />
der Tat eine gute Lösung. Allerdings müsste ich für meine Gesprächspartner<br />
in Arztpraxen, Apotheken und Geschäften jeweils durchsichtige<br />
Gesichtsmasken parat haben. Schenkte ich sie ihnen, würden sie sie<br />
auch für mich anlegen? Einen Versuch wäre es wert.<br />
„Danke Opa für dein Erscheinen in meinem Corona-Masken-Traum.<br />
Du hast mir sehr geholfen, aus dem Brombeerstrauch der Kommunikation<br />
herauszufinden.“ Und die Sache mit der Bluetooth-Verbindung<br />
anstatt des ollen Kabel- und Steckersalats ist auch eine glänzende<br />
Idee.<br />
Gleich nach dem Frühstück habe ich ein Bluetooth-Radio mit CD-<br />
Player und den dazu passenden Bluetooth-Ohrhörern bestellt. Beides<br />
kam zwei Tage später schon bei mir an. <strong>Das</strong> Wundergerät war gleich<br />
aufgestellt und im Gedenken an meinen Opa die CD mit Beethovens<br />
Fünfter eingelegt. Endlich wieder alles aus unserer LP- und CD-Sammlung<br />
von pianissimo bis fortissimo voluminös hören zu können wie<br />
im Konzertsaal, war ein Gedicht. Ich war platt, nicht vom schweren,<br />
sondern vom leichten Hören der gewaltigen Musik.<br />
Beseelt von diesem Glück bestellte ich im Netz gleich noch ein „Fund“<br />
transparente Gesichtsmasken. Dann könnten mein Gegenüber und<br />
ich zum Beispiel im Café auch wieder in unseren Gesichtern lesen, was<br />
unsere Münder so alles sprechen.<br />
Frank Stößel<br />
18<br />
19
<strong>humanistisch</strong>! <strong>#12</strong> / Januar <strong>2021</strong><br />
<strong>#12</strong> / Januar <strong>2021</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />
Meet a humanist<br />
Joachim<br />
Kahl<br />
Foto: Marco Schrage<br />
Marburg ist ein hübsches<br />
Städtchen, mit einer Oberund<br />
Unterstadt, schiefergetäfelten<br />
Häuschen,<br />
einer frühgotischen Kirche und einem<br />
imposanten, hoch gelegenen Schloss. Betrachtet<br />
man es von oben, und vom Spiegelslustturm<br />
unweit des Ortenbergs aus<br />
kann man das ganz hervorragend tun,<br />
wirkt Marburg wie hineingequetscht in<br />
das Tal, das die Lahn im Laufe von Jahrtausenden<br />
in den Bundsandstein gefräst<br />
hat. Östlich und westlich davon erhebt<br />
sich das Marburger Bergland.<br />
Auf einem der vielen Hügel haben<br />
auch Joachim Kahl und seine Ehefrau<br />
Annegret ihr Zuhause. Als wir die steilen<br />
Gassen emporsteigen, passieren wir einige<br />
der Universitätsgebäude, die überall<br />
in der Stadt zu finden sind. Wir treffen<br />
Nachbarn und Bekannte, wechseln ein<br />
paar Worte. Man kennt und grüßt sich.<br />
„<strong>Das</strong> gehört zur Lebensqualität“, sagt<br />
Kahl, hier in dieser „mittleren, nicht<br />
kleinen Stadt“, wie er gerne betont. In<br />
Marburg hat der gebürtige Kölner seine<br />
Wahlheimat gefunden, hier fühlt er sich<br />
wohl. Es war nicht immer so.<br />
1967 zieht Kahl von Marburg nach<br />
Frankfurt – es ist beinahe eine Flucht.<br />
Gerade einmal 26 Jahre alt, hatte er<br />
soeben promoviert und einen Eklat verursacht.<br />
In einer anonymen Großstadt<br />
wäre der womöglich ein Skandälchen<br />
geblieben und schnell in Vergessenheit<br />
geraten, nicht so aber in einer mittleren,<br />
nicht kleinen Stadt wie Marburg, in der<br />
man sich unweigerlich fast täglich über<br />
den Weg läuft. „Es wurde mir zu heiß“,<br />
erzählt Kahl. Was war passiert?<br />
Nun, Kahl hatte nicht nur in evangelischer<br />
Theologie promoviert, sondern fast<br />
mit dem Tag seiner Promotion auch seine<br />
Abkehr vom Christentum verkündet.<br />
Schon länger hatte er ein Doppelleben<br />
geführt, sagt Kahl heute, vor Studienkollegen<br />
und seinem Doktorvater verborgen,<br />
wie er über die intensive Auseinandersetzung<br />
mit der Religion „über den Rand der<br />
Religiosität geschubst“ wurde. Er glaubte<br />
nicht mehr. Und nicht nur das: „In Köln,<br />
wo ich meinen Erstwohnsitz hatte, bin<br />
ich aus der Kirche ausgetreten. Danach<br />
habe ich meinem Doktorvater geschrieben<br />
und ihm mitgeteilt, dass bald ein<br />
Buch von mir kommt.“ Dieses Buch war<br />
„<strong>Das</strong> Elend des Christentums“.<br />
In gewisser Weise kann man Kahls<br />
Abkehr vom Christentum als Konsequenz<br />
einer theologischen Denkrichtung deuten,<br />
die in Marburg damals weit verbreitet<br />
„Als Bultmannianer,<br />
wie ich selbst einer<br />
war, konnte man<br />
nur Atheist werden<br />
oder Katholik.“<br />
war. Von Marburg aus betrieb Rudolf<br />
Bultmann nämlich die Entmythologisierung<br />
des Neuen Testaments, und wo von<br />
den Mythen nichts übrig blieb, verlor für<br />
Kahl die gesamte Religion ihren Gehalt.<br />
„Als Bultmannianer, wie ich selbst einer<br />
war, konnte man nur Atheist werden oder<br />
Katholik“, sagt Kahl in Rückgriff auf ein<br />
geflügeltes Wort, das damals die Runde<br />
machte. Er wurde Atheist, für ihn folgerichtig<br />
zwar, für viele andere jedoch ist<br />
das ein Affront.<br />
Der ständigen Angriffe überdrüssig,<br />
zieht er deshalb an den Main. Es sind „die<br />
wilden Jahre“ an Deutschlands Universitäten,<br />
allzumal in Frankfurt, wo noch<br />
Horkheimer und Adorno lehren. Ein Bild<br />
in seiner Wohnung zeigt Kahl inmitten einer<br />
Gruppe wild gestikulierender Studierender.<br />
Ihnen gegenüber: Jürgen Habermas.<br />
Kahl nimmt ein zweites Studium auf<br />
und setzt sich intensiv mit der Kritischen<br />
Theorie auseinander. Auf einer vom AStA<br />
organisierten Urlaubsreise nach Italien<br />
lernt er außerdem die Junglehrerin Anna<br />
kennen. „Wir sind ein seltenes Beispiel<br />
dafür, dass eine Urlaubsbekanntschaft<br />
ein Leben lang halten kann“, sagt Kahl<br />
mit einem Lächeln. <strong>Das</strong> Paar bekommt<br />
zwei Kinder, und mittlerweile gehören<br />
auch drei Enkelkinder zu der Familie.<br />
Vom Main an die Pegnitz<br />
Als „<strong>Das</strong> Elend des Christentums“, bis<br />
heute Kahls bekanntestes Buch, erscheint,<br />
werden auch erste Bande zur<br />
heutigen Humanistischen Vereinigung<br />
geknüpft. Anna Steuerwald Landmann<br />
besucht Kahl in Frankfurt, der Geschäftsführer<br />
des damaligen Bundes für<br />
Geistesfreiheit (bfg) Nürnberg lädt ihn<br />
ein, eine Rede auf der Jugendfeier in der<br />
Nürnberger Meistersingerhalle zu halten.<br />
Auf den ersten Besuch folgen viele weitere.<br />
1982 wird Kahl Bildungsreferent des<br />
bfg Nürnberg, ein Posten, den er für neun<br />
Jahre innehaben wird. Er kehrt auch<br />
danach immer wieder nach Nürnberg zurück,<br />
hält philosophische Vorträge, aber<br />
auch Feierreden. 2013 wird Joachim Kahl<br />
zum Ehrenmitglied der heutigen Humanistischen<br />
Vereinigung.<br />
Von Luther zu Marx<br />
Wohnhaft ist Kahl da schon längst<br />
wieder in Marburg. Als der marxistische<br />
Philosoph Hans Heinz Holz einen Ruf<br />
an die Philipps-Universität erhält, kehrt<br />
nämlich auch der jetzt philosophischsoziologisch<br />
geschulte Kahl an die Lahn<br />
zurück. <strong>Das</strong> Jahr 1972 schreiben wir da,<br />
die Wogen von einst haben sich längst<br />
geglättet. Kahl nimmt Lehraufträge<br />
am Fachbereich für Philosophie an und<br />
promoviert ein weiteres Mal, diesmal<br />
über den österreichischen Soziologen<br />
Ernst Topitsch. Er engagiert sich gegen<br />
den Radikalenerlass und im „Hessischen<br />
Komitee gegen Berufsverbote“. Fotografien<br />
in seinem Arbeitszimmer zeugen von<br />
der Zeit, als sich Kahl noch als Marxist<br />
verstand. Eine ganze Reihe von Porträts<br />
deutet aber auch an, dass der Marxismus<br />
von einst einem weltlichen, wohl auch<br />
etwas eklektischen Humanismus gewichen<br />
ist.<br />
Hegel und Bertha von Suttner blicken<br />
uns entgegen, Einstein und Spinoza,<br />
Russell und Brecht, aber auch Luther<br />
(„nur der junge, nicht der alte Antisemit!“).<br />
Kahl sieht es heute als seine, überhaupt<br />
als Aufgabe einer <strong>humanistisch</strong>en<br />
Philosophie, eine Reihe von disparaten<br />
Einsichten in eine konsistente Form zu<br />
bringen. Eine solche Philosophie soll helfen,<br />
eine <strong>humanistisch</strong>e Lebenskunst zu<br />
entwickeln. <strong>Das</strong>s sie sich dabei aus ganz<br />
unterschiedlichen Quellen speist, ist nur<br />
ein Indiz dafür, dass Humanismus nicht<br />
dogmatisch verengt gedacht werden darf,<br />
sondern im Gegenteil aus Neugier und<br />
Offenheit heraus entsteht.<br />
Eine genauere Vorstellung davon<br />
mag ein Buch geben, an dem Kahl gerade<br />
arbeitet. Ein Humanismusbrevier soll es<br />
werden, eine kurze Darstellung dessen,<br />
wie der Philosoph Humanismus versteht<br />
und wie dieser dazu beitragen kann, sich<br />
den außergewöhnlichen Herausforderungen<br />
unserer Zeit zu stellen. <strong>2021</strong> soll das<br />
Buch erscheinen, Grund zu feiern hätte<br />
Joachim Kahl aber auch so: 80 Jahre alt<br />
wird er im Mai. Und gefeiert wird natürlich<br />
an den Hängen von Marburg.<br />
Marco Schrage<br />
20<br />
21
<strong>humanistisch</strong>! <strong>#12</strong> / Januar <strong>2021</strong><br />
<strong>#12</strong> / Januar <strong>2021</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />
Kulturrucksack<br />
im Klassenzimmer<br />
Wahrnehmung<br />
täuscht<br />
Die Frage nach der Wahrnehmung hat eine lange philosophische<br />
Tradition, sie reicht laut dem Spektrum-Lexikoneintrag<br />
„von den Vorsokratikern über Rationalismus-Empirismus-Kontroversen<br />
bis zur gegenwärtigen<br />
Philosophie des Geistes.“ In der heutigen Kognitionsforschung<br />
dreht sich alles um die Wahrnehmung;<br />
Erkenntnistheorie, Psychologie, Ethologie, Neurophysiologie<br />
und Forschungen zur „Künstlichen Intelligenz”<br />
spielen hier eine Rolle. Menschen vertrauen demnach<br />
sehr stark auf ihre Wahrnehmung, ihre tiefsten Überzeugungen<br />
gründen auf dem, was sie von ihrer Umwelt<br />
wahrzunehmen glauben. Der Haken daran: Auf unsere<br />
Wahrnehmung ist nicht immer Verlass. Täuschungen<br />
aller Art führen unsere Sinne manchmal komplett in die<br />
Irre. Diese Fehlleistungen unseres Wahrnehmungsapparats<br />
führen aber auch zu erstaunlichen Erkenntnissen,<br />
die erklären, wie unser Gehirn und die Sinne tatsächlich<br />
Die boxdersinne ist<br />
ab sofort in drei Varianten<br />
buchbar: für Kitas,<br />
Schulen und Erwachsene.<br />
Sie ist auch als<br />
boxdersinne on tour<br />
mit pädagogischer<br />
Begleitung buchbar.<br />
zweiten Tafel jedoch unterscheiden sich Farbe und<br />
Wort. <strong>Das</strong> Wort „Grün“ ist dort beispielsweise gelb<br />
gedruckt. Während das Ablesen der ersten Tafel noch<br />
problemlos funktioniert, geht das Ablesen der zweiten<br />
Tafel verzögert und stotternd vonstatten und endet im<br />
polyphonen Wirrwarr.<br />
Zugegeben, der interaktive Ansatz des Workshops<br />
leidet ein wenig unter den aktuell geltenden Hygienemaßnahmen.<br />
Aber auch dafür gibt es eine Lösung.<br />
Anstatt der Experimente rund ums Riechen und Schmecken<br />
gibt es für die Schulklassen einfach mehr zum Sehen.<br />
Der Workshop gerät dadurch zwar leider frontaler<br />
arbeiten. Genau diese Phänomene sollen in dem Workshop<br />
für die Kinder erkennbar werden, darüber soll<br />
gestaunt und diskutiert werden.<br />
Buchung der<br />
boxdersinne unter<br />
mobil@philoscience.de<br />
oder 0911 9443281<br />
als gewünscht, aber die neue Form der Wissenschaftsvermittlung<br />
in den Klassenzimmern hat auch ihre<br />
positiven Seiten: „Die Klassen sind auch mal froh, eine<br />
Stunde lang aus dem Kontext des normalen Unterrichts<br />
auszubrechen und etwas zu erleben, was man sonst nur<br />
bei uns im Museum erleben kann. Ich glaube, es ist eine<br />
willkommene Ablenkung vom derzeit ziemlich skurrilen<br />
Schulalltag, der von Maske und Abstand geprägt ist“,<br />
erklärt Sandy nach dem Workshop.<br />
Welche Exponate bei den Workshops bisher am<br />
besten ankamen? Sandy verrät es: „Eindeutig der Was-<br />
Um einige Inhalte des Hands-On-Museums in<br />
serfall-Effekt! Dabei gibt es immer viel zu lachen, vor<br />
Es ist ein grauer Oktobertag, an dem die philoscience<br />
gGmbH im Rahmen des Nürnberger<br />
KulturRucksacks die Johann-Daniel-Preißler-Schule<br />
in Nürnberg-Gostenhof besucht.<br />
Als modernes Science Center, Erlebnisausstellung oder<br />
Hands-On-Museum lässt sich der turmdersinne daher<br />
besser beschreiben. Und wie die meisten kulturellen<br />
Einrichtungen hat die Corona-Pandemie Anfang 2020<br />
Schulklassen bringen zu können, hat die philoscience<br />
ihre mobilen Angebote erweitert und die boxdersinne<br />
kreiert, eine Ausstellung im Miniaturformat, die<br />
wissenschaftliche Erkenntnisse aus Wahrnehmungs-<br />
allem wenn die Kinder, nachdem sie den Blick eine Minute<br />
lang auf die sich drehende Pappspirale fixiert haben,<br />
plötzlich in mein verdrehtes Gesicht schauen und<br />
erschrecken. Aber auch die Shepard-Tische begeistern.<br />
Sandy, einer der Besucherbetreuer*innen im von der<br />
auch den turmdersinne hart getroffen: Im März wurde<br />
forschung, Psychologie und Hirnforschung für Schul-<br />
Dafür lege ich zwei Mini-Tischplatten aufs Pult, die eine<br />
philoscience betriebenen turmdersinne, wird gleich<br />
das Museum geschlossen, es hat bis heute nicht wieder<br />
kinder begreifbar macht. Es gibt Boxen für Schulen und<br />
erscheint lang und schmal, die andere kurz und breit.<br />
einen Workshop für Fünftklässler*innen geben, der<br />
geöffnet.<br />
für Kindertagesstätten, für Erwachsene und bald auch<br />
Ich erkundige mich, welche beiden Schüler*innen als<br />
sich mit den menschlichen Sinnen beschäftigt. Sein<br />
Rucksack ist ein schwerer Rollkoffer, über dessen Inhalt<br />
gleich noch die Rede sein wird. Es ist nicht der erste<br />
Einsatz dieser Art. Seit Ende der Sommerferien hat<br />
Sandy schon einige Mittelschulen besucht. „Normalerweise<br />
kommen die Klassen immer zu uns ins Museum.<br />
Wir probieren mit ihnen die Exponate aus, sprechen<br />
über die menschlichen Sinne und über Wahrnehmung<br />
allgemein. Normalerweise. Aber so richtig normal ist in<br />
diesen Tagen ja vieles nicht“, stellt Sandy nachdenklich<br />
fest.<br />
Seit einigen Jahren führt er Besucher*innen durch<br />
den turmdersinne, der in der Museenlandschaft eine<br />
gewisse Sonderstellung einnimmt. In dem Nürnberger<br />
SCIENCE<br />
EDUTAINMENT FÜR<br />
KITAS, SCHULEN<br />
UND ERWACHSENE<br />
Die boxdersinne ist eine<br />
Box zum Staunen, Erleben<br />
und Begreifen. Kleine und<br />
große Forscher*innen können<br />
damit auf spielerische<br />
Art Wahrnehmungstäuschungen<br />
erleben und die<br />
eigenen Sinne erkunden.<br />
„Dann kommen die Wahrnehmungsexperimente<br />
eben in die Klassen“, sagt Sandy entschieden optimistisch.<br />
Weil das Recht junger Menschen auf kulturelle<br />
Bildung nicht dauerhaft ausgesetzt werden sollte,<br />
wurde nach Alternativen zum Museumsbesuch gesucht.<br />
Der Nürnberger KulturRucksack ermöglichte diese<br />
Alternative. <strong>Das</strong> Jugend-Kultur-Abo für Kulturerlebnisse<br />
bei gemeinsamen Ausflügen ist ein Angebot,<br />
mit dem man besonders Schüler*innen aus ärmeren<br />
Stadtteilen erreichen will. Da Bildung und Zukunftsperspektiven<br />
von Kindern in Deutschland stark an die<br />
Einkommenssituation der Eltern gekoppelt sind, ist das<br />
Ziel des KulturRucksacks, diesen sozialen und bildungspolitischen<br />
Ungerechtigkeiten entgegenzuwirken.<br />
zu weiteren Themen wie Philosophie und Evolution.<br />
Die Idee hinter der boxdersinne ist dieselbe wie hinter<br />
dem Hands-On-Museum: Indem man vor Augen führt,<br />
wie leicht die Sinne zu täuschen sind, soll das kritische<br />
Denken geschult und gefördert werden.<br />
Falsche Farben und<br />
ein Wasserfall<br />
Zurück in der Preißlerschule. Motiviert und mit der<br />
boxdersinne im Gepäck beginnt Sandy dort den Workshop.<br />
Er startet mit dem Stroop-Effekt. Eine scheinbar<br />
simple Aufgabe, nämlich Farbnamen auf zwei Tafeln<br />
Wer wissen will,<br />
was genau beim<br />
Stroop-Effekt passiert,<br />
kann sich das auf dem<br />
philoscience-YouTube-<br />
Kanal erklären<br />
lassen unter<br />
https://bit.ly/38qK05d<br />
nächste Geburtstag haben und hole diese nach vorne.<br />
Dann folgt ein kleines Gedankenspiel: ihr schmeißt eine<br />
Geburtstagsparty und könnt eure Gäste an die beiden<br />
Tische setzen. Wie viele Gäste würdet ihr an den einen,<br />
wie viele an den anderen setzen? Natürlich weichen die<br />
Antworten immer voneinander ab, zum Beispiel 4 und<br />
6 oder 6 und 8. Wenn ich anschließend das Exponat erkläre<br />
und der Klasse zeige, dass die beiden Tischplatten<br />
genau deckungsgleich sind, sind die Kinder immer total<br />
aus dem Häuschen.“<br />
Ein weiterer Workshop geht zu Ende. Und Sandy<br />
wirkt etwas erschöpft. Die Stunde schlaucht. Aber das<br />
Gefühl, wenn die Kinder erzählen, dass der Workshop<br />
ihre Vorfreude auf Zeiten weckt, in denen sie wieder<br />
Stadtmauerturm werden nicht im klassischen Sinne<br />
Kulturelle Bildung soll allen Kindern und unabhängig<br />
abzulesen, stellt sich für die Kinder als überraschend<br />
in ein richtiges Museum gehen und den turmdersinne<br />
Objekte präsentiert, sondern Phänomene von und For-<br />
vom Einkommen der Eltern zugänglich sein. Wahrneh-<br />
schwierig heraus. Auf der ersten Tafel passt die Druck-<br />
besuchen können, ist ein gutes.<br />
schungsergebnisse über Wahrnehmung ausgestellt. Die<br />
mungsworkshops wie der an der Preißlerschule helfen<br />
farbe jeweils zum Wort, also das Wort „Lila“ ist in lila<br />
meisten Exponate dürfen und sollen angefasst werden.<br />
dabei, wegen ihnen ist Sandy heute hier.<br />
abgedruckt, „Gelb“ in gelb. So weit so gut. Auf der<br />
Nina Abassi<br />
22<br />
23
<strong>humanistisch</strong>! <strong>#12</strong> / Januar <strong>2021</strong><br />
<strong>#12</strong> / Januar <strong>2021</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />
Da ist zum einen die Idee der Lebenswelt, die<br />
Der Mensch<br />
als begründendes<br />
Wesen<br />
JULIAN NIDA-RÜMELIN FASST<br />
SEINE PHILOSOPHIE ERSTMALS<br />
IN EINEM UMFANGREICHEN<br />
WERK ZUSAMMEN. GUT ZU LESEN<br />
IST DAS NICHT IMMER.<br />
„Wer Menschen sucht, wird Akrobaten finden“,<br />
schreibt Peter Sloterdijk, um den es hier gar nicht geht.<br />
Aber wenn man einen ähnlich pikanten Merksatz über<br />
Julian Nida-Rümelins opus magnum finden möchte,<br />
muss man ihn selber machen, denn im Buch selbst findet<br />
man ihn leider nicht. Und so möchte ich vorschlagen,<br />
seine „Theorie praktischer Vernunft“ in folgender<br />
Faustformel zusammenzufassen: „Wer Menschen sucht,<br />
wird Begründer finden.“<br />
<strong>Das</strong> ist vielleicht auf den ersten Blick ein bisschen<br />
wenig für ein opus magnum, aber gerade aus <strong>humanistisch</strong>er<br />
Sicht trügt dieser Eindruck. Es geht Nida-Rümelin<br />
nämlich unter anderem darum, Debatten auch<br />
dann auf guten Gründen fußen zu lassen, wenn diese<br />
Gründe nicht durch „Rückgriff auf ein apriorisches und<br />
fundamentalistisches Begründungskonzept“ funktionieren<br />
(S. 313). Wer jetzt verwundert den Kopf wiegt<br />
und sich fragt, was das heißen soll, dem geht es wie mir<br />
während eines Großteils der Lektüre.<br />
<strong>Das</strong> liegt an der Sprache, die leider nicht zu einer<br />
flüssigen Lektüre einlädt. Während man bei anderen<br />
Autor*innen das Gefühl haben mag, sich mit ihm/ihr zu<br />
unterhalten, oder sich von der Wortgewalt mitreißen<br />
lässt, ohne genau zu verstehen, worum es eigentlich<br />
geht, ist die Lektüre dieses Textes eher mit dem Voranschieben<br />
einer Schubkarre auf sandigem Grund zu<br />
vergleichen. Mitunter nimmt die Sache Fahrt auf und es<br />
macht Spaß, der Argumentation zu folgen. Recht zügig<br />
bleibt man dann aber in sprachlichen Sandhügeln wie<br />
„In diesem Buch stelle ich<br />
eine Theorie praktischer<br />
Vernunft vor. Die Einbettbarkeit<br />
einer Handlung in<br />
eine umfassendere Praxis,<br />
im weitesten Sinne in eine<br />
Lebensform, spielt dabei<br />
eine zentrale Rolle.“<br />
Nida-Rümelin entwickelt<br />
eine Alternative zu den<br />
rational choice – Ansätzen<br />
in der Ökonomie und in<br />
den Sozialwissenschaften,<br />
aber auch zum postmodernen<br />
Konstruktivismus in<br />
den Geistes- und Kulturwissenschaften.<br />
der Behauptung stecken, es gebe „einen subkutanen<br />
Atomismus in der analytisch geprägten Philosophie“<br />
(S. 3). Kann sein, und trotzdem verliert man zumindest<br />
kurzzeitig jegliche Lust am Weiterschieben.<br />
Zudem stolpert man über anstrengende Widersprüche,<br />
etwa wenn der Autor einerseits schreibt: „Rational<br />
choice .... ist inhaltlich neutral“ (S. 104), um dann ein<br />
paar Seiten später nachzuschieben, „entgegen ihrem<br />
Selbstverständnis ist die zeitgenössische rational choice<br />
Orthodoxie keineswegs inhaltlich neutral“ (S. 127).<br />
<strong>Das</strong>s der Autor im Vorwort damit droht, dass man im<br />
Grunde das ganze Buch gelesen haben muss, um es zu<br />
verstehen (S. 1) entmutigt da nur noch mehr.<br />
Zurück aber zum oben zitierten Satz über apriorische<br />
Begründungskonzepte. A priore ist Latein und<br />
bedeutet, dass es ein Erstes bereits gibt, auf dem das<br />
Folgende aufbaut. Apriorisch sind Gründe, die zum Beispiel<br />
religiöse Menschen aufführen, wenn sie behaupten,<br />
ein übersinnliches Wesen habe auslösend für alle<br />
weiteren Entwicklungen alles geregelt und es gelte nur,<br />
diese Regeln zu erkunden und nach ihnen zu leben. <strong>Das</strong><br />
ist für säkulare Humanist*innen nicht nachvollziehbar.<br />
Die neigen nun umgekehrt häufig dazu zu sagen, jeder<br />
müsse „für sich selbst“ wissen, was richtig sei. <strong>Das</strong>s das<br />
für eine allgemeine Ethik ein wenig dürftig ist, sollte<br />
unmittelbar einleuchten. Auch der besonders bei nicht<strong>humanistisch</strong>en<br />
Atheisten zu beobachtende Versuch,<br />
eine naturalistische Ethik denken zu wollen, kann nicht<br />
weiterhelfen. Die Natur teilt uns nur das über sich mit,<br />
was wir sie fragen und wir dürfen deswegen auch von<br />
ihr keine apriorischen Antworten erwarten (S. 93ff.).<br />
Und so wartet Nida-Rümelin mit zwei interessanten<br />
Konzepten auf, von denen er erhofft, dass sie Leitfäden<br />
für eine <strong>humanistisch</strong>e Argumentation in der ethischen<br />
Debatte sein könnten. Humanistisch bedeutet dabei,<br />
„Autorin oder Autor des eigenen Lebens zu sein“<br />
(S. IX f.).<br />
Foto: © Julian Nida-Rümelin<br />
eigentlich ganz pfiffig ist, weil sie die „Normativität<br />
der geteilten menschlichen Lebensform“ beschreibt<br />
(S. 106). Es gibt, wie jeder weiß, „Tatsachen, die sich<br />
nicht algorithmisch überprüfen“ lassen (S. 349), in der<br />
menschlichen Lebenswelt aber durchaus real sind. Wer<br />
den Maßstab der Lebensweltlichkeit z. B. an ethische<br />
Forderungen ansetzt, kann recht schnell zu einem<br />
schlüssigen Ergebnis kommen, ob und wenn ja wozu<br />
diese Forderungen unter menschlichen Bedingungen<br />
führen können. Leider bleibt dieses Argument zugleich<br />
auch immer ein wenig undurchsichtig, so dass es zumindest<br />
mir schwerfällt, aus dem Konzept der „Lebensweltlichkeit“<br />
belastbare Argumentationen zu bauen.<br />
<strong>Das</strong> andere Konzept ist das der Gründe. Wenn apriorische<br />
Lebensanweisungen trotz allen Suchens nicht<br />
zu finden sind, muss im Gespräch geregelt werden, was<br />
Geltung haben kann und soll und was nicht. Unter Philosoph*innen<br />
hat man sich seit einiger Zeit angewöhnt,<br />
in diesem Kontext von „Deliberation“ (lat.: Abwägung)<br />
zu sprechen.<br />
Der Witz an Gründen ist für Nida-Rümelin aber<br />
nun, dass sie „immer zugleich normativ und inferentiell“<br />
sind (S. 33). „Gründe stiften einen Zusammenhang<br />
zwischen Tatsachen (von denen wir überzeugt sind)<br />
und Vermutungen, dass etwas der Fall ist“ (S. 33). Und<br />
das ist ja in der Tat eine wichtige Sache: Denn wenn wir<br />
weder rein apriorisch noch rein individuell argumentieren<br />
können und wollen, könnte es klug sein, eine<br />
Schnittmenge von beiden zu suchen. Nida-Rümelin<br />
findet sie in besagten Gründen, mit deren Hilfe eine<br />
gelungene Deliberation stattfinden könne.<br />
Ich finde allein schon das Wort „Gründe“ hilfreich,<br />
denn in der Tat ist gerade eine ethische Argumentation<br />
im wahrsten Sinne des Wortes bodenlos, wenn sie<br />
ohne apriorische Verweise auskommen muss. Wer nicht<br />
sagen kann „Gott / die Natur / etc. will das so“ läuft<br />
argumentativ auf einem anderen Boden, einem anderen<br />
Grund, als der, der das behauptet. Oder, um es mit<br />
Francisco Varela zu sagen: „Aus einer philosophischen<br />
und ethischen Perspektive muss jemand, der ohne Bezugspunkt<br />
leben muss – ohne Boden, mit dem Gefühl<br />
der Bodenlosigkeit – Lernprozesse in Gang setzen, um<br />
diese Situation zu bewältigen.“* Eine Bewältigungsstrategie<br />
könnte dann tatsächlich sein, seine Gründe<br />
behutsam abzuwägen.<br />
Ob das mit den Gründen allerdings letztlich so<br />
hinkommt, sehe ich mit meiner lebensweltlichen Erfahrung<br />
skeptisch. Erst neulich klagte mein Sohn (8),<br />
meine Frau und ich könnten immer alles begründen –<br />
Zähne putzen, Hausaufgaben machen, Jacke anziehen<br />
etc. – und trotzdem sei das nicht akzeptabel. Quasi<br />
apriorisch. Philosophisch gesagt kann das nur heißen:<br />
Gründe zu geben alleine ist nicht wirklich deliberativ.<br />
Jonas Grutzpalk<br />
* Francisco J. Varela: Erkenntnis und Leben; In: Lebende Systeme.<br />
Wirklichkeitskonstruktionen in der Systemischen Therapie;<br />
Fritz B. Simon (Hrsg.); Frankfurt a.M. 1997<br />
Lesen Sie mehr<br />
von uns online!<br />
Diesen und viele weitere interessante Artikel finden Sie in<br />
unserem Webportal <strong>humanistisch</strong>.net!<br />
Wir dürfen nie den Opfern<br />
die Schuld geben<br />
Erneut hat ein religiöser Fanatiker in Frankreich Menschen<br />
ermordet. Den Opfern der Gewalt eine Teilschuld geben zu<br />
wollen, ist ekelhaft und falsch. <strong>humanistisch</strong>.net/39537/<br />
Ernst nehmen, nicht Rücksicht<br />
nehmen<br />
Ob aus Bequemlichkeit, falsch verstandener Toleranz oder<br />
politischem Kalkül: Auf die vermeintlich berechtigten Sorgen<br />
sogenannter Corona-Rebell*innen Rücksicht zu nehmen,<br />
ist so gefährlich wie falsch. <strong>humanistisch</strong>.net/39362/<br />
10 Jahre Rechtsbruch<br />
Anmerkung zu einer provokativen Aktion des 2009<br />
inaugurierten Präsidenten des Verwaltungsgerichts<br />
Düsseldorf, Andreas Heusch. <strong>humanistisch</strong>.net/39347/<br />
24<br />
25
<strong>humanistisch</strong>! <strong>#12</strong> / Januar <strong>2021</strong><br />
<strong>#12</strong> / Januar <strong>2021</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />
Mubarak Bala lebt!<br />
Nach mehr als 160 Tagen Inhaftierung<br />
hat es im Herbst endlich ein Lebenszeichen<br />
vom Präsidenten der Humanistischen<br />
Vereinigung Nigerias, Mubarak<br />
Bala, gegeben. Anfang Oktober konnte<br />
sich Bala erstmals mit einem Vertreter<br />
seines Anwaltsteams treffen, nachdem<br />
er Ende April aufgrund eines angeblich<br />
„blasphemischen“ Beitrags auf Facebook<br />
verhaftet worden war und sein Kontakt<br />
zur Außenwelt abriss. Monatelang hatten<br />
internationale NGOs und UN-Menschenrechtsexpert*innen<br />
gefordert, Bala den<br />
Kontakt zu seiner Familie und seinem<br />
Rechtsbeistand zu gewähren. Am 19.<br />
Oktober wurde Bala schließlich erstmals<br />
Mubarak Bala<br />
Foto: © ballisticduck.co.uk<br />
vor einem Gericht im nordnigerianischen<br />
Abuja angehört, eine zweite Verhandlung<br />
ist für den 10. Dezember festgesetzt.<br />
Der Koordinator von Balas Anwaltsteam<br />
James Ibor berichtet, andere Inhaftierte<br />
hätten Bala gedroht, ihn zu töten,<br />
wenn er nicht „Frieden mit Gott schließen“<br />
würde. „Er hat nun ständig Angst<br />
um sein eigenes Leben und das seiner<br />
Frau und seines Kindes“, so Ibor weiter<br />
über die Situation.<br />
„Selbst wenn die Argumente der örtlichen<br />
Behörden, dass Bala zu seinem<br />
eigenen Schutz in Isolation gehalten<br />
wurde, wahr wären, hätte seine wahre<br />
Foto: © ballisticduck.co.uk<br />
Sicherheit und sein Wohlergehen sicherlich<br />
nur gewährleistet werden können,<br />
wenn sein Rechtsbeistand von einem solchen<br />
Verbot ausgenommen worden wäre“,<br />
kommentierte der Präsident der Humanists<br />
International, Andrew Copson, die<br />
Entwicklungen. Der Dachverband fordert,<br />
Bala umgehend aus der Haft zu entlassen.<br />
Humanistische Ehrungen<br />
Im Rahmen der diesjährigen Generalversammlung<br />
der Humanists International<br />
(HI) sind drei Personen mit dem 2020 Distinguished<br />
Service to Humanism Award<br />
ausgezeichnet worden.<br />
Sudesh Ghoderao wurde für seinen<br />
intensiven Einsatz sowohl als Generalsekretär<br />
der Federation of Indian Rationalist<br />
Associations als auch als Sekretär des<br />
„Maharashtra-Komitees für die Ausrottung<br />
von blindem Glauben“ ausgezeichnet.<br />
Zuletzt hatte Sudesh 2019 eine große<br />
Konferenz mit Hunderten von nationalen<br />
und internationalen Delegierten organisiert,<br />
die sich dem Kampf gegen die Verbreitung<br />
von Irrationalismus widmete.<br />
„Zusätzlich zu seinen Führungsaufgaben<br />
in der indischen <strong>humanistisch</strong>en Bewegung<br />
ist Sudesh auch außerordentlicher<br />
Professor für Chemie mit einer beeindruckenden<br />
Karriere in Lehre und Forschung<br />
und er war in der Vergangenheit Delegierter<br />
bei vielen unserer Veranstaltungen“,<br />
kommentierte die Generalversammlung<br />
zu seinen Verdiensten.<br />
Ebenfalls geehrt wurde Bert Gasenbeek,<br />
der scheidende Direktor des Historischen<br />
Zentrums der HI, in dem viele<br />
Jahre lang dessen Archive aufbewahrt<br />
waren. Gasenbeek wurde für seine Arbeit<br />
zur Aufzeichnung, Erforschung und Bewahrung<br />
der reichen <strong>humanistisch</strong>en<br />
Tradition sowohl in ihren verbandlichen<br />
als auch in ihren sozialen Ausdrucksformen<br />
ausgezeichnet.<br />
Für ihren besonderen Beitrag zur<br />
Arbeit der Humanists International<br />
wurde die US-Amerikanerin Becky Hale<br />
gewürdigt. Tätig war sie u. a. im HI-Vorstand<br />
und als Präsidentin der American<br />
Humanist Association. Andrew Copson<br />
kommentierte, auch sie habe sich dabei<br />
„ihren Ruf als harte Arbeiterin erworben.<br />
Teil einer internationalen Organisation<br />
zu sein, bringt seine Herausforderungen<br />
mit sich, die 5-Uhr-Zoomanrufe, die<br />
langen Zwischenstopps und den Versuch,<br />
während einer 8-stündigen Vorstandssitzung<br />
mit Jetlag den Fokus aufrechtzuerhalten!<br />
Becky hat sich ihre Sporen und<br />
damit auch den Respekt und die Bewunderung<br />
ihrer Kollegen redlich verdient.“<br />
Die Generalversammlung der HI wurde<br />
aufgrund der Coronavirus-Pandemie<br />
erstmals in zwei Online-Konferenzen am<br />
2. und 16. Oktober durchgeführt.<br />
Schott*innen<br />
heiraten <strong>humanistisch</strong><br />
In Schottland wurden 2019 zum ersten<br />
Mal mehr Ehen in einer <strong>humanistisch</strong>en<br />
als in einer christlichen Trauung geschlossen.<br />
<strong>Das</strong> zeigen die offiziellen<br />
Statistiken der schottischen Behörden.<br />
Humanistische Eheschließungen machten<br />
demnach 23 Prozent aus, während sich<br />
nur 22 Prozent eine kirchliche Trauung<br />
wählten.<br />
Insgesamt gab es 2019 in Schottland<br />
5.879 <strong>humanistisch</strong>e und 5.812 kirchliche<br />
Eheschließungen. Die Schwesterorganisation<br />
der Humanists UK, die Humanist<br />
Society Scotland, war mit 3.276 Trauungen<br />
der größte Einzelanbieter. Die Kirche<br />
von Schottland führte 2.225 Trauungen<br />
durch, die katholische Kirche 911.<br />
Die Humanists UK fordern von der<br />
britischen Regierung seit Jahren eindringlich,<br />
<strong>humanistisch</strong>e Trauungen<br />
auch in England und Wales rechtlich<br />
anzuerkennen, und sie sehen in der<br />
aktuellen Statistik einen Beleg für einen<br />
großen Bedarf. Derzeit sind in England<br />
nur standesamtliche und kirchliche Eheschließungen<br />
personenstandsrechtlich<br />
wirksam.<br />
Trauer um „The Amazing Randi“<br />
Am 20. Oktober ist der Zauberkünstler<br />
und prominente Vertreter der Skeptics<br />
Society James Randi im Alter von 92 Jahren<br />
verstorben. Internationale Bekanntheit<br />
hatte er sich durch die Entlarvung<br />
von Kolleg*innen wie dem Mentalist Uri<br />
Geller erarbeitet. Geller behauptete, seine<br />
Kunststücke basierten auf übersinnlichen<br />
Kräften. Auch religiöse Eiferer,<br />
Astrolog*innen, angebliche Wunderheiler*innen<br />
und Spiritist*innen nahm er im<br />
James Randi<br />
Laufe seiner Karriere immer wieder aufs<br />
Korn. Hohe Bekanntheit erlangte auch<br />
Randis Eine-Million-Dollar-Herausforderung<br />
an jene, die unter objektiven Bedingungen<br />
ihre paranormalen Fähigkeiten<br />
beweisen wollten. Erfolgreich eingelöst<br />
wurde sie nie.<br />
James Randi war Mitgründer mehrerer<br />
Organisationen, die sich der Aufklärung<br />
über pseudowissenschaftliche und<br />
paranormale Thesen widmeten. Darunter<br />
das heutige Committee for Skeptical<br />
Inquiry, zu dessen Gründungsmitgliedern<br />
auch Paul Kurtz, Carl Sagan und Isaac<br />
Asimov zählten. Er war zudem Autor<br />
zahlreicher Bücher und wurde für sein<br />
aufklärerisches Wirken vielfach ausgezeichnet.<br />
„Randi hat einen internationalen Ruf<br />
als der weltweit unermüdlichste Ermittler<br />
und Entmystifizierer paranormaler<br />
und pseudowissenschaftlicher Behauptungen.<br />
Sein Beitrag zur Bewegung der<br />
Humanist*innen und Skeptiker*innen<br />
wird nie vergessen werden“, sagten die<br />
Humanists International zu seinen Verdiensten.<br />
Europäische Humanist*innen<br />
wählten Führungsspitze<br />
Am 7. November fand die jährliche<br />
Generalversammlung der Europäischen<br />
Humanistischen Föderation (EHF) statt.<br />
Sie wurde wegen der Covid-19-Pandemie<br />
erstmals online abgehalten. Bei der<br />
Neubestimmung des Führungsgremiums<br />
setzen die Delegierten auf eine Mischung<br />
aus erfahrenen und neuen Kräften.<br />
Michael Bauer, Vorstand der Humanistischen<br />
Vereinigung, wurde im Amt des<br />
EHF-Präsidenten bestätigt. Zu Vizepräsident*innen<br />
wurden Lone Ree Milkaer<br />
(Humanistisk Samfund, Dänemark)<br />
und Patrik Lindenfors (humanisterna,<br />
Schweden) bestimmt, Jacqueline Herremans<br />
(Centre d’Action Laïque, Belgien)<br />
wurde zur Schatzmeisterin gewählt.<br />
Neue Generalsekretärin ist Terese Svenke<br />
(Human-Etisk Forbund, Norwegen), stellvertretende<br />
Generalsekretärin Monica<br />
Belitoiu (Asociatia Secular-Umanista,<br />
Rumänien). Dem Vorstand gehören nach<br />
der Neuwahl des Weiteren Ineke de Vries<br />
(Humanistisch Verbond, Niederlande), Peter<br />
Handlovsky (Spolocnost Prometheus,<br />
Slowakei), Katja Labidi (Humanistischer<br />
Verband Deutschlands), Pablo Gutierrez<br />
(Europa Laica, Spanien) sowie Freddy<br />
Mortier (DeMensNu, Belgien) und Kaja<br />
Bryx (Polish Rationalists Organisation)<br />
an.<br />
Die EHF ist mit über 60 <strong>humanistisch</strong>en<br />
und säkularen Mitgliedsorganisationen<br />
der größte Dachverband seiner<br />
Art in Europa und vertritt <strong>humanistisch</strong>e<br />
Interessen gegenüber der Europäischen<br />
Union, dem Europarat und anderen internationalen<br />
Institutionen.<br />
Manifest für bessere Schulen<br />
Die britischen Humanist*innen sehen<br />
dringenden Reformbedarf beim Bildungssystem<br />
im Vereinigten Königreich.<br />
Im November haben die Humanists<br />
UK deshalb ein Manifest veröffentlicht,<br />
in dem sie ihre Vorstellungen darlegen.<br />
Möglichst integrativ sollen die Schulen<br />
werden, außerdem soll sichergestellt<br />
werden, dass alle Kinder die breite und<br />
ausgewogene Bildung erhalten, auf die<br />
sie ein Anrecht haben. „Die Gesetze erlauben<br />
es derzeit staatlich finanzierten<br />
Privatschulen, ihre Schüler allein auf<br />
der Grundlage ihres religiösen Hintergrunds<br />
auszuwählen und nur aus einer<br />
Glaubensperspektive zu unterrichten“,<br />
erläuterte Ruth Wareham, Kampagnen-<br />
Managerin für den Bereich Bildung der<br />
Humanists UK hierzu. Die Zahl dieser<br />
Schulen war in den letzten 15 Jahren<br />
stark gewachsen.<br />
Foto: ©standret/adobestock.com<br />
<strong>Das</strong> Manifest betont daher, dass<br />
staatlich finanzierte Schulen allen<br />
Lernenden unabhängig von Religion,<br />
Weltanschauung und Herkunft offenstehen<br />
sollten. Schulgottesdienste sollten<br />
durch Versammlungen ersetzt werden,<br />
von denen alle Lernenden ungeachtet<br />
ihrer unterschiedlichen Überzeugungen<br />
profitieren können. Lehrpläne sollten<br />
ein breites Spektrum von Religionen<br />
und Humanismus in ausgewogener und<br />
objektiver Weise abdecken, Humanismus<br />
sollte gleichberechtigt mit den großen<br />
Religionen einbezogen werden. Des Weiteren<br />
sollten alle Schüler*innen umfassende,<br />
sachlich genaue und altersgemäße<br />
Informationen über Beziehungen und Sex<br />
erhalten, LGBT eingeschlossen. Religiös<br />
begründete Ausnahmen oder ein Recht<br />
von Eltern, ihre Kinder von Unterrichtsinhalten<br />
befreien zu lassen, sollte es<br />
nicht geben. Zudem sollte keine religiöse<br />
Diskriminierung bei der Beschäftigung<br />
von Lehrkräften oder anderen Beschäftigten<br />
zulässig sein.<br />
26<br />
27
<strong>humanistisch</strong>! <strong>#12</strong> / Januar <strong>2021</strong><br />
<strong>#12</strong> / Januar <strong>2021</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />
1<br />
Ein Mal in den letzten 30 Jahren<br />
hat ein Präsidentschaftskandidat<br />
der Republikaner das sog.<br />
„popular vote“ gewonnen, d. h.<br />
die Mehrheit der tatsächlich<br />
abgegebenen Stimmen. Hintergrund:<br />
Die US-Wahlberechtigten<br />
stimmen nicht über eine Präsidentschaftskandidat*in,<br />
sondern über<br />
ein Gremium von Wahlmännern<br />
und -frauen ab, das „Electoral college“,<br />
welches anschließend den/<br />
die Präsident*in wählt. Aufgrund<br />
von Ungleichgewichten zwischen<br />
der Menge der Bevölkerung/Wahlberechtigten<br />
und der Zahl der<br />
Wahlleute pro Bundesstaat kann<br />
es dazu kommen, dass trotz des<br />
Unterliegens beim „popular vote“<br />
eine*n Kandidat*in mehr Wahlleute<br />
im Electoral college versammeln<br />
kann als sein*ihr Kontrahent.<br />
Zuletzt war Donald Trump auf<br />
diese Weise ins Amt gekommen,<br />
davor George W. Bush im Jahr<br />
2000.<br />
JEDE<br />
STIMME<br />
2<br />
Zwei Mitglieder des US-Repräsen- *innen waren zu den Wahlen<br />
tantenhauses identifizieren sich angetreten. In den Parlamenten<br />
als Humanisten, Jared Huffmann der US-Bundesstaaten üben derzeit<br />
(Kalifornien) und Jamie Raskin mehr als vier Dutzend weitere<br />
(Maryland). Insgesamt acht offen Abgeordnete, die sich offen als<br />
bekennende Humanist*innen, nicht-religiös und/oder <strong>humanistisch</strong><br />
Atheist*innen und Agnostiker-<br />
identifizieren, ein Mandat aus.<br />
ZÄHLT<br />
Joe Biden wird nächster Präsident der<br />
USA und immer mehr Mandatsträger*-<br />
innen sind nichtreligiös – Ron Miller,<br />
Koordinator des Center for Freethought<br />
Equality Fund der American Humanist<br />
Association, kommentiert das Resultat<br />
der US-Wahlen.<br />
Humanist*innen im ganzen Land und auf der ganzen<br />
Welt feiern gemeinsam die Niederlage von Donald<br />
Trump. Wir können nun auf einen Fortschritt<br />
hoffen, der in den letzten vier Jahren nicht möglich<br />
war. Auch wenn wir nicht auf sein Niveau schriller<br />
Dämonisierung sinken wollen, müssen wir doch<br />
Der designierte<br />
US-Präsident Joe Biden<br />
(77) ist nach John F.<br />
Kennedy das zweite katholische<br />
Staatsoberhaupt.<br />
Laut Medienberichten<br />
praktiziere er seinen<br />
Glauben, u. a. besuche<br />
er jeden Sonntag die<br />
Messe, habe stets einen<br />
Rosenkranz dabei und<br />
zitiere in Reden immer<br />
wieder die Bibel, hieß<br />
es in einem Bericht<br />
des Kölner Domradios.<br />
Allerdings trage er seinen<br />
Glauben darüber hinaus<br />
nicht vor sich her.<br />
anerkennen, dass siebzig Millionen Menschen für<br />
den rückschrittlichsten Präsidenten gestimmt<br />
haben, den unser Land seit über einem Jahrhundert<br />
erlebt hat. Wir freuen uns also, wissen aber<br />
doch, dass es noch ein langer Weg ist hin zu einem<br />
vernünftigeren, egalitären und von Mitgefühl getragenen<br />
Amerika.<br />
Die Umfragen vor den Parlamentswahlen im<br />
Jahr 2020 weckten die Hoffnung auf eine klare<br />
Absage an Trump und seine christlich-nationalistische<br />
Unterstützer*innen-Basis. Traurigerweise<br />
zeigt diese Wahl, dass eine beträchtliche Anzahl<br />
von Amerikaner*innen weiterhin die gefährliche<br />
politische Agenda der weißen christlichen<br />
Nationalist*innen befürwortet. Eine Biden-Präsidentschaft<br />
wird einen gewissen Schutz gegen<br />
ihre schlimmsten Auswüchse bieten; die Ergebnisse<br />
dieser Wahl zeigen jedoch, dass der bigotte,<br />
wissenschaftsfeindliche, rassistische, frauenfeindliche,<br />
fremdenfeindliche und homophobe Kreuzzug<br />
der christlichen Nationalist*innen weitergehen<br />
wird.<br />
Glücklicherweise haben die wachsende atheistische<br />
und <strong>humanistisch</strong>e Community und unser<br />
zunehmendes politisches Engagement das Potenzial,<br />
dem christlichen Nationalismus wirksam<br />
entgegenzuwirken. Zwar konnten wir bei dieser<br />
Wahl im US-Kongress und in den Parlamenten der<br />
Bundesstaaten keine Zugewinne erreichen, aber<br />
unser kontinuierliches Wachstum und unser Engagement<br />
machen uns zu einem Wähler*innenblock,<br />
mit dem man rechnen muss. Dieser atheistische,<br />
agnostische und religiös nicht gebundene Block hat<br />
sich seit 2008 fast verdoppelt – von fünfzehn auf<br />
achtundzwanzig Prozent der registrierten Wähler*innen.<br />
Wir müssen uns weiter organisieren und<br />
unsere Werte vor den Wahlurnen bekannt machen,<br />
und unsere Mitglieder müssen für öffentliche Ämter<br />
kandidieren.<br />
Vor den Parlamentswahlen 2016 gab es nur<br />
fünf gewählte Amtsträger*innen, die in staatlichen<br />
Parlamenten dienten und sich öffentlich mit der<br />
atheistischen und <strong>humanistisch</strong>en Community<br />
identifizierten. Nach der Wahl 2016 wuchs diese<br />
Liste auf siebzehn und nach der Wahl 2018 auf<br />
siebenundvierzig an. Wenn die neu gewählten<br />
Amtsträger*innen <strong>2021</strong> vereidigt werden, wird es<br />
dreiundsechzig nichtreligiöse Mandatsträger*innen<br />
auf Bundes- und Länderebene geben.<br />
Diese Wahlerfolge wurden durch den Freethought<br />
Equality Fund ermöglicht, ein politisches<br />
Aktionskomitee, das zum Center for Freethought<br />
Equality der American Humanist Association gehört.<br />
2020 konnten atheistische, <strong>humanistisch</strong>e<br />
100<br />
100. Geburtstag hatte das Frauenwahlrecht<br />
Stimmen im Vergleich zur Wahl<br />
in den Vereinigten der Jahre zuvor um 77 Prozent<br />
Staaten in diesem Jahr. Mit der bzw. rund sieben Millionen<br />
Einführung im Jahr 1920 erhöhte Wähler*innenstimmen auf rund<br />
sich die Zahl der abgegebenen 16,14 Millionen.<br />
80 Mio.<br />
Rund 80 Mio. Stimmen hat der erhalten wie kein US-Präsident<br />
demokratische Präsidentschaftskandidat<br />
vor ihm. Die Zahl der abgegebenen<br />
Joe Biden bei Stimmen verändert sich aufgrund<br />
den Wahlen im November erhalten.<br />
des Wachstums der wahlberechtig-<br />
Joe Biden hat damit rein ten Bevölkerung sowie der Höhe<br />
zahlenmäßig so viele Stimmen der Wahlbeteiligung.<br />
28<br />
29
<strong>humanistisch</strong>! <strong>#12</strong> / Januar <strong>2021</strong><br />
<strong>#12</strong> / Januar <strong>2021</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />
Die designierte Vizepräsidentin<br />
Kamala Harris (56) bezeichnet sich selbst<br />
als Baptistin und ist Mitglied der Third Baptist<br />
Church of San Francisco, die zu den<br />
American Baptist Churches USA gehört.<br />
62 Prozent der US-Katholik*innen stimmten<br />
bei den Wahlen im November laut Umfragen<br />
für die New York Times und andere Medienhäuser<br />
allerdings für Donald Trump,<br />
unter weißen Evangelikalen taten dies<br />
sogar 76 Prozent. Unter den nichtreligiösen<br />
Wähler*innen stimmten nur 36 Prozent<br />
für Trump und 58 Prozent für Biden.<br />
und agnostische Kandidat*innen wie Melissa<br />
Sargent und Kelda Roys Sitze im Senat des Staates<br />
Wisconsin errangen. Julie Mayfield gewann einen<br />
Sitz im Senat des Staates North Carolina und Melody<br />
Hernandez wird sich Juan Mendez und Athena<br />
Salman in der Legislative von Arizona anschließen.<br />
Judy Amabile errang einen Sitz im Colorado State<br />
House und es gibt vierzehn <strong>humanistisch</strong>e Mitglieder<br />
im Repräsentantenhaus von New Hampshire,<br />
die in der Sitzungsperiode <strong>2021</strong> dienen werden –<br />
darunter Tim Smith, der in seiner fünften Amtszeit<br />
der am längsten dienende öffentlich gewählte<br />
atheistische Amtsträger in Amerika sein wird. In<br />
einem sehr engen Konkurrenzkampf gewann Jon<br />
Rosenthal nach seiner ersten Amtszeit im Bundesstaat<br />
Texas als einziger Mandatsträger, der sich<br />
öffentlich mit unserer Gemeinschaft identifiziert,<br />
die Wiederwahl mit einem Abstand von nur 317<br />
Stimmen. Ein klares Beispiel dafür, dass jede Stimme<br />
zählt.<br />
Alle Mitglieder des Freidenker*innen-Ausschusses<br />
im Kongress haben auch ihre Wiederwahl<br />
gewonnen. Wir sind sehr stolz auf die offen <strong>humanistisch</strong>en,<br />
atheistischen, agnostischen und nichtreligiösen<br />
Kandidat*innen, die sich in diesem Jahr<br />
zur Wahl gestellt haben, und auf das wachsende<br />
Engagement unserer Gemeinschaft im politischen<br />
Prozess.<br />
<strong>Das</strong> anhaltende Wachstum der atheistischen<br />
und <strong>humanistisch</strong>en Gemeinschaft und unser verstärktes<br />
Engagement im politischen Prozess lassen<br />
hoffen, dass die Ergebnisse künftiger Wahlen ein<br />
sichereres, vernünftigeres und stärkeres Amerika<br />
schaffen werden.<br />
Ron Miller<br />
Hallo aus<br />
den USA!<br />
Drei Fragen an den Buchautor und Blogger<br />
Hemant Mehta, der als „Friendly Atheist“ einen<br />
vielgelesenen dezidiert atheistischen Blog betreibt.<br />
Bist Du in einer bestimmten religiösen<br />
Tradition aufgewachsen?<br />
Wann hast Du begonnen,<br />
dich als nichtreligiös zu identifizieren?<br />
Hemant Mehta Ich bin im<br />
Jain-Glauben aufgewachsen, der<br />
sich um Gewaltlosigkeit dreht.<br />
Ich stimme zwar immer noch mit<br />
vielen seiner philosophischen<br />
Prinzipien überein, aber der<br />
Glaube an Karma und andere<br />
übernatürliche Ideen machte für<br />
mich keinen Sinn mehr, als ich<br />
ein Teenager war, und danach<br />
war es ein schneller Übergang in<br />
den Atheismus.<br />
Du schreibst sehr aktiv<br />
über Religion und Politik in<br />
deinem Blog „Friendly Atheist“.<br />
Gibt es etwas, über das Du<br />
in den vergangenen Jahren berichtet<br />
hast, das einen starken<br />
Eindruck bei Dir hinterlassen<br />
hat?<br />
HM Es war faszinierend,<br />
den Aufstieg der religiösen<br />
Linken zu beobachten – in der<br />
Regel Christ*innen mit liberalen<br />
sozialen Ansichten. Ich berichte<br />
immer gerne über progressive<br />
Christ*innen, die sich wirklich<br />
gegen konservative Christ*innen<br />
wehren, die ihren Glauben<br />
in eine schädliche Richtung<br />
lenken. Ich selbst tue dasselbe,<br />
aber es ist sinnvoller, wenn die<br />
Menschen in ihrer Gemeinschaft<br />
sie herausfordern. Es hat mir<br />
auch geholfen, zu erkennen, dass<br />
gerade jetzt in den USA politisches<br />
Dogma weitaus schädlicher<br />
ist als religiöses Dogma, und es<br />
lohnt sich, gewisse Differenzen<br />
beiseite zu legen, um auf ein gemeinsames<br />
Ziel hinzuarbeiten.<br />
Es war auch bemerkenswert zu<br />
sehen, wie weit sich der Atheismus<br />
in der Mainstream-Kultur<br />
durchgesetzt hat. Selbst wenn<br />
das Wort gewisse negative Konnotationen<br />
hat, scheint die Vorstellung,<br />
nicht religiös zu sein,<br />
fast unbeachtlich zu sein, und<br />
das liegt zum großen Teil an den<br />
Menschen, die in den letzten zwei<br />
Jahrzehnten zu seiner Entstigmatisierung<br />
beigetragen haben.<br />
Glauben Sie, dass die<br />
öffentliche Meinung für das<br />
Nicht-Religiöse empfänglicher<br />
wird?<br />
HM Auf jeden Fall. Immer<br />
mehr Amerikaner*innen aller<br />
Altersgruppen, vor allem aber<br />
Menschen unter dreißig, sagen,<br />
dass sie bereit sind, für ein*e<br />
Präsidentschaftskandidat*in aus<br />
ihrer Partei zu stimmen, auch<br />
wenn sie offen atheistisch ist.<br />
Und was niedrigere Ämter angeht<br />
– Stadträte, Ämter einzelner<br />
Bundesstaaten usw. – wird die<br />
Barriere noch niedriger.<br />
Abgesehen davon sind mehr<br />
als 90 Prozent des US-Kongresses<br />
christlich, und wir haben noch<br />
einen langen Weg vor uns, bevor<br />
die Politik unserer Nation so säkular<br />
wird, wie es die Verfassung<br />
verlangt. Wir brauchen mehr<br />
Menschen an der Macht, die das<br />
erkennen, unabhängig von ihrem<br />
eigenen Glaubenshintergrund.<br />
Die Tatsache, dass es im Freidenkerausschuss<br />
des Kongresses ein<br />
Dutzend Mitglieder gibt und dass<br />
etwa fünfzig Repräsentant*innen<br />
auf staatlicher Ebene offen<br />
nicht-religiös sind, ist ein guter<br />
Anfang.<br />
Die Fragen stellte Meredith Thompson<br />
für The Humanist der American Humanist<br />
Association.<br />
Der amerikanische Präsident ist kein Turnlehrer.<br />
Denn Turnlehrer wissen: Der gute<br />
Abgang ziert die Übung. Es ist erstaunlich,<br />
Impressum<br />
Helfen Sie<br />
mit!<br />
<strong>humanistisch</strong>! <strong>Das</strong> <strong>Magazin</strong> wird herausgegeben von<br />
Humanistische Medien (Anstalt des öffentlichen Rechts),<br />
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REDAKTIONSLEITUNG Arik Platzek (arik.platzek@<br />
<strong>humanistisch</strong>.net), Marco Schrage (marco.schrage@<br />
<strong>humanistisch</strong>.net)<br />
dass jemand, der mit dem Feuern von Leuten<br />
berühmt geworden ist, so wenig davon versteht.<br />
Freilich: Ohne den Gefeuerten ist der<br />
Feuernde nicht vorstellbar, er wäre in seinem<br />
erfolglosen Bemühen geradezu absurd.<br />
So dürfte es dem amerikanischen Wahlvolk<br />
gehen, zumindest dem ein klein wenig<br />
größeren Teil. Zweifellos eine frustrierende<br />
Angelegenheit.<br />
In unserem Land vermeiden wir diese Unerfreulichkeiten,<br />
indem wir unsere obersten<br />
Anführenden lieber erst gar nicht feuern,<br />
AN DIESER AUSGABE HABEN MITGEWIRKT Nina Abassi,<br />
Michael C. Bauer, Martin Bühner, Jonas Grutzpalk,<br />
Matthias Mainz, Ron Miller, Frank Stößel, Martin A. Völker.<br />
ABONNENTENSERVICE Stefan Dietrich, abo@<strong>humanistisch</strong>.net<br />
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DRUCK Mang + co – mangdruck.de<br />
ERSCHEINUNGSWEISE <strong>humanistisch</strong>! <strong>Das</strong> <strong>Magazin</strong><br />
erscheint vierteljährlich im Januar, April, Juli und<br />
Oktober. Beiträge von Autor*innen entsprechen nicht<br />
zwangsläufig der Meinung des Herausgebers.<br />
und wenn dann eher freundlich. Unsere Art<br />
ist es zu warten, bis sie von selber keine Lust<br />
mehr haben. Dennoch verhunzen es manche<br />
selbst dann noch, mit ehrlosen Ehrenwörtern<br />
oder einem geschäftsorientierten Geschäftsgebaren.<br />
Aber das ist dann deren Sache, die<br />
Hilfestellung für ihren Abgang haben wir ihnen<br />
gegeben, wie jeder gute Turnlehrer. Bald<br />
schon ist es mal wieder soweit. Wahrscheinlich<br />
werden wir davon gar nichts besonders<br />
mitkriegen. Kurze Verbeugung, und ab. Wir<br />
haben es gut. mcb<br />
ES IST AN DER ZEIT<br />
Stoppen wir inhumane<br />
Bräuche in Nepal!<br />
Informieren Sie sich jetzt und<br />
spenden Sie unter<br />
www.<strong>humanistisch</strong>e-hilfe.de<br />
Vielen Dank!<br />
Geschlechtergerechtigkeit will <strong>humanistisch</strong>! <strong>Das</strong> <strong>Magazin</strong><br />
vor allem inhaltlich verwirklichen. Wir orientieren uns<br />
außerdem an den DJV-Empfehlungen für eine diskriminierungsfreie<br />
Sprache. Bei Fragen oder Anmerkungen dazu<br />
schreiben Sie uns an redaktion@<strong>humanistisch</strong>.net.<br />
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Ausgabe.<br />
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von Abbildungen zu ermitteln. Sollte dem Herausgeber<br />
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30<br />
31
zum Mitmachen!<br />
Die mobile und interaktive Miniatur-<br />
Ausstellung rund um die menschlichen Sinne<br />
– für Erwachsene, Schulen und Kitas!<br />
Dauer: 2 Stunden, Aufbauzeit: 15 Minuten<br />
Alter: 3-99 Jahre<br />
Buchung und Kontakt: mobil@philoscience.de, 0911 94432-81<br />
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