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humanistisch! Das Magazin #14 - 3/2021

Rassismus und die weiße Empfindlichkeit – Plädoyer für einen Paradigmenwechsel

Rassismus und die weiße Empfindlichkeit – Plädoyer für einen Paradigmenwechsel

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<strong>#14</strong> / Juli <strong>2021</strong><br />

Rassismus<br />

und die weiße<br />

Empfindlichkeit<br />

Plädoyer für einen Paradigmenwechsel<br />

12 <strong>Das</strong> ist auch unser Land!<br />

Warum Deutschsein<br />

mehr als deutsch<br />

sein ist<br />

20 Neu in Oldenburg<br />

Ein <strong>humanistisch</strong>er<br />

Seafarer's Social<br />

Service<br />

22 Essay<br />

Auch Humanist*innen<br />

ist das Heilige nicht<br />

fremd


<strong>humanistisch</strong>! <strong>#14</strong> / Juli <strong>2021</strong><br />

<strong>#14</strong> / Juli <strong>2021</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />

INHALT<br />

editorial<br />

03<br />

Editorial<br />

04<br />

Kurznachrichten<br />

06<br />

Rassismus und<br />

die weiße<br />

Empfindlichkeit<br />

10<br />

Rassismus in Zahlen<br />

12<br />

„<strong>Das</strong> ist auch<br />

unser Land“<br />

14<br />

WohnGut Max<br />

15<br />

Nah am Puls –<br />

Neues aus der HV<br />

17<br />

Humanistisch reisen:<br />

Triest<br />

20<br />

Seafarer’s Social<br />

Service Oldenburg<br />

22<br />

Humanismus<br />

und das Heilige<br />

24<br />

Weltspiegel<br />

26<br />

Buch- und Filmtipps<br />

27<br />

Impressum<br />

Liebe Leserinnen,<br />

liebe Leser,<br />

welche Rolle spielt Ihre Hautfarbe in Ihrem Alltag? Sofern Sie<br />

weiß sind, vermutlich eine sehr kleine. Oder werden Sie etwa<br />

ständig gefragt, woher Sie eigentlich kommen? Oder haben Sie<br />

schon öfter gezweifelt, ob wirklich Ihre Qualifikation oder doch Ihre<br />

Hautfarbe ausschlaggebend für eine Jobabsage war?<br />

Black and Indigenous People of Color (BIPOC)* erleben ihren Alltag grundlegend<br />

anders als weiße Menschen. Unsere Gesellschaft ist nicht farbenblind. Über<br />

Generationen und im Unbewussten haben sich rassistische Denkmuster eingeschliffen,<br />

die nicht leichterhand zum Verschwinden gebracht werden, indem wir<br />

sie verleugnen. Natürlich, niemand will als Rassist*in gesehen werden. Wenigstens<br />

ein bisschen Rassismus aber steckt in fast jeder*m von uns.<br />

Die Konfrontation mit ihm ist unangenehm und mündet oft genug in einen<br />

vehementen Abwehrreflex weißer Menschen: die sogenannte white fragility.<br />

Unsere Autorin Nina Abassi setzt sich in dieser Ausgabe mit der Frage auseinander,<br />

wie wir unsere eigene Fragilität überwinden können, um über Rassismus zu<br />

sprechen, anstatt das Problem totzuschweigen.<br />

Lassen Sie uns also gemeinsam die weiße Komfortzone verlassen und unser<br />

Bewusstsein schärfen für die Rassismen, unter denen viele Menschen in Deutschland<br />

tagtäglich leiden.<br />

Ich wünsche Ihnen eine aufschlussreiche Lektüre und viel Erfolg beim<br />

Erforschen der eigenen Denk- und Handlungsmuster.<br />

Zum Schluss möchte ich noch die Gelegenheit nutzen, mich Ihnen vorzustellen.<br />

Als neues Mitglied der Chefredaktion folge ich auf Marco Schrage, der nach sieben<br />

Jahren neue berufliche Wege geht. Danke, Marco, für dein Engagement bei der HV.<br />

Herzliche Grüße,<br />

Ihre<br />

Tizia Labahn<br />

Leitung Öffentlichkeitsarbeit<br />

ab sofort buchbar!<br />

Einsetzbar in Workshops, Weiterbildungen und Diversity-Trainings<br />

Buchung unter mobil@philoscience.de, weitere Infos unter philoscience.de<br />

Unbewusste Vorurteile erkennen, hinterfragen und überlisten +++ eine interaktive Miniaturausstellung<br />

* BIPOC ist eine Selbstbezeichnung von Menschen mit Rassismuserfahrung,<br />

die nicht als weiß, deutsch und westlich wahrgenommen werden und sich auch<br />

selbst nicht so definieren. (Quelle: Glossar der Neuen Deutschen Medienmacher)<br />

3


<strong>humanistisch</strong>! <strong>#14</strong> / Juli <strong>2021</strong><br />

<strong>#14</strong> / Juli <strong>2021</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />

#AlleFür1Komma5<br />

Der Weltklimarat hat Ende<br />

Juni erneut vor irreversiblen<br />

Folgen für Menschen<br />

und ökologische Systeme bei<br />

einer weiteren Erwärmung<br />

des globalen Klimas gewarnt.<br />

Wenn das 1,5-Grad-Ziel verfehlt<br />

wird, müsste rund eine<br />

halbe Milliarde Menschen<br />

regelmäßig unter Hitzewellen<br />

leiden, das Artensterben<br />

würde weiter zunehmen,<br />

mehr küstennahe Orte würden<br />

überschwemmt und es<br />

wären mehr Hungerkrisen zu<br />

erwarten.<br />

Und eben nicht die Erde<br />

an sich, sondern die auf ihr<br />

lebenden Menschen wären<br />

die größten Leidtragenden<br />

der Klimakrise. „<strong>Das</strong> Leben<br />

auf der Erde kann sich von<br />

einem drastischen Klimaumschwung<br />

erholen, indem es<br />

neue Arten hervorbringt und<br />

neue Ökosysteme schafft“,<br />

heißt es in der 137-seitigen<br />

Zusammenfassung des Berichtsentwurfs.<br />

„Menschen<br />

können das nicht.“<br />

Die von der Großen Koalition<br />

vereinbarten Eckpunkte<br />

für eine Reform der Klimaund<br />

Energiepolitik sind auf<br />

deutliche Kritik von Paritätischem<br />

Wohlfahrtsverband<br />

und dem Bund für Umwelt<br />

und Naturschutz Deutschland<br />

(BUND) gestoßen. So seien<br />

die Vorschläge klimapolitisch<br />

unambitioniert, zudem<br />

fehle jeglicher sozialer Ausgleich<br />

Ein breites zivilgesellschaftliches<br />

Bündnis hat gemeinsam<br />

mit dem Netzwerk<br />

von „Fridays for Future“ deshalb<br />

zu einem „Klimastreik“<br />

am 24. September aufgerufen.<br />

Überall in Deutschland<br />

soll es vor den Bundestagswahlen<br />

pandemiekonforme<br />

Veranstaltungen geben. Diese<br />

sollen auf die Folgen der Klimakrise<br />

hinweisen und den<br />

Protest gegen die gegenwärtige<br />

Politik sichtbar machen.<br />

Mehr dazu: klima-streik.org<br />

WELTFRIEDENSINDEX<br />

<strong>2021</strong><br />

Die globale Friedenslage ist weiterhin schlecht. <strong>Das</strong> geht aus<br />

dem jüngsten Global Peace Index (GPI) hervor. Demnach habe<br />

sich die Lage in 87 Ländern verbessert, in 73 Ländern hingegen<br />

verschlechtert. Der globale Länderdurchschnitt sank zwar nur um<br />

geringfügige 0,07 Prozent, doch ein Aufwärtstrend bleibt weiterhin<br />

aus.<br />

Auf dem Spitzenplatz des Global Peace Index liegt wie schon<br />

seit 2008 Island, wie zuvor dicht gefolgt von Neuseeland, Dänemark<br />

und Portugal. Afghanistan befindet sich wie in den Vorjahren<br />

auf dem letzten Platz, davor liegen weiterhin Yemen, Syrien,<br />

Südsudan und Irak.<br />

Deutschland erreichte einen GPI-Score von 1,48, das sind .14<br />

Punkte weniger als 2020, und rutschte auf Platz 17, gefolgt von<br />

Ungarn und Belgien. Europa ist aber weiterhin der Kontinent mit<br />

den meisten Staaten im oberen Bereich des GPI-Rankings. Treibender<br />

Faktor für die Verschlechterung der Bilanz des GPI <strong>2021</strong><br />

war die Coronavirus-Pandemie. „Während es bei gewaltsamen<br />

Konflikten eine Verbesserung gab, stieg die Zahl der gewalttätigen<br />

Demonstrationen deutlich an – insgesamt gab es im vergangenen<br />

Jahr mehr als 5.000 Covid-19-bezogene Gewaltereignisse.<br />

Pandemiebedingte gewalttätige Vorfälle ereigneten sich in 158<br />

Ländern der Welt. Dies wurde durch verschiedene Veränderungen<br />

angeheizt: die auferlegten COVID-19-Restriktionen, regierungsfeindliche<br />

Stimmungen, Lockdowns, steigende Arbeitslosigkeit<br />

und fehlende wirtschaftliche Unterstützung“, so die Autor*innen.<br />

Der Friedensindex wird seit 2007 vom australischen Institute<br />

for Economics and Peace in Kooperation mit der Universität<br />

Sydney und der britischen Zeitschrift „The Economist“ erhoben.<br />

Ärztetag für<br />

Selbstbestimmung<br />

Im Einzelfall dürfen<br />

Ärzt*innen in Deutschland<br />

kranken und leidenden<br />

Patient*innen bei ihrem<br />

Wunsch nach einem Lebensende<br />

helfen. Dies hat der<br />

Präsident der Bundesärztekammer<br />

Klaus Reinhardt erklärt,<br />

nachdem der Deutsche<br />

Ärztetag im Mai das Verbot<br />

der Suizidbeihilfe aus der<br />

Berufsordnung gestrichen<br />

hat. Eine deutliche Mehrheit<br />

des Ärztetages votierte für<br />

die Streichung, nachdem das<br />

Bundesverfassungsgericht<br />

im Februar 2020 das von der<br />

Großen Union aus CDU/CSU<br />

und SPD 2015 beschlossene<br />

Suizidhilfe-Verbot für nichtig<br />

erklärt hatte.<br />

Humanismus<br />

muss praktisch sein<br />

„Soziale Isolation, das Fehlen<br />

von vertrauten Kontakten,<br />

existenzielle gesundheitliche<br />

und wirtschaftliche Probleme,<br />

Zukunftsangst – solche Dinge,<br />

die wir im letzten Jahr erlebt<br />

haben, sind für <strong>humanistisch</strong><br />

denkende Menschen in anderen<br />

Teilen der Welt alltäglich“<br />

– Mit diesen Worten hat der<br />

Vorstand der Humanistischen<br />

Vereinigung und Präsident der<br />

Europäischen Humanistischen<br />

Föderation anlässlich des World<br />

Humanist Day <strong>2021</strong> erneut zur<br />

praktischen Solidarität zwischen<br />

Humanist*innen weltweit<br />

aufgerufen.<br />

Wir sollten trotz der<br />

Corona-Krise nicht vergessen,<br />

dass wir „viele Privilegien genießen,<br />

in einem friedlichen<br />

Europa leben dürfen, nicht<br />

nur Gedanken- und Meinungsfreiheit<br />

in weitestem Ausmaß<br />

und viele andere Freiheiten<br />

genießen, sondern auch einen<br />

vergleichsweise hohen wirtschaftlichen<br />

Wohlstand, ein<br />

passables Bildungssystem und<br />

soziale Absicherungen – viele<br />

Menschen in anderen Teilen<br />

Koalitionsziel verfehlt: Ein von CDU/<br />

CSU und SPD nach jahrelangen Verhandlungen<br />

vorgelegter Gesetzentwurf<br />

zur Verankerung der Kinderrechte im<br />

Grundgesetz ist gescheitert. <strong>Das</strong> sei in<br />

der finalen Verhandlungsrunde der Bundestagsfraktionen<br />

im Juni deutlich geworden,<br />

erklärte die Justiz- und Familienministerin<br />

Christine Lambrecht<br />

(SPD). Den Unionsparteien und der Opposition<br />

habe der Wille zur Einigung gefehlt,<br />

so Lambrecht.<br />

Foto: ©HV<br />

Vorstand der Humanistischen<br />

Vereinigung und Präsident der<br />

Europäischen Humanistischen<br />

Föderation Michael Bauer<br />

der Welt können davon nur<br />

träumen.“ Er unterstrich die im<br />

Zuge der Krise weiter gestiegene<br />

Bedeutung von praktischem<br />

Humanismus in Einrichtungen<br />

und Projekten, nicht nur hierzulande,<br />

sondern auch in anderen<br />

Teilen der Welt. „Nur ein vor<br />

Ort bei den Menschen verankerter,<br />

praktischer Humanismus<br />

hat die Kraft, Krisen wie die<br />

gerade vorüberziehende zu<br />

überstehen.“ Mehr dazu auf<br />

<strong>humanistisch</strong>e-hilfe.de<br />

VERPASSTE CHANCE<br />

Der Gesetzentwurf wollte Artikel 6<br />

Grundgesetz wie folgt ergänzen: „Die<br />

verfassungsmäßigen Rechte der Kinder<br />

einschließlich ihres Rechts auf Entwicklung<br />

zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten<br />

sind zu achten und zu<br />

schützen. <strong>Das</strong> Wohl des Kindes ist angemessen<br />

zu berücksichtigen. Der verfassungsrechtliche<br />

Anspruch von Kindern<br />

auf rechtliches Gehör ist zu wahren. Die<br />

Erstverantwortung der Eltern bleibt unberührt.“<br />

<strong>humanistisch</strong>!net<br />

Wann fällt § 218 StGB?<br />

Ein von der Linksfraktion eingebrachter und von Bündnis 90/<br />

Die Grünen unterstützter Antrag „Für das Leben – <strong>Das</strong> Recht<br />

auf körperliche und sexuelle Selbstbestimmung sichern, reproduktive<br />

Gerechtigkeit ermöglichen“ ist am 24. Juni mit den Stimmen<br />

von CDU/CSU, AfD, FDP und SPD abgelehnt worden.<br />

Der Antrag der Linksfraktion orientierte sich am Dreiklang<br />

reproduktiver Gerechtigkeit: dem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung,<br />

dem Recht auf selbstständige Entscheidung für oder gegen<br />

ein Kind, sowie dem Recht auf ein gutes und sicheres Leben mit<br />

Kindern. Gefordert wurde u. a. die Aufhebung der grundsätzlichen<br />

Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, wie sie in<br />

§ 218 StGB bisher – mit Straffreiheit unter bestimmten Umständen<br />

– festgeschrieben ist.<br />

Am gleichen Tag hat das Europäische Parlament mit einer<br />

Mehrheit von 378 zu 255 Stimmen eine Resolution zum sog.<br />

„Matić-Bericht“ des kroatischen Abgeordneten Predrag Fred<br />

Matić der sozialdemokratischen S&D-Fraktion verabschiedet, mit<br />

der die EU-Länder aufgefordert werden, sicherzustellen, dass<br />

Frauen qualitativ hochwertige, umfassende und zugängliche<br />

Dienstleistungen im Rahmen der sexuellen und reproduktiven<br />

Gesundheit erhalten (siehe Weltspiegel, Seite 24).<br />

Foto: ©Sabrina Gröschke / Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung<br />

<strong>Das</strong> Aktionsbündnis Kinderrechte,<br />

in dem sich Deutsches Kinderhilfswerk,<br />

Kinderschutzbund, UNICEF Deutschland<br />

und die Deutsche Liga für das Kind<br />

zusammengeschlossen haben, hatte das<br />

Vorhaben der Koalition begrüßt, den<br />

Entwurf jedoch als noch unzureichend<br />

kritisiert. Umso größer daher die Enttäuschung<br />

im Juni: „Die Corona-Pandemie<br />

hat deutlich gezeigt, dass Kinderrechte<br />

bisher zu häufig übergangen<br />

werden“, so das Aktionsbündnis.<br />

Wir sind auch online!<br />

News, Interviews, Kommentare.<br />

4<br />

5


<strong>humanistisch</strong>! <strong>#14</strong> / Juli <strong>2021</strong><br />

<strong>#14</strong> / Juli <strong>2021</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />

„Wenn man nur groß sein kann, weil jemand auf den Knien ist, hat man<br />

ein ernstes Problem. Und mein Gefühl ist, dass weiße Menschen ein<br />

sehr, sehr ernstes Problem haben. Und sie sollten anfangen, darüber<br />

nachzudenken, was sie dagegen tun können. Nehmt mich da raus.“<br />

Toni Morrison in einem Interview mit Charlie Rose<br />

Rassismus<br />

und<br />

die weiße<br />

Empfindlichkeit<br />

I<br />

mmer wieder diese eine, selbe<br />

Frage: Hat Deutschland ein Rassismus-Problem?<br />

<strong>Das</strong>s diese im Jahr<br />

<strong>2021</strong> überhaupt noch als Einstieg in die<br />

Rassismus-Debatte bemüht wird, zeigt,<br />

wie wenig wir uns als Gesellschaft in<br />

den letzten Jahrzehnten weiterentwickelt<br />

haben. Deutschland hat selbstverständlich<br />

ein Rassismus-Problem. Und<br />

das wird sich auch nicht in Luft auflösen,<br />

wenn wir es kontinuierlich in Frage<br />

stellen. Es braucht einen grundlegenden<br />

Paradigmenwechsel in der<br />

Auseinandersetzung und Aufarbeitung,<br />

damit sowohl die feinen Nuancen als<br />

auch die abgründige Vielschichtigkeit<br />

dieses monströsen Themenkomplexes<br />

besser von Menschen verstanden werden<br />

können, die nicht selbst davon betroffen<br />

sind. Die Verantwortung weißer<br />

Menschen liegt darin, sich mit ihrem<br />

Weißsein und der Realität, die sie darauf<br />

basierend für sich und nicht-weiße<br />

Menschen aufgebaut haben, aus einer<br />

neuen Perspektive auseinanderzusetzen,<br />

und das gesamtgesellschaftlich.<br />

Weiße Schlitzohren<br />

und rhetorische Fragen<br />

Der Tag, an dem ich diesen Artikel zu<br />

schreiben beginne, ist der erste Jahrestag<br />

von George Floyds Ermordung. Und<br />

was darin vorkommen wird, hat sich in<br />

meinen Gedanken schon lange vor dem<br />

25. Mai 2020 unzählige Male geschrieben.<br />

Es fällt trotzdem schwer, mich<br />

zum Ausformulieren der nächsten Absätze<br />

aufzuraffen, denn dafür muss ich<br />

ran an die eigene Substanz. Seit George<br />

Floyds Ermordung ist nun also ein Jahr<br />

vergangen. Ein Jahr gefüllt mit medialer<br />

Berichterstattung, Black Lives Matter,<br />

der absurden Gegenbewegung All<br />

Lives Matter und der angestoßenen<br />

Diskussion über strukturellen Rassismus,<br />

auch in Deutschland. Es war eine<br />

kurzlebige Polyphonie, ein scheinbares<br />

Interesse, und dann zurück zum Alltag.<br />

Aber die eigentliche Frage bleibt: Wie<br />

kann es sein, dass sich die Rassismus-<br />

Debatte seit meiner Kindheit (also seit<br />

gut 30 Jahren) medial im Kreis dreht?<br />

Sicherlich liegt das auch daran, dass in<br />

vielen Diskussionsrunden die gemeinsame<br />

Basis fehlt, wenn sich Wissenschaftler*innen<br />

mit Journalist*innen<br />

mit Moderator*innen mit Sportler*innen<br />

mit Stars und Sternchen darüber<br />

austauschen. Und daran, dass die meisten<br />

Menschen, die man über Rassismus<br />

sprechen hört, weiß sind. Beides keine<br />

idealen Voraussetzungen, um für die<br />

Thematik zu sensibilisieren. Aber lassen<br />

Sie uns zuerst darauf einigen, was<br />

wir unter Rassismus überhaupt verstehen:<br />

Laut der Bundeszentrale für politische<br />

Bildung ist Rassismus ein Diskriminierungsmuster<br />

und Ausdruck<br />

gesellschaftlicher Machtverhältnisse.<br />

Rassismus als System besteht<br />

aus alltäglichen Wahrnehmungshilfen,<br />

aus Wahrnehmungsfiltern,<br />

die unsere<br />

Einschätzung sozialer Gehalte<br />

und Situationen lenken<br />

und somit strukturieren.<br />

Rassismus basiert auf sozialem<br />

Wissen zu Angehörigen<br />

gesellschaftlicher Gruppen.<br />

Diesen Gruppen wird ein Set<br />

von Eigenschaften (Differenzen)<br />

zugeschrieben. Die positiven<br />

oder negativen Eigenschaften<br />

(sie trinken<br />

viel, sie können gut tanzen,<br />

sie sind sparsam), werden<br />

zum Wesen der Gruppenangehörigen<br />

erklärt. Die dominante<br />

Gruppe sichert sich ein<br />

Set von Eigenschaften, welches<br />

ihre Dominanzposition<br />

unterstreicht. Problematische<br />

Eigenschaften (Differenzen)<br />

werden hingegen auf<br />

die dominierten Gruppen abgewälzt.<br />

Die Eigenschaften<br />

der dominanten Gruppe werden<br />

als flexibel konzipiert.<br />

Sollte daher eine*n Angehörige*n<br />

der dominanten Gruppe<br />

auf eine Weise handeln, welche<br />

dem positiven Selbstbild<br />

der Gruppe widerspricht,<br />

dann rächt sich diese Handlungsweise<br />

nicht gleich für<br />

die gesamte Gruppe. Dominierte<br />

Positionen hingegen<br />

sind einer starren Zuschreibung<br />

ausgesetzt.<br />

In den letzten Monaten führte ich im<br />

Familien-und Freundeskreis einige<br />

Gespräche über dieses anhaltende<br />

deutsche Rassismus-Problem. Der<br />

Redebedarf der nicht von Rassismus<br />

betroffenen, also weißen Menschen,<br />

schien gering wie immer, mit internalisierten,<br />

unbewussten, rassistischen<br />

Mustern konfrontiert zu werden, kann<br />

ja verständlicherweise auch unangenehm<br />

sein. Vor allem aber muss dann<br />

schnell belegt werden, dass man selbst<br />

das personifizierte Gegenteil von rassistischem<br />

Denken ist. Da wird sich<br />

dann entrüstet distanziert, die verstaubte<br />

Story des*der einstigen Liebhaber*in<br />

mit Migrationshintergrund<br />

ausgepackt, vehement die eigene Farbenblindheit<br />

beteuert oder die ollste<br />

aller Kamellen rausgeholt, man habe<br />

doch auch eine*n (bitte beliebige Minderheit<br />

einfügen) im Freundeskreis –<br />

zumindest im entferntesten Bekanntenkreis,<br />

und wenn nicht da, dann gibt<br />

es auf jeden Fall einen exotischen Facebook-Freund,<br />

auf den man sich berufen<br />

kann. Mit Rassismus habe man ohnehin<br />

gar nichts zu tun und man sehe<br />

alle Menschen, egal welcher Hautfarbe,<br />

als gleich. An dieser Stelle verweise<br />

ich gerne auf die Worte der britischen<br />

Journalistin, Aktivistin und Autorin<br />

des Bestsellers Why I’m No Longer Talking<br />

To White People About Race Reni<br />

Eddo-Lodge: „Wenn mir jemand sagt,<br />

dass er Rasse nicht sieht, sage ich, das<br />

ist in Ordnung. Man kann sich entscheiden,<br />

den Himmel nicht zu sehen,<br />

aber er existiert.“ Am liebsten waren<br />

mir bei diesen Gesprächen allerdings<br />

wie immer diejenigen Schlitzohren, die<br />

auf das deutsche Rassismus-Problem<br />

mit einer eigenen Rassismus-Erfahrung<br />

kontern, à la Ich wurde aber auch<br />

schon mal als Alman (oder gar Kartoffel)<br />

beschimpft. Ganz schön tricky, aber<br />

wie Sie sich denken können, bin ich<br />

nicht darauf hereingefallen. Denn Rassismus<br />

gegen Weiße, den gibt es per definitionem<br />

nicht.<br />

Kurz zurück zu dieser fiesen rhetorischen<br />

Frage: Gibt es Rassismus<br />

in Deutschland? Wer nicht sieht, dass<br />

Rassismus Teil unserer gesellschaftlichen<br />

Realität ist, hat ihn wohl glücklicherweise<br />

noch nicht erlebt. Wir alle<br />

verinnerlichen rassistische Muster und<br />

wenden sie unbewusst an, ohne darüber<br />

nachzudenken. Rassismus ist der<br />

status quo aller westlich orientierten,<br />

weißen, auf Kolonialismus basierenden<br />

Kulturen. So zumindest argumentiert<br />

die US-amerikanische Soziologin Dr.<br />

Robin DiAngelo. Sie forscht zum Konzept<br />

des Weißseins und arbeitet in ihrem<br />

2018 erschienenen Werk White Fragility:<br />

Why It‘s So Hard for White People<br />

6<br />

7


<strong>humanistisch</strong>! <strong>#14</strong> / Juli <strong>2021</strong><br />

<strong>#14</strong> / Juli <strong>2021</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />

to Talk About Racism heraus, wie problematisch<br />

sich auch die Rolle jener<br />

weißen Menschen, die sich als explizit<br />

nicht-rassistisch verstehen, für den<br />

Rassismus-Diskurs darstellt. <strong>Das</strong> tolerante<br />

Selbstbild progressiver Weißer<br />

minimiert laut DiAngelo Rassismus<br />

und blockiert Veränderung.<br />

Weiße Empfindlichkeit und<br />

Defensivmechanismen<br />

Den Begriff white fragility („weiße<br />

Empfindlichkeit“) führte DiAngelo<br />

zuerst im Jahr 2011 in einem Artikel<br />

im International Journal of Critical Pedagogy<br />

ein, um ein verbreitetes Phänomen<br />

zu beschreiben: Die Tendenz zu einer<br />

prompten Verteidigungshaltung,<br />

in die sich weiße Menschen begeben,<br />

wenn sie mit dem Thema Rassismus<br />

konfrontiert werden. Dabei sollte nicht<br />

die Frage, ob sie rassistisch sind, sondern<br />

vielmehr wie rassistische Muster,<br />

in die sie hineingeboren wurden, sie geformt<br />

haben, im Vordergrund stehen.<br />

Die kategorische Zurückweisung jeglicher<br />

rassistischer Einflüsse auf die eigene<br />

Haltung und Sichtweise erschwert<br />

den ohnehin schwierigen Austausch<br />

zwischen weißen und nicht-weißen<br />

Menschen nur zusätzlich. White fragility<br />

hat auf diese Weise eine gewisse<br />

Macht über den gesamten Diskurs<br />

und schützt den weißen status quo.<br />

Und genau an diesem müsse gearbeitet<br />

werden, sagt DiAngelo: „Die Unterbrechung<br />

unserer rassistischen Muster<br />

muss wichtiger sein als die Arbeit, andere<br />

davon zu überzeugen, dass wir sie<br />

nicht haben. Wir haben sie, und People<br />

of Color wissen bereits, dass wir sie haben;<br />

unsere Bemühungen, das Gegenteil<br />

zu beweisen, sind nicht überzeugend.“<br />

Der Begriff PoC beschreibt,<br />

ähnlich wie Schwarz oder<br />

weiß, keine Hautschattierungen.<br />

Es geht um die Marginalisierung<br />

aufgrund von Rassismus.<br />

In Deutschland zählen<br />

daher unter anderem Menschen<br />

aus der afrikanischen, asiatischen<br />

oder lateinamerikanischen<br />

Diaspora dazu. Dabei<br />

spielt ein eurozentrischer,<br />

rassifizierender Blick eine<br />

Rolle, der eine Folge der<br />

einstigen, nicht aufgearbeiteten<br />

Kolonisierung vieler<br />

Länder ist. Aber auch<br />

Orientalismus trägt dazu<br />

bei, dass Stereotype ständig<br />

reproduziert werden. Daher<br />

machen auch zum Beispiel<br />

Menschen türkischer<br />

und arabischer Herkunft Rassismuserfahrungen<br />

unter anderem<br />

auf dem Arbeits- und<br />

Wohnungsmarkt, im Bildungsbereich<br />

und auch im Kulturbetrieb<br />

aufgrund ihrer (zugeschriebenen)<br />

Kultur oder<br />

Religion.<br />

Quelle: https://diversity-arts-culture.berlin/<br />

woerterbuch/poc-person-color<br />

Ihre Defensivhaltung hat, so Eddo-<br />

Lodge, auch etwas damit zu tun, dass<br />

weiße Menschen es schlichtweg nicht<br />

gewohnt sind, explizit als weiße Menschen<br />

adressiert und kategorisiert zu<br />

werden, weil Weißsein in unserer Gesellschaft<br />

die unsichtbare Norm ist.<br />

Diese Verteidigungshaltung ist aber<br />

in gewisser Weise auch eine Verweigerungshaltung.<br />

So muss man sich nicht<br />

auf Nuancen der Problematik einlassen<br />

und schützt ein begrenztes Weltbild.<br />

Als weiße Person wird man in der<br />

Erwartungshaltung erzogen, die Welt<br />

stünde einem offen, denn man ist in allen<br />

Bereichen Teil der repräsentierten<br />

Gruppe. Und das Konzept des white privilege<br />

ist gerade deshalb so komplex,<br />

weil dieses Privileg für diejenigen, die<br />

davon profitieren, so wenig spürbar<br />

ist. Es ist einfach gegeben. Und es verschafft<br />

weißen Menschen dort Vorteile,<br />

wo nicht-weiße Menschen Hürden<br />

überwinden müssen.<br />

Hier nun ein kleiner Test für die<br />

weißen Leser*innen unter Ihnen: Fühlt<br />

es sich komisch an, hier in diesem Artikel<br />

ständig als „weiß“ oder „weißer<br />

Mensch“ kategorisiert zu werden?<br />

Klingt das für Sie alles zu verallgemeinernd?<br />

Ist es fast schon unangenehm,<br />

pausenlos mit der eigenen Hautfarbe<br />

konfrontiert zu werden, als stünde<br />

man wegen ihr unter einer Art Generalverdacht?<br />

Herzlich willkommen<br />

im Alltag von PoC. Zugegeben, der Vergleich<br />

hinkt, denn Sie legen nach der<br />

Lektüre die Zeitschrift beiseite und<br />

verschmelzen optisch wieder mit Ihrer<br />

Umgebung. Die Hautfarbe – und aus ihr<br />

resultierende, diskriminierende Alltagserfahrungen<br />

– einfach ablegen, ist<br />

für nicht-weiße Menschen natürlich<br />

keine Option. Die Lebensrealität weißer<br />

und nicht-weißer Menschen ist eine<br />

völlig andere. Wer behauptet, keinen<br />

Unterschied, keine Hautfarbe zu sehen,<br />

kann auch Rassismus nicht sehen und<br />

verstehen. Und in der Konsequenz auch<br />

nicht dabei helfen, ihn zu bekämpfen.<br />

So zu tun, als könnten weiße und nichtweiße<br />

Menschen unter gleichen Bedingungen<br />

durchs Leben gehen, spricht<br />

Menschen, die rassistische Diskriminierung<br />

im Alltag erfahren, schlichtweg<br />

ihre Lebensrealität ab.<br />

Alltagsrassismus,<br />

Mikroaggressionen und<br />

die Gretchen-Frage:<br />

Woher kommst du wirklich?<br />

Wenn wir uns darauf einigen, dass<br />

Rassismus nicht nur auf der offensichtlichen<br />

Ebene der Rechtsradikalität und<br />

im braunen Dunstkreis der AfD stattfindet,<br />

sondern viel früher beginnt,<br />

und, dass Rassismus keine intentional<br />

verletzende oder erniedrigende Haltung<br />

oder Handlung zugrunde liegen muss,<br />

können wir sehen, wie schädlich und<br />

verletzend auch subtilere Formen rassistischer<br />

Alltagserfahrungen sind. Die<br />

Frage Woher kommst du? und die Nachfrage<br />

Woher kommst du wirklich? verkörpern<br />

ein klassisches Beispiel dafür.<br />

Denn eine harmlose Frage, meist<br />

aus reiner Neugier gestellt, markiert<br />

für das Gegenüber eben deutlich das<br />

Anderssein und suggeriert damit eine<br />

Ausgrenzung aus der Gemeinschaft:<br />

Du gehörst nicht zu uns (oder hier her)<br />

ist die Botschaft, die mitschwingt. Und<br />

was für den Einen nur Smalltalk ist,<br />

kann für den Anderen eine schmerzende<br />

Dauererinnerung sein, daran, dass<br />

man sich außerhalb der Gemeinschaft<br />

bewegt. Mal ganz abgesehen davon,<br />

welch schwerwiegende Tragödien und<br />

Traumata durch diese Frage für Menschen<br />

mit Immigrationsgeschichte unter<br />

Umständen reaktiviert werden. Hier<br />

sollte das persönliche Interesse oder<br />

die schiere Neugier der Empathie für<br />

das Gegenüber weichen. Diese Art von<br />

Alltagsrassismus und Mikroaggression<br />

klingt vielleicht harmlos (vor allem<br />

dann, wenn man sie nicht selbst erfährt),<br />

aber Anne Chebu, Autorin von<br />

Anleitung zum Schwarz sein, vergleicht<br />

diese mit juckenden Mückenstichen:<br />

Ein Stich ist ganz gut zu verkraften,<br />

wenn man jedoch innerhalb weniger<br />

Tage Hunderte von Mückenstichen bekommt,<br />

wird der Juckreiz so stark,<br />

dass man nachts nicht schlafen kann.<br />

Desintegriert euch! &<br />

Intention ist irrelevant<br />

Rassistisch ist nicht, was rassistisch<br />

gemeint ist. Rassistisch ist, was rassistisch<br />

ist. DiAngelo plädiert dazu, als<br />

Weißer den Satz Ich bin nicht rassistisch<br />

aus dem eigenen Sprachgebrauch<br />

zu eliminieren. Denn solange wir nur<br />

das als rassistisch anerkennen, was<br />

auf einer intentional verletzenden Äußerung<br />

oder Handlung basiert, steckt<br />

die Debatte weiterhin fest. Es geht doch<br />

um so viel mehr als political correctness<br />

(ohne dieser ihre Wichtigkeit absprechen<br />

zu wollen). Wir leben in einer<br />

Gesellschaft, deren Fundament auf<br />

Rassismen basiert – das ist kein rein<br />

US-amerikanisches Problem. Die deutsche<br />

Kolonialgeschichte ist zwar weniger<br />

kolossal als die Sklaverei-Geschichte<br />

der Vereinigten Staaten, aber<br />

es gibt sie. Erst in den letzten Wochen<br />

erkannte die Bundesregierung den Genozid<br />

der Herero und Nama in Namibia<br />

zwischen 1904 und 1908 offiziell<br />

an. Über 70000 Menschen wurden damals<br />

durch deutsche Kolonialtruppen<br />

getötet, durch Verdursten oder in Konzentrationslagern.<br />

In der kollektiven<br />

Verantwortung, eine eigene Kolonialgeschichte<br />

aufzuarbeiten, stehen wir hier<br />

also auch.<br />

Blicken wir zum Schluss auf ein unangenehmes<br />

Thema, das uns seit Jahrzehnten<br />

verfolgt und irgendwie nicht<br />

so richtig klappen will: Integration.<br />

Unzählige Stunden wurden Integrationsdebatten<br />

geführt, eruiert, wie<br />

Bürger*innen mit Migrationshintergrund<br />

sich gut oder weniger gut integrieren<br />

und was wir als Gesellschaft<br />

dazu beitragen können: Wenn Journalist<br />

und Autor von Unter Weißen Mohamed<br />

Amjahid etwas provokant behauptet<br />

Integration sei Müll, sollten wir<br />

das vielleicht einfach einmal nachklingen<br />

lassen. Integration ist ein Konzept,<br />

das ein Ideal voraussetzt, in das die Integration<br />

stattfinden soll. Doch sollte<br />

dieses Ideal auch in Frage gestellt<br />

werden: Denn wie ideal ist eigentlich<br />

Literaturtipps<br />

MOHAMED AMJAHID<br />

Der weiße Fleck:<br />

Eine Anleitung zu<br />

antirassistischem Denken<br />

Piper Verlag, <strong>2021</strong><br />

MOHAMED AMJAHID<br />

Unter Weißen: Was es<br />

heißt, privilegiert zu sein<br />

Hanser Berlin, 2017<br />

MAX CZOLLEK<br />

Desintegriert Euch<br />

Hanser Verlag, 2018<br />

NATASHA A. KELLY<br />

Rassismus. Strukturelle<br />

Probleme brauchen<br />

strukturelle Lösungen!<br />

Atrium Verlag AG, <strong>2021</strong><br />

RENI EDDO-LODGE<br />

Why I’m No Longer Talking<br />

to White People About Race<br />

Bloomsbury Trade, 2017<br />

ALICE HASTERS<br />

Was weiße Menschen nicht<br />

über Rassismus hören<br />

wollen, aber wissen sollten<br />

hanserblau, 2019<br />

ROBIN DIANGELO<br />

White Fragility: Why It’s<br />

So Hard For White People<br />

To Talk About Racism<br />

Beacon Press, 2018<br />

EDWARD SAID<br />

Orientalism<br />

Pantheon Books, 1978<br />

IBRAM X. KENDI<br />

How To Be an Antiracist<br />

Bodley Head, 2019<br />

dieses Ideal, in das sich integriert werden<br />

soll? Noch dazu impliziert das Ideal<br />

der einen, immer auch einen Mangel<br />

oder zumindest Makel der anderen –<br />

womit wir wieder da wären, wo wir angefangen<br />

haben. Auch Eddo-Lodge hat<br />

kein Verlangen nach Integration: „Ich<br />

möchte nicht dazugehören. Stattdessen<br />

möchte ich hinterfragen, wer die Norm<br />

überhaupt erst geschaffen hat. Nachdem<br />

ich ein Leben lang die Differenz<br />

verkörpert habe, habe ich kein Verlangen<br />

danach, gleich zu sein. Ich möchte<br />

die strukturelle Macht eines Systems<br />

dekonstruieren, das mich als anders<br />

auszeichnete. Ich möchte nicht in den<br />

Status quo assimiliert werden. Ich<br />

möchte von all den negativen Annahmen,<br />

die meine Eigenschaften mit sich<br />

bringen, befreit werden. Dabei liegt es<br />

nicht an mir, mich zu ändern. Stattdessen<br />

ist es die Welt um mich herum.“<br />

Alice Hasters, Journalistin und Autorin<br />

von Was weiße Menschen nicht<br />

über Rassismus hören wollen, aber<br />

wissen sollten, teilte ihre Meinung<br />

kürzlich in der Tagesschau und verlangte<br />

einen Paradigmenwechsel weg<br />

von Integration hin zu der Bekämpfung<br />

von Rassismus und gruppenbezogener<br />

Menschenfeindlichkeit. „Desintegriert<br />

euch!“, fordert auch der Autor<br />

Max Czollek, der in seinem gleichnamigen<br />

Buch von einem Integrationstheater<br />

spricht. Inszeniert wird beim Thema<br />

Integration gewiss einiges, und wer<br />

es nicht schafft, sich anständig in unser<br />

Ideal einzuordnen, bleibt von seinem<br />

Mangel und Makel gezeichnet.<br />

Denn Fakt ist: Weißsein ist das default<br />

setting unserer Gesellschaft.<br />

Ein letzter Gedanke: Neuerdings<br />

hört man immer häufiger den Begriff<br />

der cancel culture und die verzweifelte<br />

Frage: Was darf man heute überhaupt<br />

noch sagen? Da wundere ich mich immer:<br />

Wie schwierig kann es sein, auf<br />

verletzende, diskriminierende Sprache<br />

zu verzichten? Und wie schwierig<br />

kann es sein, die Menschen, die von<br />

ihr betroffen sind, entscheiden zu lassen,<br />

was verletzende, diskriminierende<br />

Sprache ist? Man kann das drehen<br />

und wenden, wie man will: Sprache bedeutet<br />

auch Verantwortung. Die Verantwortung,<br />

nicht zu verletzen, nicht zu<br />

diskriminieren. Und Sprache formt unsere<br />

Wahrnehmung. Wenn wir also versuchen<br />

wollen, das deutsche Rassismus-Problem<br />

einmal grundlegend und<br />

aufrichtig anzugehen, muss das auch<br />

auf der sprachlichen Ebene passieren.<br />

<strong>Das</strong> bedeutet unter anderem auch diese<br />

fiese rhetorische Frage endgültig zu begraben<br />

und das auszusprechen und anzuerkennen,<br />

was offensichtlich ist.<br />

Nina Abassi<br />

8<br />

9


Knapp 50%<br />

„Die Plage des Rassismus<br />

ist heimtückisch, sie dringt<br />

so sanft und leise und<br />

unsichtbar in unsere<br />

Köpfe ein, wie schwebende<br />

Mikroben aus der<br />

Luft in unseren Körper<br />

eindringen, um<br />

sich lebenslang in<br />

unseren Blutbahnen<br />

festzusetzen.“<br />

8 Minuten<br />

und<br />

46 Sekunden<br />

lang wurde der 46-jährige<br />

Afroamerikaner George Floyd<br />

am 25. Mai 2020 in Minneapolis<br />

von einem weißen Polizisten so fest zu<br />

Boden gedrückt, dass er starb.<br />

7%<br />

der Bevölkerung vertreten laut einer<br />

Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung<br />

aus dem Jahr 2019 rassistische<br />

Auffassungen, das heißt sie werten<br />

Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe<br />

oder Abstammung ab.<br />

19%<br />

sind darüber hinaus fremdenfeindlich<br />

eingestellt und stimmen Aussagen wie etwa<br />

„Es leben zu viele Ausländer<br />

in Deutschland“ zu.<br />

aller Befragten mit asiatischem<br />

Migrationshintergrund gab im Rahmen<br />

eines gemeinsamen Forschungsprojekts der<br />

Humboldt-Universität zu Berlin, der Freien<br />

Universität Berlin und des Deutschen Zentrums<br />

ür Integrations- und Migrationsforschung an,<br />

während der Corona-Zeit Angriffe<br />

erlebt zu haben.<br />

74%<br />

dieser Gruppe gaben an, nonverbale<br />

Ablehnung und Gesten erlebt zu haben.<br />

Maya Angelou (1928-2014)<br />

Maya Angelou war eine afroamerikanische Autorin, Lyrikerin<br />

und Bürgerrechtsaktivistin. Sie veröffentlichte sieben autobiographische<br />

Werke, als erstes „I Know Why The Caged Bird<br />

Sings“ (dt.: „Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt“) zählt<br />

zu den Standard-Werken der amerikanischen Literaturgeschichte<br />

des 20. Jahrhunderts. Ihr Gedicht „Brave and Startling Truth“<br />

(1995) erinnerte an das 50-jährige Bestehen der Vereinten<br />

Nationen.<br />

Foto Maya Angelou: Flickr / Russell Mondy / CC BY-ND<br />

26%<br />

der in Deutschland lebenden<br />

Bevölkerung hat 2019 einen<br />

Migrationshintergrund.<br />

Ein Migrationshintergrund liegt dann vor,<br />

wenn eine Person selbst oder mindestens<br />

ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit<br />

nicht durch Geburt besitzt.<br />

54%<br />

derselben Befragten werten<br />

Asylsuchende ab, das sind 10 Prozentpunkte<br />

mehr als noch im Jahr 2014.<br />

11%<br />

von ihnen wurden Opfer von körperlicher<br />

Gewalt. Einen Großteil dieser<br />

rassistischen Angriffe erlebten Betroffene auf<br />

offener Straße oder im öffentlichen<br />

Nahverkehr.


<strong>humanistisch</strong>! <strong>#14</strong> / Juli <strong>2021</strong><br />

<strong>#14</strong> / Juli <strong>2021</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />

<strong>Das</strong> ist<br />

auch<br />

unser<br />

Land!<br />

Warum Deutschsein<br />

mehr als deutsch sein ist.<br />

Die Journalistin Ciani-Sophia Hoeder<br />

antwortet auf die Frage, ob Deutschland<br />

offener geworden ist oder sich<br />

immer mehr gegenüber der Einwanderung<br />

und den Menschen mit Migrationsgeschichte<br />

verschließt, mit „Ja und Nein“. „Manchmal<br />

habe ich das Gefühl, dass wir einen Schritt<br />

nach vorne gehen und zwei Schritte wieder zurück.<br />

Zum Beispiel die N-Wort-Debatte. <strong>Das</strong> Verfassungsgericht<br />

Mecklenburg-Vorpommern hat<br />

erklärt, dass das N-Wort nicht per se rassistisch<br />

sei. Es sei abhängig vom Kontext. Die N-Wort-<br />

Debatte wurde also wieder bagatellisiert – das<br />

war für mich ein Schritt nach hinten. Ich habe<br />

dieses Wort nie ohne einen rassistischen Kontext<br />

gehört. Da hatte ich das Gefühl, okay, alles<br />

wird schlimmer.“<br />

Aber als sie ein Interview mit der Historikerin<br />

und Aktivistin Katharina Oguntoye geführt<br />

habe, die eine zentrale Rolle in der afrodeutschen<br />

Bewegung spielt, habe sie sie ebenfalls<br />

gefragt, ob sie das Gefühl habe, dass alles<br />

schlimmer werde. „Und sie meinte, früher<br />

sei es schlimmer gewesen. Menschen haben wie<br />

ganz selbstverständlich das N-Wort benutzt,<br />

und heute fragen sie mich, ob es okay sei, wenn<br />

sie Schwarze Person sagen.“ Hoeder glaubt, dass<br />

man, gerade wenn man sich intensiv mit Diskriminierung<br />

und Rassismus beschäftigt, das Gefühl<br />

bekommt, dass die Gesellschaft gar nicht<br />

vorankomme. „Aber ich fand es cool, dass Katharina<br />

Oguntoye gesagt hat, na klar wird alles<br />

besser. Ich persönlich bin ungeduldig, weil es<br />

mir nicht schnell genug geht.“<br />

Günter Wallraff zufolge unterliegt die Situation<br />

für Menschen mit Migrationshintergrund<br />

immer „Wellenbewegungen“: „Es gibt ein Auf<br />

und Ab. Bei mangelhaften Bildungsangeboten<br />

Illustrationen: ©Martin Rollmann<br />

für Zuwanderer steigt auch die Abschottung und<br />

die Gefahr einer Parallelgesellschaft.<br />

„Dennoch glaubt er, dass Lernfähigkeit, Offenheit<br />

und Zuwendung in unserer Gesellschaft<br />

mehrheitsfähig sind. Es sind die positiven Entwicklungen<br />

in diesem Land, die unser Heimatgefühl<br />

immer stärker machen. Zu diesen zählen<br />

viele meiner Gesprächspartner eine zunehmende<br />

Durchmischung zwischen den Bevölkerungsgruppen.<br />

Der Start-up-Geschäftsführer Nikbin<br />

Rohany aus München findet, dass die Grenzen in<br />

Deutschland zwischen Menschen mit und ohne<br />

Migrationshintergrund immer mehr verschwinden.<br />

„Vielleicht liegt es auch an meiner bubble,<br />

dass die Deutschen oder Deutschland nicht<br />

mehr dämonisiert werden. Früher war das hingegen<br />

extrem allgegenwärtig. Es ist auch eine<br />

sehr natürliche Entwicklung. Es war damals die<br />

erste Generation, da kannte man nur die eigenen<br />

Eltern und man ist hier aufgewachsen, man<br />

lernt immer mehr Menschen kennen, dadurch<br />

verwischt sich alles. Man wird viel toleranter,<br />

man hat einen multikulti Freundeskreis – die eigenen<br />

Kinder werden auch noch toleranter.“ Er<br />

habe das Gefühl, dass seine Stadt München und<br />

das Land immer offener werden.<br />

Auch die Influencerin Gözde Duran erzählt,<br />

dass, anders als in ihrer Kindheit und Jugend,<br />

ihr Freundes- und Bekanntenkreis in Deutschland<br />

immer vielfältiger wird. „Wir sind alle erwachsen<br />

geworden. Die Freunde von damals,<br />

die ausländischen Freunde, die unbedingt unter<br />

Ausländern bleiben wollten, die haben sich<br />

auch vermischt. Mittlerweile habe ich selbst<br />

auch keine getrennten Freundeskreise wie früher,<br />

also ‚deutsche und ausländische Cliquen‘.<br />

<strong>Das</strong> hat sich jetzt alles vermischt.“<br />

Die Vermischung stellt auch Samson Habtom<br />

fest. „Andererseits wird die Politik aber radikaler.“<br />

Die Deutschen seien sowohl offener als auch<br />

verschlossener gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund<br />

geworden. Unterm Strich sieht<br />

er eine Veränderung zum Positiven: „<strong>Das</strong> tagtägliche<br />

Leben ist in Deutschland besser geworden.<br />

<strong>Das</strong> ist meine Welt. Ich habe nicht das Gefühl,<br />

dass ich dumm angeguckt werde. Viele Anzugträger<br />

hören mittlerweile Deutsch-Rap und auch<br />

die Mädels, egal ob mit oder ohne Migrationshintergrund,<br />

die singen mit. Es ist auf jeden Fall<br />

besser geworden. Aber es gibt noch verdammt<br />

viel Luft nach oben.“ Was er damit meint? „Ich<br />

spreche von der gesamten deutschen Kultur, die<br />

Migration inbegriffen, die könnten mehr aufeinander<br />

zugehen und mehr Liebe versprühen. Alle.<br />

<strong>Das</strong>s alle miteinander sind und sich die Ellbogengesellschaft<br />

ändert.“<br />

Der Frankfurter Rapper Abdï schaut bereits<br />

in die Zukunft: „Es wird immer gemischter, in<br />

100 Jahren wird es schwierig werden, eine Identität<br />

herauszufinden. Mein Vater hat gesagt, in<br />

100 Jahren ist ein Frankfurter gleichzeitig ein<br />

<strong>Das</strong> ist auch unser Land!<br />

Warum Deutschsein mehr<br />

als deutsch sein ist<br />

Christoph Links Verlag,<br />

Berlin 2020, 256 Seiten,<br />

Taschenbuch 18 €,<br />

Kindle 9,99 € €<br />

Ich wach‘ auf, guck<br />

aus dem Fenster raus<br />

Statt Skyline sehe ich<br />

nur Steine und Staub<br />

Nur ein Traum ist es<br />

gewesen<br />

<strong>Das</strong>s wir in<br />

Deutschland leben<br />

Manchmal, stell ich<br />

mir vor<br />

Wie wäre mein Leben<br />

in Nador<br />

Statt Airmax barfuß<br />

Morgens Hunger<br />

statt Cartoons<br />

Kein hachun,<br />

kein Gulasch<br />

Nur emenia, nur Sippi,<br />

nur Kuraz<br />

Kein 2Pac, sondern<br />

Ace of Base<br />

All that she wants,<br />

statt Kush von Dre<br />

Kein Audi A-Eight (la)<br />

Sondern gib ihm bös<br />

Kickdown auf Esel<br />

Kein Rugby Ralph<br />

Lauren Polo<br />

Sondern gefälschtes<br />

Barcelona Trikot<br />

Marokko – Dritte Welt<br />

Cousin aus Düsseldorf,<br />

schick mir bitte Geld<br />

Kids bedenkt, was<br />

euch belosert<br />

Seid froh Mann, denn<br />

ihr lebt in Europa<br />

Aus dem Track „Mein Land“<br />

der Rapper Celo und Abdï<br />

Halb-Maroc, Halb-Türke, Kurde, Berber, Araber,<br />

Deutscher, Pole, Schwede, ein Frankfurter eben!“<br />

Deutschland werde so vielfältig, dass wir unsere<br />

Identitäten immer stärker mit Städten verbinden<br />

werden, nicht mit Nationalitäten.<br />

„Frankfurt wird dann vom Lebensstil her zu<br />

einer Nation.“ Deutschland ist auch deshalb unsere<br />

Heimat, weil wir zu schätzen wissen, was<br />

wir hier haben. Der DFB-Integrationsbeauftragte<br />

Cacau sagt: „Natürlich gab es eine gewisse<br />

Tendenz hin zu einem Rechtspopulismus,<br />

der nicht zu unterschätzen ist, aber das ändert<br />

nichts an meiner Einstellung: Ich fühle mich<br />

nach wie vor sehr wohl in Deutschland. Denn<br />

ich kann einen Vergleich zu Brasilien ziehen. In<br />

Deutschland kann man das erreichen, was man<br />

erreichen will. In Deutschland kann man das<br />

werden, was man werden will. Und in anderen<br />

Ländern geht das nicht. Und ich finde, das ist<br />

sehr, sehr besonders.“ Deshalb ist für ihn klar:<br />

„Wenn es in Deutschland nicht kalt wäre, dann<br />

wäre Deutschland das beste Land der Welt, in<br />

dem wir leben können.“<br />

Und alle meine Gesprächspartner erzählen<br />

davon, wie gerne sie in die Heimatländer ihrer<br />

Eltern reisen, wie gerne sie durch die Welt jetten.<br />

Aber die Sehnsucht nach ihrer deutschen<br />

Heimat kehrt bereits nach wenigen Wochen ein:<br />

„Ich bin immer froh, wieder in Düsseldorf zu<br />

sein, egal wo ich in der Welt reise. Immer wenn<br />

ich in Düsseldorf bin, freue ich mich, wieder da<br />

zu sein“, sagt Djibril Dulatov. Und wenn ich den<br />

Darmstädter Cem Görmüs frage, ob er sich heimatlos<br />

fühlt, sagt er sofort: „Überhaupt nicht.“<br />

Wo seine Heimat sei? „Meine Heimat? Ich liebe<br />

die Türkei. Ich liebe das Land, aber ich kann<br />

dir nicht sagen, dass ich für immer rüber ziehen<br />

könnte. Wir sind hier geboren, wir sind hier aufgewachsen,<br />

der Großteil unserer Familie ist hier,<br />

man hat Freunde und Bekannte hier, man hat<br />

sich hier etwas aufgebaut, man gehört hier einfach<br />

dazu. Man muss sich mit dem System besser<br />

auskennen. Und das tue ich nicht. Ich habe<br />

mein System hier in Deutschland und meine Bildung.“<br />

Wo ist deine Heimat, frage ich Cem. „Meine<br />

Heimat? Deutschland.“<br />

Auszug aus dem Buch „Warum Deutschsein mehr als deutsch<br />

sein ist“ von Cigdem Toprak<br />

Cigdem Toprak, Jahrgang 1987, ist in<br />

Deutschland geboren und aufgewachsen.<br />

Sie hat Politikwissenschaft in Darmstadt<br />

und Konfliktforschung in Istanbul studiert<br />

und ihren Master am Kings College in London<br />

gemacht. Derzeit promoviert sie an der LMU München in<br />

Politischer Theorie über Identitätspolitik. Seit 2013 schreibt sie<br />

als freie Journalistin u.a. für Die Welt, Frankfurter Allgemeine<br />

Zeitung, Zeit Online, Tagesspiegel, Jüdische Allgemeine.<br />

12<br />

13


<strong>humanistisch</strong>! <strong>#14</strong> / Juli <strong>2021</strong><br />

<strong>#14</strong> / Juli <strong>2021</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />

„Rundum-<br />

Sorglos-<br />

Paket“<br />

im<br />

WohnGut<br />

Max<br />

Nicht erst seit die Welt<br />

von der Corona-Pandemie<br />

getroffen wurde, stehen<br />

bei Studierenden Wohngemeinschaften<br />

hoch im Kurs. Zwar<br />

war ein Hausstand mit mehreren,<br />

etwa gleichaltrigen Bewohner*innen<br />

während des Lockdowns noch<br />

ein wenig attraktiver als ohnehin<br />

schon, doch auch zuvor und danach liegen<br />

die Vorzüge dieser Sozialgemeinschaft auf<br />

Zeit auf der Hand: Zusammen leben, lachen, lernen,<br />

Partys feiern und chillen und gleichzeitig<br />

die persönliche Freiheit genießen, den eigenen<br />

Weg finden, in der ersten eigenen Bude. Es<br />

ist kein Geheimnis, dass für eine erfolgreiche<br />

und schöne Studienzeit neben den Dozent*innen<br />

und Leistungen an Uni oder FH auch die private<br />

Wohnsituation und die dortigen Erlebnisse fundamental<br />

sind. Kein Lernen ohne Lebensqualität<br />

– auf diese einfache Formel lässt sich jeder<br />

zufriedene Rückblick auf die eigene Student*innenzeit<br />

herunterbrechen. In genau diese Kerbe<br />

schlägt die Humanistische Vereinigung mit ihrem<br />

neuen studentischen Wohnprojekt „Wohn-<br />

Gut Max“. Sechs Studierenden-WGs können das<br />

Herzstück eines neuen Lebensabschnitts werden:<br />

drei 5er-, eine 6er- und zwei 7er-WGs mit<br />

wohngut-max.de<br />

wohngut-78.de<br />

sämtlichen Annehmlichkeiten wie Möblierung,<br />

mehreren Bädern, Balkon, Fahrradstellplätzen,<br />

Reinigung oder schnellem W-LAN.<br />

<strong>Das</strong> WohnGut Max liegt verkehrsgünstig<br />

an der Maximilianstraße im Nürnberger Westen,<br />

vis-a-vis des Szeneviertels Gostenhof mit<br />

seinen vielen Geschäften, Kneipen und Restaurants.<br />

In wenigen Gehminuten sind alle Läden<br />

des täglichen Bedarfs, Kultureinrichtungen<br />

wie die Kulturwerkstatt auf AEG oder der<br />

grüne Gürtel Nürnbergs, der Pegnitz-Wiesengrund,<br />

erreichbar. Und gleichzeitig ist das<br />

Wohngut Max ein Neubau mit sozialer und grüner<br />

Seele: Viel Natur im Innenhof, eine gemeinschaftliche,<br />

bepflanzte Dachterrasse und ein<br />

Gemeinschaftsraum für alle Bewohner*innen.<br />

Photovoltaik-Anlagen auf dem Dach versorgen<br />

die Wohnungen im Mieterstrom-Modell. Und<br />

auch Planung und Bau erfolgten mit konsequentem<br />

Blick auf Ökobilanz und Nachhaltigkeit: Die<br />

Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen<br />

(DGNB) begleitet den Bau und sieht eine Zertifizierung<br />

mit dem Gütesiegel DGNB „Gold“ vor.<br />

Mit dem Humanistischen Studienwerk unterstützt<br />

die Humanistische Vereinigung schon<br />

länger Studierende in ganz Deutschland, mit<br />

dem zweiten studentischen Wohnen in Nürnberg<br />

nach dem WohnGut 78 gibt es nun weitere,<br />

attraktive Angebote für den akademischen<br />

Nachwuchs.<br />

Martin Bühner<br />

Fotos: ©Martin Bühner; istock.com<br />

Schutz für<br />

Humanist*innen<br />

Mit zwei neuen Förderinitiativen unterstützt die Humanistische<br />

Vereinigung (HV) Aktivist*innen aus aller Welt, die wegen ihres<br />

<strong>humanistisch</strong>en Einsatzes diskriminiert und drangsaliert werden.<br />

Humanist Shelter Program<br />

In vielen Regionen der Welt werden <strong>humanistisch</strong>e Aktivist*innen<br />

wegen ihres Engagements für Menschenrechte, Gleichberechtigung<br />

und Aufklärung physisch und psychisch bedroht. Diesen<br />

mutigen Menschen will die Humanistische Vereinigung in Zusammenarbeit<br />

mit dem Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) zur<br />

Seite stehen.<br />

Foto: Dan / unsplash.com / CC PD 1.0<br />

Mit einem Schutzaufenthalt von bis zu sechs Monaten können<br />

die Aktivist*innen ein bisschen „Luft holen“, neue Kontakte<br />

knüpfen und in einem sicheren Umfeld ihrer Arbeit nachgehen.<br />

Die Humanistische Vereinigung sorgt als Gastorganisation für die<br />

bestmögliche Unterstützung.<br />

Bewerben können sich Aktivist*innen, die in ihrem Herkunftsland<br />

aufgrund ihres <strong>humanistisch</strong>en Engagements von staatlicher<br />

und/oder nicht-staatlicher Seite aus bedroht werden, sich zum<br />

Zeitpunkt der Bewerbung im Herkunftsland befinden (oder dieses<br />

erst kürzlich wegen einer entsprechenden Bedrohungslage verlassen<br />

haben) und die Absicht haben, nach dem Schutzaufenthalt<br />

wieder in das Herkunftsland zurückzukehren.<br />

Die Förderung der Aktivist*innen beinhaltet neben einem 4-<br />

bis 6-monatigem Schutzaufenthalt in Nürnberg organisatorische<br />

und administrative Unterstützung (Bereitstellung einer Unterkunft,<br />

<strong>humanistisch</strong>es Netzwerk, Vor-Ort-Hilfe im Alltag und Beruf,<br />

o. ä.), ein monatliches Stipendium inkl. Mietkosten sowie die<br />

Übernahme der Krankenversicherung und Reisekosten (durch eine<br />

Partnerorganisation).<br />

Humanist Students at Risk<br />

Auch Studierende werden in vielen Ländern aufgrund ihrer Überzeugungen<br />

in der Ausübung ihres Menschenrechts auf Bildung<br />

behindert. <strong>Das</strong> Humanistische Studienwerk als HV-Tochterorganisation<br />

hat deshalb die Initiative Humanist Students at Risk ins<br />

Leben gerufen, um gefährdete <strong>humanistisch</strong>e Studierende dabei<br />

zu unterstützen, ihr Studium in Deutschland zu absolvieren.<br />

<strong>Das</strong> Programm richtet sich sowohl an Studierende, die in ihrem<br />

Heimatland wegen ihres <strong>humanistisch</strong>en Engagements gefährdet<br />

sind (d. h. sie sind zwangsexmatrikuliert oder werden auf andere<br />

Weise am Studium gehindert) als auch an Student*innen, die aus<br />

diesen Gründen in einem EU-Land als Geflüchtete oder Asylbewerber*innen<br />

anerkannt sind.<br />

<strong>Das</strong> Humanistische Studienwerk hat für seine Initiative Humanist<br />

Students at Risk mit dem Deutschen Akademischen Austauschdienst<br />

einen renommierten Partner gefunden, bei dem es<br />

erfolgreiche Bewerber*innen nominiert und der über die Vergabe<br />

der finanziellen Förderung entscheidet. Ist die Bewerbung insgesamt<br />

erfolgreich, werden die Stipendiat*innen zusätzlich in die<br />

ideelle Förderung des Humanistischen Studienwerks aufgenommen.<br />

Mehr Informationen zu Humanist Students at Risk, den Bewerbungsvoraussetzungen<br />

und den Details zur Förderung finden Sie<br />

hier: <strong>humanistisch</strong>es-studienwerk.de.<br />

HV kritisiert<br />

Mogelpackung<br />

Islamunterricht<br />

Der Bayerische Landtag hat nach seiner letzten Kabinettssitzung<br />

angekündigt, dass ab kommendem Schuljahr Islamunterricht als<br />

Wahlpflichtfach angeboten wird. Was bislang als Modellprojekt<br />

praktiziert wurde, soll nach der Schlussabstimmung am 6. Juli<br />

dann eine gesetzliche Grundlage erhalten.<br />

<strong>Das</strong> neue Fach Islamunterricht ist allerdings kein vollwertiger<br />

Religionsunterricht, sondern ein quasi-neutraler Ethikunterricht<br />

mit dem Schwerpunkt Islamkunde. Damit will die Staatsregierung<br />

unter anderem den Einfluss von bestimmten Imamen und islamischen<br />

Organisationen auf das Schulgeschehen eindämmen. „Die<br />

Entscheidung des Landtages zum sogenannten Islamunterricht<br />

ist hochproblematisch, denn es führt erstens zu einer Schlechterstellung<br />

der Muslim*innen gegenüber christlichen und jüdischen<br />

Schüler*innen und zweitens steht die Anmaßung des Staates,<br />

Religionsinhalte lehren zu können im scharfen Widerspruch zum<br />

Neutralitätsgebot“, erklärte Michael Bauer, Vorstand der Humanistischen<br />

Vereinigung, dazu.<br />

Damit setzt sich die Ungleichbehandlung von Religions- und<br />

Weltanschauungsunterricht und die Benachteiligung der nichtreligiösen<br />

Menschen im Freistaat weiter fort. Denn die Einführung<br />

eines Religionsunterrichts gleichwertigen Weltanschauungsunterricht,<br />

der auf <strong>humanistisch</strong>en Werten fußt und nach rechtswissenschaftlichen<br />

Einschätzungen möglich und geboten wäre, wird<br />

seit Jahren von der Staatsregierung verhindert. Mehr unter<br />

<strong>humanistisch</strong>er-unterricht.de.<br />

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<strong>humanistisch</strong>! <strong>#14</strong> / Juli <strong>2021</strong><br />

<strong>#14</strong> / Juli <strong>2021</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />

In Norddeutschland<br />

geht was!<br />

Der verstärkte Einsatz für<br />

ein überregionales Engagement<br />

der Humanistischen<br />

Vereinigung und die Arbeit<br />

der Anfang 2020 eröffneten<br />

Regionalgeschäftsstelle Nord<br />

in Hannover tragen Früchte.<br />

Seit Anfang März ist der Seafarer’s<br />

Social Service Oldenburg<br />

(SSSO) als erste <strong>humanistisch</strong>e<br />

Einrichtung dieser Lutz Renken und Jürgen Steinecke<br />

Art in Europa im Betrieb. Der vor dem 50 Miles<br />

Club 50 Miles, der unter dem<br />

Dach des SSSO betrieben wird, bietet künftig Seeleuten unabhängig<br />

von ihrer Herkunft, ihrer Religion oder ihrer Weltanschauung<br />

Hilfe und Unterstützung fernab ihrer Familien.<br />

Die Leitung der neuen Oldenburger Dependance der HV hat<br />

Lutz Renken übernommen. Er blickt auf bereits über zehn Jahre<br />

Arbeit in <strong>humanistisch</strong>en Strukturen zurück. Bei seiner Arbeit am<br />

HV-Standort Oldenburg wird Renken durch einen wachsenden<br />

Kreis ehrenamtlich aktiver Humanist*innen aus der Region unterstützt,<br />

die bereits eine wichtige Säule für den Betrieb des 50 Miles<br />

und des SSSO bilden.<br />

Neben seinen Aufgaben als Regionalleiter wird Lutz Renken<br />

auch für die HV-Tochter philoscience gGmbH als wissenschaftspädagogischer<br />

Referent aktiv sein und daran mitwirken, die<br />

beliebten populärwissenschaftlichen Bildungsangebote wie die<br />

tourdersinne, die boxdersinne und die boxdesvorurteilens in der<br />

Region bekannter zu machen.<br />

Seit dem 1. Juni ist auch Petra Schmidt in Hamburg und Schleswig-Holstein<br />

für die HV tätig, zunächst für unsere Jugendfeier-<br />

Angebote.<br />

In der Metropolregion<br />

Hamburg ist die Anglistin seit<br />

vielen Jahren als engagierte<br />

Humanistin aktiv. Insbesondere<br />

war sie hier bisher in<br />

der Öffentlichkeitsarbeit<br />

tätig, führte Informationsveranstaltungen<br />

sowie qualifizierte<br />

Beratungen zu Patientenverfügungen<br />

und zu<br />

Petra Schmidt<br />

Vorsorgevollmachten durch.<br />

Darüber hinaus bietet sie ihre Dienste als bilinguale Sprecherin für<br />

<strong>humanistisch</strong>e Lebensfeiern an.<br />

Zuvor war Petra Schmidt seit vielen Jahren in der Jugendarbeit<br />

in Hamburg und Schleswig-Holstein für andere Organisationen<br />

tätig. Die Humanistische Vereinigung hat sich nun den Aufbau<br />

ihres Bereichs Jugendfeier in diesen beiden Bundesländern auf<br />

die Fahnen geschrieben und Petra Schmidt mit dieser Aufgabe<br />

betraut. Die Einrichtung eines weiteren Regionalbüros für Norddeutschland<br />

ist in Planung.<br />

WIR ZEIGEN<br />

UNS!<br />

Auch wenn die Corona-Pandemie Kindern und jungen Leuten<br />

schwer zugesetzt hat, haben die Jungen Humanist*innen es geschafft,<br />

regelmäßige virtuelle Treffen zu arrangieren, Kontakt<br />

zu halten und sich zu verschiedenen Themen auszutauschen:<br />

Wie schaffen wir es trotz Beschränkungen Freude zu haben<br />

und Freund*innen zu treffen? Wie mag es anderen Menschen<br />

gehen, die weniger privilegiert sind, wie geht es Menschen mit<br />

Beeinträchtigungen? Wie und wo können junge Menschen ihre<br />

Interessen vertreten, an Entscheidungsprozessen teilnehmen und<br />

Wünsche äußern, partizipieren?<br />

Ein Ergebnis der Überlegungen ist ein medienpädagogisches<br />

Projekt, für das die Jungen Humanist*innen in Nürnberg nun im<br />

Rahmen des Projekts „Wir zeigen uns!“ auch vom Bayerischen Jugendring<br />

gefördert werden. Mit Hilfe aktiver Medienarbeit verlassen<br />

die JuHus ihren Kokon, sie produzieren Podcasts, stärken ihre<br />

Medienkompetenz und artikulieren ihre Standpunkte. Es werden<br />

Fachleute aus Politik, Kunst und Kultur eingeladen, Gespräche mit<br />

engagierten Ehrenamtlichen geführt, verschiedene Altersgruppen<br />

auf der Straße und an ihren Treffpunkten interviewt.<br />

Zum Start des bis Ende August laufenden Projekts wurden virtuelle<br />

Gespräche über die Mottos geführt, die die Teilnehmer*innen<br />

der Jugendfeier jeweils sich selbst gegeben haben. Weitere<br />

Podcasts sind bereits in Arbeit. Pia Morgner, die auch schon an der<br />

Kinder- und Jugendkonferenz des BJR teilgenommen hat, Björn<br />

Berg, Liv Schöneich und Manuel Koch werden außerdem mit der<br />

Redaktion der BR-Sendung „Respekt“ eine Fernsehsendung zu<br />

einem selbst gewählten Thema produzieren. <strong>Das</strong> Ergebnis wird<br />

auf BR Alpha ausgestrahlt.<br />

Unterstützen<br />

Sie uns!<br />

Bereits rund 2.100 Menschen sind es schon –<br />

Mitglied in der Humanistischen Vereinigung.<br />

Wenn auch Sie unser vielfältiges Engagement<br />

unterstützen wollen, haben wir drei interessante<br />

Angebote für Sie. Informieren Sie sich darüber<br />

auf <strong>humanistisch</strong>e-vereinigung.de.<br />

Fotos: ©HV; privat; adobestock.com<br />

Triest<br />

Obwohl manche Stadtviertel am Reißbrett entworfen<br />

wurden, wie etwa das Borgo Teresiano, ist<br />

Triest mit seinen heute etwas mehr als 200.000<br />

Einwohner*innen eine unübersichtliche Stadt.<br />

Gerade die Città Vecchia, die Altstadt,<br />

die gleich hinter der zentralen<br />

Piazza Unità beginnt, ist ein<br />

verschachteltes Gewirr aus engen<br />

Gassen. Wer sich einen Überblick<br />

über die Stadt verschaffen möchte,<br />

steigt deshalb am besten auf<br />

den Colle San Giusto. Auf diesem<br />

zentralen Hügel finden sich nicht<br />

nur Reste des antiken Triest.<br />

Auch eine mittelalterliche Burg<br />

thront heute auf ihm, und von ihr<br />

bietet sich der beste Blick auf die<br />

nördlichste Hafenstadt des Mittelmeers.<br />

Aufmerksamen Besucher*innen<br />

dürfte dabei eine Besonderheit<br />

gleich ins Auge fallen: „Im<br />

Triestiner Stadtzentrum stehen,<br />

ganz anders als in anderen italienischen<br />

Städten, nur wenige katholische<br />

Kirchen. Ja, Triest hat<br />

eine Kathedrale auf dem Burghügel,<br />

aber seine schönsten Plätze<br />

werden ausschließlich von weltlichen<br />

Gebäuden eingenommen.“<br />

Die an der Triestiner Universität<br />

lehrende Tullia Catalan beschreibt<br />

die offenkundige Dominanz<br />

von profanen Geschäftsgebäuden. Die Dominanz der<br />

Börse, des Hafens. Sehen kann man das auch an der großen<br />

Piazza Unità: <strong>Das</strong> berühmte Caffé degli Specchi befindet sich<br />

hier, außerdem auch das Rathaus und der Sitz einer großen<br />

Wie eine Stadt dank Religionsfreiheit<br />

und Toleranz zu Wohlstand kommt –<br />

und später in nationalem Furor versinkt.<br />

Versicherung. Ein Gotteshaus aber gibt es hier nicht.<br />

Was sich hier im Kleinen zeigt, gilt auch für den Rest<br />

der Stadt, die heute zwar zu Italien gehört, aber ganz sicher<br />

nichts weniger ist als „typisch italienisch“. Mit Wien wird<br />

Triest wegen seiner klassizistischen<br />

Architektur und nicht zuletzt<br />

wegen seiner vielen Kaffeehäuser<br />

verglichen. „Frühes<br />

New York“ wird Triest manchmal<br />

genannt, melancholisch soll<br />

die Stadt sein, dann wieder gar<br />

der „Prototyp der europäischen<br />

Stadt“. Wie kommt das? Und vor<br />

allem: Was soll das alles bedeuten?<br />

Wo die Herkunft<br />

nichts zählt<br />

Bis ins 18. Jahrhundert hinein<br />

war Triest nicht mehr als ein verschlafenes<br />

Hafenstädtchen im<br />

Schatten der übermächtigen Republik<br />

Venedig. Schon in vorchristlichen<br />

Zeiten hatten zwar<br />

wohlhabende Römer begonnen,<br />

Villen im noch immer noblen Vorort<br />

Barcola zu errichten, doch bis<br />

in die frühe Neuzeit blieb Triest<br />

vor allem ländlich. Auf den<br />

Hügeln des Karst kultivierten<br />

die Menschen süßen Malvasier<br />

oder den friulanischen Tocai. Fischerei im Golf ernährte die<br />

Stadt. Die großen Konflikte der Zeit gingen an Triest vorbei.<br />

Die ländliche Idylle endete, als Österreichs Kaiser Karl<br />

VI. Triest 1718 zum Freihafen erklärte. Als einziger Hafen<br />

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<strong>humanistisch</strong>! <strong>#14</strong> / Juli <strong>2021</strong><br />

<strong>#14</strong> / Juli <strong>2021</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />

des Reiches gewann Triest immense strategische Bedeutung<br />

– und genoss entsprechende Sonderrechte. Wie der Romanautor<br />

Veit Heinichen feststellt, verordnete Karls Nachfolgerin<br />

Maria Theresia der Stadt eine Politik, „die sich komplett vom<br />

Rest ihres Reiches unterschieden hat. Denn es gab die Religionsfreiheit<br />

hier.“<br />

Bekanntlich hielt die fromme Herrscherin von Toleranz<br />

im Allgemeinen wenig. Erbittert bekämpfte sie den Protestantismus<br />

und erließ strenge Judenordnungen, die überall<br />

im Reich Geltung fanden – nur eben nicht in Triest. „Jede<br />

Konfession konnte und musste sogar das Ausübungsrecht<br />

kaufen in dieser kommerziell ausgerichteten, aber eben auch<br />

laizistischen Stadt“, sagt Heinichen. <strong>Das</strong>s der strenge Katholizismus<br />

hier nichts galt, machte Triest im 18. und 19. Jahrhundert<br />

ungeheuer attraktiv und verhalf dem Ort zu einem<br />

erstaunlichen wirtschaftlichen Aufschwung. Prächtige Palazzi<br />

und das kaiserliche Schloss Miramare entstanden entlang<br />

der Küstenlinie.<br />

Juden, die vor Pogromen in Venedig flohen, ließen sich im<br />

prosperierenden Freihafen nieder. Es kamen Menschen aus<br />

dem Nahen Osten und dem Balkan, es kamen Griech*innen,<br />

Deutsche und Brit*innen. Eindrücklich hier der Besuch des<br />

Triestiner Zentralfriedhofs: „Wenn wir über diese Felder gehen“,<br />

sagt Heinichen, „dann entdecken wir sehr schnell, dass<br />

es in Triest – und diese Grabsteine sind Zeugen – über 200<br />

Jahre hinweg nicht wichtig war, woher jemand kam, welcher<br />

Ethnie oder welcher Religion er angehörte, sondern zu was er<br />

es gebracht hatte.“<br />

Polyglott und literarisch<br />

Menschen mehr als 90 verschiedener Nationalitäten und<br />

Konfessionen lebten um 1900 in der Hafenstadt. Italienisch<br />

war da zwar die gängige Verkehrssprache, aber beinahe<br />

alle Triestiner*innen waren mehrsprachig. Landschaftliche<br />

Kontraste und der vielsprachige Kosmos machten die<br />

Stadt für Intellektuelle interessant und bildeten den Nährboden<br />

für eine bis heute lebendige literarische Szene. Die Ikonen<br />

des Triestiner Fin de Siècle heißen zum Beispiel James<br />

Joyce, Italo Svevo und Rainer Maria Rilke. Der Archivar Umberto<br />

Saba schrieb in Triest Romane und Gedichte, „die fast<br />

niemand lesen will“, wie er selbst spitz bemerkte, heute aber<br />

als Klassiker gelten. Sabas „Abkürzungen“ adelte Claudio<br />

Magris (noch so ein Triestiner Autor) als „ein Beispiel italienischer<br />

Minima Moralia“.<br />

Umso bemerkenswerter, wie schwer sich Triest mit diesem<br />

literarischen Erbe lange Zeit getan hat. Seit die Stadtverwaltung<br />

erkannt hat, dass sich auch Kultur verkaufen lässt<br />

(sie tat es spät), erinnern zwar Bronzestatuen an die großen,<br />

einstmals in Triest ansässigen Autoren. Und doch: Die Erinnerung<br />

an goldene Zeiten schien bleischwer über einer Stadt<br />

zu hängen, in der man sich unerwartet radikal vom einstigen<br />

Kosmopolitismus lossagte und lieber nur italienisch sein<br />

Fotos & Illustration: ©adobestock.com; Giorgio Wittreich / unsplash.com; photosh.com; Igor Filatov / unsplash.com; Luca Aless / Wikimedia Commons / CC BY-SA 4.0<br />

wollte. Im 20. Jahrhundert zog der Tod ein in die Stadt. Als<br />

er sie aus seinem Würgegriff entließ, war die Stadt eine andere.<br />

Barbarei auf erlöster Erde<br />

Besuchen wir die Piazza Oberdan am Rande des theresianischen<br />

Viertels: Von hier bringt eine historische Zahnradbahn<br />

Menschen in gemächlichem Tempo ins hochgelegene Opicina.<br />

Eine Magistrale durchschneidet den Platz ohne Reiz,<br />

aber nicht ohne Geschichte. Benannt ist er nach dem italienischen<br />

Irredentisten Guglielmo Oberdan, eigentlich Viljem<br />

Oberdank, der sich erst von seinen slowenischen Wurzeln<br />

lossagte und dann der fanatischen Überzeugung anheimfiel,<br />

er müsse Triest durch sein eigenes Martyrium aus der österreichischen<br />

Herrschaft „erlösen“ (der Name des panitalianischen<br />

Irredentismus leitet sich ab von terra irredenta, „unerlöste<br />

Erde“). Nach einem gescheiterten Bombenanschlag auf<br />

Kaiser Franz Joseph I. wurde er gefasst und 1882 hingerichtet.<br />

Es ist müßig darüber zu sinnieren, warum nicht einem<br />

der bedeutenden Triestiner Poeten ein Platz gewidmet wird,<br />

sondern einem Terroristen. Doch steht allein dies sinnbildlich<br />

für die weitere Entwicklung, die Triest im 20. Jahrhundert<br />

nehmen sollte. 1919 wurden Triest und die istrische<br />

Halbinsel im Vertrag von St. Germain nämlich tatsächlich<br />

„erlöst“: Die Gebiete fielen an Italien. In der Folge erlebte ausgerechnet<br />

das vermeintlich tolerante Triest eine massive<br />

Welle nationalistischer Gewalt. 1920 brannte das slowenische<br />

Kulturzentrum. Als Mussolinis Faschisten die Macht<br />

übernahmen, setzte eine rigide Italianisierungspolitik ein.<br />

Triest, in dem noch 1911 mehr Slowenen lebten als in Ljubljana,<br />

wurde in der Sprache der Propaganda zur „italienischsten<br />

aller italienischen Städte“. Als Mussolini 1938 die italienischen<br />

Rassegesetze verkündete, tat er dies in abermals:<br />

Triest.<br />

Fünf Jahre später wurde Italien von Deutschland besetzt<br />

und Triest wurde zum Zentrum des nationalsozialistischen<br />

Schreckensapparates in Norditalien. <strong>Das</strong> Symbol dieses Terrors<br />

ist heute nationales Mahnmal und steht im Arbeiterstadtteil<br />

San Sabba: „Die Risiera di San Sabba ist das einzige<br />

Vernichtungslager auf italienischem Boden“, sagt Veit Heinichen.<br />

Italienische und deutsche Geschichtsschreibung gehen<br />

an dieser Stelle auseinander, da man in Deutschland mitunter<br />

betont, es habe sich bei der ehemaligen Reismühle „nur“<br />

um ein Polizeihaftlager gehandelt. Unstrittig aber ist, dass<br />

das Lager ab 1943 von Odilo Globocnik kommandiert wurde,<br />

auch er ein Bürger der „toleranten Stadt“, der als Leiter<br />

der Aktion Reinhardt für die Ermordung von 2.000.000 Menschen<br />

verantwortlich war und für sein neues Kommando eigens<br />

die „Spezialisten aus Treblinka“ in seine Heimatstadt<br />

brachte. Vor allem vermeintliche Partisan*innen wurden in<br />

der Risiera getötet. Die jüdische Bevölkerung, derer sie noch<br />

habhaft werden konnten, ließen Globocnik und seine Schergen<br />

nach Auschwitz deportieren.<br />

Stadt der Widersprüche<br />

Wenn heute davon gesprochen wird, dass Triest eine melancholische<br />

Stadt sei, dann vermutlich auch, weil dieser mörderische<br />

Teil ihrer Geschichte Spuren und Narben hinterlassen<br />

hat. Steigen wir noch einmal auf den Colle San Giusto.<br />

Von ihm sehen wir den Hafen und Zeugnisse großen Reichtums,<br />

die Dächer vieler verschiedener Gotteshäuser als Ausweis<br />

der lange gelebten Toleranz. Wir erahnen jedoch auch<br />

die Stätten von Terror, Fanatismus und Mord. Und wir sehen<br />

eine Stadt von außergewöhnlicher Schönheit, die viele tausend<br />

Menschen zu verlassen gezwungen wurden, Menschen,<br />

die ihre Erinnerung an diesen Ort als Sehnsucht in ihre Kinder<br />

und Enkeln einpflanzten. Man kann das verstehen. Wenn<br />

die Abendsonne den Golf in ihr rotes Licht taucht, den Duft<br />

des allgegenwärtigen Kaffees in der Nase, dann sind das<br />

Bilder, die sich gleichermaßen einbrennen und als Verlust<br />

schmerzen. Gleichwohl, die Stadt zu besuchen ist heute leicht<br />

wie nie, und das ist ein Glück.<br />

Marco Schrage<br />

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<strong>humanistisch</strong>! <strong>#14</strong> / Juli <strong>2021</strong><br />

<strong>#14</strong> / Juli <strong>2021</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />

heißt das jüngste Betreuungsund<br />

Beratungsangebot der<br />

Humanistischen Vereinigung.<br />

Ein Team von Ehrenamtlichen<br />

kümmert sich am niedersächsischen<br />

Binnenhafen um Seeleute<br />

aus aller Welt.<br />

enn Menschen beruflich zur See fahren, hat<br />

das meist wenig zu tun mit Kreuzfahrtromantik<br />

und einem erholsamen Urlaub unter Palmen.<br />

Von wegen Traumschiff – Nein, die Arbeit<br />

zur See ist hart, entbehrungsreich, oft monoton<br />

und noch viel öfter erschreckend schlecht<br />

bezahlt. Zur See fahren heißt: Ständig bollernde Dieselmotoren,<br />

kleine Kajüten und ein über Monate auf wenige Quadratmeter<br />

abgestecktes Leben auf und in Kolossen aus Stahl.<br />

Soziale Kontakte? Gibt es kaum. Unter Schiffsbesatzungen<br />

sind Zweckgemeinschaften üblich, viele ziehen sich zurück,<br />

Freundschaften schließen nur wenige.<br />

Seeleute arbeiten insofern unter extremen Bedingungen,<br />

die sich während der Corona-Pandemie noch verschärft<br />

haben. <strong>Das</strong> weiß auch Axel Kittel. „In den letzten Jahren<br />

konnte man beobachten, wie immer mehr Seeleute vereinsamen“,<br />

sagt der 57-Jährige, der selbst jahrelang zur See gefahren<br />

ist und sich heute zusammen mit seinem Mitstreiter Till<br />

Andrzejewski der Betreuung von Seeleuten am Oldenburger<br />

Hafen verschrieben hat. Zusammen haben sie das Projekt Social<br />

Seafarer’s Service Oldenburg (SSSO) angestoßen, das zu<br />

Jahresbeginn unter dem Dach der Humanistischen Vereinigung<br />

ins Leben gerufen wurde.<br />

„Seeleute haben besondere Bedürfnisse und einen großen<br />

seelsorgerischen Bedarf“, betont Kittel. Der Fall eines<br />

von Andrzejewski aufgespürten Seemanns, der sich seit 17<br />

Monaten an Bord eines Schiffes befand, mag da nur ein Extrembeispiel<br />

sein. Doch ist er Indiz genug für die teils fatalen<br />

Entwicklungen in der internationalen Schifffahrt. Viele<br />

Seeleute sehnen sich nach der Ruhe, die sie an Bord zwischen<br />

Maschinen und Motoren nie haben, oder sie dürsten geradezu<br />

nach Abwechslung und menschlicher Interaktion. Andere<br />

freuen sich, nach Monaten, in denen sie nur das offene<br />

Meer vor sich gesehen haben, über Radtouren oder Wanderungen<br />

ins Grüne. All diesen Ansprüchen will das ehrenamtliche<br />

Team des SSSO, außer Kittel und Andrzejewski gehören<br />

derzeit auch eine Psychologin und eine Sozialarbeiterin dazu,<br />

gerecht werden.<br />

Humanismus muss praktisch sein<br />

„Wir haben schon 2018 angefangen zu überlegen, wie wir Humanismus<br />

in Oldenburg sichtbar machen können“, berichtet<br />

Kittel über den langen Vorlauf des Projekts. Gesprächskreise<br />

und Vorträge waren nun seine und Andrzejewskis Sache<br />

Fotos: ©HV; adobestock.com<br />

nicht, ihnen war nach etwas handfesterem. Und so kamen<br />

sie auf die Betreuung von Seeleuten, für die sich bis dahin<br />

niemand so recht zu interessieren schien. „Es war schon so,<br />

dass Oldenburg ein wenig vernachlässigt war und sich, obwohl<br />

es den Bedarf gibt, keiner für die Betreuung der Seeleute<br />

verantwortlich gefühlt hat“, sagt auch Jürgen Steinecke,<br />

Regionalgeschäftsführer Nord der Humanistischen Vereinigung.<br />

Liegen könnte das an der besonderen Lage des Hafens.<br />

Oldenburg ist zwar ein durchaus geschichtsträchtiger<br />

Schifffahrtsstandort mit einer mehrere hundert Jahre alten<br />

Geschichte, und dennoch unter den deutschen Seehäfen<br />

wahrlich kein Riese. Der Hafen liegt ein ganzes Stück landeinwärts<br />

und genau 50 Seemeilen entfernt von der Nordsee.<br />

Links und rechts der Hunte, eines Nebenflusses der Weser,<br />

wurden im Ostteil der Stadt Pieranlagen gebaut, an denen<br />

Futtermittel, Baustoffe und chemische Erzeugnisse wie Dünger<br />

umgeschlagen werden.<br />

Vor allem Binnenschiffe legen hier an, doch fahren auch<br />

einige Seeschiffe, derzeit noch rund 60 im Jahr, regelmäßig<br />

die Weser und Hunte hinauf nach Oldenburg. Schon jetzt ist<br />

der Hafen damit „rege frequentiert“, findet Axel Kittel, und<br />

es scheint wahrscheinlich, dass der Schiffsverkehr in den<br />

nächsten Jahren noch zunehmen wird. Erst im Mai wurde<br />

ein neues Wendebecken freigegeben, das nun auch Schiffen<br />

von bis zu 110 Metern Länge die Einfahrt in den Hafen erlaubt.<br />

Mit den größeren Pötten wird es auch deutlich mehr<br />

Seeleute nach Oldenburg verschlagen als bisher.<br />

Freifunk und Freitests<br />

Woher diese Seeleute dann kommen werden, darüber lässt<br />

sich nur spekulieren. Stand jetzt stammen viele Seeleute, die<br />

in Oldenburg von Bord gehen, von den Philippinen, sie sind<br />

damit tausende Kilometer entfernt von Heimat, Freund*innen<br />

und Familie. Mit einigem Stolz berichtet Kittel nun, dass<br />

der SSSO vom Leiter des Gesundheitsamtes Oldenburg die<br />

Erlaubnis bekommen hat, an Bord Corona-Tests durchzuführen<br />

– wer aus Hochinzidenzgebieten nach Deutschland<br />

kommt und ohne Test wohl kaum die Erlaubnis bekäme, an<br />

Land zu gehen, hat nun die Möglichkeit, sich freitesten zu<br />

lassen. Der SSSO besucht die Seeleute an Bord und fragt nach<br />

Problemen, Wünschen und Bedürfnissen. Zusammen mit Unternehmen<br />

vor Ort und dem Verein Freifunk hat der SSSO außerdem<br />

eine Anlage installiert, die Seeleuten am Hafen Oldenburg<br />

freien Internetzugang gewährt. Kontakt mit seinen<br />

Liebsten zu halten, wird so um ein Vielfaches einfacher.<br />

Noch viel mehr Betreuungsangebote macht der SSSO, seit<br />

sein Club 50 Miles die Türen geöffnet hat. Hinter dem Namen<br />

– 50 Miles leitet sich ab von der Entfernung des Oldenburger<br />

Hafens zur Nordsee – verbirgt sich ein Club und Treffpunkt<br />

für Seeleute, wie es ihn an vielen anderen Häfen schon<br />

länger gibt und wie es ihn nun auch an der Hunte geben soll.<br />

Hier können Seeleute Billard oder Tischfußball spielen (das<br />

mag banal scheinen, doch auf schaukelnden Schiffen gibt es<br />

solche Spiele nicht), sie können sich unterhalten oder unterhalten<br />

werden. „Ganz bewusst“, sagt Kittel, „haben wir bei<br />

der Einrichtung viel Holz verwendet“ – und damit ein Material,<br />

das sich an Bord so gut wie nie findet. Auch Grünpflanzen<br />

bilden im 50 Miles einen ansprechenden Kontrast zur<br />

metallenen Monotonie von Frachtern und anderen Güterschiffen.<br />

Wer will, kann sich außerdem in einen eigens eingerichteten<br />

Raum der Stille zurückziehen und nach all dem<br />

Motorenlärm kostbare Ruhe finden oder auf individuelle<br />

Weise seine bzw. ihre jeweilige Religion oder Weltanschauung<br />

ausüben, denn auch Frauen fahren zunehmend zur See.<br />

Regionalgeschäftsführer Jürgen Steinecke und das SSSO-Team<br />

Till Andrzejewski, Axel Kittel und Katharina Bode<br />

Die Leitung der neuen Oldenburger Dependance der HV<br />

wird Lutz Renken übernehmen, der auf bereits über zehn<br />

Jahre Arbeit in <strong>humanistisch</strong>en Strukturen zurückblickt.<br />

„Ich freue mich sehr, dass Lutz Renken ab 1. Juni Teil unseres<br />

wachsenden Teams im Norden Deutschlands sein wird.<br />

Wir blicken schon heute auf viele Jahre konstruktiver und<br />

erfolgreicher Zusammenarbeit zurück und das ist natürlich<br />

eine hervorragende Grundlage für unsere neuen Projekte in<br />

Oldenburg“, so der Regionalgeschäftsführer Jürgen Steinecke.<br />

Renken wird bei seiner Arbeit am HV-Standort Oldenburg<br />

durch einen wachsenden Kreis ehrenamtlich aktiver<br />

Humanist*innen aus der Region unterstützt, die bereits eine<br />

wichtige Säule für den Betrieb des 50 Miles und des SSSO bilden.<br />

Projekt und Club werden übrigens aus öffentlicher Hand<br />

gefördert, und dass Oldenburgs Oberbürgermeister Jürgen<br />

Kroogman die Schirmherrschaft übernommen hat, unterstreicht<br />

nur, wie sehr man auch an der Stadtspitze um den<br />

Wert des neuen Betreuungsangebots weiß. Dennoch werben<br />

Axel Kittel, Till Andrzejewski und Jürgen Steinecke um weitere<br />

Unterstützung. „Wir wollen Seeleute aus ihrem Alltag<br />

herausholen“, sagt Kittel – und mit zusätzlichen Ehrenamtlichen<br />

könnten schließlich weit mehr Seeleute betreut werden<br />

als bisher.<br />

Marco Schrage<br />

SEELEUTE BITTEN UM<br />

IHRE UNTERSTÜTZUNG!<br />

Unterstützen Sie<br />

unseren ehrenamtlichen<br />

Social Seafarer’s<br />

Service Oldenburg (SSSO) mit Ihrer Spende<br />

auf das Spendenkonto der Humanistischen<br />

Vereinigung. Ein Spendenformular finden<br />

Sie auf der Website 50miles.de<br />

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<strong>humanistisch</strong>! <strong>#14</strong> / Juli <strong>2021</strong><br />

<strong>#14</strong> / Juli <strong>2021</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />

I<br />

m Gespräch mit religiösen Menschen<br />

erleben säkulare Humanist*innen<br />

häufig, dass früher<br />

oder später der „Immer-undüberall“-Joker<br />

gelöst wird. Es gäbe –<br />

so geht dieser Joker – kein Volk auf der<br />

Erde und es gäbe auch keine nennenswerte<br />

Weltepoche, in der die Menschen<br />

nicht religiös gewesen seien. Und natürlich<br />

haben diese religiösen Menschen<br />

dann irgendwie recht, aber wie<br />

das bei solchen Großargumenten häufig<br />

der Fall ist – natürlich haben sie<br />

Humanismus<br />

und das<br />

Heilige<br />

Religion mag für viele Menschen Kern und<br />

Auslöser des Heiligen sein, doch auch Humanist*innen<br />

ist das Heilige nicht fremd.<br />

zugleich auch unrecht. <strong>Das</strong> liegt schon<br />

am zentralen Begriff „Religion“, der<br />

hier in die Irre führt. Karen Armstrong<br />

hat in ihrem Buch „A Case for God“ sehr<br />

vermittelnd beschrieben, wo das Problem<br />

liegt: Wir können gar nicht davon<br />

ausgehen, dass die religiösen Emotionen,<br />

Erfahrungen oder gar Strukturen<br />

der Menschen von vor 40.000 Jahren,<br />

vor 10.000 Jahren oder vor 1000 Jahren<br />

jeweils die gleichen sind. Allein die<br />

Erfindung der Seele in der Achsenzeit<br />

markiert ja einen riesigen spirituellen<br />

Unterschied, hinter den es schwerfällt,<br />

denkerisch zurückzufallen.<br />

Welche (religiösen?) Emotionen die<br />

Neandertal-Hominiden beispielsweise<br />

vor 176.000 Jahren dazu gebracht haben,<br />

in der Bruniquel-Höhle gut zwei<br />

Tonnen Stalagmiten und Stalagtiten<br />

kreisförmig aufzuschichten, muss ihr<br />

Geheimnis bleiben. Wir wissen es nicht<br />

und können es nicht wissen.<br />

Wir wissen auch nicht, ob eine<br />

Schamanin, ein Priester, ein Imam<br />

oder ein Sannyasin die Bauarbeiten<br />

Fotos: ©unsplash.com; Tobias Killguss<br />

überwachte und wir haben nicht die<br />

leiseste Vorstellung davon, welche (religiösen?)<br />

Wahrheiten in diesem Zusammenhang<br />

verkündet wurden.<br />

Es ließe sich also dem religiösen Gesprächspartner<br />

antworten, dass es – ja<br />

– seit jeher und überall Zeugnisse für<br />

religiöse Emotionen gegeben hat. Aber,<br />

so wird man ergänzen müssen, wir<br />

werden kaum jemals verstehen, welche<br />

Emotionen das genau sind und ob und<br />

wenn ja wie sie in ein Regelsystem gegossen<br />

wurden ganz im Sinne des arabischen<br />

Wortes für Religion din, das<br />

zugleich „Gesetz“ bedeutet.<br />

<strong>Das</strong> Heilige statt<br />

Religion<br />

Aber vielleicht ist es sowieso klüger,<br />

statt von Religion vom „Heiligen“ zu<br />

sprechen? <strong>Das</strong> Heilige nämlich – und<br />

das erstaunt jetzt vielleicht ein bisschen<br />

– ist säkularen Humanist*innen<br />

nämlich ganz und gar nicht fremd. Sie<br />

mögen noch so sehr von sich sagen,<br />

dass sie nicht religiös sind, aber dass<br />

sie das Heilige nicht kennen, kann eigentlich<br />

keine*r von sich behaupten.<br />

Zumindest, wenn man die Definition<br />

des evangelischen Theologen Rudolf<br />

Otto des Heiligen als furchteinflößendes<br />

(tremendum) und zugleich faszinierendes<br />

(fascinans) Mysterium zum Anschlag<br />

bringt.<br />

Dieses wortlose Erstarren in einem<br />

geradezu heiligen Moment hat wohl jede*r<br />

schon einmal erlebt, die/der über<br />

beide Ohren verliebt war. „Wir fahren<br />

auf Feuerrädern Richtung Zukunft<br />

durch die Nacht“ kann nur jemand sagen,<br />

der die furchtbare wie zugleich<br />

fesselnde Erkenntnis gemacht hat, ohne<br />

den anderen nicht mehr sein zu wollen<br />

und zu können.<br />

Heilig statt profan<br />

Auch die Unterscheidung von profan<br />

und heilig, die der Soziologe Emile<br />

Durkheim ins Gespräch gebracht hat,<br />

dürfte Säkularen bekannt vorkommen.<br />

Durkheim behauptet, seit jeher hätten<br />

die Menschen die Sphären des Heiligen<br />

und des Profanen voneinander zu<br />

trennen gewusst. Diese Behauptung ist<br />

mindestens so steil wie die, Menschen<br />

seien immer religiös gewesen, aber für<br />

unsere Zwecke ist sie hier hilfreich.<br />

Wenn wir nämlich unterstellen, dass<br />

diese Zweiteilung eine Art menschlichbinärer<br />

Grundcodierung ist, dann gilt<br />

sie tatsächlich auch für säkulare Humanist*innen.<br />

<strong>Das</strong> zeigt sich nicht zuletzt<br />

an dem sehr umfangreichen Lebensfeierwesen,<br />

das die Bewegung seit<br />

jeher begleitet.<br />

Seit 1852 finden z. B. Jugendweihen<br />

(oder wahlweise: Jugendfeiern) statt,<br />

bei denen ohne religiösen Bezug der<br />

Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter<br />

gefeiert wird. Alle Beteiligten<br />

– die Jugendlichen genauso wie ihre<br />

Verwandten und Freunde – markieren<br />

diesen besonderen Moment, indem<br />

sie sich schick machen, die Jugendlichen<br />

tragen häufig erstmals in ihrem<br />

Leben Schlips oder Kleid und dem gesamten<br />

Zeremoniell ist eine (jetzt sage<br />

ich es mal) heilige Ernsthaftigkeit anzumerken.<br />

Erwachsen werden die Kinder<br />

im profanen Leben auch von alleine,<br />

aber bei einer Jugendfeier geht es<br />

darum, eine nicht-profane Atmosphäre<br />

zu schaffen.<br />

Zweck solch einer Übung ist zu verhindern,<br />

dass das Leben einfach nur so<br />

vorbeirauscht. Diese dem profanen Lebenslauf<br />

zeitlich und zeremoniell entrissenen<br />

Momente kann man durchaus<br />

als „heilig“ bezeichnen, auch wenn sie<br />

ganz und gar nicht religiös sind. Solche<br />

Momente gibt es auch im Privaten,<br />

wenn z. B. ein Geburtstag dem Alltag<br />

entrissen wird, indem schon zum Frühstück<br />

eine Tischdecke der Kakao- und<br />

Kaffeebefleckung ausgesetzt wird. Und<br />

wir kennen diese Momente im Kollektiv,<br />

wenn wir z. B. Partner*innen dabei<br />

zusehen, wenn sie zueinander „ja“ sagen.<br />

In modernen Großgesellschaften<br />

sind Momente des Heiligen, an denen<br />

eine große Mehrheit der Menschen<br />

beteiligt ist, selten geworden. Dennoch<br />

gibt es diese Momente auch heute.<br />

Wer etwa einmal auf den Straßen<br />

einer israelischen Stadt erlebt hat, wie<br />

anlässlich des Jom ha’Schoah jede Bewegung<br />

für zwei Minuten eingefroren<br />

wird und Menschen da stehenbleiben,<br />

wo sie gerade stehen, der sieht, dass<br />

das Heilige auch in säkularen Gesellschaften<br />

seinen Platz hat.<br />

Heilsame Distanz<br />

Humanist*innen ist vieles heilig, von<br />

den Menschenrechten angefangen hin<br />

zum Überleben unserer Spezies im<br />

Raumschiff Erde. Aber eines können<br />

wir von den religiösen Erfahrungen mit<br />

dem Heiligen sicherlich lernen: Heilig<br />

ist nicht gleichbedeutend mit moralisch<br />

richtig oder gar gut. <strong>Das</strong> zeigt der Begriff<br />

haram im Arabischen, der sowohl<br />

einen Sakralbau bezeichnet – einen heiligen<br />

Ort also, als auch religiös motivierte<br />

Verbote – also Tabus.<br />

Etwas, das im islamischen Kontext<br />

haram ist, ist also eben gerade nicht<br />

gut, sondern den Gläubigen wird davon<br />

abgeraten. <strong>Das</strong> Heilige kennt also nicht<br />

nur den Aspekt des Nicht-Profanen,<br />

sondern auch dessen, von dem man sich<br />

fernzuhalten hat, um sich nicht unnötig<br />

selbst zu profanieren. In diesem<br />

Sinn ließe sich beispielsweise eine <strong>humanistisch</strong>e<br />

Distanz von antisemitischen<br />

Strömungen begründen.<br />

Religion mag für viele Menschen<br />

Kern und Auslöser des Heiligen sein<br />

und es sollte sich gezeigt haben, dass<br />

es gute Gründe gibt, das anzuerkennen<br />

und zu respektieren, denn auch säkularen<br />

Humanist*innen ist das Heilige<br />

nicht fremd. Es steht hierbei aber eher<br />

der einzelne Mensch und eine lebenswerte<br />

Gesellschaft im Mittelpunkt der<br />

Betrachtung. Säkularer Humanismus<br />

ist also zwar nicht religiös, aber manches<br />

ist ihm eben doch – heilig.<br />

Jonas Grutzpalk<br />

Prof. Dr. Jonas Grutzpalk lehrt als<br />

Soziologe an der Hochschule für<br />

Polizei und öffentliche Verwaltung<br />

Nordrhein-Westfalen in Bielefeld.<br />

Daneben engagiert sich der Familienvater<br />

u. a. für die Zeitschrift „Polizei.<br />

Wissen“ und im Auswahlausschuss des<br />

Humanistischen Studienwerks.<br />

grtzplk.de<br />

22<br />

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<strong>humanistisch</strong>! <strong>#14</strong> / Juli <strong>2021</strong><br />

<strong>#14</strong> / Juli <strong>2021</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />

Durchbruch in<br />

Corona-Krise<br />

Uttam Niraula<br />

Noch schlimmer als in Indien hat in<br />

Nepal im Frühjahr die Corona-Pandemie<br />

gewütet. Während die offiziellen<br />

Zahlen schon erschreckend hoch<br />

für das Land mit 30 Millionen Einwohner*innen<br />

sind, schätzen Expert*innen<br />

die Zahl der tatsächlichen Krankheitsund<br />

Todesfälle bis zu 30 Mal höher als<br />

amtlich registriert. Ende Juni waren<br />

erst 2,6 Prozent der Bevölkerung vollständig<br />

geimpft. Aufgrund strenger<br />

Lockdowns ist die Versorgungslage im<br />

Land teils dramatisch.<br />

Ganz vorne mit beim Kampf gegen<br />

die Pandemie im Himalaya-Staat sind<br />

seit mehreren Monaten Humanist*innen<br />

der Society for Humanism (SOCH)<br />

Nepal. In Zusammenarbeit mit dem Ministerium<br />

für Gesundheit und Bevölkerung<br />

hat SOCH Nepal ein offizielles<br />

Webportal entwickelt und online gebracht,<br />

das Covid-19-Fälle verfolgt, sowie<br />

eine mobile Offline-Anwendung,<br />

um zuverlässige Informationen zu<br />

wichtigen Schutzmaßnahmen in Nepali<br />

bereitzustellen. <strong>Das</strong> Portal in Form eines<br />

auch hierzulande bekannten Covid-<br />

19-<strong>Das</strong>hboards liefert in Zusammenarbeit<br />

mit den Kliniken im ganzen Land<br />

u. a. aktuelle Zahlen zu Neuinfektionen,<br />

Genesenen und Todesfällen, insgesamt<br />

sowie differenziert nach den nepalesischen<br />

Distrikten. Die offizielle<br />

Zusammenarbeit von SOCH Nepal mit<br />

den Behörden des Landes stellt einen<br />

Meilenstein für die 2005 gegründete<br />

Organisation dar.<br />

„Wir werden die Situation weiter beobachten<br />

und auf jede erdenkliche Weise<br />

helfen, aber wir rufen auch zur internationalen<br />

Solidarität auf. Niemand<br />

ist sicher, wenn nicht alle anderen<br />

sicher sind“, sagte Direktor Uttam<br />

Niraula. covid19.mohp.gov.np<br />

Votum für Frauenrechte<br />

<strong>Das</strong> EU-Parlament hat die Mitgliedsstaaten<br />

aufgerufen, die sexuelle und<br />

reproduktive Gesundheit und die damit<br />

verbundenen Rechte von Frauen zu<br />

schützen und weiter zu stärken. Mit der<br />

vom kroatischen Abgeordneten Predrag<br />

Matić (S&D-Fraktion) eingebrachten<br />

und Ende Juni verabschiedeten Resolution<br />

werden die EU-Länder aufgefordert,<br />

sicherzustellen, dass Frauen qualitativ<br />

hochwertige, umfassende und<br />

zugängliche Dienstleistungen im Rahmen<br />

der sexuellen und reproduktiven<br />

Gesundheit erhalten.<br />

Alle Mitgliedsstaaten sollten<br />

den Zugang zu sicheren und legalen<br />

Schwangerschaftsabbrüchen gewährleisten<br />

und sicherstellen, dass ein<br />

Schwangerschaftsabbruch in der Frühschwangerschaft<br />

und auch darüber hinaus<br />

dann legal ist, wenn die Gesundheit<br />

der Schwangeren in Gefahr ist. Die<br />

Resolution fordert außerdem eine verbesserte<br />

Sexualerziehung für Schüler*innen<br />

an Grund- und weiterführenden<br />

Schulen, da diese Aufklärung<br />

wesentlich zur Verringerung von sexueller<br />

Gewalt und Belästigung beitragen<br />

kann. Zudem sollte die Mehrwertsteuer<br />

für Verbrauchsgüter wie Tampons<br />

stark oder gleich ganz auf 0 reduziert<br />

werden.<br />

Tatsache ist allerdings, dass die<br />

EU für die Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen<br />

rechtlich nicht zuständig<br />

ist. Zuletzt hatte Polen im<br />

Herbst 2020 sein ohnehin schon äußerst<br />

restriktives Abtreibungsgesetz<br />

nochmals verschärft.<br />

Hässliches Ungarn<br />

Der ungarische Regierungschef Viktor<br />

Orbán setzt alles daran, dem Land<br />

ein anti<strong>humanistisch</strong>es Schreckensregime<br />

aufzudrücken. <strong>Das</strong> geht aus einer<br />

Stellungnahme der Ungarischen Atheist*innenvereinigung<br />

von Ende April<br />

hervor. Dem Bericht zufolge hat die systematische<br />

Bevorzugung der Regierung<br />

für konservative, christlich-religiöse<br />

Ansätze in Gesetzgebung und Politik<br />

die Menschenrechte und die Demokratie<br />

in Ungarn untergraben.<br />

„Als wir die Daten für die Vorbereitung<br />

unserer Stellungnahme erhoben<br />

haben, waren wir erneut entsetzt,<br />

wie gründlich der säkulare Staat<br />

in den letzten Jahren abgebaut wurde.<br />

Die Regierung ermutigt und führt<br />

Hasskampagnen gegen alle Gruppen<br />

und Einzelpersonen, die nicht in<br />

das weiße, christliche, heterosexuelle<br />

Ideal passen. Die Kampagne gegen<br />

George Soros mit ihren antisemitischen<br />

Untertönen beschränkt sich<br />

nicht nur auf Ungarn und ist seit Jahren<br />

berüchtigt. Romn*ja, Flüchtlinge,<br />

progressive Christ*innen, Muslim*innen,<br />

Atheist*innen, LGBT+ und andere<br />

Minderheiten werden als Bürger*innen<br />

zweiter Klasse behandelt, während<br />

die Grundfreiheiten der akademischen<br />

Forschung und der Meinungsäußerung<br />

ständig angegriffen werden“, sagte der<br />

Präsident der Ungarischen Atheistenvereinigung<br />

Tamás Waldmann zum Bericht,<br />

der für eine im Herbst anstehende<br />

Sitzung des UN-Menschenrechtsrats<br />

erstellt wurde.<br />

Die extremistische Politik Orbáns<br />

hat sogar den deutschen Bundesinnenminister<br />

Horst Seehofer (CSU) motiviert,<br />

mögliche Sanktionen prüfen zu<br />

wollen. Anlässlich eines neuen Anti-<br />

Homosexuellen-Gesetzes sprach sich<br />

Seehofer für eine Kürzung von EU-Fördergeldern<br />

aus. Zuvor galt er lange Jahre<br />

als Unterstützer Orbáns in der Europäischen<br />

Volkspartei.<br />

Humanist für Rugby-Team<br />

Der Nordire Ciarán McWilliams wurde<br />

im Juni als erster <strong>humanistisch</strong>er Seelsorger<br />

in ein Rugby-Team Nordirlands<br />

– und soweit bekannt weltweit – berufen.<br />

Er wird Spieler*innen, Trainer*innen<br />

und Fans des Ophir Rugby Football<br />

Club in Mallusk emotionale und spirituelle<br />

Unterstützung bieten. <strong>Das</strong> berichteten<br />

die Humanists UK.<br />

Die meisten Rugby-Teams in Nordirland<br />

sind entweder einer protestantischen<br />

oder katholischen Gemeinschaft<br />

zugehörig. Der gerade 100 Jahre alte<br />

Ciarán McWilliams<br />

gewordene Ophir Rugby Club ist einer<br />

der wenigen nicht-konfessionell orientierten<br />

Clubs. In den letzten Jahren<br />

war er wegweisend bei der Förderung<br />

von Inklusion und Vielfalt im Spiel. Die<br />

Azlans – die erste überwiegend schwule<br />

Mannschaft der Region – trat 2018<br />

dem Club bei und er startete 2020 eine<br />

Mädchen- und Frauenabteilung.<br />

McWilliams ließ sich 2018 zum <strong>humanistisch</strong>en<br />

Seelsorger ausbilden,<br />

nachdem er im Krankenhaus selbst<br />

durch eine ehrenamtliche <strong>humanistisch</strong>e<br />

Seelsorge unterstützt wurde. Seitdem<br />

ist er Leiter der Seelsorge für nordirische<br />

Humanist*innen. Er ist auch<br />

Teil des ersten Teams, das in einem<br />

nordirischen Gefängnis <strong>humanistisch</strong>e<br />

Seelsorge anbietet.<br />

Vatikan mischt sich<br />

wieder ein<br />

Anlässlich von parlamentarischen Diskussionen<br />

über eine Gesetzesnovelle<br />

zur Bekämpfung von Hasskriminalität<br />

hat sich die katholische Kirche in die<br />

italienische Gesetzgebung eingemischt.<br />

Gegenstand der angestrebten Novelle<br />

ist, das bestehende Gesetz gegen Hasskriminalität<br />

durch eine explizite Anerkennung<br />

von Hassverbrechen und<br />

Hassreden gegen Frauen und LGBTQI*<br />

zu erweitern. Deswegen hat der Vatikan<br />

unter Berufung auf sein Konkordat von<br />

1929 mit dem italienischen Staat einen<br />

formellen Antrag an die Regierung gerichtet,<br />

um eine Änderung des Gesetzes<br />

zu beantragen. Die Kirche behauptet,<br />

dass dieses Gesetz unter anderem<br />

die Gedanken- und Meinungsfreiheit<br />

der Katholik*innen in Italien gefährden<br />

würde. Kritik und Protest gab es<br />

deswegen vonseiten der Italienischen<br />

Union der rationalistischen Atheist*innen<br />

und Agnostiker*innen (UAAR). „Unsere<br />

Verfassung legt die Unabhängigkeit<br />

und Souveränität der Italienischen<br />

Republik fest, aber der Vatikan versucht,<br />

diese Unabhängigkeit im Namen<br />

des Konkordats zu verletzen – ein faschistisches<br />

Relikt, das abgeschrieben<br />

werden sollte. Die Italienische Republik<br />

kann von einem totalitären Staat<br />

nicht an der Leine gehalten werden“,<br />

kommentierte Generalsekretär Roberto<br />

Grendene.<br />

Chefvirologe ist Humanist<br />

des Jahres<br />

Der US-amerikanische Immunbiologe<br />

und Virologe Anthony Fauci hat die<br />

Auszeichnung „Humanist of the Year“<br />

der traditionsreichen American Humanist<br />

Association (AHA) erhalten. „Dr.<br />

Fauci half als ein Verfechter von Wissenschaft<br />

und Vernunft die Nation in<br />

einer Zeit durch die Covid-19-Pandemie<br />

zu führen, in der wir dies am meisten<br />

brauchten“, erklärte die AHA zur<br />

Begründung. Geehrt wird Fauci für<br />

sein Engagement für evidenzbasierte<br />

Lösungen und für die Zugänglichmachung<br />

wissenschaftlicher Fakten. Aber<br />

auch als führende Stimme, der Amerikaner*innen<br />

in einer Zeit der Krise und<br />

angesichts einer Wolke von Panik und<br />

Anthony Fauci<br />

Fehlinformationen vertrauen konnten.<br />

Dies mache ihn zu einem der vielen<br />

Held*innen der Pandemie, so die AHA.<br />

Fauci ist in einer katholischen Familie<br />

aufgewachsen. In früheren Interviews<br />

sagte er über seine weltanschauliche<br />

Haltung: „Ich sehe mich als Humanisten.<br />

Ich glaube an das Gute im Menschen.“<br />

Und: „Ich bin weniger von der<br />

organisierten Religion angetan als von<br />

den Prinzipien der Menschlichkeit und<br />

der Güte der Menschen und dass man<br />

das Beste tut, was man kann.“<br />

Helfen Sie bedrohten<br />

Humanist*innen<br />

weltweit!<br />

Helfen Sie<br />

mit!<br />

Informieren Sie sich jetzt und<br />

spenden Sie unter<br />

www.<strong>humanistisch</strong>e-hilfe.de<br />

Vielen Dank!<br />

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<strong>humanistisch</strong>! <strong>#14</strong> / Juli <strong>2021</strong><br />

<strong>#14</strong> / Juli <strong>2021</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />

LESEN SIE AUCH ONLINE!<br />

Staatsleistungen:<br />

Superreich<br />

entbehrt<br />

nicht gern<br />

Eine Stellungnahme<br />

der Kirchen zu einer<br />

Anhörung im Deutschen Bundestag signalisiert<br />

die Bereitschaft zur Ablösung<br />

der historischen Staatsleistungen.<br />

Aber nur ganz langsam und zu<br />

höchsten Beträgen.<br />

<strong>humanistisch</strong>.net/40871/<br />

Überleben im Anthropozän<br />

Der Mensch hat sich die Erde untertan gemacht<br />

– und das in einem Ausmaß, das die<br />

menschlichen Lebensgrundlagen bedroht.<br />

Für den Weg ins Anthropozän, ins Erdzeitalter<br />

des Menschen, hat nach Ansicht des<br />

Wissenschaftshistorikers Jürgen Renn die<br />

Entwicklung wissenschaftlichtechnischen<br />

Wissens eine zentrale<br />

Rolle gespielt.<br />

<strong>humanistisch</strong>.net/40771<br />

Heiße Luft<br />

Reflexionen von Jonas Grutzpalk zur<br />

integrativen und zur zerstörerischen<br />

Kraft medialer Empörung<br />

<strong>humanistisch</strong>.net/41092/<br />

Wiglaf Droste<br />

Chaos, Glück und<br />

Höllenfahrten<br />

Als der Rezensent vor nun<br />

schon 20 Jahren die ersten<br />

Texte von Wiglaf Droste las,<br />

war er begeistert – so unverfroren,<br />

sprachgewandt und<br />

direkt kam die Satire daher. Droste, so viel schien klar, war ein hedonistischer<br />

Lebemann und herausragender Polemiker, der es mit Allem<br />

aufnahm, wenn es ihm nur richtig und gerecht schien. Zum „Tucholsky<br />

von heute“ adelte ihn einst die Süddeutsche Zeitung, ein langjähriger<br />

Weggefährte sah in Droste einen „Hooligan der Inbrunst, manchmal<br />

leider untröstlich und selbstzerstörerisch im falschen Trost.“<br />

In der Tat überwarf sich Droste zeit seines Lebens vermutlich mit<br />

mehr Menschen als er Freund*innen fand. Alleine die taz entließ ihn<br />

dreimal – wer einen Beweis dafür braucht, dass Droste ausgesprochen<br />

schwierig sein konnte, findet ihn hier. <strong>Das</strong>s die taz ihn alldem zum<br />

Trotz immer wieder anstellte, spricht allerdings auch für ein herausragendes<br />

Talent. Die Schattenseite des Genussmenschen Droste<br />

nun war, dass er dem Wein auch dann nicht entsagen wollte, als die<br />

schlimmen gesundheitlichen Folgen nicht mehr zu übersehen waren:<br />

2019 starb der alkoholkranke Droste an den Folgen einer Leberzirrhose.<br />

Von den Auf und Abs in Drostes Leben erzählt postum eine „autobiographische<br />

Schnitzeljagd“ in der Edition Tiamat. Es sind meist nur<br />

kurze Episoden, Schnipsel und Schnitzel eben, die gerade weil sie sich<br />

um die unterschiedlichsten Themen drehen, ein gutes Bild des „freischaffenden<br />

Anarchisten“ (nochmal die SZ) zeichnen. Und vielleicht<br />

werden manche Leser*innen – wie der Rezensent auch – amüsiert<br />

feststellen, dass sich Droste seine Abneigung gegen Brandenburg<br />

(„ein Land, wie totgeprügelt liegt es da“) offenbar bis zuletzt behalten<br />

hat.<br />

Edition Tiamat, Berlin <strong>2021</strong>, 360 Seiten, 24 €<br />

Marco Schrage<br />

Julian Radlmaier (Regie)<br />

Selbstkritik eines<br />

bürgerlichen Hundes<br />

So, so, ein sich selbst<br />

kritisierender Hund, was ist<br />

denn das nun wieder? „Eine<br />

politische Komödie mit magischen Wendungen“ verspricht der Verleih,<br />

von einem, der im Grunde sich selbst spielt und, wenn man dem<br />

Film glauben mag, „quite an asshole for a communist film maker“ sein<br />

muss: Julian Radlmaier.<br />

Der gebürtige Nürnberger dreht ausgesprochen politische Filme („Ein<br />

Gespenst geht um in Europa“ zitiert schon im Titel das kommunistische<br />

Manifest, ein weiterer Film heißt „Ein proletarisches Wintermärchen“),<br />

und natürlich fallen in derlei Zusammenhängen sofort Namen<br />

wie der von Jean-Luc Godard, dem Radlmaier, wenn man seinem<br />

filmischen Alter Ego nur glauben mag, mit gesellschaftskritischem<br />

Kino nachzueifern hofft.<br />

Radlmaier liebt das ironische Spiel und zeigt nur wenig Scheu, sich<br />

und seinen Radikalismus auf die Schippe zu nehmen. Der Filmemacher<br />

in „Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes“ ist denn auch so idealistisch<br />

wie pleite, seine „Recherche“ unter ehrlichen Arbeitern auf der<br />

Apfelfarm „Oklahoma“ (eine mehr oder wenige plumpe Anspielung<br />

auf Steinbecks „Früchte des Zorns“?) eigentlich nur der verzweifelte<br />

Versuch, den drängelnden Sachbearbeiter bei der Arbeitsagentur<br />

ruhig zu stellen und endlich zu ein bisschen Geld und, komisch genug,<br />

einem Mädchen zu kommen.<br />

Nach etwas mehr als anderthalb Stunden ist der bürgerliche Hund<br />

weder flüssig noch hat er einen Film gedreht, der die Verhältnisse<br />

umwirft, in denen der Mensch ein verächtliches, geknechtetes Wesen<br />

ist. Und eine Freundin hat er auch nicht. Man könnte die „Selbstkritik<br />

eines bürgerlichen Hundes“ insofern als Geschichte des Scheiterns<br />

verbuchen, aber eigentlich ist sie doch eine lustige und gut erzählte<br />

Groteske, wie man sie im notorisch bedeutungsschweren deutschen<br />

Film nur selten zu sehen bekommt.<br />

D 2017, Regie und Drehbuch: Julian Radlmaier. Länge: 99 Minuten,<br />

FSK: ab 12 Jahren. Bei Vimeo on demand ab 4,99 €, DVD 12,99 €<br />

Marco Schrage<br />

Ideen diskutieren,<br />

Antworten finden und<br />

nach Glück streben.<br />

Eine Lebenseinstellung für aufgeklärte Menschen<br />

Impressum<br />

<strong>humanistisch</strong>! <strong>Das</strong> <strong>Magazin</strong> wird herausgegeben von<br />

Humanistische Medien (Anstalt des öffentlichen Rechts),<br />

Sitz: Nürnberg. <strong>humanistisch</strong>e-medien.de<br />

ISSN 2570-0030<br />

REDAKTIONSANSCHRIFT Kinkelstraße 12, 90482 Nürnberg<br />

Tel: 0911 43104-0, E-Mail: magazin@<strong>humanistisch</strong>.net<br />

HERAUSGEBER, VERANTWORTLICH FÜR DEN INHALT<br />

Michael C. Bauer (V.i.S.d.P.)<br />

REDAKTIONSLEITUNG Arik Platzek (arik.platzek@<br />

<strong>humanistisch</strong>.net), Marco Schrage (marco.schrage@<br />

<strong>humanistisch</strong>.net)<br />

AN DIESER AUSGABE HABEN MITGEWIRKT Nina Abassi, Martin<br />

Bühner, Jonas Grutzpalk, Tizia Labahn, Cigdem Toprak<br />

ABONNENTENSERVICE Stefan Dietrich, abo@<strong>humanistisch</strong>.net<br />

GESTALTUNG & ILLUSTRATIONEN<br />

Martin Rollmann – martinrollmann.de<br />

DRUCK Mang + co – mangdruck.de<br />

ERSCHEINUNGSWEISE <strong>humanistisch</strong>! <strong>Das</strong> <strong>Magazin</strong><br />

erscheint vierteljährlich im Januar, April, Juli und<br />

Oktober. Beiträge von Autor*innen entsprechen nicht<br />

zwangsläufig der Meinung des Herausgebers.<br />

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Geschlechtergerechtigkeit will <strong>humanistisch</strong>! <strong>Das</strong> <strong>Magazin</strong><br />

vor allem inhaltlich verwirklichen. Wir orientieren uns<br />

außerdem an den DJV-Empfehlungen für eine diskriminierungsfreie<br />

Sprache. Bei Fragen oder Anmerkungen dazu<br />

schreiben Sie uns an redaktion@<strong>humanistisch</strong>.net.<br />

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Bildnachweis: pixabay holdentrils

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