humanistisch! Das Magazin #13 - 2/2021
Lach doch mal - Wie gut vertragen sich Humanismus und Humor?
Lach doch mal - Wie gut vertragen sich Humanismus und Humor?
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<strong>#13</strong> / April <strong>2021</strong><br />
Lach<br />
doch mal<br />
Wie gut vertragen sich Humanismus und Humor?<br />
12 Ich ekle mich, also<br />
bin ich: das Disgusting<br />
Food Museum Berlin<br />
18 Unbewusst stereotyp:<br />
Wie Vorurteile uns<br />
alle prägen<br />
20 So geht Humanismus!<br />
Ein neues Kursangebot<br />
für zuhause
<strong>humanistisch</strong>! <strong>#13</strong> / April <strong>2021</strong><br />
<strong>#13</strong> / April <strong>2021</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />
INHALT<br />
editorial<br />
03<br />
Editorial<br />
04<br />
Kurznachrichten<br />
06<br />
Lach doch mal<br />
09<br />
„Der Mensch ist lächerlich“<br />
Im Interview mit Robin Ince<br />
10<br />
Humor in Zahlen<br />
12<br />
Ich ekle mich, also bin ich:<br />
das Disgusting Food<br />
Museum Berlin<br />
15<br />
Nah am Puls –<br />
Neues aus der HV<br />
17<br />
Buchtipps<br />
18<br />
Unbewussten Vorurteilen<br />
auf der Spur<br />
20<br />
So geht Humanismus!<br />
Ein neues Kursangebot<br />
für zuhause<br />
22<br />
Ein Humanist gegen Donald<br />
Trump: Meet Jamie Raskin<br />
24<br />
Weltspiegel<br />
26<br />
Bücher, die die<br />
Welt veränderten<br />
27<br />
Impressum<br />
Liebe Leserinnen,<br />
liebe Leser,<br />
in ernsten Zeiten freut sich jeder Mensch über Momente, in denen<br />
er im Alltag auch mal schmunzeln darf. Ein passender Zeitpunkt<br />
für ein <strong>humanistisch</strong>! zum Thema Humor!<br />
Als ich mich bereit erklärte, dieses Editorial zu schreiben, sah ich<br />
mich gleich mit der Aussage konfrontiert, der organisierte Humanismus sei<br />
humorlos. Für die Humanist*innen, die ich (im Laufe der Jahre) kennengelernt habe,<br />
trifft dies aber keineswegs zu! So habe ich mit vielen von Ihnen schon oft herzhaft<br />
lachen dürfen. Humor ist eben ein hervorragendes Mittel, den Widerfahrnissen des<br />
Lebens, den eigenen Schwächen zu begegnen. Es verbindet, gemeinsam zu lachen.<br />
Lasse ich erkennen, was mich zum Lachen bringt, offenbare ich viel von meiner Person<br />
und mache mich auch verletzlich.<br />
Aber Humor ist nicht in jeder Situation angebracht. Der organisierte Humanismus<br />
legt in seinem Auftreten oft Wert darauf, ernst genommen zu werden, zumal<br />
er gegenüber anderen Gruppierungen noch immer benachteiligt wird. Zudem gilt<br />
es sich von Menschen abzugrenzen, die mit beißendem Spott auf andere Menschen<br />
herabblicken, weil diese ihrer Meinung nach die Welt noch nicht genug durchdacht<br />
haben. Solche im säkularen Spektrum beheimateten Kampf-Atheist*innen, die mit<br />
überheblichem Zynismus auf ihre Mitmenschen blicken und das als lustig verstehen,<br />
haben die Idee des Humanismus, wie ich ihn verstehe, nicht verinnerlicht.<br />
Doch findet sich nun auch <strong>humanistisch</strong>er Humor? Hierfür lege ich Ihnen als<br />
Beispiel einen meiner Lieblingsautoren ans Herz: Terry Pratchett. Der bekennende<br />
Unterstützer der Humanists UK hält unserer Zeit in seinen humorvollen Romanen<br />
gewitzt einen Spiegel vor. Dabei behandelt er Themen wie Diversität in der Gesellschaft<br />
und Geschlechterrollen, aber auch Gerechtigkeit, Religiosität und Tod – das<br />
alles im Gewand einer Fantasiewelt im Aufbruch in die Neuzeit, dabei stets mit dem<br />
Blick eines modernen Humanismus.<br />
Nun wünsche ich Ihnen aber erst einmal viel Vergnügen bei der Lektüre dieser<br />
Ausgabe, bevor Sie vielleicht später meiner Literaturempfehlung folgen.<br />
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Sebastian Rothlauf<br />
Präsident der Humanistischen Vereinigung<br />
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Träger: Humanistische Vereinigung K.d.ö.R.<br />
www.<strong>humanistisch</strong>e-vereinigung.de<br />
3
<strong>humanistisch</strong>! <strong>#13</strong> / April <strong>2021</strong><br />
<strong>#13</strong> / April <strong>2021</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />
EIN<br />
HUMANISTISCHER<br />
VORSCHLAG<br />
Ein Jahr nach dem Grundsatzurteil<br />
des Bundesverfassungsgerichts<br />
dringt die<br />
Humanistische Vereinigung<br />
(HV) auf eine Neuregelung der<br />
Suizidhilfe. Sie betont: Jegliche<br />
Verschleppung der Neuregelung<br />
verlängert das Leiden<br />
Sterbewilliger und bedroht<br />
deren Menschenwürde. Die<br />
Kritik aus dem Parlament am<br />
Vorgehen von Bundesgesundheitsminister<br />
Spahn wird von<br />
der HV unterstützt.<br />
Seit das Bundesverfassungsgericht<br />
am 26. Februar<br />
2020 das in § 217 StGB formulierte<br />
Verbot der geschäftsmäßigen<br />
Sterbehilfe als verfassungswidrig<br />
kippte, bewegen<br />
sich Sterbewillige, Angehörige<br />
sowie Mediziner*innen und<br />
Pflegepersonal weiterhin auf<br />
rechtlich unsicherem Terrain.<br />
HV-Vorstand Michael Bauer<br />
mahnt, diese Menschen nicht<br />
länger im Unklaren zu belassen.<br />
Er erneuerte deshalb die<br />
Forderung der Humanistischen<br />
Vereinigung nach einer Neuregelung<br />
des assistierten Suizids<br />
und verwies auf den Gesetzentwurf,<br />
den die HV bereits<br />
im April 2020 vorgelegt hatte.<br />
Darüber hinaus liegen mittlerweile<br />
weitere detaillierte<br />
Gesetzentwürfe aus der Mitte<br />
des Bundestages vor.<br />
Nach Ansicht der HV sollte<br />
der assistierte Suizid sollte<br />
straffrei möglich sein und<br />
Sterbewillige sollten einen Anspruch<br />
auf Hilfe beim Suizid<br />
haben, unterstreicht HV-Vorstand<br />
Michael Bauer, der auch<br />
zertifizierter Berater für Ethik<br />
in der Medizin ist. Allerdings<br />
ebenso wichtig: Sterbewillige<br />
sollten an einer verpflichtenden,<br />
qualifizierten Suizidpräventionsberatung<br />
teilnehmen. .<br />
Den Gesetzentwurf der HV<br />
zur Regelung der Suizidhilfe<br />
finden Sie auf <strong>humanistisch</strong>evereinigung.de.<br />
10 Punkte<br />
für den Bundestag<br />
Zu den Bundestagswahlen hat die Humanistische Vereinigung (HV)<br />
Forderungen für eine gerechte, weltanschaulich neutrale Politik in<br />
Deutschland formuliert. In einem 10-Punkte-Papier heißt es, dass die<br />
Gesellschaft vielfältiger und oftmals weniger religiös geworden sei.<br />
Trotzdem würden christliche Kirchen noch immer bevorzugt.<br />
Diese Vielfalt gilt es nach Ansicht der HV besser sichtbar zu machen.<br />
Die HV fordert deshalb unter anderem den Verzicht auf eine exklusive<br />
christliche Symbolik in Gebäuden oder bei Veranstaltungen. Religiöse<br />
wie nichtreligiöse Institutionen müssten gleichbehandelt und damit<br />
auch gleichwertig und gerecht gefördert werden. Im Sinne desselben<br />
Gleichheitsprinzips seien <strong>humanistisch</strong>e Studierende ebenso zu unterstützen<br />
wie ihre religiösen Kommiliton*innen. Auf die besonderen<br />
Bedürfnisse nichtreligiöser Schutzsuchender sei mehr zu achten, und<br />
analog zur religiösen müsse auch eine <strong>humanistisch</strong>e Militärseelsorge<br />
eingerichtet werden.<br />
Diese und einige weitere Forderungen wurden in einem sechsseitigen<br />
Papier zusammengefasst und rechtzeitig zur Erstellung der Wahlprogramme<br />
übermittelt.<br />
Lesen Sie das 10-Punkte-Papier der HV unter <strong>humanistisch</strong>evereinigung.de.<br />
#mindestens600!<br />
Angesichts der Corona-Krise<br />
fordern Gewerkschaften,<br />
NGOs und Sozialverbände<br />
Soforthilfen für die Ärmsten<br />
der Gesellschaft und eine Anhebung<br />
der Grundsicherung<br />
auf mindestens 600 € monatlich.<br />
Wie es in dem Aufruf<br />
heißt, seien armen Menschen<br />
hierzulande bislang kaum zusätzliche<br />
Hilfen gewährt worden,<br />
obwohl in der Krise ihre<br />
Lebenshaltungskosten teils<br />
stark gestiegen seien. Weil<br />
„Tafeln“ geschlossen blieben,<br />
günstige Mahlzeiten in der<br />
Schule ausfielen, Desinfektionsmittel<br />
und Masken gekauft<br />
und technische Geräte für<br />
den digitalen Schulunterricht<br />
beschafft werden mussten,<br />
standen arme Familien vor<br />
enormen finanziellen Herausforderungen.<br />
<strong>Das</strong>s der Regelsatz<br />
der Grundsicherung im<br />
Januar um lediglich 14 Euro<br />
angehoben wurde, nennen die<br />
Initiator*innen des Aufrufs<br />
deshalb einen „armutspolitischen<br />
Offenbarungseid“.<br />
Warum auch foodwatch<br />
den Aufruf unterstützt,<br />
lesen Sie hier: <strong>humanistisch</strong>.<br />
net/40549.<br />
Partei der Selbstmitleidigen<br />
und Rechten<br />
Gleich zwei jüngere Studien<br />
beschäftigen sich direkt<br />
oder indirekt mit der AfD und<br />
ihren Wähler*innen. <strong>Das</strong> Fazit:<br />
Mehr als die Hälfte der AfD-Wähler*innen<br />
ist wenigstens latent<br />
rechtsextrem, gewählt wird die<br />
Partei außerdem vor allem von<br />
Menschen, die sich benachteiligt,<br />
von Modernisierungsprozessen<br />
abgehängt und von Migrant*innen<br />
bedroht fühlen.<br />
Im Detail beschäftigte sich<br />
YouGov im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung<br />
mit rechtsextremen<br />
Einstellungen unter den<br />
Wähler*innen der Bundestagsparteien.<br />
Annährend jede*r<br />
dritte Wähler*in der AfD habe<br />
demnach ein geschlossen rechtsextremes<br />
Weltbild, mindestens<br />
latent rechtsextrem sei mehr als<br />
jede*r zweite. Auch unter den<br />
Wähler*innen anderer Parteien<br />
TRENDWENDE?<br />
<strong>Das</strong> Europäische Parlament stimmte<br />
am 21. Januar <strong>2021</strong> mit einer deutlichen<br />
Mehrheit für die Forderungen des Initiativberichts<br />
„Zugang zu angemessenem<br />
und bezahlbarem Wohnraum“ nach mehr<br />
gibt es übrigens extrem Rechte,<br />
doch liegt deren Anteil bei maximal<br />
21 Prozent (im Falle der FDP<br />
nämlich, und auch da nur unter<br />
Einbezug der latent Rechtsextremen).<br />
Die zweite Studie kommt<br />
vom Exzellenzcluster „Religion<br />
und Politik“ der Westfälischen<br />
Wilhelms-Universität Münster.<br />
Bereits 2019 wurden dort Online-Umfragen<br />
ausgearbeitet,<br />
an denen schließlich rund 2.500<br />
Menschen teilnahmen. Deren<br />
Ergebnisse zeigen nun, „dass sich<br />
insbesondere ältere Menschen<br />
mit einem niedrigeren Bildungsgrad<br />
in ländlicheren Regionen<br />
benachteiligt fühlen und das<br />
Gefühl haben, der Gesellschaft<br />
seien Leute wie sie egal“, so die<br />
beteiligten Psychologen Mitja<br />
Back und Michael Bollwerk.<br />
Mieterschutz, einem Grundrecht auf Wohnen<br />
und dem fairen Zugang zu bezahlbarem<br />
Wohnraum.<br />
Marie Linder, Präsidentin der Internationalen<br />
Union der Mieter (IUT), begrüßte<br />
die Abstimmung als einen „Game-changer“<br />
in der europäischen Politik. Anders<br />
als die nationalen Regierungen habe<br />
das EU-Parlament den Willen bewiesen,<br />
<strong>humanistisch</strong>!net<br />
AUF<br />
AUGENHÖHE<br />
Foto: ©AABF<br />
Der Alevitischen Gemeinde Deutschland (Almanya Alevi Birlikleri<br />
Federasyonu, AABF) wurden in Nordrhein-Westfalen die Rechte<br />
einer Körperschaft des öffentlichen Rechts verliehen. Was zunächst<br />
nur wie ein formularjuristischer Akt klingt, ist tatsächlich die höchste<br />
Form gesellschaftlich-juristischer Anerkennung, die eine Religionsoder<br />
Weltanschauungsgemeinschaft hierzulande erfahren kann. Der<br />
Rechtstitel erlaubt es unter anderem, Steuern von Mitgliedern einzuziehen.<br />
Körperschaften des öffentlichen Rechts genießen außerdem<br />
steuerliche Vergünstigungen und haben Mitspracherecht in verschiedenen<br />
Gremien. Formal ist die 1989 gegründete AABF wenigstens in<br />
NRW damit den christlichen Kirchen gleichgestellt.<br />
Die AABF kommentierte, die Verleihung der neuen Rechte sei für<br />
sie „die Verpflichtung, auch zukünftig unser ganzes Tun und Engagement<br />
dafür einzusetzen, dass wir die Vielfalt der Gesellschaft gegen<br />
die Einfalt des Denkens schützen und uns noch intensiver dafür einsetzen,<br />
dass unsere Gesellschaft frei und offen bleibt.“<br />
In Deutschland gibt es derzeit 160 alevitische Gemeinden mit rund<br />
20.000 Mitgliedern, insgesamt leben in der Bundesrepublik zwischen<br />
500.000 und 700.000 Alevit*innen. Die AABF gab im Januar bekannt,<br />
nun auch die Vorbereitung für die Anerkennung als KdöR in zehn weiteren<br />
Bundesländern abgeschlossen zu haben.<br />
Spekulation mit Wohnraum zu beenden<br />
und allen Menschen angemessenen und<br />
bezahlbaren Wohnraum zu bieten. Linder<br />
zufolge sei Wohnen der höchste Ausgabenposten<br />
der europäischen Bürger*innen<br />
und mittlerweile ein echtes Armutsrisiko:<br />
156 Millionen Menschen in Europa seien<br />
armutsgefährdet, wenn man die Wohnkosten<br />
berücksichtigt.<br />
Wir sind auch online!<br />
News, Interviews, Kommentare.<br />
4<br />
5
Gibt es einen <strong>humanistisch</strong>en Witz?<br />
Marco Schrage macht sich auf die Suche, stößt<br />
auf humoristische Abgründe und schöpft Mut<br />
in bunten Fantasywelten.<br />
Lach doch mal<br />
Illustrationen: © Martin Rollmann<br />
<strong>#13</strong> / April <strong>2021</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />
M<br />
an sagt sozialen Netzwerken gerne nach,<br />
dass Menschen dort im Grunde nichts<br />
Neues lernten. Wer sich eine Weile dort<br />
bewegt, heißt es, wer sich zu diesen Themen äußert<br />
und jene Werbung anklickt, bekommt vor allem das<br />
angezeigt, was einem ohnehin schon gefällt. Echokammer-Effekt<br />
nennt man das dann. Feeds auf<br />
Social Media sind demzufolge vor allem der Widerhall<br />
des eigenen Selbst. Zufallsbegegnungen und<br />
überraschende Erkenntnisse, für all das mag es<br />
den jeweils passenden Ort geben, nur auf Facebook<br />
und Co. findet man den eben nicht.<br />
Sie, liebe*r Leser*in, dürfen deshalb also ruhig<br />
über meine persönlichen Vorlieben spekulieren,<br />
wenn ich Ihnen jetzt erzähle, dass in meinen Facebook-Feed<br />
kürzlich das recht kuriose Video eines<br />
fast 100-jährigen US-Amerikaners gespült wurde.<br />
Dieser Mann, etwas füllig und leicht lispelnd,<br />
erzählte einen Witz. Der allein wäre – es ist eine<br />
anzügliche kleine Geschichte über einen jüdischen<br />
Varieté-Künstler in Kansas City, der mit einem<br />
bestimmten und ungewöhnlich großen Körperteil<br />
Walnüsse zertrümmert – nun nicht weiter der Rede<br />
wert, würde er nicht von einem interessanten Kommentar<br />
begleitet: „Für mich verkörpert er [der Witz,<br />
Anm. d. A.] alles, was man von einem ‚jüdischen‘<br />
Witz erwartet“, stand da. Und weiter: „Er schafft<br />
es, das Gefühl der Besonderheit, des Andersseins<br />
mit dem Elan eines übergroßen und ungewöhnlichen<br />
Talents zu kombinieren, und untergräbt das<br />
Ganze noch durch eine unerwartete Schwäche.“<br />
Auf der Suche<br />
Es waren nur diese zwei Sätze, die mich, als ob sie<br />
alles eingangs Erwähnte Lügen strafen wollten,<br />
tatsächlich auf neue Ideen brachten. In dieser<br />
Kürze sehr prägnant und klar definierten sie nämlich,<br />
was „jüdischen“ Witz ausmachen könnte. Vor<br />
allem aber, und da wurde es für mich interessant,<br />
weil ich mich für diese Ausgabe unserer Zeitschrift<br />
schon mit <strong>humanistisch</strong>em Humor zu beschäftigen<br />
begann, warfen sie die Frage auf, ob sich Ähnliches<br />
auch über <strong>humanistisch</strong>en Witz sagen, ob auch er<br />
sich in dieser Kürze typisieren und beschreiben<br />
ließe. Und wenn: Wie sähe ein <strong>humanistisch</strong>er Witz<br />
dann aus? Ich begann zu suchen.<br />
Um das Ergebnis meiner Suche vorwegzunehmen:<br />
Fündig geworden bin ich nicht so richtig.<br />
Weder wurden über <strong>humanistisch</strong>en Humor Bücher<br />
geschrieben – über jüdischen oder jiddischen<br />
Witz hingegen sind es mehr als ich zählen kann –,<br />
noch gibt es in sozialen Netzwerken, wo Menschen<br />
einander sogar „deutsche Witze“ erzählen (sie sind<br />
nicht lustig und drehen sich oft um Autos), Seiten<br />
oder Gruppen, die sich einem wie auch immer<br />
gearteten <strong>humanistisch</strong>en Witz widmen würden.<br />
Humor und Humanismus, so mag es scheinen,<br />
gehören einfach nicht zusammen. Sie tun es in gewisser<br />
Weise natürlich sehr wohl, nur in einer viel<br />
weniger augenfälligen Art und Weise.<br />
Witz und Aggression<br />
Vielleicht liegt es daran, dass <strong>humanistisch</strong>e Themen<br />
so schwer sind und in Deutschland in aller Regel<br />
ebenso wenig über solche Themen gelacht wird<br />
wie wissenschaftliche Arbeiten in einer allgemeinverständlichen<br />
Sprache geschrieben sein dürfen<br />
– das wichtige Anliegen wäre diskreditiert und die<br />
Abhandlung unwissenschaftlich. Wo man sonst<br />
sich von göttlichen Autoritäten verabschiedet hat,<br />
hält man doch den heiligen Ernst in Ehren. Selbstironie<br />
oder Albernheiten verbieten sich geradezu.<br />
Oft ist im organisierten Humanismus hierzulande<br />
von hohen Werten die Rede, von Menschenwürde,<br />
Gleichberechtigung, Toleranz und Vernunft zum<br />
Beispiel. Sie alle sind wichtig, keine Frage, doch<br />
von Humor spricht fast niemand.<br />
Es ist jetzt fast drei Jahre her, ich war gerade<br />
am zweiten Abend des HumanistenTag 2018 in<br />
Nürnberg im Einsatz, da kündete ich, die Begleitung<br />
von Events auf sozialen Medien gehört<br />
mittlerweile ja zum guten Ton der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit,<br />
den Auftritt des Kabarettisten<br />
Vince Ebert mit einem Tweet an. „Vince Ebert eröffnet<br />
den Humoristentag 2018“, behauptete ich da,<br />
in aller gebotenen Kürze, schon müde von einem<br />
langen Tag und sicher nicht mathematisch präzise.<br />
Zugegeben, ich habe schon bessere Witze in meinem<br />
Leben gemacht als in dieser spezifischen Situation<br />
(es waren nicht viele, aber immerhin), und<br />
doch schien mir die Antwort, die ich wenig später<br />
auf meinen Wortwitzversuch erhielt, so unangemessen<br />
wie bezeichnend: „Vince Ebert hat den Humanistentag<br />
nicht eröffnet, das war gestern Abend<br />
Prof. Heiner Bielefeldt. Ebert hat den heutigen Tag<br />
mit seiner Kabarett-Vorstellung ausklingen lassen.<br />
Seid Ihr eigentlich bei Eurer eigenen Veranstaltung<br />
dabei??“<br />
Klar, der User, der mir nach etwa drei Stunden<br />
antwortete, hatte ja recht. Vince Ebert hatte den<br />
Humanistentag nicht eröffnet. Nun wurde das in<br />
dem Tweet auch gar nicht behauptet, doch sollen<br />
derlei Textdiskussionen das Thema hier nicht<br />
sein. Bezeichnend scheint mir eher der belehrende<br />
bis zurechtweisende Ton der Antwort, der in der<br />
7
<strong>humanistisch</strong>! <strong>#13</strong> / April <strong>2021</strong><br />
<strong>#13</strong> / April <strong>2021</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />
Evolutionsbiologisch<br />
liegen das Lachen und das<br />
Zähnefletschen ohnehin nicht<br />
so weit auseinander.<br />
sogenannten säkularen Szene oft auch dann angeschlagen<br />
wird, wenn es tatsächlich einmal witzig<br />
werden soll.<br />
Denn merke: Witze in der sogenannten säkularen<br />
Szene richten sich – und hier unterscheiden<br />
sie sich vom jüdischen Witz - nie gegen sich selbst.<br />
Eher neigen sie, wie schon Sebastian Rothlauf in<br />
seinem Editorial für diese Ausgabe richtig bemerkt,<br />
zu einer zynischen Arroganz, die vor allem<br />
über die Unzulänglichkeiten anderer lacht. Ihr<br />
beliebtestes Ziel: Kirchen und Gläubige, wobei<br />
letztere immer wieder mit dem Kampfbegriff<br />
„Religioten“ belegt werden. Karikaturen kursieren<br />
in atheistischen Foren, der Humanistische Pressedienst<br />
hat sogar eine Rubrik für sie eingerichtet,<br />
von der er ehrlicherweise gar nicht erst behauptet,<br />
sie sei witzig. Er nennt sie nur „Spott sei Dank“.<br />
Wenigstens ein Kunstpreis wird in Deutschland<br />
für (vorgeblich) <strong>humanistisch</strong>en Witz vergeben.<br />
Preiswürdig soll demnach sein, wer sich<br />
„ohne Schere im Kopf mit den sogenannten ewig<br />
währenden Wahrheiten und Autoritäten“ auseinandersetzt,<br />
doch man ahnt schon: Viel mehr als<br />
die nimmermüde Variation des Immergleichen, die<br />
Verächtlichmachung von Menschen nämlich, die<br />
man für weniger aufgeklärt hält als sich selbst,<br />
wird nicht geboten. Es ist ein Elend.<br />
Platon und Aristoteles setzten, wie später<br />
übrigens auch Thomas Hobbes, dessen schrecklich<br />
wölfischer Philosophie ein paar Pointen nur gut<br />
getan hätten, Humor und Schadenfreude in eins.<br />
In ihrer pessimistischen Sicht auf den Menschen<br />
war Lachen meist nur Ausdruck gefühlter Überlegenheit.<br />
Wer lachte, tat dies über die Missgeschicke<br />
anderer, in der tiefen Überzeugung, es besser<br />
zu wissen oder besser zu können, mithin besser<br />
dran zu sein als die armen Teufel, über die man<br />
sich erhebt. Kein Wunder also, dass Humor für die<br />
alten griechischen Philosophen, mit den Worten<br />
der Psychologin Marion Bönsch-Kauke, nicht<br />
weniger als ein „Inbegriff des Bösen im Menschen“<br />
war und damit sicherlich nichts, womit man sich<br />
schmückte. Evolutionsbiologisch liegen das Lachen<br />
und das Zähnefletschen ohnehin nicht so weit auseinander.<br />
Die Grenzen zur aggressiven Drohgebärde<br />
sind fließend.<br />
Humanistisch lachen<br />
Diese Sicht auf den Humor ist freilich arg verkürzt,<br />
und doch nicht völlig falsch. Es gäbe keinen<br />
Grund, über Antisemitismus im Kabarett oder<br />
frauenfeindliche Witze unter Showmastern zu<br />
diskutieren, wenn nicht unablässig der Stoff dafür<br />
geliefert würde. Manche Witze wollen verletzen<br />
und erfüllen gar keinen anderen psychologischen<br />
Zweck als denjenigen, den schon Platon und Aristoteles<br />
beschrieben und der sie ihrerseits mit einer<br />
gewissen Abscheu auf Humor blicken ließ. Es ist<br />
insofern die eher abgründige Seite des Humors, die<br />
sich auch in den erwähnten Karikaturrubriken auf<br />
<strong>humanistisch</strong>en Seiten auftut.<br />
Und dennoch: Es wäre falsch, Humanismus humorlos<br />
zu nennen. Gerade der britische Humanismus<br />
hat Persönlichkeiten hervorgebracht, die beweisen,<br />
wie hintergründig gewitzt und urkomisch<br />
Humanismus sein kann. Denken wir nur an Terry<br />
Pratchett und seine von Schildkröten getragenen<br />
Scheibenwelten. Oder erinnern wir uns an Stephen<br />
Fry mit seiner Ode an den Kakapo. Oder an Douglas<br />
Adams, der nicht nur überbordende Bürokratie<br />
auf die Schippe nahm, sondern dabei auch noch so<br />
lustig über vogonische Dichtkunst und das kurze<br />
Leben eines Pottwals schrieb.<br />
Ja, es gibt ihn, den <strong>humanistisch</strong>en Witz, in<br />
dem letztlich all das eine Rolle spielt, was für<br />
eine <strong>humanistisch</strong>e Lebenseinstellung wichtig ist:<br />
Menschlichkeit und Respekt für seine Umwelt,<br />
wissenschaftliche Neugier und Toleranz. Nicht zu<br />
unterschätzen ist schließlich, wie wichtig Humor<br />
für ein gelingendes Zusammenleben sein kann.<br />
Wie der Comedian Robin Ince betont (siehe das<br />
Interview auf Seite 9), kann gerade Humor das<br />
Vehikel sein, auch über belastende oder gar traumatische<br />
Erfahrungen zu sprechen, über die sonst<br />
geschwiegen würde. Ob der Witz, über den man<br />
letztlich ins Gespräch kommt, von seinem Inhalt<br />
her ausdrücklich <strong>humanistisch</strong> ist, ist dabei gar<br />
nicht so sehr von Belang. Entscheidend ist, ob er<br />
den <strong>humanistisch</strong>en Zweck erfüllt: Hilft er uns,<br />
miteinander zu sprechen? Bringt er uns näher,<br />
lindert er unsere Sorgen und macht unseren Tag<br />
besser? Dann wird dieser Witz als <strong>humanistisch</strong><br />
gelten dürfen.<br />
Leider wird dieser <strong>humanistisch</strong>e Humor mitunter<br />
von dem aggressiven Gebell gegen Religion<br />
übertönt, der einem in als <strong>humanistisch</strong> bezeichneten<br />
Kreisen noch unterkommt. Doch das muss ja<br />
nicht so bleiben. Was meinen Sie, sollten wir nicht<br />
endlich auch auf Facebook über <strong>humanistisch</strong>en<br />
Witz diskutieren? Es wäre an der Zeit.<br />
Marco Schrage<br />
Foto: © Robin Ince<br />
Robin Ince, gehören Humor<br />
und Humanismus für Sie zusammen?<br />
Robin Ince Unsere Absurdität ist<br />
einer der ergiebigsten Quellen für Humor,<br />
ob bei Samuel Beckett, Laurel und<br />
Hardy oder Will Ferrell. Es gibt wenig<br />
Absurderes als ein Wesen, das neugierig<br />
ist, Fragen stellt und sich seines<br />
eigenen unausweichlichen Todes bewusst<br />
ist. Ich bin mir nicht sicher, inwieweit<br />
meine <strong>humanistisch</strong>e Prägung<br />
bei der Suche nach Humor eine Rolle<br />
spielt, aber zumindest erlaubt sie mir,<br />
sämtliche Dinge ohne Angst vor Verdammung<br />
durch eine göttliche Instanz<br />
zu betrachten. Ich glaube auch, Humanismus<br />
könnte eine Rolle dabei spielen,<br />
wie man über die Wirkung von Witzen<br />
auf Menschen nachdenkt. Obwohl ich<br />
denke, dass man über alles einen Witz<br />
machen kann, wenn man das möchte,<br />
nehme ich die möglichen Kollateralschäden<br />
sehr ernst. Mein verstorbener<br />
Freund Barry Crimmins, ein großartiger<br />
Aktivist, sagte einmal: „Worte können<br />
Granatsplitter sein, man muss darüber<br />
nachdenken, wo man sie versprüht.“<br />
Was kann Humor zu einer <strong>humanistisch</strong>en<br />
Lebensführung beitragen?<br />
RI Eines der größten Potenziale von Humor – also<br />
abgesehen davon, jemanden zum Lachen zu bringen<br />
– liegt meines Erachtens darin, dass Humor es erlaubt,<br />
über bestimmte Dinge zu sprechen, und er etwas von<br />
dem Menschen offenbart, das in der Regel verborgen<br />
bleibt, wenn wir unsere sozialen Masken tragen. Wir<br />
sind Narren, also dürfen wir uns an Orte oder Gedanken<br />
wagen, die uns ängstigen oder tabuisiert sind. Es<br />
ist eine große Chance, mit Humor das Menschliche zu<br />
erforschen.<br />
Hilft uns Humor dabei, den Zustand der Welt besser<br />
zu ertragen?<br />
RI Ich habe mit einigen Therapeut*innen darüber<br />
gesprochen (natürlich habe ich mit Therapeut*innen gesprochen,<br />
ich bin Komiker, irgendwann landen wir doch<br />
alle auf der Couch) und verstanden, dass abgrundtief<br />
brutale Witze uns oft nur vermeintlich mit einer Situation<br />
klarkommen lassen. Dabei lenken sie uns in Wahrheit<br />
nur kurz von einer Sache ab, die uns innerlich zerreißt.<br />
Und dann gibt es Witze, die uns das Komische an<br />
einer Situation sehen lassen, uns gleichzeitig aber dabei<br />
INTERVIEW<br />
„ES GIBT WENIG<br />
ABSURDERES<br />
ALS EIN WESEN,<br />
DAS NEUGIERIG<br />
IST.“<br />
Robin Ince (*1969) ist<br />
Schriftsteller, Schauspieler<br />
und Stand-Up-Comedian.<br />
Zusammen mit dem<br />
Physiker Brian Cox führt<br />
er im Radioprogramm der<br />
BBC durch die mehrfach<br />
preisgekrönte Wissenschafts-<br />
und Comedysendung<br />
„The Infinite<br />
Monkey Cage“. Für seine<br />
Verdienste um die Wissenschaft<br />
wurde ihm vom<br />
Royal Holloway College der<br />
Universität London die<br />
Ehrendoktorwürde<br />
verliehen. Ince ist erklärter<br />
Atheist und Patron der<br />
Humanists UK.<br />
helfen, sie zu akzeptieren. Ich erinnere<br />
mich an eine interessante Erfahrung<br />
in diesem Zusammenhang: Als meine<br />
Mutter starb und ich ein paar Tage später<br />
auf der Bühne stand und irgendwie<br />
einen Weg finden musste, mit der Situation<br />
umzugehen, in der ich mich eben<br />
befand. Ein paar gute Witze sind mir<br />
wohl gelungen, und sie führten dazu,<br />
dass die Leute hinterher auf mich zukamen<br />
und über ihre eigenen Trauererfahrungen<br />
sprechen wollten oder darüber,<br />
wie bei einer Beerdigung etwas<br />
Lustiges passiert ist. Oder sie berichteten<br />
mir von seltsamen Momenten, als<br />
sie jemanden verloren, den sie liebten.<br />
Da liegt der Humanismus in der Komik:<br />
Er kann eine Verbindung schaffen oder<br />
uns selbst über schmerzvolle Erfahrungen<br />
ins Gespräch kommen lassen. Die<br />
kurze Antwort auf die Frage ist demzufolge:<br />
ja.<br />
Wie wird Ihre Comedy von Humanismus<br />
beeinflusst? Und beeinflusst Comedy<br />
umgekehrt ihre <strong>humanistisch</strong>e<br />
Weltanschauung?<br />
RI Eigentlich glaube ich nicht, dass<br />
beides sich gegenseitig beeinflusst,<br />
aber wenn man – wie ich – in einem gottlosen Universum<br />
lebt, könnte genau das einer der Gründe sein, warum<br />
man immer mehr und mehr und mehr wissen will.<br />
Ich habe einen nicht zu stillenden Wissensdurst. Ich will<br />
begreifen, warum das Universum so ist, wie es ist, und<br />
warum wir so sind, wie wir sind. Lernen ist für mich fast<br />
ein religiöses Ritual, ich habe einen unbändigen Hunger,<br />
weil ich glaube, dass es keine einfachen Antworten gibt.<br />
Mein hektischer und sprunghafter Stil auf der Bühne<br />
und im Gespräch spiegelt das in gewisser Weise wider.<br />
Würden Sie der Idee zustimmen, dass Humanismus<br />
eher sauertöpfisch daher kommen kann? Anders gefragt:<br />
Nimmt Humanismus sich selbst zu ernst?<br />
RI Ach, alle Menschen bewegen sich gleichermaßen<br />
auf einem schmalen Grat, wenn es darum geht, das Leben<br />
ernst zu nehmen und gleichzeitig zu akzeptieren,<br />
dass es im Grunde lächerlich ist und wir genauso lächerlich<br />
sind. Ich meine aber, dass es sehr wohl möglich ist,<br />
das Leben ernst zu nehmen, gleichzeitig aber auch anzuerkennen,<br />
dass es doch nur die Bühne bereitet für den<br />
einen, endgültigen Witz.<br />
8<br />
9
2004<br />
ermittelte das Laugh Lab im Rahmen eines wissenschaftlichen Projekts den<br />
besten Witz der Welt. Viele Witze wurden aufgrund kultureller und sprachlicher<br />
Barrieren nicht berücksichtigt. Dieser Witz g ewann:<br />
„Jemand, der<br />
Sie zum Lachen<br />
bringt, ist ein<br />
Komiker.<br />
Jemand, der<br />
Sie erst zum<br />
Nachdenken bringt<br />
und dann zum<br />
Lachen, ist ein<br />
Humorist.“<br />
1<br />
Minute lang wird am 1. Sonntag im Mai,<br />
dem offiziellen Weltlachtag,<br />
europaweit um 14 Uhr (deutsche Zeit)<br />
gemeinsam gelacht.<br />
60o0<br />
Lachclubs gibt es weltweit in<br />
mehr als 100 Ländern. Diese sind aus der<br />
Schule des Lachyogas entstanden.<br />
Zwei<br />
Jäger gehen auf die Jagd und wandern durch den Wald.<br />
Plötzlich greift sich der eine an die Kehle und stürzt zu Boden.<br />
Der andere Jäger gerät in Panik und ruft den Notarzt an:<br />
„Ich glaube mein Freund ist tot, was jetzt?“<br />
Der Arzt sagt: „Beruhigen Sie sich! Zunächst einmal<br />
müssen Sie sicher gehen, dass Ihr Freund wirklich tot ist.“<br />
Kurze Pause, dann ein Schuss.<br />
Dann kommt er wieder ans Telefon.<br />
„OK, erledigt, und was jetzt?“<br />
2008<br />
wurde an der Universität von Colorado der Zusammenhang<br />
von Humor und Intelligenz untersucht. Mit dem Ergebnis:<br />
Wer beim Intelligenztest gut abschneidet, ist auch<br />
überdurchschnittlich humorvoll.<br />
George Burns (1896-1996)<br />
George Burns (bürgerlicher Name: Nathan Birnbaum) wurde am<br />
20. Januar 1896 geboren und war US-amerikanischer Schauspieler,<br />
Komiker und Autor. Er moderierte von 1934-1950 mit seiner Frau<br />
Gracie Allen eine der erfolgreichsten Radioshows der USA.<br />
300<br />
Muskeln werden<br />
von Kopf bis<br />
Bauch beim<br />
Lachen angespannt.<br />
17 dieser Muskeln<br />
befinden sich im<br />
Gesicht.<br />
4<br />
88%<br />
der Befragten war Otto Walkes bei<br />
einer Umfrage aus dem Jahr 2018<br />
ein Begriff. Diese Zahl machte ihn zum<br />
bekanntesten deutschen Komiker.<br />
2018<br />
nannten Befragte einer weiteren Umfrage<br />
Helge Schneider und Jan Böhmermann<br />
als unlustigste deutsche Komiker*<br />
* Anmerkung der Redaktion: wir würden diesen Titel gerne<br />
an Mario Barth und Dieter Nuhr weitergeben.<br />
Körpersäfte bilden das etymologische Fundament des<br />
lateinischen Begriffs „Humor“. Die Humoralpathologie (oder<br />
auch Vier-Säftelehre) ging von der Antike bis ins 19. Jahrhundert davon<br />
aus, dass der Gesundheitszustand in der Mischung der vier Körpersäfte –<br />
Blut, gelbe Galle, schwarze Galle und Schleim – begründet ist.
<strong>#13</strong> / April <strong>2021</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />
I<br />
n der Hauptstadt eröffnet ein neues<br />
Museum: das Disgusting Food Museum<br />
Berlin. Was hat es damit auf<br />
sich? Warum ausgerechnet für den<br />
Ekel einen Kulturort schaffen? Schließt<br />
Kultur alles Unschöne und Ekelhafte<br />
nicht aus? In kulturwissenschaftlicher<br />
Hinsicht ist das keineswegs ausgemacht.<br />
Im Ekel steckt das Potenzial, Menschen<br />
und ihre Überzeugungen und Lebensgewohnheiten<br />
kennenzulernen. Der Ekel ist<br />
Ich ekle<br />
mich,<br />
also<br />
bin<br />
ich.<br />
Ein<br />
neues<br />
Museum<br />
für alle<br />
Sinne<br />
ein Prisma kultureller Selbstverständnisse.<br />
<strong>Das</strong> lässt sich in größere Zusammenhänge<br />
einordnen.<br />
Lob des Denkens<br />
Der französische Philosoph René Descartes<br />
steht am Anfang jenes Prozesses,<br />
den wir Aufklärung nennen. Aufklärung<br />
als Ausgang des Menschen aus der mittel-<br />
Foto: © DFM, HV<br />
alterlichen Licht- und Vernunftlosigkeit<br />
wie religiösen Bevormundung. Dieser<br />
Prozess brachte seit dem 17. Jahrhundert<br />
mehr mit sich als die Erlaubnis, sich in<br />
einer vermeintlich von Gott geschaffenen<br />
Welt aufhalten und nützlich machen dürfen.<br />
Die Welt wurde dem Menschen übergeben<br />
und in dessen Gestaltungsmacht<br />
überführt. Cogito ergo sum. Ich denke,<br />
also bin ich. Die Welt geht als Erfindung<br />
aus dem Denken des Einzelmenschen hervor.<br />
<strong>Das</strong> Selbstdenken sichert die Existenz<br />
des Menschen und sorgt dafür, dass<br />
immer neue und immer andere Welten<br />
entstehen können. Diese Macht des individuellen<br />
Gedankens sowie die Pluralität<br />
der Denkinhalte stößt jeden Dogmatismus,<br />
den religiösen wie den politischen,<br />
vom Sockel. Beides bildet das Fundament<br />
der westlichen Demokratien.<br />
Lob des Empfindens<br />
Soweit die Theorie und die Hoffnungen<br />
und Wünsche, die man aus ihr ableiten<br />
kann. Jeder von uns weiß allerdings<br />
und macht täglich die Erfahrung, dass<br />
die Praxis der Theorie zuwiderläuft, die<br />
Realitäten ganz anders verfasst sind<br />
und funktionieren, als man es sich vorher<br />
gedacht hatte. <strong>Das</strong> ist das Prinzip<br />
Olsenbande: Egon hat einen mächtig<br />
gewaltigen Plan, und der geht meistens<br />
schief. Auf die Entwicklung der neuzeitlichen<br />
Philosophie bezogen lässt sich daher<br />
sagen, dass zu der Macht des Denkens etwas<br />
anderes hinzukommen musste, damit<br />
sich der Mensch nicht ausschließlich im<br />
Virtuellen bewegt und dort verirrt, sondern<br />
er sich seine Lebenswelt tatsächlich<br />
aneignen kann. Diesem Themenkomplex<br />
widmet sich die neuartige Wissenschaftsdisziplin<br />
Ästhetik ab der Mitte des 18.<br />
Jahrhunderts. Zum Verständnis des Menschen<br />
als Wesen, das denkt, gehört die<br />
Erkenntnis des Menschen als Wesen, das<br />
empfindet, riecht und schmeckt. In der<br />
Erkenntnis der sinnlichen Vermögen des<br />
Menschen steckt die Entdeckung seiner<br />
realen Lebenswelt. Alles Ertastbare und<br />
in uns Einströmende macht diese aus. Die<br />
Welt muss für uns konkret werden, damit<br />
sie uns nicht suspekt bleibt. Ohne Verständnis<br />
und Einsatz der Sinne geht uns<br />
die Welt verloren.<br />
Darfs mehr<br />
als geschönt sein?<br />
Wer sich heute umblickt, findet sich in<br />
einer Überfülle ästhetischer Phänomene<br />
und Reize wieder: alles ist bunt, blinkt<br />
und tönt, das Design ist ein Bestandteil<br />
des Seins. Dennoch dominieren, bereits<br />
vor Corona, die Fernsinne, das Sehen und<br />
Hören aus sicherer Distanz. Wirklich und<br />
gefährlich nahe kommen wir den Dingen<br />
nicht mehr. Und wenn uns die Dinge nahekommen,<br />
wollen wir sie kontrollieren,<br />
damit sie unsere Wohlfühlblase nicht beschädigen.<br />
Körpergerüche müssen ausgetilgt<br />
oder gepimpt werden, wir essen nur<br />
Fleisch, das möglichst untierisch, also<br />
neutral oder überwürzt, schmeckt und<br />
optisch keinem Tier mehr zuzuordnen<br />
ist. Aber: Wo lebt das Schnitzeltier? Wie<br />
fängt man Fischstäbchen? <strong>Das</strong> Disgusting<br />
Food Museum Berlin macht bewusst<br />
und erlebbar, dass wir uns gewissermaßen<br />
in einer Scheinwelt bewegen, in einer<br />
Welt der Surrogate, der schönen Oberflächenreize,<br />
der optimierten Sinnlichkeit.<br />
Welchen Ekel blenden wir aus, wenn es<br />
um die Produktion von Nahrungsmitteln<br />
geht? Jeder liebt das sommerliche<br />
Grillen, aber kaum einer möchte wissen,<br />
wie es um das Nackensteak bestellt war,<br />
als es noch eine Steckdosennase und ein<br />
Ringelschwänzchen besaß, es verängstigt<br />
in Enge und ohne Tageslicht ausharren<br />
musste, um nach Irrwegen auf europäischen<br />
Autobahnen irgendwo geschlachtet<br />
und zerlegt zu werden. <strong>Das</strong> Disgusting<br />
Food Museum Berlin schaut hinter dieses<br />
Unkenntlichmachen unserer Nahrung.<br />
Schmeckt uns die Gänseleber noch, wenn<br />
wir den Leidensweg der Tiere kennen und<br />
diesen zusammen mit dem Trichter zum<br />
Stopfen des Geflügels in der Ausstellung<br />
direkt vor uns sehen?<br />
Den Ausbruch wagen<br />
<strong>Das</strong> Disgusting Food Museum Berlin<br />
führt mit über 90 Exponaten vor Augen<br />
bzw. vor die Nase und in den Mund, was<br />
wir am liebsten ausblenden: das Stinkende,<br />
das Blutige, alles Innere, dessen schöne<br />
Hülle wir bevorzugen. Wir blenden das<br />
aus, weil es uns an die eigene tierische<br />
Existenz erinnert, an jene Welt, der wir<br />
entwachsen sind, der wir entfliehen wollen,<br />
weil sie uns evolutionär festlegen<br />
12<br />
13
<strong>humanistisch</strong>! <strong>#13</strong> / April <strong>2021</strong><br />
<strong>#13</strong> / April <strong>2021</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />
will. <strong>Das</strong> ist allerdings nur die halbe<br />
Wahrheit: Mit dem Grad der Kultiviertheit<br />
und Zivilisiertheit wächst ebenso das<br />
Bedürfnis, aus dem Korsett des schönen<br />
Scheins auszubrechen. Der Ekel in all<br />
seinen Formen wirkt wie ein Extremsport.<br />
Eine außergewöhnliche, körperlich<br />
aufwühlende Erfahrung lässt uns wieder<br />
fühlen, dass wir sind, zusammengesetzt<br />
aus Fleisch und Blut. Der stinkende, deformierte,<br />
übel schmeckende, uns in der<br />
Vorstellung verstörende Ekel ist jene Praxis,<br />
von der sich die Theorie keinen Begriff<br />
machen kann. Stellen wir uns dieser<br />
Realität, dann gehen wir dem entgegen,<br />
was man Ganzheit nennen mag.<br />
Streit und neue Perspektiven<br />
Der Ekel ist universell, und er ist es nicht.<br />
Jeder kennt das Gefühl des Ekels und<br />
ekelt sich, aber jeder ekelt sich eben anders.<br />
Den Ekel macht interessant, dass er<br />
je nach sozialer Herkunft und landestypischer<br />
Sitte ein anderer ist. Wer sich mit<br />
dem Ekel beschäftigt, beschäftigt sich<br />
mit dem bevorzugten oder abgelehnten<br />
Schmecken, Riechen und Tasten anderer<br />
Menschen. Damit stellt sich die Frage, ob<br />
wir bereit dazu sind und tolerant genug,<br />
den eigenen Ekel zu überwinden, weil<br />
dieser Ekel einen Wohlgenuss für andere<br />
Leute darstellt. Mich ekelt, was dich<br />
erfreut: <strong>Das</strong> mag eine Zumutung sein, es<br />
ist aber auch eine Einladung, die eigene<br />
Geschmacksblase aufzulösen und sich zu<br />
fragen, wie es denn sein kann, dass das<br />
Ekelhafte auch das Wunderbare ist. Über<br />
den Geschmack, über den Ekel ganz besonders,<br />
lässt sich trefflich streiten, und<br />
aus jedem Streit gehen neue Gedanken,<br />
Sichtweisen und vielleicht auch Vorlieben<br />
und sogar Freundschaften hervor.<br />
Insofern verbindet uns der Ekel, obwohl<br />
er uns zunächst voneinander zu trennen<br />
scheint.<br />
Was is(s)t der Mensch?<br />
Mit dem Ekel lässt sich die Entwicklungsgeschichte<br />
des Menschen erzählen. Der<br />
Ekel hatte und hat auch die Funktion,<br />
uns vor schädlichen Nahrungsmitteln zu<br />
bewahren. Ohne Ekelgefühl keine Entwicklungsgeschichte,<br />
weil ein falsches,<br />
nach Verwesung riechendes Mahl jedes<br />
Fortleben sofort beendet hätte. Der Ekel<br />
markiert ferner den Übergang von der<br />
Naturgeschichte zur Kultur- und Sozialgeschichte<br />
des Menschen, weil der Ekel<br />
das Leben strukturiert und ordnet: Jede<br />
Machtinstanz gibt zu verstehen, welche<br />
Nahrungsmittel erlaubt und welche<br />
gemieden werden sollten. Dabei geht es<br />
meistens weniger um den körperlichen<br />
Schaden, den Nahrungsmittel auslösen<br />
können, sondern um die Zugehörigkeit<br />
von Menschen, um ihre Unterscheidbarkeit<br />
und Abgrenzung gegenüber anderen<br />
Gruppen. In dieser Weise lassen sich religiöse<br />
Nahrungsgebote und -verbote verstehen.<br />
„Auch esset nichts Unreines und<br />
Ekelhaftes.“ So übersetzt Eucharius Ferdinand<br />
Christian Oertel 1817 eine Stelle<br />
aus der Bibel, aus dem fünften Buch<br />
Mose. <strong>Das</strong> Nachdenken über ästhetische<br />
und geschmackliche Fragen im 18. und<br />
19. Jahrhundert ist mitzudenken, wenn<br />
man Aufklärung und Säkularisierung als<br />
Einheit sieht. Die Sinnlichkeit unterläuft<br />
die Herrschaft der absolutistischen Vernunft<br />
wie der entstofflichten Kirche. Die<br />
Befreiung des individuellen Geschmacks<br />
geht einher mit dem Abwerfen politischer<br />
und religiöser Ketten. Der Mensch ist nur<br />
da frei, wo er essen kann, was ihm beliebt,<br />
und wo er ablehnen darf, was ihm<br />
geschmacklich unbehaglich erscheint.<br />
<strong>Das</strong> eine wie das andere ändert sich von<br />
Lebensphase zu Lebensphase. Insofern<br />
befeuert das Disgusting Food Museum<br />
Berlin das eigene Nachdenken über alte<br />
und künftige Essgewohnheiten. Ein aufmerksamer<br />
Gang durch die Ausstellung<br />
verdeutlicht, dass die heute viel beschworene<br />
Empathie weiter gefasst werden<br />
muss: Sehen wir sie nicht allein als die<br />
Bereitschaft, sich in die Einstellungen<br />
anderer Menschen einzufühlen, sondern<br />
als die Fähigkeit, sich in die Ernährungsund<br />
Genusskulturen anderer einzuschmecken.<br />
Der Ekel ist weniger ekelhaft<br />
als gedacht, wenn ich ihn selbst erlebt<br />
habe, um die Welt und ihre Menschen<br />
sinnlich-konkret kennenzulernen.<br />
Martin A. Völker<br />
Im DISGUSTING FOOD MUSEUM BERLIN<br />
präsentieren wir 90 der ekelhaftesten Lebensmittel<br />
der Welt. Infos auf Facebook und<br />
unter disgustingfoodmuseum.berlin<br />
Anrufen<br />
und abholen<br />
Gegen die wachsende Versorgungslücke im Lockdown hat die Humanistische<br />
Vereinigung in ihren Nürnberger „Kleiderläden für alle“<br />
einen Abholservice eingerichtet. Damit sollen Menschen mit geringen<br />
Einkommen weiterhin an preisgünstige Kleidung kommen können.<br />
Zum Zeitpunkt unseres Redaktionsschlusses durften in Bayern nur<br />
„für die tägliche Versorgung unverzichtbare Ladengeschäfte“ öffnen,<br />
außerdem seit dem 1. März auch Baumärkte und Gärtnereien. Jeder<br />
andere Einzelhandel blieb geschlossen. Für Menschen mit geringem<br />
Einkommen ist das ein großes Problem, sind es doch gerade Einrichtungen<br />
wie die Kleiderläden der Humanistischen Vereinigung, in<br />
denen sie preisgünstig Kleidung erstehen können.<br />
In Anlehnung an die in Bayern erlaubte Möglichkeit des „Click &<br />
Collect“ hat die HV im Januar deshalb einen „Klingel & Collect“-Service<br />
für ihre Kleiderläden eingerichtet, der sich gezielt an von Armut<br />
betroffene Kundschaft richtet. Unter der jeweiligen Telefonnummer<br />
des Ladens können Kund*innen ihren Bedarf durchgeben, und nach<br />
Terminvereinbarung kann die Ware dann im Kleiderladen abgeholt<br />
werden. Bezahlung und Warenübergabe erfolgen kontaktlos vor der<br />
Ladentür.<br />
<strong>Das</strong> Serviceangebot galt zunächst bis zum 13. Februar, wurde<br />
aufgrund des andauernden Lockdowns aber verlängert. Adressen<br />
und Dienstzeiten unserer Kleiderläden sind zu finden unter<br />
<strong>humanistisch</strong>e-vereinigung.de.<br />
Anlaufstelle für<br />
Seeleute<br />
Regionalgeschäftsführer Jürgen Steinecke, Till Andrzejewski und Axel Kittel.<br />
Die Humanistische Vereinigung hat den „Seafarer‘s Social Service<br />
Oldenburg“ (SSSO) ins Leben gerufen. Am Hafen ist der SSSO nicht<br />
nur die erste und bislang einzige soziale Betreuungsstelle für Seeleute,<br />
er ist auch die erste <strong>humanistisch</strong>e Einrichtung dieser Art in<br />
Europa.<br />
Als ein sehr weit binnenwärts gelegener Seehafen hat Oldenburg<br />
den Besatzungen bislang keine soziale Betreuung gemäß<br />
Seearbeitsübereinkommen geboten. Diese Lücke konnte die HV nun<br />
schließen, insbesondere dank der beiden Oldenburger Humanisten<br />
Till Andrzejewski und Axel Kittel, die schon aus eigener beruflicher<br />
Erfahrung – der eine ist Oberkommissar der Wasserschutzpolizei, der<br />
andere Kapitänleutnant der Deutschen Marine – um die besonderen<br />
Bedürfnisse von Seeleuten wissen und gemeinsam mit dem Regionalgeschäftsführer<br />
der HV, Jürgen Steinecke, den neuen Seafarer‘s Social<br />
Service Oldenburg (SSSO) konzipierten.<br />
Anlaufstelle öffnet in Kürze<br />
Im Frühjahr wird der SSSO eine eigene Immobilie beziehen. Dort<br />
wird, sobald es das Infektionsgeschehen zulässt, die Anlaufstelle<br />
„50 Miles“ (die Nordsee ist 50 Seemeilen vom Oldenburger Hafen<br />
entfernt) eröffnen.<br />
Bis es so weit ist, werden Axel Kittel und Till Andrzejewski die<br />
Seeleute im Hafen an Bord aufsuchen und ein offenes Ohr für ihre<br />
Anliegen haben. Für die soziale Betreuung der Seeleute stehen der<br />
HV außerdem zertifizierte Seelsorger*innen, Pädagog*innen und<br />
Psycholog*innen zu Verfügung. Eine religiöse Betreuung kann auf<br />
Wunsch vermittelt werden. Und: Auch ehrenamtlich Mitarbeitende<br />
sind herzlich willkommen.<br />
Weitere Informationen unter 50miles.de oder per E-Mail an<br />
ssso@<strong>humanistisch</strong>e-vereinigung.de.<br />
14<br />
15
<strong>humanistisch</strong>! <strong>#13</strong> / April <strong>2021</strong><br />
<strong>#13</strong> / April <strong>2021</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />
Humanismus auf Sächsisch<br />
Die Humanistische Vereinigung (HV) setzt<br />
ihren bundesweiten Kurs weiter fort und<br />
engagiert sich nun auch in Sachsen. Seit<br />
Jahresanfang ist Michael Brade für die HV<br />
dort als Regionalbeauftragter tätig.<br />
Michael Brade ist seit vielen Jahren<br />
als engagierter Humanist bekannt. Er war<br />
maßgeblich mitverantwortlich für diverse<br />
<strong>humanistisch</strong>e Veranstaltungen in Dresden,<br />
darunter die Benefizkonzerte „Rocken für<br />
Socken“. Er betätigt sich als Feiersprecher (Zeremoniar) und Seelsorger.<br />
Projektbezogen arbeitet die HV bereits seit mehreren Jahren<br />
mit ihm zusammen.<br />
„Wir freuen uns sehr darüber, dass mit Michael Brade ein weiterer<br />
überzeugter Humanist nun auch ganz offiziell zu uns gestoßen ist und<br />
den praktischen Humanismus in Sachsen weiter vorantreiben wird“,<br />
erklärte HV-Vorstand Michael Bauer zum Amtsantritt des neuen<br />
Regionalbeauftragten. Seine ersten Aufgaben werden die Suche nach<br />
geeigneten Räumlichkeiten für die erste <strong>humanistisch</strong>e Anlaufstelle<br />
und der Aufbau eines Regionalbüros in der sächsischen Landeshauptstadt<br />
sein.<br />
Und eure<br />
Lockdown-Strategien?<br />
Als im April 2020 das Humanistische Studienwerk<br />
seine Fördertätigkeit aufnahm, da<br />
hatte niemand damit gerechnet, dass die<br />
Corona-Pandemie alle Pläne von gemeinsamen<br />
Veranstaltungen und Treffen für so<br />
lange Zeit über den Haufen werfen würde.<br />
Am 18. Februar dieses Jahres fand nun ein<br />
digitales Treffen für Stipendiat*innen und<br />
Vertrauenspersonen des Humanistischen Studienwerks statt.<br />
Im Stile einer digitalen WG-Party wurde in verschiedenen Räumen<br />
über das Studieren in Corona-Zeiten gesprochen, über Lockdown-<br />
Strategien, Humanismus als Lebenseinstellung oder den jüngsten<br />
Abschlussarbeitsstress.<br />
Die anschließende Feedbackrunde zeigte einhellig, dass es guttat,<br />
hinter den Namen endlich auch Gesichter zu entdecken. Der Wunsch,<br />
über die Hürden der Pandemie-Beschränkungen hinweg Kontakte zu<br />
knüpfen und das Interesse am Gegenüber waren bei allen Teilnehmenden<br />
spürbar. Immerhin: Als sich alle Teilnehmenden auf einer<br />
Landkarte einpinnten wurde deutlich, wie weit das im Aufbau befindliche<br />
Netzwerk engagierter <strong>humanistisch</strong>er Akademiker*innen schon<br />
jetzt reicht. Bei so vielen offenen, interessierten jungen Menschen<br />
kann man sich nur darauf freuen, es wachsen und gedeihen zu sehen.<br />
Weitere Informationen unter <strong>humanistisch</strong>es-studienwerk.de.<br />
Julia Friedrichs<br />
Working Class: Warum wir<br />
Arbeit brauchen, von der wir<br />
leben können<br />
„Ihr werdet es einmal schlechter<br />
haben!“ – Die Generation nach den Babyboomern<br />
ist die erste nach dem Zweiten<br />
Weltkrieg, die ihre Eltern mehrheitlich<br />
nicht wirtschaftlich übertreffen wird.<br />
Obwohl die Wirtschaft ein Jahrzehnt<br />
lang wuchs, besitzt die Mehrheit in diesem Land kaum Kapital, kein<br />
Vermögen. Doch sich Wohlstand aus eigener Kraft zu erarbeiten, ist<br />
schwieriger geworden, insbesondere für die, die heute unter 45 sind.<br />
Die Hälfte von ihnen fürchtet, im Alter arm zu sein. Was sind die Ursachen<br />
für diesen großen gesellschaftlichen Umbruch, wann fing es an?<br />
Julia Friedrichs spricht mit Wissenschaftlern, Experten und Politikern.<br />
Vor allem aber begleitet sie Menschen, die dachten, dass Arbeit<br />
sie durchs Leben trägt, die reinigen, unterrichten, Tag für Tag ins Büro<br />
gehen und merken, dass es doch nicht reicht. Sie sind die ungehörte<br />
Hälfte des Landes. Dieses Buch erzählt ihre Geschichte.<br />
Piper Verlag, München <strong>2021</strong>, 320 Seiten, gebunden, 22 Euro.<br />
Raymond Geuss<br />
Who Needs a World View?<br />
Wir leben in einem einheitlichen<br />
Zehn Kitas und<br />
der Schlüssel zur Welt<br />
<strong>Das</strong> Pumuckl-Haus in der Nürnberger Bogenstraße wurde in das Bundesprogramm<br />
„Sprach-Kitas: Weil Sprache der Schlüssel zur Welt ist“<br />
aufgenommen. Damit nehmen nun stolze zehn <strong>humanistisch</strong>e Kindertagesstätten<br />
am Programm teil.<br />
Der Kindergarten liegt mitten in der quirligen Nürnberger Südstadt,<br />
wo die Mehrzahl der Menschen familiäre Wurzeln im Ausland<br />
hat. Die Vielfalt des Stadtteils wird in der Einrichtung sichtbar, sie<br />
bereichert, stellt aber auch besondere Anforderungen an die Pädagog*innen.<br />
Diesen Anforderungen können Sprach-Kitas dank der Zuwendungen<br />
aus dem Bundesprogramm besser begegnen. Es wurde 2016 ins<br />
Leben gerufen, um die alltagsintegrierte sprachliche Bildung in Kitas<br />
zu stärken. Insbesondere Einrichtungen, die von vergleichsweise vielen<br />
Kindern besucht werden, deren Familiensprache nicht Deutsch ist<br />
oder die einen besonderen sprachlichen Förderbedarf haben, sollen<br />
von Bundesmitteln profitieren.<br />
<strong>Das</strong>s mit dem Pumuckl-Haus nun zehn <strong>humanistisch</strong>e Kindertagesstätten<br />
am Programm teilnehmen, erlaubt es der Humanistischen<br />
Vereinigung auch, eine übergeordnete Fachberatung für Sprache<br />
einzustellen. Diese wird die Qualität der sprachlichen Bildung in ihren<br />
Einrichtungen noch weiter verbessern. Weitere Informationen unter<br />
hv-kitas.de.<br />
Unsere Bitte:<br />
UNTERSTÜTZEN SIE UNSERE KITAS<br />
IN DER CORONA-ZEIT!<br />
Auch in der Pandemie geben die Pädagog*innen in den Humanistischen<br />
Kindertagesstätten ihr Bestes für die Kinder – mit Engagement,<br />
Witz und vielen Ideen. Natürlich achten sie dabei auf die nötige Sicherheit.<br />
So schützen sie die Kinder, ihre Familien und auch sich selbst.<br />
Dieser Einsatz kostet Kraft, aber auch Geld. Die HV investiert viel<br />
in adäquate Schutzmaßnahmen, muss gleichzeitig aber damit kämpfen,<br />
dass die bayerischen Regelungen zum sogenannten Elternbeitragsersatz<br />
– wie bei anderen freien Trägern auch – finanzielle Löcher<br />
reißen. Allein für die ersten Monate dieses Jahres rechnet die HV in<br />
Folge der staatlichen Verordnungen mit einem Fehlbetrag in hoher<br />
fünfstelliger Höhe.<br />
Deshalb möchten wir Sie bitten: Unterstützen Sie die Humanistischen<br />
Kindertagesstätten in diesen besonderen Zeiten mit Ihrer<br />
Spende. Schon kleine Beträge können helfen!<br />
Unsere Bankverbindung:<br />
Bank für Sozialwirtschaft<br />
IBAN: DE35700205000008887700<br />
BIC: BFSWDE33MUE<br />
Im Namen unserer Kitakinder und Pädagog*innen vielen Dank!<br />
Kosmos, der von einem wohlwollenden<br />
Gott erschaffen wurde und in all seinen<br />
Details gepflegt wird. Diese Idee war<br />
jahrhundertelang der Ausgangspunkt für<br />
einen Großteil des philosophischen und<br />
religiösen Denkens im Westen. Die Aufgabe<br />
bestand nur darin,diese vermeintliche<br />
Wahrheit als gegeben hinzunehmen<br />
und sich darauf zu beschränken, sich<br />
gedanklich innerhalb eines fest vorgegebenen Rahmens zu bewegen.<br />
In dieser Aufsatzsammlung untersucht der Philosoph Raymond Geuss,<br />
welche Probleme das allzu systematische Denken mit sich bringt, das<br />
wir von der Vergangenheit geerbt haben.<br />
Geuss beginnt mit einem allgemeinen Plädoyer für ein flexibles<br />
und skeptisches Denken mit Raum für Zweifel und ungelöste Komplexität.<br />
Er untersucht die Ideen von zweien seiner einflussreichsten<br />
Lehrer - der eine systematisch, der andere pragmatisch - im Licht<br />
von Nietzsches Ideen über Schein und Wirklichkeit. In den folgenden<br />
Kapiteln geht es um verwandte moralische, psychologische und<br />
philosophische Themen. Dazu gehören die Idee, dass man sein Leben<br />
zu einem Kunstwerk machen sollte, die Bedeutung von Spielen,<br />
der Begriff des Bedürfnisses und das Wesen von Manifesten. Dabei<br />
spannt Geuss einen weiten Bogen von der antiken Philosophie bis zur<br />
modernen Kunst, mit der für ihn typischen Kombination aus Klarheit,<br />
Schärfe und Witz.<br />
Who Needs a World View? will eine provokante und aufschlussreiche<br />
Demonstration dessen sein, was Philosophie erreichen kann,<br />
wenn sie ihre Ambitionen auf Vollständigkeit, Konsistenz und Einheit<br />
aufgibt.<br />
Harvard University Press, Cambridge 2020, 187 Seiten, 29,88 Euro.<br />
Meike Stoverock<br />
Female Choice: Vom Anfang<br />
und Ende der männlichen<br />
Zivilisation<br />
Female Choice ist ein Fachterminus<br />
aus der Biologie, der die Fortpflanzungsstrategie<br />
der allermeisten Lebewesen<br />
beschreibt. Hierbei müssen Männchen<br />
eine Leistung erbringen, um sich mit<br />
einem Weibchen zu paaren. Denn für das<br />
Weibchen ist Fortpflanzung viel aufwändiger.<br />
Sie ist wählerisch, er anspruchslos. Er geht auf Masse, sie auf<br />
Klasse. Er konkurriert, sie entscheidet. Doch im Laufe der Geschichte<br />
unserer Zivilisation hatten die Frauen bisher kaum eine Wahl. Mit der<br />
Landwirtschaft wurden die Menschen sesshaft und die Frauen aus der<br />
Öffentlichkeit ins private Heim gedrängt. Erst seit – evolutionsbiologisch<br />
– sehr kurzer Zeit können Frauen die Welt mitgestalten. Und<br />
nun gerät die männliche Ordnung ins Wanken. Überall formiert sich<br />
männlicher, zum Teil gewaltbereiter Widerstand. Was nun?<br />
„Meike Stoverock weiß um die Schwierigkeiten, die ihr gewähltes<br />
Terrain bietet und sie steckt es sehr souverän ab, um weder einem<br />
platten Biologismus, noch einem nicht minder platten kulturellen<br />
Strukturalismus zu verfallen. Dabei ist ihre Sprache zwar mitunter<br />
rotzig und schnell, aber nie unpräzise oder gar falsch – zumindest<br />
in biologischen Fragen. Denn da kennt sie sich als gelernte Biologin<br />
wirklich gut aus. Anders ist das mit der Religion, die sie ein paar<br />
Kapitel später mit dem groben Werkzeug bearbeitet, aber das stört<br />
den großen Bogen des Buches nicht (…). Wir sollten ihrem Fingerzeig<br />
folgen“, schreibt der Soziologe Jonas Grutzpalk über ihr Buch.<br />
Tropen Verlag, Stuttgart <strong>2021</strong>, 352 Seiten, 22 Euro.<br />
16<br />
17
<strong>humanistisch</strong>! <strong>#13</strong> / April <strong>2021</strong><br />
<strong>#13</strong> / April <strong>2021</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />
Unbewusste Vorurteile<br />
verringern – aber wie?<br />
Unbewussten<br />
Vorurteilen<br />
auf der Spur<br />
Auch wenn wir uns selbst für noch so aufgeklärte Menschen halten: Stereotypes<br />
Denken und unbewusste Vorurteile haben massiven Einfluss auf unser Denken<br />
und Verhalten. Mit einem neuen mobilen Bildungsangebot decken wir sie auf.<br />
A<br />
ls in meinen sozialen Medien vor einiger<br />
Zeit ein Trailer zu einem Filmprojekt über<br />
das Leben des legendären afghanischen<br />
Sängers Ahmad Zahir die Runde machte,<br />
überkam mich direkt eine mir ziemlich vertraute<br />
Ergriffenheit. <strong>Das</strong> Projekt, um das es ging, ist ein<br />
Dokumentarfilm über den Mann, der die afghanische<br />
Popkultur der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts<br />
prägte wie kein anderer, und heute, Jahrzehnte nach<br />
seinem ungeklärten Tod, immer noch als „afghanischer<br />
Elvis Presley“ verehrt wird. Der Film will dem Zuschauer<br />
über die Biographie des Musikers ein Afghanistan-Bild<br />
näherbringen, das in den letzten Jahrzehnten medial<br />
mit verzerrten Allgemeinplätzen überschrieben wurde.<br />
Ahmad Zahir gilt heute noch als nationale Ikone. Seine<br />
Musik: eine Melange aus Rock ‘n Roll und Poesie, die<br />
generationen- und geschlechterübergreifend berührt<br />
und den heutigen Status Quo vergessen lässt. Mit ihr<br />
fliehen wir gewissermaßen in eine bessere Vergangenheit.<br />
In ein Afghanistan vor dem Krieg.<br />
DIE BOX DES<br />
VORURTEILENS<br />
Dauer: 2-4 Stunden,<br />
Aufbauzeit: 15 Minuten,<br />
Vorbereitungszeit der<br />
Moderation für die<br />
Gruppenübungen:<br />
30-45 Minuten<br />
Alter: ab 16 Jahren<br />
Buchung und Kontakt:<br />
mobil@philoscience.de<br />
oder 0911 9443281<br />
Granatapfelbäume und<br />
ein afghanischer Elvis<br />
Aber was genau hat nun dieser für Sie vermutlich völlig<br />
unbekannte afghanische Sänger mit unbewussten Vorurteilen<br />
zu tun? Lassen Sie es mich so auflösen: Ahmad<br />
Zahirs Musik steht für ein längst verloren gegangenes<br />
afghanisches Lebensgefühl, das meine Generation<br />
nur aus Erzählungen der Eltern kennt, die lebendige<br />
Metropole Kabul in den 60er und 70er Jahren des<br />
letzten Jahrhunderts aber stark prägte. Mein Bild von<br />
Kabul ist immer noch das der damaligen Stadt. Es ist<br />
ein idealisiertes, ja überholtes Bild, das vor allem auf<br />
Erzählungen und Erfahrungen von Familienmitgliedern<br />
basiert, die von Krieg und Verfall selbst nicht allzu viel<br />
mitbekommen haben. Mein Bild von Kabul ist eine<br />
Collage aus positiven Vorurteilen über die Heimatstadt<br />
meines Vaters, die für mich beispielhaft für ganz<br />
Afghanistan steht. Mein Kabul, mein Afghanistan, das<br />
sind Teehäuser, Granatapfelbäume, überfüllte Basare,<br />
Fotos: ©adobestock<br />
im Hintergrund die beeindruckenden Berge des Hindukusch<br />
und natürlich die Menschen mit ihrer warmen<br />
Gastfreundlichkeit und lyrischen Sprache. Mit dem, was<br />
man in Zeitungen lesen kann, hat das wenig zu tun.<br />
Nun sind sowohl meine eigene, etwas emotionale Vorstellung<br />
einer Stadt wie auch die rationalere, mediale<br />
Darstellung geprägt von Vorurteilen. Vorurteile entstehen<br />
oft auf der Basis selektiver Wahrnehmung. Sie<br />
können glorifizieren oder abwerten – und das kann für<br />
uns vollkommen unbewusst passieren. Die boxdesvorurteilens<br />
beschäftigt sich mit genau diesen Phänomenen.<br />
Wahrnehmungsverzerrungen<br />
und Schubladendenken<br />
Unser Wahrnehmungsapparat ist im Laufe der Evolution<br />
entstanden. Er dient uns zur Orientierung und erlaubt<br />
es uns, unsere Umwelt schnell zu begreifen. Dabei<br />
bildet er die Welt aber nicht einfach ab – er legt sie für<br />
uns aus. <strong>Das</strong>s er dabei manchmal Fehlentscheidungen<br />
aufsitzt und auf Stereotype zurückgreift sowie Kategorisierungen<br />
und Schubladendenken begünstigt, müssen<br />
wir uns immer wieder aufs Neue bewusstmachen, um<br />
unsere unbewussten Vorurteile zu durchschauen. Unbewusste<br />
Vorurteile sind wie Spinnweben des Geistes,<br />
die unseren Blick verschleiern und Erkenntnis oft den<br />
Weg versperren. So ähnlich formulierte es zumindest<br />
Sir Francis Bacon in seiner Idolenlehre. Unbewusste Vorurteile<br />
sind aber vor allem Wahrnehmungsverzerrungen,<br />
über die wir keine Kontrolle haben – sie vollziehen<br />
sich eben unbewusst. Die Unmenge an Informationen,<br />
die wir über unsere Sinne aufnehmen, wird vom Gehirn<br />
zwar automatisch gefiltert, verarbeitet wird aber nur<br />
ein Teil davon. Denn unser Gehirn ist effizient: Um Ressourcen<br />
zu schonen, orientiert es sich an Mustern, an<br />
Bekanntem, Vorwissen oder Erfahrungen. <strong>Das</strong> Ergebnis<br />
eines Wahrnehmungsprozesses stellt es nicht in Frage.<br />
Damit unterlaufen unserem Gehirn fast zwangsläufig<br />
aber auch Fehlentscheidungen, wir werden anfällig für<br />
Schubladendenken, Kategorisierungen und Stereotypisierungen.<br />
Die boxdesvorurteilens entlarvt solche<br />
Automatismen unseres Gehirns und deckt anhand von<br />
Exponaten, Experimenten und Gruppenübungen auf,<br />
wie kognitive Verzerrungen im Gehirn entstehen, wie<br />
wir sie erkennen und begreifbar machen können. Auch<br />
lernen wir, wie sich unbewusste Vorurteile auf unseren<br />
Umgang mit unseren Mitmenschen auswirken können,<br />
wie man sein Gehirn eben doch überlisten kann.<br />
Mit der boxdesvorurteilens<br />
können Sie Wahrnehmungsverzerrungen<br />
und<br />
Automatismen des Gehirns<br />
auf anschauliche Art<br />
begreifbar machen.<br />
Die Box ist flexibel in<br />
Seminaren, Workshops,<br />
Projektwochen oder<br />
Diversity-Trainings einsetzbar.<br />
Mit insgesamt<br />
11 Exponaten und drei<br />
Gruppenaktivitäten<br />
werden die Teilnehmenden<br />
für unbewusste Vorurteile<br />
und automatisch aktivierte<br />
Stereotype sensibilisiert.<br />
In Gruppenübungen<br />
können die Beobachtungen<br />
vertieft und Diskussionen<br />
angeregt werden.<br />
Die Prägungen unseres Gehirns zu überlisten ist<br />
schwierig, man braucht dafür Zeit, aber auch ein hohes<br />
Maß an Motivation. Wir können jedoch lernen, unsere<br />
eigene Wahrnehmung und unsere Entscheidungen zu<br />
verstehen und zu reflektieren.<br />
Der erste Schritt ist, sich der eigenen unbewussten<br />
Vorurteile klar zu werden, denn keiner ist vor ihnen<br />
sicher. Es gilt, sich zu hinterfragen und sich zu informieren.<br />
Wer für Wahrnehmungsverzerrungen sensibilisiert<br />
ist, dem fällt es auch leichter, unbewusste Vorurteile<br />
zu erkennen. In einem weiteren Schritt muss man sich<br />
der eigenen Anfälligkeit bewusst werden. Wenn wir<br />
wissen, dass wir zum Beispiel in Stresssituationen eher<br />
dazu neigen, aufgrund unbewusster Vorurteile zu<br />
handeln, können wir dann, wenn es darauf ankommt,<br />
reflexhafte Entscheidungen vielleicht vermeiden.<br />
Außerdem spielen Perspektiven eine Rolle: Wenn<br />
wir uns selbst in eine andere Person hineinversetzen,<br />
können wir unsere Umwelt in Konfliktsituationen oder<br />
vor wichtigen Entscheidungen aus einem neuen Blickwinkel<br />
betrachten. Aber auch einfaches Beobachten<br />
kann helfen: Was sehe ich? Was denke ich? Löst eine<br />
Situation emotionale Beurteilungen in mir aus und<br />
warum ist das so? Mit diesen Fragen gelingt es auch, individuelle<br />
Prägungen – seien sie nun gesellschaftlicher,<br />
kultureller oder sozialer Natur – leichter bloßzulegen.<br />
Aber wohl am wichtigsten: Seien Sie neugierig und<br />
suchen Sie den Kontakt. Begeben Sie sich bewusst in<br />
Situationen, in denen Sie Mitglieder Ihnen „fremder“<br />
Gruppen treffen. Suchen Sie das Gespräch, tauschen Sie<br />
sich aus. Mit der boxdesvorurteilens lernen Sie, in sich<br />
hinein zu schauen, um eigene festgefahrene Denkmuster<br />
zu erkennen, zu verringern und hoffentlich sogar zu<br />
überwinden. Und auch positive Vorurteile sind es wert,<br />
hinterfragt zu werden. Denn obwohl ich das anfangs<br />
beschriebene, beschönigende Bild eines Ortes in mir<br />
trage, möchte ich gleichzeitig dessen Realität, eine auf<br />
vielen Ebenen erschütternde Realität, anerkennen.<br />
Nina Abassi<br />
18<br />
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<strong>humanistisch</strong>! <strong>#13</strong> / April <strong>2021</strong><br />
<strong>#13</strong> / April <strong>2021</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />
So geht<br />
Humanismus!<br />
Ein neuer Onlinekurs ergründet, was<br />
Humanismus ausmacht – und bietet<br />
Antworten.<br />
Eine der größten Stärken des Humanismus wird<br />
oft als Schwäche wahrgenommen. Denn es<br />
ist doch so: Wäre Humanismus intuitiv zu begreifen,<br />
bräuchten die Herausgeber eines 2016<br />
erschienenen Bandes keine 432 Seiten, um allein die<br />
<strong>humanistisch</strong>en Grundbegriffe zu erklären. Humanismus<br />
ist offensichtlich kein simples Glaubensbekenntnis,<br />
und schon gar nicht kennt er nur die eine, reine Lehre.<br />
Schaut man auf die Vielzahl der sich mitunter sehr<br />
streitlustig gegenüberstehenden <strong>humanistisch</strong>en Kleingruppen,<br />
Bünde und Verbände mit ihren je eigenen<br />
Zielen, wirkt der organisierte Humanismus sogar sehr<br />
zerfasert. <strong>Das</strong>s der Bayreuther Religionswissenschaftler<br />
Stefan Schröder eine Arbeit über die „strategischen<br />
Spannungen“ zwischen zwei säkularen Organisationen<br />
schrieb, verstärkt nur den Eindruck, dass sich über<br />
Humanismus zwar wenig Eindeutiges sagen, aber umso<br />
besser streiten lässt.<br />
Wenigstens in Teilen sieht das auch Stefan Lobenhofer<br />
so. „Sehr viel Divergenz und viele verschiedene<br />
Meinungen“ kenne der Humanismus, sagt der promovierte<br />
Philosoph, der einige Jahre an den Universitäten<br />
von Braunschweig und Erlangen lehrte und mittlerweile<br />
als wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Humanistische<br />
Vereinigung tätig ist. Für Außenstehende, sagt<br />
Lobenhofer, ist Humanismus deshalb oft schwer zu<br />
durchschauen – sofern er überhaupt wahrgenommen<br />
wird. Die Stärke des Humanismus – dass er nämlich aus<br />
der Diskussion heraus entsteht und viele verschiedene<br />
Überzeugungen zulässt – wird ihm in diesem Kontext<br />
oft als Schwäche ausgelegt: Er scheint diffus, schwer<br />
zugänglich und schwer greifbar zu sein. Bemühungen,<br />
dem abzuhelfen und einen allgemeinverständlichen<br />
Zugang zu <strong>humanistisch</strong>en Grundüberzeugungen<br />
Dr. Stefan Lobenhofer<br />
hat im Fach Philosophie<br />
promoviert und war an den<br />
Universitäten in Erlangen<br />
und Braunschweig tätig.<br />
Nach dem Motto<br />
„Raus aus dem Elfenbeinturm,<br />
hinein ins richtige<br />
Leben“ arbeitet er seit<br />
einigen Jahren bei der<br />
Humanistischen Vereinigung<br />
als wissenschaftlicher<br />
Mitarbeiter und ist<br />
zudem als freiberuflicher<br />
Dozent tätig. <strong>Das</strong> Nachdenken<br />
über die Welt und den<br />
Menschen ist für ihn eine<br />
wichtige Voraussetzung für<br />
ein gutes und gelingendes<br />
Leben. Unser Online-Kurs<br />
soll zu diesem Nachdenken<br />
anregen.<br />
anzubieten, sind also angezeigt, erst recht, wenn man<br />
Menschen auch außerhalb der vergleichsweise kleinen<br />
<strong>humanistisch</strong>en Blase erreichen will.<br />
Insofern klingt schon der Titel eines neuen Online-<br />
Angebots der Humanistischen Vereinigung wie ein Versprechen:<br />
„So geht Humanismus!“ <strong>Das</strong> ist der Name des<br />
sechswöchigen Selbstlern-Kurses, der Untertitel lautet:<br />
„Eine Lebenseinstellung für aufgeklärte Menschen“.<br />
Der Kurs basiert auf dem einführenden Onlinekurs der<br />
Humanists UK, der schon seit einigen Jahren erfolgreich<br />
läuft. Die Humanists UK haben der Humanistischen Vereinigung<br />
die Übertragung ins Deutsche und teilweise<br />
weitgehende Anpassungen ermöglicht.<br />
Seit einigen Wochen kann diese „deutsche Version“<br />
des Kurses belegt werden. Betreut wird er von Stefan<br />
Lobenhofer, und der sagt: „Wer sich vorher keinen<br />
Reim auf Humanismus machen konnte, wird es nach<br />
sechs Wochen können.“<br />
Um einem Missverständnis vorzubeugen: Den Kurs<br />
zu durchlaufen, heißt nicht, auf eine bestimmte Form<br />
des Humanismus eingeschworen zu werden. Natürlich<br />
will man Menschen von einer <strong>humanistisch</strong>en Lebenseinstellung<br />
überzeugen, doch geht es nicht um Indoktrination,<br />
sondern vielmehr darum, zum Nachdenken<br />
anzuregen und Stoff für viele, hoffentlich fruchtbare<br />
Diskussionen zu liefern.<br />
Als ein „So und nicht anders!“ darf man den Titel<br />
des Kurses also nicht lesen. Es geht nicht darum, eine<br />
bestimmte oder spezielle Lesart des Humanismus<br />
zu propagieren, vielmehr sollen die Grundlagen des<br />
Humanismus dargestellt werden. Denn bei aller Unterschiedlichkeit<br />
erkennt Lobenhofer doch „einen Pool an<br />
Grundüberzeugungen“, auf die sich alle Humanist*innen<br />
einigen können. <strong>Das</strong>s sich natürliche oder gesell-<br />
So geht<br />
Humanismus!<br />
Der Online-Kurs über „eine Lebenseinstellung für aufgeklärte<br />
Menschen“ kann gebucht werden unter so-geht-humanismus.de.<br />
Zur Auswahl stehen zwei verschiedene Kursmodelle, Interessierte<br />
können zunächst eine kostenlose Schnupperlektion absolvieren.<br />
Der Kurs „So geht Humanismus“ ist ein sehr<br />
wichtiger Beitrag zur Diskussion in unserer<br />
weltanschaulich immer vielschichtiger werdenden<br />
Gesellschaft. Der Erosionsprozess der religiös<br />
dogmatischen Glaubensgebäude, die Austrittsflut<br />
der Mitglieder aus den beiden Großkirchen, aber<br />
auch die Zuwanderung von Menschen aus anderen Kulturkreisen<br />
erzeugen bei vielen Menschen Gefühle<br />
der Verunsicherung, denn für stabil gehaltene<br />
und wackelig gewordene Plattformen zu verlassen,<br />
ist nicht leicht. Der Kurs liefert für bereits<br />
„bekennende Humanist*innen“ gut strukturiert,<br />
in verständlicher Sprache fundierte Argumente<br />
für den Dialog mit Menschen anderer Weltsicht.<br />
Hierbei kann aus einem Dialog selbstverständlich<br />
auch mal eine Debatte werden, wobei die Fragemethode<br />
des Sokrates ein „scharfes Schwert“ sein<br />
kann. Für Menschen, die sich auf den Weg machen<br />
wollen, den großen Fragen, der Sinnfrage nachzugehen,<br />
bietet der Kurs eine prima Orientierungshilfe.<br />
Fazit: Der Kurs „So geht Humanismus“<br />
ist in Form, Sprache und Inhalt ein Hit.<br />
Johannes Moser<br />
„Der Kurs zum Humanismus hat mir sehr gut gefallen<br />
und war an vielen Stellen äußerst anregend. Ich<br />
habe Anfang letzten Jahres meinen Bachelor der<br />
Biowissenschaften abgeschlossen und werde auch<br />
weiterhin in diesem Bereich studieren und arbeiten.<br />
Aber selbst hier, in einem Bereich, in dem der<br />
wissenschaftliche Empirismus allgegenwärtig ist,<br />
bedarf es einer gewissen Philosophie. Deswegen<br />
bedanke ich mich noch einmal für diesen erhellenden<br />
Kurs, welcher viele neue Fragen und Antworten<br />
geliefert hat.“<br />
Marian Klose<br />
schaftliche Phänomene am besten mit wissenschaftlichen<br />
Mitteln erklären lassen – und nicht etwa unter<br />
Rückgriff auf heilige Schriften –, das sei so eine <strong>humanistisch</strong>e<br />
Grundüberzeugung. Ebenfalls <strong>humanistisch</strong><br />
sei es, Verantwortung für sein eigenes Handeln zu<br />
übernehmen. Humanist*innen verweigern sich blindem<br />
Gehorsam, sie versuchen aus eigenem Antrieb<br />
heraus moralisch richtig zu handeln und zeigen sich<br />
fürsorglich gegenüber ihren Mitmenschen.<br />
Sechs Wochen oder weniger<br />
Auch um solche Grundprinzipien geht es im Onlinekurs.<br />
„Zunächst einmal wollen wir das Wissen darüber<br />
vermitteln, was Humanismus eigentlich ist“, sagt<br />
Lobenhofer. Ein „einfaches Lernziel“ nennt er das,<br />
ein weiteres sei es, Menschen über diejenigen Fragen<br />
in Diskussion zu bringen, die der Humanismus eben<br />
anspricht. Die Teilnehmer*innen erhalten eine Einführung<br />
in die Philosophie und Ideengeschichte des<br />
Humanismus. Sie diskutieren gleichermaßen über<br />
den Sinn des Lebens wie sie nach dem guten Leben<br />
fragen, sie stellen Überlegungen zu einer gerechten<br />
Gesellschaft an und zeigen schließlich, welche Rolle<br />
Humanismus – in welcher Ausprägung auch immer –<br />
in einer solchen Gesellschaft spielen könnte.<br />
Insgesamt sechs Wochen sind für den Kurs veranschlagt<br />
– je ein Themenblock steht pro Woche an, bei<br />
geschätzten drei Stunden Wochenarbeitszeit. Texte<br />
wollen währenddessen gelesen und Fragen, die am<br />
Ende einiger Lektionen gestellt werden, beantwortet<br />
werden. Diese Fragen können die Teilnehmenden in<br />
Foren, die in die Kurs-Plattform eingebunden sind,<br />
beantworten und mit anderen Teilnehmenden diskutieren.<br />
Lobenhofer steht den Teilnehmer*innen als<br />
Tutor zu Seite und hilft bei Unklarheiten. Diejenigen,<br />
die Vollversion gebucht haben, können einmal im<br />
Monat an einem „Expertengespräch“ teilnehmen,<br />
bei dem ein Beschäftigter der Humanistischen Vereinigung<br />
Rede und Antwort steht. Wer will, kann sich<br />
zum Ende des Kurses einer Abschlussprüfung stellen<br />
und erhält bei Bestehen ein Zertifikat.<br />
Die ersten Absolvent*innen gibt es bereits. Alleine<br />
in den ersten zwei Wochen nahmen weit über<br />
100 Menschen das neue Angebot in Anspruch. Zu<br />
ihnen gehört der baden-württembergische Humanist<br />
Heiner Jestrabek, der wie nebenbei unter Beweis<br />
stellt, dass man sich für den Kurs „So geht Humanismus!“<br />
keine anderthalb Monate Zeit nehmen muss,<br />
wenn man das nicht möchte: „Der gesamte Kurs<br />
wurde von mir in zwei Wochen durchgearbeitet, weil<br />
er spannend und sehr gut gestaltet ist“, berichtet er.<br />
Sprache und Darstellung, lobt er, seien trotz allem<br />
wissenschaftlichen Anspruchs „einfach fassbar und<br />
nicht verwissenschaftlicht, also pädagogisch optimal<br />
gemacht.“ Fazit: „Genau so etwas haben wir schon<br />
lange benötigt. Ich wünsche dem Kurs weite Verbreitung!“<br />
Marco Schrage<br />
20<br />
21
<strong>#13</strong> / April <strong>2021</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />
Meet a humanist<br />
Jamie<br />
Raskin<br />
F<br />
ür Humanist*innen war<br />
Donald Trump eine dunkle<br />
Macht am Ruder der Vereinigten<br />
Staaten. Zu Recht<br />
koordinierte ein Humanist<br />
seinen Amtsenthebungsprozess. Doch er<br />
hat noch viel mehr getan: Jamie Raskin.<br />
Humanist*innen in den Vereinigten<br />
Staaten lernten Jamie Raskin erstmals<br />
2006 kennen, als er vor dem Senat<br />
des Bundesstaates Maryland über die<br />
Gesetzgebung zum Verbot der gleichgeschlechtlichen<br />
Ehe sprach. Zu dieser<br />
Zeit als Professor für Verfassungsrecht<br />
tätig, sprach er von gleichem Schutz und<br />
rechtstaatlichen Verfahren. „Was ist mit<br />
der Bibel?“, fragte ihn ein frustrierter<br />
republikanischer Senator und bezog sich<br />
dabei auf die dort zu findende Definition<br />
von Ehe als Verbindung zwischen einem<br />
Mann und einer Frau.<br />
„Senator, bei allem Respekt“, antwortete<br />
Raskin, „als Sie Ihren Amtseid ablegten,<br />
legten Sie Ihre Hand auf die Bibel<br />
und schworen, die Verfassung zu wahren.<br />
Sie haben Ihre Hand nicht auf die Verfassung<br />
gelegt und geschworen, die Bibel zu<br />
wahren.“<br />
Zwei Jahre später, nun selbst Senator<br />
des Staates Maryland, nahm Raskin den<br />
Distinguished Service Award der American<br />
Humanist Association auf dem World<br />
Humanist Congress in Washington, D.C.<br />
entgegen. In seiner Ansprache, die er mit<br />
seiner uns bekannten formidablen Redekunst<br />
und über jeden Zweifel erhabenen<br />
Menschlichkeit hielt, betonte Raskin die<br />
lebenswichtige Notwendigkeit, Kirche<br />
und Staat getrennt zu halten: „Es versteht<br />
sich von selbst, dass der eigentliche<br />
Zweck und die Auswirkungen der Injektion<br />
religiöser Dogmen in eine Regierung<br />
niemals darin bestehen, die Menschen<br />
tugendhafter oder heiliger zu machen,<br />
sondern eher darin, bestimmte politische<br />
Agenden voranzutreiben.“<br />
Raskin würdigte Held*innen des<br />
menschlichen Fortschritts, die religiös<br />
motiviert waren (z. B. Rev. Martin Luther<br />
King, Schwester Helen Prejean) und solche,<br />
die es nicht waren (z. B. Thomas Paine,<br />
Thomas Jefferson), und sprach über<br />
die Notwendigkeit, dass Menschen mit<br />
unterschiedlichen religiösen oder ideologischen<br />
Ansichten ihre Kräfte vereinen,<br />
um das Leben zu verbessern und das<br />
Gemeinwohl zu fördern. Dies erfordere<br />
eine gewisse Bescheidenheit, bemerkte er<br />
und zitierte den Richter Billings Learned<br />
Hand aus der Mitte des zwanzigsten<br />
Jahrhunderts, der sagte: „Der Geist der<br />
Freiheit ist der Geist, der sich nicht zu<br />
sicher ist, dass er Recht hat; der Geist der<br />
Freiheit ist der Geist, der versucht, die<br />
Gedanken anderer Männer und Frauen zu<br />
verstehen.“<br />
Als Senator des Bundesstaates Maryland<br />
von 2007 bis 2016 war Raskin ein<br />
progressives Kraftpaket, das vor allem<br />
den erfolgreichen Vorstoß für die Gleichstellung<br />
der Ehe und die Abschaffung der<br />
Todesstrafe anführte. Bei einer anderen<br />
<strong>humanistisch</strong>en Konferenz, diesmal im<br />
Jahr 2013, erzählte Raskin von seiner<br />
Rede, in der er seine Kandidatur für die<br />
Legislative von Maryland ankündigte.<br />
Er hatte über die Legalisierung der Ehe<br />
für schwule und lesbische Wähler*innen<br />
gesprochen und ihm wurde gesagt, dass<br />
Unermüdlicher<br />
Verteidiger der<br />
Verfassung, unermüdlicher<br />
Anwalt des<br />
Volkes, Liebhaber der<br />
Sprache, der Weisheit,<br />
des Humors und<br />
der Wahrheit.<br />
dies keine kluge Position sei, sondern<br />
ihn extrem erscheinen lasse. „In diesem<br />
Moment entschied ich, dass ich nicht in<br />
der politischen Mitte sein wollte, die sich<br />
ohnehin umherbewegt. Ich wollte in der<br />
moralischen Mitte sein, und ich würde<br />
die politische Mitte zu mir kommen lassen“,<br />
so Raskin.<br />
Seit 2016 vertritt Raskin, ein Demokrat,<br />
mit Begeisterung den achten Bezirk<br />
von Maryland im US-Repräsentantenhaus.<br />
Er hat Resolutionen zum Nationalen<br />
Tag der Vernunft und zum Darwin-Tag<br />
mitgetragen, die die Evolutionstheorie<br />
unterstützen, die Lehre von Kreationismus<br />
in öffentlichen Schulen bekämpfen<br />
und die Macht und Notwendigkeit<br />
von Wissenschaft anerkennen, um die<br />
Herausforderungen der Gesellschaft zu<br />
bewältigen. Er unterstützte die Resolution<br />
des Repräsentantenhauses (die auch<br />
im Senat angenommen wurde), die ein<br />
weltweites Ende von Blasphemiegesetzen<br />
fordert. Und im Jahr 2018 half Raskin bei<br />
der Gründung des Congressional Freethought<br />
Caucus, um Säkularität sowie<br />
Gedanken- und Gewissensfreiheit zu fördern<br />
und sich gegen die Diskriminierung<br />
von Atheist*innen, Humanist*innen und<br />
anderen nicht-religiösen Amerikaner*innen<br />
zu wenden.<br />
Stolz auf seine jüdische Herkunft<br />
heißt Raskin auch das Etikett des „Humanisten<br />
mit kleinem ‚h‘“ willkommen,<br />
als Teil seines moralischen Kerns, und<br />
er beschreibt dies als eine philosophische<br />
Identität. „Humanistische Werte<br />
und säkulare Demokratie im öffentlichen<br />
Raum zu verteidigen, hat sehr wenig mit<br />
Mut zu tun, sondern vielmehr mit Selbstachtung<br />
und dem Bauchgefühl, dass wir<br />
der Unvernunft nur auf unser eigenes<br />
Risiko und auf Gefahr für uns selbst hin<br />
erlauben, die öffentliche Entscheidungsfindung<br />
zu kontrollieren“, sagte er Humanist*innen<br />
im Jahr 2013. „Wie Voltaire es<br />
scharfsinnig formulierte: ‚Wer dich dazu<br />
bringen kann, Absurditäten zu glauben,<br />
kann dich dazu bringen, Gräueltaten zu<br />
begehen.‘“<br />
Springen wir vor zum 6. Januar <strong>2021</strong>.<br />
Nach monatelangen haltlosen Behauptungen<br />
von Präsident Donald Trump, die Präsidentschaftswahlen<br />
2020 seien gestohlen<br />
worden, forderte Trump Tausende<br />
seiner Anhänger*innen auf, zum US-Kapitol<br />
zu marschieren. In Deckung gehend<br />
vor dem gewalttätigen einbrechenden<br />
Mob, begann Raskin, der den kürzlichen,<br />
tragischen Tod seines Sohnes Tommy betrauerte<br />
und um zwei Familienmitglieder<br />
fürchtete, die sich in seinem Kongressbüro<br />
verschanzt hatten, das zu entwerfen,<br />
was der einzige Artikel der Anklage gegen<br />
Präsident Trump wegen Anstiftung zum<br />
Aufruhr werden würde. Er brachte ihn<br />
am 11. Januar ein und das Haus stimmte<br />
zwei Tage später für die Anklage. Die<br />
Sprecherin des Repräsentantenhauses<br />
und kalifornische Demokratin Nancy<br />
Pelosi bat Raskin anschließend, die Anklage<br />
gegen Trump im Senatsverfahren<br />
im folgenden Monat zu leiten. Meisterhaft<br />
vorgetragen, zitierte er die Weisheit von<br />
Abraham Lincoln und des Humanisten<br />
der Aufklärung, Thomas Paine.<br />
Unermüdlicher Verteidiger der Verfassung,<br />
unermüdlicher Anwalt des Volkes,<br />
Liebhaber der Sprache, der Weisheit, des<br />
Humors und der Wahrheit – Jamie Raskin<br />
ist ein Humanist von höchstem Format.<br />
Im Angesicht persönlicher Tragödien und<br />
nationaler Bedrohungen kämpft er weiter<br />
für das Gute und das ist gut für uns alle.<br />
Jennifer Bardi<br />
23
<strong>humanistisch</strong>! <strong>#13</strong> / April <strong>2021</strong><br />
<strong>#13</strong> / April <strong>2021</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />
Erneutes Plus für nordische<br />
Humanist*innen<br />
Nach einem zweiten Rekordzuwachs in<br />
Folge hatte die norwegische Vereinigung<br />
Human-Etisk Forbund (HEF) 2020 erstmals<br />
mehr als 100.000 Mitglieder. Die vor<br />
65 Jahren gegründete Organisation bleibt<br />
so die mit Abstand mitgliederstärkste<br />
<strong>humanistisch</strong>e Vereinigung weltweit.<br />
Und es ist anzunehmen, dies auch in<br />
Zukunft so bleibt: Zum einen ergab eine<br />
Umfrage im letzten Jahr, dass sich bis<br />
zu zehn Prozent der rund 5,4 Millionen<br />
Norweger*innen mit der HEF identifizieren.<br />
Der norwegische Staat erleichtert<br />
zudem die Mitgliedergewinnung, da alle<br />
steuerpflichtigen Bürger*innen jährlich<br />
gefragt werden, welche Organisation sie<br />
mit ihrem Kultursteuerbeitrag unterstützen<br />
wollen. Neben der norwegischen<br />
Volkskirche und weiteren Religionsgemeinschaften<br />
kann hier auch die HEF<br />
ausgewählt werden.<br />
Weiter aufwärts ging es auch bei<br />
der isländischen Schwesterorganisation<br />
Sidmennt. Hier wurde Anfang Dezember<br />
das 4000. Mitglied willkommen geheißen.<br />
Sidmennt erlebt seit etwa 2013 ein starkes<br />
Wachstum. Eine Ursache dafür ist,<br />
dass die Kultursteuererhebung in Island<br />
nach norwegischem Beispiel funktioniert<br />
und Sidmennt 2013 vom Staat als Weltanschauungsgemeinschaft<br />
anerkannt<br />
wurde. Sie ist derzeit die sechstgrößte anerkannte<br />
weltanschauliche Gemeinschaft<br />
Islands.<br />
Norwegen und Island fördern <strong>humanistisch</strong>e<br />
Weltanschauungsgemeinschaften<br />
finanziell ebenso wie die Kirchen und<br />
andere anerkannte religiöse Gruppen.<br />
Wechsel an US-Spitze<br />
Roy Speckhardt<br />
Der geschäftsführende Direktor der<br />
American Humanist Association (AHA)<br />
Roy Speckhardt räumt nach 15 Jahren<br />
seinen Posten. Der Grund: Die US-amerikanischen<br />
Humanist*innen wollen mehr<br />
People of Color (PoC) und Menschen migrantischen<br />
Communities für sich gewinnen.<br />
Speckhardt, der sich viele Verdienste<br />
für den Humanismus in den Vereinigten<br />
Staaten erworben hat, stellte sich ausdrücklich<br />
hinter dieses Ziel.<br />
Er sagte, er wünsche sich, dass sein<br />
Platz mit einer*m Humanist*in besetzt<br />
wird, in der sich auch PoC und Personen<br />
mit Migrationshintergrund in der<br />
Foto: © ballisticduck.co.uk<br />
jüngeren Geschichte wiederfinden, „weil<br />
unsere Bewegung zu lange ohne eine<br />
solche Vielfalt an der Spitze geblieben ist,<br />
und dies der AHA die Tür öffnen würde,<br />
um ihr Potenzial als <strong>humanistisch</strong>e und<br />
antirassistische Institution wirklich<br />
auszuschöpfen“, sagte er. In einer immer<br />
noch von weißer CIS-Männlichkeit dominierten<br />
Welt könnten so mehr Frauen,<br />
LGBTI und Menschen mit nicht-weißer<br />
Hautfarbe als bisher für die Organisation<br />
gewonnen werden, so die Hoffnung.<br />
Speckhardt wird im Amt bleiben bis<br />
ein*e Nachfolger*in gefunden wurde.<br />
Über seine Zukunftspläne verriet er noch<br />
nichts. Im April wird sein nächstes Buch<br />
erscheinen. Er wird zudem einem neuen<br />
„Vorstandskomitee für Fortschritt“ der<br />
AHA angehören.<br />
Tauziehen<br />
Trotz eines Zwischenerfolgs geht das<br />
Bangen weiter: Ende Dezember hatte ein<br />
Hohes Gericht in der Hauptstadt Abuja<br />
die unverzügliche Freilassung Mubarak<br />
Balas, des Präsidenten der Humanistischen<br />
Vereinigung in Nigeria angeordnet.<br />
Im Beschluss hieß es, dass Balas<br />
seit April 2020 anhaltende Inhaftierung<br />
gesetzeswidrig ist. <strong>Das</strong> Gericht sprach<br />
ihm außerdem eine Entschädigung von<br />
umgerechnet 500 US-Dollar zu.<br />
Mubarak Bala<br />
Ungeachtet dieses Beschlusses wurde<br />
Bala bis Redaktionsschluss Mitte Februar<br />
festgehalten. Ende Januar reichte<br />
sein Anwaltsteam eine Petition für Balas<br />
Verlegung nach Abuja ein, um einen fairen<br />
Prozess zu gewährleisten. „Über acht<br />
Monate nach seiner Verhaftung befindet<br />
sich Bala weiterhin in Haft, ohne dass<br />
eine formale Anklage oder ein Gerichtsverfahren<br />
vorliegt. Muslimische Staatsbeamte<br />
in Kano haben sich verschworen,<br />
ihn zu inhaftieren, unter Missachtung<br />
der Verfassung und der Menschenrechte“,<br />
kommentierte der Repräsentant der<br />
Humanists Interntional, Religionswissenschaftler<br />
und Menschenrechtsaktivist<br />
im Süden Nigerias, Leo Igwe. Mehr zum<br />
Fall Mubarak Bala lesen Sie hier: <strong>humanistisch</strong>.net/40461<br />
Spitzentreffen mit<br />
HF-Vertreter*innen<br />
Am 5. Februar nahmen EHF-Präsident<br />
und HV-Vorstand Michael Bauer und Vizepräsidentin<br />
Lone Ree Milkaer an einem<br />
hochrangigen Treffen im Dialog mit Vertreter*innen<br />
der Europäischen Union teil.<br />
<strong>Das</strong> Treffen wurde von Kommissionsvizepräsident<br />
Margaritis Schinas und Parlamentsvizepräsidentin<br />
Roberta Metsola<br />
im Rahmen der regelmäßigen Konsultationen<br />
nach Artikel 17 des EU-Vertrags<br />
ausgerichtet.<br />
Die Themen der zweistündigen Diskussion<br />
waren Migration, Covid-19 und<br />
die europäische Lebensweise. Die beiden<br />
EHF-Vertreter*innen betonten die Bedeutung<br />
von Säkularität, Menschenwürde,<br />
Bildung und Wissenschaft für die Entwicklung<br />
Europas. Außerdem wiesen sie<br />
auf die besondere Situation von atheistischen<br />
und LGBTI-Flüchtlingen hin und<br />
forderten eine stärkere Berücksichtigung<br />
ihrer Situation im Asylverfahren. Weitere<br />
Themen in der Diskussion waren die<br />
Rechtsstaatlichkeit, die Verschlechterung<br />
der Frauenrechte sowie die Gesundheitsund<br />
Bildungsbedürfnisse von Kindern<br />
und Jugendlichen im Zuge der Pandemie.<br />
Sippenhaft für<br />
Mohammed Ismail<br />
Wollen sich die pakistanischen Regierungsbehörden<br />
an der Menschenrechtsaktivistin<br />
und <strong>humanistisch</strong>en Regimekritikerin<br />
Gulalai Ismail rächen? Wie<br />
die New York Times unter Berufung auf<br />
Gulalai Ismail und ihren Vater Mohammed<br />
Ismail berichtet, wurde dieser<br />
Anfang Februar erneut inhaftiert. Ihm<br />
werden Aufwiegelung und Terrorismusfinanzierung<br />
vorgeworfen – völlig haltlos,<br />
wie seine Tochter und andere Stellen<br />
erklären. Auch die „Menschenrechtskommission<br />
von Pakistan“, eine vom Staat unabhängige<br />
NGO, sagte zur Inhaftierung,<br />
das Verfahren sei eine „endlose Abfolge<br />
Mohammed Ismail<br />
von lächerlichen Anklagen, Verhaftungen<br />
und Gerichtsterminen, d. h. nichts weiter<br />
als eine plumpe Taktik, die auf seine<br />
Tochter abzielt.“<br />
Mohammed Ismail und seine Frau<br />
befanden sich gerade auf dem Weg der<br />
Genesung von einer Covid-19-Erkrankung.<br />
Gulalai Ismails Vater saß in den<br />
vergangenen 20 Jahren mindestens fünf<br />
Mal im Gefängnis, nachdem er begonnen<br />
hatte, sich gegen die islamistische Regierung<br />
und die Taliban auszusprechen. Im<br />
Oktober 2019 verbrachte er mehr als 30<br />
Tage hinter Gittern, weil er die Regierung<br />
verleumdet haben soll. Im Juli 2020<br />
weigerte sich ein Gericht jedoch, Anklage<br />
gegen ihn zu erheben, da für die Vorwürfe<br />
keine Beweise vorhanden gewesen seien.<br />
Anschließend wurden von den Behörden<br />
neue Anschuldigungen erhoben.<br />
Britische Humanist*innen<br />
wollen Impfung<br />
Eine Umfrage unter Mitgliedern und<br />
Unterstützer*innen der Humanists UK<br />
hat eine hohe Bereitschaft zur Impfung<br />
gegen Sars-CoV2/Covid19 ergeben. Auf<br />
die Frage „Wie wahrscheinlich ist es,<br />
dass Sie sich gegen das Coronavirus<br />
impfen lassen, wenn es angeboten wird“<br />
Hallo<br />
aus<br />
England!<br />
Drei Fragen an Alice Roberts,<br />
Evolutionsbiologin und Präsidentin<br />
der Humanists UK, und Andrew Copson,<br />
Direktor der Humanists UK, zu ihrem<br />
erfolgreichen „Little Book of Humanism“.<br />
Was war die Motivation, dieses<br />
Buch zusammenzustellen?<br />
AR, AC Es gibt großartige Bücher<br />
über den Humanismus als Philosophie,<br />
die von Philosoph*innen<br />
geschrieben wurden, aber wir waren<br />
beide der Meinung, dass es ein Buch<br />
braucht, das kurz und zugänglich ist<br />
und mehr vom Humanismus als aktivem<br />
Ansatz zum Leben handelt. Wir<br />
wollten ein Buch, das positiv ist, das<br />
von den positiven Überzeugungen und<br />
Werten und Meinungen ausgeht, die<br />
Humanist*innen haben. Und wir wollten<br />
ein Buch, das illustrativ ist, das<br />
also nicht nur unsere eigenen Worte,<br />
sondern die Vielfalt <strong>humanistisch</strong>en<br />
Denkens zu verschiedenen Themen<br />
zeigt.<br />
Wie würden Sie Humanismus<br />
definieren?<br />
AR, AC Ziemlich genau so, wie er<br />
schon immer definiert wurde! Der <strong>humanistisch</strong>e<br />
Ansatz zum Leben ist ein<br />
nicht-religiöser, der das Universum<br />
(einschließlich dieses Planeten und<br />
uns selbst) als natürliches Phänomen<br />
akzeptiert, die Wichtigkeit dieses<br />
erklärten 92 Prozent der Mitglieder, sich<br />
sehr wahrscheinlich impfen zu lassen.<br />
Weitere drei Prozent gaben an, sich ziemlich<br />
wahrscheinlich impfen zu lassen.<br />
Nur vier Prozent antworten, dass sie<br />
(ziemlich) wahrscheinlich keine Impfung<br />
wollen. Ein Prozent gab an, unentschieden<br />
zu sein. Zu den Gründen befragt,<br />
erklärten ein Prozent der Teilnehmenden,<br />
aus medizinischen Gründen wie z. B. frühere<br />
schwere allergische Reaktionen, auf<br />
eine Impfung verzichten zu wollen.<br />
einen Lebens, das wir haben, betont<br />
und sich verpflichtet, das Wohlergehen<br />
von Menschen und anderen<br />
empfindungsfähigen Tieren in den<br />
Mittelpunkt unserer moralischen Entscheidungsfindung<br />
zu stellen.<br />
Sie zitieren aus der UN-Menschenrechtserklärung.<br />
Warum?<br />
AR, AC Für uns ist sie eine der<br />
ultimativen Aussagen des Humanismus.<br />
<strong>Das</strong> liegt nicht nur daran, dass<br />
Humanist*innen an ihrer Abfassung<br />
beteiligt waren, obwohl das natürlich<br />
viele waren und sie zu den Hauptakteur*innen<br />
bei der Schaffung der<br />
Menschenrechte als Rechtskonzept<br />
gehörten. Es liegt vor allem daran,<br />
dass sich die Erklärung auf Werte<br />
stützt, die unabhängig von „Stamm“,<br />
Ethnie, Glauben oder Kultur geteilt<br />
werden können. Sie beruhen auf Beobachtungen<br />
menschlicher Bedürfnisse,<br />
die universell sind, und das ist eine<br />
sehr <strong>humanistisch</strong>e Idee.<br />
<strong>Das</strong> komplette Interview können Sie hier<br />
lesen: <strong>humanistisch</strong>.net/40468<br />
24<br />
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<strong>humanistisch</strong>! <strong>#13</strong> / April <strong>2021</strong><br />
<strong>#13</strong> / April <strong>2021</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />
Buchrezension<br />
Schöne<br />
Bilder,<br />
viele<br />
Adjektive<br />
„Bücher, die die Welt veränderten“ —<br />
Die bedeutendsten Werke der Naturwissenschaften<br />
von Archimedes bis Stephen Hawking“<br />
ist von Brian Clegg geschrieben worden,<br />
einem der „brillantesten zeitgenössischen<br />
Science-Autoren.“ <strong>Das</strong> sagt zumindest sein<br />
deutscher Verlag. Und tatsächlich ist Clegg<br />
Autor zahlreicher populärwissenschaftlicher<br />
Bücher zu Themen, an die ich mich im Leben<br />
nicht herantrauen würden — namentlich im<br />
naturwissenschaftlich-mathematischen Bereich.<br />
„Bücher, die die Welt veränderten“<br />
ist allerdings eher ein Bilderbuch durchaus<br />
im positiven Sinne, denn es stellt 150<br />
Bücher aus dem Bereich (Natur-)Wissenschaften<br />
in erster Linie dadurch vor, dass<br />
einzelne Seiten oder zumindest das Cover<br />
in Farbe abgedruckt sind.<br />
<strong>Das</strong> Öffnen des Buches löst dank dieser Bebilderung Emotionen<br />
aus, wie man sie vielleicht wiedererkennt, wenn man die<br />
Verfilmung von „Der Name der Rose“ von 1986 gesehen hat. Der<br />
junge Adson von Melk blättert hier im Jahre 1327 in herrlich<br />
illustrierten pergamentenen Schriften und schon beim Zusehen<br />
ergreift einen ein sakral-ästhetisch-wissenschaftlicher Schauer.<br />
Bebilderte Bücher sind für uns natürlich keine solche Sensation<br />
mehr und deswegen fällt der schöne Schauer auch ein wenig<br />
gedämpfter aus – aber es ist schon beeindruckend, Schriften,<br />
von denen man immer wieder gehört hat, neben solchen zu<br />
finden, die einem vollkommen neu sind, die aber trotzdem der<br />
Wissenschaft ihren Stempel aufgedrückt haben. Ästhetisch ist<br />
das Buch fraglos ein Gewinn. Doch drei Dinge trüben diesen<br />
ersten ästhetischen Eindruck. Zum einen werden aus unerfindlichen<br />
Gründen mitunter die Cover nicht der Originalausgaben,<br />
sondern der Übersetzungen einiger Bücher ins Italienische oder<br />
Spanische gezeigt. <strong>Das</strong> ist zwar auch hübsch, aber nicht nachvollziehbar.<br />
Warum wird dann nicht auch die finnische oder<br />
mongolische Übersetzung gezeigt? Es steht zu vermuten, dass<br />
hier Copyright-Überlegungen eine Rolle spielten.<br />
Zweitens fällt gleich beim Öffnen des Buches aus, dass die<br />
Schrifttype ungewöhnlich klein ist. Man hat fast das Gefühl,<br />
auf den Text solle es nicht so ankommen – aber dann ist wiederum<br />
zu viel davon da, als dass man ihn ignorieren könnte. Bei der<br />
Lektüre zeigt sich dann, dass vieles von dem Text entbehrlich<br />
gewesen wäre. Allen voran die Adjektive. Dauernd ist davon die<br />
Rede, dass dieses oder jene Buch „berühmt“, „bemerkenswert“<br />
oder gar „verblüffend“ sei und als Leser denkt man dann: „ja<br />
klar, sonst wäre der Text ja wohl auch nicht hier in diesem Buch<br />
erwähnt.“ Auch die oft recht detaillierte Kartierung von Geburtsorten<br />
der fraglichen Autor*innen strengt an.<br />
Drittens wird in dem Buch immer wieder darauf hingewiesen,<br />
der oder die Autor*in habe in seinen oder ihren Annahmen<br />
„noch falsch“ gelegen. <strong>Das</strong> klingt so, als ginge der Autor davon<br />
aus, dass es eine Wirklichkeit gebe, die zu erkennen Aristoteles,<br />
Kopernikus oder Keppler noch nicht in der Lage gewesen<br />
seien. „Wie viel Mathematik würden Sie auf einer einsamen<br />
Insel erfinden?“ hat im Kontrast dazu einmal der Anthropologe<br />
Michael Tomasello bei einem Vortrag gefragt um sein Konzept<br />
des „Wagenhebereffekts“ zu erklären. Er beschreibt damit die<br />
kumulativen Effekte des Wissensaufbaus<br />
über Generationen hinweg, die sich<br />
durchaus auch in „Bücher, die die Welt<br />
veränderten“ beschrieben finden. So kann<br />
z. B. Newton auf den Überlegungen von<br />
Galilei und Keppler aufbauen – ohne sie<br />
hätte er seine „philosophia naturalis“<br />
nicht schreiben können. Doch das Buch<br />
beschreibt nicht die Kumulation, sondern<br />
betont die Defizite der fraglichen Autor*innen.<br />
Und wo wir gerade bei dem Thema<br />
„Autorinnen“ sind – die erste Wissenschaftlerin,<br />
auf die Clegg unter großem<br />
gleichstellendem Tamtam hinweist ist<br />
Marie Curie. Dabei wäre hinreichend Gelegenheit<br />
gewesen, z. B. auf Ada Lovelace<br />
hinzuweisen, oder gar auf Hypatia. Aber<br />
um Inhalte scheint es dem Autor sowieso<br />
nicht immer zu gehen – zu oft betont er<br />
den Verkaufserfolg eines Buches, als dass sich diese Schlagseite<br />
seines Werkes ignorieren ließe. Es scheint fast so, als sei das<br />
Buch aus einem Rechercheprojekt um die Frage hervorgegangen,<br />
wie sich populärwissenschaftliche Texte besonders gut verkaufen<br />
ließen.<br />
Am Ende bleibt also eine durchmischte Bilanz. Die Texte<br />
sind lehrreich, aber zugleich mit Kaum-Informationen überfrachtet,<br />
die Bilder sind schön, aber ihre Auswahl erklärt sich<br />
nicht in jedem Fall. Dennoch bin ich froh, das Buch gelesen zu<br />
haben. Es hat einen gewissen Zug und bietet einen Schweingalopp<br />
durch mehrere tausend Jahre Bildungsgeschichte, den man<br />
andernorts so nicht geliefert bekommt.<br />
Jonas Grutzpalk<br />
LESEN SIE AUCH ONLINE!<br />
USA: Säkulare „Werte-<br />
Wähler*innen“ werden<br />
wahlentscheidende Kraft<br />
Ein genauerer Blick auf die Ergebnisse der<br />
US-Wahlen 2020 zeigt, dass nichtreligiöse<br />
Wähler*innen auch bei dieser Wahl schon<br />
das Zünglein an der Waage gewesen sein<br />
könnten, meint der Soziologe und Säkularismus-Forscher<br />
Phil Zuckerman.<br />
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MUBARAK<br />
BALA<br />
Mubarak Bala und<br />
das Wüten des<br />
intoleranten Islam<br />
in Nigeria<br />
Trotz eines entlastenden<br />
Gerichtsurteils wird der Präsident der Humanistischen<br />
Vereinigung in Nigera, Mubarak<br />
Bala, im Arrest festgehalten.<br />
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AN DIESER AUSGABE HABEN MITGEWIRKT Nina Abassi,<br />
Jennifer Bardi, Jonas Grutzpalk, Sebastian Rothlauf,<br />
Martin A. Völker.<br />
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Irans<br />
säkularer<br />
Wandel<br />
Eine neue Umfrage<br />
zeigt große<br />
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in den religiösen<br />
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