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humanistisch! Das Magazin #17 - 2/2022

Demokratien unter Belagerung: Drei Vorschläge, sinnvoll mit der neuen Krise in den internationalen Beziehungen umzugehen.

Demokratien unter Belagerung: Drei Vorschläge, sinnvoll mit der neuen Krise in den internationalen Beziehungen umzugehen.

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<strong>#17</strong> / April <strong>2022</strong><br />

Demokratien<br />

unter Belagerung<br />

Drei Vorschläge, sinnvoll mit der neuen Krise<br />

in den internationalen Beziehungen umzugehen<br />

10 Essay: Lehrt uns<br />

der Ukrainekrieg,<br />

den Staat neu<br />

zu denken?<br />

20 philoscience:<br />

Der Ekel feiert<br />

Geburtstag im<br />

DFM Berlin<br />

22 Humanist Thomas Hardy –<br />

Kurzporträt eines der<br />

wichtigsten Autoren<br />

des 19. Jahrhunderts


<strong>humanistisch</strong>! <strong>#17</strong> / April <strong>2022</strong><br />

INHALT<br />

03<br />

Editorial<br />

04<br />

Kurznachrichten<br />

14<br />

Clara Immerwahr:<br />

Ein Leben für Wissenschaft<br />

und Frieden<br />

20<br />

DFM Berlin feiert Geburtstag<br />

22<br />

Thomas Hardy:<br />

Humanist und Agnostiker<br />

06<br />

Demokratien unter Belagerung<br />

15/18<br />

Nah am Puls –<br />

Neues aus der HV<br />

16<br />

Veranstaltungsplaner<br />

24<br />

boxdersinne<br />

26<br />

Weltspiegel<br />

10<br />

Rüstung in Zahlen<br />

12<br />

Essay: Wir können auch anders<br />

19<br />

Humanistische Hilfe:<br />

Es geht wieder los!<br />

28<br />

boxdesphilosophierens<br />

31<br />

Impressum<br />

Titelfoto: Ueslei Marcelino / Reuters<br />

Für Kitas!<br />

Buchung unter mobil@philoscience.de, weitere Infos unter philoscience.de<br />

box<br />

des philosophierens<br />

Sich mit den Kleinsten den größten Fragen stellen +++ die Mitmach-Box mit dem Raben Sokrates


<strong>#17</strong> / April <strong>2022</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />

editorial<br />

Liebe Leserinnen,<br />

liebe Leser,<br />

hatten Sie eine Lehrkraft im Geschichtsunterricht, die es verstand,<br />

für das Fach zu begeistern? Ich bewundere Menschen,<br />

denen der für gelungenen Unterricht notwendige Balance-Akt<br />

gelingt: weder das alleinige Berichten interessanter Einzelschicksale<br />

noch das alleinige Wissen von Daten und Fakten,<br />

sondern die richtige Mischung.<br />

Während wir aktuell nun in Zeiten leben, die – zumindest mittelfristig,<br />

soviel mag sicher sein – historische Relevanz aufweisen, so<br />

erleben viele auch ein Gefühl der Ratlosigkeit, auch angesichts unserer<br />

neusten Krise, des Ukraine-Konfliktes. Zu groß und vielfältig scheinen die politischen<br />

Probleme, vor die wir gestellt sind.<br />

<strong>Das</strong> Problem bei aktuellen Ereignissen ist eben, dass wir nicht wissen, wie<br />

es weitergehen wird, welchen Effekt einmal getroffene Entscheidungen haben<br />

werden und welche Beweggründe den Taten Einzelner zugrunde liegen – das alles<br />

gelingt nur in der Retrospektive und auch dann nur mit einem Rest von Unsicherheit.<br />

Man darf auch nicht dem Trugschluss erliegen, dass wir unter einem Mangel<br />

an Informationsquellen leiden – diese sind zahlreich wie nie, aber leider inzwischen<br />

immer weniger zuverlässig. Gerade online erlebt man eine breite Palette<br />

von Meldungen: <strong>Das</strong> ganze Spektrum zwischen reiner Propaganda und seriöser<br />

Berichterstattung ist hier abgedeckt. Immerhin die öffentliche Meinung scheint<br />

zur Zeit recht klar und auf zwei Personen konzentriert: Putin, den Aggressor eines<br />

verbrecherischen Angriffskrieges und Zerstörer der europäischen Friedensordnung<br />

und Selensky, den sympathischen Underdog und unermüdlichen Kämpfer für<br />

die Freiheit.<br />

Leider stellt sich die Situation bei genauerer Betrachtung aber nicht so einfach<br />

dar, es handelt sich eben um keine Heldenerzählung und wir dürfen den Kontext<br />

der Ereignisse nicht außer Acht lassen. Müssen wir also Putin zu Gute halten, dass<br />

er für eine unterdrückte Minderheit mitten in Europa eintritt? Und ist Selensky<br />

nur ein medienerfahrener Schauspieler, der mit Hilfe von ukrainischen Oligarchen<br />

an sein Amt gekommen ist und die öffentliche Meinung gut im Griff hat? Ich kann<br />

es Ihnen nicht sagen.<br />

Was können wir als Humanistinnen und Humanisten angesichts solcher Unsicherheiten<br />

tun? Wir können uns für das einsetzen, was uns wichtig ist: Menschlichkeit<br />

und Vernunft. Aktuell gilt, es sich um die Menschen zu kümmern, deren<br />

eigenes Leben bedroht ist und die fliehen müssen. Und vernünftiges Handeln kann<br />

nur so aussehen, dass es die langfristige Sicherung eines friedvollen Zusammenlebens<br />

zum Ziel hat. Darüber hinaus bedeutet es, bei allen zu treffenden Entscheidungen<br />

auch den eigenen Standpunkt zu hinterfragen. Die kritische Meinungsbildung<br />

ist unsere stärkste Waffe gegen Propaganda. Wo es hinführt, wenn man<br />

dieser erliegt, das wissen wir alle aus dem Geschichtsunterricht.<br />

Ich hoffe, dass Sie nun in dieser Ausgabe viele anregende Ideen für Ihre<br />

Meinungsbildung finden und dass Sie uns auch weiter gewogen bleiben.<br />

Ihr<br />

Sebastian Rothlauf<br />

Präsident der Humanistischen Vereinigung<br />

3


<strong>humanistisch</strong>! <strong>#17</strong> / April <strong>2022</strong><br />

Foto: ©Bumann/adobestock.com<br />

E<br />

ine neue Rekordzahl von<br />

insgesamt 58 Einrichtungen,<br />

Diensten und Projekten<br />

wird inzwischen unter dem<br />

bundesweiten Dach der Humanistischen<br />

Vereinigung<br />

(HV) betrieben. Die Zahl der<br />

Mitarbeitenden in der HV-<br />

Gruppe stieg auf fast 400.<br />

<strong>Das</strong> zeigt der neue HV-Jahresbericht<br />

für 2020/2021, der<br />

vor kurzem erschienen ist.<br />

Er zeichnet die Entwicklung<br />

im Zeichen der Corona-Pandemie<br />

nach, bietet zahlreiche<br />

Einblicke in die Einrichtungen<br />

und Projekte und liefert<br />

O-Töne aus unserer <strong>humanistisch</strong>en<br />

Arbeit. Der Bericht<br />

hält außerdem einige weitere<br />

bemerkenswerte Zahlen parat,<br />

manche davon mit humorvollem<br />

Augenzwinkern:<br />

So wurden dank der Nutzung<br />

von Elektro-Kfz und Lastenrädern<br />

nicht nur insgesamt<br />

Jahres<br />

ber icht<br />

2020<br />

2021<br />

Spitzenmäßig<br />

knapp 6 Tonnen CO 2 eingespart,<br />

sondern auch rund<br />

36.500 ökologisch nachhaltig<br />

erzeugte Hühnereier in<br />

der heilpädagogischen Einrichtung<br />

„die 9“ auf dem<br />

Jurahof im oberpfälzischen<br />

Etzelwang eingesammelt.<br />

Trotz der pandemiebedingten<br />

Beschränkungen konnten<br />

Dutzende Veranstaltungen<br />

erfolgreich durchgeführt<br />

werden. Und die Ausweitung<br />

der Aktivitäten unter dem<br />

Dach der HV-Gruppe geht<br />

weiter, denn unsere 21. Kita<br />

hat Anfang April in Hannover<br />

ihren Betrieb aufgenommen.<br />

Lesen Sie mehr dazu auf<br />

Seite 15 in dieser Ausgabe.<br />

Den Jahresbericht finden<br />

Sie auch online: <strong>humanistisch</strong>e-vereinigung.de/<br />

dateien/PDF/Jahresberichte/<br />

HV_Jahresbericht2020_21_<br />

eBook.pdf<br />

WENIGER VORBEHALTE<br />

Zuwanderung stößt in der deutschen Gesellschaft auf weniger<br />

Ablehnung, mehr Bürger*innen sehen die positiven Seiten<br />

von Migration nach Deutschland. <strong>Das</strong> geht aus einer aktuellen<br />

Studie zur Willkommenskultur der Bertelsmann Stiftung hervor.<br />

Demnach äußerten 68 Prozent der Befragten der Ansicht, Zuwanderung<br />

bringe Vorteile für die Ansiedlung internationaler Firmen.<br />

65 Prozent erwarten eine geringere Überalterung der Gesellschaft,<br />

55 Prozent einen Ausgleich zum Fachkräftemangel und<br />

48 Prozent Mehreinnahmen für die Rentenversicherung.<br />

Analog dazu sind Sorgen vor möglichen negativen Effekten<br />

von Zuwanderung weiter zurückgegangen, auch wenn diese nach<br />

wie vor von einer Mehrheit geteilt werden. Befürchtungen im<br />

Hinblick auf Belastungen für den Sozialstaat äußern 67 Prozent<br />

der Befragten, 2017 waren es noch 79 Prozent. Konflikte zwischen<br />

Eingewanderten und Einheimischen erwarten noch 66 Prozent.<br />

Mit Problemen in Schulen rechnen nur noch 56 Prozent (2017:<br />

68 Prozent). Nur eher leicht verringert hat sich die Sorge vor<br />

Wohnungsnot in Ballungsräumen, die mit 59 Prozent nur sechs<br />

Prozentpunkte niedriger liegt als 2017.<br />

Insgesamt sei noch viel Luft nach oben, so die Studienautor*innen.<br />

Noch immer sehe sich nur eine Minderheit von<br />

Migrant*innen in zentralen gesellschaftlichen Bereichen vertreten.<br />

Die Wahrnehmung der Wertschätzung von Leistungen der<br />

Zugewanderten in Deutschland habe sich seit Jahrzehnten wenig<br />

verändert, hieß es.<br />

Quelle: Kösemen, Orkan / Wieland, Ulrike, Willkommenskultur zwischen Stabilität und Aufbruch<br />

– Aktuelle Perspektiven der Bevölkerung auf Migration und Integration in Deutschland,<br />

Bertelsmann Stiftung <strong>2022</strong><br />

Die neue Normalität<br />

Nicht Mitglied in einer der<br />

beiden großen Kirchen<br />

in Deutschland zu sein, wird<br />

höchstwahrscheinlich bereits<br />

im laufenden Jahr zur neuen<br />

Normalität. <strong>Das</strong> legen die aktuellen<br />

Daten der Mitgliederstatistik<br />

der Evangelischen Kirche<br />

in Deutschland (EKD) nahe.<br />

Demnach verringerte sich die<br />

Zahl der EKD-Mitglieder 2021<br />

um 2,5 Prozent auf nun 19,725<br />

Millionen.<br />

Die Deutsche Bischofskonferenz<br />

wird voraussichtlich<br />

im Juni die aktuelle Statistik<br />

zu den Mitgliedschaftszahlen<br />

in der römisch-katholischen<br />

Kirche in Deutschland veröffentlichen.<br />

Und es ist wahrscheinlich,<br />

dass auch hier ein<br />

hoher Schwund verzeichnet<br />

wird. Denn neben dem allgemeinen<br />

Trend zum Austritt<br />

sorgten die Kontroversen um<br />

die Aufarbeitung sexueller<br />

Gewalt in der Kirche in den vergangenen<br />

Monaten vielerorts<br />

für auf Monate ausgebuchte<br />

Termine bei den zuständigen<br />

Ämtern. „Hält der bisherige<br />

Trend des Mitgliederrückgangs<br />

in der Katholischen Kirche auch<br />

an, könnte erstmals der Anteil<br />

der evangelischen und katholischen<br />

Christen an der Gesamtbevölkerung<br />

in Deutschland<br />

unter die 50-Prozent-Marke<br />

sinken“, schließt das christliche<br />

<strong>Magazin</strong> Pro seinen Bericht zu<br />

den jüngsten EKD-Zahlen.<br />

4


<strong>#17</strong> / April <strong>2022</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />

HV fordert Sonderberichterstatter<br />

Für die Beauftragung eines Sonderberichterstatters<br />

für die Menschenrechtslage<br />

in Russland hat sich im<br />

März die Humanistische Vereinigung<br />

ausgesprochen. In einem Aufruf an<br />

Bundesaußenministerin Annalena<br />

Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen)<br />

verurteilte die HV den Krieg der Russischen<br />

Föderation gegen die Ukraine<br />

aufs Schärfste und forderte Baerbock<br />

auf, auf eine entsprechende Resolution<br />

des UN-Menschenrechtsrates (UNHCR)<br />

hinzuwirken. Diese sollte die UN-Generalversammlung<br />

auffordern, Russlands<br />

Mitgliedschaft im UNHCR auszusetzen<br />

und eine Untersuchungskommission zur<br />

Überwachung der Lage der Ukraine einzurichten.<br />

Außerdem soll ein Sonderberichterstatter<br />

für die Menschenrechtslage<br />

in Russland beauftragt werden.<br />

„Es besteht ein eindeutiger Zusammenhang<br />

zwischen Russlands repressiver<br />

Menschenrechtsbilanz im eigenen<br />

Land (…) und Putins Fähigkeit, einen<br />

Angriffskrieg mit äußerst begrenzter<br />

Kontrolle, Ausgewogenheit oder Rechenschaftspflicht<br />

zu führen“, so das Schreiben<br />

an die Bundesaußenministerin.<br />

WAHLFREIHEIT<br />

WIRKT<br />

POSITIV<br />

Nicht zur Teilnahme an schulischem<br />

Religionsunterricht<br />

verpflichtet zu sein, wirkt sich<br />

positiv auf Arbeitsmarktbeteiligung,<br />

Religiosität und Lohnniveau<br />

aus. Zu diesem Ergebnis<br />

ist eine Studie des ifo Instituts<br />

gekommen. Dafür befragt wurden<br />

mehr als 58.000 Erwachsene,<br />

die zwischen 1950 und 2004<br />

in den alten Bundesländern<br />

eingeschult worden sind.<br />

Den Ergebnissen zufolge hat<br />

nach Einführung der Wahlfreiheit<br />

zwischen Religionsunterricht<br />

und einem Alternativfach<br />

in den alten Bundesländern<br />

zwischen 1972 und 2004 neben<br />

der allgemeinen Religiosität<br />

auch die Wahrscheinlichkeit<br />

abgenommen, an einem<br />

Gottesdienst teilzunehmen,<br />

zu beten oder Mitglied einer<br />

Kirche zu sein. Zurückgegangen<br />

Foto: sebra / 123RF.com<br />

seien außerdem traditionelle<br />

Einstellungen zur Aufgabenverteilung<br />

der Geschlechter<br />

und zur Notwendigkeit einer<br />

Eheschließung. Angestiegen sei<br />

hingegen die Arbeitsmarktbeteiligung<br />

(+1,5 Prozent) und das<br />

Lohnniveau (+5,3 Prozent). Die<br />

in den vergangenen Jahrzehnten<br />

vollzogenen Unterrichtsreformen<br />

hätten aber nicht<br />

die Lebenszufriedenheit oder<br />

ethisches Verhalten wie etwa<br />

ein ehrenamtliches Engagement<br />

negativ beeinflusst, so<br />

die Forscher*innen. Vor den<br />

Reformen war der verpflichtende<br />

Religionsunterricht sehr<br />

intensiv: Während der gesamten<br />

Schulzeit umfasste er rund<br />

1.000 Unterrichtsstunden, etwa<br />

viermal so viel wie der Physikunterricht.<br />

Quelle: Arold, Benjamin W. / Woessmann, Ludger / Zierow, Larissa, Can Schools Change<br />

Religious Attitudes? Evidence from German State Reforms of Compulsory Religious Education,<br />

CESifo, München <strong>2022</strong><br />

Kernforderungen<br />

zur Migration<br />

Kernforderungen zur<br />

17 Umsetzung des Global<br />

Compact for Migration wurden<br />

im Februar von einem<br />

breiten Bündnis vorgestellt.<br />

Ihm gehören u. a. Diakonie<br />

und Caritas, Plan International,<br />

das Nürnberger Menschenrechtszentrum<br />

wie<br />

auch der Paritätische<br />

Gesamtverband<br />

an, in dem<br />

die Humanistische<br />

Vereinigung<br />

Mitglied ist. Zu den<br />

Kernforderungen gehört<br />

unter anderem, dass<br />

die Politik sich nicht einseitig<br />

auf Abkommen mit einem<br />

Schwerpunkt auf Rückkehr<br />

und Rückübernahme konzentrieren<br />

sollte. Des Weiteren<br />

sollte sie „durchdachte,<br />

selbstbestimmte, sichere<br />

und reguläre Migrationswege“<br />

unterstützen, die im Koalitionsvertrag<br />

versprochenen<br />

Verbesserungen beim<br />

Familiennachzug schnellstmöglich<br />

umsetzen und die<br />

Möglichkeiten zum Erwerb<br />

der Staatsbürgerschaft verbessern.<br />

Vorgeschlagen wird<br />

außerdem ein Beteiligungsgesetz,<br />

um Inklusion, Zugehörigkeitsgefühle<br />

und die<br />

Interessenvertretung durch<br />

Migrant*innenorganisationen<br />

zu fördern. Bei letzteren<br />

sehen die Autor*innen noch<br />

großen Nachholbedarf bei der<br />

effektiven Einbeziehung<br />

in die Migrationspolitik.<br />

Migrant*innenorganisationen<br />

würden gern mehr<br />

zur Gestaltung des<br />

politischen Prozesses<br />

beitragen, hätten<br />

aber oft nicht die notwendigen<br />

finanziellen und<br />

personellen Ressourcen.<br />

„Etablierte und größere Organisationen<br />

der Zivilgesellschaft<br />

spielen eine wichtige<br />

Rolle, indem sie Beratungsdienste<br />

für Migrant*innen<br />

anbieten und sich in Integrationsprojekten<br />

engagieren,<br />

für die sie auch staatliche<br />

Mittel erhalten“, heißt<br />

es hierzu im Vorwort der<br />

Kernforderungen.<br />

Mehr dazu online:<br />

<strong>humanistisch</strong>.net/gcfm_<br />

kernforderungen<br />

<strong>humanistisch</strong>!net<br />

Wir sind auch online!<br />

News, Interviews, Kommentare.<br />

5


<strong>humanistisch</strong>! <strong>#17</strong> / April <strong>2022</strong><br />

DEMOKRATIEN<br />

UNTER<br />

BELAGERUNG<br />

Fotos: ©misu/adobestock.com<br />

6


<strong>#17</strong> / April <strong>2022</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />

Schon Ende Februar war<br />

klar: Der Schaden, den<br />

Wladimir Putin mit<br />

seinem Angriffskrieg<br />

auf die Ukraine verursacht,<br />

geht weit über die<br />

Verwüstungen hinaus,<br />

die seine Truppen im Land anrichten.<br />

Vier Wochen später deuteten Meldungen<br />

zwischen den vielen Schlagzeilen<br />

zum neuen Krieg an, warum. Der März<br />

<strong>2022</strong> war der sonnigste seit Beginn der<br />

Aufzeichnungen, große Teile Deutschland<br />

von Bodendürre betroffen. Den<br />

für europäische und andere Staaten<br />

weltweit erheblichen Ernteausfällen<br />

in der Ukraine könnten sich weitere<br />

hinzugesellen, so die begründete Sorge.<br />

Expert*innen betonten zwar, dass dies<br />

erstmal nur eine Wetterlage sei, deren<br />

Ursache nicht sicher im menschengemachten<br />

Klimawandel zu sehen sei.<br />

Doch der völkerrechtswidrige Angriffskrieg<br />

Russlands wird auf Monate hin<br />

viele andere drängende Themen überlagern<br />

– nicht nur das Riesenthema des<br />

menschengemachten Klimawandels.<br />

Der eben gerade nicht fragt, ob wir<br />

eventuell Zeit dafür hätten.<br />

Kaum scheint also der Höhepunkt<br />

der einen Krise – die Pandemie – hinter<br />

uns zu liegen, steht die nächste bereits<br />

im Haus: Krieg in Europa. Und diese<br />

verdrängt abermals eine noch größere,<br />

die des Klimawandels. Während wir<br />

nun seit Wochen die Berichte über die<br />

Gräuel, die jeder Krieg bringt, lesen<br />

oder hören, stellt sich mir die Frage:<br />

Welche Möglichkeiten bieten sich,<br />

sinnvoll mit dieser neuen Krise in den<br />

internationalen Beziehungen und dem<br />

ersten Krieg in Europa seit 30 Jahren<br />

umzugehen? Ich sehe in aller Kürze<br />

drei.<br />

1.<br />

Fragen wir uns: Wie sind<br />

<strong>humanistisch</strong>e Haltungen zu<br />

Krieg und Frieden?<br />

Hierzu erklärt die Oslo-Deklaration der<br />

Humanists International einleitend:<br />

„Viele Humanist*innen, von den Carvaka-Lehrern<br />

des alten Indiens bis zu<br />

Bertrand Russell und von den Epikureern<br />

im alten Europa bis zu Jawaharlal<br />

Nehru, haben hart für Frieden gearbeitet.<br />

Weil das individuelle menschliche<br />

Leben einen unersetzlichen Wert hat,<br />

Nur noch<br />

45 Prozent der<br />

Weltbevölkerung<br />

lebten 2020<br />

in einer<br />

Demokratie.<br />

alle Probleme, mit denen die Menschheit<br />

konfrontiert ist, im Hier und Jetzt<br />

gelöst werden müssen, und wir uns für<br />

die aktive Nutzung der menschlichen<br />

Vernunft und des Mitgefühls bei der<br />

Bewältigung dieser Probleme einsetzen,<br />

glauben wir: Alle Kriege werden<br />

von Menschen geführt und können dadurch<br />

beendet werden, dass Menschen<br />

zusammenarbeiten. Gewalttätige Konflikte<br />

sind enorm destruktiv, zerstören<br />

Leben, verschwenden Ressourcen und<br />

belasten die Umwelt. Manchmal ist<br />

dies vielleicht der einzige Weg, um größeren<br />

Schaden zu verhindern, aber es<br />

sollte immer das allerletzte Mittel sein,<br />

und wir sollten daran arbeiten, Kriege<br />

zu beenden.“<br />

Auch grundsätzlich friedfertige und<br />

pazifistische Haltungen sollten aus<br />

<strong>humanistisch</strong>er Sicht also Grenzen kennen.<br />

Sehr prägnant auf den Punkt gebracht<br />

hat dies der Philosoph und Aktionskünstler<br />

Philipp Ruch. Er beruft<br />

sich auf sein Konzept des „aggressiven<br />

Humanismus“ und sagte: „Ich halte den<br />

rigorosen Pazifismus von Menschen,<br />

zumindest wenn sie Krieg nicht erlebt<br />

haben, für eine Form von Verantwortungslosigkeit<br />

oder Feigheit. Zwei<br />

Wochen vor dem Genozid von Srebrenica<br />

rief die Grüne Marieluise Beck im<br />

Bundestag dazu auf, die Zivilbevölkerung<br />

militärisch zu verteidigen. Dabei<br />

sprach sie einen Satz, dessen Weisheit<br />

die meisten Pazifisten nie verstanden<br />

haben: ‚Auschwitz wurde von Soldaten<br />

befreit‘.“ Und zu praktischen Details:<br />

„Der Humanismus soll sich nicht als<br />

Masse freundlich durch irgendwelche<br />

Straßen schleppen, sondern Pässe<br />

fälschen, Beamte bestechen und Büros<br />

besetzen. Der Kampf um die Menschenrechte<br />

geht im 21. Jahrhundert in eine<br />

neue Runde“, so Ruch.<br />

Aktuelle Studien untermauern so<br />

eine Prognose. Nur noch 45 Prozent der<br />

Weltbevölkerung lebten 2020 in einer<br />

Demokratie, so der Bericht des Analyseunternehmens<br />

der renommierten<br />

Wochenzeitung The Economist. Ein<br />

Jahr zuvor waren es noch knapp 50<br />

Prozent gewesen. Auch der Bericht des<br />

US-amerikanischen Instituts Freedom<br />

House stellte für das Jahr 2020 eine<br />

Verschlechterung fest, wie es sie seit 15<br />

Jahren nicht mehr gegeben hat.<br />

Zugleich hat der neue Krieg in<br />

Europa weitere grundsätzliche Fragen<br />

aufgeworfen. Denn klar ist, dass<br />

Putin längst nicht die gesamte Bevölkerung<br />

Russlands hinter sich hat. Was<br />

könnten freiheitliche Demokratien in<br />

Europa also tun, um diesen Konflikt<br />

und kriegerische Ambitionen per se zu<br />

entschärfen? Hier liegt eine Lösung auf<br />

der Hand: Wer zu einem Angriffskrieg<br />

gezwungen wird, sollte in freiheitlich,<br />

<strong>humanistisch</strong> geprägten Demokratien<br />

politisches Asyl erhalten. Viele junge<br />

Männer seien als Soldat*innen in der<br />

russischen Armee zwangsverpflichtet,<br />

ohne dass sie die Ziele von Putins Regime<br />

teilen oder unterstützen wollen,<br />

sagte hierzu im März der Vorstand<br />

der Humanistischen Vereinigung und<br />

Präsident der Europäischen Humanistischen<br />

Föderation, Michael Bauer. „Es<br />

steht uns gerade in Deutschland gut an,<br />

diese jungen Menschen nicht allein zu<br />

lassen. Einer verbrecherischen Armee<br />

den Rücken zu kehren und sich dem<br />

Morden zu verweigern, ist ein Zeichen<br />

großen Mutes und verdient unsere<br />

Hochachtung“, so Bauer weiter.<br />

Trotz des völkerrechtswidrigen<br />

Angriffs der Russischen Föderation auf<br />

die Ukraine und dem unerträglichen<br />

Leiden ihrer Menschen verbieten sich<br />

also Schwarz-Weiß-Malerei und nationalistische<br />

Verallgemeinerungen. Denn<br />

bei weitem nicht alle Russ*innen sind<br />

Anhänger*innen Putins oder des von<br />

ihm geführten Krieges.<br />

2.<br />

Werfen wir einen Blick in<br />

das Seelenleben Russlands<br />

Allerspätestens seit dem Vorgehen der<br />

russischen Regierung gegen den Oppositionspolitiker<br />

Alexei Nawalny ist klar,<br />

1) https://docs.<strong>humanistisch</strong>.net/oslo-deklaration/<br />

7


<strong>humanistisch</strong>! <strong>#17</strong> / April <strong>2022</strong><br />

dass der postsowjetische Nachfolgestaat<br />

keine Demokratie (mehr) ist – und<br />

schon gar keine „lupenreine“. Schon seit<br />

Jahren macht Putin sein illiberales und<br />

autoritäres Staatsverständnis durch<br />

das konsequente Vorgehen gegen zahlreiche<br />

Oppositionsbewegungen und<br />

die Ausschaltung sämtlicher kritischer<br />

Stimmen überdeutlich. Doch nicht nur<br />

in demokratischer Sicht unterscheidet<br />

sich Russland erheblich von den Verhältnissen,<br />

wie wir sie im mittleren<br />

und westlichen Europa kennen. Auch<br />

weltanschaulich klaffen tiefe Gräben.<br />

Denn ohne jahrzehntelang aufgebauten<br />

Rückhalt von Seiten der<br />

russisch-orthodoxen Kirche wäre<br />

Putins Krieg gegen Europa wohl nicht<br />

möglich geworden. Im Zusammenspiel<br />

mit staatlichen Medien stellt sie<br />

die Zustimmung zum Krieg bzw. die<br />

Zurückhaltung beim Protest gegen ihn<br />

sicher. Die russische Regierung stützt<br />

sich ökonomisch zweifellos auf die<br />

europäische Abhängigkeit von Energielieferungen<br />

aus Russland. Im gleichen<br />

Maß stützt sie sich ideologisch auf<br />

den Rückhalt der russisch-orthodoxen<br />

Kirche. Sie hat mit staatlicher Unterstützung<br />

in den letzten Jahrzehnten erheblich<br />

an Einfluss gewonnen. Tausende<br />

Kirchengebäude wurden nach dem<br />

Zerfall der Sowjetunion wiederöffnet,<br />

hunderte in bedeutenden Metropolen<br />

wie Moskau neu erbaut. Die Kirche<br />

selbst zählt inzwischen fast alle der<br />

140 Millionen Einwohner*innen umfassenden<br />

russischen Bevölkerung als<br />

ihre Mitglieder, auch wenn das gar<br />

nicht stimmt. Der Moskauer Patriarch<br />

Kyrill I., Oberhaupt der Kirche, bezeichnete<br />

in einer Predigt am 6. März dieses<br />

Jahres die Gegner*innen Russlands als<br />

„Kräfte des Bösen“ und rechtfertigte<br />

den russischen Angriff auf die Ukraine<br />

damit, dass Putin das Land vor Gay-<br />

Pride-Paraden schützen wolle. Übrigens:<br />

Die russisch-orthodoxe Kirche in<br />

Bayern, deren Oberhaupt Kyrill I. ebenfalls<br />

ist, erhält vom Freistaat Bayern<br />

in diesem Jahr rund 38.000 Euro zur<br />

Förderung ihrer Gemeindearbeit.<br />

„Die Re-Klerikalisierung ist ein politisches<br />

Werkzeug. Die Regierung hat<br />

es sehr schnell verstanden: Je größer<br />

der religiöse Einfluss in der Gesellschaft<br />

ist, umso einfacher ist es, diese<br />

Gesellschaft zu lenken. Vor allem in<br />

den Provinzteilen Russlands, wo es<br />

massiven Drogen- und Alkoholmissbrauch<br />

gibt, versucht man die Rolle der<br />

Die Re-Klerikalisierung<br />

ist<br />

ein politisches<br />

Werkzeug […].<br />

Je größer der<br />

religiöse Einfluss<br />

in der Gesellschaft<br />

ist, umso<br />

einfacher ist<br />

es, diese Gesellschaft<br />

zu lenken.<br />

Kirche dominant werden zu lassen.<br />

<strong>Das</strong> funktioniert dann durch viele<br />

Projekte, wie z. B. den Bau von weiteren<br />

hunderten orthodoxen Kirchen<br />

und der Gründung von religiösen<br />

Vereinen, die Drogenabhängigen ihre<br />

Hilfe anbieten. Diese Projekte haben<br />

wirklich eine unglaubliche Wirkung.<br />

Die Kirche ist sehr regierungsnah und<br />

das gewonnene Vertrauen durch die<br />

Kirche garantiert neue Wähler*innenstimmen<br />

für die heutige Regierung“,<br />

berichtete die Russlanddeutsche und<br />

Mathematikerin Veronika Kuchta, die<br />

heute in Australien lebt, schon vor<br />

Jahren über ihre Beobachtungen seit<br />

Putins Amtsantritt. „Die Menschen in<br />

Russland haben leider nie gelernt, was<br />

es heißt, frei zu sein. Jahrzehntelange<br />

kommunistische Geschichte begleitet<br />

von vielen Repressionen hat die Menschen<br />

so sehr eingeschüchtert, dass<br />

auch die 90er Jahre das Verhalten und<br />

die Gewohnheiten der Menschen nicht<br />

richtig ändern konnten. Sie hatten<br />

wichtigere Sachen zu erledigen, als sich<br />

um ihre Weltanschauung zu kümmern.<br />

Die Menschen wussten nicht, was sie<br />

mit der neu erworbenen Freiheit anstellen<br />

sollten“, so Kuchta weiter. „Die<br />

Regierung hat schnell zwei Werkzeuge<br />

eingeführt, antiwestliche Propaganda<br />

und die Kirche mit den traditionellen<br />

Werten, um die Menschen zu beschwichtigen.“<br />

Auch Vertreter*innen säkularer<br />

Organisationen in Russland bestätigten<br />

heute Kuchtas Einschätzung. Mit<br />

Verweis auf die harten Strafen für<br />

kritische Äußerungen gegen die Regierungspolitik<br />

bat der Präsident der Humanistischen<br />

Vereinigung Russlands,<br />

Yaroslav Golovin, um Verständnis,<br />

sich nicht öffentlich äußern zu wollen.<br />

Alexander Golomolzin, seit 2012 Leiter<br />

der säkularen „Stiftung für geistige Gesundheit“,<br />

sagte im Interview noch vor<br />

dem Krieg gegen die Ukraine: „Meiner<br />

Meinung nach ist es notwendig, den<br />

Lebensstandard und die Bildung zu<br />

heben. Säubern Sie den Schullehrplan<br />

von Religion. Der Religionsunterricht<br />

verwischt das Weltbild der Kinder.<br />

Aber das Problem liegt nicht allein im<br />

Religionsunterricht. Sie haben den gesamten<br />

Schullehrplan neugestaltet. In<br />

all diesen Fächern werden nach Möglichkeit<br />

religiöse Themen integriert:<br />

Russisch, Literatur, Musik, Bildende<br />

Kunst. In irgendeinem Lehrbuch der<br />

Biologie habe ich gesehen, dass die<br />

Evolutionstheorie neben Kreationismus<br />

8


<strong>#17</strong> / April <strong>2022</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />

und Panspermie eine der Hypothesen<br />

für die Entstehung des Menschen ist.“<br />

Im März bat auch er nun um Verständnis,<br />

sich nicht öffentlich äußern<br />

zu wollen. Und das falle ihm nicht<br />

leicht. Am liebsten würde er das Land<br />

verlassen, sagt er, doch das war schon<br />

vor dem Krieg nicht möglich, solange<br />

er nicht als politische verfolgte Person<br />

in Gefahr um Leib und Leben sei. „<strong>Das</strong><br />

Schwierigste ist jetzt, zu schweigen,<br />

weil man Angst um die Zukunft seiner<br />

Kinder hat. Wenn ich früher viel geredet<br />

habe, um eine bessere Zukunft für<br />

sie zu erreichen, muss ich jetzt schweigen“,<br />

schreibt Golomolzin.<br />

3.<br />

Frieden stiften, solidarisch<br />

sein, kritisch bleiben<br />

Bundeskanzler Olaf Scholz hat nun als<br />

Reaktion auf Russlands Krieg in Europa<br />

einen 100-Milliarden-Etat zur Aufrüstung<br />

der Bundeswehr angekündigt.<br />

Militär und Rüstungsindustrie gehören<br />

– abermals das Stichwort Klimawandel<br />

– allerdings nicht nur zu den größten<br />

Emittenten von klimaschädlichen<br />

Gasen und Verursachern von Umweltschäden.<br />

Sie sind häufig auch riesige,<br />

verschwenderische Apparate, bei denen<br />

kritisch gefragt werden muss: Konnten<br />

und können die bestehenden Etats<br />

nicht effizienter eingesetzt werden, um<br />

eine Streitmacht mit qualifiziertem<br />

Personal und funktionierender Ausrüstung<br />

zu garantieren? 100 Milliarden<br />

könnten wir auch anderswo gut<br />

brauchen.<br />

Die Journalistin und stellvertretende<br />

Vorsitzende des Willy-Brandt-Kreises<br />

Daniela Dahn vollzog zudem Ende<br />

März in einem lesenswerten Essay mit<br />

dem Titel „Frieden muss gestiftet werden“<br />

beim Online-<strong>Magazin</strong> Telepolis<br />

nach, wie die Ukraine „nach und nach<br />

mit Waffenlieferungen und Nato-Manövern<br />

auf ukrainischem Territorium<br />

zu einem Defakto-Nato-Mitglied gemacht“<br />

worden sei. „Der Blick auf diese<br />

Vorgeschichte bestärkt die Annahme,<br />

dass der Krieg bei achtsamerer Politik<br />

zu verhindern gewesen wäre. Heute<br />

destabilisiert Russlands erbarmungslose<br />

Kriegsführung ganz Europa und<br />

mit der unverantwortlichen Atom-<br />

Drohung womöglich gar den sowieso<br />

löchrigen Weltfrieden“, stellte Dahn<br />

„Humanistische<br />

Anliegen dürfen<br />

gerade jetzt nicht<br />

dem Gefühl der<br />

Vergeblichkeit<br />

geopfert werden.<br />

<strong>Das</strong> Ende von<br />

Gewissheiten ist<br />

nicht das Ende<br />

von Orientierung<br />

an Normen.“<br />

Daniela Dahn, Journalistin und<br />

stellvertretende Vorsitzende<br />

des Willy-Brandt-Kreises im Essay<br />

„Frieden muss gestiftet werden“<br />

fest. „Humanistische Anliegen dürfen<br />

gerade jetzt nicht dem Gefühl der Vergeblichkeit<br />

geopfert werden. <strong>Das</strong> Ende<br />

von Gewissheiten ist nicht das Ende<br />

von Orientierung an Normen“, so Dahn.<br />

Es gelten das Völkerrecht und die UN-<br />

Charta, „und zwar für alle“, betonte sie<br />

abschließend.<br />

Der Plan der Bundesregierung, den<br />

Bezug von Energieträgern aus Russland<br />

herunterzufahren, ist sicherlich<br />

sinnvoll – doch wohl nur dann, wenn<br />

nicht Energieträger aus Staaten, deren<br />

Friedfertigkeit und menschenrechtliche<br />

Bilanz ebenso zweifelhaft ist wie die<br />

Russlands, den Ersatz stellen. Vielleicht<br />

sollten wir in den freiheitlichen,<br />

friedfertigen Demokratien uns also<br />

wirklich warm anziehen, um kriegerische<br />

Ambitionen per se zu entschärfen<br />

und so zu helfen, Frieden zu stiften.<br />

Nicht nur, um im privaten Rahmen<br />

steigende Energiepreise zu kompensieren,<br />

sondern auch um direkt dazu<br />

beizutragen, dass die sogenannten<br />

Rentierstaaten, deren Wirtschaft besonders<br />

stark auf dem Export fossiler<br />

Energieträger beruht, eine Grundlage<br />

für ihre oft menschenrechtlich und<br />

demokratisch teilweise bis stark defizitären<br />

Konstitutionen zu entziehen. An<br />

Russland sehen wir nun exemplarisch<br />

und fast vor der Haustür, welche Faktoren<br />

dazu führen können, Demokratien<br />

und demokratisch gesinnte Menschen<br />

der gewalttätigen Belagerung durch<br />

autokratische Regime auszusetzen.<br />

Und die eigentlich dringenden Probleme<br />

– Stichwort Klimawandel – rücken<br />

dadurch abermals in den Hintergrund.<br />

Die <strong>humanistisch</strong>e Solidarität gilt<br />

nun allen Ukrainer*innen, die durch<br />

den Angriff Russlands sich in einem<br />

zerstörten Land wiederfinden, die<br />

geflüchtet und heimatlos sind. Und<br />

unsere Trauer gilt denen, die ihr Leben<br />

verloren haben, und dies eben nicht<br />

nur als unwiederbringliche, menschliche<br />

Individuen. Sondern als Mütter,<br />

Väter, Kinder, Familienangehörige,<br />

Freund*innen. Mit Hoffnungen, Träumen<br />

und Liebe zu anderen in ihren<br />

Herzen, die nun in den letzten Wochen<br />

abrupt und auf schreckliche Weisen<br />

zum Stillstand gebracht wurden.<br />

Humanistische Solidarität verdienen<br />

aber auch diejenigen, die in<br />

Russland unter dem Antihumanisten<br />

Putin in Sorge um ihre Freiheit oder ihr<br />

Leben sich derzeit gezwungen sehen<br />

zu schweigen. Sie sitzen fest in einem<br />

Umfeld einer regimetreuen Bevölkerung,<br />

die an die Lügen der staatlichen<br />

Propaganda glaubt, und eines postsowjetisch<br />

orthodox-religiös durchwirkten<br />

Bildungs- und Kultursystems. Oder<br />

schlimmer: Als Oppositionelle inhaftiert<br />

oder bestraft mit der Verbannung<br />

in eines der berüchtigten russischen<br />

Straflager. Sie können nicht darauf zählen,<br />

dass sich ohne äußere Hilfe hieran<br />

bald etwas ändert – im Gegenteil: Während<br />

dieser Text fertiggestellt wurde,<br />

befand sich ein Gesetzentwurf mit dem<br />

Titel „Grundlagen der Staatspolitik<br />

– Über die Billigung der Grundlagen<br />

der Staatspolitik zur Erhaltung und<br />

Stärkung der traditionellen russischen<br />

geistigen und moralischen Werte“ im<br />

Verfahren auf dem Weg zur Unterzeichnung<br />

durch den russischen Präsidenten.<br />

Im Abschnitt „Zu den Zielen<br />

der staatlichen Politik im Bereich der<br />

traditionellen Werte“ hieß es unter anderem:<br />

„Unterstützung der Beteiligung<br />

religiöser Organisationen traditioneller<br />

Konfessionen an Aktivitäten zur Bewahrung<br />

traditioneller Werte.“ Wenig<br />

Tage später war auch diese Website der<br />

russischen Regierung von Europa aus<br />

nicht mehr zu erreichen.<br />

Arik Platzek<br />

2) https://heise.de/-6654673<br />

3) https://regulation.gov.ru/projects#npa=123967<br />

9


531.000.<br />

Mit<br />

2-10 $<br />

„In der traditionellen<br />

Lehre der Friedensforschung<br />

ging es um friedliche<br />

Menschen [...], wobei der<br />

Schwerpunkt oft auf ihren<br />

Überzeugungen und<br />

Einstellungen und weniger<br />

auf ihrem Handeln und<br />

Verhalten lag. Dieser Ansatz<br />

konzentriert sich eher auf die<br />

Akteure als auf die Strukturen<br />

und ist aus der Sicht der<br />

Friedensforschung, die dafür<br />

plädiert, beide einzubeziehen,<br />

inakzeptabel.“<br />

mussten 4,4 Milliarden Menschen 2020<br />

pro Tag auskommen, rund 3,3 Milliarden<br />

mit weniger als 5 US-Dollar.<br />

Quelle: Oxfam-Bericht 2020 „<strong>Das</strong> Ungleichheitsvirus“<br />

GRÖßTE WAFFENEXPORTEURE<br />

2016-2020<br />

37 % – USA<br />

20 % – Russland<br />

8 % – Frankreich<br />

5,5 % – Deutschland<br />

5,2 % – China<br />

Johan Galtung<br />

Der norwegische Mathematiker, Soziologe und Politologe (*1930)<br />

gilt als Gründungsvater der Friedens- und Konfliktforschung.<br />

Er gründete 1959 das erste Institut für Friedensforschung Europas<br />

und wurde 1969 zum weltweit ersten Professor in dieser akademischen<br />

Disziplin berufen. Er setzt sich für eine Demokratisierung der<br />

Vereinten Nationen ein und hat sich wiederholt für die Etablierung<br />

eines Weltparlaments, und als Vorstufe, eine parlamentarische<br />

Versammlung bei den Vereinten Nationen, ausgesprochen. Er war<br />

einer der Sprecher zur Eröffnung des World Humanist Congress<br />

2011 in Oslo, bei der die gleichnamige Deklaration von der Generalversammlung<br />

der Humanists International verabschiedet wurde.<br />

Foto: Flickr / Elevate Festival / CC BY-NC-ND 2.0<br />

GRÖßTE WAFFENIMPORTEURE<br />

2016-2020<br />

11 % – Saudi Arabien<br />

9,5 % – Indien<br />

5,8 % – Ägypten<br />

5,1 % – Australien<br />

4,7 % – China


000.000 $<br />

betrugen 2020 die Einnahmen der<br />

100 größten Rüstungskonzerne<br />

weltweit.<br />

Quelle: Friedensforschungsinstitut Sipri (Stockholm)<br />

1.180.000.000.000 $<br />

Summe der Ausgaben der Nato-Staaten für Verteidigung<br />

im Jahr 2021, 5,8 Prozent mehr als 2020.<br />

207.300.000.000 $<br />

Ausgaben Chinas für Verteidigung<br />

62.200.000.000 $<br />

geschätzte Summe der Ausgaben Russlands für „Verteidigung“<br />

Quelle: IISS<br />

Die Angaben umfassen nicht nur reine Ausgaben fürs Militär, sondern zum Beispiel auch für Grenzschutz und Geheimdienste.<br />

VERGLEICH MILITÄRISCHER<br />

OBJEKTE<br />

Nukleare Sprengköpfe<br />

NATO 6.065 Russland 6.255<br />

Kampfpanzer<br />

NATO 14.68 Russland 12.420<br />

Gepanzerte Fahrzeuge<br />

NATO 115.855 Russland 30.122<br />

Luftwaffe ins gesamt<br />

NATO 20.723 Russland 4.173<br />

Militärschiffe ins gesamt<br />

NATO 2.049 Russland 605<br />

ABSTIMMUNGSERGEBNIS<br />

DER RESOLUTION DER<br />

VEREINTEN NATIONEN<br />

VOM 2. MÄRZ <strong>2022</strong>, DIE<br />

DEN EINMARSCH RUSSLANDS<br />

IN DIE UKRAINE VERURTEILT<br />

141 Staaten stimmten mit Ja<br />

5 Staaten stimmten mit Nein<br />

35 Enthaltungen<br />

DURCH RUSSLAND<br />

RATIFIZIERTE ABKOMMEN...<br />

• Allgemeine Erklärung der Menschenrechte<br />

• Internationaler Pakt über bürgerliche<br />

und politische Rechte<br />

• Internationaler Pakt über wirtschaftliche,<br />

soziale und kulturelle Rechte<br />

• Europäische Menschenrechtskonvention


<strong>humanistisch</strong>! <strong>#17</strong> / April <strong>2022</strong><br />

Wir<br />

können<br />

auch<br />

anders.<br />

Lehrt uns der Ukrainekrieg<br />

den Staat neu zu denken?<br />

Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, der am<br />

24. Februar <strong>2022</strong> begann, hat viele grundsätzliche<br />

Fragen aufgerufen, die wir uns in Europa in dieser Genauigkeit<br />

gerne nicht gestellt hätten. Da geht es etwa<br />

um die Energie- und Getreideversorgung, um Flüchtlingspolitik<br />

oder den Staat. Und besonders die Frage nach dem Staat – dem<br />

Nationalstaat – hat es in sich. Denn der Ukraine-Krieg zeigt, wie<br />

sehr die Grundfesten des modernen Staatsdenkens schon länger<br />

wanken und es schon längst an der Zeit wäre, ihn neu, anders und<br />

inklusiver zu denken.<br />

Um uns die Sache einfacher zu machen, gehen wir hier einmal<br />

mit der legendären Drei-Elemente-Theorie an die Sache heran,<br />

die der Staatsrechtler Georg Jellinek Ende des 19. Jahrhunderts<br />

vorgelegt hat. Demnach ist ein Nationalstaat daran zu erkennen,<br />

dass er eine Einheit aus Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt<br />

darstellt.<br />

Nationalstaaten und Nationen<br />

So banal diese Definition klingt, so sehr ist ein solches Staatsverständnis<br />

auch für den Kummer verantwortlich zu machen, der insbesondere<br />

bei Minderheiten ausgelöst wurde, die nicht oder nicht<br />

eindeutig zum Staatsvolk gehören. Besonders anschaulich ist das<br />

bei den Kurden, deren sprachliches und kulturelles Ausdehnungsgebiet<br />

sich über die Staaten Syrien, Iran, Türkei und Irak erstreckt.<br />

Die Kurdenproblematik ist emblematisch für all die Minderheiten,<br />

die dadurch entstehen, dass sie nicht zum Staatsvolk gehören<br />

(können, wollen oder sollen).<br />

Türkischerseits hat man sich um Brückenschläge verschiedenster<br />

Art bemüht: man bezeichnete die Kurden beispielsweise als<br />

„Bergtürken“. Dem Begriff lag die Vorstellung zugrunde, dass<br />

sie ethnische Türken sind. Doch viele moderne Staaten hadern<br />

mittlerweile mit der ethnischen Definition von „Nation“, wie sich<br />

Fotos: dan wayman/unsplash.com; ©Jonas Grutzpalk<br />

12


<strong>#17</strong> / April <strong>2022</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />

jüngst am Urteil des Verwaltungsgerichts Köln gegen die AfD<br />

zeigte. <strong>Das</strong> Gericht stellte fest, dass „ein ethnisch verstandener<br />

Volksbegriff ein zentrales Politikziel“ der Jugendorganisation der<br />

AfD sei und dass dies vom „Volksbegriff des Grundgesetzes“ abweiche.<br />

In der Ukraine hat sich die Frage nach dem ukrainischen<br />

Staatsvolk in den Jahren seit 1991 massiv um die der Sprache<br />

gerankt. Mehrfache Schlägereien im Parlament in Kiew sind<br />

dokumentiert, die sich mit dem Streit um die Stellung des Russischen<br />

als Minderheitensprache erklären lassen. Im Ergebnis wird<br />

das Russische, das in einigen Regionen mehrheitlich im Alltag<br />

gesprochen wird, als zweite Sprache – nicht aber als Amtssprache<br />

– anerkannt.<br />

Imperien und Imperialismus<br />

Russland konnte hier außenpolitisch ansetzen und sich als Schutzmacht<br />

einer „unterdrückten“ russischen Minderheit in Szene<br />

setzen – ein Auftritt, wie er 2008 in Georgien zu kriegerischen<br />

Auseinandersetzungen geführt hatte. Zugleich zeigt der Blick<br />

auf Russland selbst, dass man in diesem riesigen Land, das sich<br />

aus elf Zeitzonen zusammensetzt, recht tolerant mit der Tatsache<br />

umgeht, dass ca. 20 Prozent der Bevölkerung nicht-russischen<br />

Volksgruppen angehören. Eine politische Entität dieser Größe und<br />

dieser Diversität nennt man üblicherweise Imperium. Der Berliner<br />

Historiker Jörg Barberowski findet bei den politischen Eliten<br />

Russlands dementsprechend auch eher ein imperiales als nationalstaatliches<br />

Denken vor.<br />

Imperien sind – im Gegensatz zu Nationalstaaten – politische<br />

Entitäten, die sich über geographische Räume ausdehnen, und<br />

denen die ethnische Zusammensetzung der dabei zusammenkommenden<br />

Bevölkerung fast egal ist. Als Bielefelder verweise ich<br />

in diesem Zusammenhang gerne auf die Spuren eines römischen<br />

Wachturms auf der Sparrenberger Egge. Die erinnern noch heute<br />

daran, dass das römische Reich nichts dagegen gehabt hätte, sich<br />

bis Ostwestfalen auszudehnen – wäre ihm da nicht Arminius in die<br />

Quere gekommen.<br />

Imperien und Nationen sind zwei Erscheinungsformen des<br />

politischen Zusammenschlusses, die uns heute vor Augen führen,<br />

dass die Geschichte des Staates noch lange nicht zu Ende<br />

erzählt ist. Dabei ist sie doch verblüffend jung! Wenn wir uns die<br />

ca. 200.000-jährige politische Geschichte des Homo Sapiens auf<br />

einem handelsüblichen Zollstock vergegenwärtigen, dann ist auf<br />

den ersten anderthalb Metern nicht in Ansätzen so etwas wie<br />

ein Staat zu erkennen. Höhlenmalereien beginnen ab 1,60 Meter,<br />

erste Ansätze der Sesshaftigkeit frühestens auf 1,80 Meter. <strong>Das</strong><br />

Neolithikum findet so ab 1,89 Meter statt, die ersten schriftlich<br />

festgehaltenen Gesetze kommen ab 1,96 Meter. Hier finden wir<br />

auch erste Imperien. Nationalstaaten kommen erst im Millimeterbereich<br />

ab 1,99 Meter vor.<br />

Zusammenhang mit Staaten denkbar. Doch zeigt der Ukraine-<br />

Konflikt, dass der Nationalstaat zu umstritten ist, um dauerhaft<br />

Frieden zu sichern.<br />

Michael Wolffsohn hat nun schon vor längerer Zeit vorschlagen,<br />

eher in politischen Föderationen zu denken, die parallel zu<br />

Nationalstaaten kulturelle und sprachliche Räume beschreiben<br />

könnten. Wie ausgegoren diese Idee ist, will ich hier gar nicht<br />

diskutieren. Sie zeigt nur eines: Wir dürfen nicht aufhören, uns<br />

über unser staatliches Zusammenleben Gedanken zu machen. Die<br />

Menschheitsgeschichte zeigt zu deutlich, dass wir das können.<br />

Politische Menschenbilder<br />

Damit das gelingt, ist es wichtig, uns vor Augen zu halten, was für<br />

Lebewesen wir sind. Elsa Dorlin hat in ihrer Philosophie der Gewalt<br />

aufgezeigt, dass wir es uns angewöhnt haben, den Menschen<br />

als sich selbst verteidigendes Wesen zu verstehen. Dieses Bild<br />

zieht sich durch die ordnungsstiftenden Institutionen genauso wie<br />

durch den Kampfsport. Es ist ein Menschenbild, das dem Selbstverteidigungsrecht<br />

eine zentrale Rolle zudenkt. Dorlin würde<br />

sich durch den Song der kölschen Band BAP bestätigt fühlen, in<br />

dem es heißt, „dat mer Kreechsminister jetz Verteidijungsminister<br />

nennt.“ Dorlin jedenfalls sieht es durchaus kritisch, wie häufig und<br />

wie intensiv politische Beziehungen in der Moderne als Verteidigungsbeziehungen<br />

beschrieben werden.<br />

David Graeber und David Wengrow aber erinnern in „The<br />

Dawn of Everything“ an die kommunikativen Möglichkeiten des<br />

Menschen und dass wir uns jenseits vom Drang, uns zu verteidigen,<br />

Gedanken über den Staat machen können und auch sollten:<br />

„Wir sind Projekte der kollektiven Selbstschöpfung. Was wäre,<br />

wenn wir die menschliche Geschichte auf diese Weise angehen<br />

würden? Was wäre, wenn wir die Menschen von Anfang an als<br />

phantasievolle, intelligente, spielerische Geschöpfe behandeln<br />

würden, die es verdienen, als solche verstanden zu werden?“<br />

Hiermit rufen sie ein Menschenbild in Erinnerung, das Aristoteles<br />

bereits vor 2300 Jahren vorgelegt hat und das den Menschen als<br />

das staatenbildende Wesen beschreibt, das sich – im Gegensatz zu<br />

Schafen und Bienen – darüber unterhalten kann, wie der Staat gestaltet<br />

sein sollte. „Die Sprache,“ so erklärt Aristoteles, solle „das<br />

Nützliche und Schädliche, und auch das Gerechte und Ungerechte<br />

offenbaren.“ Sie macht es uns Menschen möglich, einerseits unserer<br />

Natur gemäß in Gruppen zu leben und andererseits darüber<br />

zu beraten, wie diese Gruppen gestaltet sein sollen.<br />

Der Ukraine-Krieg zeigt einmal mehr auf, dass wir unsere<br />

kreativen Möglichkeiten zur Gestaltung des friedlichen Zusammenlebens<br />

noch nicht ausgeschöpft haben.<br />

Jonas Grutzpalk<br />

Föderationen?<br />

Und doch scheint es so, als müssten wir uns schon Gedanken<br />

darüber machen, wie der Staat neu gedacht werden kann. Dabei<br />

sollte man das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, denn Hannah<br />

Arendt hat vollkommen zurecht darauf hingewiesen, dass<br />

das Recht, Rechte zu haben, ein zentraler Schutzmechanismus der<br />

modernen Individualrechte ist. Dieses Recht auf Rechte ist nur im<br />

Jonas Grutzpalk ist Professor an der Hochschule<br />

für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW in<br />

Bielefeld. Daneben engagiert er sich unter<br />

anderem als Mitglied des Auswahlausschusses<br />

und als Mentor im Humanistischen Studienwerk.<br />

13


<strong>humanistisch</strong>! <strong>#17</strong> / April <strong>2022</strong><br />

Ein Leben<br />

für Wissenschaft<br />

und Frieden<br />

D<br />

Die Humanistische Vereinigung benennt ihre Studierenden-Wohngemeinschaften<br />

nach ehrwürdigen Persönlichkeiten aus Wissenschaft<br />

und Philosophie. Eine der weniger bekannten Namenspatroninnen<br />

dürfte Clara Immerwahr sein. Ihren Namen trägt eine<br />

der drei neuen WGs im WohnGut Max – neben David Hume und<br />

Galileo Galilei – in Nürnberg.<br />

„Ich schwöre, daß ich niemals in Wort oder Schrift etwas lehren<br />

werde, was meiner Überzeugung widerspricht. Daß ich vielmehr<br />

die Wahrheit zu fördern und das Ansehen und die Würde<br />

der Wissenschaft nach Kräften zu heben bestrebt sein werde.“<br />

So schwor es Clara Immerwahr im Jahr 1900 bei Verleihung ihres<br />

Doktortitels. Was die damals 30-Jährige wohl nicht ahnte: <strong>Das</strong>s<br />

sie getreu diesem Schwur einmal ihr Leben geben würde und mit<br />

ihrem Freitod noch heute die Wissenschaft an ihre ethische Verantwortung<br />

erinnert.<br />

Clara Immerwahr war die erste deutsche promovierte Chemikerin.<br />

Der Dekan der Universität Breslau merkte bei Verleihung<br />

ihrer Doktorwürde summa cum laude eher scherzhaft an, dass<br />

die Universitäten nun hoffentlich nicht von Frauen überrannt<br />

würden. Hier lässt sich erahnen, gegen welche institutionellen<br />

und gesellschaftlichen Widerstände die junge Wissenschaftlerin<br />

anzukämpfen hatte. Der Zugang zum universitären Lehrbetrieb<br />

blieb ihr verschlossen, stattdessen hielt sie Vorträge über „Chemie<br />

und Physik im Haushalt“ vor Frauen in Arbeiterbildungsvereinen,<br />

den Vorläufern der heutigen Volkshochschulen.<br />

Nach kurzer Tätigkeit als Laborassistentin an der Uni – natürlich<br />

unbezahlt, denn die Universität unterstützte keine Frauen<br />

in akademischen Berufen – heiratete Immerwahr den späteren<br />

Nobelpreisträger Fritz Haber. Ihr Wunschtraum, nach dem Vorbild<br />

des Ehepaars Curie mit ihrem Gatten gemeinsam weiter zu<br />

arbeiten und zu forschen, erfüllte sich nicht. Vielmehr entpuppte<br />

sich ihr Leben in der Rolle als Ehefrau und Mutter, die ihrem Mann<br />

den Rücken freihielt, als Albtraum, den sie im Brief an ihren Doktorvater<br />

so beschreibt: „Was Fritz in diesen acht Jahren gewonnen<br />

hat, das – und noch mehr – habe ich verloren und was von mir<br />

übriggeblieben ist, erfüllt mich selbst mit der tiefsten Unzufriedenheit“.<br />

Die Unzufriedenheit in der Verbindung mit Fritz Haber erreichte<br />

mit Beginn des ersten Weltkrieges eine neue Dimension,<br />

da dessen Tätigkeit ihrer pazifistischen Weltanschauung komplett<br />

zuwiderlief. Haber war nach der umjubelten Entdeckung des<br />

Ammoniakgleichgewichts in die chemische Industrie und letztlich<br />

in die Giftgasentwicklung eingestiegen. Clara Immerwahr verurteilte<br />

offen das Engagement ihres Gatten. So boykottierte sie<br />

Empfänge, auf denen sein patriotischer Einsatz gewürdigt wurde,<br />

verweigerte das gemeinsame Briefpapier und äußert sich in ihrer<br />

Korrespondenz antimilitaristisch, spricht von einer „Perversion<br />

der Wissenschaft“. Aus heutiger Sicht erscheinen diese Protestformen<br />

lächerlich unbedeutend und auch Immerwahr selbst trieb<br />

die Ohnmacht an der Seite Habers, dem „Vater des Gaskriegs“, in<br />

schiere Verzweiflung.<br />

So griff sie am 2. Mai 1915 zum Äußersten und wählte das<br />

wohl drastischste ihr zur Verfügung stehende Mittel: Am Tag der<br />

Abreise ihres Mannes an die Ostfront, wo ein weiterer Giftgaseinsatz<br />

geplant war, erschoss sie sich.<br />

Clara Immerwahr steht für das Ideal einer freien, allen zugänglichen<br />

Wissenschaft, die sich ihrer Verantwortung bewusst<br />

ist. Mit der Benennung einer Wohngemeinschaft im WohnGut<br />

Max erinnert die Humanistische Vereinigung an die Pazifistin und<br />

Wissenschaftlerin.<br />

Anika Herbst<br />

Die anderen WGs im WohnGut Max tragen übrigens<br />

die Namen Hannah Arendt, Simone de Beauvoir,<br />

Marie Curie, Denis Diderot, Ludwig Feuerbach und<br />

Epikur.<br />

14


<strong>#17</strong> / April <strong>2022</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />

EIN ZAUBERBAUM<br />

IST GEWACHSEN!<br />

Foto: ©HV<br />

Foto: ©very_ulissa/adobestock.com<br />

Humanistische<br />

Unterstützung für<br />

interreligiösen Dialog<br />

Gut die Hälfte der Bevölkerung Münchens gehört keiner Religionsgemeinschaft<br />

an, ist aber selbstverständlich genauso Teil des<br />

zivilgesellschaftlichen und kulturellen Lebens in der Landeshauptstadt.<br />

Deshalb hatte der Stadtrat im vergangenen Jahr auf Initiative<br />

der Fraktion von SPD und Volt und gegen die Stimmen der<br />

CSU für die Benennung eines Beauftragten für den interreligiösen<br />

Dialog gestimmt. Bei der Auftaktveranstaltung dieses Dialogs im<br />

Rathaus am Marienplatz hat Präsidiumsmitglied Wolfgang Wuschek<br />

die Humanistische Vereinigung vertreten, außerdem beteiligten<br />

sich zahlreiche Vertreter*innen religiöser Weltanschauungsgemeinschaften,<br />

wie das das Buddha-Haus, die Bahai-Gemeinde,<br />

die Alevitische Gemeinde, die Ahmadiyya Gemeinde, die Ezidische<br />

Akademie, die israelitische Kultusgemeinde, das Münchner Forum<br />

für Islam sowie die griechisch-orthodoxe, römisch-katholische und<br />

evangelisch-lutherische Kirche; außerdem verschiedene Ratsgremien<br />

(Rat der Religionen, Katholikenrat, Muslimrat und Migrationsbeirat)<br />

sowie eine Vielzahl von Organisationen des interreligiösen<br />

Dialogs.<br />

Ein erstes Ziel, auf das sich alle bei der Auftaktveranstaltung<br />

einigten, ist die Abstimmung auf einen gemeinsamen Wertekanon,<br />

den sie gegenüber der Stadt und der Öffentlichkeit vertreten<br />

werden. Inhalte sollen unter anderem das Eintreten gegen alle<br />

Formen von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, wie etwa<br />

Muslimfeindlichkeit, Antisemitismus oder Homophobie, sowie<br />

auch die Positionierung für Geschlechtergerechtigkeit sein.<br />

Wolfgang Wuschek unterstrich im Nachhinein auch den Wert<br />

der informellen Gespräche mit einzelnen Teilnehmer*innen. „Diese<br />

zeigten Interesse an uns und Wertschätzung meiner Aussagen<br />

in der Versammlung. Wie einer der Teilnehmer es formulierte,<br />

müssen wir noch viel voneinander erfahren. Trotzdem wird es<br />

einige Zeit dauern, bis wir als Weltanschauung in den Köpfen der<br />

Teilnehmer*innen präsent sind. Ich freue mich auf die Mitarbeit<br />

am gemeinsamen Wertekanon.“<br />

Am 1. April eröffnete die Humanistische Vereinigung ihre erste<br />

Kindertagesstätte in Hannover. Die Krippe ist die 21. Kindertageseinrichtung<br />

der HV und trägt den Namen „Zauberbaum“. Sie befindet<br />

sich im Stadtteil Buchholz in Hannover und bietet ganztags<br />

Platz für 15 Kinder im Alter von 1 bis 3 Jahren.<br />

Dem pädagogischen Rahmen liegen die Gedanken und<br />

Annahmen Emmi Piklers zugrunde, die sich mit dem situationsorientierten<br />

Ansatz und <strong>humanistisch</strong>en Leitgedanken optimal<br />

vereinen lassen. Die Inhalte dieses Konzeptes spiegeln sich in der<br />

Anlage und Ausgestaltung der Räumlichkeiten wieder. Um die<br />

kognitive und emotionale Entwicklung, das soziale Lernen sowie<br />

die Freude am Lernen und der Bewegung zu fördern, wurden in<br />

den vergangenen Monaten helle und freundliche Bildungs- und<br />

Funktionsräume eingerichtet und das Außengelände angelegt.<br />

Die Räume sind mit kindgerechtem Mobiliar mit Sicherheitsstandards<br />

und vielfältigem Material ausgestattet, das den Kindern<br />

frei zugänglich ist. Zum Angebot gehören selbstverständlich auch<br />

gesunde und frische Gerichte und Getränke, sowie zwei große<br />

Krippenwagen für Aktionen und Ausflüge.<br />

Besonders freute sich der HV-Regionalgeschäftsführer Norddeutschland<br />

Jürgen Steinecke über die Entscheidung von Isabel<br />

Pinkert, die Leitung der neuen Krippe zu übernehmen: „Mit Isabel<br />

Pinkert gewinnt die Humanistische Vereinigung eine kompetente,<br />

qualifizierte und hochmotivierte Mitarbeiterin. Ich bin überzeugt<br />

davon, dass sie unsere Krippe mit viel Engagement leiten wird und<br />

dass die Kinder und Eltern sie schnell ins Herz schließen werden“.<br />

Die 31-Jährige ist verheiratet und Mutter eines dreijährigen Sohnes.<br />

In den vergangenen sechs Jahren arbeitete sie in der Krippe<br />

„Waldmäuse“ in Hannover und war Fachbereichsleiterin für fünf<br />

weitere Krippen.<br />

Foto: ©HV<br />

15


Veranstaltungsplaner<br />

Mai–Juli <strong>2022</strong><br />

06.<br />

-<br />

07.<br />

05<br />

08<br />

05<br />

Die Blaue Nacht<br />

<strong>2022</strong><br />

Samstag, 06.05.–Sonntag, 07.05.<strong>2022</strong><br />

Foto: ©philoscience<br />

Am 6. und 7. Mai ist endlich Zeit für Phantasie, denn so<br />

lautet das Motto der diesjährigen Blauen Nacht in<br />

Nürnberg. Bei einem Besuch im turmdersinne können<br />

Besucher*innen die Grenzen zwischen Einbildung und<br />

Realität, Phantasie und Wahrheit ausloten. Während<br />

des Turmbesuchs stehen Mitarbeitende als sogenannte<br />

„Live Speaker“ vor und im Museum für jede Frage zur<br />

Verfügung. Mehr Informationen zur Blauen Nacht gibt<br />

es unter <strong>humanistisch</strong>.net/ps-<strong>2022</strong>0506<br />

Foto: ©Sylverarts/adobestock.com<br />

PHILOSOPHISCHES FRÜHSTÜCK<br />

IN DRESDEN<br />

<strong>Das</strong> Auge des Betrachters<br />

Sonntag, 8.05.<strong>2022</strong>, 10:00 -12:00 Uhr<br />

(Folgetermine: 12.06. und 03.07.<strong>2022</strong>)<br />

Man nehme: ein leckeres Frühstück, heiße und kalte<br />

Getränke, ein kurzes Impulsreferat, spannende An- und<br />

Einsichten, entspannte Diskussionen mit offenen und<br />

interessanten Menschen. So lautet das Rezept für<br />

„Philosophie beim Frühstück“.<br />

Veranstaltungsort: Regionalbüro Dresden,<br />

Bautzner Str. 113, 01099 Dresden, Tel. 0351 206 881 90,<br />

dresden@<strong>humanistisch</strong>e-vereinigung.de<br />

18<br />

05<br />

PHILOSOPHISCHE SOIREE<br />

Warum die Wahrheit sagen?<br />

Erkundungen zwischen Kant<br />

und der Postmoderne<br />

Mittwoch, 18.05.<strong>2022</strong> 19:30–21:00 Uhr<br />

Gerade durch das Internet und seine exzessiv genutzten<br />

neuen Kommunikationsmöglichkeiten, inklusive Fake<br />

News, werden die Forderungen nach Wahrheit und Ehrlichkeit<br />

wieder lauter. Aber ist Aufrichtigkeit wirklich<br />

immer und überall moralisch gefordert (Kant)? Was ist in<br />

der Postmoderne noch Wahrheit und was Beliebigkeit?<br />

Und gibt es Tugenden, die manchmal wichtiger sind als<br />

die Wahrheit? Warum? In Kooperation mit der Gesellschaft<br />

für kritische Philosophie Nürnberg.<br />

Referent: Beate Roenicke ist promovierte Volkswirtin<br />

sowie Mitglied der Ludwig-Wittgenstein-Gesellschaft und<br />

der Gesellschaft für kritische Philosophie.<br />

Veranstaltungsort: Kulturwerkstatt auf AEG,<br />

Fürther Str. 244d, 90429 Nürnberg<br />

Eintritt frei!<br />

Infos: Humanistische Vereinigung, Tel. 0911 43104-0,<br />

veranstaltungen@<strong>humanistisch</strong>e-vereinigung.de<br />

21<br />

05<br />

Lange Nacht der<br />

Wissenschaften <strong>2022</strong><br />

Samstag, 21.05.<strong>2022</strong>, 18:00-24:00 Uhr<br />

Die 10. Lange Nacht der Wissenschaften in Nürnberg bietet<br />

mehr als 750 Programmangebote – einer davon ist der<br />

Besuch im Museum turmdersinne. Erleben und verstehen<br />

Sie bei einer Sonderführung durch das Hands-On-Museum,<br />

wie unbewusste Vorurteile Ihre Wahrnehmung und<br />

Ihr Verhalten beeinflussen und wie Sie die Prägungen des<br />

Gehirns überwinden können.<br />

Anmeldung: buchung@philoscience.de<br />

BITTE BEACHTEN SIE!<br />

Aufgrund der Pandemie ist es möglich, dass<br />

Veranstaltungen kurzfristig abgesagt werden<br />

oder in einem anderen Rahmen stattfinden müssen. Wir<br />

halten Sie diesbezüglich auf unserer Homepage auf dem<br />

Laufenden – bitte informieren Sie sich vor der Veranstaltung<br />

über den aktuellen Status. Vielen Dank für Ihr Verständnis!<br />

FÜR ALLE PRÄSENZVERANSTALTUNGEN GILT DIE 2-G-REGEL.<br />

Ausführlicher Terminkalender online unter<br />

<strong>humanistisch</strong>e-vereinigung.de<br />

<strong>humanistisch</strong>! <strong>#17</strong> / April <strong>2022</strong><br />

Foto: ©philoscience<br />

16


<strong>#17</strong> / April <strong>2022</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />

Foto: ©BullRun/adobestock.com<br />

10<br />

05<br />

03<br />

07<br />

REGIONALBÜRO OLDENBURG<br />

Eröffnungsfeier<br />

im 50 Miles<br />

Freitag, 10.05.<strong>2022</strong><br />

Der Seafarer’s Social Service Oldenburg lädt ein zum Sommerfest<br />

in den Seefahrer-Club „50 Miles“. Es ist zugleich<br />

die Eröffnungsfeier für den am 1. Januar 2021 gestarteten<br />

SSSO, die zuvor aufgrund der Covid-19-Pandemie nicht<br />

stattfinden konnte. Nun wird das Team allen interessierten<br />

Gästen endlich die Türen öffnen und möchte ihnen<br />

gemeinsam feiern. Es erwarten Sie eine Führung durch die<br />

Einrichtung, Berichte aus der Arbeit der ehrenamtlichen<br />

Mitarbeitenden, Musik, leckere Häppchen sowie gekühlte<br />

oder warme Getränke. Um formlose Anmeldung mit einer<br />

Angabe der zu erwartenden Gästezahl bittet HV-Regionalgeschäftsführer<br />

Jürgen Steinecke per E-Mail an<br />

info@50miles.de<br />

Foto: ©Fritz Beck<br />

PHILOSOPHISCHES FRÜHSTÜCK<br />

Thomas Galli: Knast oder Heimat?<br />

Berichte über Geflüchtete<br />

zwischen Recht und Unrecht<br />

Sonntag, 3.07.<strong>2022</strong>, 11:00–14:00 Uhr<br />

Der »kriminelle Flüchtling« ist ein oft instrumentalisiertes<br />

Feindbild unserer Zeit. Hat er*sie eine besonders schlimme<br />

Straftat wie Mord oder Vergewaltigung begangen, wird<br />

schnell ein Kriminalitätsproblem aller Geflüchteten daraus<br />

gemacht. In authentischen Geschichten erzählt Dr. Thomas<br />

Galli in seinem Buch »Knast oder Heimat?« von den Bedingungen,<br />

unter denen viele Asylbewerber*innen bei uns<br />

leben müssen, und die nicht selten Kriminalität fördern.<br />

Veranstaltungsort: Humanistisches Zentrum Nürnberg,<br />

Kinkelstraße 12, 90482 Nürnberg<br />

Eintritt: 6,- € inkl. Snack & Kaffee, für HV-Mitglieder frei.<br />

Infos: Humanistische Vereinigung, Tel. 0911 43104-0,<br />

veranstaltungen@<strong>humanistisch</strong>e-vereinigung.de<br />

03<br />

07<br />

13<br />

07<br />

PHILOSOPHISCHES CAFÉ<br />

Thomas Galli: Knast oder Heimat?<br />

Berichte über Geflüchtete<br />

zwischen Recht und Unrecht<br />

Sonntag, 3.07.<strong>2022</strong>, 17:00–19:30 Uhr<br />

Veranstaltungsort: Café Feuerbach, Elvirastraße 17a,<br />

München.<br />

Eintritt: 6,- € inkl. Snack & Kaffee, für HV-Mitglieder frei!<br />

Infos: Humanistische Vereinigung, Tel. 0911 43104-0,<br />

veranstaltungen@<strong>humanistisch</strong>e-vereinigung.de<br />

09.<br />

-<br />

10.<br />

07<br />

BILDUNGSWOCHENENDE<br />

IN BAD ZWISCHENAHN<br />

Vorurteile<br />

Samstag, 09.07.–Sonntag, 10.07.<strong>2022</strong><br />

Vorurteile scheinen, gerade für <strong>humanistisch</strong> geprägte<br />

Menschen, etwas zutiefst Negatives zu sein. Bereits die<br />

Idee über Sachverhalte oder gar andere Personengruppen<br />

„zu urteilen“ bevor Fakten und Hintergründe geprüft,<br />

Motivationen abgewogen und sich ausreichend mit dem<br />

Kontext beschäftigt wurde scheint nicht nur ungerecht,<br />

sondern geradezu als persönlicher Makel und falsches<br />

Denken. <strong>Das</strong> Bildungswochenende behandelt die Ursprünge<br />

von vorurteilsbehafteten Gedanken und deren<br />

Auswirkungen auf unsere Wahrnehmung und unser<br />

Verhalten.<br />

Kosten: Pro Person inkl. Mittagessen, Kaffee & Kuchen,<br />

Abendessen am Sonnabend und Frühstück am Sonntag;<br />

weitere Getränke stehen preisgünstig bereit.<br />

Normalpreis: 100,- €. Reduzierter Preis für Mitglieder der<br />

HV: 80,- €. Anreise am Freitag + 60,- €.<br />

PHILOSOPHISCHE SOIREE<br />

Social Media<br />

und Demokratie<br />

Mittwoch, 13.07.<strong>2022</strong>, 19:30–21:00 Uhr<br />

Die Schattenseiten der sogenannten sozialen Medien<br />

werden durch die Krisen der letzten Jahre immer deutlicher.<br />

Sah man Ende der Nuller-/Anfang der Zehner-Jahre<br />

noch vor allem positive Potenziale in den neuen Kommunikationsmöglichkeiten,<br />

so treten uns spätestens seit dem<br />

Brexit und der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der<br />

USA sowie jüngst etwa im Kontext der Corona-Pandemie<br />

und des Ukraine-Kriegs die ebenfalls mit den Sozialen<br />

Medien einhergehenden Gefahren für die Demokratie immer<br />

klarer vor Augen. In Kooperation mit der Gesellschaft<br />

für kritische Philosophie Nürnberg.<br />

Referent: PD Dr. Vuko Andri ist seit April 2017 Lehrstuhlinhaber<br />

für Philosophie an der Fakultät für Kulturwissenschaften<br />

der Universität Bayreuth, seine Forschungsschwerpunkte<br />

liegen in Ethik und politischer Philosophie.<br />

Veranstaltungsort: Kulturwerkstatt auf AEG,<br />

Fürther Str. 244d, 90429 Nürnberg<br />

Eintritt frei!<br />

Infos: Humanistische Vereinigung, Tel. 0911 43104-0,<br />

veranstaltungen@<strong>humanistisch</strong>e-vereinigung.de<br />

17


<strong>humanistisch</strong>! <strong>#17</strong> / April <strong>2022</strong><br />

Jugendfeier <strong>2022</strong>:<br />

Hybrides Kennenlernen<br />

In drei Regionalgruppen und dem deutschlandweiten Online-Angebot<br />

Jugendfeier Überall sind insgesamt 70 Jugendliche in das<br />

neue Jugendfeierjahr <strong>2022</strong> gestartet. <strong>Das</strong> Auftakt-Wochenende<br />

begann für die drei Gruppen aus Bayern, Niedersachsen/Weser-<br />

Ems und Hamburg/Schleswig-Holstein am 14. Januar zunächst<br />

online. Die Teilnehmenden wurden von der HV-Jugendreferentin<br />

Anita Häfner, Regionalleiter Lutz Renken und Petra Schmidt, Referentin<br />

für Jugendfeiern in Hamburg/Schleswig-Holstein, begrüßt<br />

und in kleinere Gruppen unterteilt und zum spielerischen Kennenlernen<br />

in sogenannte Breakout-Räume verabschiedet.<br />

Am Samstag trafen sich die Jugendlichen dann in ihren<br />

jeweiligen Regionalgruppen. Während die Gruppe in Niedersachsen<br />

pandemiebedingt weiter online zusammenkam und<br />

sich mit Interviews und Spielen beschäftigte, konnten sich die<br />

Gruppen Hamburg/Schleswig-Holstein und Bayern in Präsenz<br />

treffen. In der Hansestadt stand ein Anti-Mobbing-Workshop auf<br />

dem Programm, gleichzeitig trafen sich die Nürnberger Jugendlichen<br />

zunächst in der Humanistischen Grundschule in Fürth. In<br />

Bewegungs- und Kennenlern-Spielen erfuhren die Jugendlichen<br />

allerhand Verblüffendes über besondere Angehörige, Haustiere,<br />

Reisen und Hobbys der anderen Jugendlichen. Im Anschluss daran<br />

übernahm Ralf Mitschke vom Hands-On-Museum turmdersinne,<br />

der die mobile boxdersinne mitgebracht hatte.<br />

Foto: ©HV<br />

Nach einem gemeinsamen Mittagessen ging es dann weiter<br />

nach Nürnberg zur Straße der Menschenrechte, wo die Vizepräsidentin<br />

der Humanistischen Vereinigung, Regine Steib, die<br />

Jugendlichen empfing. Nach einer Einführung zur Entstehung der<br />

Menschenrechte, der Straße mit ihren Säulen und dem Künstler<br />

Dani Karavan erforschten die Jugendlichen anhand ihres Geburtstages<br />

die 30 Menschenrechtsartikel und diskutierten deren<br />

Inhalte. Zum Schluss berichtete Teamleiterin Margret Bernreuther<br />

über die Hintergründe, die zur Errichtung des Denkmals für die<br />

Opfer der NSU-Gewalttaten führten und die drei Ermordeten aus<br />

Nürnberg. Parallel fand ein Online-Radioworkshop mit Chris Bellaj<br />

vom Jugendradio Free Spirit für sieben nicht-geimpfte bzw. in<br />

Quarantäne befindliche Jugendliche statt. Sie interviewten den<br />

Musiker und Klimaaktivisten Erik Stenzel sowie Roland Mietke von<br />

Blue Pingu e.V. zum Thema Zero Waste.<br />

Am Sonntagmorgen ging es um 10 Uhr dann für alle Gruppen<br />

gemeinsam an den Bildschirmen weiter unter dem Motto Jugendfeier<br />

Überall: Der Philosoph Stefan Lobenhofer gab eine Einführung<br />

in den Humanismus und einen Überblick über die Geschichte<br />

der Humanistischen Vereinigung. Anhand eines Videos diskutierten<br />

die angehenden Erwachsenen über Dilemmata, in denen wir<br />

Entscheidungen treffen müssen und auch mal in eine schwierige<br />

Zwickmühle geraten können.<br />

Foto: ©Igor Kardasov/adobestock.com<br />

Erfolgreiches<br />

Premierenjahr in<br />

Oldenburg<br />

Im Januar 2021 wurde in Oldenburg der Seafarer‘s Social Service<br />

(SSSO) ins Leben gerufen, die bundesweit erste <strong>humanistisch</strong>e<br />

Betreuungsstelle für Seeleute im Hafen von Oldenburg. Im März<br />

hatte dann der zum SSSO gehörende Treff für Seeleute, der Club<br />

„50 Miles“ den Betrieb aufgenommen und Oldenburgs Oberbürgermeister<br />

Jürgen Krogmann übernahm erfreulicherweise<br />

gleich die Schirmherrschaft für das Projekt. Nach dem ersten Jahr<br />

fällt die Bilanz fast durchweg positiv aus: Die Einrichtung hat sich<br />

etabliert und konnte in ihrem ersten Jahr über 350 Seeleuten in<br />

Oldenburg ein Betreuungsangebot machen. Zudem wurde ein<br />

freies WLAN-Netz für Seeleute installiert. Der SSSO hilft außerdem<br />

Seeleuten dabei, sich in der Stadt zurechtzufinden, bietet<br />

seelsorgerische Dienste, organisiert Arztbesuche und bietet<br />

praktische Unterstützung bei Einkäufen oder Amtsgängen an. Erfreulicherweise<br />

konnten sich in den letzten zwölf Monaten schon<br />

viele Unterstützer*innen in Oldenburg finden und dafür möchten<br />

wir uns bei allen Sponsoren, Mitarbeitenden und Besucher*innen<br />

recht herzlich bedanken!<br />

„Zwar bleibt nach wie vor die pandemische Entwicklung abzuwarten,<br />

aber wir planen in diesem Jahr fest damit, im Sommer<br />

endlich ein gemeinsames Fest zu feiern. Unsere Gedanken sind in<br />

dieser Zeit aber auch bei den ukrainischen Seeleuten, die fernab<br />

von der Heimat tatenlos zusehen müssen, was in ihrem Land<br />

passiert und die sich um ihre Familien sorgen“, sagte HV-Regionalgeschäftsführer<br />

und Leiter Jürgen Steinecke.<br />

Foto: ©HV<br />

18


<strong>#17</strong> / April <strong>2022</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />

Es geht<br />

Foto: ©HV<br />

wieder<br />

los!<br />

Stark ausgebremst, doch in den Ambitionen unverändert:<br />

Zwar konnte sich die Humanistische<br />

Hilfe – das Ende 2019 gegründete Hilfswerk der<br />

HV – bereits zum Jahresbeginn 2020 über ihr<br />

erstes durch zahlreiche Spenden ausfinanziertes<br />

Projekt freuen. Dann versetzte die Pandemie ab<br />

März den anfänglichen Ambitionen allerdings<br />

einen gehörigen Dämpfer. Viele, teils bis Anfang<br />

<strong>2022</strong> währende drastische Kontaktbeschränkungen<br />

weltweit erschwerten unseren Projektpartner*innen<br />

in Nepal, Nigeria und Uganda<br />

die Arbeit erheblich, ebenso die unumgängliche<br />

Kurzarbeit für die Mitarbeitenden in Deutschland.<br />

Die <strong>humanistisch</strong>en Schulen in Uganda<br />

beispielsweise waren aufgrund der behördlichen<br />

Anordnungen fast das ganze Jahr 2020<br />

hindurch geschlossen. Auch die Arbeit in den<br />

Projekten in Nigeria und in Nepal wurden erst<br />

Anfang <strong>2022</strong> wieder in regulärer Weise aufgenommen.<br />

Trotzdem können wir uns über positive<br />

Ereignisse und Entwicklungen freuen: Denn obwohl<br />

in Folge der Corona-Pandemie das Spendenaufkommen<br />

stark zurückging, sind in der<br />

Summe seit dem Start über 15.000 € zusammengekommen,<br />

von denen bereits 3.500 € für das<br />

Projekt in Uganda ausgezahlt werden konnten,<br />

sowie 6.000 Euro für ein Projekt, das 2021 als<br />

viertes in die Projektarbeit der Humanistischen<br />

Hilfe aufgenommen wurde: Im Rahmen der Zusammenarbeit<br />

mit den Humanists International<br />

setzen wir uns auch für die Spendenkampagne<br />

LAUFENDE<br />

PROJEKTE:<br />

Fördern Sie<br />

kritisches<br />

Denken<br />

in Nigeria<br />

---<br />

Inhumane<br />

Bräuche in<br />

Nepal stoppen<br />

---<br />

Ein Jahr<br />

<strong>humanistisch</strong>e<br />

Schulbildung<br />

in Uganda<br />

---<br />

Humanist*innen<br />

in Gefahr<br />

weltweit helfen<br />

---<br />

BITTE HELFEN SIE MIT!<br />

Weitere Informationen<br />

zu den Projekten<br />

unseres Hilfswerks<br />

finden Sie unter<br />

<strong>humanistisch</strong>e-hilfe.de<br />

„Protect Humanists at Risk“ ein. „Protect Humanists<br />

at Risk“ unterstützt seit 2018 gefährdete<br />

Humanist*innen weltweit dabei, dass das<br />

Bekenntnis zum Humanismus als Menschenrecht<br />

geschützt wird – juristisch, politisch oder<br />

ganz praktisch wie etwa durch finanzielle Hilfe<br />

bei der Flucht und zur Umsiedlung ins sichere<br />

Ausland. Prominentester Fall juristischen Beistands<br />

war in den Jahren 2020/21 wohl der des<br />

Präsidenten der Humanistischen Vereinigung<br />

Nigerias, Mubarak Bala, der im April 2020 ohne<br />

Rechtsgrundlage inhaftiert wurde und dem monatelang<br />

der Kontakt zu einem Rechtsbeistand,<br />

seiner Frau und seinem Sohn wie auch der Kontakt<br />

zur sonstigen Außenwelt verweigert wurde.<br />

Zusammen mit den HI setzte sich das HV-Hilfswerk<br />

für Balas Freilassung und seine juristische<br />

Verteidigung gegen die illegalen Maßnahmen<br />

der Behörden im muslimisch geprägten Norden<br />

Nigerias ein.<br />

Trotz Balas unverändert schwieriger Lage<br />

gibt es aus Nigeria auch Positives zu berichten.<br />

Denn neuen Schwung hat der Jahreswechsel<br />

auch für das Projekt für kritisches Denken<br />

gebracht, das vom 2018 an der Universität<br />

Bayreuth promovierten nigerianischen Religionswissenschaftler<br />

Leo Igwe geleitet wird.<br />

So konnte Igwe im Süden des Landes in den<br />

vergangenen Monaten bereits erste Kurse für<br />

kritisches Denken durchführen, nicht nur mit<br />

Grundschüler*innen, sondern auch für Lehrkräfte.<br />

Mit Ihrem Beitrag helfen Sie, dass das<br />

Programm weiter durchgeführt, ausgebaut und<br />

weiterentwickelt werden kann.<br />

All unseren Spender*innen danken wir<br />

von Herzen für ihre Unterstützung – trotz der<br />

pandemischen Ausnahmesituation – zugunsten<br />

eines großen Wertes: Der internationalen<br />

Solidarität im Zeichen des praktischen Humanismus.<br />

Bitte leisten Sie weiter Humanistische<br />

Hilfe für unsere Freund*innen und Partner*innen<br />

in aller Welt!<br />

Arik Platzek<br />

19


<strong>humanistisch</strong>! <strong>#17</strong> / April <strong>2022</strong><br />

Der<br />

Ekel<br />

feiert<br />

Geburtstag<br />

FESTE SOLLEN GEFEIERT WERDEN, WIE SIE FALLEN.<br />

WENNGLEICH DAS FALLEN AUF JENE SCHWIERIGKEITEN<br />

HINDEUTET, DIE VOR DEM FEIERN ZU BEWÄLTIGEN SIND.<br />

WÄHREND DER PANDEMIE IST DAS NEUE DISGUSTING FOOD<br />

MUSEUM BERLIN EINGERICHTET UND ERÖFFNET WORDEN.<br />

ES FEIERT SEINEN ERSTEN GEBURTSTAG.<br />

Seit Mai 2021 erfreut das<br />

Disgusting Food Museum<br />

Berlin seine Besucher*innen<br />

mit einer tollen<br />

Ausstellung. Und das ist<br />

keineswegs selbstverständlich, weil es<br />

um den Ekel geht, der normalerweise<br />

die Nase wild zucken lässt und den Magen<br />

zusammenkrampft. Die Sorge, die<br />

aufkommen mag, sobald an das üble<br />

Aussehen und an den Gestank ekelhafter<br />

Nahrungsmittel gedacht wird,<br />

verflüchtigt sich jedoch rasch, nachdem<br />

die Gäste das Museum betreten<br />

haben: Sie erkennen, dass es an diesem<br />

Ort nicht um die Schockwirkung geht,<br />

sondern um ein unterhaltsames Hinterfragen<br />

von Ernährungsvorlieben sowie<br />

um die Erweiterung des kulinarischen<br />

Horizontes.<br />

Einmal um die Essenswelt<br />

Zu einer kulinarischen Weltreise werden<br />

die Besucher*innen eingeladen:<br />

Wer löffelt wo die Fledermaussuppe<br />

aus, und in welchem Verhältnis zur<br />

Corona-Pandemie steht diese Suppe?<br />

Wer beißt genüsslich in den Bullenpenis?<br />

Welchen stinkenden Käse verehren<br />

die Feinschmecker*innen in Frankreich?<br />

Wo landet der nach Maggi-Würze<br />

schmeckende Brotaufstrich Vegemite<br />

anstelle von Marmelade auf dem Frühstücksbrot?<br />

Wer etwas über die Ernährungsgewohnheiten<br />

anderer erfahren<br />

will, der lernt die Menschen hinter solchen<br />

spezifischen Ernährungsvorlieben<br />

kennen. Natürlich auch sich selbst. Essen<br />

und trinken müssen wir schließlich<br />

alle, und auch in Deutschland gibt es<br />

Fotos: ©DFM Berlin; adobestock.com.<br />

20


<strong>#17</strong> / April <strong>2022</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />

viele Nahrungsmittel und Gerichte, die<br />

eine*r für ekelhaft halten kann: Blutwurst,<br />

Eierlikör oder Hahnenkämme.<br />

<strong>Das</strong> Disgusting Food Museum Berlin ist<br />

also kein Ort, an dem sich kulinarische<br />

Vorurteile hegen und pflegen lassen.<br />

Kulinarische Mündigkeit<br />

Solche Vorurteile, die mit einem schiefen<br />

Blick einhergehen, den wir auf<br />

andere werfen könnten, werden gezielt<br />

hinterfragt. Die Erkundung und Überwindung<br />

der eigenen Geschmacksgrenzen<br />

führt zu einer Entgrenzung und<br />

zu einer aufgeschlosseneren Haltung<br />

anderen Menschen gegenüber. Wir<br />

begnügen uns nicht mit dem, was wir<br />

kennen. „Open-minded“ nennen dies<br />

die Engländer*innen, und im Museum<br />

ergänzt man den offenen Geist um eine<br />

aufgeschlossene Nase, eine entdeckerfreudige<br />

Zunge und um begeisterungsfähige<br />

Augen. Es ist genau dieses<br />

Erlebnis, das vielleicht keiner der Gäste<br />

vermutet, aber das sie bekommen, welches<br />

schließlich dazu führt, dass die<br />

Besucher*innen nach einem Museumsbesuch<br />

ins Schwärmen geraten. Gerade<br />

in Zeiten, in denen die Ernährung als<br />

großes Zukunftsthema angesehen wird,<br />

aber sich viele der guten wie schlechten<br />

Esser*innen hinter einer Ernährungsideologie<br />

verschanzt haben, kann das<br />

Disgusting Food Museum Berlin vorführen:<br />

Ernährung ist spannend wie<br />

ein Krimi, weil sie Körper und Geist zusammenhält<br />

und damit an alle Erfahrungsbereiche<br />

und Themen zwischen<br />

Natur und Kultur anschließt.<br />

Not als Tugend<br />

und Innovation<br />

Die Pandemie bedeutet für ein solches<br />

Museum eine echte Herausforderung:<br />

Kontaktbeschränkungen, Abstandsgebote<br />

und Maskenpflicht sind durchaus<br />

Hindernisse, wenn Menschen aus<br />

unterschiedlichen Ländern zusammenkommen,<br />

sich austauschen und die<br />

ganze Bandbreite sinnlicher Erfahrung<br />

erproben wollen. Aber jede Not bringt<br />

neue Erfindungen hervor: Für das<br />

Disgusting Food Museum Berlin hieß<br />

das, mit weniger Besucher*innen als<br />

geplant auskommen zu müssen, sich<br />

für diese jedoch mehr Zeit nehmen zu<br />

können. Museum nicht im Schnelldurchlauf,<br />

sondern als fachlich gut<br />

betreute quality time. Konzeptuell und<br />

inhaltlich brachte die Corona-Zeit weitere<br />

Innovationen hervor. In den ersten<br />

Wochen nach der Eröffnung ist die<br />

Tasting Bar, an der Exponate probiert<br />

werden können, zu einer kulinarischen<br />

Ausgabestelle umfunktioniert worden:<br />

Essensproben konnten die Gäste als<br />

das neue Produkt „Disgust to go“ nach<br />

Hause mitnehmen, mit der Möglichkeit,<br />

das extreme Ergebnis des häuslichen<br />

Probierens fotografisch festzuhalten<br />

und mit dem Museumsteam zu teilen.<br />

Unser Ekel macht vor dem Homeoffice<br />

nicht halt. Nachgedacht und gesprochen<br />

wurde viel darüber, wie sinnliche<br />

Reize und Erfahrungen zu erklären<br />

sind, ohne sie selbst zu machen, oder<br />

wie sich Geschmackseindrücke in<br />

andere Sinnlichkeitsformen übersetzen<br />

lassen. <strong>Das</strong> führte zum Konzept des<br />

Audioguides „Sound of Disgust“, der<br />

Ende März <strong>2022</strong> als neue Attraktion des<br />

Museums in Betrieb genommen werden<br />

konnte. <strong>Das</strong> Hörspiel zur Ausstellung,<br />

samt Wandgestaltung.<br />

Hoch die Tassen<br />

<strong>Das</strong> Team des Disgusting Food Museum<br />

Berlin feiert den ersten Geburtstag gebührend<br />

mit einer süßen Sünde namens<br />

„Root Beer Float“: In ein gefrierfachkaltes<br />

Glas füllen wir zwei Kugeln bestes<br />

Vanilleeis, geben 30 ml Rum sowie<br />

den Inhalt einer Dose Root Beer hinzu.<br />

Sprühsahne und Schokoladensoße<br />

nach Belieben als Topping ergeben die<br />

geschmacksintensive Deko. Klingt ekelhaft,<br />

ist aber wie vieles im Museum ein<br />

wahrer Genuss.<br />

Martin A. Völker<br />

Im DISGUSTING FOOD MUSEUM BERLIN<br />

präsentieren wir 90 der ekelhaftesten Lebensmittel<br />

der Welt. Infos auf Facebook und<br />

unter disgustingfoodmuseum.berlin<br />

21


<strong>humanistisch</strong>! <strong>#17</strong> / April <strong>2022</strong><br />

Thomas Hardy<br />

Humanist und<br />

Agnostiker<br />

HUMANISMUS<br />

IN DER<br />

LITERATUR-<br />

GESCHICHTE<br />

Doom and gloom<br />

Er ist einer der wichtigen englischsprachigen<br />

Autoren des 19. Jahrhunderts. In<br />

seinen Werken strickt er brillante Geschichten<br />

vor einer ländlichen Kulisse.<br />

Wer hier jedoch rurale Idylle erwartet,<br />

wird schnell eines Besseren belehrt.<br />

Die Landschaftsszenarien mit ihren<br />

ländlichen Gemeinschaften treten im<br />

Werk von Thomas Hardy (1840-1928)<br />

als Inbegriff einer Anti-Idylle in Erscheinung.<br />

Hardys Inszenierung der<br />

Natur lässt einen düsteren Pessimismus<br />

erkennen, der in der anglistischen<br />

Literaturwissenschaft auch<br />

als „Hardyscher gloom“ bezeichnet<br />

wird. Eine finstere, düstere Erzählwelt,<br />

in der das Ideal, die Unschuldigkeit<br />

des Ländlichen auf den Kopf<br />

gestellt wird. Hardys Werk umfasst<br />

zahlreiche Kurzgeschichten und<br />

Gedichte sowie die großen Romane:<br />

Tess of the D’Urbervilles, The<br />

Return of the Native, Far from the<br />

Madding Crowd und Jude the<br />

Obscure sind wohl am meisten<br />

beachtet worden. Und doch kennen<br />

ihn hierzulande erstaunlich<br />

wenige. Während Werke von<br />

Oscar Wilde, Charles Dickens,<br />

Bram Stoker, Lewis Carroll oder<br />

Rudyard Kipling vielen ein Begriff<br />

sind, blieben Hardys Meisterwerke<br />

eher ein Geheimtipp.<br />

Thomas Hardy wurde 1840 in<br />

Dorset geboren. Nach seiner Lehre<br />

arbeitete er für eine Weile in<br />

einem Londoner Architektenbüro.<br />

Doch eigentlich wollte Hardy<br />

studieren, er wollte Geistlicher werden,<br />

das sollte ihm jedoch als Autodidakt aufgrund<br />

seiner mangelnden Schulbildung<br />

verwehrt bleiben. Und so widmete er sich<br />

früh dem Schreiben, mit gerade einmal<br />

27 Jahren stellte er seinen ersten Roman<br />

The Poor Man and The Lady fertig, aus<br />

dem nur ein Fragment erhalten ist.<br />

Mehr Anerkennung beschafften Hardy<br />

später seine sogenannten Wessex<br />

Novels. Diese Romane spielen in der<br />

fiktiven englischen Grafschaft Wessex.<br />

Wessex bot Hardy einen Schauplatz, auf<br />

dem die Gewalt der Natur und das harte<br />

Leben auf dem Land in der von ihm gewünschten<br />

Drastik inszeniert werden<br />

konnten. Denn immer wieder Thema<br />

in den Werken Hardys: der Eingriff<br />

der modernen, urbanen Welt in die<br />

intakte ländliche Gemeinschaft. Je<br />

mehr der Mensch demnach weiß, je<br />

erkenntnisreicher sich sein Lebenslauf<br />

gestaltet, desto mehr entfernt und<br />

entfremdet er sich von der ländlichen<br />

Gemeinschaft. Weitere Motive, die<br />

sich wie ein roter Faden durch seine<br />

Literatur ziehen: Schicksal, Vorsehung,<br />

göttliche Fügung im Kontrast mit der<br />

erschütternden Kontingenz des Kosmos.<br />

Chaos im Kosmos oder<br />

Die Abkehr vom christlichen<br />

Weltbild<br />

In Hardys Werk hat die Natur Symbolkraft.<br />

Sie ist eine unerbittliche<br />

Gewalt, der der Mensch nur mit<br />

Ehrfurcht begegnen kann. <strong>Das</strong><br />

willkürliche, das unberechenbare<br />

Element der Natur, das ihr innewohnende<br />

Zufallsprinzip, stehen<br />

einer durch Gott erschaffenen und<br />

regierten Welt diametral entgegen.<br />

Es ist ein besonders schönes, aber<br />

in seiner überwältigenden Schönheit<br />

erschreckendes und grausames<br />

Illustration: Martin Rollmann<br />

22


<strong>#17</strong> / April <strong>2022</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />

Naturbild, mit dem Hardy uns Leser*innen<br />

konfrontiert. Vor ihm haben beispielsweise<br />

die britischen Schriftsteller Joseph Addison<br />

und Edmund Burke den Begriff des Sublimen<br />

im Hinblick auf ein solches Naturbild<br />

untersucht. Bei Hardy bleibt Natur<br />

grausam und bedrohlich und sie spiegelt<br />

die wissenschaftlichen Erkenntnisse von<br />

Darwins Evolutionstheorie wider.<br />

Hardys Werk ist literaturhistorisch<br />

nicht eindeutig zuzuordnen. So werden<br />

Elemente daraus als spätviktorianisch oder<br />

vormodern bezeichnet. Und es gibt noch<br />

weitere literarische Parallelströmungen<br />

im ausgehenden 19. Jahrhundert, die sich<br />

allesamt vom Viktorianismus abgrenzen,<br />

etwa das Fin de Siècle, der Symbolismus<br />

oder die Dekadenz-Bewegung.<br />

Doch was genau wissen wir über den<br />

Humanismus zu Zeiten Hardys? Zumindest<br />

so viel: Im Viktorianismus (Königin Victoria<br />

regierte Großbritannien von 1837 bis<br />

1901) bezeichneten sich Menschen zum<br />

ersten Mal selbst als Humanist*innen. Sie<br />

organisierten sich in Gruppen, sie führten<br />

Kampagnen für fundamentale Rechte<br />

durch und förderten dadurch den Austausch<br />

darüber, was Mensch sein überhaupt<br />

bedeutet.<br />

In Hardys Werken heißt Mensch sein<br />

auch Leid ertragen. Generell ist sein<br />

Weltbild ein pessimistisches, geprägt von<br />

Desillusionierung und Entfremdung des<br />

Einzelnen. Er sieht sich selbst jedoch als<br />

Meliorist und war der Überzeugung, dass<br />

die Welt durch menschliche Bemühungen<br />

besser werden kann. Dem Menschen<br />

kommt dadurch auch eine neue Eigenverantwortung<br />

zu, auf göttliche Vorsehung<br />

können sich die Figuren in den ereignisreichen<br />

Erzählsträngen nicht mehr berufen.<br />

Stark von den Schriften Charles Darwins<br />

beeinflusst, beschreibt Hardy den Menschen<br />

jedoch auch als Spielball der Natur.<br />

Handlungsentwicklungen basieren häufig<br />

auf bloßen Zufällen und diese Zufälle repräsentieren<br />

die Willkürlichkeit der Welt,<br />

die Launenhaftigkeit des Kosmos. In einer<br />

derartig illusionslosen Umgebung kann<br />

eine göttliche Instanz keinen Raum mehr<br />

einnehmen. Und doch: inmitten des überwältigenden<br />

Zweifels und des Pessimismus<br />

blitzt rebellisch ein blasser Funke Freude<br />

auf, wenn die Idee eines Jenseits storniert<br />

wird und der Aufwertung des Diesseits<br />

den Weg ebnet.<br />

In dem Roman Tess of the D’Urbervilles<br />

(1891) zeigt Hardy deutlich die Widersprüche<br />

von Religion auf, wenn diese<br />

beispielsweise das Leben der Gemeinschaft<br />

eigentlich erleichtern soll, diesen<br />

Ein zentrales Motiv der Prosa und<br />

Lyrik von Thomas Hardy war die<br />

Desillusionierung des Menschen sowie<br />

das Umschlagen von Idylle in Anti-Idylle.<br />

Mensch zu sein, ein rationales Wesen<br />

zu sein, führt unweigerlich in eine Krise:<br />

DER SPAZIERGANG<br />

Letztens gingst du<br />

nicht mit mir<br />

Zum Baume auf dem<br />

Hügel, wie früher,<br />

Wo die Wegegatter waren<br />

Wie in früheren Tagen;<br />

Schwach warst du und lahm,<br />

Nichts von dir mehr kam,<br />

Und so ging ich allein und<br />

dachte nichts dabei,<br />

Was du zurückgelassen –<br />

es ist vorbei.<br />

Heute ging ich dort hinauf,<br />

Wie unseren einstigen Lauf;<br />

Schaute umher<br />

Aufs Landschaftsmeer,<br />

Uns so vertraut, wieder allein,<br />

Was sollte auch anders sein?<br />

Nur ein unterschwelliges<br />

Empfinden,<br />

<strong>Das</strong>s drinnen Leere und<br />

Raum sich verbinden.<br />

©Prof. Rüdiger Görner, aus dem Englischen<br />

Anspruch aber nicht erfüllen kann. Er<br />

beschreibt auch den Gedanken, wie unfrei<br />

der Mensch im Christentum ist und wie<br />

sehr er darin orthodoxen Ideen und regelhaften<br />

Strukturen unterliegt. Die erkennbare<br />

Diskrepanz zwischen religiösen und<br />

heidnischen Elementen sowie Aberglaube<br />

und Aufklärung lässt uns Leser*innen erkennen,<br />

wie konfliktbeladen wohl Hardys<br />

eigener Bezug zur religiösen Norm der Zeit<br />

gewesen sein musste.<br />

Bromance ohne<br />

Gottes Segen: Hardy und<br />

Sir Leslie Stephen<br />

Hardy verstand natürlich, dem Glauben ein<br />

trostspendendes Element innewohnt, er<br />

verstand ihn aber gleichzeitig auch als Illusion,<br />

der im Widerspruch mit dem aufgeklärten<br />

Menschen stand. Die Hinwendung<br />

zum Agnostizismus erscheint vor diesem<br />

Hintergrund wie eine Art Eingeständnis,<br />

dass der Mensch – so wenig er es wahrhaben<br />

wollte – nichts weiß.<br />

Hardy studierte ausgiebig die Schriften<br />

von Darwin, Spencer und anderen<br />

Agnostikern, wie etwa Sir Leslie Stephen<br />

(1832-1904). Stephen war der Vater von<br />

Schriftstellerin Virginia Woolf und Künstlerin<br />

Vanessa Bell und er hatte bedeutenden<br />

Einfluss auf die Anfänge des organisierten<br />

Humanismus in Großbritannien. Er war der<br />

erste Präsident der West London Ethical<br />

Society, die entscheidend für die Gründung<br />

der Union of Ethical Societies (heute<br />

Humanists UK) war und ein enger Freund<br />

von Thomas Hardy. Seine Schriften lassen<br />

einen grundlegenden religiösen Skeptizismus<br />

erkennen, der durch die Auseinandersetzung<br />

mit literarischen, philosophischen<br />

und wissenschaftlichen Texten verstärkt<br />

wurde. Mit den Schlussworten seines<br />

Essays „An Agnostic‘s Apology“ wendet<br />

sich Stephen an Religionskritiker, von<br />

denen er als Agnostiker zutiefst verachtet<br />

wurde: „Bis dahin werden wir uns damit<br />

begnügen, offen zuzugeben, was ihr unter<br />

eurem Atem flüstert oder in eurem Fachjargon<br />

versteckt: dass das alte Geheimnis<br />

immer noch geheim ist; dass der Mensch<br />

nichts über das Unendliche und Absolute<br />

weiß; und dass er, da er nichts weiß, besser<br />

nicht dogmatisch über seine Unwissenheit<br />

sein sollte.“<br />

Sir Leslie Stephens Tochter Virginia<br />

Woolf, eine der zentralen Charaktere der<br />

literarischen Moderne, fand große Bewunderung<br />

für Hardys Werk, mit dem sie<br />

aus privaten wie beruflichen Gründen sehr<br />

vertraut war. Sie beschrieb Hardy als eine<br />

„kraftvolle Vorstellungskraft, ein tiefes<br />

und poetisches Genie, eine sanfte und<br />

humane Seele.“<br />

Mit seinen Werken, die die Doppelmoral<br />

der christlichen Religion auf oft<br />

tragische Weise darzustellen vermochten,<br />

leistete Hardy einen wichtigen Beitrag zur<br />

Debatte über den Wandel des religiösen<br />

Glaubens im Großbritannien des späten<br />

19. Jahrhunderts und darüber hinaus.<br />

Nina Abassi<br />

23


<strong>humanistisch</strong>! <strong>#17</strong> / April <strong>2022</strong><br />

Die boxdersinne<br />

auf Tour in den<br />

<strong>humanistisch</strong>en<br />

Häusern für Kinder<br />

„Oh krass, jetzt ist der Fisch plötzlich im Aquarium!“<br />

Mit großen Augen und Feuereifer haben die Kinder der<br />

<strong>humanistisch</strong>en Kita Neubleiche in Nürnberg ihre fünf<br />

Sinne mit der boxdersinne erforscht. Gemeinsam mit<br />

Hannah Berns vom philoscience-Team konnten sie mit<br />

genauso einfachen wie verblüffenden Experimenten<br />

Gehör, Gespür, Geschmack und Sehen auf die Probe<br />

stellen und täuschen: Wie viele Finger spürst Du jetzt<br />

auf dem Rücken? Warum reagierst Du auf diesen sauren<br />

Geschmack ganz anders? Warum erkennst Du trotz geschlossener<br />

Augen, woher die Stimme gerade kommt?<br />

Für die Mädchen und Jungen ein spannendes, neues<br />

Erlebnis, das ihnen viel über den eigenen Körper, die<br />

Grenzen der Wahrnehmung und einfache physikalische<br />

Phänomene auf spielerische Art und Weise gezeigt hat.<br />

Die boxdersinne ist ein Angebot der philoscience<br />

gGmbH, eine Box zum Staunen, Erleben und Begreifen,<br />

mit der kleine und große Forscher*innen auf unterhaltsame<br />

Art Neues entdecken können. Sie ist in drei Varianten<br />

buchbar, für Kitas, Schulen und Erwachsene, mit<br />

jeweils altersgerechten Inhalten und Experimenten. Sie<br />

benötigt lediglich etwas Tischfläche und bietet „Science<br />

Edutainment“ auf kleinstem Raum mit faszinierenden<br />

Wahrnehmungstäuschungen und Experimenten.<br />

Fotos: ©HV<br />

24


<strong>#17</strong> / April <strong>2022</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />

Alle Infos zur boxdersinne und den neuesten Wissensund<br />

Lernboxen zu den Themen Evolution und Philosophie<br />

finden Sie unter philoscience.de/boxen.<br />

Weitere Informationen, Preise und Buchung<br />

unter mobil@philoscience.de oder 0911 9443281.<br />

25


<strong>humanistisch</strong>! <strong>#17</strong> / April <strong>2022</strong><br />

durch die Humanistische Hilfe, die im<br />

Rahmen des Projekts „Protect Humanists<br />

at Risk“ Spenden sammelt, die in<br />

Zusammenarbeit mit den HI in Balas<br />

juristische Unterstützung fließen. Für<br />

Balas Rechtsbeistand sind bisher umgerechnet<br />

rund 36.000 € zusammengekommen.<br />

Für Balas Freilassung hatte<br />

sich zuvor u. a. auch der nigerianische<br />

Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka<br />

ausgesprochen.<br />

Druck, und auch in Norwegen sind wir<br />

nicht immun.“<br />

Ein weiterer Faktor für das starke<br />

Wachstum dürfte sein, dass die EHF<br />

seit einiger Zeit eine kostenlose Mitgliedschaft<br />

anbietet. Zudem zahlt der<br />

norwegische Staat an die anerkannten<br />

weltanschaulichen und religiösen Vereinigungen<br />

pro formell registriertem<br />

Mitglied einen Pauschalbetrag, aus<br />

dem die Organisationen ihre gemeinnützige<br />

Arbeit finanzieren können.<br />

<strong>humanistisch</strong>e-hilfe.de<br />

Sechsstellig<br />

Ein zynisches und<br />

unerträgliches Urteil<br />

Der Präsident der Humanistischen Vereinigung<br />

Nigerias wurde am 5. April<br />

wegen „Erregung öffentlichen Ärgernisses“<br />

zu einer 24-jährigen Haftstrafe<br />

verurteilt. Der heute 37-jährigewar im<br />

April 2020 kurz nach der Geburt seines<br />

Sohnes im islamisch geprägten Norden<br />

des Landes ohne Begründung inhaftiert<br />

worden, monatelang wurde ihm<br />

anschließend jeder Kontakt zur Außenwelt<br />

verwehrt. Nach 644 Tagen Haft<br />

wurde erstmals offiziell Anklage gegen<br />

ihn erhoben, weil er sich bei Facebook<br />

kritisch über den Islam und Religion<br />

im Allgemeinen geäußert hatte. Eine<br />

Gruppe muslimischer Anwälte hatte<br />

deswegen Beschwerde eingereicht.<br />

<strong>Das</strong> Urteil steht nicht nur im<br />

Gegensatz zur UN-Menschenrechtskonvention,<br />

sondern auch im krassen<br />

Gegensatz zu einer vorhergehenden<br />

Bewertung eines Gerichts im Süden<br />

Nigerias. Dieses hatte die Inhaftierung<br />

als unrechtmäßig bezeichnet und ihm<br />

dafür sogar eine Entschädigung zugesprochen.<br />

Nachdem er die Vorwürfe<br />

zuvor alle bestritten hatte, hatte er sich<br />

nun laut Humanists International (HI)<br />

gegenüber den Vorwürfen plötzlich als<br />

schuldig bekannt. „<strong>Das</strong> war nicht Teil<br />

der vereinbarten juristischen Strategie<br />

und kam für sein Anwaltsteam überraschend.<br />

Es ist wahrscheinlich, dass<br />

er eingeschüchtert wurde und man<br />

ihn dazu gebracht haben könnte, sich<br />

schuldig zu bekennen, in der Hoffnung<br />

auf ein mildes Urteil“, erklärte hierzu<br />

ein Bericht der HI, die Bala in seinem<br />

Verfahren unterstützen. Es gebe Berichte<br />

über Drohungen gegen seine<br />

Familienangehörigen.<br />

Beistand erhält Mubarak Bala auch<br />

Über 105.000 Norweger*innen zählte<br />

die norwegische Human-Etisk Forbund<br />

(HEF) Ende des Jahres als Mitglied. Mit<br />

rund 7.700 neuen Mitgliedern konnte<br />

die HEF im vergangenen Jahr damit<br />

zugleich ein neuen Wachstumsrekord<br />

verzeichnen, das Wachstum entspricht<br />

knapp 150 Neuzugängen pro Woche.<br />

HEF-Vorstand Tom Hedalen sagte dazu:<br />

„Viele Menschen erleben, dass eine<br />

Organisation, die ihre Grundwerte im<br />

Leben vertritt, Zugehörigkeit, Sinn und<br />

Verankerung bietet. Gläubige haben<br />

diese Gemeinschaft in ihrer Religion.<br />

Wir teilen nicht den Glauben, aber wir<br />

teilen das Bedürfnis nach einer Lebensweise,<br />

mit der man sich identifizieren<br />

kann.“<br />

Trond Enger<br />

Generalsekretär Trond Enger erklärte,<br />

dass er weiterhin ein großes<br />

Wachstumspotential für die HEF sieht.<br />

„Umfragen zeigen, dass bis zu 330.000<br />

Norweger*innen glauben, Mitglied von<br />

Human-Etisk Forbund zu sein. <strong>Das</strong> sind<br />

etwa 200.000 mehr als tatsächlich Mitglied<br />

sind“, so Enger. „<strong>Das</strong>s sich mehr<br />

Menschen dafür entscheiden, sich zu<br />

organisieren, ist die beste Motivation,<br />

die wir in der Arbeit für <strong>humanistisch</strong>e<br />

Werte wie Gleichheit, Meinungsfreiheit,<br />

Gemeinschaft, Dialog und eine<br />

aufgeschlossene Gesellschaft in einem<br />

säkularen Staat bekommen können.<br />

Die Werte stehen an mehreren Orten<br />

in Europa und dem Rest der Welt unter<br />

Auf und Ab<br />

Die Zahl der sogenannten „Nones“, der<br />

Menschen ohne Zugehörigkeit zu einer<br />

Religionsgemeinschaft, wächst in den<br />

Vereinigten Staaten schneller als die<br />

aller anderen religiösen bzw. weltanschaulichen<br />

Gruppen. Drei von zehn<br />

US-Amerikaner*innen bezeichnen<br />

sich mittlerweile als atheistisch oder<br />

agnostisch oder geben an, religiös bzw.<br />

weltanschaulich einfach keiner Gruppe<br />

anzugehören. <strong>Das</strong> geht aus einer<br />

neuen Untersuchung des Meinungsforschungsinstitut<br />

Pew Research Center<br />

hervor, deren Ergebnisse Ende 2020<br />

veröffentlicht wurden.<br />

Den stärksten Rückgang an Interesse<br />

verzeichnet in den USA weiterhin<br />

das Christentum. Nur noch knapp<br />

63 Prozent der Bevölkerung sind laut<br />

Pew-Bericht Christ*innen, zwölf Prozent<br />

weniger als vor zehn Jahren. Der<br />

durchschnittliche jährliche Rückgang<br />

bei der Anhängerschaft gleicht damit<br />

dem, den die evangelische und katholische<br />

Kirche seit über zehn Jahren in<br />

Deutschland erleben. Der Trend beim<br />

Wandel der weltanschaulichen Landschaft<br />

in den Vereinigten Staat spiegelt<br />

sich auch in der religiösen Praxis wider.<br />

Ein knappes Drittel der Befragten<br />

gab an, selten oder nie zu beten. Deutlich<br />

weniger als die Hälfte tun dies täglich.<br />

Vor rund 15 Jahren beteten noch<br />

knapp sechs von zehn US-Erwachsenen<br />

täglich.<br />

Trend gestoppt<br />

Mehr Gläubige als vor zehn Jahren gibt<br />

es hingegen gegenwärtig in der Tschechischen<br />

Republik. Den Ergebnissen<br />

Fotos: ©HEF, Humanists UK<br />

26


<strong>#17</strong> / April <strong>2022</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />

des Zensus 2021 zufolge wuchs deren<br />

Zahl im Vergleich zu 2011 von 20 Prozent<br />

Bevölkerungsanteil bzw. 2,16<br />

Millionen auf 22 Prozent bzw. 2,33 Millionen.<br />

47,8 Prozent bezeichneten sich<br />

bei der freiwilligen Zensus-Frage als<br />

ungläubig, 30,1 Prozent machten keine<br />

Angabe. Der Trend zur Säkularisierung<br />

in dem rund 10,5 Millionen Einwohner<br />

großen EU-Staat ist damit nach<br />

Jahrzehnten vorläufig zum Stillstand<br />

gekommen.<br />

Die Entwicklung könnte Hypothesen<br />

von Religionssoziologen bestätigen,<br />

die einen Sockelanteil an religiös<br />

gebundenen Menschen in modernen,<br />

individualisierten und relativ wohlhabenden<br />

Gesellschaften vermuten. Trotz<br />

bleibender Säkularisationsfaktoren<br />

würde demnach deren Bevölkerungsanteil<br />

ab einem bestimmten Punkt<br />

nicht weiter schrumpfen, des Weiteren<br />

spielten auch demografische Faktoren<br />

eine Rolle.<br />

Neue Gesichter an der Spitze<br />

Der Wissenschaftler, Autor und Rundfunkproduzent<br />

Adam Rutherford wird<br />

neuer Präsident der Humanists UK. Er<br />

löst damit ab Juni die Wissenschaftlerin,<br />

Autorin und Fernsehmoderatorin<br />

Alice Roberts ab, die wie ihre Vorgänger*innen<br />

weiter als Vizepräsidentin<br />

Adam Rutherford<br />

die Arbeit der traditionsreichen Vereinigung<br />

in Großbritannien begleiten<br />

wird.<br />

Ebenfalls einen Führungswechsel<br />

gab es bei der American Humanist<br />

Association. Neue Geschäftsführerin<br />

ist Nadya Dutchin, die an die Stelle des<br />

langjährigen Geschäftsführers Roy<br />

Speckhardt tritt. Speckhardt hatte im<br />

vergangenen Jahr erklärt, nach über<br />

zehn Jahren an der AHA-Spitze seinen<br />

Platz bereitzustellen für eine Person, in<br />

der sich ein größerer Teil der vielfältigen<br />

und diversen Gesellschaft wiedererkennt,<br />

für den die AHA da sein will.<br />

Hallo<br />

aus den<br />

USA!<br />

Drei Fragen an Nadya Dutchin, neue Geschäftsführerin<br />

der American Humanist Association.<br />

Was ist dein beruflicher Hintergrund?<br />

Nadya Dutchin Ich habe Molekular-<br />

und Zellbiologie studiert.<br />

Nach der Geburt meiner Tochter<br />

wusste ich, dass der Klimawandel<br />

die größte Herausforderung für<br />

ihre Generation sein würde, und so<br />

begann ich bei der gemeinnützigen<br />

Groundswell Inc. in Washington<br />

DC, mit der Vermittlung von Verträgen<br />

für saubere Energie und der<br />

Entwicklung eines Prozesses für<br />

die Akquisition und Verwaltung von<br />

Abonnenten für kommunale Solarprojekte.<br />

Während meiner Zeit bei<br />

Groundswell war ich Vorstandsmitglied<br />

und später Schatzmeisterin<br />

bei Power Shift Network, was<br />

zu meiner Ernennung zur Mitgeschäftsführerin<br />

mit Zuständigkeit<br />

für Kommunikation und Entwicklung<br />

führte.<br />

Wie hast du zum ersten Mal<br />

vom Humanismus erfahren?<br />

ND Meine Eltern und die Familie<br />

väterlicherseits sind römisch-katholisch,<br />

und ich bin in der katholischen<br />

Kirche aufgewachsen, obwohl<br />

ich lutherisch getauft wurde. Meine<br />

Reise zum Atheismus begann, als<br />

ich 15 war. Ich las die gesamte Bibel<br />

von vorne bis hinten und war von<br />

den Widersprüchen und der Gewalt<br />

zutiefst beunruhigt. Als ich mich<br />

auf meinen College-Abschluss vorbereitete,<br />

begann ich, mir größere<br />

Fragen zu stellen: Wer ist und wo ist<br />

Gott? Was geschieht mit Menschen<br />

in Indien, Japan oder dem Iran, die<br />

nicht glauben, dass Christus ihr<br />

Erlöser ist? Sind sie keine guten<br />

Menschen? Ich wollte wirklich keiner<br />

Religion angehören, die behauptet,<br />

ihr Weg sei der einzig wahre,<br />

und so begann ich, mehr über den<br />

Buddhismus als Philosophie zu<br />

lernen, und legte meine Angst vor<br />

dem Alleinsein und vor dem Urteil<br />

anderer ab. Zum ersten Mal fühlte<br />

ich mich frei, mutig und befähigt,<br />

meine Welt so zu gestalten, dass sie<br />

mir Frieden brachte und es mir ermöglichte,<br />

den Menschen jeden Tag<br />

sinnvoll zu dienen.<br />

Was hat dich an der Arbeit für<br />

die AHA am meisten interessiert?<br />

ND In den letzten 30 Jahren hat<br />

die religiöse Rechte alles in ihrer<br />

Macht Stehende getan, um die Rechte<br />

von Menschen aus der Arbeiterklasse<br />

auszuhöhlen und die Grundpfeiler<br />

unserer demokratischen<br />

Republik zu untergraben.<br />

Die Wahl 2016 war fast katastrophal<br />

für dieses Land, aber ich war angenehm<br />

überrascht von der großen<br />

Anzahl von Menschen, die aus ihrer<br />

Bequemlichkeit und Selbstzufriedenheit<br />

aufgewacht sind. Als ich<br />

mich mit der AHA, der Vielfalt ihrer<br />

Mitglieder und ihrer beeindruckenden<br />

juristischen und politischen<br />

Arbeit beschäftigte, wusste ich,<br />

dass meine Fähigkeiten zum Aufbau<br />

von Koalitionen und Bewegungen<br />

nützlich sein könnten, um uns dabei<br />

zu helfen, die größte Wählergruppe<br />

anzusprechen: Millennials und<br />

die Generation Z. Wenn wir ehrlich<br />

sind, sind die Rechtsextremen<br />

besser organisiert und ziehen an<br />

einem Strang, selbst wenn sie ideologische<br />

Differenzen haben. Wir Humanist*innen<br />

sind aber in der Lage,<br />

an die Logik und Vernunft guter<br />

Menschen zu appellieren, unabhängig<br />

von ihrer religiösen Zugehörigkeit,<br />

weil wir unsere Argumente auf<br />

die Wissenschaft und den gesunden<br />

Menschenverstand stützen, von<br />

denen jeder profitieren kann.<br />

Gekürzte Fassung, Interview zuerst<br />

erschienen bei The Humanist.<br />

Übersetzung: Arik Platzek<br />

27


<strong>humanistisch</strong>! <strong>#17</strong> / April <strong>2022</strong><br />

Sich mit<br />

den<br />

Den Kleinen die<br />

großen Fragen<br />

stellen<br />

Nach der boxdersinne in drei Ausführungen<br />

für Kitas, Schulen und Erwachsene,<br />

der boxdesvorurteilens und zuletzt der<br />

boxderevolution, ist die boxdesphilosophierens<br />

das neueste mobile Angebot für Kitas,<br />

welches unser Team während der Monate der pandemiebedingten<br />

Museumsschließungen entwickelt<br />

hat. Während die anderen genannten Boxen bereits<br />

als interaktive Bildungsangebote in Kofferformat<br />

bezeichnet werden können, geht die boxdesphilosophierens<br />

über den Ansatz der bisherigen Boxen<br />

hinaus, indem sie einen Einstieg in die Praxis einer<br />

Nachdenk- und Gesprächskultur bietet, die den<br />

Kindern, aber auch den Erziehenden, nachhaltig die<br />

Freude am Staunen, Hinterfragen und Forschen vermittelt<br />

und fördert.<br />

Worum geht es<br />

beim Philosophieren?<br />

Beim Philosophieren geht es weniger darum, bestimmte,<br />

abschließende Antworten zu finden, sondern<br />

vielmehr darum, sich gemeinsam auf die Suche<br />

Der Rabe Sokrates führt<br />

die Kinder durch das<br />

Philosophieren und dient<br />

als freche Identifikationsfigur<br />

für die Kinder, die<br />

durchaus auch zuhause<br />

ihre Familien mit Fragen<br />

nerven sollen. Die liebevoll<br />

gestaltete Filzfigur erfüllt<br />

außerdem den Zweck, das<br />

Rederecht des Kindes anzuzeigen,<br />

das sie gerade in<br />

der Hand hält.<br />

zu begeben. Die Teilnehmenden sind Teil einer Forschungsgemeinschaft,<br />

sowohl die Erziehungskräfte<br />

als auch die Kinder.<br />

Im Mittelpunkt dieser Box stehen philosophische<br />

Fragen, die sich Menschen seit jeher stellen und die<br />

gerade auch von den Kleinsten gestellt werden.<br />

Fragen, die nicht organisatorisch sind: „Wo hast<br />

du den Pulli gekauft?“; die aber auch keine reinen<br />

Wissensfragen sind, die durch einen Blick ins Lexikon<br />

zweifelsfrei geklärt werden können: „Wie hoch ist<br />

der Mount Everest?“. Vor allem sind es auch keine<br />

didaktischen Fragen, bei der immer genau eine,<br />

nämlich die Frage stellende, erziehende Person<br />

die Antwort schon vorher kennt. Letztere Art der<br />

Fragen wirken sich ähnlich negativ auf die Lust der<br />

Kinder auf das Fragen, Nachdenken und Forschen<br />

aus, wie die Tendenz vieler Erwachsener, abschließende<br />

und umfassende Antwortvorträge zu halten.<br />

Philosophische Fragen zeichnen sich dadurch<br />

aus, dass sie nicht leicht zu beantworten sind; dass<br />

sie „große Fragen“ sind, die das Ganze, einen größeren<br />

Zusammenhang betreffen, sich mit Werten<br />

auseinandersetzen; und nicht zuletzt, dass eben<br />

auch die Erziehungskraft keine allgemeingültige<br />

Illustrationen: boxdesphilosophierens: ©Anna Maria Schönrock; Fotos: adobestock.com<br />

28


<strong>#17</strong> / April <strong>2022</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />

Antwort geben kann. Dabei haben philosophische<br />

Fragen jedoch eine ganz besondere Lebensrelevanz<br />

[oder: lebensweltliche Relevanz] und fordern die<br />

„Welt-Sicht“ der Fragenden heraus und regen zum<br />

Nach-Denken und Weiter-Denken an, zum Nach-<br />

Fragen, Hinter-Fragen und Weiter-Fragen. In jedem<br />

Alter.<br />

Der Philosoph Immanuel Kant sah das vor über<br />

200 Jahren so: „<strong>Das</strong> Feld der Philosophie […] lässt<br />

sich auf folgende Fragen bringen: Was kann ich<br />

wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was<br />

ist der Mensch? 1 “ Etwas kindgerechter können wir<br />

diese Fragebereiche, angelehnt an Hans-Joachim<br />

Müller 2 , neu formulieren:<br />

1. Was weiß ich? Was kann ich begreifen? –<br />

Erkenntnislehre<br />

2. Was darf oder muss ich tun und warum? –<br />

Ethik<br />

3. Wie finde ich Glück? Wo liegt mein<br />

Lebenssinn? – Metaphysik<br />

4. Wer bin ich? Was gehört, passt zu mir? –<br />

Anthropologie<br />

An diesen vier Grundfragen der Philosophie<br />

orientiert sich auch der Aufbau der boxdesphilosophierens.<br />

Ein besonderer Platz<br />

zum Philosophieren<br />

Beim Philosophieren gibt es keine Lehrperson,<br />

niemanden, der anderen etwas<br />

„beibringt“. Alle Teilnehmenden einer<br />

Philosophierrunde verstehen sich als<br />

Teil einer Forschungsgemeinschaft,<br />

die sich gemeinsam ein Thema,<br />

einen Gedanken, eine Frage<br />

erschließt. Eine „erziehende“<br />

Person erfüllt hier lediglich<br />

eine moderierende Funktion.<br />

Diese Besonderheit wird<br />

durch den Marktplatz symbolisiert,<br />

um den sich alle großen<br />

und kleinen Philosophierenden<br />

auf den Boden setzen.<br />

Auf dem Marktplatz treibt<br />

sich der freche Rabe Sokrates<br />

herum, der die Menschen auf dem<br />

Platz immer wieder mit seinen Fragen<br />

in philosophische Gespräche verwickelt.<br />

Seinen Namen trägt der Rabe natürlich nicht<br />

zufällig: Schon im alten Athen verwickelte der<br />

Philosoph Sokrates die Menschen auf der Agora,<br />

dem Versammlungs- und Marktplatz, mit seinen<br />

penetranten Fragen in philosophische Dialoge und<br />

nicht selten zur Verzweiflung.<br />

Auf Sokrates geht die so genannte „Hebammenkunst“<br />

zurück, die Mäeutik, die eine tragende Säule<br />

des Philosophierens darstellt: Durch das Stellen geeigneter<br />

Fragen helfen sich die Philosophierenden<br />

gegenseitig, selbst zu Erkenntnissen zu gelangen.<br />

„DAS FELD DER<br />

PHILOSOPHIE<br />

[…] LÄSST SICH<br />

AUF FOLGENDE<br />

FRAGEN<br />

BRINGEN:<br />

WAS KANN ICH<br />

WISSEN? WAS<br />

SOLL ICH TUN?<br />

WAS DARF ICH<br />

HOFFEN?<br />

WAS IST DER<br />

MENSCH?<br />

Immanuel Kant<br />

Wie schon die Agora im<br />

alten Athen wird dieser<br />

zeitgenössische Marktplatz<br />

von den Menschen für den<br />

Austausch nicht nur von<br />

Waren, sondern auch von<br />

Ideen genutzt.<br />

Diese Erkenntnisse werden sozusagen mit Hilfe einer<br />

Hebamme geboren, ganz im Gegensatz zum althergebrachten<br />

Schulunterricht, in dem die Lehrenden<br />

den Lernenden einen vorgegebenen Stoff „einzutrichtern“<br />

versuchen.<br />

Am Rande des Marktplatzes befindet sich auch<br />

die Fragen-Bibliothek, aus denen Frage-Karten<br />

zum Thema des Tages gezogen werden. Aber auch<br />

die aufkommenden Fragen der philosophierenden<br />

Kinder gehen nicht verloren: Sie werden auf Blankokarten<br />

geschrieben und/oder gemalt und dann in<br />

der Bibliothek abgelegt, um sie später einmal in angemessener<br />

Ausführlichkeit besprechen zu können.<br />

Die Frage-Karte, die gerade in der Runde behandelt<br />

wird, wird auf einem Aufsteller auf dem Marktplatz<br />

abgelegt.<br />

Themen-Tage<br />

Am ersten Tag geht es ganz allgemein um das Staunen<br />

und Fragen. Mithilfe eines außergewöhnlichen<br />

Steins und einigen gewöhnlichen – falls es solche<br />

überhaupt gibt – wird die Runde in das Philosophieren<br />

eingeführt. Die Kinder lernen den Marktplatz,<br />

den Raben Sokrates und die Regeln des Philosophierens<br />

kennen und ihren Sinn verstehen. An<br />

den weiteren Tagen geht es dann um die an Kant<br />

angelehnten vier Grundfragen, die wir WISSEN, ICH,<br />

TUN und SINN genannt haben.<br />

Jede dieser Philosophier-Sitzungen startet<br />

mit einer Aufwärmübung, mit deren<br />

Hilfe die Kinder eine Brücke schlagen<br />

können von ihrem Alltag hin zum<br />

Philosophieren. Sie kommen in der<br />

Runde an und lassen ihre eigene<br />

Lebenswelt in das Philosophieren<br />

einfließen.<br />

Der Hauptteil ist geprägt<br />

von einer gemeinsamen<br />

Aktivität mit einer speziellen<br />

Requisite, wie die Steine am<br />

ersten Tag, mit Exponaten zu<br />

Sinnestäuschungen, Bildergeschichten,<br />

einem Bodenpuzzle<br />

etc.. Die Gegenstände regen zu<br />

einer intensiven philosophischen<br />

Beschäftigung mit der Grundfrage<br />

des Tages und einigen ihrer Aspekte<br />

an.<br />

Zum Abschluss eines jeden Themen-Tages<br />

werden einige Fragen aus der Bibliothek gezogen<br />

und besprochen und eigene Fragen festgehalten<br />

und dort abgelegt. In der Box befinden sich<br />

auch weitere Requisiten, wie besonders geeignete<br />

1) Immanuel Kant: Logik. ein Handbuch zu Vorlesungen.<br />

Königsberg, 1800<br />

2) Hans-Joachim Müller: Von Steinen und anderen Phänomenen.<br />

Wege zum Philosophieren mit Kindern. Aus der Praxis – für die<br />

Praxis. München, 2020<br />

29


Anleitungsbroschüre<br />

Glaubst du,<br />

Du bist noch zu klein um<br />

große Fragen zu stellen?<br />

Dann kriegen die<br />

Großen dich klein<br />

noch bevor du groß<br />

genug bist.<br />

Bilderbücher, die in der freien Spielzeit von interessierten<br />

Kindern genutzt werden können, die sich<br />

weiter mit den aufgeworfenen Themen auseinandersetzen<br />

wollen.<br />

Am letzten Tag entwerfen die Kinder ihre, aus<br />

eigenen philosophischen Gesprächen erwachsene,<br />

ideale Kita. Dieser Entwurf und die Fragen-Bibliothek<br />

verbleiben vor Ort. Sie sollen das Philosophieren<br />

in der Einrichtung nachhaltig etablieren.<br />

Pädagogische Grundhaltung<br />

<strong>Das</strong> der boxdesphilosophierens zugrundeliegende<br />

Bild des Kindes wurde vom Reformpädagogen John<br />

Dewey treffend umrissen. Dewey wandte sich gegen<br />

das zu seiner Zeit, im 19. und 20. Jahrhundert, vorherrschende<br />

Bild des Kindes als defizitäres Wesen,<br />

das geformt und mit Wissen befüllt werden muss.<br />

Wenn wir ehrlich sind, wirkt dieses althergebrachte<br />

Bild bis heute nach. Dewey hingegen sah Kinder als<br />

junge Menschen mit eigenen Kompetenzen, Persönlichkeiten<br />

und Bedürfnissen, deren Entwicklung<br />

durch Bildung und Erziehung unterstützt werden<br />

soll. Für ihn sind Kinder aktive Lernende, motiviert,<br />

sich ihre Welt aktiv anzueignen. Es ist unschwer zu<br />

erkennen, dass diese pädagogische Grundhaltung<br />

die oben beschriebene sokratische Vorgehensweise<br />

widerspiegelt.<br />

Philosophieren fördert und kultiviert das Staunen,<br />

erhält die Neugier, zeigt den Kindern, dass ihre<br />

Fragen und Ideen einen Wert haben. Philosophieren<br />

produziert keine abschließenden Antworten,<br />

– Erich Fried –<br />

Die boxdesphilosophierens<br />

lädt Kinder ausgehend<br />

von Sinneserfahrungen<br />

und -täuschungen<br />

zum spielerischen Philosophieren<br />

und Denken<br />

ein. Entlang philosophischer<br />

Grundfragen und<br />

mithilfe von Übungen und<br />

kindgerechten Exponaten<br />

werden kritisches Denken,<br />

toleranter Umgang mit<br />

anderen Sichtweisen,<br />

sowie Reflexions-, Urteilsund<br />

Konfliktfähigkeit<br />

trainiert und kultiviert.<br />

Philosophieren hilft,<br />

die großen Fragen und<br />

Probleme des Lebens<br />

besser meistern zu<br />

können.<br />

sondern viele neue Fragen, neue Herausforderungen.<br />

So wie das Leben selbst mit jedem Fortschritt<br />

neue Herausforderungen bereithält.<br />

„Kinder kommen zum ersten Schultag als Fragezeichen<br />

– und verlassen sie als Punkt.“ – Neil Postman 4<br />

Wenn wir als Erwachsene lernen, mit unseren<br />

Kindern zu philosophieren, dann helfen wir ihnen<br />

dabei, dass sie unser heutiges Schulsystem nicht als<br />

Punkte verlassen, sondern sich zu Persönlichkeiten<br />

entwickeln, die bereit sind, sich den großen Fragen<br />

und den Herausforderungen des Lebens zu stellen.<br />

Lutz Renken<br />

<strong>humanistisch</strong>! <strong>#17</strong> / April <strong>2022</strong><br />

DAS HEBAMMENPRINZIP<br />

Wie also reagiere ich, wenn mich<br />

zum Beispiel ein Dreijähriger fragt:<br />

„Warum regnet es?“ Statt dem<br />

Kleinen den Wasserkreislauf zu erläutern,<br />

entspräche es guter Praxis<br />

des philosophischen Umgangs mit<br />

Kinderfragen, das „Hebammen-<br />

Prinzip“ anzuwenden und das<br />

heraus zu holen, was sich im Kopfe<br />

dieses Kindes bereits an Alltagsund<br />

Erfahrungswissen angesammelt<br />

hat. <strong>Das</strong> geschieht durch die<br />

einfache Rückfrage: „Was denkst<br />

du denn, warum es regnet?“ Die<br />

vielleicht überraschende Antwort<br />

meines Gesprächspartners:<br />

„Es regnet, weil die Blumen durstig<br />

sind!“<br />

Hans-Joachim Müller, Grundschullehrer<br />

i.R., Lehrbeauftragter am Institut<br />

für Philosophie der Carl von Ossietzky-<br />

Universität Oldenburg.<br />

philosophieren-mit-kindern.de<br />

3) John Dewey, Philosoph, Psychologe und Pädagoge, war einer<br />

der Unterzeichner des ersten Humanistischen Manifests von 1933<br />

4) Neil Postman: Keine Götter mehr, Berlin 1995<br />

30


<strong>#17</strong> / April <strong>2022</strong> <strong>humanistisch</strong>!<br />

LESEN SIE AUCH ONLINE!<br />

Weltanschauungspolitische<br />

Fragen<br />

der aktuellen<br />

Legislaturperiode<br />

Ein Kommentar von HV-Vorstand<br />

Michael Bauer zu den Chancen der<br />

aktuellen Bundesregierung für<br />

die <strong>humanistisch</strong>e Gemeinschaft.<br />

<strong>humanistisch</strong>.net/HV-<strong>2022</strong>0203<br />

Wir trauern um<br />

Reiner Wagner<br />

Engagierter Humanist,<br />

langjähriges Mitglied<br />

und erster Träger des<br />

Hans-Schmidt-Preises<br />

für Menschlichkeit und Vernunft: Reiner<br />

Wagner ist am 22. März im Alter von<br />

88 Jahren verstorben.<br />

<strong>humanistisch</strong>.net/HV-<strong>2022</strong>0327<br />

Wahlfreiheit wirkt positiv<br />

Nicht zur Teilnahme an schulischem<br />

Religionsunterricht verpflichtet zu sein,<br />

wirkt sich positiv auf Arbeitsmarktbeteiligung,<br />

Religiosität und Lohnniveau<br />

aus. Zu diesem Ergebnis ist eine Studie<br />

des ifo Instituts gekommen.<br />

<strong>humanistisch</strong>.net/41540<br />

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Impressum<br />

<strong>humanistisch</strong>! <strong>Das</strong> <strong>Magazin</strong> wird herausgegeben von<br />

Humanistische Medien (Anstalt des öffentlichen Rechts),<br />

Sitz: Nürnberg. <strong>humanistisch</strong>e-medien.de<br />

ISSN 2570-0030<br />

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Tel: 0911 43104-0, E-Mail: magazin@<strong>humanistisch</strong>.net<br />

HERAUSGEBER, VERANTWORTLICH FÜR DEN INHALT<br />

Michael C. Bauer (V.i.S.d.P.)<br />

REDAKTIONSLEITUNG Arik Platzek (arik.platzek@<br />

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<strong>humanistisch</strong>.net)<br />

AN DIESER AUSGABE HABEN EBENFALLS MITGEWIRKT<br />

Nina Abassi, Martin Bühner, Martin A. Völker, Anna Maria<br />

Schönrock, Anika Herbst, Jonas Grutzpalk und Lutz Renken<br />

ABONNENTENSERVICE Stefan Dietrich, abo@<strong>humanistisch</strong>.net<br />

GESTALTUNG & ILLUSTRATIONEN<br />

Martin Rollmann – martinrollmann.de<br />

DRUCK Mang + co – mangdruck.de<br />

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erscheint vierteljährlich im Dezember, April, Juli und<br />

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31


Für Kitas<br />

Die interaktive Mitmach-Box für kleine<br />

Forscher*innen – vom Big Bang bis heute!<br />

Dauer: ausgelegt auf 1 Projektwoche, 7 Stationen, täglich ca. 1-2 Stunden<br />

Alter: ab 3 Jahren<br />

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