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<strong>Vogd204</strong> – Zei<strong>ch</strong>en und Neuronale Netzwerke<br />

204<br />

Minsky – Mentopolis: Ein in diesem Sinne verstandenes Gehirn hat kein Zentrum, sondern<br />

besteht aus einem Netzwerk multipler Agenten, die jedo<strong>ch</strong> – wie<br />

Minsky bes<strong>ch</strong>reibt – in hohem Maße dur<strong>ch</strong> Spra<strong>ch</strong>e integriert werden:<br />

»Unsere bewußten Gedanken benutzen Signal-Zei<strong>ch</strong>en, um die<br />

Mas<strong>ch</strong>inen in unserem Geist zu steuern, indem sie zahllose Prozesse<br />

kontrollieren, von denen uns nie viel bewußt wird. Ohne zu<br />

begreifen, wie es funktioniert, lernen wir, unsere Ziele zu erlangen,<br />

indem wir Signale an diese großen Mas<strong>ch</strong>inen senden, in ähnli<strong>ch</strong>er<br />

Weise, wie die Zauberer vergangener Zeiten Rituale vollzogen, um<br />

ihre Bes<strong>ch</strong>wörungen wirksam zu ma<strong>ch</strong>en. [...] In unserem Geist<br />

gibt es keine Türen, nur Verbindungen zwis<strong>ch</strong>en Zei<strong>ch</strong>en. Um die<br />

Sa<strong>ch</strong>e ein wenig übertrieben darzustellen: das, was wir ›Bewußtsein‹<br />

nennen, besteht in Wahrheit aus wenig mehr als Menü-Listen,<br />

die von anderen Systemen benutzt werden. Es hat große Ähnli<strong>ch</strong>keit<br />

mit der Art, wie die Computerspieler Symbole benutzen, um<br />

205<br />

Prozesse im Inneren ihrer komplizierten Spielmas<strong>ch</strong>inen aufzurufen,<br />

ohne das geringste Verständnis für die Funktionsweise dieser<br />

Computer zu haben«.87<br />

87 Minsky (1990, 56 f.).<br />

Gehirne operieren aus dieser Perspektive auf Basis logis<strong>ch</strong>er semantis<strong>ch</strong>er<br />

Operationen. Der Kognitivismus folgt hiermit der Intuition der<br />

s<strong>ch</strong>olastis<strong>ch</strong>en Vernunft, dass si<strong>ch</strong> Kognition vor allem als Logik und<br />

Tiefenstruktur einer zugrunde liegenden Grammatik der Symbolverarbeitung<br />

begreifen lässt – nämli<strong>ch</strong> als begriffli<strong>ch</strong>-propositionales<br />

Denken.<br />

Mit Blick auf die Subjekt-Objekt-Di<strong>ch</strong>otomie ergibt si<strong>ch</strong> hiermit ein interessantes Verhältnis<br />

zwis<strong>ch</strong>en Bewusstsein und Symbolprozessen. In dem hier gezei<strong>ch</strong>neten Bild s<strong>ch</strong>lei<strong>ch</strong>t si<strong>ch</strong><br />

nolens volens der Descartess<strong>ch</strong>e Dualismus wieder ein. Einerseits s<strong>ch</strong>eint hier das<br />

Bewusstsein glei<strong>ch</strong>sam als inneres Seelenwesen auf der Klaviatur der von einer<br />

Gehirnmas<strong>ch</strong>ine präsentierten Benutzeroberflä<strong>ch</strong>en zu spielen. Qua Mausklick s<strong>ch</strong>eint es<br />

glei<strong>ch</strong>sam dem System seine Anordnungen geben zu können. Andererseits bleibt jedo<strong>ch</strong> der<br />

epistemis<strong>ch</strong>e Status des hier angespro<strong>ch</strong>enen phänomenologis<strong>ch</strong>en Bewusstseins unklar,<br />

denn eigentli<strong>ch</strong> liegt es kausal außerhalb der hier bes<strong>ch</strong>riebenen Prozesse. Es ist eigentli<strong>ch</strong><br />

zu ni<strong>ch</strong>ts nutze und ers<strong>ch</strong>eint mit Roy Jackendoff bestenfalls als »non-efficacious« und<br />

»powerless by-product of the physical world«.88 88 Jackendoff (1987, 26).<br />

S<strong>ch</strong>auen wir uns ein weiteres Zitat von Minsky an, wel<strong>ch</strong>es das hier bes<strong>ch</strong>riebene<br />

Dilemma auf die Spitze treibt:<br />

»Wenn uns au<strong>ch</strong> die physis<strong>ch</strong>e Welt keinen Raum für Willensfreiheit läßt: dieses Konzept ist<br />

fundamental für unsere Modelle des mentalen Berei<strong>ch</strong>s. Ein zu großer Teil unserer<br />

Psy<strong>ch</strong>ologie basiert auf ihm, als daß wir es aufgeben könnten. Wir sind bu<strong>ch</strong>stäbli<strong>ch</strong><br />

gezwungen, diesen Glauben beizubehalten, obwohl wir wissen, daß er irrig ist – es sei denn<br />

wir fühlten uns bemüßigt, die Fehler in allen unseren Überzeugungen zu finden, wie au<strong>ch</strong><br />

immer dann die Folgen für unsere Zuversi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>keit und unseren geistigen Frieden<br />

aussehen mögen«.89 89 Minsky (1990, 304 f.).<br />

1


206<br />

Die kognitivistis<strong>ch</strong>en symbolverarbeitenden Mas<strong>ch</strong>inen verfügen zwar über<br />

symbolis<strong>ch</strong>e Selbst- und Weltmodelle, do<strong>ch</strong> diese ›mentalen Modelle‹ sind nun selbst<br />

wieder als Agenten zu sehen, die als Symbolprozesse auf symbolverarbeitenden<br />

Mas<strong>ch</strong>inen laufen. Das phänomenologis<strong>ch</strong>e Bewusstsein steht hier außerhalb der<br />

Bes<strong>ch</strong>reibung. Es kommt in dem vom kognitivistis<strong>ch</strong>en Modell konstituierten<br />

Gegenstandsberei<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t vor.<br />

Konnektivismus: Kognition jenseits propositionaler Gehalte<br />

Aus der neuen Verbindung von Computerwissens<strong>ch</strong>aften und der Erfors<strong>ch</strong>ung der<br />

Mögli<strong>ch</strong>keiten künstli<strong>ch</strong>er Intelligenz entstand parallel zum Kognitivismus ein zweites<br />

Paradigma, der Konnektivismus. Seine Grundidee lautet, dass die<br />

Informationsverarbeitung ni<strong>ch</strong>t in Form einer logis<strong>ch</strong>en Verknüpfung von<br />

Symboloperationen stattfände, sondern mittels verteilter neuronaler Netzwerke.<br />

Es wird nun wieder eine stärkere Nähe zur Hirnphysiologie gesu<strong>ch</strong>t, was dann au<strong>ch</strong> im<br />

Einklang mit dem Befund steht, dass si<strong>ch</strong> in Gehirnen weder Symbole finden lassen no<strong>ch</strong><br />

Verarbeitungsstrukturen, die eine Informationsverarbeitung entspre<strong>ch</strong>end den Gesetzen<br />

einer propositionalen Logik nahelegen.<br />

Der Ausgangspunkt der konnektivistis<strong>ch</strong>en Bes<strong>ch</strong>reibung ist die Hebbs<strong>ch</strong>e Lernregel. Diese<br />

besagt in einfa<strong>ch</strong>ster Form, dass Neuronen, die zusammen feuern, untereinander<br />

Verbindungen ausbauen, so dass diese in Zukunft unter no<strong>ch</strong> geringeren Reizs<strong>ch</strong>wellen<br />

zusammen feuern werden. Wenn ein Axon einer Zelle A also nahe genug an Zelle B liegt,<br />

um diese zu aktivieren, und diese Aktivierungen wiederholt auftreten, dann wird ein<br />

metabolis<strong>ch</strong>er Wandel eingeleitet, der eben diese spezifis<strong>ch</strong>e Aktivitätsform stabilisiert.<br />

Da nun viele physiologis<strong>ch</strong>e Befunde dafür spre<strong>ch</strong>en, dass si<strong>ch</strong> Verbünde von Nervenzellen<br />

tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> so verhalten, lag die Idee nahe, künstli<strong>ch</strong>e Netzwerke aus elektronis<strong>ch</strong>en<br />

S<strong>ch</strong>altelementen aufzubauen, die den Hebbs<strong>ch</strong>en Regeln folgen.<br />

Anders als der einem feststehenden Algorithmus folgende Neumanns<strong>ch</strong>e Computer,<br />

müssen sol<strong>ch</strong>e Netze erst dur<strong>ch</strong> wiederholten Input von Reizen trainiert werden, damit<br />

si<strong>ch</strong> jene internen Relationen ausbilden, die dann ebendiese Reize gezielt verarbeiten<br />

lassen. Eine Vielzahl von Versu<strong>ch</strong>en zeigt mittlerweile, dass gut trainierte Netzwerke<br />

unter bestimmten Bedingungen in der Mustererkennung wesentli<strong>ch</strong> leistungsfähiger<br />

sind als die na<strong>ch</strong> formallogis<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>emata operierenden Re<strong>ch</strong>ensysteme.<br />

207<br />

Neuronale Netze – und dies ist das zuglei<strong>ch</strong> Spannende wie au<strong>ch</strong> Verstörende –<br />

lernen, komplexe Muster zu erkennen, ohne dass ein abstraktes S<strong>ch</strong>ema der diesen<br />

Mustern zugrunde liegenden Regeln entwickelt oder angewendet werden muss. Weder<br />

brau<strong>ch</strong>t vor dem Lernen ein Wissen um bestimmte Regeln vorausgesetzt werden,<br />

no<strong>ch</strong> kann na<strong>ch</strong> dem Lernprozess aus dem neuronalen Netz ein logis<strong>ch</strong><br />

formalisierbares Regelwerk abstrahiert werden. Die Informationsverarbeitung ist hier<br />

allein in der Selbstorganisation der Netzwerke verkörpert.<br />

Die dur<strong>ch</strong> gekoppelte Aktivitäten si<strong>ch</strong> selbst stabilisierenden Aktivitätsmuster sind von außen<br />

undur<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>aubar und ließen si<strong>ch</strong> selbst na<strong>ch</strong> einer Rekonstruktion der neuronalen<br />

Bindungsmuster ni<strong>ch</strong>t mehr in eine propositionale Form bringen. Kognition ers<strong>ch</strong>eint<br />

nun als ein über viele vers<strong>ch</strong>iedene Orte des neuronalen Netzwerkes verteilter Prozess. Sie<br />

folgt ni<strong>ch</strong>t mehr einer Satzstruktur logis<strong>ch</strong> verstehbarer Symboloperationen. Um hier mit<br />

Thomas Metzinger zu spre<strong>ch</strong>en:<br />

»[D]ie begriffli<strong>ch</strong>e Unters<strong>ch</strong>eidung zwis<strong>ch</strong>en Syntax und Semantik läßt si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t mehr<br />

aufre<strong>ch</strong>terhalten, und wegen der fehlenden Konstituentenstruktur wird es endgültig<br />

2


unmögli<strong>ch</strong>, den Begriff der Repräsentation hier im Sinne klassis<strong>ch</strong>er philosophis<strong>ch</strong>er<br />

Modelle no<strong>ch</strong> als geistiges Einzelding zu interpretieren«.92<br />

92 Metzinger (1998, 342).<br />

Hiermit ergibt si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> ein anderer Blick auf die Spra<strong>ch</strong>e. Weder vers<strong>ch</strong>windet sie, wie im<br />

Skinners<strong>ch</strong>en Behaviorismus, vollkommen aus dem Blickwinkel, no<strong>ch</strong> lässt si<strong>ch</strong> Spra<strong>ch</strong>e im<br />

Sinne eines Rei<strong>ch</strong>s der Gründe eine eigene Kausalität zuordnen.<br />

Spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Formen ers<strong>ch</strong>einen nun vielmehr selbst als dynamis<strong>ch</strong>e Muster, die in<br />

dynamis<strong>ch</strong>en Netzwerken erkannt werden können, wobei man si<strong>ch</strong> unter Erkennen,<br />

ni<strong>ch</strong>t mehr eine logis<strong>ch</strong>e Deduktion eines bestimmten Typs vorstellen kann. Kognition<br />

heißt nun vielmehr, innerhalb eines Netzwerkes si<strong>ch</strong> selbst stabilisierende rekursive<br />

Gestalten zu bilden, die in Resonanz zum spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Input stehen, wobei<br />

übli<strong>ch</strong>erweise mehrere Lösungen denkbar sind, auf ein kognitives Problem eine<br />

Antwort zu geben.93 93 Vgl. Metzinger (1998, 342ff.).<br />

Die in dieser Weise <strong>ch</strong>arakterisierten Kognitionsleistungen stehen<br />

im Einklang mit den Untersu<strong>ch</strong>ungen zur Gestaltwahrnehmung, entspre<strong>ch</strong>end<br />

der immer nur ›Ganzheiten‹ erkannt werden können:94<br />

Bilder können zwis<strong>ch</strong>en vers<strong>ch</strong>iedenen Deutungen kippen, aber man<br />

kann ni<strong>ch</strong>t ›ni<strong>ch</strong>ts‹ sehen – das Erkennen sieht seinen blinden Fleck<br />

ni<strong>ch</strong>t.95<br />

94 Vgl. Ernst Pöppel (1985).<br />

95 Wir sehen in unserem Sehfeld kein s<strong>ch</strong>warzes Lo<strong>ch</strong>, sondern ein ges<strong>ch</strong>lossenes<br />

Bild, selbst wenn wir nur mit einem Auge s<strong>ch</strong>auen. Insbesondere<br />

Heinz v. Foerster hat immer wieder am Beispiel des Blinden Flecks im optis<strong>ch</strong>en<br />

Sehzentrum auf die erkenntnistheoretis<strong>ch</strong>e Merkwürdigkeit hingewiesen, dass wir ni<strong>ch</strong>t<br />

sehen, was wir ni<strong>ch</strong>t sehen können (vgl. von Foerster 1994).<br />

208<br />

Sinn- und Sinnesdeutungen rasten sprunghaft in eine Lösung ein und selbst unter<br />

einem brü<strong>ch</strong>igen oder lückenhaften Dateninput kann übli<strong>ch</strong>erweise trotzdem etwas<br />

erkannt werden. Um wieder mit Metzinger zu spre<strong>ch</strong>en: Der »mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Geist«<br />

ers<strong>ch</strong>eint nun als ein »holistis<strong>ch</strong>es Medium, mit einer flexiblen Gesamtdynamik, in<br />

dem si<strong>ch</strong> auf ›flüssige‹ Weise eine permanente und eher bildhafte Entwicklung<br />

repräsentionaler Inhalte vollzieht, die in hohem Maße kontextsensitiv ist«.96<br />

96 Metzinger (1998, 343).<br />

Der Konnektivmus steht insofern mit unserem phänomenologis<strong>ch</strong>en<br />

Erleben im Einklang, als »er ein sehr genaues Verständnis dafür<br />

entwickelt, was es heißt, daß wir Wesen sind, die äußerst erfolgrei<strong>ch</strong><br />

in Metaphern und Analogien denken können, Wesen, die ni<strong>ch</strong>t nur<br />

perzeptuelle, sondern au<strong>ch</strong> situative und soziale Muster blitzs<strong>ch</strong>nell<br />

erkennen und vervollständigen können, Wesen, deren Wissen über<br />

die Welt direkt in ihrer eigenen physis<strong>ch</strong>en Struktur (der Konnetivitätsmatrix<br />

ihres Gehirns) verkörpert ist. [...] Der Konnektivismus<br />

bietet uns aber au<strong>ch</strong> die Mögli<strong>ch</strong>keit, auf formal genaue Weise zu<br />

verstehen, warum der Mens<strong>ch</strong> ein Wesen ist, das au<strong>ch</strong> unter starken<br />

epistemis<strong>ch</strong>en Begrenzungen (zum Beispiel bei ›verraus<strong>ch</strong>tem Input‹)<br />

no<strong>ch</strong> erfolgrei<strong>ch</strong> operieren kann«.97<br />

97 Metzinger (1998, 343).<br />

Spre<strong>ch</strong>en und Verstehen bedeutet aus dieser Perspektive etwas vollkommen anderes, als<br />

Satzteile entspre<strong>ch</strong>end den Gesetzen der Aussagenlogik miteinander zu verknüpfen. Da si<strong>ch</strong><br />

entspre<strong>ch</strong>end der konnektivistis<strong>ch</strong>en Perspektive keine eindeutige Zuordnung zwis<strong>ch</strong>en<br />

3


Wahrnehmung, Transformationsregel und Erkenntnis mehr treffen lässt, ergibt si<strong>ch</strong> hier au<strong>ch</strong><br />

ein Bru<strong>ch</strong> mit Chomskys Theorie der generativen Grammatik.<br />

Insbesondere George Lakoff hat in kritis<strong>ch</strong>er Distanz zu dieser Auffassung eine kognitive<br />

Linguistik entwickelt, die entspre<strong>ch</strong>end dem konnektivistis<strong>ch</strong>en Paradigma auf Emergenz<br />

statt auf symbolis<strong>ch</strong>e Repräsentation setzt. Spra<strong>ch</strong>e ers<strong>ch</strong>eint nun als ein System von<br />

Metaphern, das unbewusst und assoziativ arbeitet.<br />

Die »natürli<strong>ch</strong>e Logik«98 unserer Kognitionen unters<strong>ch</strong>eidet si<strong>ch</strong> grundlegend von jenen<br />

Gesetzen der formalen Logik, wie sie von der philosophis<strong>ch</strong>en Tradition entwickelt wurden.<br />

In der Ersteren findet die formallogis<strong>ch</strong> verbotene ›Affirmation der Konsequenz‹ breite<br />

Verwendung.99<br />

98 Lakoff (1971)<br />

99 Bateson bezei<strong>ch</strong>net diese Form des unzulässigen S<strong>ch</strong>ließens s<strong>ch</strong>erzhaft<br />

als Syllogismus im »Modus Gras«. Die Syllogistik, ein Ableger der<br />

philosophis<strong>ch</strong>en Logik, formulierte die logis<strong>ch</strong> erlaubten S<strong>ch</strong>lüsse. Das<br />

bekannteste Beispiel ist die folgende Form im sogenannten ›Modus Barbara‹:<br />

»Mens<strong>ch</strong>en sterben;<br />

Sokrates ist ein Mens<strong>ch</strong>;<br />

Sokrates wird sterben.«<br />

Die Grundstruktur dieses Syllogismus beruht auf einer Klassifizierung:<br />

Das Prädikat ›sterben‹ wird auf Sokrates bezogen, indem man ihn als<br />

ein Element einer Klasse ›Mens<strong>ch</strong>‹ identifiziert, deren Elemente dieses<br />

Prädikat zu eigen haben. Die Logik der Metaphorik funktioniert anders:<br />

»Gras stirbt;<br />

Mens<strong>ch</strong>en sterben;<br />

Mens<strong>ch</strong>en sind Gras« (Bateson/Bateson 1993, 45).<br />

209<br />

In den »Metaphern, in denen wir leben«100 arbeiten dann vor allem die Gesetze der<br />

Homologie. Hier gelten Verweise, die auf andere Assoziationen verweisen und auf diesem<br />

Wege immerfort neue Sinnhorizonte ers<strong>ch</strong>ließen. Das Konzept der Metapher verweist dabei<br />

über seinen linguistis<strong>ch</strong>en Ursprung auf ein fundamentaleres Organisationsprinzip<br />

biologis<strong>ch</strong>er, psy<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>er und sozialer Prozesse – oder wie Gregory Bateson es ausdrückt:<br />

»Es wird deutli<strong>ch</strong>, daß Metaphorik ni<strong>ch</strong>t bloße Poesie ist. Sie ist ni<strong>ch</strong>t entweder gute<br />

oder s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>te Logik, sondern sie ist in der Tat die Logik, auf der die biologis<strong>ch</strong>e Welt<br />

gebaut ist, das Haupt<strong>ch</strong>arakteristikum und der organisierende Leim dieser Welt<br />

geistiger Prozesse«.101<br />

100 Lakoff/Johnson (1981).<br />

101 Bateson/Bateson (1993, 50).<br />

Aus dieser konnektivistis<strong>ch</strong>en Perspektive operiert Spra<strong>ch</strong>e also vor allem auf einer<br />

vorlogis<strong>ch</strong>en, metaphoris<strong>ch</strong>en Ebene. Innerhalb der entwickelten Spra<strong>ch</strong>e lassen si<strong>ch</strong><br />

zwar sehr wohl auf semantis<strong>ch</strong>er Ebene benennbare Kausal- und<br />

Hierar<strong>ch</strong>iebeziehungen markieren. Do<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> die logis<strong>ch</strong>en Begriffe sind nun<br />

wiederum auf einer vorlogis<strong>ch</strong>en Ebene in einen Assoziationskontext eingewoben zu<br />

sehen, denn »außerhalb der Spra<strong>ch</strong>e gibt es keine benannten Klassen und keine<br />

Subjekt-Prädikat-Relationen«.102 102 Bateson (1993, 45 f.).<br />

210<br />

Das, was also bislang als vernünftiges, weil begründetes Verhalten angesehen wird,<br />

unterliegt hier einer tieferen, vorspra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en, auf assoziative Verkettungen<br />

beruhenden ›Rationalität‹, insofern man hier überhaupt no<strong>ch</strong> von Rationalität<br />

4


spre<strong>ch</strong>en kann. Denn streng genommen würde dies mit Metzinger bedeuten, dass es<br />

»niemals so etwas wie propositionale Einstellungen gegeben habe«.103<br />

103 Metzinger (1998, 346) und darüber hinaus: »Wenn die elementaren Einheiten<br />

intellektueller Operationen wirkli<strong>ch</strong> niemals Aussagen sind, wenn es niemals mögli<strong>ch</strong><br />

ist, nur eine einzige Überzeugung hinzuzugewinnen oder aufzugeben, wenn es<br />

tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> keinen Berei<strong>ch</strong> unserer kognitiven Sphäre gibt, der na<strong>ch</strong> dem Muster des<br />

logis<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>ließens modelliert werden kann, dann entsteht eine neue Variante des<br />

Sollen-Können-Problems: Es wird s<strong>ch</strong>wer, die Logik no<strong>ch</strong> als normative Theorie der<br />

Rationalität aufzufassen. Außerdem müßten auf anthropologis<strong>ch</strong>er Ebene völlig neue<br />

Überlegungen darüber angestellt werden, wel<strong>ch</strong>e Art von Konsistenz oder Kohärenz<br />

es eigentli<strong>ch</strong> genau ist, die wir immer gemeint haben, wenn wir vom Mens<strong>ch</strong>en als<br />

animal rationale gespro<strong>ch</strong>en haben. Wenn wir Systeme sind, die propositionale<br />

Modularität in Wirkli<strong>ch</strong>keit hö<strong>ch</strong>stens approximieren könnten, dann kann es auf jeden<br />

Fall ni<strong>ch</strong>t die Kohärenz zwis<strong>ch</strong>en Gedanken und Überzeugungen gewesen sein«<br />

(Metzinger 1998, 346).<br />

Wie der Kognitivismus entstand au<strong>ch</strong> der Konnektivismus aus der Beziehung zwis<strong>ch</strong>en der<br />

Linguistik und den Computerwissens<strong>ch</strong>aften. Gemeinsamer Ausgangspunkt war das<br />

Multirealisationsargument, also die Auffassung, dass si<strong>ch</strong> die zentralen kognitiven<br />

Eigens<strong>ch</strong>aften weitgehend unabhängig von Hardware modellieren ließen, es also prinzipiell<br />

keinen Unters<strong>ch</strong>ied ma<strong>ch</strong>t, ob Kognition biologis<strong>ch</strong> oder te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>-elektronis<strong>ch</strong> realisiert<br />

wird. Während der Kognitivismus darauf setzte, eine entspre<strong>ch</strong>end der mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en<br />

Vorstellung vernünftig geplante Mas<strong>ch</strong>ine mit einer entspre<strong>ch</strong>end semantis<strong>ch</strong>-rationalen<br />

Software zu entwickeln, kommt der Konnektivismus mit Blick auf eine höhere Realitätsnähe<br />

der Modellierung zu dem S<strong>ch</strong>luss, dass diese Rationalitätsansprü<strong>ch</strong>e zu Gunsten einer<br />

assoziativen, eher metaphoris<strong>ch</strong> arbeitenden Kognition aufgegeben<br />

werden müssen.<br />

Spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Bilder – die im Regelfall selbst als verworren und uneindeutig gelten –<br />

ers<strong>ch</strong>einen gerade aufgrund ihrer Unklarheit funktional, nämli<strong>ch</strong> indem sie jene<br />

Praxen der Mustererkennung ermögli<strong>ch</strong>en, die darauf spezialisiert sind, dem no<strong>ch</strong><br />

ni<strong>ch</strong>t Bestimmten eine Gestalt zu geben. Si<strong>ch</strong> selbst organisierende Netzwerke<br />

können mit Uns<strong>ch</strong>ärfen einer natürli<strong>ch</strong>en Welt umgehen, indem sie au<strong>ch</strong> aus<br />

verraus<strong>ch</strong>ten und lückenhaften Inputs Figur-Grund-Relationen bilden können.<br />

211<br />

Das phänomenologis<strong>ch</strong>e Bewusstsein s<strong>ch</strong>eint in der konnektivistis<strong>ch</strong>en Perspektive zuglei<strong>ch</strong><br />

ein- wie ausgeklammert. Es kommt in dem Sinne ni<strong>ch</strong>t vor, als dass die Qualia des<br />

sinnli<strong>ch</strong>en Erlebens in der vergegenständli<strong>ch</strong>ten Modellierung der Kognition als Erklärung<br />

ni<strong>ch</strong>t gebrau<strong>ch</strong>t wird. Das Bewusstsein s<strong>ch</strong>eint jedo<strong>ch</strong> in dem Sinne vorzukommen, als dass<br />

es nun bestimmte Eigens<strong>ch</strong>aften von si<strong>ch</strong> selbst in den konnektivistis<strong>ch</strong> modellierten<br />

Prozessen wiedererkennen kann. Prozessbes<strong>ch</strong>reibungen aus der phänomenologis<strong>ch</strong>en<br />

Erfahrung – man denke hier etwa an das Bilden von Assoziationen oder die<br />

Gestaltwahrnehmung – zeigen nun strukturelle Homologien zu den Dynamiken der<br />

neuronalen Netzwerke. Auf struktureller, ni<strong>ch</strong>t jedo<strong>ch</strong> auf funktionaler Ebene zeigen si<strong>ch</strong> hier<br />

Parallelen. Wie in der kognitivistis<strong>ch</strong>en Bes<strong>ch</strong>reibung trägt das Bewusstsein letztli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>ts<br />

zu dem physikalis<strong>ch</strong>en Prozess bei.<br />

Dynamizistis<strong>ch</strong>e Modelle:<br />

Grenzen verwis<strong>ch</strong>ende Resonanzen<br />

Der Konnektivimus hat si<strong>ch</strong> in den letzten Jahrzehnten als ein ebenso brau<strong>ch</strong>bares wie<br />

erfolgrei<strong>ch</strong>es Fors<strong>ch</strong>ungsparadigma gezeigt, das sowohl in den Neurowissens<strong>ch</strong>aften, in der<br />

Linguistik als au<strong>ch</strong> in einzelnen psy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong>en Disziplinen eine Vielzahl von<br />

Fors<strong>ch</strong>ungsvorhaben inspirieren konnte.104<br />

5


Die mathematis<strong>ch</strong>en Forts<strong>ch</strong>ritte der Systemtheorie,105 die neuen bildgebenden Verfahren,<br />

die te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>en Mögli<strong>ch</strong>keiten, Hirnaktivitäten in E<strong>ch</strong>tzeit an vers<strong>ch</strong>iedenen Orten<br />

glei<strong>ch</strong>zeitig abzuleiten, sowie leistungsfähige Computer, wel<strong>ch</strong>e es gestatten, aus den Daten<br />

raumzeitli<strong>ch</strong>e Muster zu rekonstruieren, ließen eine weitere Klasse der Modellbildung<br />

mögli<strong>ch</strong> werden. Metzinger fasste diese unter dem Begriff »dynamizistis<strong>ch</strong>e<br />

Kognitionswissens<strong>ch</strong>aft«106 zusammen. Anders als der Kognitivismus stehen die hier<br />

entwickelten Konzeptionen zwar ni<strong>ch</strong>t grundsätzli<strong>ch</strong> im Widerspru<strong>ch</strong> zur konnektivistis<strong>ch</strong>en<br />

Idee der verteilten Kognition.<br />

104 Vgl. Pospes<strong>ch</strong>ill (2004).<br />

105 Hier ging es dann beispielsweise darum, mit rekursiven, in si<strong>ch</strong> selbst<br />

eintretende Prozessen re<strong>ch</strong>nen zu können. Siehe etwa Varela (1979).<br />

106 Metzinger (1998).<br />

212<br />

Denno<strong>ch</strong> zeigen si<strong>ch</strong> mit Blick auf die Theoriespra<strong>ch</strong>e einige markante Unters<strong>ch</strong>iede.<br />

Insbesondere im Ans<strong>ch</strong>luss an die Arbeiten des Nobelpreisträgers Ilya Prigogine<br />

entstand ein neues begriffli<strong>ch</strong>es Inventar,107<br />

107 Prigogine entwickelte diese Begriffli<strong>ch</strong>keiten anhand seiner Untersu<strong>ch</strong>ungen<br />

zur Selbstorganisation <strong>ch</strong>emis<strong>ch</strong>er Systeme fern vom <strong>ch</strong>emis<strong>ch</strong>en<br />

Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>t (Prigogine 1979).<br />

wel<strong>ch</strong>es darauf spezialisiert war, si<strong>ch</strong> selbst stabilisierende Phänomene zu bes<strong>ch</strong>reiben,<br />

die als Flussstrukturen Gestalt gewinnen, aber zuglei<strong>ch</strong> wieder zerfallen, sobald die<br />

sie generierenden rekursiven S<strong>ch</strong>leifen aufhören, weiteren Input zu geben. ›Bistabile<br />

Zustände‹, ›<strong>ch</strong>aotis<strong>ch</strong>e Attraktoren‹, ›Transienten von Attraktorbecken‹ und<br />

ni<strong>ch</strong>tlineare ›dissipative Systeme‹ waren nun die Vokabularien, um diesen flü<strong>ch</strong>tigen,<br />

si<strong>ch</strong> selbst organisierenden Prozessen na<strong>ch</strong>spüren. Die hiermit verbundenen Konzepte<br />

stießen auf Resonanz bei einer neuen Generation von Neurowissens<strong>ch</strong>aftlern, die mit<br />

Hilfe von Computern und entspre<strong>ch</strong>enden mathematis<strong>ch</strong>en Modellen gelernt hatten,<br />

mit sol<strong>ch</strong>en rekursiven Verhältnissen zu re<strong>ch</strong>nen.<br />

Die beste<strong>ch</strong>ende Idee der hiermit verbundenen Konzeptionen lag darin, die Nervenaktivität<br />

selbst als sol<strong>ch</strong> ein dynamis<strong>ch</strong>es Ges<strong>ch</strong>ehen aufzufassen. Wie s<strong>ch</strong>on im Konnektivismus<br />

bestand nun mit Hebb der Ausgangspunkt in jenen neuronalen Verknüpfungen, die ihre<br />

Aktivität wie au<strong>ch</strong> ihre Verbindungen steigern, sobald sie gemeinsam aktiv sind. Zusätzli<strong>ch</strong><br />

wird nun in der Modellierung jedo<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> die zeitli<strong>ch</strong>e Kodierung als Faktor miteinbezogen.<br />

Hierdur<strong>ch</strong> ergeben si<strong>ch</strong> neue Mögli<strong>ch</strong>keiten, kognitive Prozesse zuglei<strong>ch</strong> als lokal wie au<strong>ch</strong><br />

global über das ganze Hirn verteilt zu begreifen. Wir finden jetzt auf der einen Seite eine<br />

saubere Trennung unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>er neuronaler Ensembles vor, die ihrerseits bei der Arbeit<br />

sind und spezifis<strong>ch</strong>e kognitive Prozesse vollziehen. Auf der anderen Seite erlauben rekursive<br />

Nervenverbindungen über vers<strong>ch</strong>iedene Areale hinweg, Aktivitätsmuster von einander<br />

entfernten Prozessen über Resonanzeffekte aneinanderzukoppeln. Unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e<br />

Aktivitäten können si<strong>ch</strong> dann entspre<strong>ch</strong>end dieser Modellierung au<strong>ch</strong> über räumli<strong>ch</strong>e und<br />

funktionale Grenzen hinweg stabilisieren, falls sie in einem gemeinsamen Rhythmus<br />

s<strong>ch</strong>wingen.<br />

Auf diesem Wege bietet si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> eine Lösung für das so genannte Bindungsproblem an.<br />

Hierbei handelt es si<strong>ch</strong> um die Frage, wie es dem Gehirn gelingen kann, unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e<br />

Wahrnehmungseinheiten zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzusetzen. Innerhalb der<br />

klassis<strong>ch</strong>en Erklärungsansätze stellt beispielsweise die zeitli<strong>ch</strong>e Integration der<br />

unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Sinnesmodalitäten eine nahezu unlösbare Aufgabe dar. Das Hören<br />

verarbeitet Sinneseindrücke wesentli<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>neller als das Sehen. Denno<strong>ch</strong> erleben wir beim<br />

Betra<strong>ch</strong>ten eines Spre<strong>ch</strong>ers eine zeitli<strong>ch</strong> integrierte Einheit. Die Mundbewegungen und<br />

6


die gehörten Worte fallen ni<strong>ch</strong>t wie in einem s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t syn<strong>ch</strong>ronisierten Film auseinander.108<br />

108 Vgl. zu den unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Zeiten der neuronalen Verarbeitung Pöppel<br />

(1985).<br />

Entspre<strong>ch</strong>end dem dynamizistis<strong>ch</strong>en Ansatz wird nun keine zentrale Integrationsstelle mehr<br />

gebrau<strong>ch</strong>t, an der – wie im Großmutterneuron – die unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Einzelmerkmale (Frau,<br />

alt, roter Mantel, bekanntes Haus, bestimmter Geru<strong>ch</strong>, Stimme etc.) an einem<br />

Ort zusammengeführt werden. Vielmehr finden im Gehirn in unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Arealen<br />

parallele Aktivitäten statt. Hier ›oszillieren‹ zunä<strong>ch</strong>st auf lokaler Ebene ›bistabile‹<br />

Wahrnehmungsmuster<br />

213<br />

um vers<strong>ch</strong>iedene Lösungen. In kurzen zeitli<strong>ch</strong>en Abständen werden also jeweils<br />

unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e ›<strong>ch</strong>aotis<strong>ch</strong>e Attraktoren‹ angelaufen, die jeweils eine spezifis<strong>ch</strong>e Mögli<strong>ch</strong>keit<br />

bieten, aus verraus<strong>ch</strong>ten und unvollständigen Informationslagen eine Kognition zu erzeugen.<br />

Die heterogenen, auf vers<strong>ch</strong>iedene Hirnorte verteilten Aktivitäten treten wiederum ihrerseits<br />

in Resonanz zueinander, um dann in eine si<strong>ch</strong> we<strong>ch</strong>selseitig stimulierende Lösung<br />

einzurasten, das heißt ein übergreifendes Muster anzulaufen, das umso stabiler ers<strong>ch</strong>eint, je<br />

mehr Aktivitäten in diesen Vorgang einstimmen können.<br />

Man hat si<strong>ch</strong> das Gehirn mit Wolf Singer nun als ein »distributiv organisiertes,<br />

ho<strong>ch</strong>dynamis<strong>ch</strong>es System vorzustellen, das si<strong>ch</strong> selbst organisiert, anstatt seine<br />

Funktionen einer zentralistis<strong>ch</strong>en Bewertungs- und Ents<strong>ch</strong>eidungsinstanz<br />

unterzuordnen; als System, das si<strong>ch</strong> seine Koordinierungsräume glei<strong>ch</strong>sam in der<br />

Topologie seiner Vers<strong>ch</strong>altung und in der zeitli<strong>ch</strong>en Struktur seiner Aktivitätsmuster<br />

ers<strong>ch</strong>ließt, das Relationen ni<strong>ch</strong>t nur über Konvergenz anatomis<strong>ch</strong>er Verbindungen,<br />

sondern au<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> zeitli<strong>ch</strong>e Koordination von Entladungsmustern auszudrücken<br />

weiß, das Inhalte ni<strong>ch</strong>t nur explizit in ho<strong>ch</strong>spezialisierten Neuronen, sondern au<strong>ch</strong><br />

implizit in dynamis<strong>ch</strong> organisierten Ensembles repräsentieren kann und das<br />

s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> auf der Basis seines Vorwissens unentwegt Hypothesen über die es<br />

umgebende Welt formuliert, also die Initiative hat, anstatt ledigli<strong>ch</strong> auf Reize zu<br />

reagieren«.109<br />

109 Singer (2002, 111).<br />

Gedä<strong>ch</strong>tnis, Projektion und Modifikation von Gedä<strong>ch</strong>tnis gehen hier sozusagen Hand in<br />

Hand. Blitzs<strong>ch</strong>nell entstehen Szenen aus dem bereits Erlebten und Wahrgenommenen,<br />

in die dann dur<strong>ch</strong> fortlaufende Wiederholung dieses Prozesses neue<br />

Unters<strong>ch</strong>eidungsmögli<strong>ch</strong>keiten – und damit veränderte Mögli<strong>ch</strong>keiten der Kognition –<br />

eingefügt werden können.110<br />

110 Hierzu au<strong>ch</strong> Gerald Edelman:<br />

»Neue Wahrnehmungskategorien werden reentrant mit Gedä<strong>ch</strong>tnissystemen verkoppelt, ehe<br />

sie selbst Teil eines nun veränderten Gedä<strong>ch</strong>tnissystems werden. Anhand des<br />

Gedä<strong>ch</strong>tnisses kategorisierte Wahrnehmungen werden also rekursiv genutzt, um das<br />

Gedä<strong>ch</strong>tnis selbst zu modifizieren. Diese We<strong>ch</strong>selwirkungen laufen, so nimmt man an,<br />

innerhalb von Zehntelsekunden bis Sekunden ab, also innerhalb der Zeitspanne, die William<br />

James ›S<strong>ch</strong>eingegenwart‹ nennt. I<strong>ch</strong> bezei<strong>ch</strong>ne sie als ›erinnerte Gegenwart‹, um zu<br />

unterstrei<strong>ch</strong>en, dass aus der Interaktion zwis<strong>ch</strong>en Gedä<strong>ch</strong>tnis und aktueller Wahrnehmung<br />

das Bewusstsein entspringt. Was für Folgen hatte es, dass die Evolution eine dynamis<strong>ch</strong>e<br />

Koppelung zwis<strong>ch</strong>en Werte-Kategorien-Gedä<strong>ch</strong>tnis und Wahrnehmungsgedä<strong>ch</strong>tnis<br />

herstellte? Es bildete si<strong>ch</strong> die Fähigkeit heraus, eine komplexe Szene zu<br />

konstruieren und zwis<strong>ch</strong>en Bestandteilen dieser Szene Unters<strong>ch</strong>eidungen<br />

zu treffen« (Edelman 2004, 63 f.).<br />

214<br />

Es findet hier keine Informationsübertragung im klassis<strong>ch</strong>en Sinne statt, denn die<br />

Koordination der Hirnprozesse darf nun ni<strong>ch</strong>t mehr so gesehen werden, dass ein Areal seine<br />

7


aufgearbeitete Information zur Weiterverarbeitung an das nä<strong>ch</strong>ste Re<strong>ch</strong>enzentrum<br />

weiterleitet. Stattdessen bildet die Idee der Resonanz nun das ents<strong>ch</strong>eidende Konzept zum<br />

Verständnis der neuronalen Informationsverarbeitung. Kognitionen ers<strong>ch</strong>einen aus dieser<br />

Perspektive per se als ho<strong>ch</strong>gradig instabile Phänomene. Die einzelnen neuronalen<br />

Ensembles oszillieren übli<strong>ch</strong>erweise zwis<strong>ch</strong>en vers<strong>ch</strong>iedenen Lösungen, wie ein gegebener<br />

Input verstanden werden kann. Erst die Resonanz mit anderen neuronalen Ensembles lässt<br />

die bistabilen Prozesse zumindest für eine etwas längere Zeitspanne in ein beständigeres<br />

Muster einrasten. Kognition ers<strong>ch</strong>eint auf neuronaler Ebene jetzt als ein si<strong>ch</strong> überlagerndes,<br />

interferierendes, in Hinblick auf seine einzelnen S<strong>ch</strong>wingungen si<strong>ch</strong> entweder we<strong>ch</strong>selseitig<br />

verstärkendes oder auslös<strong>ch</strong>endes Wellenmuster, das in seiner Gesamtheit eine ebenso<br />

dynamis<strong>ch</strong>e wie vielfältige innere Welt projiziert.<br />

Eine sol<strong>ch</strong>e Konzeption birgt erhebli<strong>ch</strong>e erkenntnistheoretis<strong>ch</strong>e Konsequenzen. Sobald<br />

man nämli<strong>ch</strong> Kognition auf ein sol<strong>ch</strong>es Resonanzmodell umgestellt hat, sind<br />

Erkennen und Handeln, Körper und Geist, aber au<strong>ch</strong> Innen- und Umwelt in<br />

funktionaler Hinsi<strong>ch</strong>t ni<strong>ch</strong>t mehr trenns<strong>ch</strong>arf voneinander zu unters<strong>ch</strong>eiden. Ein von<br />

seinem Körper, seiner Umwelt und den si<strong>ch</strong> hieraus ergebenden sensomotoris<strong>ch</strong>en<br />

Input-Output-S<strong>ch</strong>leifen isoliertes Gehirn wäre ni<strong>ch</strong>t mehr in der Lage, ein kohärentes<br />

Muster auszubilden, da nun all die strukturierten Reize fehlen, mit denen das<br />

Nervensystem in Resonanz treten könnte, um seine Eigenzustände zu<br />

stabilisieren.111 111 Vgl. Diego Cosmelli und Evan Thompson (2008).<br />

Handeln und Erkennen bilden hier eine Einheit. Beispielsweise kann gezeigt werden, dass<br />

si<strong>ch</strong> die visuelle Musterkennung nur in Verbindung mit aktivem Handeln und Erkunden der<br />

Umwelt ausbilden kann.112 Das Gehirn ist bei Realisation intentionaler Entwürfe<br />

darauf angewiesen, potentielle Handlungsvarianten in den Körper zu projizieren, um dann<br />

erst über das Feedback aus dem muskulären System in eine stabile Option einrasten zu<br />

können. Wie insbesondere Antonio Damasio gezeigt hat, würde eine Unterbre<strong>ch</strong>ung dieser<br />

S<strong>ch</strong>leifen zur Ents<strong>ch</strong>eidungsunfähigkeit des Systems führen.113<br />

112 Siehe hierzu s<strong>ch</strong>on die Experimente von Ri<strong>ch</strong>ard Held und Alen Hein<br />

(1963).<br />

113 Vgl. Damasio et al. (1996).<br />

215<br />

Zudem ist insbesondere für das mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Gehirn nun ein weiteres Feld rekursiver<br />

Kopplung konstitutiv für die Entwicklung seiner neuronalen Prozesse – die soziale Welt.<br />

Insbesondere – aber ni<strong>ch</strong>t nur – die Primaten koppeln als soziale Tiere ihre Kognitionen<br />

s<strong>ch</strong>on auf einer sehr basalen Ebene aneinander, indem sie emotionale und<br />

andere kognitive Zustände ineinander spiegeln können.114<br />

114 Siehe Giacomo Rizzolatti et al. (2006) und Tania Singer (2006).<br />

Darüber hinaus ist der Mens<strong>ch</strong> ein spre<strong>ch</strong>endes Tier. Do<strong>ch</strong> kann das In-der-Spra<strong>ch</strong>e-Sein<br />

aus dieser Perspektive ni<strong>ch</strong>t mehr heißen, dass Akteure über das Medium Spra<strong>ch</strong>e<br />

untereinander Informationen austaus<strong>ch</strong>en. Vielmehr ist nun au<strong>ch</strong> das Spre<strong>ch</strong>en als<br />

ein Phänomen zu interpretieren, das auf Resonanzprozessen beruht.<br />

Die Koppelung von Verhalten ers<strong>ch</strong>eint nun vor allem als eine Koproduktion von Sozialem<br />

und Psy<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>em, die vor allem darauf beruht, dass symbolis<strong>ch</strong>e Signifikationen körperli<strong>ch</strong>e<br />

Reaktionen auslösen, gefühlt, erlebt, also im wahrsten Sinne des Wortes inkorporiert<br />

werden.115<br />

115 Bei Maturana heißt es diesbezügli<strong>ch</strong>: »Die mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Existenz ist eine<br />

kontinuierli<strong>ch</strong>e Transzendenz, ni<strong>ch</strong>t im Sinne vom Hinausgehen in einen<br />

fremden Raum, sondern im Sinne dieser Dynamik, in wel<strong>ch</strong>er unsere<br />

Körperli<strong>ch</strong>keit si<strong>ch</strong> in dem Maße wie unsere Beziehungen verändert und<br />

umgekehrt« (Maturana 1994b, 1970).<br />

8


Spra<strong>ch</strong>e ers<strong>ch</strong>eint jetzt zuglei<strong>ch</strong> als eine körperli<strong>ch</strong>e wie au<strong>ch</strong> soziale Praxis, die si<strong>ch</strong><br />

vor allem dur<strong>ch</strong> ihre performative Seite – eben dur<strong>ch</strong> Praxis – hervorbringt.116<br />

116 Diese Auffassung liegt nahe an der kulturphilosophis<strong>ch</strong>en Position von<br />

Sybille Krämer: »Es gibt keinen Geist, keinen Sinn, keinen Wert, keine<br />

abstrakten Gegenstände – no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t einmal: Gott – ohne Verkörperung.<br />

In kulturellen Praktiken bringen wir Inkorporationen ni<strong>ch</strong>t nur<br />

hervor, sondern geben sie weiter, bewahren sie auf, verändern sie und<br />

s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong>: lös<strong>ch</strong>en sie wieder aus. Denn dur<strong>ch</strong> Inkorporation wird Immaterielles,<br />

wie Bedeutung oder Sinn, aber au<strong>ch</strong> Wissen und Information<br />

ni<strong>ch</strong>t nur si<strong>ch</strong>tbar und hörbar, sondern im bu<strong>ch</strong>stäbli<strong>ch</strong>en Sinne au<strong>ch</strong><br />

handhabbar gema<strong>ch</strong>t: Das ist der Kunstgriff semiotis<strong>ch</strong>er Praktiken. Die<br />

Semiosis ist in einer medialen Perspektive als Praktik der Inkorporation<br />

rekonstruierbar« (Krämer 2003, 167).<br />

Kognition bedeutet aus dieser Perspektive endgültig ni<strong>ch</strong>t mehr, dass ein Subjekt eine<br />

äußere Welt erkennt und dann entspre<strong>ch</strong>end seiner eigenen Intentionen auf diese<br />

zugeht. Vielmehr wird nun in jedem kognitiven Ereignis eine eigene Welt aufgeführt<br />

und inszeniert. Diese Welt ers<strong>ch</strong>eint als Or<strong>ch</strong>ester unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>er, si<strong>ch</strong> situativ<br />

gruppierender Instrumente – neuronaler Ensembles, emotional-körperli<strong>ch</strong>er<br />

Gestimmtheiten, sinnli<strong>ch</strong>er Reizkonfigurationen und symbolis<strong>ch</strong>semantis<strong>ch</strong>er<br />

Prozesse –, die ad hoc und von Moment zu Moment in einer spezifis<strong>ch</strong>en Resonanz<br />

zueinander finden.<br />

216<br />

Die Grenzen zwis<strong>ch</strong>en Erkennen und Erkanntem vers<strong>ch</strong>wimmen<br />

im dynamizistis<strong>ch</strong>en Modell nun zu einem Prozess lebendiger Verkörperung,<br />

denn in der rekursiven Einheit von Handeln und Erkennen<br />

»ist die Wahrnehmung also ni<strong>ch</strong>t nur in die Umwelt eingebettet und<br />

von ihr geprägt, sondern trägt au<strong>ch</strong> zur Inszenierung dieser Umwelt<br />

bei«.117 117 Varela et al. (1992a, 240).<br />

Fassen wir mit Metzinger die Leistungen dieses Fors<strong>ch</strong>ungsansatzes<br />

kurz zusammen: Kognitionen ers<strong>ch</strong>einen als dynamis<strong>ch</strong>e Flussstrukturen, die als<br />

physikalis<strong>ch</strong>e Prozesse dann vor allem mit systemtheoretis<strong>ch</strong>en Mitteln zu bes<strong>ch</strong>reiben sind:<br />

»Repräsentationen und semantis<strong>ch</strong>er Gehalt sind nun endgültig ni<strong>ch</strong>ts Statis<strong>ch</strong>es<br />

mehr, sie ›reiten‹ sozusagen auf einer kurzzeitigen Kohärenz zwis<strong>ch</strong>en<br />

Systemdynamik und Weltdynamik.<br />

Bedeutung ist ein physikalis<strong>ch</strong>es Phänomen, das von einem in eine aktive<br />

sensomotoris<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>leife eingebundenen System vorübergehend erzeugt wird. Die<br />

Entstehung des intentionalen Gehalts mentaler Repräsentationen ist nämli<strong>ch</strong> im<br />

Rahmen der Systemtheorie ein sehr kurzer, vorübergehender Vorgang, bei dem<br />

Systemdynamik und Weltdynamik interagieren«.118 118 Metzinger (1998, 348).<br />

Trotz einer originär physikalis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>e finden wir auf struktureller und prozessuraler<br />

Ebene eine im Verhältnis zu allen früheren philosophis<strong>ch</strong>en und physikalis<strong>ch</strong>en<br />

Modellen des Geistes bislang einzigartige Nähe zu den phänomenologis<strong>ch</strong>en<br />

Qualitäten unseres phänomenalen Erlebens: die »Leibli<strong>ch</strong>keit«, die »Situiertheit«,<br />

seine »Sensitivität au<strong>ch</strong> für die zeitli<strong>ch</strong>e Struktur impliziter Kontexte«, seine<br />

Bezogenheit auf andere kognitive Systeme und die semantis<strong>ch</strong>e Koevolution, sein flüssiger,<br />

transienter und »nie vollständig prognostizierbare[r] Charakter, der häufig dur<strong>ch</strong><br />

abrupte ›Phasenübergänge‹ gekennzei<strong>ch</strong>net ist und fast immer eine aktives,<br />

s<strong>ch</strong>öpferis<strong>ch</strong>es Moment beinhaltet. All dies finden wir bei der Anwendung der ni<strong>ch</strong>tlinearen<br />

Dynamik auf kognitive Systeme wie von selbst als die natürli<strong>ch</strong>en<br />

Eigens<strong>ch</strong>aften derselben wieder«.119 119 Metzinger (1998, 347).<br />

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