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Zur Systemtheorie Niklas Luhmanns - Uboeschenstein.ch

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Oliver Jahraus<br />

<strong>Zur</strong> <strong>Systemtheorie</strong> <strong>Niklas</strong> Luhmannns<br />

in: <strong>Niklas</strong> Luhmannn Aufsätze und Reden, Reclam 18149<br />

Seite 303 - 314<br />

Sti<strong>ch</strong>wörter:<br />

…das System ist die Differenz von System und Umwelt.<br />

…Selbstreferentialität, der operativen Ges<strong>ch</strong>lossenheit und der Prozessualität.<br />

…These von der Unwahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>keit der Kommunikation<br />

…Unbestimmtheit ist die Keimzelle von sozialen Systemen.<br />

Soziale Systeme regeln Erwartungen, aber au<strong>ch</strong> Erwartungserwartungen<br />

…Sinn ist, so Luhmann, „ Die Einheit von Aktualisierungen und Virtualisierung“<br />

Am Anfang der <strong>Systemtheorie</strong> steht eine radikal abstrakte Neudefinition des<br />

Systembegriffs.<br />

Im Gegensatz zum Strukturalismus, der ein System als geordneten Zusammenhang von<br />

Systemkomponenten sieht, ist für die <strong>Systemtheorie</strong> das System einzig dur<strong>ch</strong> das definiert,<br />

was es ni<strong>ch</strong>t ist, nämli<strong>ch</strong> seine Umwelt. Aber au<strong>ch</strong> der Begriff der Umwelt erfährt keine<br />

inhaltli<strong>ch</strong>e Definition: Umwelt ist, was das System ni<strong>ch</strong>t ist. Damit es das einzige, was ein<br />

System konstituiert und definiert (definiert im eigentli<strong>ch</strong>en Sinn des Wortes von Abgrenzung),<br />

seine Umwelt. In sofern kann die <strong>Systemtheorie</strong> sagen: das System ist die Differenz von<br />

System und Umwelt.<br />

Diese Differenz ist der „ Ausgangspunkt jeder Systemtheoretis<strong>ch</strong>enanalyse“(Soziale<br />

Systeme, S.35) wo immer si<strong>ch</strong> sol<strong>ch</strong>e Differenzen finden lassen, lassen si<strong>ch</strong> also per se<br />

au<strong>ch</strong> Systeme ausma<strong>ch</strong>en. Glei<strong>ch</strong>zeitig wird deutli<strong>ch</strong>, dass in dieser Definition von System<br />

der Begriff des Systems, der ja das zu definierende bzw. das Definiendum ist, au<strong>ch</strong> auf der<br />

Seite des definierenden bzw. des Definiens wiederkehrt. Der Systembegriff bezieht si<strong>ch</strong> auf<br />

si<strong>ch</strong> selbst und wird autoreflexiv.<br />

Auf die Gesells<strong>ch</strong>aft bezogen heißt dies, dass überall dort, wo eine sol<strong>ch</strong>e Differenz<br />

auszuma<strong>ch</strong>en ist, von sozialen Systemen gespro<strong>ch</strong>en werden kann. Luhmann präzisiert den<br />

Systembegriff im Hinblick auf soziale Systeme mit den konstitutiven Charakteristika der<br />

Selbstreferentialität, der operativen Ges<strong>ch</strong>lossenheit und der Prozessualität.<br />

1. Wenn nur eine System/Umwelt- Differenz vorliegen würde, wäre damit ni<strong>ch</strong>t viel<br />

gewonnen. Der Blick auf die Gesells<strong>ch</strong>aft zeigt aber, dass sozialen Systemen die Fähigkeit<br />

unterstellt werden muss, dass sie si<strong>ch</strong> selbst als System erhalten und dass sie si<strong>ch</strong> selbst<br />

von ihrer Umwelt unters<strong>ch</strong>eiden können müssen. Das bedeutet, soziale Systeme müssen<br />

si<strong>ch</strong> auf si<strong>ch</strong> selbst beziehen können, sie sind selbstreferentielle Systeme, und die eigene<br />

Systemkonstitution ist kein abges<strong>ch</strong>lossener Akt sondern ein permanenter Prozess. Systeme<br />

existieren nur dur<strong>ch</strong> Selbstreferentialität und dur<strong>ch</strong> Prozessualität.<br />

2. Selbstreferentialität bedeutet, dass das System die Differenz von System und Umwelt<br />

innerhalb des Systems no<strong>ch</strong> einmal reproduziert und somit dem Prozess handhabbar ma<strong>ch</strong>t.<br />

Das System ist eben gerade definiert dur<strong>ch</strong> seine Abges<strong>ch</strong>lossenheit von der Umwelt. Es<br />

kann also prinzipiell ni<strong>ch</strong>t außerhalb seiner selbst, also in der Umwelt, sondern immer nur in<br />

si<strong>ch</strong> selbst operieren. Seine Beziehung zur Umwelt gestaltet es demna<strong>ch</strong> dadur<strong>ch</strong>, dass es<br />

diese Differenz in si<strong>ch</strong> selbst hineinkopiert und somit zum Ausgangspunkt weiterer<br />

Operationen ma<strong>ch</strong>t, die aber au<strong>ch</strong> wieder nur systemintern prozessiert werden. Das heisst:<br />

der Unters<strong>ch</strong>ied wird im Unters<strong>ch</strong>iedenen no<strong>ch</strong> einmal wiederholt; Luhmann nennt dies<br />

„re-entry“.<br />

3. Der Prozess, in dem si<strong>ch</strong> ein System konstitutiv fortzeugt, besteht aus den Operationen<br />

des Systems. Das System muss also immer wieder neue Systemzustände einnehmen.<br />

Dabei wird die Ges<strong>ch</strong>lossenheit des Systems immer an seinen Operationen manifest.<br />

1


Selbstreferentialität ist deswegen ein Korrelat der S<strong>ch</strong>ließung des Systems gegenüber seiner<br />

Umwelt. Da die Differenz konstitutiv ist, würde eine Auflösung oder Aufwei<strong>ch</strong>ung der<br />

Differenz zwis<strong>ch</strong>en System und Umwelt zwangsläufig zur Auflösung des Systems selbst<br />

führen. Dass für das System überhaupt Umwelt handhabbar werden kann, liegt in dieser<br />

strikten Differenz, die ihrerseits wiederum zur Voraussetzung für das Re-entry wird Luhmann<br />

geht so weit zu sagen, dass Ges<strong>ch</strong>lossenheit Voraussetzung für Offenheit ist.<br />

4. Auf dieser Grundlage lässt si<strong>ch</strong> do<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> eine positive Bestimmung der Differenz von<br />

System und Umwelt geben. Gegenüber der Umwelt ist das System aufgrund seiner<br />

Eigens<strong>ch</strong>aften in der Lage, Umweltkomplexität systemintern zu reduzieren. Komplexität<br />

bedeutet, dass mehr Selektionsmögli<strong>ch</strong>keiten vorliegen, als aktualisiert worden sind oder<br />

werden können. Da allerdings für die Reduktion von Komplexität wiederum Komplexität<br />

vonnöten ist, ist die Differenz dur<strong>ch</strong> eine doppelte Komplexitätss<strong>ch</strong>welle unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>er Art<br />

(System- und Umweltkomplexität) na<strong>ch</strong> beiden Seiten hin, also dur<strong>ch</strong> ein gegenläufiges<br />

Komplexitätsgefälle definiert. Kurz gesagt: soziale Systeme sind operativ ges<strong>ch</strong>lossene,<br />

selbstreferentielle Prozesse.<br />

Wissens<strong>ch</strong>afts- und erkenntnistheoretis<strong>ch</strong> gesehen ist das System also ni<strong>ch</strong>t etwas, was<br />

man in der Empirie vorfinden könnte, sondern das System, diesem Verständnis<br />

entspre<strong>ch</strong>end, ist in erster Linie ein Instrument zur Beoba<strong>ch</strong>tung. Die <strong>Systemtheorie</strong><br />

beoba<strong>ch</strong>tet die Gesells<strong>ch</strong>aft und alles, was si<strong>ch</strong> in und an der Gesells<strong>ch</strong>aft als Strukturen<br />

herausbildet, als System. Darin liegt ein konstruktivistis<strong>ch</strong>es Moment, das Luhmann in<br />

späteren Arbeiten immer deutli<strong>ch</strong>er in den Vordergrund rückt. Gesells<strong>ch</strong>aft als System zu<br />

bes<strong>ch</strong>reiben heißt also ni<strong>ch</strong>t, den System<strong>ch</strong>arakter der Gesells<strong>ch</strong>aft als ihren Wesenskern<br />

herauszudestiliereren, sondern Gesells<strong>ch</strong>aft überhaupt erst als System zu entwerfen.<br />

Beoba<strong>ch</strong>tungsinstrument und Beoba<strong>ch</strong>tetes werden eins.<br />

Au<strong>ch</strong> hier ist wiederum ein Punkt errei<strong>ch</strong>t, an dem <strong>Systemtheorie</strong> einen Beginn willkürli<strong>ch</strong><br />

setzt, um einen Anfangsgrund für weitere Konzeptualisierung zus<strong>ch</strong>affen. Sie setzt beim<br />

System an und behandelt Systeme, obs<strong>ch</strong>on sie Beoba<strong>ch</strong>tungsresultate sind, als ontologis<strong>ch</strong><br />

vorgegeben; so beginnt das Kapitel aus den Sozialen Systemen mit dem provokanten Satz:<br />

„Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, dass es Systeme gibt“ (S.30)<br />

Kommunikation, Kommunikationsmedien, doppelte Kontingenz, Sinn<br />

Worin bestehen nun die Operationen sozialer Systeme? Luhmann antwortet: auss<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong><br />

aus Kommunikationen. Damit wird die Kommunikationstheorie, wie sie Luhmann entwirft,<br />

zur Grundlagentheorie sozialer Systeme. Luhmann bri<strong>ch</strong>t allerdings radikal mit der<br />

Vorstellung der Kommunikation als eine Übermittlung einer Bots<strong>ch</strong>aft von einem Sender zu<br />

einem Empfänger. Stattdessen wird Kommunikation selbst als der Prozess begriffen, der<br />

die sozialen Systeme überhaupt erst ausma<strong>ch</strong>t.<br />

1 Kommunikation ist für Luhmann das prozessuale Ineinandergreifen einer dreifa<strong>ch</strong>en<br />

Selektion zunä<strong>ch</strong>st wird aus einer Reihe von mögli<strong>ch</strong>en Informationen eine ausgewählt,<br />

ans<strong>ch</strong>ließend wird ein bestimmtes Verhalten selegiert, um diese Informationen mitzuteilen,<br />

und s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> wird aus den Mögli<strong>ch</strong>keiten ausgewählt, zwis<strong>ch</strong>en Information und Mitteilung<br />

zu unters<strong>ch</strong>eiden. Kommunikation wird somit als dreistellige Relation von Information,<br />

Mitteilung und Verstehen bes<strong>ch</strong>rieben.<br />

Boe: Brier – information, utterance, meaning<br />

2 Das Verstehen darf ni<strong>ch</strong>t missverstanden werden, etwa im Sinne der Hermeneutik, als<br />

Zugriff auf das, was ein anderes Bewusstsein wirkli<strong>ch</strong> meint. Verstehen ist ledigli<strong>ch</strong> eine<br />

Differenzierung zwis<strong>ch</strong>en Information und Mitteilung. Damit kann Verstehen im Prozess<br />

der Kommunikation wiederum als Information oder als Mitteilung gehandhabt werden so<br />

dass si<strong>ch</strong> die Kommunikation über das Verstehen selbst reproduziert. Verstehen ist also<br />

2


Selektion aus Selektionen. Was kommuniziert wird und wie kommuniziert wird, wird über<br />

das Verstehen der Kommunikation ni<strong>ch</strong>t von außen vorgegeben, sondern auss<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong><br />

kommunikationsintern produziert und prozessiert.<br />

3 Kommunikation ist ni<strong>ch</strong>t an naturspra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Formen gebunden. Spra<strong>ch</strong>e ist zwar in der<br />

Lage, Kommunikation ho<strong>ch</strong> flexibel zu ma<strong>ch</strong>en, aber sie ist für Kommunikation ni<strong>ch</strong>t<br />

auss<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> notwendig. Das bedeutet, dass der, der ni<strong>ch</strong>ts sagt, ni<strong>ch</strong>t au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t<br />

kommuniziert. Au<strong>ch</strong> <strong>Luhmanns</strong> Kommunikationskonzeption ist dem konstruktivistis<strong>ch</strong>en<br />

Topos verbunden, dass man ni<strong>ch</strong>t ni<strong>ch</strong>t kommunizieren kann.<br />

4 Da Kommunikation so lange, wie sie läuft, si<strong>ch</strong> immer über das Verstehen reproduziert,<br />

wird immer au<strong>ch</strong> verstanden. Das bedeutet wiederum, dass der Unters<strong>ch</strong>ied zwis<strong>ch</strong>en<br />

Verstehen und Missverstehen eingeebnet wird. Denn Verstehen, so verstanden, meint eben<br />

gerade ni<strong>ch</strong>t eine intentionale Aneignung, sondern ledigli<strong>ch</strong> kommunikative Reproduktion.<br />

5 Wenn aber Kommunikation si<strong>ch</strong> derart einfa<strong>ch</strong> selbst reproduziert, stellt si<strong>ch</strong> die Frage,<br />

warum Kommunikation überhaupt stattfindet. Diese Frage bringt Luhmann zu der These von<br />

der Unwahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>keit der Kommunikation. Kommunikation ist selbst ein Prozess. Nur<br />

solange kommuniziert wird, ist Kommunikation überhaupt. Für Kommunikation kommt es<br />

also konstitutiv darauf an das sie si<strong>ch</strong> selbst fortsetzt, d.h., dass sie immer wieder aufs Neue<br />

kommunikative Ans<strong>ch</strong>lüsse produziert. Dieser Selbstreproduktion versteht Luhmann als<br />

prinzipiell unwahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>. Es ist unwahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>, dass verstanden wird, und es ist<br />

unwahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong> dass das Verständnis akzeptiert wird. Vor diesem Hintergrund hebt<br />

Luhmann das Potenzial der Spra<strong>ch</strong>e hervor Formen zur Verfügung zu stellen, deren<br />

kommunikative Funktion ni<strong>ch</strong>t zu übersehen ist, wodur<strong>ch</strong> die Wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>keit, dass<br />

zwis<strong>ch</strong>en Information und Mitteilung differenziert, dass also verstanden wird, deutli<strong>ch</strong> erhöht<br />

wird.<br />

6 In diesem Kommunikationsmodell kommen keine Spre<strong>ch</strong>erpositionen mehr vor. Das hat<br />

zunä<strong>ch</strong>st zur Folge, dass der Kommunikationsprozess, damit er überhaupt handhabbar und<br />

beoba<strong>ch</strong>tbar wird, auf Personen zugere<strong>ch</strong>net werden muss, die in der Kommunikation als<br />

Verantwortli<strong>ch</strong>e für Kommunikation angespro<strong>ch</strong>en werden können. Die <strong>Zur</strong>e<strong>ch</strong>nung hat die<br />

Funktion, die Kommunikation zu zerlegen (wer sagt was?), So dass Kommunikation si<strong>ch</strong><br />

selbst besser kommunikativ regulieren kann. Da aber Kommunikation an si<strong>ch</strong> ledigli<strong>ch</strong> einen<br />

Prozess darstellt, wird Kommunikation zu diesem Zweck als Handlung simplifiziert.<br />

Wenn man Kommunikation so vereinfa<strong>ch</strong>t, kann man kommunikative Ereignisse als<br />

Mitteilungsverhandlungen beoba<strong>ch</strong>ten. Erst dadur<strong>ch</strong> werden Personen (Ego und Alter<br />

Ego) als Instanzen der Kommunikation adressierbar.<br />

7 Personen sind Adressen, auf die Kommunikation zugere<strong>ch</strong>net wird, ni<strong>ch</strong>t aber die<br />

Urheber von Kommunikation. Kommunikation ist in dieser Konzeption ein si<strong>ch</strong> selbst<br />

reproduzierender Prozess. Und so kann Luhmann zu seiner provokativen These kommen:<br />

„Aber Mens<strong>ch</strong>en können ni<strong>ch</strong>t kommunizieren, ni<strong>ch</strong>t einmal ihre Gehirne können<br />

kommunizieren, ni<strong>ch</strong>t einmal das Bewusstsein kann kommunizieren. Nur die Kommunikation<br />

kann kommunizieren“.<br />

Der Vorwurf des Inhumanismus ist hier aus vers<strong>ch</strong>iedenen Gründen verfehlt; denn zum<br />

einen wird über Mens<strong>ch</strong>en gar ni<strong>ch</strong>t gespro<strong>ch</strong>en, weil Kommunikation auf einer gänzli<strong>ch</strong><br />

anderen Ebene modelliert wird, und zum anderen lässt si<strong>ch</strong> aus diesem Ans<strong>ch</strong>luss au<strong>ch</strong> eine<br />

Rücksi<strong>ch</strong>tnahme gegenüber dem Mens<strong>ch</strong>en ableiten, die seine Komplexität eben ni<strong>ch</strong>t<br />

theoretis<strong>ch</strong> reduziert, sondern anerkennt und eben deswegen in die Umwelt von<br />

Kommunikation auslagert.<br />

An diese Kommunikationskonzeption s<strong>ch</strong>ließen si<strong>ch</strong> vers<strong>ch</strong>iedene medientheoretis<strong>ch</strong>e<br />

Angaben an, die allerdings von Luhmann niemals zu einer systematis<strong>ch</strong>en Medientheorie<br />

ausgearbeitet wurden. Vielmehr finden si<strong>ch</strong> bei ihnen vers<strong>ch</strong>iedenste Medienbegriffe<br />

unverbunden nebeneinander. In jedem Fall aber haben Medien, in wel<strong>ch</strong>em<br />

Aggregatszustand sie au<strong>ch</strong> auftreten, die Aufgabe, die Unwahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>keit der<br />

Kommunikation zu verringern.<br />

3


Die Funktion der Spra<strong>ch</strong>e wurde bereits genannt. Verbreitungsmedien (darunter sind<br />

au<strong>ch</strong> Massenmedien im landläufigen Sinn zu verstehen) erhöhen die Wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>keit,<br />

dass Adressaten überhaupt errei<strong>ch</strong>t werden. Besonderes Augenmerk widmet Luhmann<br />

jenen kommunikativen Me<strong>ch</strong>anismen, die die Wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>keit des Ans<strong>ch</strong>lusses erhöhen.<br />

Diese Me<strong>ch</strong>anismen nennt <strong>Luhmanns</strong> symbolis<strong>ch</strong> generalisierte<br />

Kommunikationsmedien bzw. au<strong>ch</strong> Mediencodes. Sie geben eine Orientierung sowohl für<br />

ego als au<strong>ch</strong> alter ego in Bezug darauf vor, wie die Kommunikation ihre Ans<strong>ch</strong>lüsse<br />

organisiert und so von vornherein die kommunikativ gebotenen Selektionsmögli<strong>ch</strong>keiten<br />

reduziert. Beispiele sind: Wahrheit, Ma<strong>ch</strong>t, Re<strong>ch</strong>t, Liebe, Kunst, Glaube, Wertbindungen.<br />

Diese Kommunikationsmedien sind zumeist gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Funktionssystemen<br />

zugeordnet, zum Beispiel Wahrheit der Wissens<strong>ch</strong>aft, ma<strong>ch</strong>t der Politik, Re<strong>ch</strong>t der<br />

Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung usw.“Generalisierung“bedeutet, dass diese Medien bzw. Codes die je<br />

einzelnen Kommunikationen transzendieren und potentiell unendli<strong>ch</strong> zur Verfügung<br />

stehen.“Codierung“ bedeutet, dass das Kommunikationsmedium eine binäre<br />

Differenzierungen bzw. Disjunktion vorgibt. Symbolis<strong>ch</strong> sind diese Ans<strong>ch</strong>lüsse, weil das<br />

einzelne Medium bzw. der Code selbst als Wert für die Organisation kommunikativer<br />

Ans<strong>ch</strong>lüsse in ihrem kommunikativen Einzugsgebiet stehen. Der Code bzw. das Medium<br />

sind, so gesehen, ein Symbol zum Beispiel für die Wahrheit, die sie kommunikativ<br />

organisieren. Wer also in der Wissens<strong>ch</strong>aft – wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong> - kommuniziert, wird Wahrheit<br />

als jenen positiven Wert ansehen, den au<strong>ch</strong> sein gegenüber als sol<strong>ch</strong>en ansieht, so dass<br />

Ego und Alter Ego darauf in ihren Selektionen kommunikativ festgelegt sind. Dies reduziert<br />

die kommunikativen Ans<strong>ch</strong>lussmögli<strong>ch</strong>keiten erhebli<strong>ch</strong> und steigert die Wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>keit<br />

der Kommunikation enorm.<br />

Der <strong>Systemtheorie</strong> lässt si<strong>ch</strong> eine zentrale Frage unterstellen: Wie ist soziale Ordnung<br />

überhaupt mögli<strong>ch</strong>? Da soziale Systeme existieren, die kommunikativ gebildet und<br />

prozessiert werden, kommt man ni<strong>ch</strong>t darum herum, die Frage mit: Kommunikation! zu<br />

beantworten. Jede soziale Ordnung - und die gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Ordnung ist eine<br />

kommunikative Ordnung - ist eine Ordnung in dem Maß und in der Form, indem und in der<br />

Kommunikation Ordnung überhaupt ermögli<strong>ch</strong>t. Ordnung ist sozusagen der Gegenbegriff<br />

zu Kontingenz und zu Komplexität. Den Zusammenhang von Komplexität und Kontingenz<br />

bezei<strong>ch</strong>net der Begriff der Selektion.<br />

Selektion bedeutet den Zwang zur Differenzierungen und zur Ents<strong>ch</strong>eidung für das eine und<br />

ni<strong>ch</strong>t für das andere. Selektion ist also eine prozessuale Ents<strong>ch</strong>eidung auf der Basis einer<br />

Differenzierung sie kann immer au<strong>ch</strong> anders ausfallen (daher ist sie kontingent) und<br />

impliziert notwendigerweise einen Übers<strong>ch</strong>uss an Mögli<strong>ch</strong>keiten, der ni<strong>ch</strong>t aktualisiert wird<br />

(daher ist sie komplex). Soziale Ordnung ist nur mögli<strong>ch</strong>, wenn es gelingt, diese Kontingenz<br />

und diese Komplexität zu bannen. Gebannt werden sie in der Form des Systems, das<br />

System existiert aber wiederum nur, indem es si<strong>ch</strong> kommunikativ vollzieht. Ein Beispiel dafür<br />

ist das grundlegende Bezugsproblem sozialer Ordnung, nämli<strong>ch</strong> doppelte Kontingenz.<br />

Damit wird der Sa<strong>ch</strong>verhalt bezei<strong>ch</strong>net, dass sowohl Ego als au<strong>ch</strong> Alter Ego ihre<br />

Selektionsents<strong>ch</strong>eidungen von denen des jeweils anderen abhängig ma<strong>ch</strong>en. Eine sol<strong>ch</strong>e<br />

Situation blockiert soziale Ordnung. Sie ist gekennzei<strong>ch</strong>net von einer we<strong>ch</strong>selseitigen<br />

Unbestimmtheit, die nur aufgelöst werden kann, wenn beide Seiten, Ego und Alter Ego,<br />

diese we<strong>ch</strong>selseitige Unbestimmtheit in ihren Selektionen selbst no<strong>ch</strong> einmal<br />

berücksi<strong>ch</strong>tigen.<br />

Diese Unbestimmtheit ist die Keimzelle von sozialen Systemen. Soziale Systeme<br />

regeln Erwartungen, aber au<strong>ch</strong> Erwartungserwartungen,, also dasjenige, von dem<br />

erwartet wird, dass es erwartet wird. Doppelte Kontingenz wird so zum Katalysator von<br />

sozialen Systemen, weil damit der Zwang entsteht, Kontingenz abzubauen und Komplexität<br />

zu reduzieren. Do<strong>ch</strong> doppelte Kontingenz ist kein nur einmalig auftretendes Problem, dass<br />

dann ein für alle Mal gelöst werden könnte. Jede Problemlösung führt im prozessualen Lauf<br />

zu neuen Situationen der doppelten Kontingenz. Genau dies aber ma<strong>ch</strong>en si<strong>ch</strong> soziale<br />

Systeme zu Nutze, um si<strong>ch</strong> in der Lösung des Problems der doppelten Kontingenz selbst zu<br />

4


eproduzieren: „Die Autokatalyse sozialer Systeme s<strong>ch</strong>afft si<strong>ch</strong> ihren Katalysator, nämli<strong>ch</strong><br />

das Problem der doppelten Kontingenz selbst.“(Soziale Systeme, S.171). Soziale Ordnung<br />

ist also ni<strong>ch</strong>t etwas, das allmähli<strong>ch</strong> entsteht und von einem Zustand geringer zu einem<br />

Zustand höherer Ordnung hinführt. Jede soziale Ordnung ist eine emergente Ordnung, die<br />

s<strong>ch</strong>lagartig entsteht, wenn si<strong>ch</strong> aus einem konstitutiven Anfangsproblem wie dem der<br />

doppelten Kontingenz ein Me<strong>ch</strong>anismus zur Problemhandhabung herauskristallisiert.<br />

Soziale Ordnung ist darüber hinaus immer eine Ordnung des Sinns, besser gesagt: eine<br />

Ordnung dur<strong>ch</strong> das Medium und im Medium des Sinns. Am Übers<strong>ch</strong>uss von<br />

Selektionsmögli<strong>ch</strong>keiten wird Sinn beoba<strong>ch</strong>tbar. Wenn eine Selektion immer den<br />

Zusammenhang von aktualisierten und ni<strong>ch</strong>t aktualisierten Mögli<strong>ch</strong>keiten darstellt, dann ist<br />

damit s<strong>ch</strong>on die Definition von Sinn gegeben. Sinn ist, so Luhmann, „ Die Einheit von<br />

Aktualisierungen und Virtualisierung“ (Soziale System, S.100).<br />

Sinn ist die Voraussetzung dafür, dass überhaupt differenziert werden kann, und diese<br />

Differenzierungen im Selektionen einfließen können und dass die Einheit der Differenz<br />

zwis<strong>ch</strong>en aktualisierten und ni<strong>ch</strong>t- aktualisierten und damit wir aktualisierten Mögli<strong>ch</strong>keiten<br />

ihrerseits für weitere Differenzierungsleistungen zur Verfügung steht.<br />

Wenn soziale Systeme ihren Umweltkontakt dadur<strong>ch</strong> regeln, dass sie die Systemgrenze<br />

intern wiederholen, sind sie somit au<strong>ch</strong> in der Lage, zwis<strong>ch</strong>en Selbstreferenz und<br />

Fremdreferenz zu unters<strong>ch</strong>eiden. Fremdreferenz ist der Bezug des Systems zur intern<br />

wiederholten Umwelt. Damit aber überhaupt zwis<strong>ch</strong>en Selbst- und Fremdreferenz<br />

unters<strong>ch</strong>ieden werden kann, ist Sinn unabdingbar vonnöten. Sinn unters<strong>ch</strong>eidet zwei Seiten,<br />

setzt die eine als aktual und die andere als potentiell und s<strong>ch</strong>afft so die Voraussetzung, dass<br />

diese Differenz weiter prozessiert werden kann. Denn Sinn ist ni<strong>ch</strong>ts anderes als Einheit<br />

der Differenz.<br />

Sinn ist selbst ein Prozess und glei<strong>ch</strong>zeitig Grundlage eben dieses Prozesses. Deswegen<br />

ist Sinn ni<strong>ch</strong>t hintergehbar, weil au<strong>ch</strong> der Versu<strong>ch</strong>, Sinn zu hintergehen, oder sogar der<br />

Versu<strong>ch</strong>, sind zu negieren, immer no<strong>ch</strong> Sinn voraussetzt. Sinn ist die Voraussetzung für<br />

Affirmation und Negation und damit selbst „eine unnegierbare, eine differenzlose Kategorie“<br />

(SozSys. S.96) und Sinn ist zudem ein Prozess, der si<strong>ch</strong> in drei Dimensionen entspre<strong>ch</strong>end<br />

den Dimensionen der an dem Prozess beteiligten Instanzen aufspalten lässt; Luhmann<br />

spri<strong>ch</strong>t in diesem Zusammenhang von Sinndimensionen. Sie haben die Funktion, die<br />

Differenzierungsleistung, die mit Sinn verbunden ist, in drei Verweisungshorizonte<br />

einzubetten, die das Koordinatennetz sozialer Systeme auf spannen. Die Sozialdimension<br />

unters<strong>ch</strong>eidet dabei zwis<strong>ch</strong>en Ego und Alter Ego, die Sa<strong>ch</strong>dimension zwis<strong>ch</strong>en diesem und<br />

anderen und s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> die Zeitdimension zwis<strong>ch</strong>en Vergangenheit und Zukunft.<br />

Gesells<strong>ch</strong>aft und gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Ausdifferenzierung<br />

Vom Problem der doppelten Kontingents sind aber soziale Systeme ni<strong>ch</strong>t allein betroffen,<br />

sondern au<strong>ch</strong> Systeme, die si<strong>ch</strong> notwendigerweise in der Umgebung von sozialen Systemen<br />

befinden: gemeint sind psy<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Systeme (Bewusstsein). So setzt das Problem der<br />

doppelten Kontingents gerade psy<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Systeme voraus, die ni<strong>ch</strong>t im sozialen Systemen<br />

aufgehen, die also für Kommunikation unzugängli<strong>ch</strong> sind (denn ohne diese würde das<br />

Problem gar ni<strong>ch</strong>t entstehen). Und ebenso gilt die Differenzierungsleistung des Sinns ni<strong>ch</strong>t<br />

nur für soziale, sondern eben au<strong>ch</strong> für psy<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Systeme. Ja, mehr no<strong>ch</strong>: Sinn ist<br />

überhaupt die Voraussetzung, dass soziale und psy<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Systeme si<strong>ch</strong> gerade au<strong>ch</strong><br />

kategorial voneinander unters<strong>ch</strong>eiden können.<br />

Zunä<strong>ch</strong>st soll hier nun die Gesells<strong>ch</strong>aft als soziales System behandelt werden, bevor das<br />

Verhältnis von sozialen und psy<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>en Systemen betra<strong>ch</strong>tet wird. Gesells<strong>ch</strong>aft als System<br />

zu definieren, beinhaltet in der <strong>Luhmanns</strong><strong>ch</strong>en <strong>Systemtheorie</strong> eine doppelte, aber<br />

unmittelbar zusammenhängende Implikation: Gesells<strong>ch</strong>aft selbst ist „ Ein Sinn<br />

5


konstituierendes System“ (Die Gesells<strong>ch</strong>aft der Gesells<strong>ch</strong>aft, S. 50), alle gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en<br />

Operationen sind Operationen im Medium Sinn. Sinn wiederum ist die Voraussetzung für<br />

Kommunikation - dies jedo<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t in der normativen Sinn, dass Kommunikation immer au<strong>ch</strong><br />

sinnvolle, Kommunikation meint. Sinn ist die Prozessvoraussetzungen, dass überhaupt<br />

kommuniziert, dass selegiert (Information und Mitteilung) und das zwis<strong>ch</strong>en sol<strong>ch</strong>en<br />

Selektionen differenziert werden kann (Verstehen).<br />

Die Sinnkonstitution der Gesells<strong>ch</strong>aft ist ein auss<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> kommunikativer Prozess.<br />

Damit vollzieht Luhmann einen radikalen We<strong>ch</strong>sel weg von der Vorstellung der<br />

Gesells<strong>ch</strong>aft, die si<strong>ch</strong> aus Individuen zusammensetzt, hin zu einer Gesells<strong>ch</strong>aft, die System<br />

ist, dies aber nur insoweit, als sie si<strong>ch</strong> als System selbst prozessiert: Und dieses Si<strong>ch</strong>-selbst-<br />

Prozessieren der Gesells<strong>ch</strong>aft ist Kommunikation. So heißt es bei Luhmann apodiktis<strong>ch</strong>: „<br />

Gesells<strong>ch</strong>aft betreibt Kommunikation, und was immer Kommunikation betreibt, ist<br />

Gesells<strong>ch</strong>aft. Die Gesells<strong>ch</strong>aft konstituiert die elementaren Einheiten (Kommunikationen),<br />

aus denen sie besteht, und was immer so konstituiert wird, wird Gesells<strong>ch</strong>aft, wird Moment<br />

des Konstitutionsprozesses selbst.“(Soziale Systeme, S.555). Man kann folgern: so, wie<br />

Mens<strong>ch</strong>en ni<strong>ch</strong>t kommunizieren, besteht au<strong>ch</strong> die Gesells<strong>ch</strong>aft ni<strong>ch</strong>t aus Mens<strong>ch</strong>en, sondern<br />

aus dem, was kommuniziert, also aus Kommunikation.<br />

Beide Implikationen, die im Begriff der Gesells<strong>ch</strong>aft als sinnkonstituierendes<br />

Kommunikationssystem zusammenfallen, bilden die Voraussetzung für die gesells<strong>ch</strong>aftsstrukturellen<br />

Entwicklungen, die Luhmann unter dem Begriff der "Ausdifferenzierung“<br />

na<strong>ch</strong>zei<strong>ch</strong>net. Dieser Prozess vollzieht si<strong>ch</strong> im 18. Jahrhundert und ändert die Typik der<br />

Gesells<strong>ch</strong>aft grundlegend. Gesells<strong>ch</strong>aft beginnt, stratifikatoris<strong>ch</strong>e Ausdifferenzierung -<br />

das hierar<strong>ch</strong>isierte S<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>tenmodell der Gesells<strong>ch</strong>aft - abzustreifen und si<strong>ch</strong><br />

stattdessen funktional auszudifferenzieren. Es entstehen - sozusagen quer liegend zu<br />

den früheren Gesells<strong>ch</strong>aftss<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ten - parallele Subsysteme der Gesells<strong>ch</strong>aft, die si<strong>ch</strong> über<br />

eine je eigene Funktion ausdifferenzieren: zum Beispiel die Wirts<strong>ch</strong>aft, die Wissens<strong>ch</strong>aft, das<br />

Re<strong>ch</strong>t, die Religion, die Politik und ni<strong>ch</strong>t zuletzt die Kunst. Ni<strong>ch</strong>t dass es entspre<strong>ch</strong>ende<br />

Organisationsformen ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>on vorher gegeben hätte, nun aber gewinnen sie einen<br />

eigenen System<strong>ch</strong>arakter. Jedes System wird sowohl gegen die Gesamtgesells<strong>ch</strong>aft als<br />

au<strong>ch</strong> gegen die anderen Systeme abgegrenzt; jedes System wird spezifiziert, gewinnt in<br />

seinen Operationen Exklusiv<strong>ch</strong>arakter und kann si<strong>ch</strong> so auf si<strong>ch</strong> selbst beziehen. Damit<br />

liegen drei Systemereferenzen vor, die, wie es der Begriff nahelegt, eben den<br />

System<strong>ch</strong>arakter der Gesamtgesells<strong>ch</strong>aft als au<strong>ch</strong> der Funktionssysteme voraussetzen.<br />

Der Bezug des einzelnen Systems auf die Gesamtgesells<strong>ch</strong>aft wird „Funktion“ genannt, der<br />

Bezug auf andere Subsysteme „Leistung“ und s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> der Bezug auf si<strong>ch</strong> selbst<br />

"Selbstreferenz“, wobei die Funktion dem Subsystem seine spezifis<strong>ch</strong>e Prägung verleiht. So<br />

hat Kunst Luhmann zufolge die Funktion, andere Wirkli<strong>ch</strong>keitsversionen als die für die<br />

Gesells<strong>ch</strong>aft gängige herzustellen und diese mit diesen Versionen zu konfrontieren. Sie übt<br />

damit eine Funktion aus, die eben kein anderes System übernehmen kann und die somit<br />

au<strong>ch</strong> die Leistung der Kunst gegenüber den anderen Systemen ausma<strong>ch</strong>t. Der<br />

System<strong>ch</strong>arakter der Gesamtgesells<strong>ch</strong>aft und der System<strong>ch</strong>arakter der Funktionssysteme<br />

bedingen si<strong>ch</strong> we<strong>ch</strong>selseitig. Ausdifferenzierung selbst ist eine Errungens<strong>ch</strong>aft der<br />

Gesells<strong>ch</strong>aftsevolution, die darauf beruht, dass si<strong>ch</strong> ein System von seiner Umwelt<br />

differenziert, in dem es intern die System/Umwelt- Grenze wiederholt. „Ausdifferenzierung“<br />

heißt erstens, dass si<strong>ch</strong> die Systemdifferenzierungen im System wiederholt, und zweitens,<br />

dass die dadur<strong>ch</strong> entstehende Differenz der Binnensysteme zum Gesamtsystem<br />

(Gesells<strong>ch</strong>aft) Funktionalisierung und über die Funktion spezialisiert wird.<br />

Als Funktionssysteme treten hier wiederum mehrfa<strong>ch</strong> jene Berei<strong>ch</strong>e auf, die s<strong>ch</strong>on die<br />

entspre<strong>ch</strong>enden Codierungen für symbolis<strong>ch</strong> generalisierte Kommunikationsmedien<br />

abgegeben haben. In der Tat hängen diese Medien mit Funktionssystemen zum Teil<br />

unmittelbar zusammen, wo nämli<strong>ch</strong> ein sol<strong>ch</strong>es Medium den Code für das<br />

Entspre<strong>ch</strong>endesystem abgibt. Die Systemdifferenzierung und damit die Funktionssysteme<br />

6


estehen nur so lange, wie Sie diese Funktion erfüllen, also funktionsspezifis<strong>ch</strong> operieren.<br />

Und dazu trägt der Code bei. Der Code wie jeder andere Mediencode stellt eine binäre<br />

Differenzierung zwis<strong>ch</strong>en zwei oppositionellen Werten dar (eine Ja/Nein- Codierung, Die<br />

Gesells<strong>ch</strong>aft der Gesells<strong>ch</strong>aft, S.316), von denen der eine Wert im Hinblick auf die<br />

Systemfunktion positiv, der andere negativ besetzt ist. Mit dem Code ist damit dem System<br />

das Instrument gegeben, mit dem es immer eindeutig differenzieren kann, wel<strong>ch</strong>e<br />

Operationen zum System gehören und wel<strong>ch</strong>e systemfremd sind.<br />

So hat das Wirts<strong>ch</strong>aftssystem den Code "Haben/Ni<strong>ch</strong>t-Haben“. Operationen, die na<strong>ch</strong><br />

diesem S<strong>ch</strong>ema codiert werden können, gehören zum Wirts<strong>ch</strong>aftssystem und bilden seine<br />

Elemente, also Zahlungen. Es mag au<strong>ch</strong> Ereignisse geben, die in mehreren<br />

Funktionssystemen, aber jeweils spezifis<strong>ch</strong> registriert werden. Zum Beispiel wird eine<br />

Performance einer Ereignisse im Kunstsystem darstellen, sie kann aber au<strong>ch</strong> ein Ereignis im<br />

Wirts<strong>ch</strong>aftssystem, wenn es darum geht, Künstler zu bezahlen, oder ein Ereignis im<br />

Re<strong>ch</strong>tssystem darstellen, wenn bei der Performance die Gesetze verletzt worden sind.<br />

Damit sol<strong>ch</strong>e Kodierungen einigermaßen stabil gehalten werden können, tritt zu ihnen ein<br />

zweites Moment, das Programm. Es enthält die Ausführungsbestimmungen für die<br />

Anwendung des Codes.<br />

Als Code des Kunstsystems gibt Luhmann die Opposition „s<strong>ch</strong>ön/hässli<strong>ch</strong>“ vor. Dieser<br />

Vors<strong>ch</strong>lag ist auf zahlrei<strong>ch</strong>e Kritiker und Gegenvors<strong>ch</strong>läge gestoßen. So hat Georg Jäger<br />

den Code „mit“ vs.“ohne Ges<strong>ch</strong>mack“ vorges<strong>ch</strong>lagen; Ges<strong>ch</strong>mack dient dabei als<br />

Interaktionsmedium der Kommunikation in und über Kunst, die nur no<strong>ch</strong> die<br />

Funktionslosigkeit der Kunst als ihre Funktion gelten lässt. Gerhardt Plumpe und Niels<br />

Weber s<strong>ch</strong>lagen den Code „interessant“ vs. „langweilig“ unter der Funktion "Unterhaltung“<br />

vor. Diese Diskussion hat s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> dazu geführt, das Konzept der Kodierung prinzipiell<br />

infrage zu stellen. Dabei merkt man s<strong>ch</strong>nell, dass das Konzept der Systemdifferenzierung<br />

selbst und damit die gesamte Gesells<strong>ch</strong>aftstheorie der <strong>Systemtheorie</strong> hinfällig zu werden<br />

droht. Deshalb beharrte Luhmann au<strong>ch</strong> auf der Kodierung: "aber wenn man diese<br />

ehrwürdigen und ein biss<strong>ch</strong>en angestaubten Bezei<strong>ch</strong>nungen (s<strong>ch</strong>ön- hässli<strong>ch</strong>) ni<strong>ch</strong>t mehr<br />

will, wäre gegen eine Absage ni<strong>ch</strong>ts einzuwenden - sofern ein Eratz angeboten wird.“<br />

Neuere konstruktivistis<strong>ch</strong>e Entwicklungen in der <strong>Systemtheorie</strong>: Autopoiesis,<br />

Beoba<strong>ch</strong>ter, Medium und Form, Differenzkalkül<br />

Seite 318 - 333<br />

Sti<strong>ch</strong>wörter:<br />

…Paradoxien der Beoba<strong>ch</strong>tung<br />

…Konzept der Autopoiesis<br />

…Konzept des Beoba<strong>ch</strong>ters<br />

…Medium/Form-Differenz<br />

…Differenzkalkül<br />

…Beoba<strong>ch</strong>tertheorem: Alles, was gesagt wird, wird von einem Beoba<strong>ch</strong>ter gesagt.<br />

Begriff der Form<br />

“Strukturelle Kopplung“: Bewusstsein und Kommunikation<br />

we<strong>ch</strong>selseitig füreinander konstitutive Umwelt sind.<br />

…Sinnsysteme<br />

…Begriff der Interpenetration<br />

…Differenz von Bewusstsein und Kommunikation, „Ur-Differenz“ der <strong>Systemtheorie</strong><br />

…Differentialität<br />

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Die Funktionssysteme der Gesells<strong>ch</strong>aft können si<strong>ch</strong> we<strong>ch</strong>selseitig Umwelt sein. Aber was ist<br />

die Umwelt der Gesells<strong>ch</strong>aft? Dieser Blick auf die Gesells<strong>ch</strong>aft eröffnet zunä<strong>ch</strong>st den Blick<br />

auf jene Paradoxien, die damit verbunden sind, wenn aus der Gesells<strong>ch</strong>aft heraus<br />

Gesells<strong>ch</strong>aft selbst beoba<strong>ch</strong>tet wird.<br />

Gesells<strong>ch</strong>aft ist das umfassendste Kommunikationssystem selbst; das bedeutet,<br />

Gesells<strong>ch</strong>aft hat keine kommunikative oder soziale Umwelt mehr; Gesells<strong>ch</strong>aft selbst ist in<br />

der Weise ein sozialer sowie kommunikativer Letzthorizont, wie Welt ein Letzthorizont<br />

allen Sinnes ist (Soziale Systeme, S.105). Die Gesells<strong>ch</strong>aft ist damit für gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e,<br />

also kommunikative Operationen unerrei<strong>ch</strong>bar geworden (Peter Fu<strong>ch</strong>s: Die Errei<strong>ch</strong>barkeit<br />

der Gesells<strong>ch</strong>aft), weil keine Operation den ar<strong>ch</strong>imedis<strong>ch</strong>en Punkt. außerhalb der<br />

Gesells<strong>ch</strong>aft einnehmen kann. Jeder Versu<strong>ch</strong>, Gesells<strong>ch</strong>aft zu errei<strong>ch</strong>en, sei es zum Beispiel<br />

wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong> oder soziologis<strong>ch</strong>, vollzieht Gesells<strong>ch</strong>aft zwangsweise mit und führt so zu<br />

Paradoxien der Beoba<strong>ch</strong>tung.<br />

Die <strong>Systemtheorie</strong> zei<strong>ch</strong>net si<strong>ch</strong> gerade dur<strong>ch</strong> das explizite Bewusstsein dieser Tatsa<strong>ch</strong>e<br />

aus. Überblickt man ihre Entwicklung, so kann man erkennen, dass in der Entfaltung von<br />

Paradoxie von Anfang an ein Potenzial der Theorieentfaltung lag, das si<strong>ch</strong> in den späteren<br />

Arbeiten immer deutli<strong>ch</strong>er aktualisiert hat. Zum einen geraten damit die späte immer klarer in<br />

den Vordergrund tretenden konstruktivistis<strong>ch</strong>en Übernahmen in die <strong>Systemtheorie</strong> und zum<br />

anderen die verstärkte Autoreflexierung der Theorie in den Blickpunkt. Beide Sphären<br />

hängen insofern zusammen, als die konstruktivistis<strong>ch</strong>en Übernahmen zu Theorieelementen<br />

zusammengefasst werden, mit deren Hilfe es mögli<strong>ch</strong> ist, die Paradoxien, wie sie mit der<br />

Autoreflexierung immer deutli<strong>ch</strong>er zu Tage treten, selbst no<strong>ch</strong> theoretis<strong>ch</strong> handhaben zu<br />

können.<br />

Die Übernahmen betreffen (1) das Konzept der Autopoiesis und (2) das Konzept des<br />

Beoba<strong>ch</strong>ters aus der konstruktivistis<strong>ch</strong>e orientierten Biologie (Matura, Varela), ebenso wie<br />

(3) die Übernahme der Medium/Ding-Differenz als Medium/Form-Differenz, von Fritz Heider<br />

und (4) die Übernahme des Differenzkalküls von George Spencer Brown.<br />

Bereits im Konzept der Autopoiesis ist diese paradoxale Selbstreferenz angelegt.<br />

„Autopoiesis“ bezei<strong>ch</strong>net zunä<strong>ch</strong>st Selbstreproduktionsme<strong>ch</strong>anismen von Lebewesen, der<br />

Begriff wird aber von Luhmann modifiziert und als konstitutives Kennzei<strong>ch</strong>en sozialer<br />

Systeme verstanden. Soziale Systeme sind autopoietis<strong>ch</strong>e Systeme, und ein<br />

autopoietis<strong>ch</strong>es System - so eine griffige Definition - ist ein „System das si<strong>ch</strong> mittels der<br />

Reproduktion seine Elemente, aus denen es besteht, dur<strong>ch</strong> die Elemente, aus denen es<br />

besteht, reproduziert“ (Dirk Baecker). Gesells<strong>ch</strong>aft als das umfassendste Sinn- und<br />

Kommunikationssystem ist daher au<strong>ch</strong> „das autopoietis<strong>ch</strong>e System par excellance (Soziale<br />

Systeme, S.555). Mit dem Autopoiesis-Konzept wird no<strong>ch</strong> einmal der enge Zusammenhang<br />

zwis<strong>ch</strong>en Kommunikation und Sinn unterstri<strong>ch</strong>en. Autopoiesis kann si<strong>ch</strong> nur vollziehen,<br />

wenn zuglei<strong>ch</strong> Sinn vorliegt. Und insofern kann man systemtheoretis<strong>ch</strong> sagen, dass Sinn<br />

das Medium der Autopoiesis ist. Autopoiesis ist somit die Form, in der Sinnsysteme<br />

prozessieren. Dasselbe gilt umgekehrt: Sinnsysteme prozessieren autopoietis<strong>ch</strong>!<br />

Jede Kommunikation ist Vollzug von Autopoiesis und mithin Vollzug von Gesells<strong>ch</strong>aft. An der<br />

Autopoiesis wird die Autoreflexivität der Gesells<strong>ch</strong>aft in ihren Operationen offenbar. Das<br />

daraus entspringende epistemologis<strong>ch</strong>e Problem, wie denn überhaupt Autopoiesis erkannt<br />

werden kann, wenn das Erkennen der Autopoiesis selbst s<strong>ch</strong>on autopoietis<strong>ch</strong>e ist, wird<br />

mittels des Beoba<strong>ch</strong>tertheorems abgearbeitet. Zuglei<strong>ch</strong> führt die Idee der Autopoiesis ni<strong>ch</strong>t<br />

nur der Gesells<strong>ch</strong>aft und der Sinnsysteme, sondern au<strong>ch</strong> die Spezifikationen ihres Vollzugs,<br />

die man funktional als Wissens<strong>ch</strong>aft, philosophis<strong>ch</strong> als Erkennen oder s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>tweg als<br />

Theorie bezei<strong>ch</strong>nen kann, in das Zentrum konstruktivistis<strong>ch</strong>en Denkens: Erkenntnis, die<br />

si<strong>ch</strong> selbst aus si<strong>ch</strong> selbst heraus hervorbringt.<br />

8


Die Leitidee des Beoba<strong>ch</strong>tertheorems besagt, dass alles, was gesagt wird, von einem<br />

Beoba<strong>ch</strong>ter gesagt wird. Wenn das, was gesagt wird, als kommunikative Bes<strong>ch</strong>reibung der<br />

Gesells<strong>ch</strong>aft bzw. als sinnhafte Bes<strong>ch</strong>reibung der Welt identifiziert wird, so kann man diese<br />

Leitidee zu einem puren Konstruktivismus verkürzen: Alles, was ist, ist nur, weil es<br />

beoba<strong>ch</strong>tet wird.<br />

Damit vers<strong>ch</strong>winden ontologis<strong>ch</strong>e Prämissen von der Vorrangigkeit des Beoba<strong>ch</strong>teten<br />

vor der Beoba<strong>ch</strong>tung; und glei<strong>ch</strong>zeitig leitet Luhmann daraus einen methodologis<strong>ch</strong>en<br />

Grundsatz der <strong>Systemtheorie</strong> ab: sie we<strong>ch</strong>selt von der Beoba<strong>ch</strong>tung des Was zur<br />

Beoba<strong>ch</strong>tung des Wie (vgl. z.B. „Die Wissens<strong>ch</strong>aft der Gesells<strong>ch</strong>aft“, S.95).<br />

Mit dem Beoba<strong>ch</strong>ter wird es mögli<strong>ch</strong>, ein Paradox, wie es si<strong>ch</strong> im Spannungsverhältnis von<br />

Gegenstand und Theorie ausdrückt, ni<strong>ch</strong>t nur zu bes<strong>ch</strong>reiben, sondern zuglei<strong>ch</strong> produktiv für<br />

eben die Beoba<strong>ch</strong>tung fru<strong>ch</strong>tbar zu ma<strong>ch</strong>en. Ein Beoba<strong>ch</strong>ter kann alles sehen (sowie eine<br />

Theorie jeden mögli<strong>ch</strong>en oder sogar alle mögli<strong>ch</strong>en Gegenständefokussierung kann), er<br />

kann nur si<strong>ch</strong> selbst ni<strong>ch</strong>t sehen.<br />

Der Beoba<strong>ch</strong>ter bzw. die Operation des Beoba<strong>ch</strong>tens ist für si<strong>ch</strong> selbst blind. Diese<br />

Unbeoba<strong>ch</strong>tbarkeit nennt man den "blinden Fleck“, gegen jede Beoba<strong>ch</strong>tung auszei<strong>ch</strong>net.<br />

Der blinde Fleck ist gerade die konstitutive Voraussetzung, die conditio sine qua non der<br />

Beoba<strong>ch</strong>tung. Darin liegt die Paradoxie des Beoba<strong>ch</strong>tens begründet, die, wenn man sie<br />

positiv wendet, zu einer Tautologie gerinnt: der Beoba<strong>ch</strong>ter sieht nur, was er sieht, und sieht<br />

ni<strong>ch</strong>t, was er ni<strong>ch</strong>t sieht. Beoba<strong>ch</strong>ten ist eine Operation, die eine Unters<strong>ch</strong>eidung trifft und<br />

nur die eine, ni<strong>ch</strong>t die andere Seite der Unters<strong>ch</strong>eidung bezei<strong>ch</strong>net. Damit befindet si<strong>ch</strong> der<br />

Beoba<strong>ch</strong>ter selbst auf der bezei<strong>ch</strong>neten Seite; er kann ni<strong>ch</strong>t mehr die Einheit der Differenz<br />

sehen, die ein höhererstufiger Beoba<strong>ch</strong>ter sehen könnte; ein sol<strong>ch</strong>er, sieht, was ein<br />

Beoba<strong>ch</strong>ter sieht, und zuglei<strong>ch</strong>, was dieser ni<strong>ch</strong>t sieht. Wenn man bedenkt, dass die Einheit<br />

der Differenz zuglei<strong>ch</strong> die Sinnformel darstellt, so ist die Beoba<strong>ch</strong>tung an dem<br />

Übergangsmoment situiert, an dem Sinn autopoietis<strong>ch</strong> entsteht.<br />

Beoba<strong>ch</strong>tung ist selbst ein paradoxaler Prozess. Beoba<strong>ch</strong>tung ist immer die Einheit der<br />

Differenz und die Differenz zuglei<strong>ch</strong>; Beoba<strong>ch</strong>tung ist unters<strong>ch</strong>eiden und bezei<strong>ch</strong>nen bzw.<br />

Beoba<strong>ch</strong>tung und Operation. Genau dieser letzte Differenz ist aber in der Lage, die<br />

Paradoxie aufzulösen, so dass Beoba<strong>ch</strong>tung trotz des paradoxalen Charakters produktiv<br />

werden kann. Man kann Beoba<strong>ch</strong>tung nämli<strong>ch</strong> selbst beoba<strong>ch</strong>ten und erzeugt damit<br />

zunä<strong>ch</strong>st das Paradox der Identität von Identität und Differenz. Die Aporie wird aber<br />

produktiv umgangen, weil diese Beoba<strong>ch</strong>tung ihrerseits einen Unters<strong>ch</strong>ied ma<strong>ch</strong>t, nämli<strong>ch</strong><br />

denen zwis<strong>ch</strong>en Beoba<strong>ch</strong>tung und Operation. Die Beoba<strong>ch</strong>tung ist eine Operation, die als<br />

Operation für si<strong>ch</strong> selbst unbeoba<strong>ch</strong>tbar bleibt. Aber ein anderer Beoba<strong>ch</strong>ter kann diese<br />

Operation beoba<strong>ch</strong>ten. Entweder s<strong>ch</strong>ließt si<strong>ch</strong> an die Beoba<strong>ch</strong>tung eine weitere<br />

Beoba<strong>ch</strong>tungen an, oder aber ein anderer Beoba<strong>ch</strong>ter beoba<strong>ch</strong>tet den Beoba<strong>ch</strong>ter beim<br />

Beoba<strong>ch</strong>ten. Aber au<strong>ch</strong> sol<strong>ch</strong>e Beoba<strong>ch</strong>tungen unterstehen derselben Paradoxie, die nur<br />

dur<strong>ch</strong> weitere Beoba<strong>ch</strong>tungen umgangen werden kann und so ad infinitum. Beoba<strong>ch</strong>ter<br />

dürfen dabei ni<strong>ch</strong>t personal interpretiert werden. Beoba<strong>ch</strong>ter ist jede Instanz, die zu<br />

unters<strong>ch</strong>eiden und zu bezei<strong>ch</strong>nen in der Lage ist.<br />

Jedes soziale System kann Beoba<strong>ch</strong>ter sein, aber au<strong>ch</strong> jede Theorie ist zwangsweise<br />

ein Beoba<strong>ch</strong>ter. Und die <strong>Systemtheorie</strong> ist eine Theorie, die ni<strong>ch</strong>t etwas beoba<strong>ch</strong>tet,<br />

sondern beoba<strong>ch</strong>tet, wie beoba<strong>ch</strong>tet wird und insbesondere au<strong>ch</strong>, wie sie selbst<br />

beoba<strong>ch</strong>tet. Die Autoreflexierung der <strong>Systemtheorie</strong> wird dur<strong>ch</strong> die Ausarbeitung des<br />

Beoba<strong>ch</strong>tertheorems ni<strong>ch</strong>t nur begleitet, sondern vorangetrieben.<br />

Die beiden anderen Übernahmen von Theorieelementen aus dem Konstruktivismus hängen<br />

unmittelbar damit zusammen und verdi<strong>ch</strong>ten si<strong>ch</strong> im Begriff der Form. Von Spencer Brown<br />

übernimmt Luhmann die Idee, dass eine Unters<strong>ch</strong>eidung ni<strong>ch</strong>t nur eine Differenz erzeugt,<br />

sondern dass diese Differenz immer au<strong>ch</strong> als Form interpretiert werden kann. Form ist<br />

Unters<strong>ch</strong>eidung. Sie wiederholt damit die Paradoxie, die s<strong>ch</strong>on in der Beoba<strong>ch</strong>tung mit der<br />

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Differenz von Beoba<strong>ch</strong>tung und Operation gegeben war. Si<strong>ch</strong>tbar wird diese Paradoxie,<br />

wenn man dana<strong>ch</strong> fragt, wel<strong>ch</strong>e Form denn die Form hat. Entspre<strong>ch</strong>end der Beoba<strong>ch</strong>tung,<br />

die die eine Seite, die andere aber ni<strong>ch</strong>t bezei<strong>ch</strong>net, hat die Form zwei Seiten, eine<br />

Innenseite und eine Außenseite. Form entsteht dur<strong>ch</strong> Beoba<strong>ch</strong>tung: die Innenseite ist<br />

die bezei<strong>ch</strong>nete Seite.<br />

Dieser Formbegriff erfährt eine weitere theoretis<strong>ch</strong>e Untermauerung dur<strong>ch</strong> die Differenz von<br />

Medium und Form, mit der Luhmann gerade in späteren Arbeiten insbesondere au<strong>ch</strong><br />

Phänomene der Autopoiesis von Sinnsystemen behandelt. Medium und Form sind differente,<br />

aber zuglei<strong>ch</strong> relationale Begriffe: Wenn x eine Form von y ist, ist y ein Medium für x. Mithilfe<br />

diese Differenz wird es mögli<strong>ch</strong>, die bereits mehrfa<strong>ch</strong> benannte Paradoxie auf dem hö<strong>ch</strong>sten<br />

Abstraktionsniveau prozessual umzulegen.<br />

Medium und Form unters<strong>ch</strong>eiden si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t substantiell; das Medium setzt eine Menge von<br />

von Elementen voraus, die lose gekoppelt sind; die Form wiederum stellt ledigli<strong>ch</strong> eine<br />

rigidere Kopplung von Elementen vor. Man kann si<strong>ch</strong> dies als eine Spur im Sand denken:<br />

Untergrund (Medium) und Spur (Form) selbst bestehen aus Sand (Medium), und dieser ist<br />

wiederum nur eine Menge von kleineren Elementen. Deshalb kann man mit dieser Differenz<br />

zuglei<strong>ch</strong> eine Differenz und insbesondere die Einheit eben dieser Differenz bezei<strong>ch</strong>nen, also<br />

wiederum in eine Differenz einordnen. Damit bietet die Medium/Form-Differenz die<br />

Mögli<strong>ch</strong>keit Sinn selbst greifbar zu ma<strong>ch</strong>en. Wo Sinn als Medium bezei<strong>ch</strong>net wird, kann<br />

dieser Medienbegriff mit der Medium/Form-Differenz überlagert werden. Sinn ist Medium<br />

und Form und au<strong>ch</strong> in dieser Hinsi<strong>ch</strong>ts Einheit der Differenz. No<strong>ch</strong> präziser gesagt: wenn<br />

Sinn die Einheit der Differenz ist, dann kann man diese Einheit der Differenz dur<strong>ch</strong> eben jene<br />

Einheit bezei<strong>ch</strong>nen, die die Einheit von Medium und Form ist.<br />

Strukturelle Kopplung<br />

Wenn Gesells<strong>ch</strong>aft keine kommunikative Umwelt mehr besitzt, dann muss sie eine<br />

kategorial andere Umwelt besitzen. Auf der Basis des Autopoiesiskonzepts und des<br />

Sinnbegriffs lässt si<strong>ch</strong> eine Differenz beoba<strong>ch</strong>ten, die ni<strong>ch</strong>t allein als System/Umwelt,<br />

sondern als we<strong>ch</strong>selseitige Systemdifferenz zu verstehen ist. Luhmann selbst hat diese<br />

Differenz als Differenz von sozialen und psy<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>en Systemen begriffli<strong>ch</strong> gefasst und dafür<br />

au<strong>ch</strong> die Begriffe „Bewusstsein“ und „Kommunikation“ verwendet. Ausgangsfrage ist: Warum<br />

wird aber Sinn überhaupt prozessiert? Oder anders: Warum gibt es überhaupt soziale<br />

Systeme? Das ist eine der letzten Grundsatzfragen der <strong>Systemtheorie</strong>. Die Antwort lautet:<br />

Weil das soziale System an si<strong>ch</strong> mit einem kategorial anderen System in seiner Umwelt<br />

strukturell gekoppelt ist, das die Voraussetzungen für die strukturelle Kopplung bietet.<br />

“Strukturelle Kopplung“ ist der Name dafür, das Bewusstsein und Kommunikation<br />

we<strong>ch</strong>selseitig füreinander konstitutive Umwelt sind.<br />

Die strukturelle Kopplung ist auss<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> mögli<strong>ch</strong> zwis<strong>ch</strong>en Systemen (ni<strong>ch</strong>t zwis<strong>ch</strong>en<br />

Entitäten, Gegenständen, Zuständen oder Phänomenen als sol<strong>ch</strong>en) Strukturell gekoppelt<br />

sind Systeme, die si<strong>ch</strong> selbst prozessieren, also Systeme, die si<strong>ch</strong> in der Zeit vollziehen<br />

und daher ereignisbasiert sind. Es handelt si<strong>ch</strong> zudem um Systeme, die si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> selbst<br />

reproduzieren und somit in diesem Selbstvollzug operativ ges<strong>ch</strong>lossen sind, somit<br />

übers<strong>ch</strong>neidungsfrei operieren, also autopoietis<strong>ch</strong>e Systeme respektive Sinnsysteme sind.<br />

Strukturell gekoppelt sind Systeme, die - im Grunde genommen eine tautologis<strong>ch</strong> der<br />

Formulierung - die Prozessualisierung des anderen Systems unabdingbar für ihre eigene<br />

Prozessualisierung voraussetzen. In diesem Sinne präzisiert und radikalisiert das Konzept<br />

der strukturellen Kopplung den Begriff der Interpenetration. Wo diese definiert wird als<br />

Inanspru<strong>ch</strong>nahme fremder Komplexität zum Aufbau eigener Komplexität in einem System,<br />

zeigt dieses Konzept der strukturellen Kopplung, dass die Inanspru<strong>ch</strong>nahme selbst<br />

wiederum prozessual vonstatten gehen muss. Strukturell gekoppelt sind Systeme, die<br />

si<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> eine we<strong>ch</strong>selseitige Ko-Produktion von Ereignissen auszei<strong>ch</strong>nen. So<br />

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werden in einem System Ereignisse so produziert, dass diese im anderen System wiederum<br />

jeweils systemspezifis<strong>ch</strong> ko-produziert werden. Strukturelle Kopplung ist, wo sie auftritt,<br />

notwendig und konstitutiv. Strukturell gekoppelt zu sein ist keine akzidentielle, sondern eine<br />

substantielle Systemeigens<strong>ch</strong>aft, eine conditio sine qua non.<br />

Für die strukturelle Kopplung bekommen nur zwei Systeme infrage: psy<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e und soziale<br />

Systeme, da sie allein paradigmatis<strong>ch</strong> Autopoiesis konstituieren und realisieren können.<br />

Strukturell gekoppelte Systeme sind we<strong>ch</strong>selseitig aufeinander angewiesen: „Ohne<br />

Bewusstsein keine Kommunikation und ohne Kommunikation kein Bewusstsein.“ (Die<br />

Wissens<strong>ch</strong>aft der Gesells<strong>ch</strong>aft, S. 38) Das lässt den S<strong>ch</strong>luss zu:<br />

Bewusstsein und Kommunikation stellen eine ausgezei<strong>ch</strong>nete strukturelle Kopplung<br />

dar, sie sind notwendig, unabdingbar und konstitutiv miteinander strukturell<br />

gekoppelt.<br />

Im Aufbau der <strong>Systemtheorie</strong> ist Bewusstsein immer der Basiskategorie der Kommunikation<br />

systematis<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong>geordnet, was au<strong>ch</strong> ihre soziologis<strong>ch</strong>en Ausri<strong>ch</strong>tung auf soziale Systeme<br />

entspri<strong>ch</strong>t und so gesehen, tritt Bewusstsein erst ins Blickfeld, wenn man si<strong>ch</strong> fragt: „Wie ist<br />

Bewusstsein an Kommunikation beteiligt?“ Diese Frage lässt si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> genau andersherum<br />

stellen, und jedes Mal muss die Antwort lauten, dass das andere System in der strukturellen<br />

Kopplungs Impulse liefert, ohne die die Selbstreproduktion des einen Systems zum Erliegen<br />

käme. Als Metapher könnte man si<strong>ch</strong> das Ticken zweier nebeneinanderstehender Uhren<br />

vorstellen, von denen jeder so ausgestattet ist, dass sie nur selber tickt, wenn sie über einen<br />

Sensor das Ticken der jeweils anderen Uhr wahrnimmt.<br />

Bewusstsein hat die Funktion, Kommunikation irritieren, anregen oder au<strong>ch</strong> bestätigen zu<br />

können - und zu müssen! Peter Fu<strong>ch</strong>s hat die entgegengesetzte Blickri<strong>ch</strong>tung gewählt,<br />

er führt Kommunikation über das Bewusstsein ein.<br />

Er startet dabei mit dem Basistheorem von der Intransparenz des Bewusstseins. An die<br />

Seite der These von der Unerrei<strong>ch</strong>barkeit der Gesells<strong>ch</strong>aft stellt er die Unerrei<strong>ch</strong>barkeit<br />

des Bewusstseins und verweist damit auf die Symmetrie in der Differenz von<br />

Kommunikation und Bewusstsein (Peter Fu<strong>ch</strong>s Die Errei<strong>ch</strong>barkeit der Gesells<strong>ch</strong>aft).<br />

Bewusstsein kann weder ein anderes Bewusstsein errei<strong>ch</strong>en, no<strong>ch</strong> kann es, aufgrund seiner<br />

Systemeigens<strong>ch</strong>aften im Rahmen dieser Konzeptualisierung, irgend ein anderes System<br />

errei<strong>ch</strong>en, natürli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> Kommunikation ni<strong>ch</strong>t. Das gilt au<strong>ch</strong> vicee versa. Beide Systeme<br />

operieren völlig übers<strong>ch</strong>neidungsfrei. Diese fehlende Übers<strong>ch</strong>neidung ist das<br />

katalysatoris<strong>ch</strong>e Initialmoment für die Emergenz und Konstitution von<br />

Kommunikation:<br />

„Die Intransparenz eines Bewusstseins für ein anderes (die Undur<strong>ch</strong>si<strong>ch</strong>tigkeit der<br />

S<strong>ch</strong>ädelkalotten, die vollkommene Ges<strong>ch</strong>lossenheit psy<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Systeme) ist das<br />

katalytis<strong>ch</strong>e Problem, an dem Kommunikation ihre Form gewinnt: als Rekonstitution der<br />

Unters<strong>ch</strong>eidung von Kommunikation und Bewusstsein in Kommunikationen mithilfe der<br />

Selektionstriade Information, Mitteilung, Verstehen.“(Peter Fu<strong>ch</strong>s Moderne Kommunikation,<br />

S.135)<br />

(Die Emergenz von) Kommunikation ist also ni<strong>ch</strong>ts anderes als eine aus der<br />

Intransparenz des Bewusstseins resultierende Lückenkonfiguration. Bewusstsein<br />

gewinnt seine post-hoc-Identität dur<strong>ch</strong> Differenz zur kommunikativen Umwelt glei<strong>ch</strong>zeitig mit<br />

der Kommunikation, die ihre post-hoc-Identität dur<strong>ch</strong> Differenz zur bewussten Umwelt<br />

glei<strong>ch</strong>zeitig mit dem Bewusstsein gewinnt.<br />

Die Differenz von Bewusstsein und Kommunikation ist ni<strong>ch</strong>t nur eine Konkretisierung der<br />

System/Umwelt- Differenz, die wiederum die Differenz von Identität und Differenz<br />

exemplifiziert; es verhält si<strong>ch</strong> vielmehr - und das ist die Pointe - genau umgekehrt.<br />

Wel<strong>ch</strong>e Systeme sind denn überhaupt in der Lage, zwis<strong>ch</strong>en System und Umwelt und mithin<br />

11


zwis<strong>ch</strong>en Identität und Differenz zu differenzieren? Diese Fähigkeit setzt konstitutive<br />

Charakteristika voraus, die konstitutiv nur Bewusstsein einerseits und Kommunikation<br />

andererseits zukommen. Sie erzeugen Identität und Differenz von System und Umwelt,<br />

in dem sie si<strong>ch</strong> in struktureller Kopplung we<strong>ch</strong>selseitig differenzieren. Ihren<br />

Systemstatus gewinnen sie erst auf der Basis dieser Differenzierungsleistung. An diesem<br />

Punkt wird die Differenz von Bewusstsein und Kommunikation s<strong>ch</strong>lagartig zum<br />

Fundament der <strong>Systemtheorie</strong>; man könnte sie fast als „Ur-Differenz“ der <strong>Systemtheorie</strong><br />

ansehen. Mit der Differenz von Bewusstsein und Kommunikation kommt die <strong>Systemtheorie</strong><br />

überhaupt erst eigentli<strong>ch</strong> zu si<strong>ch</strong>; sie ist die Startdifferenz von <strong>Systemtheorie</strong> insofern, als die<br />

<strong>Systemtheorie</strong> dieser Differenz als Startdifferenz jegli<strong>ch</strong>er Theoriebildung, jegli<strong>ch</strong>er<br />

Bewusstseins und Kommunikationsprozesse ansetzen muss.<br />

Wenn man diese Umstellung der Begründungsstruktur mitma<strong>ch</strong>t und die strukturelle<br />

Kopplung als Basisdifferenz begreift, wird es mögli<strong>ch</strong>, den Medien- und Sinnbegriff neu<br />

zu konzeptualisieren. Beide Begriffe haben in der konstruktivistis<strong>ch</strong>en Wende der<br />

<strong>Systemtheorie</strong> den problematis<strong>ch</strong>en Charakter von Letztbegriffen angenommen, die ni<strong>ch</strong>t<br />

mehr hintergehbar und ni<strong>ch</strong>t mehr negierbar sind, „Sinn“ ist die Antwort auf die Frage, wie es<br />

überhaupt zur strukturellen Kopplung kommt, obs<strong>ch</strong>on beide Systeme übers<strong>ch</strong>neidungsfrei<br />

operieren, denn er ermögli<strong>ch</strong>t systemtranszendent die Koproduktion von systemspezifis<strong>ch</strong>en<br />

Ereignissen. Bei Luhmann heißt es: “Das allgemeinste Medium, das psy<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e und<br />

soziale Systeme ermögli<strong>ch</strong>t und für sie unhintergehbar ist, kann mit dem Begriff<br />

"Sinn“bezei<strong>ch</strong>net werden.“ (Die Kunst der Gesells<strong>ch</strong>aft, S. 173)<br />

Man kann deswegen eine zumindest imaginäre oder virtuelle dritte Position annehmen,<br />

die die Ereignisse hier wie dort vermittelt und aufeinander beziehbar ma<strong>ch</strong>t. Diese<br />

Position nenne i<strong>ch</strong> "Medium“, das damit die strukturelle Kopplung von Bewusstsein und<br />

Kommunikation leistet.<br />

Auf dieser Basis lässt si<strong>ch</strong> das Medium wiederum mit Sinn identifizieren, da Sinn das<br />

notwendige Korrelat der operativen S<strong>ch</strong>ließung darstellt. Sinn ist die Einheit der<br />

Differenz und die „ Differenz der Einheit von Bewusstsein und Kommunikation“;<br />

Sinn ist somit das Supermedium für beide Systemtypen. Nur mithilfe von Sinn können die<br />

sinnkonstituierenden Systeme Bewusstsein und Kommunikation ein re-entry vollziehen und<br />

in si<strong>ch</strong> selbst zwis<strong>ch</strong>en si<strong>ch</strong> und dem anderen System, also zwis<strong>ch</strong>en Selbst- und<br />

Fremdreferenz unters<strong>ch</strong>eiden und somit überhaupt erst die strukturelle Kopplung vollziehen.<br />

Dieser Medienbegriff ist an die Medium/Form-Differenz direkt ans<strong>ch</strong>liessbar. Strukturelle<br />

Kopplung ist systemsspezifis<strong>ch</strong>e Formbildung im Medium Sinn. Wenn man also<br />

strukturelle Kopplung beoba<strong>ch</strong>tet, so beoba<strong>ch</strong>tet man die Konstitution von Sinn als Form im<br />

Medium Sinn. Sinn ist somit sowohl Medium als au<strong>ch</strong> Form, Ausgangspunkt und Produkt<br />

struktureller Kopplung.<br />

Sinn ist Medium insofern, als es Formbildungen in einem System erlaubt und erzwingt, die<br />

dur<strong>ch</strong> das Prozessieren des anderen Systems ausgelöst wurden. Medien leisten die<br />

strukturelle Kopplung so, dass Sinn aus struktureller Kopplung und aus dieser<br />

wiederum Sinn hervorgeht. Im Mediums Sinn ers<strong>ch</strong>eint ein direkter Zugriff von<br />

Kommunikation auf Bewusstsein und umgekehrt mögli<strong>ch</strong>. Jedes der beiden Systeme aber<br />

greift rekursiv, angestoßen dur<strong>ch</strong> das andere, nur auf si<strong>ch</strong> selbst zu, prozessiert und<br />

reproduziert nur si<strong>ch</strong> selbst.<br />

Da aber beide Systeme die Differenz zwis<strong>ch</strong>en Kommunikation und Bewusstsein, in der sie<br />

stehen, über eine Re-entry Figur intern no<strong>ch</strong> einmal reproduzieren und an diesem re-entry<br />

die eigene Selbstproduktion katalysatoris<strong>ch</strong> initiieren, ers<strong>ch</strong>eint das eine System dem<br />

anderen jeweils als Medium. Kommunikation ist so Medium für Bewusstsein, Bewusstsein<br />

Medium für Kommunikation.<br />

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Autoreflexierung der Theorie, <strong>Systemtheorie</strong> und Dekonstruktion als Supertheorien<br />

Die Autoreflexierung geht darauf zurück, dass die <strong>Systemtheorie</strong> zuglei<strong>ch</strong> ihr eigener<br />

Gegenstand sein muss, weil die <strong>Systemtheorie</strong> das vollzieht, wovon sie spri<strong>ch</strong>t, sei es<br />

Gesells<strong>ch</strong>aft, sei es Bewusstsein oder überhaupt strukturelle Koppelung. Die spätere<br />

<strong>Systemtheorie</strong> begnügt si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t damit, dieses Faktum als paradoxales Problem ihrer<br />

eigenen Erkenntnis bewusst zu halten, immer wird dieses Problem selbst zum Problem der<br />

Theorie. Damit ist eine Tendenz vorgezei<strong>ch</strong>net, die die <strong>Systemtheorie</strong> selbst zum<br />

vorherrs<strong>ch</strong>enden Gegenstand der <strong>Systemtheorie</strong> werden ließ.<br />

Diese Tendenz war ni<strong>ch</strong>t nur implizit angelegt, sondern wurde au<strong>ch</strong> im<br />

Universalitätsanspru<strong>ch</strong> explizit ausgespro<strong>ch</strong>en. Die <strong>Systemtheorie</strong> hat si<strong>ch</strong> seit ihrer<br />

methodologis<strong>ch</strong>en Grundlegung als Supertheorie verstanden (vgl. Soziale Systeme,<br />

S.19ff.). Der Universalitätsanspru<strong>ch</strong> einer Theorie wie der <strong>Systemtheorie</strong> besteht darin, dass<br />

sie die Welt, also all das, was potentiell ihren gesamten Gegenstandsberei<strong>ch</strong> ausma<strong>ch</strong>en<br />

könnte, mit ihren Beoba<strong>ch</strong>tungs Instrumenten abdecken kann. Der Universalitätsanspru<strong>ch</strong><br />

von Supertheorien wird erst dort theoretis<strong>ch</strong> relevant, wo im universalen Ausgriff der Theorie<br />

sie selbst in ihren eigenen Fokus gerät, wo die Theorie also autoreflexiv wird. Das trifft auf<br />

die <strong>Systemtheorie</strong> in mehrfa<strong>ch</strong>er Hinsi<strong>ch</strong>t zu. Als Theorie ist sie erstens ein System,<br />

zweitens vollzieht sie Kommunikation, und drittens ist sie s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> ein Beoba<strong>ch</strong>ter.<br />

Damit bekommen Supertheorien wie die <strong>Systemtheorie</strong> eine paradoxale Struktur, die si<strong>ch</strong> als<br />

Selbstbegründungsproblem auswirkt. Wenn Supertheorien zuglei<strong>ch</strong> Theorie und Gegenstand<br />

sind, stellt si<strong>ch</strong> die Frage, wo dann das Fundament ihrer Selbst-)Begründung liegt?<br />

Begründung und Begründendes fallen wie Theorie und Gegenstands zusammen.<br />

Die <strong>Systemtheorie</strong> befindet si<strong>ch</strong> in der klassis<strong>ch</strong> paradoxalen Situation der<br />

Selbstbeoba<strong>ch</strong>tung. Wie für jede Beoba<strong>ch</strong>tung müsste daher für die <strong>Systemtheorie</strong> ein<br />

blinder Fleck konstitutiv sein; wie es für die systemtheoretis<strong>ch</strong>e Auffassung dieses Theorems<br />

<strong>ch</strong>arakteristis<strong>ch</strong> ist, müsste si<strong>ch</strong> aber dieses Paradox ebenso prozessual umlegen lassen.<br />

D.h.: <strong>Systemtheorie</strong> begründet si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t im Rekurs auf irgendwel<strong>ch</strong>e metaphysis<strong>ch</strong>en<br />

Wahrheiten, sie begründet si<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> ihren eigenen Vollzug; sie s<strong>ch</strong>öpft ihre<br />

Legitimation aus ihrer Praxis und erweist si<strong>ch</strong> eben gerade dadur<strong>ch</strong> als das,<br />

was sie ist: ein prozessierendes kommunikatives, beoba<strong>ch</strong>tendes Sinnsystem. Die<br />

konstruktivistis<strong>ch</strong>e Wende hat in der <strong>Systemtheorie</strong> gerade das Beoba<strong>ch</strong>tertheorem in den<br />

Vordergrund gerückt: Sie hat si<strong>ch</strong> selbst als Beoba<strong>ch</strong>ter entworfen und damit ihr eigenes<br />

Beoba<strong>ch</strong>terparadox eingeholt, d.h.: sie hat si<strong>ch</strong> selbst eingeholt.<br />

Damit wird die <strong>Systemtheorie</strong> mit der Dekonstruktion von Jacques Derrida verglei<strong>ch</strong>bar.<br />

Au<strong>ch</strong> die Dekonstruktion kann als Supertheorie beoba<strong>ch</strong>tet werden, obs<strong>ch</strong>on oder besser:<br />

gerade weil sie si<strong>ch</strong> selbst weigert, si<strong>ch</strong> als Theorie anzuerkennen. Wo die Dekonstruktion<br />

über Zei<strong>ch</strong>enordnungen und ihre differentielle Auflösung spri<strong>ch</strong>t, kommt sie<br />

zwangsweise als eigene Zei<strong>ch</strong>enordnung in den Blick. Die Folge davon ist, dass die<br />

Dekonstruktion in aller erster Linie von dem betroffen ist, was sie aussagt. Da na<strong>ch</strong><br />

dekonstruktivistis<strong>ch</strong>er Auffassung Zei<strong>ch</strong>enordnungen ni<strong>ch</strong>t stabilisierbar sind, ist sie selbst<br />

als Theorie hinfällig. Deswegen versteht sie si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> als Praxis, die immer wieder neu<br />

ansetzt, indem sie Zei<strong>ch</strong>enordnungen rekonstruiert (konstruktiver Aspekt) und zuglei<strong>ch</strong> diese<br />

in ihrer Auflösung zeigt (destruktiver Aspekt).<br />

<strong>Systemtheorie</strong> und Dekonstruktion sind, strukturell gesehen, mit dem selben Phänomen<br />

konfrontiert, nämli<strong>ch</strong> mit dem der Differentialität. Beide Theorien verabs<strong>ch</strong>ieden die<br />

metaphysis<strong>ch</strong>e Vorstellung, dass Theorien, ja dass das Denken überhaupt auf ein<br />

uners<strong>ch</strong>ütterli<strong>ch</strong>es Fundament, wie es no<strong>ch</strong> Descartes vors<strong>ch</strong>webte, gestellt werden könnte.<br />

Beide Theorien sind Differenztheorien; au<strong>ch</strong> für die Dekonstruktion gilt, was Luhmann für<br />

die <strong>Systemtheorie</strong> - und somit für das Denken selbst - konstatiert: „Am Anfang steht also<br />

ni<strong>ch</strong>t Identität, sondern Differenz.“ (Soziale Systeme, S.112).<br />

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Diese ursprüngli<strong>ch</strong>e Differenz ist als Identität ni<strong>ch</strong>t mehr einzuholen und zeugt si<strong>ch</strong> in den<br />

Zei<strong>ch</strong>enordnungen, Kommunikationen und Bewusstseinsvorgängen prozessual als<br />

Differentialität fort.<br />

„Differentialität“ meint, dass erstens ni<strong>ch</strong>ts dur<strong>ch</strong> die Identität mit si<strong>ch</strong> selbst ist, sondern<br />

Identität immer nur aus der Differenz zum anderen entsteht, das aber zweitens die Differenz<br />

ni<strong>ch</strong>t irgendwann an ein Ende kommt, sondern potentiell unendli<strong>ch</strong> ist. Das Phänomen der<br />

Differentialittät stellt somit eine doppelte Provokation für Supertheorien dar: zum einen<br />

deshalb, weil sie si<strong>ch</strong> dem identifikatoris<strong>ch</strong>en Zugriff der Theorie verweigert, zum anderen,<br />

weil an der Differentialit offenbar wird, dass die Theorie eben genau demselben Prinzip<br />

unterliegt.<br />

<strong>Systemtheorie</strong> und Dekonstruktion haben nun symptomatis<strong>ch</strong> unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Verfahren<br />

entwickelt, mit dem Phänomen zure<strong>ch</strong>tzukommen. Deswegen ist der Verglei<strong>ch</strong> zwis<strong>ch</strong>en<br />

beiden Supertheorien für beide Theorien äußerst aufs<strong>ch</strong>lussrei<strong>ch</strong>. Da die Dekonstruktion<br />

kein Instrumentarium entwickelt hat, um aufgrund der Differentialit die Hinfälligkeit der<br />

Zei<strong>ch</strong>enordnungen selbst no<strong>ch</strong> einmal in eine Zei<strong>ch</strong>enordnung zu bannen, ergibt si<strong>ch</strong> aus ihr<br />

eine final- aporetis<strong>ch</strong>e Tendenz ihrer Theorieentwicklung. Dekonstruktion tendiert zur<br />

Selbstaufhebung, ihr Weg führt in eine theoretis<strong>ch</strong>e Sackgasse, der si<strong>ch</strong> die Dekonstruktion<br />

sehr wohl bewusst ist. Wo sie si<strong>ch</strong> überhaupt no<strong>ch</strong> vollzieht, vollzieht sie si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t als das,<br />

was sie angetreten ist, nämli<strong>ch</strong> als Theorie, sondern eben nur als deren Negation bzw. als<br />

deren Dekonstruktion, also als Praxis oder als Spiel. Dekonstruktion ist immer au<strong>ch</strong> Auto-<br />

Dekonstruktion.<br />

Genau diese Selbstaufhebungstendenz besitzt die <strong>Systemtheorie</strong> ni<strong>ch</strong>t. Da die Beoba<strong>ch</strong>tung<br />

der Beoba<strong>ch</strong>tung (die Beoba<strong>ch</strong>tung zweiter Ordnung), aus der Differentialittät heraus<br />

erwa<strong>ch</strong>sen, immer no<strong>ch</strong> Beoba<strong>ch</strong>tung ist, kann si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> die Selbstbeoba<strong>ch</strong>tung der Theorie<br />

immer no<strong>ch</strong> als Theorie vollziehen. Im Gegensatz zur Dekonstruktion kann die<br />

<strong>Systemtheorie</strong> ihren Theorieanspru<strong>ch</strong> und Wissens<strong>ch</strong>afts<strong>ch</strong>arakter beibehalten, au<strong>ch</strong><br />

na<strong>ch</strong>dem sie den Dur<strong>ch</strong>gang dur<strong>ch</strong> die Autoreflexierung gegangen ist. Ja, mehr no<strong>ch</strong>:<br />

<strong>Systemtheorie</strong> kann dort zur Supertheorie werden, wo sie si<strong>ch</strong> als Supertheorie ins<br />

Verhältnis gerade mit der Dekonstruktion einlässt. Die Differenz zwis<strong>ch</strong>en <strong>Systemtheorie</strong> und<br />

Dekonstruktion wird aber systemtheoretis<strong>ch</strong> konzeptualisiert. Wenn man so will: bei diesem<br />

Verglei<strong>ch</strong> fungiert die <strong>Systemtheorie</strong> als Einheit der Differenz von <strong>Systemtheorie</strong> und<br />

Dekonstruktion.<br />

Es nimmt daher ni<strong>ch</strong>t wunder, dass jenes Instrument, mit der die <strong>Systemtheorie</strong> dieser<br />

Entparadoxierung bewerkstelligt dasselbe ist, mit dem sie die Dekonstruktion rekonstruiert:<br />

das Beoba<strong>ch</strong>tertheorem.<br />

Für die <strong>Systemtheorie</strong> selbst hat die Autoreflexierung einen unbestreitbaren Wert: sie si<strong>ch</strong>ert<br />

ihr weiterprozessieren als Theorie. Zugegebenermaßen sind die soziologis<strong>ch</strong>en<br />

Rekonzeptualisierungen in den Hintergrund getreten (und dies selbst im letzten großen, von<br />

Luhmann publizierten Werk Die Gesells<strong>ch</strong>aft der Gesells<strong>ch</strong>aft). Denn au<strong>ch</strong> hier geht es ni<strong>ch</strong>t<br />

um die empiris<strong>ch</strong>e Gesells<strong>ch</strong>aft, sondern darum, wie Gesells<strong>ch</strong>aft als sozialer Letzthorizont<br />

no<strong>ch</strong> einmal in der Gesells<strong>ch</strong>aft ers<strong>ch</strong>einen kann. <strong>Systemtheorie</strong> konzipiert damit die<br />

Gesells<strong>ch</strong>aft in die Gesells<strong>ch</strong>aft hinein. Daher vollzieht die <strong>Systemtheorie</strong> an der<br />

Gesells<strong>ch</strong>aft das, was ihrem eigenen Vollzug zugrundeliegt: Autoreflexierung, die aber ni<strong>ch</strong>t<br />

in die Aporie der Paradoxie, sondern in den si<strong>ch</strong> selbst vollziehenden Prozess dur<strong>ch</strong><br />

Entparadoxierung mündet.<br />

Deswegen ist die <strong>Systemtheorie</strong> heute zum Paradigma von Theorie selbst geworden:<br />

Theorie als exemplaris<strong>ch</strong>e und paradigmatis<strong>ch</strong>e Kommunikation, als Prozessieren von<br />

Sinn, als Beoba<strong>ch</strong>tung. Und somit wird <strong>Systemtheorie</strong> zum Paradigma für das Denken<br />

s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>thin, also für die Fähigkeit des Mens<strong>ch</strong>en (ni<strong>ch</strong>t der Kommunikation!), si<strong>ch</strong><br />

überhaupt denkend auf die Welt einzulassen, besser gesagt: Welt zu entwerfen, zu<br />

organisieren und zu gestalten.<br />

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