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DDR Book neu

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Der Autor ist Germanist, Künstler und Übersetzer und lehrt deutsche Literatur am Dipartimento di

lingue (Stiftung SCM) in Mailand.

p.kroker@scuolecivichemilano.it

http://paulkroker.jimdo.com

http://beatrizszonell.jimdo.com


Paul Kroker

Vorwärts

und nicht vergessen

Ein halbes Jahrhundert Literatur der DDR

Eine Einführung


Copyright © Paul Kroker 2009

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentl. Vortrags, der

Übertragung durch Massenmedien und Übersetzung (auch teilweise).

Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form ohne schriftliche

Genehmigung des Autors reproduziert, verarbeitet, vervielfältigt oder

verbreitet werden.

Umschlagfoto: der Autor

Druck & Verlag: lulu.com

ISBN: 5 800032 387927 (Taschenbuchausgabe)


Inhaltsverzeichnis

VORWORT ZU EINEM NACHRUF 9

LITERATUR DER ETWAS ANDEREN ART 16

AUFERSTANDEN AUS RUINEN 22

Anna Seghers, Der Ausflug der toten Mädchen 26

Peter Huchel, Chausseen 29

DEM SOZIALISTISCHEN REALISMUS ZUM TROTZ 31

Volker Braun, Hinze-Kunze-Roman 34

Franz Fühmann, Das Judenauto 39

Uwe Johnson, Mutmassungen über Jakob 42

Bertolt Brecht, Vergnügungen 48

Günter Kunert, Über einige Davongekommene 50

HINTER DER MAUER – "IN DIESEM BESSEREN LAND" 52

Johannes Bobrowski, Mäusefest 56

Christa Wolf, Selbstinterview 62

Reiner Kunze, Ethik 64

Wolf Biermann, Rücksichtslose Schimpferei 65

Sarah Kirsch, Ich wollte meinen König töten 68

ZUCKERBROT, PEITSCHE UND DAS ANDERE 69

Ulrich Plenzdorf, Die neuen Leiden des jungen W. 73

Heiner Müller, Nachtstück 76

Reiner Kunze, Mitschüler 79

Helga Königsdorf, Bolero 81

Christoph Hein, Der fremde Freund 83

Christa Wolf, Kindheitsmuster 85

Christa Wolf, Kein Ort. Nirgends 89

Exkurs: Wolfgang Hilbig 92

Heiner Müller, Der Findling (nach Kleist) 101

Volker Braun, Die Industrie 102

Elke Erb, Widerspiegelung 103

Uwe Kolbe, S-Bahn-Fahren für dich 104

Bert Papenfuß-Gorek, reißaus 105

DER KAISER IST NACKT 107

VON WINDUNGEN UND WENDUNGEN 111

Volker Braun, Das Eigentum 112

Heiner Müller, Selbstkritik 115

Exkurs: Thomas Brussig, Helden wie wir 123

Exkurs: Manfred Jendryschik, Die Reise des Jona 134

AUSWAHLBIBLIOGRAPHIE 147

PERSONENVERZEICHNIS 149

QUELLENVERZEICHNIS DER TEXTE 155



Vorwort zu einem Nachruf

“Osten, Planwirtschaft, kommunistische Zentralverwaltung, Abschaffung

des Kapitalismus, keine Klassenunterschiede, sehr freundliche Leute, viele

neue Theater und Konzerthallen, gute Sportler, große Frauenemanzipation,

Spaltung, Zonengrenze, Unfreiheit, Zensur, Ausbürgerung, Armut,

Rückständigkeit, schlechtes Essen in Jugendherbergen” und auch "Dreck in

den schönen, aber schmutzigen Städten" – so präsentierte sich die DDR hier in

Italien und nicht nur unter meinen italienischen Studentinnen vor dem Umsturz

im Herbst 1989, als ich ein kleines Buch über vier Jahrzehnte Literatur in der

DDR für Deutschlehrende und -lernende herauszugeben im Begriff war und von

den Ereignissen überrascht wurde. Ja, wir wurden alle, im Westen wie im

Osten, überrascht von der Rapidität der Vorgänge. Ich erinnere mich noch, wie

ich nach einer Aufführung im Berliner Ensemble am Abend des 7. November

1989 mit Gert Poppe von der Initiative Frieden und Menschenrechte – einem

späteren Minister ohne Geschäftsbereich in der ersten frei gewählten

Regierung – über Möglichkeiten einer intensiveren Unterstützung der

oppositionellen Gruppen in der DDR nachdachte. Achtundvierzig Stunden

später war die Mauer offen.

Doch lassen wir uns nicht täuschen, was den tatsächlichen

Kenntnisstand über die DDR im Ausland betraf: Die nun Tote war immer eine

terra incognita, man wusste wenig über sie, ja man dachte nicht einmal an sie.

Beim Wort "deutsch" wurde in Italien zuallererst immer die Bundesrepublik

Deutschland assoziiert, dann Österreich, dann die Schweiz – und dann

vielleicht auch die DDR. Und diese Reihenfolge galt auch für die

deutschsprachige Gegenwartsliteratur im Spiegel der italienischen Presse.

So marginal die Präsenz der DDR-Literatur in Kritik und Rezension war,

so bewundert und gelobt wurde sie, zog man sie dann endlich einmal wirklich in

Betracht. Jedoch erst seit etwa Anfang der achtziger Jahre kann man davon

sprechen, dass sie zu einem literarischen Ereignis in Italien geworden ist.

Exemplarisch dafür stehen Herausgabe und Auseinandersetzung mit dem Werk

9


von Christa Wolf: Zehn Jahre nach der Übersetzung von Nachdenken über

Christa T. wird im Frühjahr 1983 als zweites Buch Der geteilte Himmel

veröffentlicht. Ein Jahr später erscheinen dann Kein Ort. Nirgends, der

Günderrode-Essay und Kassandra samt den Voraussetzungen einer Erzählung.

Nur mit knapper Verzögerung gegenüber den beiden Deutschländern kommt

1987 Störfall heraus; Sommerstück wurde im Herbst 1989 der italienischen

Öffentlichkeit vorgestellt, die Essay-Auswahl Pini e sabbia del Brandeburgo

Anfang 1990. Gleichsam als Kommentar zum erwachten Interesse an DDR-

Literatur las sich die Überschrift eines Interviews mit Heiner Müller im Jahre

1984: "All'Est qualcosa di nuovo" (“Im Osten was Neues”).

Sehr aufmerksam verfolgte schon längere Zeit die italienische

Germanistik die literarischen Entwicklungen in der DDR, deren sich seit Mitte

der sechziger Jahre abzeichnende Veränderungen in Inhalt und Form auf den

Begriff der Entgrenzung (Anna Chiarloni) gebracht werden. Das Aufgreifen

ehemals tabuisierter Themen (wie z. B. Selbstmord oder Mauer) wurde ebenso

herausgestellt wie die Verabschiedung des positiven Helden, seine Ersetzung

durch in sich gebrochene, widersprüchliche Protagonisten sowie die Aufgabe

der traditionellen Handlungs- und Erzähltotalität und der Übergang zu

narrativen Experimenten.

Grenzüberschreitung gehe aber, so wurde weiter konstatiert, einher mit

Anpassung, mit Anpassung und Unterwerfung unter eine gesellschaftliche

Praxis der Entfremdung, unter Zensur und Selbstzensur sowie auch mit der

Verabschiedung von Utopien und Träumen.

Wie DDR-Literatur in Italien von jungen Lesern in den frühen Achtzigern

rezipiert werden konnte, soll im Folgenden beispielhaft anhand einiger

Hausarbeiten seitens Mailänder Studentinnen der Städtischen Dolmetscherund

Übersetzerhochschule zu den beiden Büchern Christa Wolfs Der geteilte

Himmel und Nachdenken über Christa T. verdeutlicht werden.

Die weiblichen Zentralgestalten, Rita Seidel und Christa T., werden

durchweg als zwei Modelle der Selbstverwirklichung gesehen. Ausgehend von

dem Motto Johannes R. Bechers "Was ist das: Dieses Zu-sich-selber-Kommen

des Menschen?", das Nachdenken über Christa T. vorangestellt ist, definiert

Elisabetta P. als "Kernfrage" des literarischen Schaffens der Autorin jene nach

dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft und schreibt:

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In beiden Werken wird die Erkenntnis- und Erfahrungswelt der Frau in der

jungen sozialistischen Gesellschaft geschildert: Die gesellschaftlichen Zustände und

Widersprüche werden auf die individuelle Lebenssphäre zurückbezogen, wobei die

Erzählerin die Möglichkeit hat, diese Individualität durch jene Widersprüche zu erklären

und am Beispiel dieser Subjektivität jene Zustände zu beleuchten. Rita und Christa T.

durchlaufen beide einen Entwicklungsprozess, dessen Ziel die individuelle "Ganzheit"

ihres Lebens... ist – in einer Gesellschaft, die dieses Ganzheitsdenken aus den Augen

zu verlieren scheint.

"Gescheitertes oder erfülltes Leben?" so stellt sich für Laura S. das

Hauptproblem der Rezeption von Nachdenken über Christa T.:

Mit ihrem Tod scheint ihr ganzes Leben sinnlos zu werden. Das

fragmentarische Schreiben, die Ehe, das Haus, das ohne sie seine "Seele" verliert.

Hätte Christa T. ihr Leben als gescheitert bezeichnet? Wohin sollte... ihre große

Hoffnung? Ist sie mit ihr gestorben? Mit diesem Menschen, der nicht glaubt, dass

Hoffnung sterben kann?... Die Leukämie als Lebens-Überproduktion betrachten.

Lebenslust, die zum Tode führt... Sich zu Tode leben. Sich zu Tode suchen.

Selbstmord? Es gibt eine ungeheure Freiheit im Sein, und doch scheint es wie ein

Käfig... Zu sich kommen und gleichzeitig verloren gehen.

Auf die Poetik Christa Wolfs Ende der 60er Jahre kommt Gabriella P. zu

sprechen:

Christa Wolf ist eine Schriftstellerin, die auf den Konflikt zwischen dem

Grundanspruch der marxistischen Persönlichkeits- und Bildungsidee von einem

ganzheitlichen Menschsein und einer sozialistischen Realität im Zusammenhang mit

ihrer Entwicklung zu einer hochkomplexen Industriegesellschaft trifft... C. Wolf hält

dafür, dass die Prosa... als Medium besonders geeignet ist, die Frage nach der Rolle

des Subjekts in der sozialistischen Gesellschaft aufzuwerfen.

Wie dies zu "einer neuen Form von Schreiben" bei Wolf führe, reflektiert

Grazia G.:

Die moderne Prosa übernimmt bewusst die Technik des Eingreifens des Autors

als eine Überwindung der dreidimensionalen Welt... Aufgabe der Prosa ist nicht mehr,

die Realität in der perfekten Erzähleinheit der klassischen Prosa darzustellen, sondern

das Element des Zweifelns an der Realität und dadurch das der Analyse einzuführen...

Dieser Prozess hat zwei Pole: den Schriftsteller und den Leser. Die Prosa muss ein

Instrument sein, um diese beiden Pole in Beziehung zu setzen.

Das zwinge den Leser, so wiederum Elisabetta P.,

den Widerspruch in Christa T. in sich aufzunehmen und zu verarbeiten, wobei

sich neue Widersprüche ergeben, die er immer wieder bewältigen muss... Auf diese

Weise wird die Prosa zum Mittel der Selbstverwirklichung nicht nur für die Autorin,

sondern auch für den Leser. Das Werk selbst ist also als Modell der Identitätsfindung

zu betrachten.

11


Diese Bücher, aus der DDR eben, wurden hier gelesen als Texte, in die

– ausgehend von einem humanistischen Grundanliegen – die Suche nach der

eigenen Identität und der eigene Lebens- und Glücksanspruch hineinverwebt

werden können, als Texte, die Perspektiven aufreißen, Utopien, auch negative,

entwickeln, die es gestatten, mitzuträumen einen poetisch-zarten, aufregendprosaischen,

realistischen Traum vom Unmöglichen, dessen ästhetische

Gestaltung nicht weniger zur Reflexion anregte.

Die Unbedingtheit des Lebens- und Emanzipationsverlangens war vor

zwanzig, dreißig Jahren im Verhältnis zu bestimmten Texten aus der DDR bei

jungen Lesern sicher ein wichtiges identifikationsstiftendes Moment,

insbesondere auch was die Beziehung junger Italienerinnen zu Frauentexten

von dort betrifft. Dabei kommt es natürlich auch zu Überzeichnungen, wenn

zum Beispiel das jugendfrische pro-sozialistische Engagement Rita Seidels aus

dem Geteilten Himmel in Richtung auf einen Heroismus interpretiert wird, an

welchem sich sozialistisch-realistische Dogmatiker wohl erfreut hätten. Oder

aber, wenn es im Anschluss an die Beschäftigung mit DDR-Frauenliteratur in

einer Diskussion heißt:

Elena: Ich denke, dass die Frauen in der DDR klüger sind

als die in Italien... Die Feministinnen in Italien

können sagen, was sie wollen, aber sie sind meiner

Meinung nach doof: Die wollen wie die Männer sein,

was nicht möglich ist. Die Frauen in der DDR sagen:

'Wir wollen nicht wie die Männer sein.' Ihre

Emanzipation ist eine Emanzipation der Gesellschaft

und nicht nur von Frauen.

Simona: Ich glaube, dass sie ein Stück weiter sind.

Elena: Sicher, sicher. Was mich überraschte, weil man

vielleicht denkt, dass die östlichen Länder ein wenig

hinter uns sind, was ja gar nicht stimmt.

Jahrestage werden ja häufig zum Anlass genommen, das Gedächtnis zu

mobilisieren – und zwanzig Jahre Mauerfall und Grenzöffnung bieten genug

Gelegenheit, noch einmal vier Jahrzehnte Kultur und Literatur der DDR vor

unserem Auge passieren zu lassen und kritisch zu hinterfragen, ob und was

davon noch heute Bestand hat und ästhetische Anerkennung finden kann. Dazu

kann ein literaturgeschichtliches Lesebuch, das ganz bewusst eine Reihe von

Texten auch in längeren Auszügen vorstellt, natürlich nur einen ganz kleinen

Beitrag leisten. Doch wichtige Autoren – und ihre Werke – sollten nicht in

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Vergessenheit geraten, nur weil sie zu DDR-Zeiten schrieben und veröffentlichen

konnten, was ja nicht immer der Fall war oder nur unter großen

Schwierigkeiten. Die Trauerarbeit hinsichtlich dieser sozialistischen Diktatur auf

deutschem Boden ist von den direkt und indirekt Beteiligten – und dazu rechnet

für mich auch die ehemalige westdeutsche Linke Moskauer wie maoistischer

Prägung – noch längst nicht abgeschlossen. Verlust und Niederlage, ein

kollabiertes Zukunftsprojekt gehen meist Hand in Hand mit einem tiefen Gefühl

von Schmach und Schande; und es wird oft so unsäglich schwer, aus der

Verstrickung entwürdigender Erfahrungen von Schuld, Täterschaft und

Opfertum herauszufinden – wie wir es ja gerade erst hinsichtlich des 2.

Weltkrieges an Büchern lernen mussten wie W.G. Sebalds Essays Luftkrieg

und Literatur (1999) oder an den Tagebuchaufzeichnungen Eine Frau in Berlin

(anonym, 1959/2003). Jedes Buch, jede künstlerische Arbeit, die uns helfen,

uns über Entwürdigung bewusst zu werden und vielleicht davon ein Stück weit

zu befreien, ist von unersetzlichem Wert. Im Kontext der Arbeit an verschiedenen

Aufsätzen für den Band Tra malinconia e utopia (Milano 2000), womit ich in

der Auseinandersetzung mit dem Stalinismus auch für mich selbst eine

Bestandsaufnahme meiner politisch aktiven Vergangenheit bis an die Schwelle

der achtziger Jahre vornehmen wollte, hatte ich Christa Wolf um ein Gespräch

während ihres Mailänder Aufenthaltes 1992 gebeten. Ich schrieb ihr:

Wir sind ja alle mehr oder minder persönlich betroffen. Auch die Linke des

Westens hat ihren Stalinismus, ihre Sozialismusvorstellungen aufzuarbeiten. Nur wie

und wohin? Und wer will das überhaupt? Mettersi al nudo, sagt man hier: sich nackt

zeigen und sein Herz bloßlegen. Doch die Linke scheint merkwürdig prüde und auch

unter Verstopfung zu leiden.

In ihrer raschen Antwort gibt mir die für meine eigene Entwicklung so

bedeutende Autorin im Dezember 91 ihre Ablehnung bekannt, denn sie “denke,

über die Zeit, die Sie bearbeiten wollen, werde ich selbst einmal schreiben”.

Vor einem Jahrzehnt noch wollte ich zu dem für ausländische

Deutschlerner konzipierten Büchlein Literatur der DDR (Langenscheidt 1989) –

das in der Presse oft besprochen wurde, als sei es an bundesdeutsche Leser

gerichtet – einen kleinen historischen und didaktischen Ergänzungsband

herausgeben, um einen Beitrag zu leisten

die Literatur der ehemaligen DDR aus ihrem Schattendasein an Schule und

Hochschule herauszuführen und als gute, interessante, moderne Literatur deutscher

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Sprache vorzustellen, die angesichts des großen geeinten Deutschlands nicht in

Vergessenheit geraten sollte.” Ich definierte das neue Buch “einmal als Einführung in

Literatur und Literaturgeschichte der DDR, zum anderen aber auch als ein Lesebuch

für Interessierte sowie als begleitendes Lehrwerk für den Sprachunterricht. Es wendet

sich also in gleicher Weise an Schüler, Studenten und Dozenten des Faches Deutsch

als Fremdsprache.

Heute habe ich fast den Eindruck, dass dies eine sehr verengte,

gleichsam sektiererische Sicht der Zielgruppe ist. Wissen denn in Deutschland

junge Menschen, heutige Zwanzigjährige, soviel mehr als Gleichaltrige im

Ausland zum Beispiel über das Nachkriegsdeutschland aus zwei Nationen, also

auch über die DDR?! Fehlendes Vorwissen sollten wir nicht bedauern, sondern

einfach nur in Rechnung stellen. Und man gestatte mir den Hinweis auf den

Gemeinplatz: Das Voranschreiten der Zeit drängt nun einmal zum Vergessen.

vorwärtsundnichtvergessen (2009)

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Deshalb wird mit Vorwärts und nicht vergessen, das im anderen als der

Autoren Sinn einen Refrain aus dem Solidaritätslied (1931) von Bertolt Brecht

und Hanns Eisler aufgreift, Literaturgeschichte erzählt und werden Lektüreproben

aus wichtiger Prosa, Lyrik und Dramatik gegeben. Die Auswahl hat nicht


das Ziel, anhand literarischer Texte Historie und Realitäten zu belegen oder zu

illustrieren (wozu sie natürlich auch dienen können), sondern will ästhetisch

ansprechende wie anspruchsvolle Texte präsentieren, die zum Weiterlesen

motivieren wollen – und damit in ganz ur-romantischer oder in ganz Brechtscher

Art zu Verstehen und Vergnügen.

Mit den abgedruckten Texten und Textauszügen habe ich früher im

Literaturunterricht an Hochschule und Goethe-Institut in Italien verschiedentlich

gearbeitet (ab dem B2/C1-Sprachniveau des Europäischen Referenzrahmens)

und dabei darauf geachtet, wie schon bei der Textauswahl selber, nicht nur auf

die Inhaltsseite und auf bloße Verständnissicherung abzuheben, sondern

zugleich auch immer auf ästhetische Dimensionen hinzuführen. Dennoch habe

ich auf einen didaktischen Anhang verzichtet aus dem Bewusstsein heraus,

dass neben der immanenten Komplexität eines Textes zum Ensemble der

Bedingungen für seinen Einsatz im Unterricht auch eine Vielzahl schwer

kalkulierbarer konkreter Faktoren gehören wie das sprachliche, literarische und

kulturelle Wissen der Lerner, die soziokulturelle Struktur des Umfelds, die

curriculare und materielle Ausbildungssituation sowie die berufliche und

persönliche Disponibilität der DozentInnen, ihre methodische und didaktische

Herangehensweise, ihre Einstellung zu Thema, Text und Autor.

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Literatur der etwas anderen Art

Mehr als vierzig Jahre lang hatte im östlichen Teil Deutschlands die

Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) die öffentliche Meinung fest in

der Hand und übte auch im Bereich der Informationspolitik eine Alleinherrschaft

aus. Was im Schutz von Kontrolle und Zensur zur Sprache kam, war eine

ideologisch vollständig verzerrte Wirklichkeit, eingehüllt in den Einheitsjargon

des preußischen Feudalsozialismus. Wie die Berichterstattung funktionierte,

sollen hier einige Schlagzeilen aus dem Parteiorgan "Neues Deutschland"

veranschaulichen:

So werden die Beschlüsse des XI. Parteitages verwirklicht: Kollektive wetteifern

um Bestwerte im Wohnungsbau/ Sonneberger Werk sorgt für eine saubere Umwelt/ In

aktiver Solidarität mit dem Volk Nikaraguas verbunden/ Bauern bergen von Wiesen

und Feldern zweite Futterernte/ BRD: Schon 281 Drogentote.

Selbstbejubelung, Affirmation, ideologische Schwarzweißmalerei,

Hagiographie in einer zu Formeln erstarrten Sprache lassen es nicht

verwunderlich erscheinen, dass der Literatur in einer dergestalt monopolisierten

Öffentlichkeit auch die Aufgabe zufiel, zumindest partiell die verhinderte

öffentliche Meinung zu kompensieren. Die Literatur – natürlich ebenfalls unter

Kuratel gestellt – konnte immer wieder einen größeren Spielraum behaupten

und sich der gesellschaftlichen Realität annehmen, sie in ihrem Werden und

Geworden-Sein, in ihrer Widersprüchlichkeit diskutieren. Sie sprach von

deutscher und DDR-Geschichte, Theorie und Praxis des Sozialismus und auch

des Stalinismus, Grenz- und Deutschlandproblematik, dem alltäglichen Leben

mit seinen Freuden und Restriktionen, der Situation der Jugend in Ausbildung,

Beruf und beim Militär, der Emanzipation der Frauen, dem Zustand der Umwelt,

dem Umgang mit Kunst, Literatur und Sprache, über Ängste und Hoffnungen

der Menschen. Insofern ist Helga Königsdorf zuzustimmen, wenn sie schreibt:

"Wenn man später wissen will, wie es gewesen ist, in dieser DDR, wird man es

vor allem aus der Literatur erfahren." Wobei wir nicht vergessen wollen, dass

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der Einblick, den uns ein Autor in sein Land vermittelt, immer auch nur ein Blick

ist.

Als 1945 der Zweite Weltkrieg in Deutschland zu Ende war, begann sich

auf dem Territorium der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) ein neues

ökonomisches und politisches System herauszubilden, das 1949 auch zu seiner

staatlichen Eigenständigkeit fand. Mit der Gründung der Deutschen

Demokratischen Republik wurde im deutschen Sprachraum ein Novum

geschaffen: eine soziale Ordnung, aus der sich bald ein sozialistischer Staat

nach sowjetischem Muster entwickeln sollte. Mit diesem historischen Prozess

beschäftigten sich natürlich auch Kunst und Literatur und reflektierten die

Bedingungen dieser neuen Gesellschaft. Der Kalte Krieg verhärtete die

ideologischen und politischen Fronten zwischen Ost und West, insbesondere in

Europas Mitte, in Deutschland, wo die beiden Machtblöcke direkt aufeinander

stießen. Das hatte auch für die Literatur in der DDR und ihre Betrachtung seine

Folgen.

Schon 1948 fing man in der SBZ damit an, der Literatur eine

propagandistische Rolle beim Aufbau der neuen Gesellschaft vorzuschreiben.

Und wo sie dem folgte – wie z.B. in der nie wirklich ernst genommenen

weltanschaulichen "Traktorenlyrik" der fünfziger Jahre –, war die westdeutsche

Literaturkritik sofort zur Stelle, um pars pro toto die ganze ostdeutsche Literatur

als kommunistisch infiziert zu verurteilen. Oder sie suchte nach Texten, die im

Westen als Dissidenten-Bücher verkauft und propagandistisch ausgeschlachtet

werden konnten.

Doch die Zeiten änderten sich. Nach dreißig, fünfunddreißig Jahren

merkten die Leser im westlichen Deutschland und in Europa nicht mehr

unbedingt sofort und bei jedem Werk, ob es der DDR zuzurechnen war. Dafür

gibt es viele Gründe. Einer ist, dass sich – unabhängig von Ideologie und Politik

– die Industriegesellschaften in Ost und West in ihren Fehlentwicklungen auf

einander zu bewegten, was in der Wissenschaft Konvergenzentwicklung

genannt wird. Und die Literatur nimmt seismographisch auch davon Kenntnis.

Nach 1976 wurde auch auf die DDR-Literatur der Begriff "Exilliteratur"

angewendet, da in den dreizehn Jahren bis zum Herbst 1989 mindestens

achtzig Schriftsteller gezwungenermaßen ihr Land verließen. Durch die

Emigration in der Zeit des Nationalsozialismus ist der Begriff historisch natürlich

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vorgeprägt und führt deshalb fast automatisch zum Vergleich. Wir wollen und

können Nationalsozialismus und stalinistischen Sozialismus nicht

gegeneinander aufrechnen. Klar ist aber, dass es in der SBZ/DDR politische

Verfolgung, Folter, Arbeitslager, Ausbürgerung, Zensur und massenhafte

Bespitzelung gab und der humanistische Anspruch des Sozialismus zutiefst

diskreditiert wurde. Doch konnte, wer wegen politischer oder weltanschaulicher

Repressalien aus der DDR freiwillig oder unter Zwang fort ging, immer noch im

deutschen Sprachraum bleiben. Das ist ein gerade für Schriftsteller wichtiger

Unterschied zu den Jahren 1933-45.

Hommage an Reiner Kunze (2008)

Zu allen Zeiten war es schwer, wenn nicht unmöglich, zu bestimmen,

was denn DDR-Literatur sei, wo sie entstünde. Denn sie entstand auch

außerhalb des Staates DDR und unabhängig von ihm. Während ein Autor wie

Jürgen Fuchs, der nach monatelanger Haft in die Bundesrepublik abgeschoben

wurde, seinen literarischen Stoff immer wieder in seiner DDR-Vergangenheit

fand, ist der Lyriker Reiner Kunze nach der Übersiedelung aus der DDR in

seinen späteren Gedichtbänden davon losgekommen. Zeigten sich schon bei

den im Westen lebenden DDR-Autoren große Unterschiede in Thema, Stil und

Sprache ihrer Bücher sowie in der Qualität ihres literarischen Schaffens in der

neuen Umgebung, so existierten auch in der DDR schon immer viele

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Handschriften. Bei allen zu unterstellenden spezifischen Produktions- und

Rezeptionsbedingungen hat es eine DDR-Literatur eigentlich nie gegeben, eher

eine Vielfalt von Strömungen und Tendenzen, die sich zwischen Zustimmung

und Widerspruch bewegten, zwischen Übernahme und Befreiung von

politischen, ideologischen, künstlerischen und ästhetischen Vorgaben und

Traditionen. Festzustellen war nicht Einheitlichkeit der DDR-Literatur, sondern

waren eher Dominanten und Konstanten. So sprach einerseits die DDR-

Literaturwissenschaft zu Recht davon, dass die Auseinandersetzung mit dem

Faschismus ein die DDR-Literatur prägendes "Jahrhundertthema" sei. Und der

westdeutsche Germanist Wolfgang Emmerich charakterisierte andererseits zum

Beispiel die vorherrschende Linie in der Literatur bis Anfang/Mitte der sechziger

Jahre als "literarische Vormoderne".

Wenn es ein besonderes Charakteristikum der Literatur der DDR gibt,

das uns dazu berechtigt, von dieser Literatur als einem Sonderweg im

deutschsprachigen Raum zu sprechen, dann ihr offizielles und von vielen

Autoren oft in ganz unterschiedlicher Weise vertretenes Verständnis als

gesellschaftlicher Faktor: Literatur als res publica. Der Dichter und ab 1954

erste Kulturminister der DDR Johannes R. Becher prägte dafür den Begriff der

"Literaturgesellschaft": Literatur als Institution der Selbstverständigung und

Bewusstwerdung einer Gesellschaft, in der Autoren, Leser, Verleger

demokratisch miteinander kommunizieren und die werktätigen Massen an der

Literatur teilnehmen können.

Wie sich dieses ideale Modell eines Literaturbetriebs in der Praxis

darstellte, wollen wir im folgenden an einigen Beispielen erläutern:

– Alle großen Buchverlage waren bis 1989 Staatsverlage oder gehörten

verschiedenen Organisationen und Parteien. Mit dem Zusammenbruch des

stalinistischen Systems 1989 kam aber ans Tageslicht, dass die SED, die

letzten Endes allein herrschende kommunistische Partei, nicht nur im Besitz

ihres Parteiverlages, sondern auch von fünfzig Prozent der größten

Belletristikverlage der DDR war.

– Die Buchproduktion der DDR mit sechstausend Titeln und einer

Gesamtauflage von hundertfünfzig Millionen jährlich war, gemessen an den

Zahlen der BRD, natürlich lächerlich gering, jedoch angesichts einer relativ

kleinen Bevölkerung von sechzehn bis siebzehn Millionen Einwohner ganz

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erstaunlich. Ein Drittel aller Bücher entfiel dabei auf die Belletristik. Heinrich

Heines Deutschland. Ein Wintermärchen, der KZ-Roman von Bruno Apitz Nackt

unter Wölfen und Anna Seghers' Das siebte Kreuz erreichten Gesamtauflagen

zwischen eineinhalb und zwei Millionen; Hermann Kants Die Aula hat eine

Million verkaufter Exemplare erreicht.

– Es verwundert nicht, dass derselbe Kant dann die DDR ein "Leseland"

nennt. Aber war sie das? Ja und nein. Zwar lasen verhältnismäßig mehr

Arbeiter als in westeuropäischen Ländern belletristische Literatur, besuchten

rund drei Viertel der Kinder im Lesealter die Kinderbibliotheken und ließ sich

insgesamt eine größere Nähe zu Autor und Buch konstatieren. Doch auch in

der DDR beeinflusste der gesellschaftliche Status die Wahl des Mediums und

des Buches. Auch hier zog der Durchschnittsleser einem anspruchsvollen Werk

die leichte Unterhaltungsliteratur vor, besonders Reiseliteratur, da er so –

wenigstens im Buch – der DDR-Realität in Richtung Westen oder fernen

Horizonten entgegen entfliehen konnte.

– Die Autoren waren in der Regel Mitglieder im Schriftstellerverband,

womit sie statutenmäßig die Aufgabe anerkannten, sich als Künstler für den

Sozialismus einzusetzen. Die Verbandsmitgliedschaft verschaffte diverse

Vorteile: Stipendien und Förderungen, Arbeitsvermittlung als Dramaturg oder

Übersetzer sowie als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Verbandes. Daneben

gab es ein ausgedehntes System der Unterstützung, z.B. insgesamt fünfzig

Literaturpreise – darunter den hoch dotierten Nationalpreis, den Heinrich-Mann-

Preis, den Heinrich-Heine-Preis, den Lessing-Preis. Überdies hatten die

meisten Schriftsteller weitere Vergünstigungen, so das begehrte Reise-Privileg.

– Wie einerseits die erzieherische Wirkung der Literatur gefördert wurde,

so wurde diese selbst zu allen Zeiten der Lenkung und Kontrolle unterworfen.

Ein Instrument dazu war die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel beim

Kulturministerium, die erst im Dezember 89 aufgelöst wurde. Sie war neben

dem Büro für Urheberrechte eine der zentralen Zensurinstanzen. Doch konnte

die Zensur schon im Verlag, beim Lektor, einsetzen oder, einmal verinnerlicht,

gar als Selbstzensur beim Schreiben selber.

– Zensierte Autoren konnten aus dem Schriftstellerverband und der

Partei ausgeschlossen (Heiner Müller, Gerhard Wolf), zu Geldstrafen verurteilt

werden (Stefan Heym, Robert Havemann), ins Gefängnis kommen (Jürgen

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Fuchs, Stephan Krawczyk), ausgebürgert (Wolf Biermann) und psychisch unter

Druck gesetzt werden (Reiner Kunze).

Die Liste wichtiger Dichter, die Opfer der Zensur wurden, ist recht lang,

sie reicht von Bertolt Brecht (Das Verhör des Lukullus, 1951) bis zu Christa

Wolf (Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra, 1983). Volker Braun

musste auf die Uraufführung seines Theaterstücks Lenins Tod achtzehn Jahre

warten. Und es war wohl kein Zufall, dass die Zensur auf dem X.

Schriftstellerkongress im Jahre 1987 zum Hauptthema der Tagung wurde:

Zunächst sprach Günter de Bruyn im Plenum dazu, dann Christoph Hein in

einer allerdings nicht öffentlichen Arbeitsgruppe: "Die Zensur ist überlebt,

nutzlos, paradox, menschenfeindlich, ungesetzlich und strafbar". Immer mehr

Tabus wurden gebrochen in der Literatur, auf der Bühne, bis endlich die Mauer

fiel – und damit ein ganzes System der Unterdrückung und falscher

Hoffnungen.

Hommage an Christoph Hein (2008)

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Auferstanden aus Ruinen…

ruinenruinen (2008)

…und der Zukunft zugewandt – die ersten Verse der Nationalhymne der

späteren DDR (Text: Johannes R. Becher, Musik: Hanns Eisler) beschreiben

nur zu genau Wirklichkeit, Wunsch und Willen derer, die im Ostteil Deutschlands

das gesellschaftliche Leben bestimmen werden. Nach rund zwanzig

Jahren wird dann der Text nicht mehr gesungen, da die DDR sich als eigenständige

Nation sozialistischen Typs definiert und “Deutschland einig Vaterland”

nicht mehr ins politische Konzept passt.

Aber zurück zu den Anfängen: Zeigt sich schon für die Entwicklung in

den Westzonen, dass sich die erste Nachkriegsperiode kaum als Nullpunkt oder

Stunde Null fassen lässt, so gilt gleiches für die SBZ. Die sowjetische Militäradministration

in Deutschland (SMAD) und die aus ihrem Moskauer Exil schnell

zurückgekehrte Führungsgruppe der kommunistischen Partei KPD führten die

Tradition ihres antifaschistischen Kampfes fort und deshalb wurde, da die

Sowjetunion zum damaligen Zeitpunkt noch die Einheit Nachkriegsdeutschlands

anvisierte, in Anknüpfung an die Volksfrontpolitik der dreißiger

Jahre, die Linie einer Einheitsfront auch jetzt eingeschlagen, um – so die

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strategische Idee – die bürgerlich-demokratische Revolution zu vollenden und

von dort aus zum Sozialismus voranzuschreiten. Kulturelle Leitbilder waren also

zunächst nicht proletarisch-revolutionäre Ideale, wie sie noch in der Arbeitermassenkultur

der Weimarer Republik entwickelt worden waren, sondern jene

des Humanismus der deutschen Klassik und der nationalen und demokratischen

Bewegungen des 19. Jahrhunderts. Die sowjetische Besatzungsmacht

wurde sofort nach der Niederschlagung des Nazi-Systems in dieser Hinsicht auf

vielfältige Art im Kulturleben initiativ, ja musste dieses weitgehend überhaupt

erst einmal reorganisieren. Bis 1946 jedoch konnten schon fünfundsiebzig

Theater in den weitgehend zerstörten Städten wieder bespielt werden. Der auf

kommunistische Initiative gegründete Kulturbund zur demokratischen Erneuerung

Deutschlands sollte die zentrale Aufgabe der "Bildung einer nationalen

Einheitsfront der deutschen Geistesarbeiter" übernehmen, eines breiten

Bündnisses politisch und weltanschaulich unterschiedlichster Kräfte. Ziele des

Kulturbundes waren

Vernichtung der Naziideologie auf allen Lebens- und Wissensgebieten...Wiederentdeckung

und Förderung der freiheitlichen humanistischen,

wahrhaft nationalen Traditionen unseres Volkes...Verbreitung der Wahrheit.

Wiedergewinnung objektiver Maße und Werte. Kampf um die moralische Gesundung

unseres Volkes.

Dabei wollte man an Kultur und Literatur der bürgerlichen Epoche wieder

anknüpfen, von den Bauernkriegen über die Aufklärung, die Weimarer Klassik,

den Vormärz bis schließlich zum bürgerlichen Realismus. Hinzu kam noch die

Sowjetliteratur und die im Exil entstandene antifaschistische Literatur. Die

Ausrichtung auf dieses Erbe gab der Kulturpolitik der ersten Jahre eine

einseitige, deutlich rückwärts gerichtete Orientierung auf die Tradition, von der

allerdings bestimmte Strömungen und Künstler (z.B. die Romantik, Heinrich v.

Kleist) ausgegrenzt blieben. Auch hielt diese ästhetische Kanonbildung Kunst

und Literatur der DDR lange Zeit fern von der europäischen Moderne eines

Franz Kafka, James Joyce, Samuel Beckett und der Expressionisten.

Praktische Bedeutung hatte dies auf dem Theater − die meistgespielten

Stücke waren Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise, Johann Wolfgang

Goethes Iphigenie auf Tauris und Egmont sowie Friedrich Schillers Wilhelm Tell

− und in den Lehrplänen der Schulen, die die bürgerlich-realistische Literatur

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(Lessing, Goethe, Schiller, Heine, Gottfried Keller, Thomas und Heinrich Mann)

deutlich bevorzugten. Die neue Literatur jener Zeit stammte von Schriftstellern,

die in der Nazizeit verfolgt und außer Landes getrieben worden waren: Das war

die Exilliteratur. Die meisten ihrer radikaldemokratischen, linken, sozialistischkommunistischen

Autoren, von denen sich viele während des Faschismus im

aktiven Widerstand befunden hatten, kamen in die SBZ/DDR − aus der

Sowjetunion Johannes R. Becher, Willy Bredel, Friedrich Wolf, Theodor

Plievier, aus Mexiko Anna Seghers und Ludwig Renn, aus den USA Bertolt

Brecht, Ernst Bloch und Stefan Heym, aus Palästina Arnold Zweig, aus England

Jan Petersen, aus Kolumbien Erich Arendt. Warum sie diesen Teil

Deutschlands wählten und nicht die Westzonen, formulierte Anna Seghers für

viele andere so: "Weil ich hier ausdrücken kann, wozu ich gelebt habe."

Die Exilliteratur einzubürgern, hieß aber auch, denjenigen Autoren eine

neue Heimat in Deutschland zu geben, die sich wie Thomas Mann oder Lion

Feuchtwanger nicht in der SBZ/DDR niederließen. Gleichzeitig umfasste die

antifaschistische Bündniskonzeption auch jene Dichter, die in Deutschland

geblieben und wie Peter Huchel der "inneren Emigration" zuzurechnen waren.

Eine erste Bilanz des Faschismus, des von ihm verursachten Ausmaßes

von Mord, Gewalt und Zerstörung zogen die zumeist noch in der Emigration

entstandenen Prosatexte, die jetzt in der SBZ sofort verlegt wurden. 1945

erschien Theodor Plieviers Roman Stalingrad, der – in der Nachfolge von Erich

Maria Remarques Im Westen nichts Neues (1927) – den Alltag und die Gräuel

des Krieges im Stil der Reportage wiedergibt. Ein Jahr später wird Anna

Seghers Das siebte Kreuz verlegt, das – schon 1942 im mexikanischen Exil

erschienen und 1944 von Fred Zinnemann in den USA verfilmt – den Weg

eines KZ-Flüchtlings durch Hitler-Deutschland beschreibt. Hingegen verschafft

Jan Petersens Unsere Straße (1936/1947), klandestin in Deutschland

geschrieben, ein konkretes Bild vom Widerstand gegen die Nazis. Diese Bücher

stehen stellvertretend für eine Fülle von aufklärerischer, auch dokumentarischer

Literatur über Krieg, Nazismus und Konzentrationslager, die in Form von

Berichten, Chroniken, Reportagen sich als wirklich engagierte Literatur

ausweist.

Obwohl einige Autoren der älteren Generation – wie z.B. Seghers in Die

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Toten bleiben jung (1949) – auch größere Entwicklungszusammenhänge des

20. Jahrhunderts thematisierten, war es noch viel zu früh, sich davon eine tiefer

gehende Auseinandersetzung mit den geschichtlichen Voraussetzungen des

massenhaften Mitläufertums zu erwarten.

Doch entgegen der verbreiteten Haltung, sich möglichst schnell von der

Vergangenheit abzuwenden und an der Seite der Sowjetunion zu den "Siegern

der Geschichte" zu erklären, wie es offiziell hieß, beharrten viele Schriftsteller

darauf, an der Aufdeckung des Kausalkomplexes von Nationalsozialismus,

Krieg und Niederlage zu arbeiten, und mahnten mit Brecht: "Der Schoß ist

fruchtbar noch, aus dem das kroch".

Anna Seghers – mit bürgerlichem Namen Netty Reiling – veröffentlichte

1927 die erste längere Erzählung. Mit achtundzwanzig Jahren bereits erhielt sie

den wichtigen Kleist-Preis, wurde Mitglied in der Kommunistischen Partei und

im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller (BPRS). Mit der Machtergreifung

Adolf Hitlers verließ sie Deutschland und emigrierte schließlich über

Frankreich nach Mexiko. 1947 kehrte sie nach Ostberlin zurück, wo sie, vielfach

preisgekrönt, bis zu ihrem Tode lebte und arbeitete. Von 1952-1978 war

Seghers Präsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR.

Hommage an Anna Seghers (2008)

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ANNA SEGHERS, Der Ausflug der toten Mädchen

Die 1943/44 entstandene Erzählung gehört zweifellos zu den schönsten

der Autorin, ist ein Text, an dem man "lesen lernen" kann (Christa Wolf).

Nach zehn Jahren Exil schrieb Anna Seghers diese Geschichte noch in

Mexiko: Die Emigrantin, die hier zum einzigen Mal ganz offen als "ich"

erscheint, ruht sich am Rande eines Dorfes in der Mittagshitze aus. Voller

Heimweh erinnert sie sich plötzlich an ihre Kindheit: Dreißig Jahre zuvor hatte

sie zu Hause, in Deutschland, in ihrer Heimatstadt Mainz, an einem Ausflug

ihrer Mädchenklasse teilgenommen. Inzwischen, so weiß die Erzählerin, sind

die meisten ihrer Schulkameradinnen durch die Nazis und ihren Krieg

umgekommen. Dieses Wissen ist eine schreckliche Belastung für die

Erzählerin, die sich zugleich die Erlebniswelt des Schulkindes anverwandelt und

sehen muss, wie die Freundinnen als erwachsene Frauen standhielten oder

schuldig wurden. Darüber berichtet die Erzählung in Form einer komplexen

Verschachtelung der Zeit- und Erfahrungsebenen wie in folgendem Textauszug:

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Ich lehnte mich gegen die Wand in den schmalen Schatten. Um Rettung

genannt zu werden, dafür war die Zuflucht in diesem Land zu fragwürdig und zu

ungewiß. Ich hatte Monate der Krankheit gerade hinter mir, die mich hier erreicht hatte,

obwohl mir die mannigfachen Gefahren des Krieges nichts hatten anhaben können.

(...) Es gab nur noch eine einzige Unternehmung, die mich anspornen konnte: die

Heimfahrt. (...)

Es schimmerte grün hinter der langen weißen Mauer. Wahrscheinlich gab es

dort einen Brunnen oder einen abgeleiteten Bach, der das Rancho mehr bewässerte

als das Dorf. Dabei sah es unbewohnt aus mit dem niedrigen Haus, das auf der

Wegseite fensterlos war. (...) Das Gitterwerk war, längst überflüssig und morsch, aus

dem Toreingang gebrochen. Doch gab es im Torbogen noch die Reste eines von

unzähligen Regenzeiten verwaschenen Wappens. Die Reste des Wappens kamen mir

bekannt vor, wie die steinernen Muschelhälften, in denen es ruhte. Ich trat in das leere

Tor. Ich hörte jetzt inwendig zu meinem Erstaunen ein leichtes regelmäßiges Knarren.

Ich ging noch einen Schritt weiter. Ich konnte das Grün im Garten jetzt riechen, das

immer frischer und üppiger wurde, je länger ich hineinsah. Das Knarren wurde bald

deutlicher und ich sah in dem Gebüsch, das immer dichter und saftiger wurde, ein

gleichmäßiges Auf und Ab von einer Schaukel oder von einem Wippbrett. Jetzt war

meine Neugier wach, so daß ich durch das Tor lief, auf die Schaukel zu. Im selben

Augenblick rief jemand: “Netty!” Mit diesem Namen hatte mich seit der Schulzeit

niemand mehr gerufen. (...)

Auf jedem Ende der Schaukel ritt ein Mädchen, meine zwei besten

Schulfreundinnen. Leni stemmte sich kräftig mit ihren großen Füßen ab, die in eckigen

Knopfschuhen steckten. Mir fiel ein, daß sie immer die Schuhe eines älteren Bruders

erbte. (...) Ich wunderte mich zugleich, wieso man Lenis Gesicht gar keine Spur von

den grimmigen Vorfällen anmerkte, die ihr Leben verdorben hatten. Ihr Gesicht war so

glatt und blank wie ein frischer Apfel, und nicht der geringste Rest war darin, nicht die

geringste Narbe von den Schlägen, die ihr die Gestapo bei der Verhaftung versetzt


hatte, als sie sich weigerte, über ihren Mann auszusagen. (...)

Auf der anderen Schaukelseite hockte Marianne, das hübscheste Mädchen der

Klasse, die hohen, dünnen Beine vor sich auf dem Brett verschränkt. Sie hatte die

aschblonden Zöpfe in Kringeln über die Ohren gesteckt. In ihrem Gesicht, so edel und

regelmäßig geschnitten wie die Gesichter der steinernen Mädchenfiguren aus dem

Mittelalter im Dom von Marburg, war nichts zu sehen als Heiterkeit und Anmut. Man

sah ihr ebensowenig wie einer Blume Zeichen von Herzlosigkeit an, von Verschulden

oder Gewissenskälte. (...)

Mir kam jetzt alles unmöglich vor, was man mir über die beiden erzählt und

geschrieben hatte. Wenn Marianne so vorsichtig die Schaukel für Leni festhielt und ihr

mit soviel Freundschaft und soviel Behutsamkeit die Halme aus dem Haar zupfte und

sogar ihren Arm um Lenis Hals schlang, dann konnte sie sich unmöglich mit kalten

Worten später schroff weigern, Leni einen Freundschaftsdienst zu tun. (...) Doch

Marianne weigerte sich und fügte hinzu, ihr eigener Mann sei hoher Nazibeamter, und

Leni samt ihrem Mann seien zu Recht arretiert, weil sie sich gegen Hitler vergangen

hätten.

Nach den Jahren des Exils, diesen "finsteren Zeiten", dieser "schlechten

Zeit für Lyrik" (Brecht) stellte sich auch für die lyrische Dichtung die Frage, wie

die Hinterlassenschaft der Nazi-Zeit zu bewältigen sei.

Hommage an Johannes R. Becher (2008)

Einflussreichster Lyriker war Johannes R. Becher, der vor dem 1.

Weltkrieg schon als expressionistischer Dichter von sich reden machte und

1917 einer der wenigen bekannten Autoren war, die die russische Revolution

emphatisch begrüßten. Bald Mitglied der KPD, geht er 1933 ins Moskauer Exil

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und ist als hoher KP-Funktionär kulturpolitisch im Kampf gegen Nazi-

Deutschland tätig. 1945 nach Ostberlin zurückgekehrt, stellt er seine Person

und Dichtung in den Dienst des Aufbaus einer antifaschistisch-demokratischen

Ordnung. Klassisch im Stil, oftmals in der Form des Sonetts, benützt Becher

Topoi wie Volk, Heimat, Befreiung, damit nach Jahren der Gewalt und des

Bösen nun "das Gute zur Macht kommt" (Brecht):

Heimat, meine Trauer,

Land im Dämmerschein,

Himmel, du mein blauer,

du mein Fröhlichsein.

Ist die mitunter patriotische Dichtung Bechers auf der Suche nach einem

neuen Deutschland, so ist das lyrische Werk Brechts zunächst von Satiren und

Warngedichten gegen Krieg und Faschismus geprägt (An meine Landsleute,

1949), beschäftigt sich aber auch mit den Entwicklungen in West- und

Ostdeutschland. So nimmt er im "Aufbaulied" (1948) eindeutig Partei für eine

neue Gesellschaft:

Besser als gerührt sein, ist: sich rühren

Denn kein Führer führt aus dem Salat!

Selber werden wir uns endlich führen:

Weg der alte, her der neue Staat!

In eine ähnliche gesellschaftspolitische Richtung weist die Dichtung des

poeta doctus Stephan Hermlin, aber auch die agitatorisch-operative Lyrik eines

KUBA (Kurt Barthel).

Peter Huchel vertritt einen anderen Aspekt der ostdeutschen Nachkriegslyrik.

Schon in den zwanziger Jahren als Heimatpoet und Naturdichter bekannt,

sind es vor allem seine Kriegserfahrungen als Soldat der Wehrmacht, die nun

seine Dichtung nachhaltig verändern. Seine Art von Naturlyrik ist nicht mehr

zeitlos und menschenleer, in ihren Bildern ist die Geschichte stets präsent, wird

auf individuelle und gesellschaftliche Zustände verwiesen. Nach einem

Literatur- und Philosophiestudium, ersten Gedichtveröffentlichungen (1924/25)

wird Huchel Mitarbeiter von Zeitschriften wie "Literarische Welt" und "Die

Kolonne", deren Lyrikpreis er 1928 erhält. Nach dem Krieg wird er für drei Jahre

28


künstlerischer Direktor des Ostberliner Rundfunks und von 1949 bis 1962

Chefredakteur von "Sinn und Form". Des Postens enthoben, von der Partei

denunziert und drangsaliert, verlässt Huchel 1971 die DDR und lebte danach in

der Bundesrepublik und Italien.

PETER HUCHEL, Chausseen

In seinem Band Chausseen Chausseen, dem auch das vorliegende

Gedicht angehört und den Titel gab, zeigt sich Huchels Hang zu "Zuspitzung

und Verknappung" (Walter Jens). "Chausseen" leitet die schmale, aus sieben

Gedichten bestehende Abteilung ein, die des Grauens und der Gräuel des

Krieges gedenkt, und thematisiert hier besonders die Erfahrungen von Millionen

Flüchtlingen in den Wirren des Kriegsendes. Schon die Titel der Gedichte sind

beredt: "Bericht des Pfarrers vom Untergang seiner Gemeinde", "Der Treck",

"Soldatenfriedhof". Der Gedichtband ist erst 1963 und nur in der BRD

erschienen.

Hommage an Peter Huchel (2008)

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Erwürgte Abendröte

Stürzender Zeit!

Chausseen. Chausseen.

Kreuzwege der Flucht.

Wagenspuren über den Acker,

Der mit den Augen

Erschlagener Pferde

Den brennenden Himmel sah.

Nächte mit Lungen voll Rauch,

Mit hartem Atem der Fliehenden,

Wenn Schüsse

Auf die Dämmerung schlugen.

Aus zerbrochenem Tor

Trat lautlos Asche und Wind,

Ein Feuer,

Das mürrisch das Dunkel kaute.

Tote,

Über die Gleise geschleudert,

Den erstickten Schrei

Wie einen Stein am Gaumen.

Ein schwarzes

Summendes Tuch aus Fliegen

Schloß ihre Wunden.

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Dem sozialistischen Realismus zum Trotz

proletenpanzer siebzehnterjunidreiundfünfzig (2008)

In den Jahren 1945-49 hatte sich in der SBZ eine “antifaschistischdemokratische

Neuordnung” durchgesetzt. Auf dem Lande wurde eine

Bodenreform eingeleitet, die zur Totalprivatisierung von Grund und Boden

führte, welche ihrerseits aber mittels einer Kollektivierung ab 1952 wieder

rückgängig gemacht wurde. Sechzig Prozent der industriellen Produktionsmittel

waren bis 1950 sozialisiert. Große Lücken verzeichnete der Wirtschaftsaufbau

in der Grundstoffindustrie (vor allem in den Sektoren Energie, Chemie, Eisen

und Stahl) sowie im Schwermaschinenbau. Das alles ist zu sehen vor dem

Hintergrund eines enormen Zerstörungsgrades der Städte wie der gesamten

Infrastruktur sowie umfangreicher Demontagen und Reparationsleistungen für

die Sowjetunion.

Für die werktätige Bevölkerung als menschlicher und einziger relevanter

Ressource bedeutete dies stetige Steigerung der Arbeitsproduktivität bei

gleichzeitigem Konsumverzicht. Bereits 1947 hatte die Sozialistische

Einheitspartei Deutschlands (SED) die Losung ausgegeben: "Mehr produzieren,

gerechter verteilen, besser leben" und eine Aktivistenbewegung nach

sowjetischem Vorbild initiiert, für die als alles überragendes Beispiel der

Bergarbeiter Adolf Hennecke steht, der 1948 seine Tagesschicht um 387%

31


übererfüllte und flugs zum “Helden der Arbeit” deklariert wurde.

1952 formulierte die SED den "Aufbau des Sozialismus als grundlegende

Aufgabe". Nach Hermann Weber bedeutete dies die "Stalinisierung der DDR":

Partei und Staat – am 7. Oktober 1949 wurde die DDR als Antwort auf die

Gründung der Bundesrepublik konstituiert – wurden einer straffen Planung,

Leitung und Kontrolle von oben nach dem rigiden Prinzip des "demokratischen

Zentralismus" unterworfen.

Die SED, die 1946 aus der Zwangsvereinigung der kommunistischen

KPD und der sozialdemokratischen SPD hervorgegangen war, bestimmte zwar,

dass die Arbeiterklasse die führende Kraft der Gesellschaft sei, aber es war die

Partei, die immer für die Klasse entschied.

Auch die Aufgaben von Kultur und Literatur wurden nun von der SED

definiert. So heißt es 1949 in einer Entschließung: "Kulturarbeit im Dienste des

Zweijahresplans leisten, das bedeutet in erster Linie die Entfaltung des

Arbeitsenthusiasmus aller Schichten des Volkes".

Marxisten haben stets die gesellschaftliche Funktion von Literatur

befürwortet, dass sie soziale Wirklichkeit ausdrücke und zur Veränderung des

Menschen und der Gesellschaft beitrage. Doch was von ihr unter dem

befohlenen und befehlenden Sozialismus in der DDR gefordert wurde, das war,

sie als Mittel zum Zweck einzusetzen, und der hieß Steigerung der Produktion.

Die Durchsetzung der ideologischen Linie der Partei im Bereich der

Ästhetik beginnt in massiver Weise 1951, als die SED den “Kampf gegen den

Formalismus” eröffnet. Formalismus, das war:

Zersetzung und Zerstörung der Kunst selbst. Die Formalisten leugnen, dass die

entscheidende Bedeutung im Inhalt, in der Idee, im Gedanken des Werkes liegt. Nach

ihrer Auffassung besteht die Bedeutung eines Kunstwerkes nicht in seinem Inhalt,

sondern in seiner Form. Überall, wo die Frage der Form selbständige Bedeutung

gewinnt, verliert die Kunst ihren humanistischen und demokratischen Charakter.

Da dieser Formalismus seine Ursache in der kapitalistischen Produktionsweise

habe, sei der Kampf gegen ihn Teil der Systemauseinandersetzung

zwischen Kapitalismus und Sozialismus im internationalen Maßstab. Aber es

ging nicht nur um eine Abgrenzung gegen westlich-amerikanische

Kultureinflüsse und ihre etwaigen negativen Auswüchse, sondern unter

diversen Etiketten wie "Dekadenz", "Kosmopolitismus", "Naturalismus",

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"Modernismus" und eben "Formalismus" wurde schlichtweg die gesamte

moderne Weltliteratur angegriffen. Und es galt auch Kunst und Künstlern im

eigenen Land: Da wurde die Oper Das Verhör des Lukullus (Musik: Paul

Dessau, Libretto: Bertolt Brecht, 1951) kritisiert und zensiert und 1952 musste

eine Ernst-Barlach-Ausstellung schließen, weil der Bildhauer Figuren mit "einem

düsteren bedrückenden, pessimistischen Charakter" geschaffen habe, was mit

dem geforderten Bild von einem strahlenden, zukunftsfrohen Sozialismus

unvereinbar war.

Positive Richtlinie der SED für den Kulturkampf war der “sozialistische

Realismus”, der 1932-34 in der Sowjetunion von Josef W. Stalin und Andrej

Shdanow formuliert worden war. Danach sollte ein Kunstwerk vor allem

"parteilich" sein (d.h. für das Proletariat und die KP eintreten), "volksverbunden"

(d.h. vom Volke verstanden werden können und ihm dienend), "positiv" und

"optimistisch" (d.h. Lebensfreude vermittelnd, Arbeitsmoral und sozialistisches

Bewusstsein hebend). Bevorzugtes Thema war die sozialistische Produktion.

Während in der Sowjetunion schon 1956 an diesem Konzept der Kunstproduktion

und -rezeption Kritik laut wurde, galt es in der DDR noch lange als sakrosankt,

denn: “Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen” – so ein

beliebter Propagandaspruch bis zur Ära Gorbatschow.

Seine durchschlagende Wirkung erfährt der sozialistische Realismus in

der DDR vor allem in Verbindung mit der Ästhetik von Georg Lukács.

Lukács, ein bedeutender Denker des Marxismus (Geschichte und

Klassenbewusstsein, 1923), versuchte die Zielvorstellung von Karl Marx, dass

die Befreiung des Menschen aus Entfremdung, Ausbeutung und Unterdrückung

zur "wirklichen Aneignung der menschlichen Natur durch und für den

Menschen" führen müsse, mit dem Gedankengut der deutschen Klassik zu

verbinden. Sie war für Lukács eine große ästhetisch-literarische Revolution,

eine der genialsten "geistigen Revolutionen" in Europa überhaupt, die das Ideal

"der freien und allseitigen Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit " bereits

formuliert hatte. Zugleich wurden damit auch die Normen bürgerlicher

Kunstproduktion des 18. und 19. Jahrhunderts nicht nur übernommen, sondern

sogar als absolut verbindlich gesetzt. Das Kunstwerk sollte Lukács zufolge "alle

wesentlichen objektiven Bestimmungen, die das gestaltete Stück Leben objektiv

determinieren, in richtigem, proportioniertem Zusammenhang widerspiegeln"

33


und selbst "eine Totalität des Lebens" sein.

Ästhetisch bedeutete dieses Konzept die Bevorzugung der organischen

und geschlossenen Form des bürgerlich-realistischen Romans, in dem die

Widersprüche des Lebens in die Harmonie von Welt und Individuum überführt

werden. Die offene Form, Experimente, Montage, Brechtsche Verfremdung

lehnte Lukács strikt als Formalismus ab, ebenso die neu entstehende sozialistische

Literatur, die sich in die proletarisch-revolutionäre Tradition zur Zeit der

Weimarer Republik stellte.

Mit diesen Positionen bestimmte Georg Lukács auf lange Zeit – auch

über 1956 hinaus, als er wegen seiner führenden Beteiligung am Ungarnaufstand

gegen die Sowjets in Ungnade fiel – das literarische Leben in der DDR

und nahm auf offizieller Seite eine Monopolstellung ein. Die Kritik der Partei an

ihm war vor allem eine politische und richtete sich nicht eigentlich gegen seinen

Traditionsbegriff und seine normative Ästhetik.

Hommage an Volker Braun (2008)

VOLKER BRAUN, Hinze-Kunze-Roman

Erst dreißig Jahre später, nämlich 1985 und dennoch nicht zu spät,

erscheint Volker Brauns Hinze-Kunze-Roman: Plaudernd chauffiert Hinze, der

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Fahrer, Kunze, den Funktionär, durch die realsozialistischen Lande. Aus ihren

Gesprächen und Berichten erfährt der Leser viel – oft ironisch gebrochen – über

die Verhältnisse im Land, über Leben und Liebe, Parolen und Kantinenessen.

Und auch über die Kunst des Schreibens und vor allem über die des

Vorschreibens wie im folgenden Textauszug.

Als der Autor "soweit", d.h. bis S.147 der gebundenen Suhrkamp-Ausgabe,

den vorliegenden Text geschrieben hat, erzählt er – in bester Kenntnis

eines bestimmten Kritikertyps – gleichsam vorwegnehmend dessen

Stellungnahme zum fertigen Roman.

Frau Prof.Messerle, Wortführerin einer an Lukács geschulten Literaturkritik,

verurteilt den Autor, dass er sich nicht an die "Strickvorlagen" des

sozialistischen Realismus gehalten habe, so dass es kein "musterhaftes" Buch

geworden sei. Sie kritisiert "Obszönität", "Spontaneität", mangelnde Planung,

fehlende Parteilichkeit und die Tatsache, dass es kein Entwicklungsroman sei.

Messerle, dieses schneidende Diminutiv, vertritt damit den dogmatischen

Parteistandpunkt, der von Anneliese Löffler, die Messerle auch im Namen

kongenial ist, im SED-Zentralorgan "Neues Deutschland" so formuliert wurde:

Braun greife zu den "absurdesten Konstruktionen... Inhalt und Form gerinnen

zur Farce", da der Autor "statt der realen Welt, statt der realen Widersprüche nur

Gegensätze sieht".

Der folgende Auszug macht deutlich, wie Text und Geschehen

ineinander übergehen, die Handlung praktisch das Manuskript fortschreibt:

Als ich soweit gekommen war, hielt ich es, im gesellschaftlichen Interesse, für

nötig, mich der Diskussion zu stellen, in einem Gremium, das ich im selben Interesse

nicht näher beschreibe. Ich las ein Kapitel vor – der Einfachheit halber und um keine

Zeit zu verlieren dieses, das ich gerade schreibe und das damit beginnt, daß Frau Prof.

Messerle von einem andern Buch sprach, das ich hätte schreiben sollen: obwohl es

kürzlich ein anderer geschrieben hat. Sie konnte nicht genug gleichartige Bücher

bekommen, musterhafte, sie stellte sie vermutlich im Wohnzimmer nebeneinander,

eine sichere Bastion gegen die unzuverlässige Wirklichkeit. Aber wo mein Buch hätte

stehen können, klaffte eine kleine Lücke; in der sie nun mit dem Zeigefinger

fuhrwerkte: wodurch die sich aber, im Verlauf dieses Kapitels, noch erweiterte! Ich

konnte nichts dafür, diese Zuarbeit widerfährt den Realisten von unerwartetster Seite.

Hätte sich der Autor B., fuhr Frau Prof. Messerle fort, an das gehalten, was wir gesagt

haben, immer wieder gesagt haben, immer und immer wiederholt haben in unseren

Modezeitschriften, hätte er einmal die Strickvorlagen angesehn! (…)

Der Autor B. hat einfach ein unsauberes Gewebe geliefert. Er hat den roten

Faden verfitzt. Man erkennt die Masche nicht mehr! (Ich stockte beim Vorlesen, aber

Frau Messerle schloß geläufig an:) Er muß sich nicht wundern, wenn der Leser den

Rock nicht anziehen will. – Von mir aus, versuchte ich zu scherzen, braucht er gar nix

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anziehn. – Da seht ihr, sagte sie ernst, diese Obszönität. Er will uns nackt sehn. – Da

ist in gewisser Weise etwas dran, las ich weiter. – Aber ein bloß amouröser Roman (:

Frau Messerle) befleckt ... (sie verhaspelte, sie verhackselte sich) bekleckt ... verdeckt

unser Leben, das sich anständig entwickelt. Die Liebe ist die Spontaneität in Person,

bzw. in Personen, die der bewußten Führung und Leitung bedürfen. Der Autor hat das

Werk nicht geplant bzw. den Plan nicht erfüllt. Er ist ein Opfer seiner Triebe, seiner

Antriebe, seiner, nun, Sehnsüchte, seiner ... wir kennen das alle, Wunschvorstellungen

... Diese Figuren (schrie sie unvermittelt, unbegreiflicherweise) entwickeln sich einfach

nicht! – Sie saß hochrot im Vorsitz, mit zusammengekniffnen Knien, und die Kollegen,

irgendwie ergriffen, beeilten sich, ihr beizupflichten. Sie entwickeln sich nicht, sie

entwickeln sich nicht! riefen sie reihum, und ich sah beschämt auf meine Blätter. Sie

welkten dahin.

Das muß ich sofort ändern, las ich.

Die Kulturpolitik Mitte der fünfziger Jahre bewegte sich zwischen

Vorgabe der ästhetischen Linie, Kritik und Zensur des Unerwünschten

einerseits und der Tolerierung einer gewissen Autonomie der Künstler

andererseits, denen die SED "die Möglichkeit einer freien schöpferischen

Tätigkeit" zugestand, als man in der so genannten Tauwetter-Periode nach

Stalins Tod im März 1953 aufzuatmen begann.

Damit ging einher, dass die von der Partei anbefohlene Aufbau- und

Produktionsliteratur künstlerisch in die Krise und wegen ihres schematischen

und schönfärberischen Charakters ins Kreuzfeuer der Kritik geriet. Sie wurde

auf dem Schriftstellerkongress 1956 allgemein verurteilt: Der scharfsichtige

Leipziger Literaturwissenschaftler Hans Mayer kritisierte ihre "Panpolitisierung"

und "mangelnde Opulenz", der oftmals von der Zensur belangte Stefan Heym

ihre "hölzerne Primitivität" und sogar der kommunistische Arbeiterschriftsteller

Eduard Claudius das "öde kleinbürgerliche Niveau".

Der V. Parteitag der SED 1958 stellte die Losung "sozialistisch arbeiten,

lernen und leben" auf und Parteichef Walter Ulbricht verlangte: "In Staat und

Wirtschaft ist die Arbeiterklasse der DDR bereits Herr. Jetzt muss sie auch die

Höhen der Kultur stürmen und von ihnen Besitz ergreifen." Der Literatur

widmete man sich ein Jahr später auf der Bitterfelder Konferenz, an der

professionelle und Laienschriftsteller, Verlags- und Kulturfunktionäre

teilnahmen. Programmatisch sollte die historische Trennung von Kunst und

Leben, von Kulturschaffenden und Produktionsarbeitern, die Arbeitsteilung von

Hand- und Kopfarbeit aufgehoben werden. Einerseits sollten die Schriftsteller in

die Betriebe gehen und sich mit Arbeit und Leben in der Produktion vertraut

machen, um besser darüber berichten zu können; andererseits sollten die

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Arbeiter selbst zum Schreiben angeregt werden unter dem Slogan: "Greif zur

Feder, Kumpel, die sozialistische Nationalkultur braucht dich!" Auch wenn

einzelne bedeutende Schriftsteller wie Christa Wolf, Brigitte Reimann oder

Franz Fühmann wirklich in Fabriken gingen, wurde dies jedoch nicht zu einer

allgemeinen Bewegung, da es bei vielen Autoren sowohl Vorurteile als auch

reale Bedenken gab, das solch eine Initiative literarisch fruchtbar werden

könne.

In einem Brief an den Kulturminister machte Fühmann 1964 deutlich,

warum er nicht in der Lage sei, den von der Partei gewünschten Betriebsroman

zu schreiben:

Was zum Beispiel empfindet ein Mensch, der weiß, dass er sein Leben lang so

ziemlich dieselbe Arbeit für so ziemlich dasselbe Geld verrichten wird, als beglückend

und was als bedrückend an eben dieser Arbeit; wo bringt sie ihm Reize, wo Freude, wo

Leid, in welchen Bildern, auf welche Weise erscheint sie in seinem Denken und Fühlen

usw. Ich weiß es nicht und kann es nicht nachempfinden.

Andererseits aber bildeten sich neben der sprunghaft wachsenden

Volkskorrespondentenbewegung aus fast zehntausend ehrenamtlichen

Mitarbeitern bei Zeitungen und Rundfunk Hunderte von Zirkeln schreibender

Arbeiter, wodurch eine passive Konsumentenhaltung gegenüber dem

Schreiben aufgebrochen werden konnte. Ein neues literarisches Genre

entstand: das Brigadetagebuch, worin Arbeiter selbst über Probleme in der

Produktion und unter den Kollegen berichteten, ohne sich unbedingt an die

parteioffiziellen Vorgaben zu halten. Vollständig vermessen war es dann aber,

in diesen Texten eine "Keimzelle der deutschen Nationalliteratur" zu erblicken.

Auf der 2. Bitterfelder Konferenz 1964 wurde die Kampagne

abgebrochen: Widerstände unter den Berufsschriftstellern hatten sich als zu

stark herausgestellt; ein weiteres Hemmnis waren auch ästhetische

Konventionen aus dem Kanon des sozialistischen Realismus. Dazu kam bei

vielen die Weigerung, sich für eine Literatur der Partei instrumentalisieren zu

lassen oder als nicht-proletarische Dichter die Lebenserfahrungen der Arbeiter

literarisch zu realisieren, wie es ja auch Fühmann abgelehnt hatte. Zudem

hatten sich zu Beginn der sechziger Jahre einige gesellschaftspolitische

Voraussetzungen geändert, die es der Partei kulturpolitisch nicht mehr opportun

erscheinen ließen, noch länger auf einer Produktionsliteratur aus der

37


Perspektive von unten zu insistieren.

In der offiziell nach wie vor beliebten antifaschistischen und

Antikriegsliteratur begann mittlerweile eine Darstellungsweise zu dominieren,

die das Geschehen vom Standpunkt bereits überzeugter Antifaschisten und

Widerstandskämpfer präsentiert. Weitgehend unberücksichtigt blieb aber die

Frage, wie denn die Indifferenten, Naiven und Opportunisten der Hitlerzeit

anzusprechen seien, die schließlich die übergroße Mehrheit der DDR-Bürger

bildeten. Inmitten dieser Literatur war Franz Fühmann die Ausnahme. Motive

und Ursachen für die Hinwendung zum Faschismus sowie Bedingungen für die

Abwendung davon hat der Autor in der vielbeachteten Novelle Kameraden

(1955) wie auch später in dem Erzählband Das Judenauto (1962) literarisch

beispielhaft aufgearbeitet. Fühmann, 1922 geboren, war selbst jahrelang Soldat

der Nazi-Wehrmacht und hatte erst in sowjetischer Kriegsgefangenschaft damit

begonnen, sich zum Antifaschisten und Sozialisten zu entwickeln:

Ich bin gleich Tausenden andren meiner Generation zum Sozialismus nicht

über den proletarischen Klassenkampf oder von der marxistischen Theorie her, ich bin

über Auschwitz in die andre Gesellschaft gekommen. Das unterscheidet meine

Generation von denen vor ihr und nach ihr, und eben dieser Unterschied bedingt

unsere Aufgabe in der Literatur...

Hommage an Franz Fühmann (2008)

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Seit 1950 in Berlin/DDR lebend, ist Fühmann als sehr einflussreicher

Autor von Gedichten, erzählender Prosa, Tagebüchern und Nachdichtungen

hervorgetreten. Nicht zu vergessen sind seine literaturkritischen Aufsätze und

Essays, besonders über E.T.A. Hoffmann und Georg Trakl. Unermüdlich setzte

er sich für junge, noch unbekannte Autoren ein. 1976 gehörte er zu den

Erstunterzeichnern der Resolution gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns.

Franz Fühmann verstarb 1984.

FRANZ FÜHMANN, Das Judenauto

Sein Grundthema der Aufarbeitung der – auch eigenen – faschistischen

Vergangenheit konkretisiert der Autor in dieser Erzählung im Bild des

bluttriefenden Judenautos, in das sich dem Hass berauschten Schüler ein

harmloses Fahrzeug verwandelt.

Wie tief hinab reicht das Erinnern?

(…)

Eines Morgens, es war im Sommer 1931, und ich war damals neun Jahre alt,

kam, wie immer wenige Minuten vor dem Läuten, das Klatschmaul der Klasse, die

schwarzgezopfte, wie ein Froschteich plappernde Gudrun K. wieder einmal mit ihrem

Schrei: “Ihr Leute, ihr Leute, habt ihr´s schon gehört!” in die Klasse gestürmt. Sie

keuchte, da sie das schrie, und fuchtelte wild mit den Armen; ihr Atem flog, doch sie

schrie dennoch: “Ihr Leute, ihr Leute!” und rang im Schreien schnaufend nach Luft. Die

Mädchen stürzten ihr, wie immer, entgegen und umdrängten sie jäh wie ein

Bienenschwarm seine Königin (…).

Ein Judenauto sei, so sprudelte sie heraus, in den Bergen aufgetaucht und

fahre abends die wenig begangenen Wege ab, um Mädchen einzufangen und zu

schlachten und aus ihrem Blut ein Zauberbrot zu backen; es sei ein gelbes, ganz

gelbes Auto, so redete sie, und Mund und Augen waren vor Entsetzen verzerrt: ein

gelbes, ganz gelbes Auto mit vier Juden drin, vier schwarzen mörderischen Juden mit

langen Messern, und alle Messer seien blutig gewesen, und vom Trittbrett habe auch

Blut getropft, das hätten die Leute deutlich gesehen, und vier Mädchen hätten sie

bisher geschlachtet, zwei aus Witkowitz und zwei aus Böhmisch-Krumma; sie hätten

sie an den Füßen aufgehängt und ihnen den Kopf abgeschnitten und das Blut in

Pfannen auslaufen lassen, und wir lagen übereinandergedrängt, ein Klumpen

Entsetzen, der kreischte und bebte (…).

(…) da kam, Korn und Gras zur Seite drängend, ein braunes Auto langsam den

Feldweg herunter.

Da ich es vernahm, schrak ich zusammen, als sei ich bei einem Verbrechen

ertappt worden; ich riß die Hände von meiner Brust, und das Blut schoß mir jäh in den

Kopf. Mühsam sammelte ich meine Gedanken. Ein Auto? Wie kommt ein Auto hierher,

dachte ich stammelnd; da begriff ich plötzlich: das Judenauto! Ein Schauer überrann

mich; ich stand gelähmt. Im ersten Augenblick hatte ich zu sehen vermeint, daß das

Auto braun war; nun, da ich, entsetzt und von einer schaurigen Neugier angestachelt,

ein zweites Mal hinblickte, sah ich, daß es mehr gelb als braun war, eigentlich gelb,

39


ganz gelb, grellgelb. Hatte ich anfangs nur drei Personen drin gesehen, so hatte ich

mich sicher getäuscht, oder vielleicht hatte sich einer geduckt, sicher hatte sich einer

geduckt, es waren ihrer vier im Wagen, und einer hatte sich geduckt, um mich

anzuspringen, und da fühlte ich Todesangst. Es war Todesangst; das Herz schlug nicht

mehr; ich hatte sein Schlagen nie wahrgenommen, doch jetzt da es nicht mehr schlug,

fühlte ich es: ein toter Schmerz im Fleisch, eine leere Stelle, die, sich verkrampfend,

mein Leben aussog. Ich stand gelähmt und starrte auf das Auto, und das Auto kam

langsam den Feldweg herunter, ein gelbes Auto, ganz gelb, und es kam auf mich zu,

und da, als habe jemand einen Mechanismus in Gang gesetzt, schlug mein Herz

plötzlich wieder, und nun schlug es rasend schnell, und rasend überschlugen sich

meine Gedanken: schreien, davonlaufen, im Korn verstecken, ins Gras springen, doch

da fiel mir in der letzten Sekunde noch ein, daß ich keinen Verdacht erregen durfte. Ich

durfte nicht merken lassen, daß ich wußte: Das war das Judenauto, und so ging ich,

von Grauen geschüttelt, mäßigen Schrittes den Feldweg hinunter, mäßigen Schrittes

vor dem Auto, das Schritt fuhr, und mir troff der Schweiß von der Stirn, und ich fror

zugleich, und so ging ich fast eine Stunde, obwohl es zum Dorf nur ein paar Schritte

waren. Meine Knie zitterten; ich dachte schon, daß ich umfallen würde, da hörte ich,

wie ein Peitschenschlag knallend, eine Stimme aus dem Wagen: ein Anruf vielleicht

oder ein Befehl, und da wurde mir schwarz vor den Augen: ich spürte nur noch, wie

meine Beine liefen und mich mit sich nahmen; ich sah und hörte nichts mehr und lief

und schrie, und erst, als ich mitten auf der Dorfstraße stand, zwischen Häusern und

unter Menschen, wagte ich keuchend, mich umzuschauen, und da sah ich, daß das

Judenauto spurlos verschwunden war.

Natürlich erzählte ich am nächsten Morgen in der Klasse, daß mich das

Judenauto stundenlang gejagt und fast erreicht habe und daß ich nur durch ganz tolles

Hakenschlagen entkommen sei, und ich schilderte das Judenauto: gelb, ganz gelb und

mit vier Juden besetzt, die blutige Messer geschwungen hatten, und ich log nicht, ich

hatte alles ja selbst erlebt. Die Klasse lauschte atemlos.

Der bedeutendste und auch populärste KZ-Roman nach Anna Seghers

Das siebte Kreuz ist Nackt unter Wölfen (1958) von Bruno Apitz. Der Autor hat

selbst fast die ganze Nazi-Zeit in Zuchthäusern und Lagern verbracht, zuletzt in

Buchenwald. Der authentisch fundierte Roman erzählt von der Rettung eines

dreijährigen jüdischen Kindes, das in Buchenwald versteckt gehalten wird. Der

Plan der illegalen Lagerleitung, einen bewaffneten Aufstand gegen die KZ-

Bewacher vorzubereiten, gerät in Gefahr, da einige der führenden Genossen in

die Rettungsaktion für das Kind verwickelt sind. Doch der Aufstand gelingt, das

Kind wird gerettet, das nun symbolträchtig nach monatelanger Stummheit

schreit.

Stellvertretend für die in den fünfziger Jahren entstandene Produktionsoder

Aufbauliteratur steht der Roman von Eduard Claudius Menschen an

unserer Seite aus dem Jahre 1951, da er den entscheidenden Impuls für diese

Tendenz bis hin zur Bitterfelder Konferenz gab. Claudius hat die geradezu

vorbildliche Biografie eines proletarisch-revolutionären Schriftstellers:

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kommunistischer Arbeiter, Kämpfer bei den Internationalen Brigaden im

Spanischen Bürgerkrieg, während des Faschismus zuerst in Haft, dann als

Internierter im Schweizer Exil, schließlich Partisan in Norditalien. Nach

Kriegsende zuerst in den Westzonen, dann ab 1948 in der SBZ. Freier

Schriftsteller, ab 1956 im Diplomatischen Dienst der DDR.

Der Roman zeigt den neuen proletarischen Menschen im Kampf mit

Widersprüchen und Konflikten und nicht einfach als einen strahlenden Helden.

Ausgangspunkt des Romans ist eine wahre Begebenheit: Der Arbeiter Hans

Garbe hatte sich die Reparatur eines Brennofens in einem Berliner Großbetrieb

zum Ziel gesetzt, ohne diesen abstellen zu lassen. Gegen Widerstände, selbst

bei Parteivertretern, und auch gegen Sabotageakte seiner Kollegen gelingt es

Garbe und seinem Kollektiv, den bei eintausend Grad arbeitenden Ofen neu zu

mauern. Auffallend ist die relativ realistische und wenig plakative Beschreibung

der Menschen, auch in ihrem Verhältnis zur SED, der Probleme des

gespaltenen Deutschlands sowie die freie Behandlung erotischer Themen.

Deshalb hatte der ursprüngliche Verlag des Autors den Roman als

"unsozialistisch" und "parteifeindlich" abgelehnt; Claudius musste sich einen

anderen Verleger suchen.

Hommage an Stefan Heym (2008)

41


Ebenfalls als Betriebsroman kann Stefan Heyms 5 Tage im Juni gelesen

werden, der – im Jahre 1959 unter dem Titel Der Tag X entstanden – erst

dreißig Jahre später, im November 1989, in der DDR erscheinen konnte.

Heyms Buch, das 1974 in überarbeiteter Form bereits in der Bundesrepublik

publiziert wurde, ist der bis dato einzige nicht parteikonforme belletristische Text

zu den Ereignissen des Arbeiteraufstands 1953. Am 17. Juni kam es damals in

vielen Städten der DDR zu einem Generalstreik und Massendemonstrationen

der Arbeiter, die eine Herabsetzung der Arbeitsnormen und politische Freiheiten

forderten. Da Partei- und Staatsmacht der DDR sich versteckt hielten, wurde

die Revolte von sowjetischen Panzern unterdrückt.

Uwe Johnson, Mutmassungen über Jakob

Noch nicht allzu lange wird Uwe Johnson zur DDR-Literatur gerechnet,

der während seiner Zeit im preußisch-deutschen Sozialismus vielleicht die

interessanteste Prosa dort schrieb. Sein erstes Werk Ingrid Babendererde.

Reifeprüfung 1953 entstand zwischen 1953-56, wurde jedoch erst 1985 aus

dem Nachlass veröffentlicht. Ein inhaltlich brisantes Buch (auch über das Tabu

der Republikflucht junger Menschen) in einem hochkomplexen Erzählstil. Der

publizistische Erstling war dann aber Mutmassungen über Jakob, der 1959 nur

in der Bundesrepublik erschien und auch den Wechsel Johnsons von Ost nach

West markiert. Mit diesem Roman rückte der junge Autor auf einen Schlag zu

einem der Protagonisten des neuen westdeutschen Romans an der Seite von

Heinrich Böll und Günter Grass auf: Thematisch von der Kritik sofort als

“Roman der beiden Deutschland” bezeichnet, der in Wirklichkeit aber eher über

die DDR denn die BRD berichtet, macht sich der Autor früher als seine

ostdeutschen Kollegen Erzähltechniken der Moderne, insbesondere von

Faulkner, Joyce und Brecht, zu eigen. Eigentlich hätten die Mutmassungen

durchaus auch ins Schema des offiziell eingeforderten Betriebsromans gepasst,

denn selten nur haben die Leser eine derartig präzise Beschreibung der

Arbeitswelt, in diesem Fall bei der DDR-Eisenbahn, vorgeführt bekommen.

Worum es dem Autor bei seinem Buch geht, fasst er in einem Exposé für den

Verleger Suhrkamp so zusammen: Es solle

42


Hommage an Uwe Johnson (2008)

erzählen von der Bedingung und Veränderung dreier Personen durch ihre

Aufgaben im Bereich der Arbeit und durch ihre Berührungen mit der Maschine

Gesellschaft. Einer (...) ist im Herbst 1956 achtundzwanzig Jahre alt, in der beruflichen

Ausbildung und Tätigkeit auf der Stufe eines Dispatchers bei der “Deutschen

Reichsbahn”. Darin schon überfordert, wird er nachhaltig gestört durch das Verhalten

seiner Mutter, die unverhofft und unerklärt aus dem Land davonläuft. Zu danken hat er

dies einem Interessenten von der geheimen Polizei, der Auskünfte wünscht über eine

Person, an der sie einmal Mutterstelle vertreten hatte. Diese Halbwaise, Tochter ihres

Hauswirts, inzwischen dreiundzwanzig Jahre alt, ist als Angestellte einer Behörde des

Nordatlantischen Vertrages womöglich im Besitz von Kenntnissen, nach denen die

Rote Armee sich sehnt.

Ähnlich wie in den drei Westzonen wurde auch in der SBZ schon in den

ersten Nachkriegsmonaten das Theaterleben nachhaltig gefördert, kamen

Autoren und Stücke auf die Bühne, die dem deutschen Theaterbesucher

unbekannt waren – so von Jean Anouilh, Jean Paul Sartre, Noel Coward, T.S.

Eliot, Tennessee Williams. In der Dramaturgie herrschte die Darstellung von

Emotionen, Konflikten und Aktion vor, insbesondere die Methode der

psychologischen Einfühlung des russischen Theatermachers Konstantin

Stanislawski. Die großen Lehrmeister des sozialistischen deutschen Theaters,

Friedrich Wolf und vor allem Bertolt Brecht, verfügten zunächst nur über

geringen Einfluss.

43


Wolf kam gleich 1945 aus sowjetischen Exil nach Ostberlin zurück. Er,

der in der Weimarer Zeit und in der Emigration durch politisch effektvolles

Theater mit Stücken wie Cyankali und Professor Mamlock hervorgetreten war,

hatte in den ersten Jahren in der auf Klassik und bürgerliches Theater

ausgerichteten Theaterlandschaft der SBZ große Schwierigkeiten, wieder Fuß

zu fassen. Konsequenterweise war aber gerade Wolf einer der ersten

Stückeschreiber, die sich der neuen Realität in der DDR zuwandten: In

Bürgermeister Anna (1950) thematisierte er die Lage auf dem Lande und die

damalige Situation der Frau.

Brecht kam erst 1948 und damit relativ spät nach Ostberlin und war

zunächst nur mit zwei Stücken aus der Emigrationszeit auf den Bühnen

vertreten (Die Gewehre der Frau Carrar und Furcht und Elend des Dritten

Reiches), die zudem nicht in seinem Sinne inszeniert wurden. Er erkannte bald,

dass er seine revolutionäre Theaterkonzeption des Lehrtheaters den neuen

Bedingungen des Nachkriegs anpassen musste: Nach zwölf Jahren

Nationalsozialismus, Krieg, Niederlage und tausendfach erlebter Schmach und

Schande fand sich kein breites klassenbewusstes Arbeiterpublikum mehr. Eine

proletarische Öffentlichkeit wie vor 1933 existierte nicht mehr. Notwendig war

eine – so Brecht – "demokratisierung des theaters".

Bereits 1922 erhielt er den anerkannten Kleist-Preis für Trommeln in der

Nacht. Danach war Brecht als Dramaturg und freier Schriftsteller tätig. 1933

geht er in die Emigration über die Tschechoslowakei, die Schweiz, Frankreich,

Dänemark, Schweden, Finnland, die Sowjetunion schließlich in die USA, wo er

ab 1941 lebt. 1947 Rückkehr nach Europa, zuerst nach Zürich, dann nach

Ostberlin. 1951 wird ihm der Nationalpreis I. Klasse der DDR zuerkannt. Im

"Kleinen Organon für das Theater", 1947/48 geschrieben und ein Jahr später

veröffentlicht, wird deutlich an Grundelementen des epischen Theaters

festgehalten: Gegen ein Theater der Einfühlung, Identifikation und Illusionierung

stellt Brecht nach wie vor das mittels Verfremdungseffekt den Schein

zerstörende, kritische, historisierende Theater, welches dem Zuschauer Lernen,

Erkennen und parteiliches Verhalten ermöglichen soll. Doch wird nun die

Ästhetik des Schauens rehabilitiert und explizit die Fabel als "Herzstück der

theatralischen Veranstaltung" wieder aufgewertet.

1949 gründeten Brecht und seine Ehefrau und bevorzugte Schau-

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spielerin Helene Weigel das noch heute bestehende Berliner Ensemble, wo

Brecht nun im eigenen Theater seine Konzeptionen erproben konnte und

dadurch in der Folgezeit für die DDR-Dramaturgie und Theaterliteratur zum

spiritus rector wurde. Neben eigenen Stücken aus der Exilzeit, so die

beispielhafte Inszenierung seiner Mutter Courage und ihre Kinder (Uraufführung

1941 in Zürich mit Helene Weigel in der Hauptrolle), brachte er einige

zeitgenössische Stücke anderer Autoren (z.B. von Erwin Strittmatter und J.R.

Becher) auf die Bühne, beschäftigte sich ansonsten nur partiell mit der

Gegenwart der DDR und widmete sich vor allem der Bearbeitung älterer

Vorlagen von Shakespeare, Goethe, Molière und Jakob Reinhard Michael Lenz.

Hommage an Bertolt Brecht (2008)

Mit der neuen Wirklichkeit in der industriellen und landwirtschaftlichen

Produktion der jungen DDR beschäftigte sich aber das Theater durchaus und

kreierte dabei auch ein eigenes Genre, das “Agrodrama” (David Bathrick), für

das Friedrich Wolfs Bürgermeister Anna und Erwin Strittmatters Katzgraben in

der Inszenierung Brechts die Maßstäbe setzten und das sich bei Autoren und

Publikum großer Beliebtheit erfreute. Jedoch sind nur wenige anspruchsvolle

Stücke zu verzeichnen, da die meisten appellativ und tendenziös bleiben.

Erwähnenswert sind Moritz Tassow von Peter Hacks (Uraufführung 1965) und

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Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande von Heiner Müller,

geschrieben zwischen 1956-61. Nach einer einmaligen Aufführung auf einer

kleinen Studentenbühne wird das Stück sofort abgesetzt und der Autor aus dem

Schriftstellerverband ausgeschlossen. Müller hatte eine zu realistische und

kompromisslose Darstellung des Lebens auf dem Land gegeben und gezeigt,

wie sehr der Aufbau in der DDR mit der Hypothek der faschistischen

Vergangenheit belastet ist: "So sah sie aus, die neue / Zeit: nackt, wie

Neugeborene immer, naß / Von Mutterblut – Beschissen auch." Die neue

Version Die Bauern (1964) erlebte ihre Uraufführung erst 1976, bis das Stück

dann 1985 endlich unzensiert gespielt werden konnte.

Heiner Müller ist – aus historischem Abstand betrachtet – zweifellos der

eigenwilligste und originellste Theaterdichter der DDR nach Brecht. Nach dem

Kriege und der Übersiedlung nach Ostberlin war er ab 1950 Journalist und

später Mitarbeiter beim Schriftstellerverband der DDR. Seit 1955 arbeitete er an

den ersten eigenen Stücken. 1956-58 erste Aufführungen in Leipzig und Berlin.

Thematisch beschäftigen sich Müllers Dramen mit der DDR und ihrer

Entwicklung, deutscher Geschichte (Germania Tod in Berlin, 1971) und der

Geschichte der Revolution (Zement, 1972; Der Auftrag, 1979). Immer wieder

greift er auf den Mythos zurück (Philoktet, 1958-64; Prometheus, 1967) sowie

auf Vorlagen von anderen Autoren wie Shakespeare oder Choderlos de Laclos

(Die Hamletmaschine, 1977; Quartett, 1980/81). Auch Heiner Müller gehörte zu

den ersten, die die Biermann-Resolution unterzeichneten.

Neben das Agrodrama trat als neues Genre, das sich mit DDR-

Wirklichkeit beschäftigte, das Produktionsstück, eine Tendenz der DDR-

Dramatik, die in der Prosa ihre Analogien fand und bis in die jüngste

Vergangenheit zurückreicht. Oft aber verbindet sich darin der Einfluss

Brechtscher Dramaturgie mit der Darstellung der Fabrik-Realität und einem

allzu harmonischen Ausklang. Auch hier faszinieren vor allem die Stücke Heiner

Müllers durch ihren Realismus, der sie die Zeit überdauern lässt. Beispielhaft

Der Lohndrücker (entstanden 1956, uraufgeführt 1958), den der Autor selber

nach dreißig Jahren noch einmal höchst aktuell inszenierte. Der Stoff geht auf

jene authentische Begebenheit zurück, die Eduard Claudius in seinem

Betriebsroman Menschen an unserer Seite verarbeitet hatte und an der sich

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auch Brecht versucht hatte. Interessant sind bei Müller die offene Form,

neunzehn kurze Bilder ohne Kontinuität der Handlung; die fehlende

Hierarchisierung der Rollen: der Protagonist steht weder im Zentrum noch ist er

beispielgebend. Das alles präsentiert in einer präzisen, gestischen Sprache.

Hommage an Heiner Müller (2008)

In der Zeitspanne von der Gründung der Republik bis zum Bau der

Mauer war die Lyrik recht vielförmig und kaum auf einen Nenner zu bringen.

Stellvertretend für die affirmative, den Sozialismus und die Partei

propagierende Dichtung sollen hier nur einige Verse aus Hasso Grabners

Preisgedicht "Dem jungen Flieger" (1961) zitiert werden:

Reiß hoch den silbernen Pfeil,

Arbeiterjunge am Steuer

des Düsenjägers. Dein ist der Himmel,

du neuer Herr im neuen Land,

du, mit des guten Hegers

schützender Hand,

Sinnbild der Arbeit erstarke.

Doch auch die Exzesse der Stalin-Verehrung in der Lyrik, an der viele

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namhafte Dichter und selbst Brecht sich beteiligten, sollen nicht unerwähnt

bleiben. Anlässlich des Todes von Stalin 1953 verfasste J. R. Becher ein

hymnisches Bekenntnis. Darin heißt es:

Gedenke, Deutschland, deines Freunds, des besten.

O danke Stalin, keiner war wie er

So tief verwandt dir. Osten ist und Westen

in ihm vereint. Er überquert das Meer,

Und kein Gebirg setzt ihm eine Schranke,

kein Feind ist stark genug, zu widerstehn

Dem Mann, der Stalin heißt, denn sein Gedanke

wird Tat, und Stalins Wille wird geschehn.

Schnell erkennen die Leser, dass hier die künstlerische Aussage durch

das ideologische Dogma zunichte wird: Poesie im Dienst des Personenkults.

Becher hatte Stalin "für einen der Genien der Menschheit" gehalten, später

jedoch in seiner Selbstkritik zum Stalinismus, die 1988 in der DDR veröffentlicht

wurde, auch bekannt, "dass die Methoden, derer er (Stalin, d. Verf.) sich zu

seiner Machterhaltung bediente,... rückständige, wenn nicht barbarische

waren".

Neben dem Werk Peter Huchels, Erich Arendts und des für die junge

Lyriker-Garde wichtigen Dichter-Lehrers Georg Maurer macht vor allem die

Spätlyrik Brechts ihren Einfluss geltend. Vor allem in den seit 1953

entstehenden Gedichten, so in den Buckower Elegien, wird nun die ganze

Wirklichkeit, ebenfalls in ihren scheinbar unpolitischen Aspekten erfasst. Auch

die Liebe und die Natur kommen wieder zu ihrem Recht, ohne dass die

gesellschaftliche Perspektive verloren ginge. Brecht geht es immer deutlicher

um die Produktion von Glück und Freundlichkeit im Sozialismus. Dabei greift

der Dichter in der Form zu den Mitteln der Verknappung, sprachlicher

Überraschungen bis hin zur Auflösung der Syntax.

BERTOLT BRECHT, Vergnügungen

Als inhaltlich und formal beispielhaft kann ein um 1954 entstandenes

Gedicht gelten, das, oberflächlich besehen, sich als ein Katalog rein zufällig

zusammengetragener privater Glücksmöglichkeiten darstellt. Dennoch kann

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jeder Vers – zum Beispiel im Kontext mit Brechts Biografie und der

Zeitgeschichte – eine soziale Dimension gewinnen. Außerdem zeigen die

Paarbildungen, die Positionierung des Begriffs "Dialektik" in der

Gesamtstruktur, sowie die Referenzmöglichkeiten der einzelnen Verse die

künstlerische Reflexion des Dichters.

Der erste Blick aus dem Fenster am Morgen

Das wiedergefundene alte Buch

Begeisterte Gesichter

Schnee, der Wechsel der Jahreszeiten

Die Zeitung

Der Hund

Die Dialektik

Duschen, Schwimmen

Alte Musik

Bequeme Schuhe

Begreifen

Neue Musik

Schreiben, Pflanzen

Reisen

Singen

Freundlich sein.

Von den jüngeren machen vor allem zwei Dichter in dieser Zeit auf sich

aufmerksam: Der 1929 in Berlin geborene Günter Kunert veröffentlichte mit

einundzwanzig Jahren bereits seinen ersten Gedichtband, der ein junges

unangepasstes, hochbegabtes Talent vorstellt. Auch die folgenden Bände Unter

diesem Himmel (1955), Tagwerke (1960), Das kreuzbrave Liederbuch (1961)

verweisen auf ein an Brecht, aber auch z.B. an Heinrich Heine und Edgar Lee

Masters geschultes Aussage- und Formbewusstsein, auf eine Vorliebe für

Paradox, Lakonik und Lapidarstil. Dabei lehnt Kunert die Brechtsche Didaktik

ab, wenn er 1965 sagt:

Lehrgedichte heute müssten schwarze Lehrgedichte sein, die mit schlechtem

Beispiel vorangehen, das Negative (was ist das?) als Ziel zeigen – auf eine Art aber,

die aus dieser 'Lehre' eine Gegenlehre ziehen läßt.

Günter Kunert besuchte von 1936-38 die Volksschule, eine weitere

Ausbildung war ihm zunächst durch die NS-Rassengesetze verwehrt; 1943-44

Lehre; 1946-49 Studium der angewandten Kunst (Grafik). 1950 Teilnahme am

1. Schriftstellerlehrgang (zusammen mit Heiner Müller, Erich Loest). 1962

Heinrich Mann-Preis, 1973 Johannes R. Becher-Preis. 1976 Unterzeichnung

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der Biermann-Petition. 1977 Streichung der SED-Mitgliedschaft. Lebt und

arbeitet seit 1979 in der Bundesrepublik.

Hommage an Günter Kunert (2008)

GÜNTER KUNERT, Über einige Davongekommene

1950 veröffentlichte Kunert in seinem ersten Gedichtband Wegschilder

und Mauerinschriften den Neunzeiler "Über einige Davongekommene". Die

Skepsis, die darin zum Ausdruck kommt, lässt sich durch die damalige

politische Großwetterlage (Kalter Krieg, Korea-Krieg) erklären, wurzelt ohne

Zweifel aber noch tiefer.

Als der Mensch

unter den Trümmern

seines

bombardierten Hauses

hervorgezogen wurde,

schüttelte er sich

und sagte:

Nie wieder.

Jedenfalls nicht gleich.

Der um einiges ältere Johannes Bobrowski begann erst in sowjetischer

Kriegsgefangenschaft zu schreiben. Er steht nach eigener Aussage in der

Tradition des Naturgedichts von Peter Huchel. Sein besonderes Thema, dem er

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in Lyrik und Prosa nachgeht, sind aufgrund auch persönlicher Erfahrungen "die

Deutschen und der europäische Osten". Dabei verwendet er eine geografische

Chiffre: Sarmatien (Sarmatische Zeiten, BRD 1960/ DDR 1961). Diese antike

Bezeichnung für den Siedlungsraum zwischen Ostsee und Schwarzem Meer

steht hier ganz speziell für das aggressive Verhältnis der Deutschen zu ihren

östlichen Nachbarn und den Juden.

Das für Bobrowski typische Ineinander von Natur, Geschichte, Krieg und

Zerstörung kommt in seiner syntaktisch und lexikalisch eigenwilligen Sprache in

dem Gedicht "Kloster bei Nowgorod" (1960/61) in wenigen Versen so zum

Ausdruck:

das Hungertuch Nacht, von verstummten

Vögeln durchstürzt...silberner steigt,

flossenstarrend

der Hecht aus dem Grund.

Es ist die Natur, aber als "Wirkungsfeld des Menschen", die die "lange

Geschichte aus Unglück und Verschuldung" (Bobrowski) im Gedächtnis

aufbewahrt. So heißt es am Schluss des Gedichts "Antwort" (1963):

Die mich einscharren

unter den Wurzeln,

hören:

er redet,

zum Sand,

der ihm den Mund füllt - so wird

reden der Sand, und wird

fliegen das Wasser.

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Hinter der Mauer – "in diesem besseren Land"

Hommage an Wolf Biermann (2008)

Die sechziger Jahre bringen einige einschneidende gesellschaftspolitische

Veränderungen mit sich. Zunächst einmal den Bau der Berliner Mauer am

13. 8. 1961 und den Ausbau der gesamten Grenzanlagen zur BRD. Offizielle

Begründung dafür ist der Schutz gegen imperialistische Machenschaften, in

Wirklichkeit geht es darum, den Massenexodus zu stoppen: Von der Gründung

der Republik bis zu diesem Tag waren zweieinhalb Millionen Menschen in den

Westen gegangen.

Obwohl SED-Chef Walter Ulbricht nur kurz davor noch erklärte:

“Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!” und die DDR

programmatisch noch bis Anfang/Mitte der 70er Jahre an der Einheit der

deutschen Nation festhielt, war der Mauerbau doch eine praktische Lösung der

nationalen Frage, der dann auch bald die offizielle Absage an eine einheitliche

deutsche Kultur folgte.

Mit der Abschottung Richtung Bundesrepublik entstand die Tendenz und

auch der Zwang für die Schriftsteller, sich stärker auf das eigene Land, seine

Widersprüche und Alltagsprobleme zu konzentrieren. Viele taten dies auch in

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der offen eingestandenen Hoffnung, nun – ungestört von äußeren Einwirkungen

des Kalten Krieges – in einer freieren, demokratischeren Atmosphäre sich mit

Zustand und Bedingungen einer sozialistischen Entwicklung auseinandersetzen

zu können. Die Literatur verzeichnet also eine deutliche Ausprägung eines –

keineswegs antikommunistischen – Kritikpotentials, auf die Partei und Staat

prompt mit der Intensivierung der Zensur reagierten, wodurch sich für eine

Reihe von Autoren bald die schizophrene Situation einstellte: in der DDR über

und für sie zu schreiben, aber nur in der BRD veröffentlichen zu können und

auch hauptsächlich dort gelesen zu werden.

Dennoch herrschte bis Mitte der sechziger Jahre eine durchaus

widersprüchliche kulturpolitische Situation. Einerseits wurde noch 1963 von der

DDR-Germanistik mit Franz Kafka abgerechnet, doch erschienen zugleich

einzelne Werke des Prager Autors. Westdeutsche Literatur konnte durchaus

veröffentlicht werden, wenn auch bevorzugt von eher "links" eingestuften

Autoren wie Martin Walser, Peter Weiss, Heinrich Böll. Und Stephan Hermlin

konnte 1962 die keineswegs botmäßigen Vertreter der jungen Lyrikergeneration

wie Sarah Kirsch, Volker Braun und Wolf Biermann der Öffentlichkeit vorstellen.

Dafür wurde er jedoch alsbald von der Partei schwer kritisiert. Auch schirmte

sich die offizielle Kultur immer stärker gegen neue, moderne Tendenzen und

dann auch gegen die bundesrepublikanische Literatur schlechthin ab. In diesen

Rahmen gehörte auch die ebenfalls 1962 beschlossene Absetzung von Peter

Huchel als Chefredakteur der wichtigen Literaturzeitschrift "Sinn und Form", die

er seit 1949 geleitet hatte.

Das Jahr 1965 sah den Höhepunkt des Kampfes der SED gegen alle

intellektuellen und literarischen Strömungen, die sich unangepasst und kritisch

zum "realen Sozialismus" verhielten. Auf einer Konferenz des Zentralkomitees

der Partei wurden sie verurteilt als "modernistisch", "skeptizistisch",

"anarchistisch", "nihilistisch", "liberalistisch" und sogar "pornografisch". Die

betroffenen Autoren waren Günter Kunert, Heiner Müller, Stefan Heym, Wolf

Biermann. Der spätere Parteichef Erich Honecker fasste die Aktion zur

Reinigung der DDR-Literatur von nonkonformistischen ideologischen und

politischen Tendenzen in dem Satz zusammen: "Unsere DDR ist ein sauberer

Staat." Eine Zeit der Verhärtung setzte ein, die sich mit den Ereignissen des

Jahres 1968 noch verstärkte: Gegenüber der Studentenbewegung und der

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neuen Linken in Westeuropa reagierte die SED mit Unverständnis und weiterer

Abgrenzung. Und die Beteiligung der DDR als Mitglied des Warschauer Pakts

an der militärischen Intervention gegen den "Prager Frühling" als Versuch des

tschechoslowakischen Volkes, seinen Weg zu einem demokratischen

Sozialismus in Unabhängigkeit und Freiheit zu verfolgen, ließ die Partei- und

Staatsführung innenpolitisch noch rigider und unduldsamer reagieren.

In der Wirtschaftspolitik orientierte sie ab 1963 besonders auf eine

Modernisierung und Rationalisierung des ökonomischen Systems. Zentrale

personalpolitische Bedeutung erlangten dabei auf der einen Seite

Wissenschaftler und Techniker, auf der anderen die Planer und Leiter – im

Westen Manager geheißen – an den Schaltstellen der Produktion und in den

einzelnen Betrieben und Kombinaten. Um eine Steigerung der Produktivität

möglichst effektiv in Gang zu setzen und auch den einzelnen Werktätigen dafür

zu gewinnen, wurde das Prinzip des materiellen Anreizes zur Er- und

Übererfüllung des Wirtschaftsplanes generell durchgesetzt. Im Rahmen der

Systemkonkurrenz mit dem Kapitalismus, der immerzu "überholt" werden sollte,

wurde auch die DDR Opfer des Industrialismus und Konsumismus. Weite

Kreise in Partei, Staat und Wirtschaft waren von Wissenschaft und modernen

Technologien so fasziniert, dass Günter Kunert 1966 noch ganz allein stand mit

seiner Warnung, der wissenschaftlich-technische Fortschritt könne auch in

Menschenfeindlichkeit umschlagen:

Am Anfang des technischen Zeitalters steht Auschwitz, steht Hiroshima, die ich

nur in bezug auf gesellschaftlich organisiert verwendete Technik hier in einem Atemzug

nenne. Ich glaube, nur noch große Naivität setzt Technik mit gesellschaftlichhumanitärem

Fortschreiten gleich.

Die DDR-Literaturwissenschaft konstatiert für die sechziger Jahre, dass

die Literatur eine neue Qualität erreicht habe und man am "Anfang...der

Entfaltung der sozialistischen Nationalliteratur der DDR" stehe. Aus dem

historischen Abstand wird der Propagandacharakter eines solchen Anspruchs

überdeutlich. Was sich für diesen Zeitabschnitt feststellen lässt, ist eine

beachtliche literarische Vielfalt, die man in dieser Periode verschärften Kalten

Krieges vielleicht nicht vermuten würde. Die Arbeit am Vergangenheitsstoff –

Deutschland in Krieg und Faschismus – wurde fortgeführt und es entstanden

bedeutende Texte wie die von Helga Schütz (Vorgeschichten oder Schöne

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Gegend Probstein, 1970), Johannes Bobrowski (Levins Mühle. 34 Sätze über

meinen Großvater, 1964; Böhlendorff und Mäusefest, 1965), Jurek Becker

(Jakob, der Lügner, 1968) sowie von Fred Wander, der mit Der siebente

Brunnen (1971) einen der poetischsten KZ-Romane überhaupt vorlegt.

Die Erzählung "Mäusefest" von Johannes Bobrowski legt Zeugnis ab

von der fast vollkommen zerstörten Kultur des osteuropäischen Judentums. Der

Name des Helden Moise Trumpeter ist jiddisch, er selbst spricht auch Jiddisch,

eine aus mittelhochdeutschen, hebräischen, romanischen und auch slawischen

Elementen durchmischte Sprache. Wie diese selbst eine Form des

interkulturellen Austauschs darstellt, so geht es im Werk Bobrowskis auch

immer wieder um die Auseinandersetzung mit einer Vergangenheit des

Zusammenlebens verschiedener Ethnien im mittelosteuropäischen Raum,

besonders um das Verhältnis der Deutschen zu ihren osteuropäischen

Nachbarn. In den beiden Erzählbänden Boehlendorff und Mäusefest und Der

Mahner werden die wesentlichen durch den Krieg hervor gerufenen Zäsuren im

Leben der Generation des Autors sowie Menschen, Landschaften und

Geschichtliches seiner Heimat Ostpreußen geschildert. Bobrowskis Versuch

der Aussöhnung brachte ihm noch vor seinem frühen Tod mit achtundvierzig

Jahren ungeteilte Anerkennung sowohl in der DDR wie in der BRD.

Hommage an Johannes Bobrowski (2008)

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JOHANNES BOBROWSKI, Mäusefest

Die kleine 1962 verfasste Geschichte "Mäusefest" stellt immer wieder

und unvermutet die humorig-heitere Mäuse-Idylle in den großen historischen

Kontext des deutschen Überfalls auf Polen und der Judenvernichtung in den

Konzentrationslagern: Der 2. Weltkrieg wurde ausgelöst durch Hitlers

Einmarsch in Polen am 1. September 1939. Im so genannten Warschauer

Ghetto lebten rund vierhunderttausend Juden, von denen ab Juli 1942 täglich

bis zu zwölftausend Menschen in das Vernichtungslager Treblinka

abtransportiert wurden.

Moise Trumpeter sitzt auf dem Stühlchen in der Ladenecke. Der Laden ist klein, und er ist

leer. Wahrscheinlich weil die Sonne, die immer hereinkommt, Platz braucht und der Mond

auch. Der kommt auch immer herein, wenn er vorbeigeht. Der Mond also auch. Er ist

hereingekommen, der Mond, zur Tür herein, die Ladenklingel hat sich nur einmal und ganz

leise nur gerührt, aber vielleicht gar nicht, weil der Mond hereinkam, sondern weil die

Mäuschen so laufen auf den dünnen Dielenbrettern. Der Mond ist also gekommen, und

Moise hat Guten Abend, Mond! gesagt, und nun sehen sie beide den Mäuschen zu.

Das ist aber auch jeden Tag anders mit den Mäusen, mal tanzen sie so und mal so, und

alles mit vier Beinen, einem spitzen Kopf und einem dünnen Schwänzchen.

Aber lieber Mond, sagt Moise, das ist längst nicht alles, da haben sie noch so ein

Körperchen, und was da alles drin ist! Aber das kannst du vielleicht nicht verstehen, und

außerdem ist es gar nicht jeden Tag anders, sondern immer ganz genau dasselbe, und das,

denk ich, ist gerade so sehr verwunderlich. Es wird schon eher so sein, daß du jeden Tag

anders bist, obwohl du doch immer durch die gleiche Tür kommst und es immer dunkel ist,

bevor du hier Platz genommen hast. Aber nun sei mal still und paß gut auf.

Siehst du, es ist immer dasselbe.

Moise hat eine Brotrinde vor seine Füße fallen lassen, da huschen die Mäuschen näher, ein

Streckchen um das andere, einige richten sich sogar auf und schnuppern ein bißchen in die

Luft. Siehst du, so ist es. Immer dasselbe.

Da sitzen die beiden Alten und freuen sich und hören zuerst gar nicht, daß die Ladentür

aufgegangen ist. Nur die Mäuse haben es gleich gehört und sind fort, ganz fort und so

schnell, daß man nicht sagen kann, wohin sie gelaufen sind.

In der Tür steht ein Soldat, ein Deutscher. Moise hat gute Augen, er sieht: ein junger

Mensch, so ein Schuljunge, der eigentlich gar nicht weiß, was er hier wollte, jetzt, wo er in

der Tür steht. Mal sehen, wie das Judenvolk haust, wird er sich draußen gedacht haben.

Aber jetzt sitzt da der alte Jude auf seinem Stühlchen, und der Laden ist hell vom Mondlicht.

Wenn Se mechten hereintreten, Herr Leitnantleben, sagt Moise.

56


Der Junge schließt die Tür. Er wundert sich gar nicht, daß der Jude Deutsch kann, er steht

so da, und als Moise sich erhebt und sagt: Kommen Se man, andern Stuhl hab ich nicht,

sagt er: Danke, ich kann stehen, aber er macht ein paar Schritte, bis in die Mitte des Ladens,

und dann noch drei Schritte auf den Stuhl zu. Und da Moise noch einmal zum Sitzen

auffordert, setzt er sich auch.

Jetzt sind Se mal ganz still, sagt Moise und lehnt sich an die Wand.

Die Brotrinde liegt noch immer da, und, siehst du, da kommen auch die Mäuse wieder. Wie

vorher, gar nicht ein bißchen langsamer, genau wie vorher, ein Stückchen, noch ein

Stückchen, mit Aufrichten und Schnuppern und einem ganz winzigen Schnaufer, den nur

Moise hört und vielleicht der Mond auch. Ganz genau wie vorher.

Und nun haben sie die Rinde wiedergefunden. Ein Mäusefest, in kleinem Rahmen, versteht

sich, nichts Besonderes, aber auch nicht ganz alltäglich.

Da sitzt man und sieht zu. Der Krieg ist schon ein paar Tage alt. Das Land heißt Polen. Es ist

flach und sandig. Die Straßen sind schlecht, und es gibt viele Kinder hier. Was soll man da

reden? Die Deutschen sind gekommen, unzählig viele, einer sitzt hier im Judenladen, ein

ganz junger, ein Milchbart. Er hat eine Mutter in Deutschland und einen Vater, auch noch in

Deutschland, und zwei kleine Schwestern. Nun kommt man also in der Welt herum, wird er

denken, jetzt ist man in Polen, und später vielleicht fährt man nach England, und dieses

Polen hier ist ganz polnisch.

Der alte Jude lehnt an die Wand. Die Mäuse sind noch immer um ihre Rinde versammelt.

Wenn sie noch kleiner geworden ist, wird eine ältere Mäusemutter sie mit nach Hause

nehmen, und die andern Mäuschen werden hinterherlaufen.

Weißt du, sagt der Mond zu Moise, ich muß noch ein bißchen weiter. Und Moise weiß schon,

daß es dem Mond unbehaglich ist, weil dieser Deutsche da herumsitzt. Was will er denn

bloß? Also sagt Moise nur: Bleib du noch ein Weilchen.

Aber dafür erhebt sich der Soldat jetzt. Die Mäuse laufen davon, man weiß gar nicht, wohin

sie alle so schnell verschwinden können. Er überlegt, ob er Aufwiedersehn sagen soll, bleibt

also einen Augenblick noch im Laden stehen und geht dann einfach hinaus.

Moise sagt nichts, er wartet, daß der Mond zu sprechen anfängt. Die Mäuse sind fort,

verschwunden. Mäuse können das.

Das war ein Deutscher, sagt der Mond, du weißt doch, was mit diesen Deutschen ist. Und

weil Moise noch immer so wie vorher an der Wand lehnt und gar nichts sagt, fährt er

dringlicher fort: Weglaufen willst du nicht, verstecken willst du dich nicht, ach Moise. Das war

ein Deutscher, das hast du doch gesehen. Sag mir bloß nicht, der Junge ist keiner, oder

jedenfalls kein schlimmer. Das macht jetzt keinen Unterschied mehr. Wenn sie über Polen

gekommen sind, wie wird es mit deinen Leuten gehn?

Ich hab gehört, sagt Moise.

Es ist jetzt ganz weiß im Laden. Das Licht füllt den Raum bis an die Tür in der Rückwand.

Wo Moise lehnt, ganz weiß, daß man denkt, er werde immer mehr eins mit der Wand. Mit

jedem Wort, das er sagt. Ich weiß, sagt Moise, da hast du ganz recht, ich werde Ärger

kriegen mit meinem Gott.

57


Dominierend ist aber die Auseinandersetzung mit dem eigenen Land, mit

der eigenen Zeit, was sowohl dem offiziellen Auftrag wie auch dem eigenen

Interesse der Schriftsteller geschuldet war. Es bildete sich eine nach dem

Roman von Brigitte Reimann Ankunft im Alltag (1961) benannte

“Ankunftsliteratur” heraus. Das Ankommen in diesem besseren Land – so der

provokante Titel einer Lyrikanthologie (Hrsg. Adolf Endler und Karl Mickel) von

1966 – und im "realen Sozialismus", wie die Partei die aktuelle Gesellschaftsform

damals bezeichnete, geschieht aber nicht problemlos, sondern wird immer

auch zur Frage der Ankunft bei sich selbst, des "Zu-sich-selber-Kommens"

(J.R. Becher), zur Frage nach den Realisierungsmöglichkeiten des Individuums.

Das kann dann sogar, wie in dem wichtigen Dorfroman Ole Bienkopp (1963)

von Erwin Strittmatter, mit dem Tod des Helden enden. Widersprüche werden

entfaltet, die Partei hat nicht immer recht, auch wenn die Handlung letztlich

positiv ausgehen mag wie in Erik Neutschs Spur der Steine (1964), dem

wichtigsten Industrieroman, dessen Verfilmung 1966 nicht nur wegen einiger

Nacktszenen verboten wurde. Den DDR-Roman schlechthin veröffentlichte zu

jener Zeit Hermann Kant mit Die Aula (als Buch 1965 erschienen). Dabei

handelt es sich um ein grundsätzliches Bekenntnis zu Geschichte und System

der DDR, von wo aus die BRD nur noch als "absurde Fremde" erlebt wird. Der

Aufbau der neuen Gesellschaft wird am Beispiel der Brechung des bürgerlichen

Bildungsprivilegs, durch junge Arbeiter demonstriert, worauf auch der Titel

anspielt. Ein durchaus interessant geschriebenes Buch der Bilanz von zwanzig

Jahren DDR, das aber aufgeworfene Widersprüche nicht austrägt. Anders Der

geteilte Himmel, 1963 als zweite Erzählung von Christa Wolf erschienen.

Oberflächlich besehen scheint sie damit eine Geschichte über das geteilte

Deutschland und den Bau der Mauer zu erzählen. Das ist auch der

gesellschaftspolitische Hintergrund, doch nicht das – wie Wolf sagt –

"Grundthema". Das sei vielmehr "die Frage: Wie kommt es, dass Menschen

auseinandergehen müssen?" Warum bedeutet die Entscheidung für das jeweils

andere Deutschland das Ende einer Liebe? Was ist notwendig, um sich selbst

verwirklichen zu können und wo kann man es? Ein gut geschriebenes und

intelligent gebautes Buch, das sich inhaltlich und formal von den Vorgaben des

sozialistischen Realismus fast vollkommen verabschiedet und deshalb auch

von der DDR-Kritik nicht umstandslos in die Arme geschlossen werden konnte.

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Doch: das Talent der jungen Autorin besticht, man will sie – divide et impera –

an sich binden und nimmt sie für drei Jahre probehalber ins Zentralkomitee auf.

Christa Wolf machte 1949 das Abitur und trat im selben Jahr der

kommunistischen Partei bei. Nach dem Germanistikstudium arbeitete sie

zunächst als Literaturkritikerin und Redakteurin. 1961 und 1963 veröffentlichte

sie ihre ersten eigenen Arbeiten, die in der DDR ein großes, nicht ungeteiltes

Echo fanden. 1965 wurde sie Mitglied des PEN-Zentrums der DDR. Ihre sehr

erfolgreichen Werke, die in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt sind und

allein in der DDR eine Millionenauflage erreichten, wurden allerdings von den

Partei- und Kulturfunktionären nicht immer einhellig positiv aufgenommen,

sondern oft scharf kritisiert und in einem Fall sogar stellenweise zensiert.1976

protestierte die Autorin als eine der ersten gegen die Biermann-Ausbürgerung.

Hommage an Christa Wolf (2008)

Ästhetisch beginnen sich in vielen Büchern dieser Jahre neue, der

Moderne verschriebene Tendenzen geltend zu machen. Lineare Erzählstrukturen

weichen der Zeitenschichtung, dem Einsatz von Rückblenden,

Perspektivwechsel; häufiger benutzt man den inneren Monolog oder die erlebte

Rede und setzt die Technik des Bewusstseinsstroms ein. Dies bündelt sich –

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sehen wir einmal von Uwe Johnson und früheren Ansätzen bei Christa Wolf ab

– vor allem in drei längeren Romanwerken, mit denen ein bedeutsamer Teil der

DDR-Literatur in der zweiten Hälfte der 60er Jahre den Anschluss an die

moderne internationale Prosa vollziehen kann.

Der Weg nach Oobliadooh von Fritz Rudolf Fries (1966 nur in der BRD

veröffentlicht) konnte dreiundzwanzig Jahre lang in der DDR nicht erscheinen,

weil er den Normen des sozialistischen Realismus allzu deutlich widersprach.

Der Roman, der 1957/58 vor allem in Leipzig spielt, hat gleich zwei negative

Helden: Paasch, den Zahnarzt, und Arlecq, den Schriftsteller (der sehr stark an

den Autor selbst erinnert). Beide Freunde haben keine Lust, in der vorgefundenen

Gesellschaft sich mit einem genormten, langweiligen Leben abzufinden,

vielmehr zieht es sie in das "Land of Oobliadooh" (nach einer Jazzkomposition

von Dizzie Gillespie). "Oobliadooh" ist im Buch die Chiffre eines Traumes von

einem Leben, den die Freunde allerdings nicht realisieren können, auch nicht

bei einem Aufenthalt in Westberlin. Paasch endet in einer psychiatrischen

Anstalt, die Arlecq, der zunächst ebenfalls dort interniert war, wieder verlässt.

Der Text, der nicht auf ein Einverständnis mit der real existierenden sozialistischen

Gesellschaft hinausläuft, steht in der Tradition des Schelmenromans, die

der in Spanien geborene Fries als Autor und Übersetzer bestens kennt. Und:

nomen est omen – der Name Arlecq erinnert an Harlekin und weist auf den

pikarischen Helden hin, der nicht zu vorbildlichem Verhalten und zu einer

positiven Entwicklung verpflichtet werden kann.

Ein anderer, diesmal weiblicher Abenteuerroman ist Irmtraud Morgners

Hochzeit in Konstantinopel (1968) und erzählt die Vorhochzeitsreise einer

sozialistisch-feministischen Scheherazade, die ihrem Geliebten zwanzigundeine

Geschichten erzählt, um mit dem von ihm betriebenen Kult naturwissenschaftlicher

Abstraktion und seiner männlichen Eitelkeit fertig zu werden. Doch alles

vergebens. Aus der Hochzeit wird nichts – entscheidet sie. Ironie und

Montagetechnik sind Morgners kennzeichnende Stilmerkmale, die auch die

anderen Texte, vor allem ihre voluminösen Romane Leben und Abenteuer der

Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura (1974) und Amanda.

Ein Hexenroman (1983) auszeichnen.

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Hommage an Irmtraud Morgner (2008)

Mit Nachdenken über Christa T. (1968) hat bei Christa Wolf eine

Entwicklung eingesetzt, die sie zu einer der bedeutendsten Nachkriegsschriftstellerinnen

deutscher Zunge macht, die seitens der Literaturwissenschaft

nicht von ungefähr an die Seite von Marguerite Duras, Virginia Woolf und

Ingeborg Bachmann gestellt wird. Bei Christa T. handelt es sich um eine Prosa

der "Trauerarbeit" (Alexander Mitscherlich), der Erinnerungsarbeit gegen das

Vergessen und Verdrängen gesellschaftlicher und individueller Geschichte.

Christa T., Schulkameradin und Kommilitonin der Erzählerin, später Frau

eines Tierarztes auf dem Lande und Mutter dreier Töchter, die schließlich im

Alter von etwa fünfunddreißig Jahren an Leukämie stirbt: das ist fast eine

banale Biographie. Und doch ist es viel mehr: Es ist der Lebenslauf einer

jungen Frau, die durchaus in Übereinstimmung mit den Idealen der

sozialistischen Gesellschaft voller Ungeduld, Lebenslust, Wahrheitsliebe und

Sehnsucht nach Vollkommenheit entdecken muss, dass ihre reale, die

realsozialistische Umgebung auf ein solches Individuum keinen Wert legt. Was

diese Gesellschaft benötigt, sind gut angepasste, wie Schräubchen funktionierende,

phantasielose "Tatsachenmenschen", "Hopp-Hopp-Menschen". Das

Nachdenken über die zu früh verstorbene Freundin führt zu einem Nachdenken

über sich selbst, die eigenen Lebensmöglichkeiten der Erzählerin, über den

"Versuch, man selbst zu sein". Die traditionelle auktoriale Erzählweise hat

Christa Wolf damit vollkommen hinter sich gelassen. In dem ebenfalls 1968

61


veröffentlichten Essay “Lesen und Schreiben", der den poetologischen

Hintergrund ihrer Prosa darstellt, betont sie ferner die existentielle Bedeutung

der Literatur: "Sie unterstützt das Subjektwerden des Menschen. Sie ist

revolutionär und realistisch: sie verführt und ermutigt zum Unmöglichen."

Christa Wolf war zu intelligent, um nicht zu ahnen, dass sie thematisch

und ästhetisch nicht mehr lange unbehelligt bleiben würde, weshalb sie schon

vor der Veröffentlichung von Christa T. im DDR-Rundfunk dazu Stellung nahm.

Christa Wolf, Selbstinterview (1966)

Frage: Was lesen Sie?

Antwort: Ich lese die ersten Seiten einer neuen Erzählung, an der ich,

womöglich noch längere Zeit, arbeite. Wahrscheinlich wird sie heißen “Nachdenken

über Christa T.”

Frage: Könnten Sie etwas über den Stoff dieser Erzählung sagen?

Antwort: Schwerlich. Denn da ist kein “Stoff” gewesen, der mich zum

Abschildern reizte, da ist kein “Gebiet unseres Lebens”, das ich als Milieu nennen

könnte, kein “Inhalt”, keine “Fabel”, die sich in wenigen Sätzen angeben ließen. Zu

einem ganz subjektiven Antrieb muß ich mich bekennen: Ein Mensch, der mir nahe

war, starb, zu früh. Ich wehre mich gegen diesen Tod. Ich suche nach einem Mittel,

mich wehren zu können. Ich schreibe, suchend. Es ergibt sich, daß ich eben dieses

Suchen festhalten muß, so ehrlich wie möglich, so genau wie möglich.

Frage: Gut. Aber die Substanz dieses Suchens? Was wird denn die Seiten

Ihres Manuskriptes füllen?

Antwort: Ich dringe in die frühere Welt dieser Toten ein, die ich zu kennen

glaubte und die ich mir nur erhalten kann, wenn ich es unternehme, sie wirklich

kennenzulernen. Ich stütze mich nicht nur auf die trügerische Erinnerung, sondern auf

Material: Tagebücher, Briefe, Skizzen der Christa T., die mir nach ihrem Tod

zugänglich gemacht wurden. In dem Strom meiner Gedanken schwimmen wie

Inselchen die konkreten Episoden - das ist die Struktur der Erzählung.

Frage: So schreiben Sie eine Art von posthumem Lebenslauf.

Antwort: Das dachte ich zuerst. Später merkte ich, daß das Objekt meiner

Erzählung gar nicht so eindeutig sie, Christa T., war oder blieb. Ich stand auf einmal

mir selbst gegenüber, das hatte ich nicht vorhergesehen. Die Beziehungen zwischen

“uns” – der Christa T. und dem Ich-Erzähler – rückten ganz von selbst in den

Mittelpunkt: die Verschiedenheit der Charaktere und ihre Berührungspunkte, die

Spannungen zwischen “uns” und ihre Auflösung, oder das Ausbleiben der Auflösung.

Wäre ich Mathematiker, würde ich wahrscheinlich von einer “Funktion” sprechen:

Nichts mit Händen Greifbares, nichts Sichtbares, Materielles, aber etwas ungemein

Wirksames.

Frage: Immerhin haben Sie nun zugegeben, daß zwei authentische Figuren

auftreten, Christa T. und ein Ich.

Antwort: Habe ich das zugegeben? Sie hätten recht, wenn nicht beide Figuren

letzten Endes doch erfunden wären.

Frage: Sie sprechen von Material, das Sie verwendeten, von Erinnerungen.

Antwort: Das Material habe ich souverän behandelt. Die Erinnerungen habe ich

durch Erfindung ergänzt. Auf dokumentarische Treue habe ich keinen Wert gelegt. Ich

wollte dem Bild gerecht werden, das ich mir von ihr, Christa T., gemacht hatte. Das hat

sie und das Ich, um das ich nicht umhingekommen bin, verwandelt.

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Auch das aber half nichts gegen die Zensur, wie aus den Tagebuchaufzeichnungen

der Autorin hervorgeht:

Mein Zensor war neulich da. Er brachte seine ausführliche Beanstandungsliste vor. Ich

sagte: Schön und gut. Aber mit welchem Recht verbietest du das Buch, wenn du doch

offenbar nicht der Ansicht bist, die DDR breche daran zusammen? – Er: Man habe ihn

nun mal auf diesen Platz gesetzt (später kam heraus, daß er lieber nicht da säße), er

könne ein solches Manuskript nicht durchlassen, schließlich diskutiere er ja noch mit

mir. [...] Nur gehe ein Manuskript von mir eben nicht bloß bis zu ihm, sondern noch zu

ganz anderen Stellen. Und dann sei die nächste Frage: Wer hat das durchgelassen?

Er habe ja schon eine Parteistrafe wegen eines ähnlichen Delikts. Von da an konnte

man menschlich mit ihm reden. Ihm fehlten in der Erzählung vor allem die ‚positiven

Züge‘ unserer Gesellschaft. Alle Nebenfiguren verstand er als ‚angeknackst‘. Christa T.

sei ‚lebensuntüchtig‘. Er beanstandet die Gegenüberstellung mit der Figur der Gertrud

Dölling, die ihn anscheinend selbst betraf. Er schlug mir vor, eine ganz andere

Geschichte zu schreiben: Ein Mensch, eben Christa T., eine tragische Figur, die lange

Zeit unter dem Druck ihrer Erlebnisse während der Zeit des Faschismus steht, schwer

den Weg in unsere neue Gesellschaft findet (er sieht sie ‚kontaktarm‘) und die, als sie

sich so weit durchgerungen hat, schließlich stirbt. Die Gesellschaft soll gegenüber dem

Individuum in jedem Fall recht behalten.

Konstatiert vor allem die westliche Literaturwissenschaft für die fünfziger

und sechziger Jahre als ästhetische Dominante eine literarische Vormoderne,

einen sozialistisch-realistischen Provinzialismus, so zeigen sich nun

zunehmend Werke, die die Grenzen zur modernen Literatur sowohl im

Thematischen wie im Formalen durchstoßen.

Das gilt auch für die neue Dichtergeneration der um 1935 Geborenen.

Adolf Endler, der älteste, nannte diese massive Gruppe höchst talentierter

Poeten die "Vorhut unserer Lyrik" und meinte damit Volker Braun, Sarah Kirsch,

Rainer Kirsch, Wolf Biermann, Reiner Kunze, Karl Mickel, Heinz Czechowski,

Kurt Bartsch, Elke Erb, Hanns Cibulka und all die andern. Die Aufbruchsstimmung

dieser Dichter, die mit Staat und Partei um die Rolle des Subjekts

streiten, drückte Volker Braun 1966 in Vorläufiges so aus:

Kommt uns nicht mit Fertigem... Hier herrscht das Experiment und keine steife

Routine... Raus aus den Sesseln, Jungs... Nicht so feierlich, Genossen, das Denken

will heitere Stirnen.

Gegen eine affirmative Lyrik, die der offiziellen Kulturpolitik folgte, wurde

nun die "Rehabilitierung des Ich" (nach einem Gedicht von Günter Wünsche)

gefordert. Besonders dem 1933 geborenen Reiner Kunze, der vor 1969 wenig

in der DDR publizieren konnte und danach nichts mehr, ist dies ein poetisches

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Anliegen. In seinem Gedichtband Sensible Wege (1969), für den ihm in der

DDR "Antikommunismus" und "Innenweltschau" vorgeworfen wurde, lautet eine

Strophe seines Gedichts "Kurzer Lehrgang" mit der Überschrift "Ethik":

Im mittelpunkt steht

der mensch

Nicht

der einzelne

Der politische und psychologische Druck in seinem Land zwang Kunze

dazu, 1977 mit seiner Familie in die BRD zu ziehen.

Mit Wolf Biermann hat das politische Lied und Gedicht in der DDR eine

neue Qualität erreicht. Im Unterschied zu den Agitprop-Dichtern, die den

Sozialismus lobpriesen, verstand sich Biermann als linker Kritiker des

preußisch-stalinistischen Sozialismus. 1936 in Hamburg als Sohn einer

antifaschistisch-kommunistischen Familie geboren, ging Biermann 1953 aus

politischer Überzeugung in die DDR und studierte dort Politische Ökonomie,

Philosophie und Mathematik. 1957-59 war er Regieassistent, seit 1960 freier

Schriftsteller und Liedermacher. 1963 wird er aus der SED ausgeschlossen;

1965 erhielt er von der Partei absolutes Publikations-, Auftritts- und

Reiseverbot, denn man beschuldigte ihn der "prinzipiellen Gegnerschaft zum

realen Sozialismus". 1976 erhält er überraschend die Erlaubnis zu einer

Liedertournee in der BRD, von der er nicht wieder in die DDR zurück darf.

Seine Ausbürgerung dauerte bis zum 1. Dezember 1989, als Biermann nach

fast 25 Jahren wieder in der DDR auftreten konnte. Sich auf François Villon,

Heinrich Heine und Bert Brecht berufend, verbindet Biermann in der

kompromisslosen Offenheit seiner Dichtung stets das Politische mit dem

Privaten. 1965 erscheint im Westberliner Wagenbach-Verlag ein achtzig Seiten

starkes Bändchen mit Balladen, Gedichten und Liedern, entstanden seit 1960,

unter dem Titel Die Drahtharfe. Darüber ließ sich Erich Honecker auf der

bekannten ZK-Sitzung desselben Jahres so aus:

Biermanns so genannte Gedichte kennzeichnen sein spießbürgerliches,

anarchistisches Verhalten, seine Überheblichkeit, seinen Skeptizismus und Zynismus.

Biermann verrät heute mit seinen Liedern und Gedichten sozialistische

Grundpositionen. Dabei genießt er wohlwollende Unterstützung und Förderung einiger

Schriftsteller, Künstler und anderer Intellektueller. Es ist an der Zeit, der Verbreitung

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fremder und schändlicher Thesen und unkünstlerischer Machwerke, die zugleich auch

stark pornographische Züge aufweisen, entgegenzutreten.

Im Gedicht "Rücksichtslose Schimpferei", das zur letzten Abteilung

"Beschwichtigungen und Revisionen" gehört, schreit sich ein junger Kommunist

den Ärger über die besserwisserischen, dogmatischen, halsstarrigen Altgenossen

und ihre Methoden der Auseinandersetzung von der Seele. Wohl nicht

zufällig ist auch der Rahmen dieses Gedichts: Das vorangehende "An die alten

Genossen" endet mit den Versen: "Setzt eurem Werk ein gutes Ende/ Indem ihr

uns/ Den neuen Anfang lasst!". In der folgenden "Ballade vom Mann (der sich

eigenhändig die beiden Füße abhackte)" heißt die vorletzte Strophe: "Es hackte

die Partei/ sich ab so manchen Fuß/ so manchen guten Fuß/ abhackte die

Partei".

WOLF BIERMANN, Rücksichtslose Schimpferei

1

Ich Ich Ich

bin voll Haß

bin voll Härte

der Kopf zerschnitten

das Hirn zerritten

Ich will keinen sehn!

Bleibt nicht stehn!

Glotzt nicht!

Das Kollektiv liegt schief

Ich bin der Einzelne

das Kollektiv hat sich von mir

i s o l i e r t

Stiert mich so verständnisvoll nicht an!

Ach, ich weiß ja schon

Ihr wartet mit ernster Sicherheit

daß ich euch

in das Netz der Selbstkritik schwimme

Aber ich bin der Hecht

Ihr müßt mich zerfleischen

zerhacken, durchn Wolf drehn

wenn ihr mich aufs Brot wollt!

2

Ja, wenn ich zahnlos wäre

nenntet ihr mich reif

Wenn ich bei jeder fetten Lüge

milde lächeln würde

wär ich euch der Kluge

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Wenn ich über das Unrecht hinweggehn würde

wie ihr über eure Frauen hinweggeht

ihr hättet mich schon längst

in euer Herz geschlossen

3

Das Kind nicht beim Namen nennen

die Lust dämpfen und

den Schmerz schlucken

den goldenen Mittelweg gehen

am äußersten Rande des Schlachtfelds

den Sumpf mal Meer, mal Festland nennen

das eben nennt ihr

V e r n u n f t

Und merkt nicht, daß eure Vernunft

aus den Hirnen der Zwerge

aus den Schwänzen der Ratten

aus den Ritzen der Kriechtiere

entliehen ist? Ihr

wollt mir den Kommunismus predigen

und seid die Inquisition des Glücks. Ihr

zerrt die Seelen auf den Feuerpfahl. Ihr

flechtet die Sehnsucht auf das Rad. Ihr!

Geht mir weg mit euren Schwammfressen!

Geht beleidigt und entrüstet!

Geht mit Kopfschütteln über meine falsche Haltung

aber Geht!

4

Ich will beharren auf der Wahrheit

ich Lügner

5

Ich habe euch lieb

Hier habt ihr den Schrieb

schwarz auf weiß

ich liebe euch heiß

aber jetzt laßt mich bitte allein sein

auf der schiefen Linie

getrennt vom Kollektiv

Ich liege eben schief

Ich lieg bei meiner Frau

und die kennt mein Herz

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Mit Sarah Kirsch macht in den sechziger Jahren ein lyrisches Talent auf

sich aufmerksam, das sich in der Folgezeit zu einer der wichtigsten Lyrikerinnen

der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur entwickelt. 1935 geboren,

absolvierte Sarah, die eigentlich Ingrid heißt, nach dem Abitur ein

Biologiestudium. 1963-65 besuchte sie das Institut für Literatur Johannes R.

Becher in Leipzig. Danach ist sie als freie Schriftstellerin tätig. 1967

veröffentlichte sie ihren ersten eigenständigen Gedichtband Landaufenthalt.

Neben Gedichten tritt Kirsch auch mit Erzählungen und Übersetzungen in

Erscheinung. In den achtziger Jahren verwischen sich häufig die Grenzen


zwischen Lyrik und Prosa: Es erscheinen Prosagedichte (La Pagerie, 1980)

und lyrische Prosa (Allerleih-Rauh, 1988). Orte, die die Dichterin immer wieder

aufsucht, sind Natur und Eros; dabei spricht sie oft von Einsamkeit und ist doch

voller Sehnsucht, für sich allein und doch mit anderen sein zu können. Ihre

Sprache kann ebenso knapp und präzis wie metaphernreich und verspielt sein.

Nach der Biermann-Ausbürgerung, gegen die auch Sarah Kirsch protestiert,

geht sie 1977 zuerst nach Westberlin und lebt heute in Norddeutschland.

Insgesamt gelingt es ihr und der Sächsischen Dichterschule überhaupt – zu der

sie und ihre Freunde gerechnet werden – in außerordentlich schöpferischer

Weise, Gesellschaftliches und Persönliches, Politisches und Poetisches,

Zustimmung und Widerspruch miteinander zu verbinden. Viele Gedichte und

Erzählungen Sarah Kirschs werden gern als der Frauenliteratur zugehörig

bezeichnet. Wenn dabei kein modisch-oberflächliches, radikal-feministisches

Verständnis zugrunde gelegt wird, kann das durchaus angehen. Wie sie es

aber selbst sieht, formuliert die Dichterin so: "Ich halte Emanzipationsschreiberei

für unsinnig. Mann und Frau sollen nicht gegeneinander, sondern

miteinander fertig werden. Beide müssen menschlich leben können."

Hommage an Sarah Kirsch (2008)

Das folgende Gedicht stammt aus Sarah Kirschs drittem Gedichtband

(Zaubersprüche, 1973), erzählt den Prozess einer Befreiung und ist zugleich ein

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Hymnus auf die Liebe. Franz Fühmann schrieb darüber:

Dieses Gedicht – eines der bedeutendsten und schönsten, die unsere Zeit

hervorgebracht hat – besitzt den Vorzug gültiger Lyrik: Es widersetzt sich dem völligen

Auflösen ins Rationale, wiewohl es ebendazu stachelt, und dies umso drängender, je

deutlicher jener Rest hervortritt, dessen Bedrängnis zuletzt noch in Genugtuung

umschlägt. Dazu muss man Wort um Wort vorangehen.

SARAH KIRSCH, Ich wollte meinen König töten

Ich wollte meinen König töten

Und wieder frei sein. Das Armband

Das er mir gab, den einen schönen Namen

Legte ich ab und warf die Worte

Weg die ich gemacht hatte: Vergleiche

Für seine Augen die Stimme die Zunge

Ich baute leergetrunkene Flaschen auf

Füllte Explosives ein – das sollte ihn

Für immer verjagen. Damit

Die Rebellion vollständig würde

Verschloß ich die Tür, ging

Unter Menschen, verbrüderte mich

In verschiedenen Häusern – doch

Die Freiheit wollte nicht groß werden

Das Ding Seele dies bourgeoise Stück

Verharrte nicht nur, wurde milder

Tanzte wenn ich den Kopf

An gegen Mauern rannte. Ich ging

Den Gerüchten nach im Lande die

Gegen ihn sprachen, sammelte

Drei Bände Verfehlungen eine Mappe

Ungerechtigkeiten, selbst Lügen

Führte ich auf. Ganz zuletzt

Wollte ich ihn einfach verraten

Ich suchte ihn, den Plan zu vollenden

Küßte den andern, daß meinem

König nichts widerführe.

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Zuckerbrot, Peitsche und das Andere

Von 1971 bis 1989 stand dem Feudalsozialismus der DDR in Partei und

Staat ein Mann vor: Erich Honecker. An seine Herrschaft erinnerte sich Ende

1989 der Schriftsteller Joachim Walther so:

Als vor achtzehn Jahren Rauch aus dem Kamin des Großen Hauses stieg, war

uns ein neuer Generalsekretär beschieden und ich achtundzwanzig. Dem Neuen

damals wollten viele glauben. Er ermunterte zu Meinungsstreit, doch zeigte sich sehr

bald, er hatte es nicht ernst gemeint: die öffentliche Widerrede blieb weiter

unerwünscht... Er referierte über Volksverbundenheit, Lebensnähe, Realismus in der

Politik und besah sein Volk am liebsten von Tribünen, wie es, straff organisiert,

spontan vorüberjubelte. Er versprach den Bürgern kühn eine bürgernahe Bürokratie,

doch war's verbal die Quadratur des Kreises, da jegliche Büroherrschaft zum

Eigenleben neigt und Sekretär, zum Beispiel, von lat. secretus kommt und

abgesondert, geheim heißt... und während er das politische Strafrecht um drei

dehnbare Paragraphen bereicherte, rief er seinem Volke munter zu, es habe zu keiner

Zeit so frei geatmet wie eben hier und jetzt, unter seiner Führung. Demokratie, sprach

er, wir hätten sie schon, die sozialistische, und nannte als Beweis die Mitarbeit in

Küchenkommissionen. Die Statistik produzierte Wachstumszahlen, die auf dem Weg

nach oben dynamisch schwollen, indes der reale Mangel unten blieb und wuchs.

Transparente statt Transparenz. Losungen statt Lösungen.

Als seit 1986 die Reformpolitik Michail Gorbatschows in der Sowjetunion,

die Entstalinisierung und Demokratisierung in Polen und Ungarn irreversible

Fortschritte gemacht hatten; als Zehntausende die DDR über die geöffnete

Grenze Ungarns nach Österreich verließen und massenhaft auf den Straßen

nach Freiheit und Demokratie riefen, was die Parteiführung bis zuletzt

versagen wollte; als gerade der 40. Jahrestag der Republik am 7. Oktober wie

immer als großes Parade-Staatsfest gefeiert worden war – da war es soweit:

der Patriarch Honecker und seine engsten Vertrauten mussten am 18. Oktober

1989 abtreten. Unmittelbar darauf setzte ein sich überstürzender Korrosionsprozess

des alten Systems ein.

Wenn also fast zwei Jahrzehnte der DDR-Kulturpolitik und -Literatur hier

gemeinsam als einheitliche Phase abgehandelt werden, dann geschieht das

aus zwei Gründen. Erstens ist eine gesellschaftspolitische Orientierung deshalb

unerlässlich, weil am Ende von fast fünfundvierzig Jahren die Auflösung eines

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autoritären Herrschaftsmodells sozialistischen Anspruchs steht, das an seinen

inneren und äußeren Widersprüchen zugrunde gegangen ist. Und eben am

Untergang dieser preußisch-stalinistischen Diktatur hatten Künstler und

Literaten einen wichtigen Anteil. Nicht so sehr als politische Avantgarde in der

Stunde der Wahrheit, als Tausende unablässig auf den Straßen ihre Rechte

einklagten. Die Bedeutung von Kunst und Literatur lag eher dort, wo sie über

lange Jahre auch als Instanzen der Hoffnung und Moral das Gewissen des

Volkes repräsentierten. In den Künsten und durch die Künste wurden Grenzen

eingerissen, neue Wege ins Freie beschritten, Jahrzehnte bevor sich am 9.

November 1989 die Mauer öffnete.

Zweitens kann als einigendes Band der Belletristik in dieser Zeit die

Tatsache gelten, dass sie, einmal aus der ästhetischen Vormoderne herausgetreten,

die Entwicklung zu einer inhaltlich und formal aufschlussreichen,

ansprechenden und anspruchsvollen Literatur weiter fortsetzte. Auch weil sie

eins der wenigen Medien war, das sich der Kulturenvielfalt, die sich in der DDR

herausgebildet hatte, in kreativer Weise stellte.

Soziologische Untersuchungen hatten festgestellt, dass sich neben der

kommunistischen Zielkultur und der traditionellen deutschen Kultur eine dritte

dominante Komponente, eine "industrialistische" herausgebildet hatte, wobei

die mit dem Industrialismus – damit einhergehend auch mit dem Konsumismus

– zusammenhängenden Tendenzen immer stärker wurden: Auch im "Leseland"

DDR sahen die Leute abends nach der Arbeit zur Entspannung hauptsächlich

fern – und zwar die Programme des “Klassenfeinds” in der BRD. Fernsehen

war da auch wirklich noch ein Fern-Sehen, über die Grenzen der kleinen

Republik hinweg, die man ja sonst westwärts vor dem Rentenalter kaum anders

verlassen konnte. Immer stärker zeichneten sich aber auch Gegenströmungen

einer sich vor allem in den 70er Jahren entwickelnden sozialistischen

Opposition ab – um Intellektuelle wie Robert Havemann, Wolf Biermann, Rudolf

Bahro und Volker Braun. Daneben dann alternative Subkulturen wie im

Ostberliner Prenzlauer Berg, die ihre Suche nach neuen Kunst- und

Lebensformen geltend machten. In diesem Spannungsfeld dreier dominanter

und zweier nicht-dominanter Kulturen ist die Literatur der siebziger und

achtziger Jahre entstanden und zu verstehen, wobei sich die einander

gegenüberstehenden Pole keineswegs ausschließen müssen, sondern sich im

70


Gegenteil beeinflussen, interagieren und zu einer explosiven Mischung geraten

können.

Mit dem personellen Wechsel, der Ablösung Walter Ulbrichts als 1.

Sekretär der SED durch Erich Honecker, ließ sich durchaus auch eine

Veränderung im kulturpolitischen Klima feststellen. Die DDR war aufgrund

weltweiter Anerkennung und der neuen Ostpolitik der SPD/FDP-Regierung

unter Willy Brandt selbstbewusster geworden und die SED hinsichtlich der

Verhältnisse im eigenen Land etwas realistischer, Kritik schien mitunter sogar

legitim. Vor allem seit im Dezember 1971 Honecker vor dem Zentralkomitee

eine Rede gehalten hatte, die man allgemein als Signal für eine Liberalisierung

wertete. Er sagte:

Wenn man von der festen Position des Sozialismus ausgeht, kann es meines

Erachtens auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben. Das betrifft

sowohl die Fragen der inhaltlichen Gestaltung als auch des Stils – kurz gesagt: die

Fragen dessen, was man die künstlerische Meisterschaft nennt.

Das sah nach Fortschritt aus: keine Tabus mehr! Was aber war mit der

"festen Position des Sozialismus" gemeint und wer legte diese fest? Wehte

einerseits durchaus ein frischerer Wind, so wurde doch die kulturpolitsche

Ordnung unnachsichtig aufrechterhalten: Wolf Biermann, Reiner Kunze, Volker

Braun, Stefan Heym, Rainer Kirsch, Günter Kunert, Heiner Müller mussten

weiterhin Publikations- und Aufführungsverbote ertragen.

Das Werk, das paradigmatisch für die Phase einer allerdings nicht zu

überschätzenden Enttabuisierung steht, ist Die neuen Leiden des jungen W.

von Ulrich Plenzdorf. Das ursprüngliche Filmszenarium erschien 1973 als

Erzählung und wurde im gleichen Jahr an vierzehn Theatern der DDR mit

großem Erfolg aufgeführt. Um den Text entstand eine heftig geführte

Kontroverse, in der die Dogmatiker ihren "Ekel" äußerten, die meisten

Jugendlichen allerdings ihre Faszination bekundeten.

Der siebzehnjährige Lehrling Edgar W. leidet an dem rigiden

Anpassungsdruck der Gesellschaft – ähnlich wie der Goethesche Werther

zweihundert Jahre zuvor –, an autoritären Erwachsenen und kleinbürgerlichen

Normen, die unter der realsozialistischen Diktatur prächtig gediehen. Er beginnt

ein Leben auf eigene Faust, lebt in einer Laube am Ostberliner Stadtrand, ist

aber keineswegs ein Aussteiger, denn er sucht den Kontakt zu seiner Umwelt,

71


arbeitet in einer Malerbrigade, für die er schließlich sogar ein neues Gerät

entwickeln möchte. Beim Ausprobieren wird er durch einen Stromstoß getötet.

Bei den Plenzdorfschen Figuren gibt es zahlreiche weitere Verbindungen zur

Vorlage von Goethe und der Tod am Ende evoziert den Freitod Werthers, lässt

aber die Frage offen: Unfall oder Selbstmord? Klar wird nur, dass – in Analogie

zu Christa T. – ein junger Mensch mit den Erwartungen Edgars unter den

Bedingungen der DDR-Gesellschaft nicht leben kann. Dass Plenzdorf den Frei-

/Tod im "realen Sozialismus" thematisierte – die DDR war ein Land mit einer

extrem hohen, statistisch nirgendwo erfassten Selbstmordrate –, brach mit

einem tief verankerten Tabu.

Hommage an Ulrich Plenzdorf (2008)

Da der Autor einen realen Jungarbeiter mit realen Bedürfnissen vorstellt

und ihn allein – aus dem Jenseits – sein Leben und Sterben erzählen und

bewerten lässt und sich also nicht als auktorialer Erzähler im Sinne der

Parteiliteratur einmischt, gewinnt der Text eine enorme soziale Präzision, die

ihn vor allem unter der DDR-Jugend beliebt gemacht hat. Ebenso innovativ ist

die Tatsache, dass zum ersten Mal der reale Sprachgebrauch der Jugendlichen,

die von der Partei so heftig kritisierte normverletzende "Jeanssprache",

72


in die Literatur einzieht.

Ulrich Plenzdorf, Die neuen Leiden des jungen W.

Natürlich Jeans! Oder kann sich einer ein Leben ohne Jeans vorstellen? Jeans

sind die edelsten Hosen der Welt. Dafür verzichte ich doch auf die ganzen

synthetischen Lappen aus der Jumo, die ewig tiffig aussehen. Für Jeans konnte ich

überhaupt auf alles verzichten, außer der schönsten Sache vielleicht. Und außer

Musik. Ich meine jetzt nicht irgendeinen Händelsohn Bacholdy, sondern echte Musik,

Leute. Ich hatte nichts gegen Bacholdy oder einen, aber sie rissen mich nicht gerade

vom Hocker. Ich meine natürlich echte Jeans. Es gibt auch einen Haufen Plunder, der

bloß so tut wie echte Jeans. Dafür lieber gar keine Hosen. Echte Jeans dürfen zum

Beispiel keinen Reißverschluß haben vorn. Es gibt ja überhaupt nur eine Sorte echte

Jeans. Wer echter Jeansträger ist, weiß, welche ich meine. Was nicht heißt, daß jeder,

der echte Jeans trägt, auch echter Jeansträger ist. Die meisten wissen gar nicht, was

sie da auf dem Leib haben. Es tötete mich immer fast gar nicht, wenn ich so einen

fünfundzwanzigjährigen Knacker mit Jeans sah, die er sich über seine verfetteten

Hüften gezwängt hatte und in der Taille zugeschnürt. Dabei sind Jeans Hüfthosen, das

heißt Hosen, die einem von der Hüfte rutschen, wenn sie nicht eng genug sind und

einfach durch Reibungswiderstand obenbleiben. Dazu darf man natürlich keine fetten

Hüften haben und einen fetten Arsch schon gar nicht, weil sie sonst nicht zugehen im

Bund. Das kapiert einer mit fünfundzwanzig schon nicht mehr. Das ist, wie wenn einer

dem Abzeichen nach Kommunist ist und zu Hause seine Frau prügelt. Ich meine,

Jeans sind eine Einstellung und keine Hosen. Ich hab überhaupt manchmal gedacht,

man dürfte nicht älter werden als siebzehn-achtzehn. Danach fängt es mit dem Beruf

an oder mit irgendeinem Studium oder mit der Armee, und dann ist mit keinem mehr zu

reden. Ich habe jedenfalls keinen gekannt.

Nachdem ihm bereits zwei Jahre zuvor eine Auswanderung aus der DDR

nahegelegt worden war und zwar von offizieller Seite, die sich schon seit

langem mit dem unerwünschten Wolf Biermann beschäftigte, erhielt der im

Herbst 1976 die Erlaubnis zu einer Konzertreise in die BRD. Am 17. November

– vier Tage nach dem ersten Liederabend in Köln – erfuhr er dann über das

Autoradio die Nachricht, dass ihm die Staatsbürgerschaft entzogen worden sei.

Die offensichtlich vorher beschlossene Maßnahme wurde mit seinem

"feindseligen Auftreten" gegenüber der DDR während des Konzerts begründet,

wo er seinen Staat zwar scharf kritisiert, jedoch gleichzeitig als "kostbare

Errungenschaft" verteidigt hatte. Gegen diese Ausbürgerung, in Deutschland

zuletzt während des Nationalsozialismus praktiziert, protestierten sofort zwölf

der prominentesten Schriftsteller der DDR:

Wolf Biermann war und ist ein unbequemer Dichter – das hat er mit vielen

Dichtern der Vergangenheit gemein. Unser sozialistischer Staat, eingedenk des Wortes

aus Marxens 18. Brumaire, dem zufolge die proletarische Revolution sich unablässig

selber kritisiert, müsste im Gegensatz zu anachronistischen Gesellschaftsformen eine

73


solche Unbequemlichkeit gelassen nachdenkend ertragen können. Wir identifizieren

uns nicht mit jedem Wort und jeder Handlung Biermanns und distanzieren uns von

Versuchen, die Vorgänge um Biermann gegen die DDR zu missbrauchen. Biermann

selber hat nie, auch nicht in Köln, Zweifel daran gelassen, für welchen der beiden

deutschen Staaten er bei aller Kritik eintritt. Wir protestieren gegen seine

Ausbürgerung und bitten darum, die beschlossene Maßnahme zu überdenken.

Erstunterzeichner waren Sarah Kirsch, Christa Wolf, Volker Braun, Franz

Fühmann, Stephan Hermlin, Stefan Heym, Günter Kunert, Heiner Müller, Rolf

Schneider, Gerhard Wolf, Jurek Becker, Erich Arendt. Ihnen schlossen sich

über einhundert weitere Künstler und Intellektuelle an, darunter Ulrich

Plenzdorf, Fritz Rudolf Fries, Thomas Brasch, Günter de Bruyn, Helga Schütz,

Elke Erb. Reiner Kunze und Bernd Jentzsch protestierten mit eigenen

Erklärungen. Natürlich gab es auch renommierte Kunstschaffende, die sich für

die vom Staat getroffene Entscheidung aussprachen, unter den Literaten

waren das unter anderen Hermann Kant, Erik Neutsch und Peter Hacks.

Die Biermann-Ausbürgerung ist ein historischer Einschnitt in die

kulturpolitische Entwicklung der DDR gewesen und hat zweifellos zum Ende

des Repressionssystems dreizehn Jahre später beigetragen. Zunächst einmal

aber erfolgte dessen Ausbau: Verhaftung, Hausarrest, Ausschluss aus Partei

und Schriftstellerverband, Publikations- und Auftrittsverbot wie auch rasch

bewilligte Ausreiseanträge waren ein vorzügliches und unkalkulierbares

Instrumentarium zur Disziplinierung anders denkender Intellektueller. Eine

Politik von Zuckerbrot und Peitsche bedeutet aber andererseits auch, dass die

Linie der Enttabuisierung punktuell fortgesetzt werden, jedoch nicht verhindern

konnte, dass seit 1976 ein wahrer Exodus von Künstlern und Intellektuellen in

Gang kam.

Hatte schon in den fast drei Jahrzehnten zuvor ein steter Wechsel von

West nach Ost, vor allem aber von Ost nach West stattgefunden, so gingen

jetzt (oder wurden gegangen) so viele Autoren in die Bundesrepublik, dass nicht

mehr allein die DDR als Entstehungsort ihrer Literatur betrachtet werden

konnte. Oder anders gesagt: Wie DDR-Literatur definiert werden sollte, wurde

immer komplizierter.

Unter dem Druck der internationalen Spannungen kam mit Beginn der

achtziger Jahre wiederum einige Bewegung in die kulturpolitische Szenerie.

Stimmen auch von führenden Schriftstellerpersönlichkeiten wurden laut, die

74


sich angesichts der Hochrüstungspolitik der Supermächte USA und UdSSR

öffentlich über Probleme von Krieg und Frieden aussprachen und eine

Zivilisation allgemeiner Zerstörung beklagten.

Mit Michail Gorbatschow erhielten diese Kräfte unerwarteten Auftrieb, in

der Sowjetunion sah man nun "die Renaissance einer Hoffnung" (Heiner Müller,

1987); und es war die Partei- und Staatsführung in der DDR, die gegenüber

dem sowjetischen Reformkurs in immer größere Schwierigkeiten geriet. Trotz

nie endender Repressionsmaßnahmen mussten Zugeständnisse gemacht

werden, fand der Kontroll- und Spitzelapparat seine Grenzen, so dass die

Zeichen der Zeit immer deutlicher sichtbar werden konnten: die Wiederaufführung

von Heiner Müllers Die Umsiedlerin in Dresden, die endliche Herausgabe

unliebsamer Romane wie Günter de Bruyns Neue Herrlichkeit und Volker

Brauns Hinze-Kunze-Roman im Jahre 1985; die Verleihung des Nationalpreises

1986 an Christa Wolf und 1987 an Heiner Müller, dessen Wiederaufnahme in

den Schriftstellerverband 1988; die Veröffentlichung des fast dreißig Jahre

zurückgehaltenen Romans Die Blechtrommel von Günter Grass aus der

Bundesrepublik; erste Inszenierungen des lang unterdrückten Samuel Beckett

und seines Warten auf Godot; die große, wenn auch nur halböffentliche Rede

Christoph Heins gegen die Zensur 1987.

kassandrapassion (2008)

75


In der Beschreibung der conditio humana schauen die Autoren der DDR

über den gesellschaftspolitischen Rand ihres kleinen halben Landes hinaus,

examinieren mit nüchternem, geradezu hartem Blick Geschichte und

Gegenwart der abendländischen Zivilisation. So kommt Christa Wolf 1980 in

ihrer Dankrede für den Büchnerpreis der Deutschen Akademie für Sprache und

Dichtung in Darmstadt zu dem Ergebnis:

Wir, ernüchtert bis auf die Knochen, stehen entgeistert vor den vergegenständlichten

Träumen jenes instrumentalen Denkens, das sich immer noch Vernunft

nennt, aber dem aufklärerischen Ansatz auf Emanzipation, auf Mündigkeit hin, längst

entglitt und als blanker Nützlichkeitswahn in das Industriezeitalter eingetreten ist.

Und Heiner Müller spricht 1981 von dem "Alptraum",

dass die Alternative Sozialismus oder Barbarei abgelöst wird durch die

Alternative Untergang oder Barbarei. Das Ende der Menschheit als Preis für das

Überleben des Planeten.

Solche Schreckensvisionen waren in den siebziger Jahren noch

weitgehend unbekannt und erweiterten nun den Gesichtskreis der DDR-

Literatur über sich selbst hinaus auf existentielle Probleme der Gattung Mensch

schlechthin. Abschied von der Utopie, Apokalypse als Alternative? Ohne

Zweifel hatte sich der Widerspruch der Utopie zur Lebenspraxis stets

vergrößert, dabei ist die eigene Haltung realistischer geworden und Skepsis

gewinnt zunehmend an Boden.

HEINER MÜLLER, Nachtstück

Auf der Bühne steht ein Mensch. Er ist überlebensgroß, vielleicht eine Puppe.

Er ist mit Plakaten bekleidet. Sein Gesicht ist ohne Mund. Er betrachtet seine Hände,

bewegt die Arme, probiert seine Beine aus. Ein Fahrrad, von dem Lenkstange oder

Pedale oder beides oder Lenkstange, Pedale und Sattel entfernt worden sind, fährt von

rechts nach links schnell über die Bühne. Der Mensch, der vielleicht eine Puppe ist,

läuft hinter dem Fahrrad her. Eine Schwelle fährt aus dem Bühnenboden. Er stolpert

darüber und fällt. Auf dem Bauch liegend, sieht er das Fahrrad verschwinden. Die

Schwelle verschwindet von ihm ungesehn. Wenn er aufsteht und sich nach der

Ursache für seinen Sturz umsieht, ist der Bühnenboden wieder glatt. Sein Verdacht fällt

auf seine Beine. Er versucht sie sich im Sitzen auszureißen, in der Rückenlage, aus

dem Stand. Die Ferse am Gesäß, den Fuß mit beiden Händen packend, reißt er sich

das linke Bein aus, dabei aufs Gesicht gefallen in der Bauchlage das rechte. Er liegt

noch auf dem Bauch, wenn das Fahrrad von links nach rechts langsam an ihm vorbei

über die Bühne fährt. Er bemerkt es zu spät und kann es kriechend nicht einholen. Sich

aufrichtend und seinen schwankenden Rumpf mit den Händen abstützend, macht er

die Entdeckung, daß er seine Arme zur Fortbewegung gebrauchen kann, wenn er den

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Rumpf in Schwung bringt, nach vorn wirft, mit den Händen nachgreift usw. Er übt eine

neue Gangart. Er wartet auf das Fahrrad, erst am rechten, dann am linken Portal. Das

Fahrrad kommt nicht. Der Mensch, der vielleicht eine Puppe ist, reißt sich, den rechten

mit der linken und den linken mit der rechten Hand, gleichzeitig beide Arme aus. Hinter

ihm fährt bis in Kopfhöhe die Schwelle aus dem Bühnenboden, diesmal, damit er nicht

fällt. Vom Schnürboden kommt das Fahrrad und bleibt vor ihm stehen. An die kopfhohe

Schwelle gelehnt, betrachtet der Mensch, der vielleicht eine Puppe ist, seine Beine und

Arme, die weit verstreut auf der Bühne herumliegen, und das Fahrrad, das er nicht

mehr gebrauchen kann. Er weint mit jedem Auge eine Träne. Zwei Beckett-Stachel in

Augenhöhe werden von rechts und links hereingefahren. Sie halten am Gesicht des

Menschen, der vielleicht eine Puppe ist, er braucht nur den Kopf zu wenden, einmal

nach rechts, einmal nach links, den Rest besorgt der Stachel. Die Stachel werden

hinausgefahren, jeder eine Auge auf der Spitze. Aus den leeren Augenhöhlen des

Menschen, der vielleicht eine Puppe ist, kriechen Läuse und verbreiten sich schwarz

über sein Gesicht. Er schreit. Sein Mund entsteht mit dem Schrei.

In der Pantomime des "Nachtstücks" fasst Heiner Müller noch einmal alle

Figuren der Selbstzerstörung, Fragmentierung und verzweifelten Trauer aus

seinem Theaterstück Germania Tod in Berlin (1977) zusammen: "Der Mensch,

der vielleicht eine Puppe ist", zerstückelt sich im Verlauf der Szene selbst. Am

Ende werden ihm − unter explizitem Verweis auf Samuel Beckett − die Augen

ausgestochen. Die groteske Selbst-Demontage ist perfekt.

In einer Zeit der "gestockten Widersprüche" (Franz Fühmann), die sie als

Stagnation empfanden, sahen es viele Schriftsteller als ihre Pflicht an,

"Phantasie zu mobilisieren" (Heiner Müller) oder "bildliches Denken", wie es

Irmtraud Morgner formuliert, die in ihrer Kritik der maßgeblich männlichen

Fetischisierung des abstrakten Denkens die Kraft der Imagination durch die

Verlebendigung von Mythen, Märchen, Sagen und Legenden stimuliert. Ihre

phantastischen Texte verrücken in spielerischer und selbstironischer Manier die

immer enger gezogenen Grenzen der Realität. Dagegen schreibt man an zum

Beispiel mit Saiäns Fiktschen (1981), wie Fühmanns Science-Fiction-

Erzählungen heißen über die sich nach dem Atomkrieg feindlich

gegenüberstehenden, fast perfekten Zukunftsgesellschaften Libroterr und

Uniterr, die traumatische Verlängerung der gesellschaftlichen Ordnungen der

Gegenwart in eine monströse Zukunft. Der begegnet Christa Wolf 1970

satirisch. So in ihren Erzählungen “Neue Lebensansichten eines Katers” – eine

Kritik der instrumentellen Vernunft im deutlichen Rekurs auf E.T.A. Hoffmann –

und "Selbstversuch", die phantastische Geschichte der Geschlechtsumwandlung

einer Frau. Die späteren Texte Kassandra. Eine Erzählung (1983)

77


und Störfall (1987) versuchen dagegen, gegenüber der schier unendlichen

Macht der (Selbst-)Zerstörung in Mythos und Gegenwart einen Funken

Hoffnung zu retten.

Hommage an Maxie Wander (2008)

Gleichsam als Gegenbewegung zur Erschließung bisher unbekannter

fiktionaler Räume ist die sich in den siebziger Jahren entwickelnde

Dokumentarliteratur zu verstehen, die in der DDR ja immer auch als ein

Korrektiv mangelnder massenmedialer Berichterstattung zu lesen ist und eine

"Ersatzfunktion für Journalismus" (Thomas Brasch) hatte. Sie beginnt mit Sarah

Kirschs 1973 erschienenen "5 Erzählungen aus dem Kassetten-Recorder" unter

dem Titel Die Pantherfrau, die der Situation von Frauen in der DDR ebenso

nachspüren wie die Protokolle Maxie Wanders Guten Morgen, du Schöne

(1977). Das war das Buch, das eine Bresche schlug für den dokumentarischen

Stil einer aufrichtigen, sehr subjektiven, sprachmächtigen Erforschung von

(weiblicher) Realität. Später folgten dann auch von Frauen geschriebene

Männerbücher wie Christine Lambrechts Männerbekanntschaften und Christine

Müllers Männerprotokolle (beide 1986). Das Tabu, mit dem Homosexualität

belegt wurde, brach dann Jürgen Lemke mit seinem Ganz normal anders

78


(1989). Aber auch andere Bereiche gesellschaftlicher Wirklichkeit wurden

erforscht: So die Arbeits- und Lebenssituation in einem Obstanbau-Betrieb von

Gabriele Eckart (So sehe ick die Sache, 1984) oder die Ostberliner Alternativ-

Szene in Daniela Dahns Prenzlauer-Berg-Tour (1987).

An Umfang und Bedeutung hatte in den letzten fünfzehn Jahren vor der

Grenzöffnung auch die Memoiren- und Reiseliteratur gewonnen, die als

Unterhaltungsgenre in der DDR und mit ihrer kompensatorischen Funktion eine

ganz besondere, dem Fernsehen ähnliche Rolle spielte, während die Hinwendung

zum Alltag, die schon für die sechziger Jahre vermerkt wurde, nun eine

Konstante der DDR-Literatur wird, die besonders dem Leser draußen zahllose

Informationen über das Land und über Einstellungen zu ihm vermittelte. Da ist

anzuführen die Darstellung der Situation der Kinder und Jugendlichen, wie sie

Plenzdorf initiiert hatte. Dann aber auch Volker Brauns Unvollendete

Geschichte (1975), die zunächst nur in einer Zeitschrift abgedruckt wurde und

dann dreizehn Jahre auf die Buchveröffentlichung warten musste: Denn allzu

offen wurde hier über die Liebe zwischen einer Funktionärstochter und einem

Jungarbeiter berichtet, der verdächtigt wird, Kontakte mit dem Westen zu

unterhalten. Als sie sich unter massivem elterlichen Druck von ihm trennt,

unternimmt er einen Selbstmordversuch. Da löst sich das Mädchen von ihrem

Elternhaus.

Wie Jugendliche am realen Sozialismus kaputt gehen, zeigen auch die

Erzählungen Thomas Braschs (Vor den Vätern sterben die Söhne, 1977); wie

Jugendliche ihren Lebensanspruch formulieren, die Prosaminiaturen Die

wunderbaren Jahre von Reiner Kunze (1976). Hier – wie auch in anderen

Prosatexten, so z.B. in Jurek Beckers Schlaflose Tage (1978) – kommt auch

der Themenkomplex Schule zur Sprache. Eine präzise, stark autobiographische

Innenansicht des Militärs liefern die Romane von Jürgen Fuchs Fassonschnitt

(1984) und Das Ende einer Feigheit (1988).

REINER KUNZE, Mitschüler

Der kleine Text "Mitschüler" entstammt einer Sammlung "poetischer

Prosa" (Hans Mayer), die unter dem Titel Die wunderbaren Jahre 1976 vom

DDR-Büro für Urheberrechte zur Publikation in der Bundesrepublik freigegeben

79


und dort in kurzer Zeit zum Bestseller wurde. Der Titel des Buches zitiert

Truman Capote: "Ich war elf, und später wurde ich sechzehn. Verdienste

erwarb ich mir keine, aber das waren die wunderbaren Jahre." Kunze schildert

den Alltag von Kindern und Jugendlichen in der DDR und – in den letzten

beiden Abteilungen des Bandes – jenen im Prag der Jahre 1968 und 1975. Mit

der Veröffentlichung in der BRD begann gegen Reiner Kunze in der DDR eine

Diffamierungskampagne, in deren Verlauf er als "Staatsfeind" aus dem

Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen wurde. Im April 1977 siedelte

der Autor mit seiner Familie in die BRD über. "Mitschüler" ist Teil des größten

Abschnitts des Buches, der überschrieben ist mit "Verteidigung einer

unmöglichen Metapher", eben der der "wunderbaren Jahre", in denen das

Lebensgefühl von jungen Menschen sich Ausdruck verschafft gegenüber

staatlicher, schulischer und elterlicher Autorität.

Sie fand, die Massen, also ihre Freunde, müßten unbedingt die farbige

Ansichtskarte sehen, die sie aus Japan bekommen hatte: Tokioter Geschäftsstraße am

Abend. Sie nahm die Karte mit in die Schule, und die Massen ließen beim Anblick des

Exoten kleine Kaugummiblasen zwischen den Zähnen zerplatzen.

In der Pause erteilte ihr der Klassenlehrer einen Verweis. Einer ihrer Mitschüler

hatte ihm hinterbracht, sie betreibe innerhalb des Schulgeländes Propaganda für das

kapitalistische System.

Der Grad der Emanzipation einer Gesellschaft beweist sich an den

traditionell Schwachen, den Kindern, den Heranwachsenden und den Frauen.

So ist es kein Zufall, dass in der DDR nach ersten Schritten juristischer, sozioökonomischer

und politischer Gleichberechtigung die Frauen seit den siebziger

Jahren verstärkt dazu übergehen, ihre Rolle auch in der Literatur geltend zu

machen. Hatten bisher hauptsächlich männliche Autoren weibliche Ansprüche

formuliert – wie beispielsweise H. Müller in Zement, 1973 –, taten es nun die

Frauen selber.

Das Schlüsseljahr ist 1974: Es erscheinen die drei wichtigen

Frauenromane Franziska Linkerhand von Brigitte Reimann, Gerti Tetzners

Karen W. und Irmtraud Morgners Trobadora Beatriz. Damit präsentierten sich

Frauengestalten, die immer stärker und selbstbewusster darauf drängten, ihre

Lebens- und Glücksansprüche jenseits von männlichen Modellen zu entwerfen.

Prosatexte, die nachdrücklich die Frauenliteratur der DDR charakterisieren und

von Anspruch auf Emanzipation wie von gehörigem literarischem Talent

80


künden, sind weiter: Lauter Leben (1975) von Helga Schubert, Vieräugig oder

blind (1978) von Charlotte Worgitzky, Wie ich meine Unschuld verlor (1976) von

Christine Wolter, Meine ungehörigen Träume (1978) von Helga Königsdorf,

Schattenriß eines Liebhabers (1981) von Rosemarie Zeplin. Spätere Texte

dieser und anderer Autorinnen lassen sich dann aber kaum noch mit dem zu

engen Begriff der Frauenbücher fassen.

HELGA KÖNIGSDORF, Bolero

Als Leitspruch des ersten Bandes Erzählungen Meine ungehörigen

Träume (1978), dem der Text "Bolero" entnommen ist, hat die Autorin gewählt:

"Meiner Liebe, die mir täglich stirbt und die ich immer neu erschaffe", wozu sie

auf literarischer Ebene mit dem Einsatz des Phantastischen und der ironischen

Brechung arbeitet – wie eben auch am Ende des vorliegenden Textes. Nicht ihr

mangele es an Phantasie, "sondern dem Leben", stellt Helga Königsdorf dazu

fest. 1938 in Gera geboren, ist Helga Königsdorf nach absolviertem Physikstudium

seit 1961 als Mathematikerin tätig und publiziert seit 1978 regelmäßig

Erzählungen und Romane.

Die Liebe mit ihm war nicht sonderlich erfreulich. Er kam ohne weitere

Einleitung über mich und beschäftigte sich an mir mit sich. Hinter der Sinnlichkeit der

Frauen mutmaßte er Tonnenideologie, und folglich bemaß er die Kultur seiner

Liebeshandlung in deren Quantität. Trotzdem wäre ihm die Offenbarung meines

Empfindens wohl nicht als Niederlage nahegegangen, denn durch Statistiken

aufgeklärt, schätzte er den Prozentsatz der frigiden Frauen im Abendland auf

sechsundneunzig. Welche richtige Frau aber würde nicht ihren Ehrgeiz dareinsetzen,

zu den verbleibenden vier Prozent gezählt zu werden. Außerdem war allen

Gedankengängen vorzubeugen, die in der Frage endeten: “Warum ich eigentlich?”

Während ich also für seine Befriedigung schwer atmete und leise stöhnte,

dachte ich daran, daß das blaue Sommerkleid zur Reinigung müsse. Ich legte seine

Hand mit der Narbe zwischen meine Schenkel, doch er begriff nichts. Vielmehr

registrierte er mit Staunen die ihm neu erschaffenen Fähigkeiten zur Lust, überließ sich

gänzlich dem passiven Genießen, so daß in Zukunft ich über ihn kommen mußte, was

meinem natürlichen Empfinden zuwiderlief. Vielleicht hätte ich es nicht getan, wenn ich

bedacht hätte, daß er so schreien würde. Aber das konnte ich wirklich nicht ahnen,

denn er war der ruhigste Mensch, den ich gekannt habe.

Danach übermannte ihn meist die Müdigkeit, und er fiel in einen kurzen tiefen

Schlaf, während ich einer kleinen Mahlzeit die letzte Würze verabreichte.

(...)

Er führte ein einwandfreies Familienleben, in dem ich keinen Platz hatte, nicht

einmal als entfernte Kollegin. Ich stimmte dem unbedingt zu. Nüchtern gesehen:

Scherereien hätte es nicht verlohnt. Ein Geheimnis war auch eine Waffe. Eine Waffe

gegen das unerhörte Gefühl der Verlassenheit, das mich damals wie ein wieder- und

wiederkehrender Angsttraum bedrängte. Ein Spannungselement, und hing auch noch

81


soviel Selbstironie daran. Ein Kontrast im Gleichklang meiner Tage. (...)

An jenem Abend kam er direkt nach einer Sitzung zu mir. Ich legte ihm die

Kissen im Sessel zurecht, schob die Fußbank heran, draußen wurde es bereits dunkel.

Ich sah, er war sehr müde. Ich kochte einen starken Kaffee, würzte ihn mit Zucker und

Zimt, gab etwas Himbeergeist in die breiten Schalen, zündete ihn an und goß dann

langsam den Kaffee hinein. Ich fand es rührend, daß er sagte: “Ich bin heute sehr

abgespannt, aber ich wollte dich unbedingt sehen.” Ich trug den neuen hauchdünnen

weinroten Hausanzug, sonst nichts, und als er mich an sich zog, spürte ich, er war

doch nicht so müde. Irgendwie mochte ich ihn in diesem Moment wie nie zuvor. Ich war

besonders zärtlich zu ihm und ganz ohne Verstellung. Als ich seinen Kopf an meine

Schulter legte, knurrte er leise. Ich fragte ihn, was er denke, und er sagte, mich

wegschiebend: “Ach nichts. Aber ich bin doch ein altes Schwein.”

Das andere geschah völlig unerwartet. Wir aßen schneller als sonst, weil er zu

Hause nicht abgemeldet war. Dann ging er, schon im Anzug, aber noch in Strümpfen,

auf den Balkon, lehnte sich über die Brüstung, um nach seinem Auto zu sehen. Wie er

so auf Zehenspitzen stand und sich reckte, faßte ich seine Füße und riß seine Beine

hoch. Er hat nicht versucht, sich festzuhalten, er war wahrscheinlich zu überrascht.

Das erklärt auch, wieso er erst so spät geschrien hat. Da war er schon in der Höhe des

siebenten oder sechsten Stocks. Seine Schuhe und seinen Mantel habe ich

hinterhergeworfen. Ich räumte die Wohnung auf, badete und setzte mich an die offene

Balkontür. Ravels Bolero erfüllte anschwellend den Raum.

Manchmal grübele ich darüber nach, wie diejenigen, die seinen Nachruf

verfassen, die Tatsache, daß er ohne Schuhe Selbstmord beging, damit in Einklang

bringen, daß er der korrekteste Mensch war, den sie oder irgend jemand anderes

kannten.

wasichzubolerofand (2008)

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Die Literatur der Arbeitswelt, die ja in der DDR eine lange und zum Teil

beachtenswerte Tradition und einen Status der Selbstverständlichkeit erworben

hatte, erfüllte – nicht immer in der gewünschten ästhetischen Weise – ihren

Parteiauftrag, wenn sie sich auch weiterhin mit den Arbeits- und

Lebensverhältnissen von Menschen aus dem proletarischen Milieu

beschäftigte – hier wären unter anderem zu nennen Wolfgang Hilbigs Die

Weiber (1987), Paul Gratziks Transportpaule (1977) und Angela Krauß' Das

Vergnügen (1984). Doch erfolgte, wie wir sahen, schon bald eine soziale

Ausweitung auf Berufstätige aus den Reihen der Intelligenz und aus der

Verwaltung. Zu dieser sozialen Kategorie gehören die Protagonisten der Bücher

von Günter de Bruyn Buridans Esel (1968), Erich Loest Es geht seinen Gang

oder Mühen in unserer Ebene (1978) oder Christoph Hein Der fremde Freund

(1982). Heins "Endspiel in Prosa" (Wolfgang Emmerich) rechnet Errungenschaften

wie relativen Wohlstand und Sicherheit gegen Verlust von Liebesfähigkeit

und eine sich ausbreitende innere Leere auf.

Christoph Hein, Jahrgang 1944, verlebte seine Kindheit in Sachsen,

besuchte das Gymnasium in Westberlin und musste nach dem Mauerbau in

Ostberlin bleiben. Nach verschiedenen Tätigkeiten, darunter als Regieassistent,

ab 1967 Studium der Philosophie und Logik. Seit 1979 freier Schriftsteller von

Theaterstücken, Essays, Erzählungen und Romanen.

CHRISTOPH HEIN, Der fremde Freund

Die Ich-Erzählerin Claudia ist eine knapp vierzigjährige, geschiedene,

kinderlose, im Beruf erfolgreiche Ärztin, die sich in ihrem Berliner Appartement

und in ihrem Single-Dasein eingerichtet hat. Eine Änderung ist nicht absehbar,

scheint auch nicht wünschenswert. Ihr Leben besteht aus ein paar Bekannten,

mehr oder weniger angenehmen Kollegen, Auto und Sommerurlaub in einem

Ostseedorf, ab und zu einem Liebhaber und einem Besuch bei den Eltern, mit

denen sie emotional nichts weiter verbindet, und schließlich dem Fotografieren

meist menschenleerer Landschaften. In diese Lebenswelt platzt die Bekanntschaft

mit Henry, dem "fremden Freund". Ein Jahr dauert ihre Beziehung; er

kommt ihr nah und bleibt ihr doch fremd, auch wenn er einmal bekennt: "Ich

fürchte mich nicht davor zu sterben. Schlimmer ist es für mich, nicht zu leben."

83


Mit dem Tod Henrys endet auch der Einbruch von Spontaneität und Freiheit im

Leben Claudias, sie zieht Bilanz:

Ich bin auf alles eingerichtet, ich bin gegen alles gewappnet, mich wird nichts

mehr verletzen. Ich bin unverletzlich geworden. Ich habe in Drachenblut gebadet, und

kein Lindenblatt ließ mich irgendwo schutzlos.

Es geht mir gut. Heute rief Mutter an, und ich versprach, bald vorbeizukommen.

Mir geht es glänzend, sagte ich ihr. Ich bin ausgeglichen. Ich bin einigermaßen beliebt.

Ich habe wieder einen Freund. Ich kann mich zusammennehmen, es fällt mir nicht

schwer. Ich habe Pläne. Ich arbeite gern in der Klinik. Ich schlafe gut, ich habe keine

Alpträume. Im Februar kaufe ich mir ein neues Auto. Ich sehe jünger aus, als ich bin.

Ich habe einen Friseur, zu dem ich unangemeldet kommen kann, einen Fleischer, der

mich bevorzugt bedient, eine Schneiderin, die einen Nerv für meinen Stil hat. Ich habe

einen hervorragenden Frauenarzt, schließlich bin ich Kollegin. Und ich würde,

gegebenenfalls, in eine ausgezeichnete Klinik, in die beste aller möglichen Heilanstalten

eingeliefert werden, ich wäre schließlich auch dann noch Kollegin. Ich bin mit

meiner Wohnung zufrieden. Meine Haut ist in Ordnung. Was mir Spaß macht, kann ich

mir leisten. Ich bin gesund. Alles was ich erreichen konnte, habe ich erreicht. Ich wüßte

nichts, was mir fehlt. Ich habe es geschafft. Mir geht es gut.

Ende.

Volker Braun verfolgt in seinem Hinze-Kunze-Roman (1985), aus dem

schon zitiert wurde, ein anderes Interesse, wenn er am Beispiel eines

Funktionärs und seines Chauffeurs zeigt, wie und warum das Herr-Knecht-

Verhältnis, allen Proklamationen der Partei trotzend, auch im realen

Sozialismus funktioniert.

Die einmal von offizieller Seite so nachdrücklich geforderte Beschäftigung

mit der Wirklichkeit in Wirtschaft und Gesellschaft führte, wo sie nicht mit

Scheuklappen betrieben wurde, notwendigerweise auch zur Auseinandersetzung

mit den Umweltbelastungen als Folge der rücksichtslos forcierten

Industrialisierung der DDR. Die extrem starke Verschmutzung von Luft und

Wasser – Flüsse wie Elbe und Saale waren von exkrementöser Farbe – und

überhaupt die Mißachtung der Natur und die Gefahren des Primats der

Ökonomie wurden jetzt von der Prosa vermehrt thematisiert. Dafür stehen

Bücher wie Monika Marons Flugasche (1981), Hans Cibulkas Swantow. Die

Aufzeichnungen des Andreas Flemming (1982), aber auch Störfall (1987), in

dem Christa Wolf ebenfalls die Situation nach dem Reaktorunglück in

Tschernobyl reflektiert. Allerdings heißt es auch schon im Geteilten Himmel –

und das bereits 1963 und also wohl eher unfreiwillig ökologiekritisch:

84

Die Leute, seit langem an diesen verschleierten Himmel gewöhnt, fanden ihn

auf einmal ungewöhnlich und schwer zu ertragen (…). Die Luft legte sich schwer auf

sie, und das Wasser – dieses verfluchte Wasser, das nach Chemie stank, seit sie


denken konnten – schmeckte ihnen bitter.

The past is never dead. It’s not even past – dieses Motto William

Faulkners bestimmte nun die Vergangenheitsbewältigung in der DDR, die

Reflexion ihrer Geschichte und Vorgeschichte. Trotz vieler Bücher über den

Nationalsozialismus fehlte noch die kritisch-selbstkritische Aufarbeitung der

Voraussetzungen in den Individuen dafür. Ein mutiger Versuch in dieser

Richtung sind die außerordentlich komplexen und gleichzeitig spannenden

Kindheitsmuster (1976) von Christa Wolf.

Ausgangsfrage dieser Prosa ist: "Wie sind wir so geworden, wie wir

heute sind?" Es ist die Frage nach dem ganz normalen, alltäglichen Faschismus,

der von den meisten Menschen mitgemacht, mehr oder minder unwillig

ertragen, auch erlitten, doch nicht bekämpft wurde. Christa Wolf stellt die

Familie eines kleinen Lebensmittelhändlers vor, in der das Mädchen Nelly seine

Kindheit während der Nazi-Zeit erlebt und die typischen Eigenschaften erlernt,

die "Kindheitsmuster" eben, um sich dem Leben unter der Diktatur anzupassen:

Angst, Hass, Härte, Verstellung, Unterdrückung authentischer Gefühle, Abhängigkeit,

Pflicht und Treue. Auf einer zweiten Ebene konfrontiert die Erzählerin

die Erinnerung an ihre beschädigte Kindheit mit der Gegenwart einer Reise an

den Ort eben ihrer Mädchenjahre. Auf einer dritten Ebene bezieht die Autorin

ihre alltäglichen Erfahrungen zur Zeit der Niederschrift des Buches 1972-75 mit

ein, und auf einer vierten reflektiert sie die Schwierigkeiten des Schreibens über

Themen, die lange Zeit tabuisiert waren.

Dieser bis dato längste und komplizierteste Prosatext Christa Wolfs

dokumentiert den Prozess der Trauerarbeit, der komplexen Auseinandersetzung

mit der eigenen Vergangenheit, um Energien freizusetzen, den

Problemen der Gegenwart auf andere Weise begegnen zu können.

Christa Wolf, Kindheitsmuster

Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von

uns ab und stellen uns fremd.

Frühere Leute erinnerten sich leichter: eine Vermutung, eine höchstens

halbrichtige Behauptung. Ein erneuter Versuch, dich zu verschanzen. Allmählich, über

Monate hin, stellte sich das Dilemma heraus: sprachlos bleiben oder in der dritten

Person leben, das scheint zur Wahl zu stehen. Das eine unmöglich, unheimlich das

andere. Und wie gewöhnlich wird sich ergeben, was dir weniger unerträglich ist, durch

das, was du machst. Was du heute, an diesem trüben 3. November des Jahres 1972,

85


beginnst, indem du, Packen provisorisch beschriebenen Papiers beiseite legend, einen

neuen Bogen einspannst, noch einmal mit der Kapitelzahl 1 anfängst. Wie so oft in den

letzten eineinhalb Jahren, in denen du lernen mußtest: die Schwierigkeiten haben noch

gar nicht angefangen. (…)

Im Kreuzverhör mit dir selbst zeigt sich der wirkliche Grund der Sprachstörung:

Zwischen dem Selbstgespräch und der Anrede findet eine bestürzende

Lautverschiebung statt, eine fatale Veränderung der grammatikalischen Bezüge. Ich,

du, sie, in Gedanken ineinanderschwimmend, sollen im ausgesprochenen Satz

einander entfremdet werden. Der Brust-Ton, den die Sprache anzustreben scheint,

verdorrt unter der erlernten Technik der Stimmbänder. Sprach-Ekel. Ihm gegenüber

der fast unzähmbare Hang zum Gebetsmühlengeklapper: in der gleichen Person.

Zwischenbescheide geben, Behauptungen scheuen, Wahrnehmungen an die

Stelle der Schwüre zu setzen; ein Verfahren, dem Riß, der durch die Zeit geht, die

Achtung zu zollen, die er verdient.

In die Erinnerung drängt sich die Gegenwart ein und der heutige Tag ist schon

der letzte Tag der Vergangenheit. So würden wir uns unaufhaltsam fremd werden ohne

unser Gedächtnis an das, was wir getan haben, was uns zugestoßen ist. Ohne unser

Gedächtnis an uns selbst.

Und die Stimme, die es unternimmt, davon zu sprechen.

Mit diesen Worten, die deutlich machen, wie schwer die Vergangenheit

der Hitlerzeit noch auf vielen Autoren lastete, beginnt das Wolfsche Prosa-

Unterfangen, ganz im Zeichen der Sprachskepsis der Moderne und der eigenen

ethischen Verantwortung, wie sie Ingeborg Bachmann auf den Punkt gebracht

hatte: “Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar”. Wer sie aber formulieren

will, weiß auch: “Die Sprache ist die Strafe”.

Das betraf in besonderer Weise natürlich auch die Stalin-Zeit und den

hauseigenen Stalinismus, was verschiedentlich Gegenstand einer ersten

kritisch-selbstkritischen literarischen Auseinandersetzung wurde. Verständlichermaßen

beginnt dies erst einmal mit der Benennung des unsagbar

Unsäglichen: Stefan Heyms 5 Tage im Juni, dann Collin (1979) sowie sein zu

Lebzeiten erschienener autobiographischer Nachruf (1988) dokumentieren

einschneidende Ereignisse der DDR-Diktatur. Erwin Strittmatter rechnet in

seinem dritten Band des Romans Der Wundertäter (1980) mit dem realsozialistischen

Alltag ab, Helga M. Novaks Kindheitserinnerungen mit dem Leben in

einem DDR-Internat (Vogel federlos, 1982), Christoph Hein in Horns Ende

(1985) mit den 50er Jahren und Der Tangospieler (1989) mit den Ereignissen

des Jahres 1968, Walter Jankas autobiographische Aufzeichnungen

Schwierigkeiten mit der Wahrheit(1989) mit den Terrorprozessen 1956 gegen

oppositionelle Kommunisten, Christa Wolfs Was bleibt (1990) mit Verfolgung

und Bespitzelung durch den Staatssicherheitsdienst (Stasi).

86


1990 erscheint eine im ersten DDR-Jahrzehnt niedergeschriebene

Novelle von Anna Seghers, die nie überarbeitet und abgeschlossen wurde: Der

gerechte Richter: Ein junger unbestechlicher Untersuchungsrichter wird in

einem nicht näher bezeichneten Land dazu bestellt, in der Hauptstadt den "Fall

Viktor Gasko" zu übernehmen. Gasko – knapp vierzig, Kommunist, Teilnehmer

am Spanischen Bürgerkrieg, interniert in Frankreich und in einem deutschen

Lager – wird "von einer Seite, die über jeden Zweifel erhaben ist" beschuldigt,

als Agent für das Ausland tätig geworden zu sein. Dem Untersuchungsrichter ist

er hingegen aus früheren Jahren als ehrlicher Mensch bekannt und ihm

scheinen die Unterlagen zur Durchführung eines Prozesses keinesfalls

ausreichend. Auch Verhöre des Angeklagten erbringen nichts Belastendes,

machen diesen nur noch verzweifelter: "Unsre Idee ist die beste, die Menschen

sich jemals ausgedacht haben. Was macht ihr aus dieser Idee, ihr?" Druck von

oben, mysteriöse Hinweise, Sich-Zurückziehen ehemaliger Freunde aus dieser

Affäre lassen den "gerechten Richter" zwar nicht unbeeindruckt, ändern jedoch

auch nicht sein korrektes Verhalten. So wird ihm der Fall entzogen, er selbst

verhaftet und in ein Arbeitslager eingewiesen, wo er unter psychischem und

physischem Terror zu leiden hat. Dort trifft er auch den inzwischen verurteilten

Gasko wieder, der als Mensch zu Grunde gerichtet scheint. Doch stehen die

beiden alle Unbill durch: "Wir müssen kommen, wir sind im Recht", heißt es am

Ende dieser mehr als realistischen Geschichte.

Jedoch bleibt das meiste noch zu tun, und es wird viel Zeit und Kraft

kosten und noch mehr: Aufrichtigkeit und Mut, die geeigneten Fragen stellen zu

können. Denn die Tatsache des Scheiterns der sozialistischen Staaten muss

jedem überzeugten Sozialisten wie Feuer auf der Haut brennen. Nicht nur

Helga Königsdorf hat diese Selbstbefragung im Frühjahr 1990 aufgenommen:

Wieso haben wir nicht die ganze Wahrheit geschrieben?... Wir sagen nicht, wir

haben es nicht gewusst. Oder wir sind betrogen worden... Man konnte immer alles

wissen, wenn man nur wollte... Wir kritisierten, aber wir stellten nicht in Frage.

Jedenfalls nicht total... Wir glaubten an die Möglichkeit, ihn (den Sozialismus) von

innen her zu reformieren, ihn zu bessern. An die Möglichkeit, der schönen Utopie ein

Stück näher zu kommen... Wir akzeptierten es nicht, das System, das uns umgab, aber

wir liebten die Utopie, die es einst auf seine Fahnen geschrieben hatte... Dafür

schrieben wir, waren listig, verbündeten uns zeitwillig sogar mit den Gegnern unserer

Hoffnung. Das war die Wurzel unserer inneren Zensur.

87


Für die Veröffentlichung seines Romans Collin in der BRD war Stefan

Heym 1979 in seinem Land zu neuntausend Mark Geldstrafe verurteilt und aus

dem Schriftstellerverband ausgeschlossen worden. Collin ist ein in der DDR

sehr angesehener Schriftsteller und liegt wegen Herzinsuffizienz in einer

Eliteklinik, wo er seine Memoiren schreibt, in denen er endlich die Wahrheit

über sein Land in den fünfziger Jahren aussprechen will. Heyms Buch ist ein

Roman über die Gesellschaft der DDR, über stalinistischen Terror; die

Romanfiguren sind typische Vertreter dieses Gesellschaftssystems und leicht

identifizierbar als Johannes R. Becher, Helene Weigel, Jan Petersen oder

Stephan Hermlin. Spannend geschrieben wie die meisten Bücher des Autors,

ist das der erste Text, der wirklich offen, ohne Vor- und Rücksicht über Macht

und Abhängigkeit in der DDR spricht.

constructa romantika (1998)

88


Eine Gegenwart, die bedrängend als Stillstand und Bedrohung innerhalb

und außerhalb der DDR erfahren wurde, führte zu einer verstärkten Beschäftigung

mit Vergangenheit, mit Historie und das heißt auch mit Epochen und

Künstlern, die lange aus dem landeseigenen kulturellen Erbe ausgeschlossen

waren. Die Schriftsteller wandten sich dem zu, was nicht einfach gesunde

Fortschrittsgläubigkeit und -ideale sowie gestandene Klassizität im Sinne der

Goethe kolportierenden Doktrin verkörperte und nicht in ein von Siegermentalität

geprägtes Historienbild passte: dem elend zugrunde gegangenen

Sturm-und-Drang-Dichter J.M.R. Lenz in der einfühlsamen Lebensbeschreibung

von Sigrid Damm Vögel, die verkünden Land (1985); dem wahnsinnig

gewordenen Hölderlin (Gerhard Wolf, Der arme Hölderlin, 1972); Günderrode

und Kleist, die den Freitod suchten (Günter Kunert, Ein Pamphlet für K., 1975;

Christa Wolf, Kein Ort. Nirgends, 1979); weitgehend unbeachtet gebliebenen

Frauen wie Caroline Schelling-Schlegel (Brigitte Struzyk, Caroline unterm

Freiheitsbaum. Ansichtssachen, 1988) oder Goethes Schwester (Sigrid Damm,

Cornelia Goethe, 1987).

In den Gestalten Kleists und der Günderrode führt Christa Wolf zwei

jener deutschen Dichter zu einer fiktiven Begegnung zusammen, die

menschlich und literarisch – wie Anna Seghers anmerkte – „ihre Stirn an der

gesellschaftlichen Mauer wundrieben“.

CHRISTA WOLF, Kein Ort. Nirgends

Einer, Kleist, geschlagen mit diesem überscharfen Gehör, flieht unter

Vorwänden, die er nicht durchschauen darf. Ziellos, scheint es, zeichnet er die

zerrissene Landkarte Europas mit seiner bizarren Spur. Wo ich nicht bin, da ist das

Glück.

Die Frau Günderrode, in den engen Zirkel gebannt, nachdenklich, hellsichtig,

unangefochten durch Vergänglichkeit, entschlossen, der Unsterblichkeit zu leben, das

Sichtbare dem Unsichtbaren zu opfern. Daß sie sich getroffen hätten: erwünschte

Legende. Winkel am Rhein, wir sahn es. Ein passender Ort. Juni 1804.

Wer spricht?

(…)

Glauben Sie, Günderrode, daß jeder Mensch ein unaussprechbares Geheimnis

hat?

Ja, sagt die Günderrode. In dieser Zeit? Ja.

Die Antwort hat sie bei der Hand gehabt.

Sie bleiben stehen, drehn sich einander zu. Jeder sieht den Himmel hinter dem

Kopf des andern. Das blasse spätnachmittagliche Blau, keine Wolkenzüge. Sie

mustern sich unverhohlen. Nackte Blicke. Preisgabe, versuchsweise. Das Lächeln

zuerst bei ihr, dann bei ihm, spöttisch. Nehmen wir es als Spiel, auch wenn es Ernst

89


ist. Du weißt es, ich weiß es auch. Komm nicht zu nah. Bleib nicht zu fern. Verbirg dich.

Enthülle dich. Vergiß, was du weißt. Behalt es. Maskierungen fallen ab, Verkrustungen,

Schorf, Polituren. Die blanke Haut. Unverstellte Züge. Mein Gesicht, das wäre es. Dies

das deine. Bis auf den Grund verschieden. Vom Grund her einander ähnlich. Frau.

Mann. Unbrauchbare Wörter. Wir, jeder gefangen in seinem Geschlecht. Die

Berührung, nach der es uns so unendlich verlangt, es gibt sie nicht. Sie wurde mit uns

entleibt. Wir müßten sie erfinden. In Träumen bietet sie sich uns an, entstellt,

schrecklich, fratzenhaft. Die Angst im Morgengrauen, nach dem frühen Erwachen.

Unkenntlich bleiben wir uns, unnahbar, nach Verkleidungen süchtig. Fremde Namen,

die wir uns zulegen. Die Klage in den Hals zurückgestoßen. Trauer verbietet sich, denn

wo sind die Verluste?

Ich bin nicht ich. Du bist nicht du. Wer ist wir?

Aber nicht nur vergessene Geschichte und Literaten, sondern auch

Mythen und Legenden zogen in die Literatur der siebziger und achtziger Jahre

ein. In der Prosa sind es vor allem Fühmann, Wolf und Morgner, die sich von

der Mythologie inspirieren ließen und darin Archetypen abendländischer

Erfahrung schlechthin suchten und fanden. Fühmanns mythologische

Erzählungen, die mit seinem Tod 1984 abbrechen, sind im eigentlichen Sinn

Menschengeschichten, die von den ältesten Themen überhaupt sprechen: von

der Macht der Liebe und des Todes.

In Kassandra (1983) führt Christa Wolf ihren Ende der Sechziger

begonnenen Prozess des Nachdenkens noch weiter in die Tiefe der Zeit, hin zu

den antiken Quellen.

Die äußeren Stationen der Handlung übernehmen weitgehend die

Vorlagen des Mythos: Kassandra, Tochter des trojanischen Königs Priamos

und seiner Frau Hekabe, weissagt ungehört den Untergang Trojas, wird vom

siegreichen Griechenkönig Agamemnon als Sklavin nach Mykenä verschleppt

und dort zusammen mit ihm von seiner Frau Klytaimnestra getötet. Doch der

eigentliche Schauplatz der Erzählung liegt im Innern Kassandras. In der ihr

verbleibenden Zeit kurz vor dem Tod, reflektiert sie ihr Leben – die Entwicklung

von der Königstochter, die zugleich Priesterin und Seherin war, zur Außenseiterin

in der trojanischen Gesellschaft, von Vater und Hof verstoßen. Die

Themen dieser Meditation – Macht und Machtmissbrauch, Sprache als

Herrschaftsinstrument, Vorbereitung und Logik des Krieges, Rolle der Frau,

auch in utopischer Form – zeigen, wie die Autorin in einem Zeitsprung von

dreieinhalbtausend Jahren versucht, sich mit grundlegenden Fragen der

abendländischen Zivilisation auseinanderzusetzen. Dabei erlebt der Leser

immer wieder, wie eng persönliche Betroffenheit und fiktionale Verarbeitung

90


miteinander verbunden sind, was auch das Publikum tief betroffen macht und

diesen Text schnell zu einem Kultbuch der Friedens- und Frauenbewegung in

Ost und West werden lässt.

Ganz anders wendet sich Irmtraud Morgner dem mythologischen

Erzählen zu und das schon im Titel ihres ersten veröffentlichten Romans Leben

und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura.

Das war 1974 und in dieser Form für die DDR Neuland: Die Trobadora Beatriz

de Diaz, im 12. Jahrhundert die einzige ihrer Art unter lauter männlichen

Kollegen, wird 1968 aus achthundertjährigem Schlaf geweckt wie einst Dornröschen.

Sie untersucht nun die Welt, ob sie immer noch eine "Frauenhaltergesellschaft"

ist oder mittlerweile für Frauen bewohnbar. In Paris erlebt sie die

Mairevolte der Arbeiter und Studenten und bricht dann in die DDR auf, von der

sie als einem "Ort des Wunderbaren" gehört hat. Dieser ironische Vorwand

gestattet es der Autorin vor dem Leser, ungeschminkte DDR-Wirklichkeit

auszubreiten. In die Handlung montiert sie Erzählungen, Lieder, Gedichte,

Legenden, Träume, Zeitungsnachrichten, Forschungsberichte, Interviews,

Passagen aus verschiedenen wissenschaftlichen Werken. Der 700-Seiten-

Roman ist in dreizehn Bücher und sieben Intermezzi gegliedert, die auch Teile

des 1965 zensierten Romans Rumba auf einen Herbst (1992) enthalten. Neben

Beatriz gibt es noch zwei weitere weibliche Figuren: Laura, eine Germanistin

mit Kind, die bei der S-Bahn arbeitet, und die Ernährungswissenschaftlerin

Valeska, die, wann immer sie es begehrt, sich in einen Mann verwandeln kann,

was auch dazu dient, hinter die Fassaden der patriarchalisch-chauvinistischen

Männerwelt zu blicken auf der Suche nach dem neuen Mann.

Im zweiten Teil der geplanten Trilogie Amanda. Ein Hexenroman (1983)

greift die Autorin unter anderem auf die nördlich-deutsche Brocken- und

Walpurgisnacht-Mythologie zurück und erzählt die Fortsetzung: die verrückte

Geschichte von der als Sirene mit Menschenkopf und Vogelleib reinkarnierten

Trobadora sowie von Laura und der von ihr abgespaltenen hexischen Hälfte

Amanda. So blicken Leserin und Leser wiederum durch ein großes erzählerisches

Kaleidoskop und erfahren jenes "Evangelium einer Prophetin", das

Morgner sich zu schreiben gewünscht hat: "die gute Botschaft von einer

genialen Frau, die die Frauen in die Historie einführt."

91


Exkurs zu Wolfgang Hilbig

Nicht erst zu seinem Tod im Alter von fünfundsechzig Jahren, sondern

schon zur Verleihung des Büchner-Preises 2002 war man sich einig: Wolfgang

Hilbig, der Mann, der die idealtypische Biografie des Arbeiterdichters aufweisen,

aber in der DDR nie publizieren konnte, war einer der sprachmächtigsten

Schriftsteller der deutschsprachigen Literatur schlechthin, was er in überzeugender

Weise mit den Texten unter Beweis stellte, die seit seiner Ankunft im

Westen 1985 erschienen sind.

Der Meuselwitzer Autor überschüttet mit seinen in Prosa vorgetragenen

Offenbarungen vom Zustand der Welt und der darin hausenden Menschheit –

auf der Folie einer mittlerweile nur noch Älteren unmittelbar nachvollziehbaren

realsozialistischen Wirklichkeitsreduktion – die Lesergemeinschaft unbeirrt mit

immer wieder zum Verwechseln ähnlichen Szenarien und Protagonisten, so

dass es gar angebracht scheint, von der Präsenz einer einzigen mit vielen

autobiografischen Details ausgestatteten Mittelpunktfigur in ein- und demselben

großen Erzählfluss zu sprechen, was diesem profund apokalyptischen

Bewusstsein von der Dialektik der Aufklärung auch nur wahlverwandt wäre.

Dazu passend dann die vormaligen Naturlandschaften – längst Opfer

des Industriemolochs und nurmehr noch Erinnerungen „aus der Literatur“ – und

der, der „aus der Asche“ kommt, dieser selbsternannte „Kaspar Hauser“ made

in GDR, dem der Mensch – das „Volk“ des ehemaligen Arbeiter-und-Bauern-

Staates in Gestalt von „Müßiggängern, Gaffern und Streunern“ – schlichtweg

klaustrophobisch „verdächtig“ ist, auf dass ihn sintflutartige „fette schwarze

Schauer... versetzt mit Rußflocken“, „niederstürzendes Wasser“, vom

stadtzentralen Alexanderplatz, dem ästhetischen Horror sozialistischer

Hauptstadtplanung schlechthin, in sein unterirdisches Asyl vertreiben. Da sitzt

nun unser Keller-Ich vielfach auch in der 3. Person „hier unten“ im Refugium

seines Erdlochs – Dostojewskis Untergrund lässt grüßen! –, das ihm ja kein

Idyll mehr sein kann, weil in diesem Bau – ganz anders als bei dem des

Tierchens des nun endlich genannten Kafka, das von den eigenen obsessiven

Befürchtungen umgetrieben wird – durch Phallus-Graffito und Möbelklau

geheimnisumwittert aufgestöbert und gestört. Jedoch als Laboratorium von

92


Phantasien und Werkstätte von Gedanken ist ihm seine mutterbauchartige

Zuflucht weniger Hölle denn doch heimelige Höhle.

Wo dem Individuum innere und äußere Lebensorientierung sowie

Sprache gänzlich abhanden gekommen, Geist und Körper in Auflösung

begriffen oder einer Metamorphose ins beliebte Exkrementöse ausgesetzt,

Oben und Unten ohne Wechselkurs austauschbar, ununterscheidbar geworden

sind und also das Inferno dem Diesseits gleichfalls eingeschrieben ist, wird

LeserIn zugeben müssen, dass mitunter – wie in den Weibern noch –

anzutreffendes happy ending ihm/ihr eine wohl verdiente Atempause für

stimmungsmäßige Lockerungsübungen verspricht und zudem zu den Raritäten

Hilbigscher Prosa rechnet – satirische Anwandlungen manchmal, wenngleich

eigentlich auch weniger auf der Handlungsebene als schon eher nur gegenüber

möglichen Dispositionen des Kopfes und des Herzens. Das sind im Klima

allgegenwärtiger „Abwesenheit“ und Hoffnungslosigkeit im Sinne des

Danteschen lasciate ogni speranza geradezu vollständig entschwunden

geglaubte Gefühlswelten, atlantidische Seelenlandschaften. Was noch bleibt

von Welt, ist Unterwelt, und Wirklichkeit ist schließlich nur Entleerung, Verfall,

Abraum, erstarrte Richtungslosigkeit, Simulation und Halluzination. Wo Zeit und

Raum so eigentlich aufgehoben sind und Geschehen nicht mehr statthat, bleibt

einzig der offene Abgrund, an dessen Rändern verstümmelte Sinne

aufständisch-künstlerisch noch walten. Mitunter also, von weit her, aus

Müllerschen Räumen, hamletmaschinenartige Signale der Wollust. Oder als

finale Benn-Ironie ein mediterranes Wehen – noch...

Solch Vorspruch zur nun anstehenden Hades-Tour durch ein Dezennium

Hilbigscher Prosa will die Absicht nicht verheimlichen, dass der O-Ton-Extrakt

aus knapp tausend Seiten sich selbstverständlich den Herztönen des Autors

verpflichtet fühlt und nicht vollkommen einer eigenen Leseregie zum Opfer fällt.

Wenngleich mit ein wenig leggerezza der Weg in den Himmel wahrhaft leichter

wird, grad weil er über und durch Abfallhaufen hindurch führt. Aber ob das zu

den möglichen Reisezielen rechnet, ist mehr als fraglich: diese infernalische

Komödie kennt keinen Gott noch Paradies.

aus der Asche (O-Ton I)

Die üblichen Schwelgerüche von Kohle, die kühle salpetrige Ausdünstung alter

Wände, die unter abblätternder Ölfarbe hervorkroch, den Geschmack der Stadt in

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seinen Schleimhäuten, ihre Bitterkeit in den Lungen, Gift, aber vielleicht, so dachte er,

lag es auch an der Qualität der Kohle. Und der Geruch, den sie absonderte, sank

braungelb und bleischwer in die Straßen. Es war der Geruch des Todes. In jener Zeit,

in der ich noch als Heizer im Kohlekesselhaus gearbeitet hatte, war er mir oft genug

begegnet. Wenn wir Kohle erhielten, die zu lange gelagert worden war, die man

wahrscheinlich aus den feuchten schlammigen Gründen sich leerender Depots

gekratzt hatte, wo sie schon einige Jahre den Einflüssen des Wetters ausgesetzt

gewesen war, dann entstand, sobald die Flammen angriffen, genau derselbe Dunst.

Nur mühsam fraß sich Glut in die ausgelaugten verklumpten Haufen auf den

Brennrosten, und dabei traten Schwelgase aus, die von beinah gelbgrüner Farbe

waren; sie waren immerhin sichtbar, man konnte sie mittels guter Belüftung und unter

laufendem Schüren in den Abzug kanalisieren. Über den Heizkesseln aber schwebte,

fast bewusstseinstrübend, ein unsichtbarer Moorgeruch, der alle atemberaubenden

Ausdünstungen der Verwesung zu enthalten schien. Es war deutlich, das abwesende

Leben begann in der Kohle zu kochen, wenn sie in der zunehmenden Hitze in den

Öfen auseinander fiel. Kurz bevor die schwarze Erde, die auf den Feuerrosten lag, in

Flammen aufging, wurde das Mysterium auf die simpelste Weise offenbar: verjüngt

brachen die Ingredienzen des aufgespeicherten Lebens aus der zu Asche zerfallenden

Materie und stiegen in den Äther empor. Zellulosen... Zellen also, angefüllt mit

jahrtausendaltem Leben, gingen auf im rosenfarbenen Geist des Feuers. Die Heizer

standen davor und wiegten die Köpfe, die trunken waren von einem Ansturm

barbarischer Gedanken. Im düsteren Licht ließen sie die Blicke über die mattfarbenen

Wände der Kesselbatterien schweifen und lauschten in das gewitternde Brausen der

Glut; dann sprachen sie grinsend: Auf diese höchst einfache Art werden auch wir eines

nicht fernen Tages die unio mystica vollziehen. Denn wir sind es, die den Boden, auf

dem wir fußen, in Verbrennung auflösen und zum Himmel entfliegen lassen. Wir

wissen, dass alles Leben nur ein dem Himmelsraum entliehener Geruch ist, und wenn

wir heizen, rufen wir ihn wieder hervor. Und wir wissen, dass wir nicht ruhen werden,

ehe wir die gesamte Erde in einen graublauen Ball kalter und geruchloser Asche

verwandelt haben.

Hommage an Wolfgang Hilbig (2008)

94


Der Geruch, der von ihm selber ausging, der nichts anderes als eine Wolke von

Grabesluft war, war angsteinflößend, atemberaubend und entsetzlich. Er steckte nass

in seinen Achselhöhlen, troff ihm von Brust und Lenden und quoll aus allen Falten

seines Unterleibs, er dampfte aus der Gegend seiner Nieren hervor, drang aus dem

grünen Fett seiner Leber... es war der schwarze, unverkennbare Geruch seines

Absterbens, das widerwärtige Aroma des Todes, etwas, das in ihm siechte und

verweste, etwas Fremdes und Böses in ihm, wenn er es nicht in der Hauptsache selbst

war... dieser Geruch erinnerte ihn plötzlich an das Schwelen einer bestimmten, zu

lange abgelagerten Kohlensorte, wenn sie trübe zu glimmen begann, ein

fleischgedüngtes Wasser, das dieser Kohle mit den gleichen funkenwerfenden,

phosphorizierenden Gerüchen entstieg.

Im Schoß unterprivilegierter Schichten - das heißt noch darunter -, hier, in den

Tiefen unter überalterten, dicht zusammengeballten Häusermassen, unter

ausgeplünderten Straßenmassen und Hinterhöfen, war das Grundgemäuer porös und

durchlässig, und es sonderte die Restbestände menschlicher Daseinsenergie häufiger

und nachhaltiger ab. Der Glitzer, der von den Wänden floss, wies auf die brachiale

Ernährung hin, die Ballaststoffe, versetzt mit ranzigen Fetten und minderwertigen

Spirituosen, schienen sengend und unter düsteren Emanationen aus den Ziegelfugen

zu tropfen, und scharfe, säurehaltige Urine brannten sich hier immer tiefer ins Erdreich

hinab.

Sein Körper war ihm verlorengegangen... jedenfalls hatte er sich in eine Masse

verwandelt. Es war etwas Schmieriges, glattglänzend, braun, exkrementös. Er war

durch Gänge gekrochen..., vielmehr war er bewegt worden, es war ein Voranwälzen,

Gleiten, Rutschen auf einer schiefen Ebene. Es war Licht, glitzernd, und die Wände

waren verschliffen und undeutlich, sie schienen aus einer losen, schleimigen Substanz

zu bestehen, die immer weiter mitrutschte, er war ein Teil der Substanz, braun bis

schwarz, und wie ein Chamäleon glich er sich allen Farbübergängen der Wände an. -

Anfangs noch hatten ihn die Wörter entsetzt, die in seiner Kehle waren, aber dann

normalisierten sie sich ihm, schließlich intonierte er sie rhythmisch, und bald klangen

sie wie das Hacken auf einer Schreibmaschine: Ex-kre-men-te-Ex-kre-men-te-Ex-krement...ich

bin ein Exkrement... Deckname Kot.

Ich in der Hölle, ich selbst das Höllenwesen in verräucherten Höhlen über

schmierigen Papieren, in der übelriechenden Abgeschiedenheit meiner Verstecke

ausgewachsen zu einer bestialischen Riesenspinne, die, in ihren Schmutz verkrallt,

unter konvulsivischem Gemurmel giftige Buchstaben wiederkäute. Ein Ungeheuer,

dem die Verrottung sich in Form roter Hektikflecken in alle Hautwinkel schrieb, dem

eintrockende Harnsäure auf der Kopfdecke juckte, ein schon nicht mehr aufzuhaltender

Wahnsinn, in welchem sich verklebte Haarbüschel schmerzlos abzusondern

begannen. Das Scheusal, das sich seine Zigarettenglut in den Zehenzwischenräumen

löschte, um das schlammige nässende Kribbeln abzutöten, das immer wieder

hervorbrach... das mich schließlich in die Nacht hinaustrieb, wo ich die widerwärtigsten

aller verwüsteten Plätze der mir verhassten Stadtränder durchstreunte.

Ich fürchtete die Wohnung, ihr unsauberes, dunkles Chaos einem

unaufhaltsamen giftigen Sumpf vergleichbar. Seit mehr als einem Monat, seit zwei

Monaten fast nichts als kalte, ranzig schillernde Konserven, den Inhalt von Dosen, die

zwischen bräunlichem Gallert und fadem, beinfarbenem Schmalz einen versalzenen

Fleischkern versteckt hielten, der kleingehackt war, damit er möglichst undefinierbar

blieb. Finsterer Gestank, schimmelnde Berge unabgewaschenen Geschirrs,

Zigarettenreste in überquellenden Aschenbechern, aus den Aschenbechern schließlich

knisternde, blauschwarze Qualmwolken, Rauchflut bis zu einem Meter Dicke, die

Ellenbogen im Unrat auf der Schreibtischplatte, üble, zum Erbrechen reizende und

vollgespuckte Zeitungsstapel, die vom Sud schwarzgefaulter Tomaten unleserlich

geworden und zusammengeklebt waren, ein schier grauenerregender Anblick: Wohin

er auch blickte, war irgendein undefinierbarer Brei, von grauweißer bis gelblicher

Farbe, verschüttet... oder abgelagert worden. Die Substanz war einem sonderbaren

95


Auswurf ähnlich, und zum Teil war sie schon vertrocknet, wie Gips häufte sich der Brei

in allen Winkeln des Fußbodens, Eimer, Töpfe, Pappkartons waren mit ihm gefüllt und

quollen über; ein süßlicher Fäulnisgeruch beherrschte die Küche, dessen Ursprung nur

die helle Masse sein konnte, die sich allerorts mit braunen Gärungsflecken überzog.

Nun füllte die Flüssigkeit in den verschiedensten Stufen des Verkommens, ja der

Versteinerung, jedes verfügbare Gefäß, nun wälzte sie sich auf dem Fußboden und

staute sich in den Winkeln der Wohnküche; auf dem Herd, auf drei Vierteln der

Tischplatte, auf den unbenutzten Stühlen türmten sich Töpfe, Pfannen, Flaschen und

Gläser, allesamt halb oder ganz gefüllt mit dem Brei, der, in Gärung oder Verfestigung

begriffen, Blasen warf und, ehe er erstarrte, alles in ein unauflösliches, süß stinkendes

Chaos verwandelte. Das Abflussbecken der Wasserleitung war voller Brei, und darin

versanken Geschirrberge und Papptüten, ebenfalls voller Brei... den grauenvollsten

Anblick aber bot der Ofen, aus dem der randvoll mit Brei gefüllte Aschebehälter ragte;

die Ringe der Herdplatte waren herausgenommen worden, in verzweifelter

Nachlässigkeit war der wochenlang umsonst gekochte Brei in den Ofen geschüttet

worden, nun troff er aus den Ritzen der Feuertür, sickerte aus allen undichten Stellen

der Schutzbleche wieder hervor und sammelte sich auf dem Fußboden. Dort war die

dickflüssige, sich ausbreitende Lache mit Kinderwindeln eingedämmt worden: aber der

Deich aus Windeln, aus teilweise schon verwendeten Windeln, hatte das Überfließen

der Flut nicht hindern können; sie war durch die schon versteinerten Windeln

gekrochen, und darüber hinweg, hatte sich an den kotbefleckten Stoff- und

Papierwällen verfärbt, und strebte in bräunlichen Rinnsalen übelriechend der Mitte der

Küche zu.

Alles... alles, was abwesend war, befand sich dort oben, hinter jener

brennenden Himmelswand, die im Norden meine Mauer vor der Welt bildete.

Umgegend? Ich sah den Jüngling, der ich gewesen war, die schlecht gepflasterten und

verschlammten Straßen verlassen, auf der Seite, die der Stadt zugewandt war,

begrenzte seinen Blick noch grauschwarzes Industriegemäuer, abgeschunden und

wüst bekritzelt; nach der anderen Richtung hin, wo ich durch versumpfte

Straßengräben stieg, waren aufgeschüttete Flächen voll von unansehnlichem Gras, es

waren weite, von Papierwolken überwehte Müllablagen, die schon planiert waren,

langsam durchquerte ich eine Brandung von Rauch und sprühendem Nebel, einen

Verhau von auch im Sommer nicht mehr grünendem Buschwerk, aus dem Regen

braune Rinnsale spülte. Meine Stärke schien mir im Wald zuzuwachsen. Der Wald war

das Gebiet vergangener Jahrhunderte, er hatte in der Wirtschaft des jungen Staates

nichts zu suchen, er war eine Gegend aus der Literatur. Am Abend erst kehrte ich

täglich aus ihm zurück. Dann illuminierte sich der Qualm der Industrie, hinter seinen

Wolkenwänden flackerten Brände, die aufrecht stehenden Batterien der

Produktionsfront feuerten aus allen Rohren, Funkenströme schossen in den

dampfenden, zischenden Himmel; es war ein unheimlicher Himmel, giftgeladen und

voller Drohung, aber sein dauernder Niederschlag von Dreck und Ruß wurde

unsichtbar, die Verfärbungen der Horizonte plötzlich malerisch... - mystische

Ausdünstungen eines pestilenzalischen Acheron... Es war das Jenseits, die

Schattenwelt. Es war ein Höllenstrich, weil es auf ihm keine Sprache gab.

...vor der Mauer (O-Ton II)

Mitten im Unterleib der Stadt, als sei man der Stadt Berlin, jener uralten

monströsen Vettel, unter die Röcke gekrochen, hier nahm man auf einmal alles wahr,

was sie aus Schamgefühl vor der Welt verbarg... und was ihr eigentliches Wesen

verriet, was von ihrer Hurerei mit den wechselnden Systemen noch übrig war... hier

hatte sie ihre abgelegten Fetische versteckt, hier waren ihre vergangenen Sprachen

begraben, in den Bündeln alter verbotener Zeitungen zum Beispiel, wilhelminische,

nationalistische, demokratische, faschistische, stalinistische, nachstalinistische... hier

unten phosphorizierte das alte verbrecherische Papier wie ungewaschene

Unterwäsche... und hier unten wandelten die Toten und Untoten und belustigten sich

96


an den Überbleibseln ihrer einstigen Obsessionen. Und hier lagen die unausgebrüteten

Eier der Stadt. Gegen die Stadtmitte hin Wüstheit und Baufälligkeit... große Flächen

von Brackwasser am Boden stehend, das in der schwächer werdenden Beleuchtung

trübe und farbig schillerte wie Benzin oder Öl. Manchmal war es, als ob durch die tiefen

Lachen Schlangenlinien huschten wie die unheimlichen Spuren von Getier, das vor

dem Licht floh. Und der Dunst, der von den nassen Böden aufstieg, verwob sich düster

mit meinen Sinnen und verschleierte mir den Ausblick nach vorn. Ab und zu war Schutt

in den Gang gerutscht, als ob hier, vor nicht allzu langer Zeit, Erschütterungen

stattgefunden hätten, Erdumwälzungen, Aufbrüche... und hinter den zerbrochenen

Wänden sickerte es hervor wie Urin, mit faden Gerüchen, milchig und quecksilbern aus

dem fetten Hintergrund der Gewölbewand, und immer mehr Steine lockerten sich in

der durchdringenden Jauche.

Auf seinem Sitz im Keller lebte (er) gleichsam auf der Nulllinie, die sein

Kontostand bildete: er hatte das Gefühl eines zu Tode erschöpften

Langstreckenläufers, wenn er an diese Linie dachte: nie tauchte er unter ihre

Oberfläche hinab, obwohl es seit langem nicht mehr weiterging, eine der

Merkwürdigkeiten seiner Existenz. Er hatte früher sogar einen Sessel hier unten

gehabt, doch eines Tages war ihm dieser verschwunden. Es war ein roter

Polstersessel gewesen, an vielen Stellen schon speckig glänzend, aber bequem und

breit, als wäre er für zwei Leute gebaut worden: er war das einzige Stück eigenen

Mobiliars. Und der Sessel hatte ihm dann zum Ruhesitz vor der kühlen Betonmauer

gedient, wenn er sich aus der Sommerhitze schon frühzeitig hinabflüchtete und in dem

trüben Licht die Stille auf sich wirken ließ. So saß er auf einem Thron, die Kellerluft

durchfloss ihn und schien ihn zu stärken, als säße er direkt an der Quelle des

Sauerstoffs. Und so machte er sich Gedanken über den Sauerstoff... es schien ihm, er

atme, was in ihm war, und was aus ihm hinausströmte, das nahm er wieder auf, und so

war er eins mit der Atmosphäre, die ihn umgab. Eine Zeitlang war er der Patriarch der

Unterwelt hier unten, der Alleinherrscher über ein unbekanntes halbdunkles Reich,

unangefochten ruhte er, und alle Gedanken waren so ferne, ermüdende Gründe für ein

Leben oberhalb, dass er sie, kaum dass sie ihn berührten, leicht wieder fallenlassen

konnte. Jetzt hatte ich es bequem vor der Mauer, bei kühlem Kellergeruch thronte ich

in dem Sessel wie ein breiter Gott (und wie ein Höllenfürst, wenn verdichtet die Dünste

toter Ausscheidungen aus der Stadt heranzogen), die Arme ausgestreckt auf den

Armstützen, Kopf und Rücken aufrecht an der Rückenlehne, die Füße auf der

Gemüsekiste. Dies dauerte an, bis eines Tages der Riesenphallus an der Betonwand

aufgetaucht war. Kurz darauf wurde ihm der Sessel aufgeschlitzt und dann gestohlen.

Es war wie der Einbruch der Realität in einen erfundenen Zustand... plötzlich war er

darin nicht mehr allein.

Es war eine stabile Gemüsekiste, eine Kartoffelkiste vielleicht, ich hatte sie

umgedreht und an die Betonmauer gestellt, so konnte sie mir zu einem leidlichen

Sitzplatz dienen. - An die Wand gelehnt und die schmerzenden Füße weit von mir

gestreckt, in dieser Haltung dachte ich nach über meine dunklen Wege durch die Stadt

Berlin; ich mühte mich, meine Gedanken zusammenzunehmen und möglichst

ausschließlich an die Wege zu denken, die ich noch vor mir hatte, oder an die der

letzten Tage, oberhalb und unterhalb des Straßenbodens... und möglichst nicht weiter

zurück, ich war hier, und hier wollte ich bleiben, - mit dem Ohr an dem

glattgeschliffenen Beton, so ruhte ich aus. - Manchmal jedoch suchte ich die

Geräusche auf der Gegenseite der Mauer zu erlauschen: ich hörte nichts, offensichtlich

gab es drüben keine Geräusche. Ab und zu nur bildete ich mir ein, dass da ein sehr

leises Klirren gewesen sei; immer war es schon vergangen, mein Gehör schien es nur

nachzuholen. Wenn es abriss, fuhr ich aus dem Schlaf hoch. Und in diesem Schlaf

hatte ich das Licht hinter der Wand gesehen: ein warmes helles Licht, das hinter

meinen geschlossenen Lidern war, wenn ich im Schlaf an die Zukunft dachte, - drüben

auf der anderen Seite, wo die Innenräume hell gekachelt waren und das Licht noch

heller zurückgaben; Möbel waren darin, und wahrscheinlich ordentliche Toiletten und

Bäder, und vielleicht Vorratsräume, Regale, die mit gefüllten Flaschen vollgestellt

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waren, und die kleinen Beistelltische davor, mit sauberen Gläsern, die auf Tabletts

gestürzt waren... es spukte mir der Gedanke an den Tunnel unter der Mauer durch den

Schlaf, er spukte durch den Schlaf des ganzen Lands... und es gab dort vielleicht

Zimmerpflanzen dunkelgrüne großblättrige Gewächse südlicher Herkunft, sie gediehen

prächtig in der stetigen Wärme und dem strahlenden Licht, denn drüben, in den Kellern

auf der anderen Seite, war immer Tag, während hier immer Nacht war. Oh, wie

wünschte er sich hinüber... dachte ich. Nein, überhaupt nicht hinauf in die Büros, unten

im Keller wäre es ihm gerade recht gewesen. - Es war beinahe warm unter der Erde,

jedenfalls nicht ausgesprochen kalt, ich fror nicht, wenn ich hier eine oder zwei

Stunden verschlief. Ich war, dies konnte ich mit Fug und Recht behaupten, abgehärtet

genug für den Dienst in der Unterwelt - wenn dieser Gedanke auch einer Romantik

verpflichtet war, der mit unserer Wirklichkeit, nicht viel zu tun hatte. Ich war ruhig bei

dem Gedanken, unterhalb des Lebens zu sitzen... - Damit beschreibe ich mir mein

Leben, dachte ich, mein Leben mit all seinen Untergründen, Kellerverliesen,

Unterböden, Untermauerungen, damit benenne ich es endlich, und es könnte sein,

dass ich mich damit endlich dazu bekenne...

cyberleiber 134 (2008)

Angenehme Gegend - Weiber im Herzen (O-Ton III)

Angenehme Gegend: Es war ein freundlicher Morgen im Frühherbst, der noch

einmal sommerlich zu strahlen anfing. Die Schwerelosigkeit und die... sollte ich so

sagen... Beschwingung während meines Einherschreitens durch die kühle

Morgensonne unter Linden, welche, schon in Schimmer von Gelb getaucht, reglos ihrer

großartigen leuchtenden Entblätterungsszene zu harren schienen, diese luftige

Leichtigkeit meiner Gliedmaßen. Dieses Bild war südlich, mediterran, ich dachte an die

spanischen Lyriker, die von der Abwesenheit des Meeres so leuchtend sprachen. Es

war mir, als säße ich an einem Fenster, in dem sich die Nachmittagssonne brach,

Schatten versengten sich in gleißenden Lichtstrahlen und beschwerten mir die Lider.

Irgendein Punkt in der Welt dort draußen, auf dem mir der Blick lange geruht hatte,

verschwamm, wurde deutlicher und nahm unversehens Ähnlichkeit mit der schwarzen

Silhouette eines kleinen Bootes an, das weit vor dem freien Horizont, in kaum

merklicher Fahrt, über die lichtflammende Fläche zog.

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Was ich sah, hatte ich vorher gewusst, dennoch war es mir plötzlich, als dürfe

ich meinen Augen nicht trauen. Dort unten auf dem Hof gingen die Frauen.

Gemächlich, in angeregtes Schwatzen vertieft, gingen dort die Frauen, in Reihen zu

zweit oder zu dritt; flankiert von den Wärterinnen, die große Schäferhunde führten; sie

schienen lustig, sie lachten, warfen einander Scherze zu. Es waren junge und alte,

kräftige und dünne, ich sah die Wölbungen ihrer Brüste, das Gleiten ihrer Schenkel

unter den Röcken. – Sie hatte sich ihrer Kleider entledigt und saß in dem Sessel, die

Oberschenkel über die beiden Armstützen gelegt. Mit erstaunlich geübten, fast

eleganten Bewegungen begann sie sich zwischen den Beinen zu streicheln, nachdem

sie sich die Fingerspitzen der rechten Hand an den Lippen befeuchtet hatte, ihre linke

Hand... – Ich sah ihr Haar, braunes und blondes Haar, das teils kurz geschnitten war,

teils in langen Wellen auf ihre Schultern fiel. Ich versuchte ihre Gesichter zu sehen, ich

glaubte, in einigen davon ebenmäßige, schöne, engelsgleiche Gesichter zu erkennen.

Meine Augen hatten sich erst hier ganz geöffnet, hier sah ich sie wirklich, hier fand ich

sie wieder. Frauen, Weiber. Ich sah sie und erschauerte, es war keine Halluzination,

ich war in diesem Moment frei von allen Zweifeln. – Ich liebe euch, murmelte ich voller

Entzücken, ich liebe dich. Und ich fasste mir ein Herz und schrie: ich liebe dich.

Plötzlich schien mir, sie machten ein Zeichen, das schmutzigste, das möglich war, sie

hatten sich mit mir verbündet, es war ein Zeichen gegen den reinen Staat. Und es

bedeutete auch: warte auf uns... warte noch einige wenige Jahre... – Das Zeichen sank

mir ins Innerste. Ich wusste nun, wo sie zu finden waren, ich hatte sie wiedergesehen

und in meinem Herzen bewahrt, ich konnte auf sie warten.

Nachdem schon das vorhergehende Jahrzehnt der 60er einen – dank

auch kulturpolitischer Restriktionen – recht blassen und wirkungslosen

Theaterbetrieb erlebt hatte, sprach man in den siebziger und achtziger Jahren

mehrfach von einer Krise des Theaters in der DDR. Einmal hatte das zu tun mit

einem Einbruch der Zuschauerzahlen auf unter zehn Millionen, was angesichts

der Gesamtbevölkerung und vergleichbarer Zahlen in anderen Ländern

keinesfalls so drastisch erscheint. Aber auch hier verloren die Theater viele

Zuschauer an das neue Massenmedium Fernsehen. Zugleich war besonders

unter jungen Leuten ein bestimmtes Interesse wiedererwacht, was besonders in

dieser Zeit, bis Mitte der achtziger Jahre, zu verstärkten Kontrollen und

Sanktionen auf den DDR-Bühnen führte. Das war die Kehrseite der mehrfach

offiziell erhobenen Klage über fehlende Gegenwartsdramatik besonders von

jungen Autoren. Diese kamen erst gar nicht auf die Bühne, schrieben praktisch

für die Schublade: "Wer ungedruckt und ungespielt ist, bleibt ewig jung",

kommentierte das Lothar Trolle, der wie viele der Theatermacher um die Vierzig

noch 1987 als junger Autor galt. Der Theateralltag, der auch in der DDR

hauptsächlich von Genres wie Operette, sozialistischer Boulevardkomödie,

Unterhaltungskabarett und Klassikeraufführung bestimmt war, sah zwar 1986

bis zu fünfundzwanzig Prozent Neuinszenierungen von DDR-Autoren, wobei

allerdings zu unterscheiden war zwischen Theaterstücken, die dem

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Publikumsgeschmack bzw. der Zensurbehörde Konzessionen machten, und

wirklich anspruchsvoller Dramatik.

Hinsichtlich der Qualität war die Theaterproduktion dieser Zeit von drei

Namen geprägt: Heiner Müller, Volker Braun und Christoph Hein.

Volker Braun gehört zweifellos zu den interessantesten Schriftstellern der

DDR und zwar in allen Genres – von der Lyrik, über das Drama bis hin zur

erzählenden und essayistischen Prosa. Nach dem Abitur 1957 arbeitete er für

einige Jahre in der Produktion und studierte dann Philosophie in Leipzig. Ab

Mitte der sechziger Jahre war er an verschiedenen Theatern tätig, veröffentlichte

1965 seinen ersten Lyrikband Provokation für mich mit einem Titel, der für

Brauns Opus programmatisch ist: Literatur als permanente Herausforderung.

1973 wird er Vorstandsmitglied des Schriftstellerverbandes; 1976 gehört er zu

den Erstunterzeichnern der Biermann-Resolution. Von seiner Lyrik sei hier auf

die Bände mit den besonders sprechenden Titeln hingewiesen: Gegen die

symmetrische Welt (1974) und Training des aufrechten Gangs (1979). In

seinem dramatischen Schaffen konzentriert sich Braun auf DDR-Probleme

(Tinka 1972/76, Die Übergangsgesellschaft 1982), Revolutionsstücke (Lenins

Tod 1970/88, Guevara oder Der Sonnenstaat 1977) oder Fragen deutscher

Geschichte (Siegfried Frauenprotokolle Deutscher Furor 1986).

Heiner Müller, seit Mitte der siebziger Jahre international einer der

bedeutsamsten dramatischen Künstler überhaupt, steht Volker Braun

thematisch nicht fern und ist von der (deutschen, Revolutions-, Welt-)

Geschichte geradezu besessen. Er sucht in ihr

“die Lücke im Ablauf, das Andre in der Wiederkehr des Gleichen, das Stottern

im sprachlosen Text, das Loch in der Ewigkeit, den vielleicht erlösenden Fehler"

(1985). Über seine Schreibtechnik sagte er 1975: "Die Fragmentarisierung eines

Vorgangs betont seinen Prozesscharakter, hindert das Verschwinden der Produktion

im Produkt... ich glaube nicht, dass eine Geschichte, die Hand und Fuß hat (die Fabel

im klassischen Sinne), der Wirklichkeit noch beikommt.”

Müllers Stücke nehmen damit endgültig Abschied von Brecht, werden

Collagen, immer fragmentarischer, kürzer und subjektiver – ein Vorgang, der

sich auch in der Sprache niederschlägt. Oft fehlen die dramatis personae wie in

Die Hamletmaschine (1977) oder in der fünfteiligen Szenenfolge

Wolokolamsker Chaussee (1985-88). Es geht auch hier um den "Kindertraum/

Von einem Sozialismus ohne Panzer", der aber mit der Wirklichkeit des

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Krieges, der Nachkriegszeit bis zum Arbeiteraufstand 1953 kontrastiert: Es

waren gerade die Panzer, "die uns geboren haben", die Panzer der Roten

Armee, die Nazi-Deutschland besiegten, den Aufbau des Sozialismus schützten

und demonstrierende Arbeiter unterdrückten. Die Gründungsgeschichte der

DDR wird dargestellt als eine Geschichte von Terror und Tod – über den

17.Juni 53 (Szene III) hinaus bis hin zum Triumph der Bürokratie (Szene IV)

und "zum Jahr der Panzer" 1968, als die Truppen des Warschauer Pakts, und

also auch DDR-deutsche, den Reformkurs in der Tschechoslowakei brutal

beseitigten. Im Teil V "Der Findling (nach Kleist)" wird ein Jugendlicher

geschildert, der gegen die Repression des Prager Frühlings protestierte und

deswegen – von seinem Vater, dem treuen Parteigenossen, denunziert – ins

Gefängnis gesteckt wurde. Hier die ersten Zeilen:

Heiner Müller, Der Findling (nach Kleist)

Er saß mir gegenüber in der Sprechzeit

Meine fünf Jahre lang im Zuchthaus Bautzen

Er redete MIT MARXUNDENGELSZUNGEN

Für sein Arbeiterparadies Ich sah

Wie seine Lippen sich bewegten und

Zwischen den Zähnen seine Zunge Schweiß

Auf seiner Stirn wenn er in Fahrt kam Tränen

Und was er sagte war wie nicht gesagt

Seit meinem Umzug von Berlin nach Bautzen

In einer nicht vergessnen Sommernacht

Im Jahr der Panzer Neunzehnachtundsechzig

Und in fünf Jahren sagte ich kein Wort

Und keine Silbe seine Sprechzeit lang

Aber ich tat ihm den Gefallen und

Kassierte die Geschenke Und sein Rücken

War krummer jedesmal wenn er zurück ging

In seine Hölle die sein Paradies war

Und ich durfte zurück in meine Zelle... .

Gegenüber solch groß angelegten mit Historie und Mythos arbeitenden

Modellen verengten die meisten jüngeren Dramatiker ihre Sicht auf bestimmte

Gegenwartsausschnitte der DDR, arbeiteten kleinteiliger. So provinziell das

scheinen mochte und auch oft war, zeigte sich doch Ende der achtziger Jahre

deutlich ein Sich-Lösen von inhaltlichen und formalen Beschränkungen. Über

diese neue Dramatik schrieb ein Kritiker:

Stücke werden aus disparaten Wirklichkeitspartikeln montiert, Autorenkommentare,

literarische Zitate und Bezüge, filmische Elemente, mythologische

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Verweise vermischen sich in durcheinanderwirbelnden Zeitebenen. Die Kunstebene als

eigene Wirklichkeit wird betont: Theater als Denk-, Sprach-, oder Spiel-Spiel. Godot

tummelte sich zwischen den Zeilen.

Fragender Gestus der Selbstvergewisserung, rhapsodische Form: das dramatische Ich

reflektiert in langem monologischem Strom von Erinnerungen, Alb- und Wunschträumen

seine Situation, Verdrängungen werden entlarvt, Realität und Fiktion

vermischen sich bis zur Ununterscheidbarkeit. Die Sprache ist meist karg, knapp,

pointiert. Kein plaudriger Alltagston, sondern scharf geschliffene Kunstsprache.

Die gesellschaftlichen Erfahrungen und die politischen Ereignisse der

siebziger Jahre bewirkten, dass sich auch unter den einmal so fortschrittsfreudigen

Lyrikern eine Abschiedsstimmung durchsetzte, ein Abschied vom

"Prinzip Hoffnung" des Philosophen Ernst Bloch, der bis zu seiner vorzeitigen

Emeritierung in Leipzig lehrte, aber auch von Freunden, die als Konsequenz der

Biermann-Ausbürgerung das Land verlassen mussten oder wollten. Jürgen

Rennert formulierte es so: "Es stirbt das Land an seinen Zwecken".

Ernüchterung gegenüber Gesellschaft und Natur greift um sich; der

ökologisch-kritische Blick der DDR-Naturlyrik trifft auch die Verkümmerung der

zwischenmenschlichen Beziehungen und der menschlichen Existenz

schlechthin.

VOLKER BRAUN, Die Industrie

Das Gedicht "Die Industrie" gehört zu einer Sammlung mit dem

programmatischen, an Hölderlin erinnernden Titel Gegen die symmetrische

Welt, die Volker Braun 1974 veröffentlichte. Der Dichter gibt darin eine lyrische

Situationsbeschreibung der realsozialistischen Gesellschaft Mitte der siebziger

Jahre und problematisiert die Reduktion menschlichen Lebens auf bestimmte

Funktionen, vor allem auf die Arbeit. Die beiden hier ausgewählten Strophen

scheinen uns in diesem Zusammenhang besonders signifikativ:

In der mitteldeutschen Ebene verstreut

Sitzen wir, hissen Rauchfahnen.

Verdreckte Gegend. Glückauf

Und ab in die Wohnhülsen. Die Brüste der Frau

Haltegriffe in der Schnellbahn

Schlaf. Die Sonne, oder sagen wir:

Regen pißt auf Beton. Mensch

Plus Leuna mal drei durch Arbeit

Gleich

Leben.

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(...)

Gleich

Leben, gleich!

Ich habe nur noch wenige Sommer.

Und aus den Rippen fühl ich sprossen

Die Arme

Und die ganze Haut

Greift nach den Freunden

Und mein Mund umschreibt auf deinem, Geliebte

Was kommt, kommt, kommt!

Immer mehr Dichter beginnen am bedrückenden Status quo des

Unveränderlichen zu leiden, verlieren ihren Ansprechpartner in der Gesellschaft

und untereinander. Das poetische Ich kann nicht mehr für andere, nur noch für

sich selbst sprechen – "Ich hoffe schon nichts mehr. Und alle meine Briefe /

Schreibe ich schließlich und endlich / An mich" (Heinz Czechowski). Das

Gedicht zieht sich zurück, wird auch komplizierter, hermetischer. 1976 publiziert

Elke Erb, Widerspiegelung

Ich seh mich wieder groß an meinen Grenzen

Aufgetaucht, ich hatte mich vergessen.

Vogel, flugs die Grenzen zu verwunden,

Frohlocke ich, die Spiegelscherben glänzen.

Ich hungerte, jetzt will ich wieder essen:

Dies Manna der Verletzungen, die munden.

Hommage an Elke Erb (2008)

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Die nach 1949 geborenen Dichter, die also in die DDR "hineingeboren"

(Titel eines Gedichts von Uwe Kolbe) waren, müssen sich nicht mehr wie die

Älteren von der Hoffnung auf einen menschlichen Sozialismus lösen oder die

Zerschlagung dieser Hoffnung betrauern. Das Credo dieser Generation

formulierte der 1957 geborene Uwe Kolbe 1979 so:

Die Fahnen blind, die Zeichen

abgenutzt, die Losung

gleicht sich Tag für Tag.

Soll ich dessen Ende singen? (...)

Glauben ersetz ich nicht durch weiteren Glauben.

UWE KOLBE , S-Bahn-Fahren für dich

Kolbe gehört zu jenen Autoren in der DDR, die von sich sagen können:

"Ich bin achtzehn./ Im Sozialismus aufgewachsen./ Hab keinen Krieg erlebt." Zu

jenen also, die mit Diskomusik und Englisch groß geworden sind, die – so

formulierte es Elke Erb –

wie die Jugend westlicher Länder die automatisierten und anonymisierten

Vollzüge der gegenwärtigen Zivilisation zu bestehen (haben) und... wie diese in der

Tradition der europäischen Moderne (stehen).

“S-Bahn-Fahren für dich" – aus dem Band Abschiede. Liebesgedichte

(1981) – beschreibt den Versuch, sich selbst zu bewahren für das geliebte Du

in und gegenüber einer das Individuum sinnlich verschleißenden Umwelt.

Diese Füße sind zu schonen diese Augen zu schließen

jetzt.

Mühelos sind zu überhören das Trampeln und Schrein und das

Rattern und der Bahnhofsvorsteher.

Der ich bin wirkt höflich und drängt sich nicht auf.

Ruhig laß ich mich kontrollieren.

Du sagtest du brauchest mich ganz.

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Hommage an Uwe Kolbe (2008)

Zusammen mit Kolbe, Jan Faktor, Reiner Schedlinski, Thomas

Rosenlöcher waren es viele junge Poeten, die der Lyrik der DDR in den

siebziger und achtziger Jahren ein neues, oft surrealistisches oder

dadaistisches, wildes Aussehen verliehen. Auf große Worte verzichtend,

experimentierten sie mit der Sprache, um Kommunikationstraditionen radikal zu

verändern, wie 1986

Bert Papenfuß-Gorek, reißaus

geschmähte angeflehte, flieht

eh' sie euch entdek-ken, keck vollstrek-ken

& euch fosen zecken in die schmacht

bitt' ich euch; nehmt eure flucht auf/euch

: seid gerissen & wie immer – ridikül

verbleibe ich zwar im engeren sinne

aber erweiterten einvernehmen

zwischendurch schrei' ich euch

das neuro-mantische gedichtfragment

"reizend nahm sie reißaus"

& schmeiß's euch hinter.

Sicherlich brachten Vielfalt, spielerischer Einfall, Austritt aus eingefahrenen

Ordnungen bei diesen jungen Dichtern, die oft auch als Prosaautoren

und Multimediakünstler hervortraten, nicht nur ihren Wunsch, sondern auch ihre

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Fähigkeit zum Ausdruck, sich aus der Enge der DDR-Verhältnisse herauszuarbeiten

und sich der Welt und ihrer Literatur zu öffnen.

Das Programm dieser neuen jungen Literatur formulierten die drei

Herausgeber (Bernd Wagner, Lothar Trolle, Uwe Kolbe) der von 1983 bis 1987

im Ostberliner Untergrund erscheinenden Literaturzeitschrift "Mikado" (Auflage

100 Exemplare) so:

Wir wollten nicht das Gesamtkunstwerk, keine Hermetik, keine Sammlung der

literarischen Opposition, wir wollten einfach eine andere Öffentlichkeit, die die Worte

des Einzelnen bündelt, gegen- und miteinander sprechen läßt... Wir suchten die

Brisanz der Gegenwart in der Sprache diesseits und jenseits des Vokabulars der

Macht und der Anpassung... Wege aus der Ordnung sind angefangen. Der Kaiser ist

nackt.

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Der Kaiser ist nackt

– ein durchaus passendes Motto für den gesellschaftlichen Umbruch in

der DDR Ende 1989, dem sich kein Bürger und schon gar keiner ihrer

Schriftsteller und Intellektuellen entziehen konnte.

Viele Fragen warfen sich nun auf: Was ist eigentlich in den vier

Jahrzehnten passiert mit den Menschen, der Gesellschaft, mit der großen

Utopie der Befreiung von Ausbeutung und Unterdrückung? Worauf hatte man

sich mit dem stalinistischen Sozialismus eingelassen? Wer war eigentlich

schuld an diesem System, das soviel versprach und sowenig hielt? War wirklich

jemand "außerhalb von Schuld" (Uwe Saeger)? Wo fing die Verantwortung des

Schriftstellers an und wo hörte sie auf, wo stand er wirklich angesichts von

Privilegien, Reisen und Preisen, Zensur und Berufsverbot?

In diese Debatte um die Aufarbeitung der Vergangenheit griff Wolf

Biermann im September 1990 so ein:

In der Literatur gibt es Leute, die politisch reaktionär sind oder den Herrschenden

nach dem Munde reden und trotzdem große Schriftsteller sind. Und es gibt

anständige Kerle, die aber leider von den Musen nicht geküsst wurden. Ein schlechtes

Lied, ein schlechtes Gedicht, ein schlechter Roman mit anständigem Herzen ist immer

noch schlecht. In der Literatur ist also alles noch dreimal komplizierter. Dennoch

gehören die Schriftsteller, die Künstler auch noch zu den Menschen, sind nicht

außerhalb des Volkes. Also muss man sie auch mit Maßstäben messen, die für alle

gelten. Und da gab es eben Schweinehunde und grundehrliche Menschen, die aber

auch verstrickt waren ins alte System.

Der langjährige Präsident des Schriftstellerverbandes der DDR Hermann

Kant, der sein Bekenntnis zur Parteilinie in der Öffentlichkeit immer wieder

eloquent konterkarierte, erklärte nun:

Weil ich ein Aktivist der DDR gewesen bin, mit Vorsatz an ihr gearbeitet habe

und auch an kulturpolitischen Vorstellungen in ihr, ist selbstverständlich in meiner

Biographie schuldhaftes Verhalten zu vermerken. Oder die berühmt-berüchtigten

Ausschlussvorgänge (gegen Stefan Heym, Kurt Bartsch, Adolf Endler, Klaus Poche,

Joachim Seyppel, Dieter Schubert, Klaus Schlesinger, Rolf Schneider und Karl-Heinz

Jakobs, die 1979 unter maßgeblicher Beteiligung Kants aus dem Schriftstellerverband

ausgeschlossen worden waren, d. Verf.) sind, weil ich mich von Kräften außerhalb der

Literatur zu sehr drängen ließ und eigene Geduld nicht mobilisierte, natürlich eine

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Frage meiner Schuld. Da gibt es überhaupt keine Debatte. Nur finde ich, die Leute

sollten sich zufrieden geben mit dem, was ich von mir her einräume...

War das schon Selbstkritik oder eher ein Versuch, die kaum begonnene

Diskussion schnell abzuwürgen?

Ganz anders klang die Stellungnahme von Fritz Rudolf Fries, der zurückgezogen

in Petershagen bei Berlin die Wende erlebte:

Ich bin auch dabei, in diesen Wochen aus einem Dornröschen-Schlaf aufzuwachen.

Ich habe mich auch in einer DDR-Nische eingerichtet in den letzten Jahren,

mit einer Hecke ums Haus, und habe mir so "my home, my castle" aufgebaut. Das

führte sicherlich auch zu einer machtgeschützten Innerlichkeit, die natürlich den

Einzelnen verderben, korrumpieren kann. Ich bin eigentlich überrascht worden von den

Ereignissen des 9. November. Ich habe auch das Engagement der Leute unterschätzt;

ich habe gedacht, dass die DDR-Bürger sehr zufrieden sind mit dem, was sie haben,

mit den sozialen Möglichkeiten. Dass sie in diesem Maße auf die Straße gehen

würden, habe ich mir nicht vorstellen können, auch nicht durch meine eigenen Kinder,

die ja der Generation angehören, die die Revolution getragen hat.

Nach den kulturpolitischen Auseinandersetzungen Mitte/Ende der

Siebziger war Günter Kunert in die Bundesrepublik gegangen. Von dort aus

blickte er nachdenklich auf die politische und literarische Entwicklung in

Deutschland:

Der DDR-Schriftstellerverband hatte in Berlin dreihundertfünfzig Mitglieder

gehabt, obwohl es nie dreihundertfünfzig Schriftsteller gegeben hat, sondern höchstens

eine Handvoll. Selbstverständlich haben viele dieser Autoren nicht einmal Kompromisse

geschlossen, sondern sie waren einfach Kompagnons des Systems und haben

von dem System gelebt, indem sie geliefert haben, was an Ware gefordert wurde. Aber

über diese Autoren sollte gar nicht gesprochen werden. Dass jeder, wo immer er auch

lebt, in seine Gesellschaft verstrickt ist, dass jeder in Ambivalenz existiert, auch hier

natürlich (in der BRD, d. Verf.), ist auch klar. Doch diese Ambivalenz kann man bedeutenden,

schätzenswerten Autoren nur bedingt vorwerfen. Es gibt natürlich auch unter

den namhaften Leute, die Henkersdienste geleistet haben. Aber diejenigen, die wirkliche

Literatur geschrieben haben, haben auch etwas von dieser Ambivalenz, in der sie

gestanden haben, spüren lassen und haben die mit in ihr Werk übernommen. Für

diese Autoren ist gerade die Situation des totalen Umbruchs in der DDR eine

Erfahrung, die eines Tages äußerst fruchtbar sein dürfte.

Einer der bekanntesten DDR-Autoren, dessen Bücher in beiden Teilen

Deutschlands erscheinen konnten, war zweifellos Günter de Bruyn. In seine

Erinnerungen an die Konflikte mit der Zensur mischte sich auch Selbstkritik:

Ich selbst war in den letzten zehn Jahren immer der Meinung, dass ich an

Zensur beim Schreiben überhaupt nicht denke. Und ich frage mich heute, wo das alles

vorbei ist, ob nicht doch unbewusst so etwas wie eine innere Zensur da war, die so

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geheim wirkte, dass man überhaupt bloß solche Ideen hatte, die eine Chance hatten

durchzukommen. Das war ein Training, das man nur schwer ablegen kann. Ich bin

nicht nur jetzt, nachträglich, sondern war auch schon früher der Meinung, dass die

Freiräume – bis zu dem Punkt, wo man ins Gefängnis gekommen wäre – doch größer

waren, als sie wirklich ausgeschöpft worden sind. Ich glaube schon, dass wir alle

Schuldgefühle haben müßten.

De Bruyn zufolge wird darüber zu schreiben sein, wird die DDR, die ja

nun nicht mehr existierte, als Thema erhalten bleiben:

Ein Schriftsteller kann nur aus seinen individuellen Erfahrungen heraus

schreiben, und wenn die mit der DDR zusammenhängen, dann wird das natürlich

immer präsent bleiben. Autoren, die schon frühzeitig in den Westen gegangen sind –

Uwe Johnson z.B., den ich für den bedeutendsten von ihnen halte –, sind von ihrem

DDR-Stoff nie losgekommen.

Die erfolgreichste Lyrikerin der ehemaligen DDR, deren Werk eine

Gesamtauflage von fast einer Million erreichte, war Eva Strittmatter, Frau des

Romanciers Erwin Strittmatter. Sie bekennt sich zur DDR, zu ihrer Vergangenheit

ohne jede Einschränkung:

Ich gehöre nicht zu denen, die ihr Leben verleugnen, irgendetwas

davon zurücknehmen wollen, sich für irgendetwas schuldig bekennen wollen. Dieses

pauschale Schuldbekenntnis und diese pauschale Schuldzuweisung finde ich einfach

unwürdig. Es kann nicht sein, dass so viele Millionen Menschen ihr Leben verleugnen

müssen. Wir haben versucht, das Leben mit Anstand zu leben, in gegenseitiger

Verpflichtung zu leben, und davon kann ich absolut nichts zurücknehmen.

Und in typisch (n)ostalgischer Trauer dagegen eine Tagebuchnotiz von

Helga Königsdorf:

Nach diesem Jahr werden Gedichte unmöglich sein. Nach diesem Jahr wird es

keine Liebe und keine Revolution mehr geben. Nichts wird da geschrieben sein von

unserer Einsamkeit, von unserer Angst, von unserem Glück.

Besonders für diejenigen Schriftsteller, die bis zuletzt an die Reformfähigkeit

des maroden SED-Regimes geglaubt hatten, fiel der Abschied von der

DDR schmerzlich aus. Ende Januar 1990 trat Königsdorf aus der PDS (Partei

des demokratischen Sozialismus, der Nachfolgeorganisation der alten SED)

aus. Wehmütig erinnerte sie sich an den November 1989, den sie einen

"historischen Moment der Schönheit" nannte. Die DDR verloren zu haben,

bedeutete für diese Autorin und für viele andere Heimatverlust, das neue und

109


geeinte Deutschland hingegen Fremde:

Heimat ist das Land, wo alles zum ersten Mal war, wo man sich einmischen

darf. Ich hatte hier doch das Gefühl, dass alles überschaubar war, vertraut war, und

das ist nun weg. Ich habe einmal geschrieben: Ohne den Ort zu verändern, gehen wir

in die Fremde. Doch ich glaube, man gewinnt sich die neue Heimat, diese größere, am

besten dadurch, dass man sie mitgestaltet.

Und zum Schluss noch einmal Wolf Biermann:

Was übrig bleibt, was am Leben bleibt, ist wahrscheinlich das, was wirklich tot

ist, was gestorben ist: die Hoffnung auf eine gerechtere Gesellschaft, die wir in

unserem alten Jargon Kommunismus und Sozialismus nannten, also die Utopie. Die

scheint ja jetzt für allemal gestorben zu sein. Und sie ist auch gestorben, aber – sie

wird auferstehen.

Ein mehr als vierzigjähriges Experiment in Sachen Sozialismus ist

gescheitert, hat aber tiefe Spuren im Leben von Millionen Menschen hinterlassen.

Davon werden die Schriftsteller schreiben und dieses Kapitel deutscher

Nachkriegsgeschichte und -literatur auf ihre Weise hoffentlich mit Würde

abschließen. Die friedliche Revolution im Herbst 1989 – die unter dem Slogan

"Wir sind das Volk" begann und mit dem "Wir sind ein Volk" endete – hat nicht

nur die SED-Diktatur beseitigt und erstmalig zu freien Wahlen geführt, sondern

auch die Einheit Deutschlands ermöglicht: Die Volkskammer der ehemaligen

DDR beschloss den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland für den 3. Oktober

1990, der somit zum Tag der Deutschen Einheit geworden ist.

"Es ist ungewöhnlich, dass sich ein Staat freiwillig aus der Geschichte

verabschiedet", kommentierte der letzte Ministerpräsident der DDR diesen

Schritt. Doch: "Ebenso ungewöhnlich und widernatürlich war aber auch die

Teilung unseres Landes."

110


Von Windungen und Wendungen

berlin du deutsche deutsche frau (1998)

Der Zusammenbruch der DDR wurde bewirkt durch eine Unzahl innenwie

außenpolitischer Faktoren. Angesichts von Mangelwirtschaft und

Auslandsverschuldung, Raubbau an den natürlichen Ressourcen sowie der

politischen Reformunfähigkeit des SED-Regimes, wandten sich immer mehr

Menschen von diesem System ab, hatten sie doch Entwicklungen wie in Polen

und Ungarn vor Augen, wo andere Wege beschritten wurden. Massenflucht von

Ost nach West – in einem halben Jahr 500.000 Menschen – , neue

Bürgerbewegungen und Massendemonstrationen im ganzen Land führten zu

einer revolutionären Situation, an deren Ende der Sturz der kommunistischen

Diktatur stand, die sich weder an ihre ideologischen und politischen

Verlautbarungen noch an die eigenen Gesetze hielt. Diese Revolution hatte

natürlich auch weitgehende Konsequenzen für Literatur und Literaten.

Die Schriftsteller sahen sich wie viele ihrer Landsleute nun plötzlich

abgewickelt, entlassen, doppelt entlassen sogar: zum einen aus der Fremdbestimmung

als pädagogischer Avantgarde des Systems, in dem die Literatur,

da das Buch die Medienlandschaft gleichsam monopolisierte, Leitmedium und

Ersatzöffentlichkeit war. So waren die Autoren entlassen aus der sich aus ihrem

111


spezifischen Systemstatus ableitenden Privilegierung als Erzieher, aber zum

anderen auch als kritisches Gewissen der sozialistischen Nation – Christa Wolf

konnte noch 1968 durchaus zu Recht formulieren: „Der Autor nämlich ist ein

wichtiger Mensch“.

Die so vom Sockel gestürzten Dichter, speziell ihr kritisch-sozialistischer

Teil der Generation der damals Sechzigjährigen wie die Wolfs, Müller, Braun,

Morgner, Königsdorf, Fries und auch die schon älteren wie Hermlin und Heym,

mussten sich schlagartig mit einer neuen Situation messen, die gekennzeichnet

war durch einen doppelten und dreifachen Verlust. Die Adressaten ihres

Schaffens waren ihnen verloren gegangen: sowohl das zu großen Teilen ja

tatsächlich lesefreudige Volk, das sich nun – wie Heym grimmig anmerkte – als

ein konsumorientiertes demaskierte. Aber auch der Übervater Staat und

Zensor, die „heimlichen Adressaten“ – so Christa Wolf ironisch – eines Modells

sozialistischer Fürstenerziehung, war ihnen abhanden gekommen. Und mit dem

galoppierenden Verlust der kommunistischen Vision im Verlauf der Wende

breitete sich ein Gefühl aus von Zusammenbruch, Kahlschlag und Leere, das

sich noch verstärkte unter der einsetzenden westlichen Kommerzialisierung und

Überfremdung des bisherigen Literaturmarktes.

Diese Schriftsteller, die jahrzehntelang bis hinein in die Achtziger zu den

wesentlichen Trägern oppositionellen und alternativen Denkens in der DDR

gehörten, geraten nach dem 9. November 1989 in eine Paradoxie, weil der

Sozialismus, der Zweifel an ihm und die Hoffnung auf ihn, in ihre Biografien

eingeschrieben war. So prägnant wie bis dato nirgendwo anders wird das in

folgendem Gedicht von 1990 vorgestellt:

Volker Braun, Das Eigentum

Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen.

KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN.

Ich selber habe ihm den Tritt versetzt.

Es wirft sich weg und seine magre Zierde.

Dem Winter folgt der Sommer der Begierde.

Und ich kann bleiben wo der Pfeffer wächst.

Und unverständlich wird mein ganzer Text

Was ich niemals besaß, wird mir entrissen.

Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen.

Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle.

Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle.

Wann sag ich wieder mein und meine alle.

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Das lyrische Ich dieser zwölf Verse konstatiert die Ausreisewelle seiner

Mitbürger im Sommer 89 und – in der Zeile, die das Büchnersche Motto aus

dem Hessischen Landboten verkehrt – den Sieg des Konsumkapitalismus, an

dem es als regimekritisches in letzter Konsequenz, wie es sich selbst eingesteht

(Vers 3), nicht ganz schuldlos ist. Ein Bewusstsein macht sich geltend,

welches das DDR-Volk als sich wegwerfende magersüchtige Frau in ihrer

„Begierde“ ent-, doch in ihrer nicht weiter ausgewiesenen „Zierde“ weiterhin

mystifiziert und sich und die eigene Utopie als heimatlos ortet: nicht nur all

seine Texte werden, ja sein ganzes Leben wird „unverständlich“. Doch die Hoffnung,

diese „Falle“(!), der Mythos einer solidarischen Menschengemeinschaft

wird nicht preisgegeben, die kommunistische Epochenillusion wird konserviert

und schlimmstenfalls zu einer wahren Wunschpsychose. Dabei hatte man sich

schon eigentlich mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 eingestehen

müssen, dass der Gott, an den man glaubte und glauben wollte, keiner war.

Dann kamen Gorbatschow und die anwachsende Protestwelle und die Wende

und damit ein neues kurzzeitiges Hochschwappen der Illusionen vom endlich

revolutionären Volk – und schließlich der Aschermittwoch des Abgesangs.

Der Vollzug der Einigung der beiden Deutschland wird auf der Ebene des

Literaturbetriebs begleitet durch eine wichtige Fragen aufwerfende Debatte, die

oft – da sie von hegemonialen Intentionen wie seitens der Journalisten Frank

Schirrmacher (FAZ) und Ulrich Greiner (Die Zeit) geprägt ist – die Form einer

rüden, pauschalisierenden Abrechnung mit der DDR-Literatur schlechthin

annimmt.

Die fast dreijährige Kontroverse wird ausgelöst durch die 1990 erschienene

Erzählung Was bleibt von Christa Wolf, die sich von den Platz

beherrschenden Kritikern den Vorwurf des Opportunismus und heroischer

Selbststilisierung als Stasi-Opfer einhandelt, da sie den Text erst jetzt, also

zehn Jahre nach seiner Fertigstellung, und in einer für sie ungefährlichen

Situation, veröffentlicht habe. „O, Freunde, nicht diese Töne!“ – mit Schiller

wäre zur Mäßigung aufzurufen gewesen und zur Erkenntnis, dass Literaten

natürlich keine politischen Helden sein müssen. Doch ist die Auseinandersetzung

insofern berechtigt, als damit die Diskussion über Lage und

Deformation der Intelligenz im Realsozialismus auf breiter Ebene eröffnet wird.

113


Darüber hinaus dienen Wolf und ihr Buch zwar als konkrete Zielscheibe, aber

„es geht nicht um Christa Wolf“ (Schirrmacher) oder besser: nicht nur um sie.

„Es geht...um eine exemplarische Abrechnung mit exemplarischen

Lebensläufen“ (Uwe Wittstock), es geht um das Definitionsmonopol, was

Literatur ist und was nicht, ob die DDR- (und später dann die gesamte

deutschsprachige Nachkriegs-) Literatur überhaupt einen ästhetischen Wert

besitze oder als rein ideologisch zu disqualifizieren sei. Auf der einen Seite wird

Christa Wolf, dann aber auch Günter Grass und Heinrich Böll der Vorwurf der

„Gesinnungsästhetik“ gemacht und den DDR-Literaten insbesondere noch der,

nicht mutiger und offener die Diktatur angeprangert zu haben. Da wird also die

Forderung nach mehr systemkritischer, engagiert antistalinistischer Literatur

erhoben und das von westlichen Vertretern einer Literaturkritik, die normalerweise

eher einer littérature pure das Wort redeten. Das sind Überspitzungen,

die sich auch die andere Seite anrechnen lassen muss, wenn sie sich ihren

vehementen Kritikern gegenüber wie Christa Wolf mit den Verfolgten des Nazi-

Regimes vergleicht.

Aus historischem Abstand aber ist das Verdienstvolle an dieser Auseinandersetzung

– so auch als Wolf Biermann im Oktober 1991 die Stasi-Mitarbeit

des Avantgarde-Dichters Sascha Anderson enthüllt oder 1993 die IM-Tätigkeit

von Christa Wolf und die Gespräche Heiner Müllers mit der Stasi debattiert

werden –, die moralische und ästhetische Legitimation von Buch und Autor zu

hinterfragen.

In seiner weitsichtigen Analyse der DDR-Literaturgeschichte kommt

Wolfgang Emmerich 1996 zu dem Schluss, dass der Vorwurf an die Schriftsteller

der DDR, ideologische Erfüllungsgehilfen gewesen zu sein, in dieser

Form nicht berechtigt sei. Zwar habe es Gesinnungsliteratur gegeben – und

man könne in vielen Fällen auch von Propagandaliteratur sprechen. Daneben

aber entwickle sich vor allem seit Mitte der sechziger Jahre eine Literatur der

„Sinngebung“ und auch „-krise“, eine Literatur, welcher der Status der inneren

Emigration im realen Sozialismus zugesprochen werden könne – als Literatur,

die warne und zugleich zum Aushalten auffordere, die klage und zugleich

tröste, die Subversion und zugleich Kalligraphie betreibe.

Überblickt man das Jahrzehnt nach der Wende, wird deutlich, dass die

Anfänge des Endes der DDR und die Phase just danach nicht durch eigentlich

114


neue belletristische Texte bestimmt sind – dafür waren die Autoren wohl noch

zu betroffen von der Krise des Systems und dessen Untergang, der ja auch

immer als Katastrophe empfunden wurde –, sondern durch eine Fülle dokumentarischer

und autobiografischer Bücher, welche verdrängte und beschwiegene –

wenn auch zugleich nie die ganze – Vergangenheit mit ihrer Zensurpraxis,

Bespitzelung und Repression im sowjetischen und DDR-Stalinismus ans

Tageslicht brachten. Stellvertretend dafür stehen Veröffentlichungen von

kommunistischen Opfern wie Walter Janka, auf dessen Schwierigkeiten mit der

Wahrheit (1989) dann die ausführlichen Spuren eines Lebens (1991) folgen,

und kommunistischen Tätern wie Markus Wolf, bis 1987 Leiter der Abteilung

Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit, der die eigene und die

Lebensgeschichte anderer gleichsam aus dem Herzen der Macht erzählt (Die

Troika, 1989).

Selten zeichnet diese Texte eine besondere ästhetische Qualität noch

eine besondere Tiefe der Aufarbeitung der eigenen Geschichte aus. Da sind die

kurzen Texte wie Brauns Das Eigentum oder das Teilgedicht Selbstkritik, von

Heiner Müller im Herbst 89 öffentlich in einem Ostberliner Theater vorgetragen,

von ganz anderem Kaliber, wenngleich – wie der Autor in einem Gespräch im

April 1991 anmahnt – das poetische Ich natürlich nicht mit dem Dichter verwechselt

werden dürfe:

Heiner Müller, Selbstkritik

Meine Herausgeber wühlen in alten Texten

Manchmal wenn ich sie lese überläuft es mich kalt. Das

Habe ich geschrieben IM BESITZ DER WAHRHEIT

Sechzig Jahre vor meinem mutmaßlichen Tod

Auf dem Bildschirm sehe ich meine Landsleute

Mit Händen und Füßen abstimmen gegen die Wahrheit

Die vor vierzig Jahren mein Besitz war

Welches Grab schützt mich vor meiner Jugend

Ansprechende und anspruchsvolle Literatur lässt dann auch nicht mehr

lange auf sich warten. Dass es darin dann immer wieder um die DDR, ihren

Untergang und das Danach im neuen Deutschland geht, kann nicht

verwundern, war doch die DDR „von allen möglichen Themen immer der DDR-

Literatur liebstes Kind“ (W. Emmerich), was mit Abstrichen auch noch ein

Jahrzehnt danach galt. Dabei ist zu unterscheiden zwischen Büchern, die in

115


ihrem Rückblick auf den verschwundenen ersten deutschen „Arbeiter-und-

Bauern-Staat“ nicht ohne Trauer, Melancholie und Verklärung auskommen oder

aber zumindest einer derartigen Lektüre Vorschub leisten, jenem (n)ostalgischen

identifikatorischen Blick auf die Vergangenheit, die von vielen noch lange

als „gestohlene Heimat“ – wie Günter Kunert treffend bemerkte – angesehen

wurde. Das gilt für Erwin Strittmatters Heimatroman Der Laden 3 (1992), der in

den neuen Bundesländern eine Bestseller-Auflage erreichte, ebenso wie für

Günter Grass’ Ein weites Feld (1995): „Man will vorkommen – warm

beschrieben, stimmig im Detail“ (Christoph. Dieckmann). Auf dieser Linie liegt

auch Helga Königsdorfs Im Schatten des Regenbogens (1993), das ganz aus

der Perspektive abgewickelter älterer Menschen geschrieben ist, die zudem

auch noch aus der Zuflucht ihrer Not-Wohngemeinschaft vertrieben werden.

Als Heimatroman im Untertitel bezeichnet, aber die Ostalgie sarkastisch

konterkarierend, kommt Jens Sparschuhs Der Zimmerspringbrunnen (1995)

daher, ein durchaus auch amüsanter Gegenwartsroman über einen ebenfalls

abgewickelten Kader der ehemaligen DDR-Wohnungsverwaltung, der

erfolgreich in die Vertreterlaufbahn für Wohnzimmernippes in Ostberlin

einsteigt. Mit einem Finale nicht unähnlich dem in Bölls Ansichten eines

Clowns.

DDR als Thema, als Bezugspunkt kann, wie wir sehen werden, in ganz

verschiedener Weise aufgezogen werden; für einen klareren Überblick könnte

eine Einteilung nach Phasen von Nutzen sein.

Erstens. Literatur als Rückblick auf das Leben in vier Jahrzehnten DDR:

als Blick zurück im Zorn wie in Kurt Drawerts Spiegelland (1992), einem kleinen

Roman-Essay der Suche nach einem verlorenen Leben und der

erbarmungslosen Beschreibung oktroyierter Kindheitsmuster. Oder als

Beschreibung der DDR-Welt als Mordschauplatz, wo Hass, Zerfleischung und

das Böse schlechthin regieren wie in Abschied von den Feinden (1995) und

auch in Die atlantische Mauer (2000) von Reinhard Jirgl. Adolf Endler dagegen

bleibt sich weiterhin treu und wirft einen ironisch-bösen Blick auf die

Realgroteske DDR in Tarzan am Prenzlauer Berg (1994). Monika Maron

beschäftigt sich in Stille Zeile Sechs (1991) mit dem hochkomplexen Geflecht

von Intelligenz und Macht. Katrin Asken behandelt in ihrem dritten Roman Aus

116


dem Schneider (2000) die letzten dreieinhalb Stunden einer jungen Ostberlinerin

vor ihrer Flucht in den Westen im Jahr 1986 – eine Familien-

Retrospektive des letzten halben Jahrhunderts. Gert Neumann wendet sich in

seinem sprachlich hochkomplexen Anschlag (1999) der Problematik zu: „Wie

erzählt sich Vergangenheit?“ und lässt sich dabei auf Themenkomplexe ein wie

Sprache des Stalinismus, Diktatur und Affirmation, realsozialistisches Elend,

Lebensgefühl Ost, Poesie und Zensur. Zum neuen Millennium erschien der

Roman von Helga Schütz Grenze zum gestrigen Tag, eine DDR-

Familiengeschichte im Schatten des Todesstreifens.

Jüngste Vergangenheit immer wieder aktuell und doch gab es auch

schon lange eine deutlich erkennbare Tendenz, sich von diesem Thema

zurückzuziehen. So ergibt sich eine sukzessive Abwendung von diesem Sujet

bei Autorinnen wie Maron oder Brigitte Burmeister, wenn man die Arbeiten von

1991-98 gerade von Maron betrachtet. In Burmeisters Roman Pollok und die

Attentäterin (1999) erscheint dann die DDR nur noch als ein schwacher Reflex,

in Christoph Heins Napoleonspiel von 1992 spielt sie praktisch überhaupt keine

Rolle mehr, was in den Neunzigern ebenso für den literarischen Neuling Jenny

Erpenbeck und ihr Prosastück Geschichte vom alten Kind (1999) gilt, der

Geschichte eines weiblichen Kaspar Hauser, vermischt mit Elementen, die an

Grass’ Oskar Matzerath erinnern. Ingo Schulze dagegen kehrt mit Am Ende der

Sonnenallee (1999) ins volle DDR-Geschehen zurück. Dieses Land bleibt erst

einmal – anders kann es auch gar nicht sein – Schreibgegenstand der

deutschsprachigen Literatur.

Zweitens. Verteilt über das ganze erste literarische Jahrzehnt nach dem

Mauerfall, erschienen Texte, die die Zeit der Wende ins Zentrum rücken. Neben

Thomas Brussigs Helden wie wir (1996) sind andere Bücher aus anderen

Gründen hier erwähnenswert: Die verkauften Pflastersteine (1990) von Thomas

Rosenlöcher ein Dresdner Tagebuch, wie der Untertitel verrät, des damals

53jährigen Dichters vom 8.9.89 bis 19.3.90, den entscheidenden Monaten der

Wende bis zur ersten demokratischen Wahl auf dem Gebiet der DDR. Ein

ehrlicher, unbestechlicher, mitunter selbstironischer Erlebnisbericht aus der

Perspektive des ewigen linken Verlierers. Ganz anders die Kalendertexte aus

dem Zeitraum 1988-1991 von Volker Braun in Die Zickzackbrücke (1992). Eine

117


Textsammlung im Zickzack der Genres von Gedichten bis hin zu literarischer

und journalistischer Prosa, ein wahrer Aufschrei der Verunsicherung, Enttäuschung

und Zerrissenheit. Auf die letzten Jahre vor dem unmittelbaren Ende

der DDR konzentriert sich Erich Loests Roman Nikolaikirche (1995), eine

Familienchronik, in der sich sehr genau und detailreich das Leben auf den so

unterschiedlichen Seiten von Macht und Widerstand im Leipzig der zweiten

Hälfte der achtziger Jahre dargestellt findet. Hans Joachim Schädlich dagegen

schildert Ende und Wende als Geschichte der letzten Stunden einer Clique

gewöhnlicher Krimineller oder politischer Mafiosi, erzählt vom opportunistischen

Intellektuellen der Gruppe: Trivialroman (1998).

Hommage an Erich Loest (2008)

Drittens. Nach der Literatur der Wende nun die über das gewendete,

vereinte Land, ein Thema, das nicht so schnell an sein Ende kommen wird und

über das auch immer und immer wieder Autoren aus den alten Bundesländer

schreiben. Zeugnis dafür legten bereits 1991 F. C. Delius mit Die Birnen von

Ribbeck und 1992 Rolf Hochhuth mit Wessis in Weimar ab. Während Delius in

einem fast achtzig Seiten langen Monolog einen DDR-Bauern die Geschichte

118


seines Dorfes in diesem Jahrhundert reflektieren lässt, auf wohltuend

ausgeglichene Art kritisch gegenüber Feudalismus, Sozialismus und (Neo-)

Kapitalismus – polemisiert Hochhuth mit seinen Szenen aus einem besetzten

Land gegen den „Kolonialismus“ der BRD-Regierung gegenüber der

ehemaligen DDR. Zu den Werken, die das neue Deutschland reflektieren,

gehören dann natürlich auch Königsdorfs Regenbogen-Roman und Sparschuhs

Zimmerspringbrunnen, genauso wie Volker Brauns diffiziles Psychogramm der

ersten Nach-Wende-Jahre (Wendehals, 1995), Christoph Heins Randow

(1994), das nicht zuletzt das Problem der Änderung der Besitzverhältnisse in

den neuen Bundesländern ins Zentrum rückt, wie es auch Peter Schneider in

Eduards Heimkehr (1999) tut. Bernd Wagner, der seit 1985 im Westen lebt,

erzählt in Paradies (1997), dem „großen Roman der Wendezeit“ (Die Zeit), von

einer verspäteten Republikflucht im Jahre 1992 aus dem inzwischen untergegangenen

Arbeiter-und-Bauern-Paradies in den für paradiesisch gehaltenen

Westen und landet im wirklich paradiesischen Griechenland – ein On-the-road-

Roman, der einfühlsam den ostdeutschen Emanzen-Ton trifft. Eine knallharte

Bestandsaufnahme des Lebens im neuen Ostdeutschland macht Uwe Saeger

in dem Buch zum Fernsehfilm Landschaft mit Dornen (1993), in dessen

Mittelpunkt vier orientierungslose, hasserfüllte, verzweifelte Jugendliche stehen,

die aus Langeweile ein Todesspiel spielen, das schließlich neben ihrem Opfer

auch alle vier Täter verschlingt. Ebenfalls die ostdeutsche Provinz hat Ingo

Schulze in Simple Storys (1998) im Visier. Lakonisch, unpathetisch, in der

Tradition der nordamerikanischen Short Story werden kleine einfache, scheinbar

ganz gewöhnliche Geschichten über die Bewohner einer ostthüringischen

Kleinstadt im Jahre 1990 erzählt, die sich dank des strukturellen Einfallsreichtums

des Autors zu einem Grossen und Ganzen schließen. Gegenwartsgeschichte

wird im Kleinen verdeutlicht oder wie Schulze sagt: „Literatur

bedeutet für mich, die Welt im Wassertropfen zu sehen.“ Mit Brigitte

Burmeisters Unter dem Namen Norma (1994) wird aus der Perspektive einer

Ostberliner Übersetzerin im Jahre 1992 die Frage nach Heimat, Identität,

Biografie im konkreten historischen Kontext aufgeworfen, nach der Bedeutung

der Erinnerungsarbeit, nach Geschichtsopfern und -tätern, zugespitzt am

Beispiel der Selbstdenunziation als angebliche Stasi-Informantin. Die Frage

nach Realität und Fiktion stellt sich auch hinsichtlich des Decknamens Norma,

119


der anagrammatisch als Roman gelesen werden kann. Die Entscheidung des

Mannes, im Westen seiner beruflichen Laufbahn nachzugehen, und der Frau,

die alte Heimat im Osten nicht aufzugeben, nimmt im Abstand von einer

Generation eine Konstellation wieder auf, wie sie Christa Wolf in Der geteilte

Himmel unter anderen historischen Voraussetzungen entworfen hatte.

Hatte schon der Literaturstreit Anfang der Neunziger die Frage

hinsichtlich einer Neudefinition des heiklen Verhältnisses von Ethik und Ästhetik

aufgeworfen, d.h. eben auch die nach einer neuen Aufarbeitung der Vergangenheit

nach vierzig Jahren sozialistischer Diktatur, so scheint dies auch heute

noch eine dringende Notwendigkeit angesichts der Unmöglichkeit, Unwissenheit,

Befehlszwang oder naives Mitläufertum als Entschuldigung vorgeben zu

können – wie es ja gegenüber der Nazi-Zeit zunächst einmal an der deutschen

Tagesordnung war.

Dabei kann es nicht darum gehen, die Kritik der Autorenmoral für andere

Zwecke zu funktionalisieren, und darf auch nicht vergessen werden, dass der

verantwortungsbewusste Umgang mit Wirklichkeit und Geschichte in jeder

Phase der DDR-Literatur ein integraler Bestandteil war, der natürlich in nicht

immer gleicher Weise ihr Gesicht mitbestimmte, doch – unter der Bedingung

der Publikationsmöglichkeit im Westen – in der Art der Auseinandersetzung, der

ästhetischen Gestaltung, verstanden auch als kulturelle Subversion des

Systems, sowie unter quantitativem Gesichtspunkt ganz anders zu bewerten ist

als etwa die Literatur der Inneren Emigration während des Nazifaschismus. Zu

erinnern gilt hier zuvorderst ein Autor wie Uwe Johnson, der zu den entscheidenden

Wegbereitern der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur zählt. Seine

beiden in der DDR entstandenen Erstlingsromane wie sein Lebenswerk

überhaupt geben das Paradigma für ein fruchtbares dialektisches Verhältnis

von Kunst und Moral. Aber auch andere ‚genuine’ DDR-Schriftsteller wie Volker

Braun, Stefan Heym, Sarah Kirsch, Wolf Biermann, Franz Fühmann, Günter de

Bruyn, Heiner Müller und natürlich die seit der Wende umstrittene Christa Wolf

sind hier zu erwähnen wie auch die Werke der Sinnkrise der 70er und 80er, die

Jugend- und Frauenliteratur und jene revolutionären Texte von Irmtraud

Morgner, F.R. Fries und Wolf Mitte der Sechziger, die der ostdeutschen

Literatur den Anschluss an die Moderne gestatteten. Entgrenzung und

120


Tabubruch wurden damals nicht zufällig bei Literaturkritik und -wissenschaft zu

beliebten Schlagwörtern.

Dabei finden unter all diesen Namen nur einige wenige derer

Erwähnung, die den Durchbruch geschafft haben und auf – auch internationale

– Anerkennung gestoßen sind. Viele von ihnen hatten die DDR verlassen

(müssen), um schreiben und leben zu können – erinnert seien hier nur Christa

Reinig, Helga Novak, Reiner Kunze und Jürgen Fuchs.

Andere hatten selbst diese Chance nicht. Susanne Kerckhoff, Autorin der

Inneren Emigration während der Nazi-Zeit, wurde wegen ihrer nicht

angepassten, engagierten Haltung in der DDR zum Verstummen gebracht und

aus der Literaturgeschichte getilgt. Sie nahm sich 1950 das Leben. Eveline

Kuffel, Bildhauerin und Poetin aus proletarischem, kommunistischem

Elternhaus, gerät nach der Republikflucht ihres Vaters ins Fadenkreuz der

Behörden. Nach einschneidenden Erfahrungen wie einer Gefängnisstrafe im

Alter von fünfzehn Jahren und dem Zwangsentzug ihres zweijährigen Sohnes

nach ihrer Scheidung beginnt sie zu schreiben, von der Stasi observiert und

ohne Chance auf Publikation in der DDR. Sie endet als Gelegenheitsarbeiterin

und Alkoholikerin, leidet an Kehlkopfkrebs und stirbt 1978 an den Folgen eines

Schwelbrands im Bett. Jutta Petzold, Germanistin und Poetin, wird nach der

Flucht ihrer Künstlerfreunde Anfang der 60er von der Stasi bespitzelt. 1965

stellt sie ihr Schreiben ein und endet als mehrfach stationäre Patientin der

Nervenklinik in der Berliner Charité. Hannelore Becker weist zunächst eine

staatskonforme Biografie auf. Nach dem Abschluss der gymnasialen

Oberschule wird die als begabt eingestufte Autorin als IM verpflichtet, die u.a.

von Lesungen Franz Fühmanns berichtet. Um schriftstellerisch arbeiten zu

können, entzieht sie sich 1974 der Stasi und wird Verkäuferin. 1976 begeht sie

Suizid.

Die tragische Bilanz dieser Lebensläufe von vier Autorinnen ist nur ein

kleiner Teil dessen, was unter der stalinistischen Diktatur in der DDR an Leben

und Kunst vernichtet worden ist. Die Reihe der Opfer ist lang, zu lang, um ihrer

aller hier gedenken zu können. Doch die Literatur ist es, die an dieser Stelle

aktive Trauerarbeit leistet. Hochehrliche, zutiefst moralische Bücher der

Auseinandersetzung mit einer komplexen Vergangenheit sind erschienen, aus

denen deutlich wird, dass sich niemand aus jenem Staatswesen außerhalb von

121


Schuld (nach dem gleichnamigen Theaterstück von Uwe Saeger, 1988) wähnen

kann, dazu waren die Verstrickungen einfach zu groß. Oder mit den Worten

Wolf Biermanns:

Wir waren verfitzt, verfilzt und hochverschwägert mit unseren Widersachern...

Die tiefen familiären Kontakte zu unseren Todfeinden nahmen nie ab, weil wir den

Widerspruch alle in uns selber trugen... Und aller Hass, das Gift, die Galle kamen aus

dieser familiären Verklammerung mit unseren Unterdrückern.

Daran arbeiten sich ernsthaft und engagiert viele der hier aufgeführten

Texte ab, zuvorderst seien (zum Teil noch einmal) genannt „Ich“ (Wolfgang

Hilbig, 1993), Die Reise des Jona (Manfred Jendryschik), Helden wie wir

(Thomas Brussig), Medea: Stimmen (Christa Wolf, 1996), Spiegelland (Kurt

Drawert), Von der Schwierigkeit, Westler zu werden (Klaus Schlesinger, 1998),

Nikolaikirche (Erich Loest), Trivialroman (H.J. Schädlich), Unter dem Namen

Norma (Brigitte Burmeister), Stille Zeile Sechs (Monika Maron) sowie die

Autobiografien von Heiner Müller (Krieg ohne Schlacht, 1992), Günter de Bruyn

(Vierzig Jahre, 1996), Erich Loest (Der Zorn des Schafes, 1990/ Durch die Erde

geht ein Riss, 1991). Diesen Prozess der Klärung, der Aufklärung und

Selbstaufklärung als abgeschlossen zu betrachten, wäre mehr als verfrüht,

denn man steckte zu lange und zu tief in dem, wie es der Autor Martin Ahrends

formulierte,

schwer durchschaubaren Schlamassel... eines schockierten Volkes, das seinen

Nachwuchs ängstlich behütete und ihm mit zitternder Stimmen Ammenmärchen sang

vom Neuen Leben in der Neuen Zeit.

122


Exkurs: Thomas Brussig, Helden wie wir

Hommage an Thomas Brussig (2008)

I. Versucht man, die Kritikerstimmen aus dem deutschsprachigen Raum

zum Text Brussigs zusammenzufassen, dann könnte man dies in der Art von

Peter Walther (taz) tun, der dem Autor attestiert, mit diesem Nach-89er-

Deutschlandbuch »die Wunschträume der Literaturkritik vom großen

Wenderoman« zu erfüllen.

Es geht in diesem in der Ich-Form erzählten Buch um das traurigkomische

Schicksal des am 20. August 1968, als die DDR-Panzer gen Prag

rollten, geborenen Klaus mit dem unaussprechbaren Nachnamen Uhlztsch, der

sich allerdings anagrammatisch in einen Allerweltsnamen auflösen lässt. Ein

ungeliebtes Kind der Hineingeborenen-Generation mit wenig Selbstwertgefühl

inmitten eines trostlosen deutsch-demokratischen Kleinbürgermilieus. Es ist die

Geschichte eines Adoleszenten mit all seinen sozialen, vor allem aber

sexuellen Irrungen und Wirrungen in Gestalt eines pikaresken Bildungsromans,

wobei die Stasi wesentliche Entwicklungshilfe leistet zu einem Reifungsprozess,

der in der Öffnung der Berliner Mauer gipfelt. Ja, es war Klaus, der – dank

seines schließlich übergroßen Genitals, das mit maxi kompensiert, was zwanzig

Jahre lang nur mini war – das historische Ereignis bewirkte, wie er in einem

123


Interview mit der New York Times verlauten lässt, welches die Rahmenhandlung

für die weit ausholenden autobiografischen Bekenntnisse megalomanischen

Formats bildet:

Die Geschichte des Mauerfalls ist die Geschichte meines Pinsels, aber wie lässt

sich dieser Ansatz in einem Buch unterbringen, das als eine nobelpreiswürdige

Kreuzung von David Copperfield und Ein Zeitalter wird besichtigt konzipiert ist?

Ein solches Buch, das als Rollenprosa rücksichts- und schamlos mit den

Sozialismus-Illusionen der Autorengeneration einer Christa Wolf und explizit

auch mit Aspekten ihres literarischen Schaffens abrechnet, konnte nur von

einem Vertreter der in den Sechzigern Geborenen vorgelegt werden. Und

wurde von älteren Schriftstellerkollegen aus Ost und West wie Wolf Biermann

und Günter Grass auch hochgelobt, und Christoph Dieckmann (Die Zeit)

schrieb dazu: »Brussigs Gedächtnis für die Trivialitäten der DDR entlarvt die

teure Tote besser als jeglicher Vergangenheits-Generalismus«.

Klaus – Sohn einer autoritären Hygiene-Ärztin und eines herrischen

Stasi-Vaters, wahrhafter Repräsentanten des preußischen Stalinismus’ –

verbringt Kindheit und frühe Jugend ganz im Spannungsfeld zwischen der

Obsession, ein Versager und Zuspätkommer, ein »Flachschwimmer« und

»Sachenverlierer« und »Toilettenverstopfer« zu sein, und andererseits dem

Größenwahn seiner literarischen Nobelpreiswürdigkeit, zu dem ihn die

Auszeichnung als Junger Naturforscher auf der Messe der Meister von morgen

im Alter von neun Jahren und die entsprechende Berichterstattung mit Titelbild

in der Zeitung verleitet.

Er tut sich schwer bei der Suche nach Anerkennung, Freundschaft und

Liebe in Familie und Schule, unter Gleichaltrigen; die Pubertät dann bringt den

zudem noch gänzlich unaufgeklärten Jungen in höchste sexuelle Nöte und

Ängste, die er durch eine Vielzahl von Abwehrstrategien vergeblich zu meistern

sucht. Es sind diese individuellen Schwierigkeiten als Kind, Heranwachsender

und schließlich junger Mann, die ihn für den Sozialismus optieren lassen, denn

er möchte auch einmal zu den allseits gerühmten Siegern der Geschichte

gehören. Und es ist sein »Wunsch nach Größe«, der ihn zur Mitarbeit beim

Staatssicherheitsdienst verleitet, »als Kundschafter in historischer Mission«, als

sozialistischer 007 zu spionieren. Da der Erzähler seine persönlichen

Beweggründe, die nicht aus irgendwelchen ideologischen Überzeugungen

124


herrühren, offen legt, braucht er seine Vergangenheit nicht zu verdrängen und

auch nicht zu Mystifizierungen des Systems zu greifen, sondern definiert es

schlicht als »menschenfeindlich«, und verklärt auch seine Mittäterschaft nicht.

Denn: »Ich war einer von uns«.

Wovon der Roman spricht und wie er es tut, soll im Folgenden anhand

des 5. Kapitels – des längsten der insgesamt sieben Tonbänder, auf denen das

Interview der NYT aufgenommen wird – demonstriert werden.

II. Nach einer ersten Ausbildungsphase in einem Militärlager der Stasi

bekommt Klaus in der Berliner Zentrale die weiteren Instruktionen für seinen

Einsatz in einer als Postzeitungsvertrieb getarnten Agentengruppe. Die drei

Mitglieder mit ihrem beschränkten IQ sowie die wahrzunehmenden Beobachtungs-

und Einschüchterungsaufgaben lassen Klaus alsbald zweifeln:

War ich jetzt wirklich bei der Stasi, bei der richtigen, echten, sagenumwobenen

Stasi? Oder war ich bei einem Verein, der sich nur Stasi nannte – damit die echte

Stasi, die mich eines Tages rufen wird, umso besser getarnt bleibt?

Nach Vorstellung bei seinen drei neuen Kollegen erfährt der Offiziersschüler

Klaus, dass am nächsten Tag Sport auf dem Programm steht, was ihn

zu einem kleinen Exkurs über »diese morbide Angelegenheit« verführt, da er

Laufen auf dem Sportplatz hasst, weil er weiß, dass er die fünf angesetzten

Runden kaum schaffen wird. Und dann die Angst, die BILD-Zeitung könnte

deshalb schreiben: »OSTBERLIN LACHT: DER LAHMSTE LAHMARSCH DER

STASI« Und tatsächlich: wieder einmal wird Klaus nur letzter und hat vor

Augen, dies jede Woche wiederholen zu müssen.

Es folgen vier weitere Exkurse, die dem Leser Klaus’ Stasikollegen näher

bekannt machen, wobei der interessanteste und humorvollste der zu Martin

Eulert (»Meine Freunde nennen mich Eule«) ist, demzufolge Das Lächeln der

Sixtinischen Madonna von Leonardo in Dresden »steht«, was er als einen

schlagenden Beweis für die Negation der Negation ansieht:

Der Maler, der dieses Kunstwerk geschaffen hat, war sehr gleubisch. Unsere

Menschen sind nicht mehr gleubisch. Aber trotzdem bewundern sie dieses Bild und

erfreuen sich an seiner Schönheit... Das ist die Negation der Negation.

125


Der erste und letzte dieser Exkurse ist Wunderlich, dem Chef der Gruppe

gewidmet, der sich neben seinem exorbitanten Gedächtnis – er kennt alle DDR-

Rekorde im 800-Meter-Lauf – auch noch eines gewieften geheimdienstlichen

Einfallsreichtums zu rühmen weiß: so erfindet er ein regional begrenztes

Erdbeben in der DDR als offizielle Erklärung für einen bei einer klandestinen

Hausdurchsuchung zu Bruch gegangenen Spiegel.

Danach geht’s weiter mit Berichten aus der Stasi-Kleinarbeit und ihren

Dienstbesprechungen, die dazu dienen, z. B. die Herkunft eines Glasnost-

Flugblattes zu ermitteln oder die Möglichkeit der Unterdrückung von Flugblättern

zu debattieren, wozu Klaus die glänzende Idee hat, den Verkauf des

ohnehin kontingentierten Schreibpapiers ganz zu unterbinden. In Gedanken

sonnt er sich schon in der Vorstellung, wegen dieser Idee zum Minister gerufen

und ein bedeutender Geheimagent zu werden:

Ich meine, wenn ich mit ein paar Wochen Diensterfahrung quasi im

Handumdrehen das Flugblattunwesen eliminieren kann – darf ich dann nicht auf

höhere, auf höchste Aufgaben hoffen?

Doch noch verbleiben wir im grauen, langweiligen Stasi-Alltag aus

Observation, Postkontrolle der Observierten und Berichteschreiben, das Klaus

zunächst einige Probleme aufgibt. Denn, wenn man eine Frau beobachtet, die

aus einem Haus kommt, »wie schreibt man Eine Frau kam aus dem Haus,

wenn man für die Stasi arbeitet?« Doch der Neu-Agent löst das bald vorbildlich

und schreibt – damit die Kapitelüberschrift entdeckend: »wbl. Pers. Str. hns. trat

8.34.«

Da sein persönlicher Ausbilder Eule nicht wenige linguistische Schwierigkeiten

hat und Klaus eine grenzenlose Phantasie, passiert es letzterem, als

Eule einmal von der einmaligen Agentenchance spricht, dem Nato-Generalsekretär

seine Mikrofische zu stehlen, dass er in seiner Ignoranz und

Unkenntnis dieses Wortes fremdsprachlicher Herkunft (»Mikrofische, sind das

etwa Fische , die sehr klein sind?«) seinen Vorstellungen über einen derartigen

Auftrag freien Lauf lässt, in die sogleich seine sexuellen Assoziationen Eingang

finden:

Wie soll ich eine Ampulle mit den Mikrofischen des Nato-Generalsekretärs

erbeuten? Und was wollen unsere damit? Wollen sie vielleicht aus den Erbinfor-

126


mationen, aus den DNS, einen zweiten Nato-Generalsekretär klonen?... (Denn:) Wer

eine todsichere Grenze mitten durch das Zentrum einer normal funktionierenden Stadt

ziehen kann, der kann einfach alles – einen einzigen Menschen zu bauen, müsste

dagegen ein Kinderspiel sein.

Auch die Fahrt entlang der Staatsgrenze zu einem Observationsobjekt

entfesselt in unserem Helden eine ganze Reihe von Vorstellungen und

Erinnerungen. Wenn er den Transit-Bahnhof Friedrichstrasse passiert, sieht er

sich als Topagent durch eine Geheimtür in den Westteil der Stadt gelangen und

erinnert sich zugleich an eine Begebenheit vor nicht allzu langer Zeit, als ihn

sein sexueller Notstand auf die Lüftungsgitter der U-Bahn dort getrieben hatte.

Warum das? Auf einer Party bei einem Mitschüler hatten es ihm der Katalog

des westlichen Versandhauses Quelle und ganz besonders die Seiten mit der

Damenunterwäsche und ihren Models angetan. Die dringend zu lösende Frage

war nun:

Aber wo im Osten kann man Westfrauen... nahe sein? So nahe, dass es näher

nicht geht? Genau, in der Friedrichstrasse, über der U-Bahn. Ich kam auf vier Meter an

sie ran... Ich verbrachte Stunden auf dem Gitter der Lüftungsschächte, und jedes Mal,

wenn ich eine U-Bahn unter mir rumpeln hörte, warf ich einen lechzenden Blick auf die

Quelle-Frauen meiner vier herausgerissenen Doppelseiten und wusste, dass die U-

Bahn, die gerade unter mir hindurchfährt, voll von solchen Frauen ist... Wäre ich

bereits damals von derselben perversen Energie getrieben gewesen wie nur wenige

Jahre später, hätte ich das Lüftungsgitter vergewaltigt.

Aber: »Ich habe niemals auf der Friedrichstrasse gelegen und ein

Lüftungsgitter vergewaltigt«. Das nicht, nur beinahe einmal eine reale Frau. Und

das kam so: Um seinen Sexualhaushalt ins Gleichgewicht zu bringen, hatte

man ihm geraten, einfach einmal nachts bei einem Tanzlokal eine allein nach

Haus gehende Frau abzupassen und es bei ihr zu versuchen. So kommt Klaus

an seine doppelt so alte, kleine und dickliche – wie er sie nennt – Wurstfrau, die

ihn mit zu sich auf die Wohnung nimmt. Doch als sie seinen Penis sieht (»Ist

der aber klein!«), kommt ihr das Lachen und vergeht ihr die Lust. Da brennt

Klaus durch und will... – sie aber nicht und zwar explizit: »Ich will nicht! Lass

mich!« Das und der Gedanke an seine Eltern lässt Klaus die Flucht ergreifen –

vor die Wohnungstür, wo er sich erst einmal wieder anzieht. Nun war er aber

auf Touren gekommen und musste das Verhinderte irgendwie kompensieren.

Er tut dies auf dem obersten Treppenabsatz – offensichtlich mit einiger

Verspätung – und sieht »die ersten Mikrofische, die ich eigenhändig zutage

127


beförderte«. Auf den Geschmack gekommen und zugleich von Angstvorstellungen

getrieben, wird er zum Wiederholungstäter von großer Ausdauer,

wobei er an seinen obersten Chef denkt – »ich kann es nicht abstreiten:

Minister Mielke war das Objekt meiner Wichsphantasien« – und ihm

„floggfloggflogg“ seinen Tribut zollt. Nun aber passiert es: der Ejakulant rutscht

im dunklen Treppenhaus in seinem Ejakulat aus und bricht sich den linken

Daumen und das rechte Handgelenk:

heldenschaft (2008)

Meine Hosen waren offen, mein Schwanz entblößt ... und ich konnte meine

Hände nicht benutzen. ... Ich wälzte und wand mich zehn Minuten auf der Treppe.

Nicht vor Schmerzen, aber versuchen Sie mal, sich ohne Zuhilfenahme der Hände Ihre

Unterhose die entscheidenden Zentimeter nach oben zu ziehen. Und die offene Hose?

Was sollte mit der offenen Hose passieren?

Das aber interessiert in der Unfallklinik niemand, da werden nur beide

Arme eingegipst. Auch daheim bei seinen Eltern unterbleibt das erwartete

128


Verhör plus die anschließende Verurteilung, da Klaus Fragen mit einem

geheimdienstlich zu interpretierenden »Darüber will ich nicht sprechen«

abwehrt. Mutter, die Hygienespezialistin, ist glücklich, ihren Sohn bis auf die

Toilette – natürlich, wie soll man denn ohne Hände?! – zu bemuttern und gleich

auch noch seinen „Pinsel“ zu bepudern.

»Als mir der Gips abgenommen worden war, hatte ich endlich wieder

beide Hände frei zum Sachenverlieren.« Und Klaus verliert auch gleich sein

Portemonnaie – und somit Ausweis, Krankenschein, Schecks und mehrere

Bibliotheksausweise und die Monatskarte und den Abholzettel vom Schuster.

Gott sei dank, der Klappfix, der Stasiausweis, ist noch da! Dennoch, schon der

Anruf beim Schuster wird zu einem einzigen Verständigungsunfall. Da aber, das

Schlechte wendet sich zum Guten, ruft eine gewisse Yvonne an: sie hat das

Portemonnaie gefunden!

Man verabredet sich zur Übergabe am folgenden Tag. Unser Held macht

sich blumenbewehrt – eine Empfehlung seiner Mutter – zur ihn sofort

faszinierenden Yvonne auf, die ihn mit ihrer Holland-Begeisterung überschüttet.

Klaus allerdings, wie nicht anders zu erwarten, ist so verklemmt, dass er nur auf

sein Portemonnaie wartet und geht. Doch »als ich in der U-Bahn saß..., stellte

ich mir vor, wie es wäre, mit Yvonne in Holland verheiratet zu sein...«.

Aber zunächst einmal ruft wieder die Pflicht: einmal mit der

Überraschung in Form einer eigenen Wohnung, ein Privileg, das Klaus zu

schätzen weiß: »Nicht mal Alain Delon wohnte als Der eiskalte Engel so

bevorzugt«. Zum anderen warten die unendlichen Dienstbesprechungen, bei

denen es auch um das Thema Poststrukturalismus geht. Die holpernde

Begriffsdefinition, die Klaus’ Kollegen versuchen, wird vom Chef rigoros

abgeschnitten, der festlegt, was Poststrukturalismus sei:

also – A – die Struktur der Post zu erkunden, um – B – im Spannungsfall die

Effizienz unserer Nachrichtenwege zu unterminieren. (Denn) zum Beispiel können sie

ausspionieren, wo die Telefonverteilerkästen stehen, um im Spannungsfall Anschläge

gegen das Telefonnetz zu tätigen.

Das sei aber bei weitem noch nicht alles, denn neuerdings betreibe diese

staatsfeindliche Gruppierung »ganz unverhohlen Post-Post-Strukturalismus«,

der noch gefährlicher sei, denn er könne unüberwindliche Schäden anrichten:

Briefkästen würden nicht mehr entleert, die Öffnungszeiten der Postämter

129


verändert, das Zeitzeichen würde manipuliert werden, was zu Zugunglücken

und Flugzeugkatastrophen führen würde... »Und wir würden alle wahnsinnig

werden«. Da diese Besprechung allerdings zu keinem fassbaren Ergebnis

kommt, plant man erst einmal, mit einer laufenden Angelegenheit fertig zu

werden, d.h. mit dem Vorgang Individualist, bei dem eine Wohnungsdurchsuchung

vorzunehmen ist, was Klaus in seinem Ordnungsdenken (»Jedes

Kind weiß doch, dass Einbrechen verboten ist«) tief verwirrt und in Angst vor

etwaiger Entdeckung versetzt. Ganz bei der Sache ist er jedoch wieder, als er

von einer Bekannten der zu beobachtenden Person hört, eine IM mit dem

Decknamen Katalog, die sich, obwohl »die Quelle Katalog unverzichtbar ist«,

der Zusammenarbeit verweigert. »Quelle-Katalog« versetzt Klaus in einen

Zustand fiebriger Erregung und er willigt in den Auftrag ein, zur Einschüchterung

der IM deren Kind für einen Nachmittag zu entführen. Er holt also die

kleine Sara von der Schule ab, bringt sie in eine konspirative Wohnung, lässt

sie mit der Mutti telefonieren und bei Mensch-ärgere-dich-nicht und Monopoly

systematisch verlieren: »Sie heulte, und ich fühlte mich großartig.« Danach

zieht es ihn zur Mutter, die er immer noch als Katalog-Model imaginiert und die

als Bibliothekarin arbeitet. Er leiht das erstbeste Buch aus, Das Tagebuch der

Anne Frank, und liest es sogar, denn die Bibliothekarin könnte ihn danach

fragen. Das bei der Lektüre mit Anne geführte Zwiegespräch bringt Klaus ein

Stück weit auf den Weg zur Selbsterkenntnis und gibt ihm den Mut, Yvonne zu

schreiben.

Mit Verspätung antwortet sie auf den Liebesbrief, sie treffen sich,

schauen sich einen Nachmittag lang ganz verliebt an, plauschen miteinander,

küssen sich, und er würde sie gern..., doch kann man »einen Engel ficken«? Ihr

Liebesspiel unterbricht er genau an dem Punkt als Yvonne ihm zuflüstert »Tu

mir weh!« Er ist schockiert, verlässt sie und weiß doch ganz genau, was das für

ihn heißt: »Verlust! Verlust! Verlust!«

III. Das 6. Kapitel widmet sich ganz der Forschungstätigkeit von Klaus zu

Fragen sexueller Perversionen, womit er auf das Engste persönliche und

Staatsschutzinteressen zu verbinden weiß. Oder wie es im O-Ton heißt: »Ich

lege Wert auf die Feststellung, dass ich pervers wurde, um dem Sozialismus

zum Sieg zu verhelfen«. Deshalb also Experimente zur Perversionsforschung

130


wie Vergewaltigung von Brathähnchen, Massensodomie mit Kaulquappen im

Kondom, Entwicklung von Lippensimultatoren wie dem „Fellatiomat“, was alles

abzielt auf eine schöpferische Erweiterung von Dr.Schnabls Sexualfibel, deren

Veröffentlichung Klaus für 2005 anpeilt als eine Hommage an Einstein, Freud

und Lenin.

Schließlich ereilt ihn dann doch der Ruf der echten Stasi, er solle sich ins

Ministerium in der Berliner Magdalenenstraße begeben, und zwar in die

Poliklinik. Klaus ist im siebten Himmel! Man braucht sein Blut zur Entwicklung

eines besonderen Medikaments. Begeisterung und Größenwahn packen ihn,

bis Ernüchterung und Angst sich einstellen. Und in der Tat, dieses Experiment

scheint nicht ganz ungefährlich – sicherheitshalber wurde schon vorab sein

Totenschein ausgestellt. Doch lohnt sich das Ganze? Dank der Bluttransfusion

kann zwar das Leben des Generalsekretärs Erich Honecker verlängert werden,

den er nun in der Klinik als Mikado spielenden Greis kennen lernt:

Den ganzen Nachmittag saß er stur und ohnmächtig vor einem Haufen

Stäbchen und hörte nichts als das Knacken des Plattenspielers.... Als die Schwester

kam und das Abendessen servierte, räumte sie das Mikado weg. Es war zehn nach

sechs, und er maulte: Jetzt könne er nicht mehr beweisen, dass er noch nicht am Ende

ist.

Enttäuschung stellt sich bei unserem Helden ein:

Ich wollte nicht wahrhaben, dass ich mein Leben nur einem alten Mann, der

sich hoffnungslos verrannt hatte, geopfert hätte – und laut Totenschein sogar geopfert

hatte.

Das Schlusskapitel ist schon in der Überschrift dem zentralen Ketten-

Glied im Denken und Leben des Klaus Uhltzsch gewidmet, das ja nach seiner

Version eine geradezu historische Dimension annimmt – es heißt: Der geheilte

Pimmel, ein Spiel der Paronomasie mit dem Titel der ersten wichtigen

Erzählung im Werk Christa Wolfs, denn dank dieses Organs schließt sich der

Himmel über Berlin wieder.

Die Handlung spielt im Herbst 1989 und sieht zunächst unseren

Protagonisten beim Verhaften von Demonstranten. Klaus, schon auf dem

besten Weg der Erkenntnis, scheut vor einer Selbstanklage und -verurteilung

keineswegs zurück – »Jawohl, ich bin mies, ich bin Abschaum, ich sollte mich

131


steinigen lassen« – und geht wegen dieses Schuldbewusstseins und gegen den

ausdrücklichen Befehl der Stasi-Zentrale zur größten freien Demonstration aller

DDR-Zeiten am 4. November. Dabei relativiert sich sein Schuldgefühl etwas

und wohl nicht ganz zu Unrecht:

Zugegeben, ich bin der Schlimmste und Abscheulichste,... ich bin der perverse

Stasi, der Kindesentführer... (aber die andern) haben doch alle mitgemacht!... ich

bin...ein Kind aus ihrer Mitte.

Und da hat die Abschlusskundgebung begonnen und er hört die Rede

einer Frau, die er mit jemand anderem verwechselt und die ihn in Art und

Tonfall an seine Frau Mutter erinnert. Eine Rede über die Befreiung der

Sprache, über Wendehälse, über die »hellwache Vernunft« des Slogans Stell

dir vor, es ist Sozialismus und keiner geht weg! Klaus möchte wissen, wer da

spricht, und auch eingreifen, denn ihm passt diese Rede absolut nicht,

„Sozialismustümelei“ nennt er das, da könnte man seiner Meinung nach gleich

übers Wetter reden. Er nähert sich unter Schwierigkeiten der Rednertribüne

stolpert mal wieder auf einer Treppe über einen Transparentstiel, der sich in

seine Genitalien bohrt. Also bedarf’s mal wieder einer Operation, etwas heikler

als das andere Mal, auch schmerzhafter, aber geradezu die Katharsis

befördernd:

Der Schmerz war die erste Stunde der Wahrheit. Ich lernte meine Strafe

kennen und begann, nach Schuld und Verantwortung zu suchen... Es tat so verdammt

weh, aber es war auch so verdammt ehrlich.

Das Ergebnis des chirurgischen Eingriffs ist ein Wachstumsschub des

Penis, der den einst so kleinen in einen supergroßen verwandelt, der den

Träger, seine Mutter, Ärzte und Patienten – ja, wie wir später sehen werden,

überhaupt alle – in maßloses Erstaunen versetzt.

Seine Rekonvaleszenz verbringt Klaus, der natürlich längst erfahren hat,

wem er da auf dem Alexanderplatz unwillig zuhörte, damit, sich mit dem Werk

Christa Wolfs zu befassen. Eine Lektüre, nonkonformistisch und in der

Abrechnung mit den »olympischen Müttern« typisch für seine Generation. Der

geteilte Himmel, Nachdenken über Christa T. und Was bleibt werden punktuell

einer harten literarischen wie ideologischen Kritik unterzogen, einer Kritik, die

132


Teil seiner Selbstkritik ist, der Aufarbeitung von geschichtlicher Schuld, der sich

Klaus ernsthaft stellen will:

Solange sich Millionen Versager ihrem Versagen nicht stellen, werden sie

Versager bleiben... ich bin fast schon wieder froh, dass ich bei der Stasi war. Ich kann

mir die entsprechenden Fragen stellen. Ich habe die Chance, zum Kern meiner

Erbärmlichkeit vorzustoßen.

Damit kommt der schelmische Entwicklungsroman langsam an sein

Ende, dem nur noch das herz-, besser schwanzhafte Eingreifen seines Helden

in der Nacht des 9. November an der Berliner Mauer zuvorkommt. Nach der

Pressekonferenz des SED-Pressesprechers Schabowski am frühen Abend

waren Tausende zu den Grenzübergangsstellen geströmt und warteten da nun

unfähig, »ein Dutzend Grenzsoldaten wegzuschieben«. Da lässt Klaus seine

Hose und Unterhose runter, verblüfft die Grenzer unsäglich, schiebt das Gitter

auf und ruft seinen Landsleuten zu:

Loslaufen müsst ihr selber! Aber wie miesepetrig ich auch bilanziere – der Weg

war frei für einen der glücklichsten Augenblicke deutscher Geschichte.

heldenschaft II (2008)

133


Exkurs: Manfred Jendryschik, Die Reise des Jona

Die alttestamentarische Geschichte vom Propheten Jona wird in diesem

Roman neu gewendet zu einer höchst aktuellen Parabel:

I. In Thyrsa, „nordöstlich von Sinai“, lebt und arbeitet Jona, der von den

Leuten, da er – wie es im „Volks Mund“ heißt – wahr- und weissagt, der „kleine

Prophet“ genannt wird. Dieser aber hat von sich eine viel realistischere Sicht

und beteuert immer wieder, „dass er nicht in die Zukunft zu blicken vermöchte“,

was von den Ratsuchenden entweder als Bescheidenheit oder Absicherung

abgetan wird. Sie suchen, was sie bei ihm denn auch finden, eine „Linie“ für ihr

Leben; und wenn, was er sagt, nicht eintrifft, dann hat man sich „nicht an die

Linie gehalten“! Auf der dritten Seite des Romans wird der Leser sofort

hellhörig: Das ist doch marxistisch-leninistischer, vielleicht sogar SED-

Parteijargon. Und die Parabel nimmt ihren Lauf: Drei Seiten weiter, „nachdem

der letzte Kunde gegangen war“, setzt sich ein Mann neben Jona, der

plauderte und murmelte und sich zu Andeutungen und angedeuteten

Deutungen verstieg und fragte, was denn zu alldem denn so Volksmeinung sei, in

niemanden wie ihn flössen ja gleichermaßen die einheimischen wie die fremdländisch

zu nennenden Ansichten.

Jona verweigert aus Gründen der Berufsethik konkrete Auskunft und

begibt sich wie allabendlich in die „Oase des Himmels“, um sich zu einem Wein

einladen zu lassen, denn es war ihm eine Freude, „einbezogen zu sein in den

Kreis der Dahockenden“ und ihnen Geschichten zu erzählen:

Gegen Mitternacht schwebten Pferde auf Flügeln durch die Luft, verwandelten

sich Frauen in Rosen und Rosen in Nachtigallen und Nachtigallen in Frauen, nährten

sich Kühe von ihren eigenen Eutern und wurden Löwen Angestellte der staatlichen

Zollverwaltung. Wenig später rundete Jona die Erdscheibe zu einer Kugel, die in alle

Himmels Richtungen zu rollen vermochte, und die Männer hielten sich tapfer an ihrem

Gestühl fest, um nicht unterwegs und für immer verloren zu gehen...

So der Alltag im Single-Dasein Jonas’, der es aber auch nicht verabscheut,

ab und an der Frau eines Rinderhirten beizuliegen.

Eines schönen Tages nun

134


versetzt ihn ein mehr zu ahnendes als mit den Ohren aufzufangendes Sirren in

eine Unruhe, die ihm das übliche in den Tag Gleiten verhinderte, so dass er sich eher

erhob und noch die letzten der Tätigen für den Weg zur Arbeit ihre Hütten verlassen

sah. Sollte etwa, so fragte er und wischte sich die verquollenen Augen, ein Höheres ins

Haus stehen, eine das Leben neu bestimmende Meldung, gar eine Botschaft?

Und in der Tat, was sich hier im Sirren, Schwirren, Rauschen und Geheul

von Stürmen ankündigt, ist kein anderer als Gott Jachweh mit seinem Auftrag:

„Gehe hin zu der leidigen Stadt Ninive und verkündige ihr, dass sie mich seit

langem ärgert und dass sie untergehen wird in vierzig Tagen; Ende.“ Abgang

Gottes. Ratlos, überwältigt bleibt unser kleiner Prophet zurück:

Mein Gott, murmelte es in Jona, und es fügte sich hinzu: Warum hast du mich

verlassen, und weiter: So rasch. Und er fiel zu Boden und begann zu schreien und um

sich zu schlagen und fiel in eine Bewusstlosigkeit.

Jona weiß aber auch: „Mit Gott diskutiert man nicht“; auch wenn ihm

schwere Zweifel kommen, warum nun gerade er für diese Mission auserkoren

sei. Doch Reisevorbereitungen stehen an, man muss sich verproviantieren.

„Und was ist der wichtigste Proviant? Die Kleidung“. Also geht’s zum Herrn

Kaufhausbesitzer Schloime, den Jona in einem Akt der Selbsterkenntnis („nicht

ich bin der wahre Prophet“) zum „Warenpropheten“ befördert. Dann geht es zur

Zollstelle, wo Jona eine andere (Staats-) Lektion erhält: „Wir sind das freieste

Land in einer unfreien Welt“, rief zur Begrüßung der Zöllner, „der doch nur das

Beste will für einen Jeglichen, auch wenn die Absage häufigste Amtshandlung

ist“. Mit Jona wird nun der Leser hineingeführt in den behördlichen Dschungel:

er lernt zu unterscheiden zwischen drei Antragsformen –„Ausreisender, Erstreisender,

Dauervisum“ –, die sich besonders hinsichtlich der „Beibringung der

Papiere“ differenzieren:

So hätte der Ausreisende neben der Geburts- und der Familienurkunde und

den Passoportos das milizionäre Führungszeugnis, die Austragung aus dem

Grundbuch, die Auflösung der Versicherungspolicen, die Tilgung der Schuldscheine,

den derzeitigen Kontostand, eine präzise Liste des zu Verzollenden, die Unterlagen zur

finanziellen Beihilfe für die Hinterbliebenen und dreihundert Schäkel in der Währung

des anzureisenden Landes, außerdem eine signierte Erklärung der letzten drei

Arbeitgeber zu erbringen, während dem Erstreisenden lediglich bliebe, eine

Leumundsbescheinigung von der Straßengemeinschaft herbeizutragen, das Übrige

würden sie sich schon innerhalb der vier Monate üblicher Erwartungsfrist selbst

besorgen, hinwiederum habe man für ein Dauervisum nur die Privilegiertensteuer und

eine Spende für den Blauen Halbmond zu entrichten.

135


Als der Zöllner nun noch das Reiseziel erfährt – Ninive wird von ihm als

„feindliches Ausland“ deklariert –, sieht sich Jona in dessen Augen als Verräter

und Agent enttarnt. An dieser Stelle folgt – und die die Parabel Entschlüsselnden

sehen sich bestätigt – ein Exkurs zu den „Grenzsicherungen“ der Stadt

Thyrsa, die von drei (!) Mauern eingeschlossen ist, was ihren „mählichen Tod“

gewiss mache.

So nimmt denn Jona Abschied von Nachbarn, Kneipenkumpanen und

seiner Geliebten, wirft einen (vor-)letzten Blick auf die heimatliche Stadt und

macht sich auf den Weg zum Eremiten Methusalem , um sich mit ihm, der in

enger Verbindung zu Gott steht, über dessen Beschluss zu beraten. In der

Einsicht, sich fügen zu müssen, kommt ihm eine quasi traumatische Vision vom

Propheten Jeremias und seinem Schreiber Baruch, die in Erfüllung ihres

Auftrags von den Empfängern der Botschaft Gottes verfolgt, aber auch dank

seines Schutzes gerettet wurden.

Vor seinem Aufbruch, auf den er sich mit Leibes- und assyrischen

Sprachübungen vorbereitet, muss Jona noch drei Versuchungen standhalten:

eine Frau möchte ihm ein Paket für ihren Sohn mitgeben, aber das könnte bei

der Grenzkontrolle Probleme bringen; ein exilierter Verschwörer aus Ninive

versucht ihn mit einer zu überbringenden illegalen Nachricht; ein anderer

geheimnisvoller Versucher würde Jona gern seinen Auftrag abkaufen, was

diesen – ganz nebenbei – an Praktiken in „Staaten der geordneten

Mangelwirtschaft“ erinnert, wo man „nicht das Gekaufte verkaufte, sondern die

Anmeldung für den Kauf“.

Auf den letzten zwanzig Seiten des ersten der drei Teile beginnt nun die

Odyssee des Jona, der an einem bestimmten Punkt uns, d.h. dem Erzähler und

den Lesern, entschwindet. Der Erzähler, sich selbst „Autor“ nennend, nutzt dies

als Gelegenheit zu einem Exkurs über Raum und Zeit, den er abbricht, denn

„ich höre Schritte aus der Wüste“. Aber das bleibt eine akustische Fata

Morgana, so dass drei leere Buchseiten lang unser Protagonist auf sich warten

lässt. Doch dann: „Ah, da ist er ja, endlich, wieder.“ Das Wiedererscheinen von

Jona ist dem Erzähler Anlass, darüber nachzudenken, welcher „Kategorie von

Propheten“ er wohl zuzurechnen sei: „schön auffallend“ wie die „Klumpfuß“-

Agitatoren à la Goebbels oder „auffallend schön“ wie die „Knechte der Utopie“

136


in Gestalt eines Che Guevara? „Also kommt er so daher, geht so dahin, wie ein

Zitat“.

Jonas weiterer Weg durch die Wüste – „Und Jona, der geht.“, „Und Jona

geht“, „Und Jona geht“, „Und Jona ging“ – ist angereichert durch verschiedene

Kleinst-Exkurse historisierender Art, bis er schließlich in einem Hafen anlangt

und sich einschifft, denn er will ja seinem Auftrag (-geber) entkommen. Ins

Gespräch mit seinem Gott Jachweh versunken, reflektiert Jona seine Lage,

flieht vor dem heraufziehenden Unwetter in den Bauch des Schiffes und in eine

lutherische Sprache – es ist Hesekiel, der aus ihm spricht –, bis er unliebsam

geweckt und an Bord getrieben wird, wo er – in Kenntnis seiner Schuld – den

Matrosen eine letzte Geschichte, seines „Lebens Lauf“, erzählt, seine „Angst“

vor Gottes Auftrag bekennt und bittet, zur Beruhigung der Wasser als Opfer ins

Meer geworfen zu werden. Nun ist er „für immer entschwunden“.

II.

Natürlich ist es verständlich, dass ein Jeglicher an dieser Stelle den

berühmten Bericht des Jona über seinen Aufenthalt im Riesenbauch des

Riesenfisches erwartet.

Doch „Zweitens oder im Bauch“, das nicht einmal zwanzig Seiten lange

und damit kürzeste der drei Kapitel, hält sich damit nicht auf, sondern uns mit

mehr oder minder fingierten literarhistorischen und anderen wissenschaftlichen

Recherchen z.B. über den Urtext des Jona oder seine Bauch-Erfahrungen, mit

Reflektionen des Erzählers, der hier tatsächlich mit dem Autor identisch wird,

über das Verhältnis Inhalt-Preis des vorliegenden Buches, was alles schließlich

zur Auflösung der Erzähl- und Textkohärenz führt und sich die Fußnoten so

sehr in den Vordergrund drängen, dass sie zum eigentlichen Text werden, der

sich und uns – auch mal im Zitat – nochmals mit der Urtext- und damit mit der

Eckermann-Problematik beschäftigt. Schließlich: „Irgendwie, habe ich den

Eindruck, endet dieses Kapitel, mit seinen vielen und überraschenden

Verweisen und Nebenverweisen, allmählich im Chaos“, weshalb es nach einem

Grußwort auch abgebrochen wird.

137


III. Nun endlich in Ninive angekommen, macht Jona zuerst einmal die

unliebsame Bekanntschaft mit dessen Grenzwächtern, die ihn recht

nachdrücklich einem Verhör unterziehen: „Und der Soldat trat ihm auf die rechte

Hand und sagte, sanft leise zischend: Bei uns Grenzern kommt keiner durch“.

Als Jona bekennt, eine Botschaft überbringen zu wollen, bekommt er zu hören:

Etwas genauer wollen wir nicht werden? fragte der Soldat (und er) hörte die

Gefahr aus diesem väterlichen Wir, diesem Wir der Wunderheiler Tempelvorsteher

Oberpriester, und er sagte: Nur vor dem König.

Also wird das Gespräch von einem Ranghöheren fortgeführt, der nach

und nach Sitten und Gebräuche Ninives demonstriert:

Eigentlich sind wir ein gastfreundliches Land, in den Zeitungen steht es, unser

König spricht davon, in den Liedern wird es besungen, wir haben sogar Tagessprüche

zum Thema... Das Volk hier ist so bodenständig, dass es nicht reisen will... durch die

Bodenständigkeit des Volkes sind wir ganz davon abgekommen, die entsprechenden

Papiere herzustellen... Man sagt, dass viele Reisen verhindere ernsthafte Arbeit... Ich

kenne das Wortspiel von der Weltanschauung, einige unserer jungen Sitzenbleiber

sagen es, um die Schule zu schwänzen.

Nach der eigentlich eher rhetorischen Frage des Offiziers: „Wie seid Ihr

eigentlich zu uns gekommen, so unbemerkt?... Ich habe da einige Freunde bei

den für des Staats Sicherheit zuständigen Organen, die das sehr interessiert“,

erfährt Jona von diesem, dass bis auf zwei alle Etappen und Vorkommnisse

seiner Reise vom niniveschen Geheimdienst vorhergeplant und manipuliert

worden sind, selbst der Riesenfisch „ein Bau von uns“ ist und Kytara, die Frau,

die Jona im Walfischbauch liebte, eine alttestamentarische Mata Hari. Selbst

Gottes Auftrag an den kleinen Propheten war den Sicherheitsorganen bekannt,

ja man kam mit Jachweh sogar zur Kooperation, als Jona einmal aus dem Text

verschwunden war.

Der Status des Sicherheitsdienstes in der Gesellschaft Ninives wird so

umschrieben:

Im Hauptgesetz wurde einmal festgelegt, dass die höheren Etagen uns

beherrschen sollen und nicht wir sie, und so bestimmt diese Einbildung seit

Jahrzehnten die höchsten Köpfe, auch wenn, dies im Vertrauen, es oftmals

Dummköpfe sind. Starr halten sie sich an ihren Richtlinien fest, selbst wenn wir ihnen

ganz uneigennützige Ratschläge geben, und krähen allweil: Wir sind die Vertreter des

138


Volks, nicht ihr. Fehlt nur noch, dass sie eines Tages den Spruch verbreiten, sie seien

das Volk selbst...

Gegenüber dieser Allmächtigkeit spürt Jona die ganze Jämmerlichkeit

seines beobachteten und gelenkten Verhaltens. Doch tröstet ihn der Offizier,

dass er sich „nicht jämmerlicher als jeder Kopfarbeiter“ verhalten habe, denn:

Die sind zu schmerzempfindlich als Opfergaben wie als Führungskräfte, sie

haben zu viele offene Nervenenden, weil sie nicht nur den Nagel im Fleisch spüren,

sondern sich auch noch ausmalen, wie es ist, wenn der Nagel ins Fleisch getrieben

wird... Das ist’s, was ich meine: diese schreckliche, erschreckende Fantasie. Freilich

eine Fantasie, die wir nötig haben, die uns die vertracktesten Situationen ordnet... das

verlangt einen raschen Überblick, das Erfassen der kompliziertesten Gegebenheiten

und eine Kette von Lösungsvorschlägen, dafür sind die Kopfarbeiter wichtig, (die er an

anderer Stelle bezeichnet als ein) Rudel von Utopisten, die uns neue Gesetzestexte

ausarbeiten, Regierungsvorschläge, Staatsreligionen, Gesellschaftskonturen, Entwürfe

des künftigen Menschen...

Nach diesem Verhör („Wen ich verhöre, der verhört sich nicht“) wird zu

Jonas Schrecken noch der Besuch des Scharfrichters angekündigt, der aber

nicht ganz unabsichtlich eine Zeit lang auf sich warten lässt, was zu einem

biographischen Ausflug zu den Berufsanfängen des kleinen Propheten genutzt

wird. Dann aber: Auftritt des martialischen Scharfrichters, der unter derben und

brutalen Sprüchen seine Folterinstrumente dennoch nur erst einmal zeigt.

Und es kommt eben noch ganz anders: Jona, der das Schlimmste

befürchtet, wird von drei Schönheiten in Empfang genommen, geölt und neu

eingekleidet, wobei sich „die Anführerin“ auch noch zur erotischen Entspannung

anbietet. Dann geht es in der Sänfte, von Kamelen getragen, auf einen langen

Marsch durch die Wüste, an dessen Ende die Ankunft in der Stadt Ninive steht,

deren Andersartigkeit, ihre „Rechtwinkligkeit“, Jona jedoch nicht davon abhält,

an der Rechtmäßigkeit der Absichten Jachwehs zu zweifeln.

Jubelnde Menschenmassen („Hoch lebe Jona. Ewige Freundschaft mit

Jachweh!“) erwarten Jona auf dem Platz vor dem Königspalast, dem „Großen

Viereck des irdischen Friedens“. Im „Großen Palast des Reiches“ (im

Volksmund: „Reicher Ballast der Größen“) empfängt ihn der König, dem sich

Jona in einer Serie von Kotaus nähert, was eigentlich überflüssig ist, denn – so

der König – „bei uns ist jeder Diplomat willkommen, wenn er nur Ninive

anerkennt, da mag er kommen vor mich, wie er nur will“. Der Regent, hoch in

den Jahren, altersdünn, schwerhörig weiht nun mit seiner Fistelstimme den

139


Gast – wie diesem schon bei Grenzübertritt geschehen – in die Eigentümlichkeiten

des Landes ein, was sich zusammengefasst so lesen lässt:

Wir lieben nämlich das Geradlinige. Keine Umwege, keine krummen Wege,

keine Auswege, nur geradewegs.. Immer die gerade Linie, die hält die Welt

zusammen. Sich immer an die Linie halten... Darum bauen wir auch so – Linie zu

Linie...Nicht allweil diese Bögen wie im Abendland, ja. Wir sind nämlich das

Morgenland, ja, das sind wir... Und unsere Menschen sind glücklich dabei... so

glücklich wie es in den Bekanntmachungen steht... Die Menschen brauchen einen

Glauben... den Glauben geben wir ihnen, unseren Menschen, da achten wir drauf.

Nach dieser Ouvertüre lässt der König unter Protesten einiger, die

meinen, „sie seien das Volk“, den Thronsaal räumen, der allerdings auch leer

nicht abhörsicher ist. Jona ist von dem Vertrauen und dem Du, mit dem ihn der

König anspricht, so eingenommen, dass ihm plötzlich klar wird,

dass die Macht den Kopfarbeitern nur den kleinen Finger zu reichen braucht,

und schon sind sie, ob des Einbezogenseins, bereit, sich selbst und andere zu opfern.

Er kann nun seine Botschaft überbringen, die dank des Geheimdienstes

zwar nicht mehr ganz neu ist, trotzdem aber noch dem König den Schweiß ins

Gesicht treibt, so dass er in einen tiefen Schlaf fällt. Danach wird das Gespräch

weitergeführt („Ich rede gern mit den Philosophen, sagte der König“) über die

Macht, das Prinzip des divide et impera, bis schließlich der Große Rat

eingelassen wird, der auf die von Jona vorgetragene Botschaft zutiefst getroffen

reagiert: von „Schweinerei“ über „riesengroße Verschwörung“, „Währungskrise“,

„dem Volk verschweigen“ bis zu „dem Propheten das Schwert in den Kopf

drücken“. Schließlich schlägt der König vor: „Wir könnten es mit Demut

versuchen“. Die Krisensitzung, für eine Seite von einem Exkurs zum

Grenzoffizier, der in Wirklichkeit Marschall ist und dem Kabinett angehört,

unterbrochen, dauert noch einige Stunden an und wird mit dem allseits

begrüßten Vorschlag zu einem Festmahl, „der Hohen Schule der Verdrängung“,

abgeschlossen. Die folgende Nacht wird Jona von einer wahren Gottesqual

gepeinigt.

Am Morgen dann lässt ihn der Bittbesuch eines Widerstandskämpfers

erwachen, der im Namen seiner Vereinigung Jona auffordert, sich an die Spitze

der Opposition gegen die Tyrannei zu stellen. Jona lehnt aus Erfahrung ab. Es

folgt am Nachmittag ein Gespräch mit dem Marschall, das mit einer Körper-

140


massage der beiden endet, bei der Jona geraten wird, sich der in ihn verliebten

Agentin Aischa anzunehmen, und dem Marschall unwillentlich der Besuch des

Oppositionellen verraten wird.

Das Fest der Kompensation gestaltet sich zu einer wahren Orgie mit

Wein, Weib und „Volks Kunst“, einer Strip-Tanz-Nummer, deren Ausführende

auch zu anderem bereit sind. Auf diesem Gelage lässt sich Jona über das

obwaltende Gleichheitsprinzip Ninives aufklären, was nicht so einfach ist, wie

der Versuch des Finanzministers zeigt:

Da bei uns nicht das niederdrückende System der Hervorbringung der

Unterschiede durch das Monitäre herrscht, sondern die aufstrebende Anerkennung der

Besten des Volkes durch das Volk, so gibt es unter den Gleichen, nein, über ihnen, die

Gleicheren, und unter den Gleicheren, unter uns gesagt, die Gleichsten, wie unter uns,

ich meine: zwischen uns, also ich meine...: mit uns, aber doch selbständig ja und ja, ich

meine (und er stockte und würgte) demnach als Allergleichsten den König... Also eine

Gleichheit sondersgleichen.

In der Nacht nun endlich „lag er ihr bei“, der Aischa, die ihn nach allen

altbiblischen Regeln der Kunst zur Liebe stimuliert:

höckerhängungen (2008)

141


Jedenfalls, Jona stand und Jona wartete, doch nichts ereignete sich; bis Aischa

sich entkleidete und dann ihn, den etwas tollpatschig unschlüssig Dahockenden, und

dann sich salbte. Dies vollzog sie in so sich biegender und wiegender und windender

Weise, um, zum Beispiel, jeden Fleck ihrer Schönheit zu erreichen, und hernach

wieder schneller und grobstrichig flächig die Landschaften ihres Körpers überfliegend,

dass Jona spürte, es erhob sich, wie er noch meinte, gegen ihn, was zum Wachsen

geschaffen war. Jona glaubte, dies verdecken zu müssen durch angestrengtes sich

ablenkendes Denken an äußerst langweilige, der Dümmlichkeit sich nähernde

Kamelaugen und an, die es auch gibt, stumpfsinnige Wüstengegenden, doch nichts

kam in sein Hirn als die sich so prachtvoll wölbenden Höcker der Getiere und vom

Wind spitzkeglig geformte Sandhügel und allmählich alle Rundheiten der Welt, so dass

er für Momente gar glaubte, auch die Erde könne keine Scheibe sein, sondern nur eine

Kugel; und der Anhänger seines Gemächts ließ sich nun nicht mehr aufhalten, er

steilte sich immerhin in eine Fünfundvierzig- bis Fünfziggradschräge mit aufstrebender

Tendenz (und Jona war, dies nebenbei, nicht mehr der Jüngste, ja von den vielen

Wüstengängen schon ziemlich zerledert). Aischa aber schien diese Art des

Aufbegehrens, der Müpfigkeit für selbstverständlich zu nehmen und als gehörige

Aufmerksamkeit ihrem Leib gegenüber; sie ölte den Mann und das Männliche mit

umsichtiger Zartheit und lächelnder Freude und forderte ihn auf, ihr Gleiches zu tun,

und Jona entdeckte Partien, bei denen ihm die Hand fremd wurde, jedenfalls meinte er,

nicht er führe sie, sondern die Haut der Aischa...

Wir wollen die beiden diskret allein lassen bei ihrem Spiel auf diesen vier

Seiten des Romans, die zum Schönsten gehören, was die deutschsprachige

Nachkriegsliteratur an erotischer Darstellung zu bieten hat. Im anschließenden

Disput der beiden Liebenden über das Kundschaften stellt sich heraus, dass

Aischa eine mit allen Argumenten bestückte Geheimdienstlerin ist, die auf jede

Frage Antwort weiß. Als schließlich

Jona meinte, dass doch des Fragens würdig wäre, was das für ein Volk sei,

dass sich so... dem Betätigtwerden nicht nur, sondern auch dieser Tätigkeit (des

Spitzelns, PK) unterwerfe, was für ein unterwürfiges Volk“, entgegnet die Aischa ihm:

„Aber wieso denn unterwerfen,... kannst du dir denn nicht vorstellen, dass es ein

stolzes Volk ist, ein selbstbewusstes, das sich zu schützen denkt...

Auch in der Frage freier oder manipulierter Wahlen kommen sie zu

keiner Einigung, gewiss aber „auf dem Laken“. Und Jona merkte, „dass ihm der

Schwanz durch den Kopf wuchs“ und: „diese Liebe löst nichts... sie ist ein

Ersatz.“

Entgegen der Vereinbarungen im Rat über den Zeitpunkt der öffentlichen

Demutskampagne eröffnet sie der König selbständig und sofort, in Sack und

Asche gehüllt, den Massen der Stadt zurufend: „Wir haben gesündigt, meine

Kinder. Alle. ... Tuet Buße.“ Auf die eingetretene Stille folgt unsägliches

Geschrei und Geschimpf – ein großes Durcheinander.

142


Der Palast aber schweigt, „es schien, als hätte sich die Regierung

verkrochen“, ein scheinbares Machtvakuum, ein Zeitloch, das Jona zur

Reflektion nutzt darüber,

dass dieses Gottesurteil nur den Vorurteilen Genüge tut, die umlaufen in der

Welt... Ninive war nur ein bisschen streitsüchtiger und -suchender und kriegerischer als

andere Metropolen, nur ein bisschen geldgieriger, nur ein bisschen erpresserischer,

nur ein bisschen hinterhältiger.

Am Abend hört Jona, dass jener Oppositioneller, der bei ihm war,

gefoltert worden ist. Er stellt den Marschall deshalb zur Rede, der ihm den

Mann als Sklaven vermacht – und Jona begreift, „wie sehr der Marschall mit

ihm spielte und wie gut er auf ihn vorbereitet gewesen sein muss.“ Der kleine

Prophet sucht den blutenden Gefangenen auf und trägt ihm die Freiheit an, die

der mit der Frage „Frei wofür?“ abweist, denn er sieht keine Alternative als den

Tod. „In der Nacht schrie Jona zu Gott.“ Immer klarer wird ihm, dass er nichts

anderes war als „ein Überbringer von längst oder andeutungsweise Besprochenem,

Bekanntem, ...ein SchauSpieler wider Willen, in höherem Interesse, ein

benutztes Medium“, das in die Geschichte eingehen würde als der eigentliche

Schuldige am Untergang Ninives, denn er hatte „den Abgesang“ eingeleitet.

Die politisch Mächtigen sind inzwischen heftig zerstritten, weil, als der

König die Sack-und-Asche-Linie zelebrierte, an anderem Ort von Priesterschaft

und Großem Rat ein Tanz um das Goldene Kalb inszeniert worden war. In der

Stadt herrscht Chaos, das der Marschall unter Kontrolle zu halten versucht:

Bandenunwesen, endlose Orgien bei den Reichen, Fluchtbewegung bei den

unteren Schichten – doch alles nur für zehn Tage, dann stellt sich eine „Phase

der Nachdenklichkeit“ ein „mit den Nuancen der Katerstimmung oder der

Niedergeschlagenheit“, eine „Zeit des Umschwungs“, in der – auch wirtschaftlich

– Sack und Asche Hochkonjunktur machen und damit die Krise

beschleunigen. Drei Wochen nach Jonas Ankunft muss sich der Große Rat

eingestehen, dass er am Ende ist:

Finanziell. Wirtschaftlich. Politisch. – So können wir uns begraben? – Wir sind

es schon, sagte der Finanzminister. Nicht der Untergang, sondern das Gerücht von

ihm hat uns ruiniert.

143


Und da geschieht – hinter Jonas Rücken – das Unfassbare, das der

Prophet nicht von Gott, sondern auf der Straße erfährt: Ninive bleibt verschont.

Jona wird als Schwarzseher verlacht, im Rat debattiert man den neuen

Aufschwung der Stadt und „Jona rief im Zorne zu Gott“, denn er fürchtet um

seine Reputation. Es kommt zu einer längeren Auseinandersetzung zwischen

den beiden, während der Gott bekundet, dass er sich eines einwandfreien

Mannes bedienen musste, um seiner Drohung Glaubwürdigkeit zu verleihen

(„Wenn man mit Menschen...umgeht..., so muss man listig sein“), und Jona auf

seinen Einwand hin, sein Ruf sei ruiniert, zu bedenken gibt, ob er deshalb eine

Stadt untergehen lassen wolle.

Da stirbt der König. Jona wird in den Palast gerufen und befürchtet

wegen seiner Falschmeldung das Schlimmste. Doch wieder einmal geschieht

das Gegenteil: Man trägt Jona an, die Staatsgeschäfte zu leiten, man sei selber

in den Augen der Weltöffentlichkeit zu diskreditiert, auch die Nachbarländer

sähen einen Wechsel positiv. Man brauche einen wie ihn – „eine Gallionsfigur“

platzt da der Herkulesartige dazwischen.

Und Jona schwirrte der Kopf. Was, dachte er, für ein Ansinnen! Was für ein

Wahn! Was für eine Möglichkeit! Und wie werden sie mich benutzen! Aber wie könnte

ich sie benutzen! Ein Musterstaat, ja.

Und also wird er „Erster“, nicht König mehr: „wir haben den Thron... drei

Stufen heruntergesetzt.“ Zunächst noch mit allen Ehren überhäuft, kommt es zu

Problemen im Rat, als Jona versucht, Innovationen einzuführen, auch zu

Regierungskrisen, was Jona veranlasst, den Rat zu übergehen und zu Erlassen

des Ersten überzugehen.

Die Kunde von seinem Aufstieg zur Macht führt zu einer Einwanderungswelle

seiner judäischen Landsleute, was auch anfänglich in Ninive begrüßt, dann

aber als eine Form der Vertreibung und Besetzung seitens der Einheimischen

gesehen wird. Unruhe und Schwierigkeiten, besonders Fremdenfeindlichkeit

nehmen weiter zu, Jona hat die Lage nicht mehr im Griff. Was das Volk denkt,

von ihm denkt, hört er heimlich in einer Taverne: „der Ausländler, der.

Verspricht uns das Blaue vom Himmel herunter, der Strolch, und bringt nichts

als Chaos, das bringt er.“ Mittlerweile haben der Marschall und der Herkulesartige

zur Wiederherstellung von Ordnung und Sicherheit ein „Schreckensregime“,

einen „Polizeistaat“, errichtet. Als auf einer folgenden Ratsversamm-

144


lung keiner der Vorschläge des Ersten auch nur ernsthaft in Erwägung gezogen

wird, weiß Jona, „dass er schon entmachtet (ist)“. Bevor er sich zum Abdanken

entschließt, ist als neuer König bereits der Marschall eingesetzt. Jona dagegen

wird deutlich zu verstehen gegeben, er solle (sich) ein Ende machen: Der

Marschall überreicht ihm ein Fläschchen und ein Stilett...

145


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148


Personenregister

A

Ahrends, Martin 122

Anderson, Sascha 114

Anouilh, Jean 43

Apitz, Bruno 20,40

Arendt, Erich 24,48,74

Asken, Katrin 116

B

Bachmann, Ingeborg 61,86

Bahro, Rudolf 70

Barlach, Ernst 33

Barthel, Kurt (KUBA) 28

Bartsch, Kurt 63,107

Bathrick, David 45

Becher, Johannes R. 10,19,22,24,27,28,45,48,49,58,66,88

Becker, Hannelore 121

Becker, Jurek 55,74,79

Beckett, Samuel 23,75,77

Biermann, Wolf 21,39,52,53,63-65,70,71,73,74,107,110,113,114,120,122,124

Bloch, Ernst 24,102

Bobrowski, Johannes 50,51,55,56

Böll, Heinrich 42,53,114,116

Brandt, Willy 71

Brasch, Thomas 74,78,79

Braun, Volker 21,34,35,53,63,70,71,74,75,79,84,100,102,112,115,117,119,120

Brecht, Bertolt 14,21,24,25,27,28,33,42-49,64,100

de Bruyn, Günter 21,74,75,83,108,109,120,122

Bredel, Willy 24

Brussig, Thomas 117,122,123

Büchner, Georg 113

Burmeister, Brigitte 117,119,122

C

Capote, Truman 80

Chiarloni, Anna 10

Cibulka, Hanns 63,84

Claudius, Eduard 36,40,41,46

Coward, Noel 43

Czechowski, Heinz 63,103

D

Dahn, Daniela 79

Damm, Sigrid 89

Delius, F.C. 118

Delon, Alain 129

Dessau, Paul 33

Dieckmann, Christoph 116,124

Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 92

Drawert, Kurt 116,122

Duras, Marguerite 61

149


E

Eckart, Gabriele 79

Eckermann, Johann Peter 137

Einstein, Albert 131

Eisler, Hanns 14,15,22

Eliot, Thomas Stearns 43

Emmerich, Wolfgang 19,83,114,115

Endler, Adolf 58,63,107,116

Erb, Elke 63,74,103,104

Erpenbeck, Jenny 117

F

Faktor, Jan 105

Faulkner, William 42,85

Feuchtwanger, Lion 24

Freud, Sigmund 131

Fries, Fritz Rudolf 60,74,108,112,120

Fuchs, Jürgen 18,21,79,121

Fühmann, Franz 37-39,68,74,77,90,120,121

G

Garbe, Hans 41

Gillespie, Dizzie 60

Goebbels, Joseph 136

Goethe, Johann Wolfgang 23,24,45,72,89

Gorbatschow, Michail 33,69,75,113

Grabner, Hasso 47

Grass, Günter 42,75,114,116,117,124

Gratzik, Paul 83

Greiner, Ulrich 113

Guevara, Ernesto Che 137

Günderrode, Karoline v. 10,89

H

Hacks, Peter 45,74

Havemann, Robert 20,70

Hein, Christoph 21,75,83,86,100,117,119

Heine, Heinrich 20, 24, 49,64

Hennecke, Adolf 31

Hermlin, Stephan 28,53,74,88,112

Hesekiel 137

Heym, Stefan 20,24,36,41,42,53,71,74,86,88,107,112,120

Hilbig, Wolfgang 83,92,94,122

Hitler, Adolf 25,56

Hochhut, Rolf 118,119

Hölderlin, Friedrich 89,102

Hoffmann, E.T.A. 39,77

Honecker, Erich 53,64,69,71,131

Huchel, Peter 24,28,29,48,50,53

J

Jakobs, Karl Heinz 107

Janka, Walter 86,115

Jendryschik, Manfred 122,134

Jens, Walter 29

Jentzsch, Bernd 74

Jirgl, Reinhard 116

Johnson, Uwe 42,43,60,109,120

150


Joyce, James 23,42

K

Kafka, Franz 23,53,92

Kant, Hermann 20,58,74,107

Keller, Gottfried 24

Kerckhoff, Susanne 121

Kirsch, Rainer 63,71

Kirsch, Sarah 53,63,66,67,68,74,78,120

Kleist, Heinrich von 23,44,89

Königsdorf, Helga 16,81,87,109,112,116,119

Kolbe, Uwe 104,105,106

Krauß, Angela 83

Krawczyk, Stefan 21

Kuffel, Eveline 121

Kunert, Günter 49,50,53,54,71,74,89,108,116

Kunze, Reiner 18,21,63,64,71,74,79,80,121

L

Laclos de, Choderlos 46

Lambrecht, Christine 78

Lemke, Jürgen 78

Lenin, Wladimir Iljitsch 131

Lessing, Gotthold Ephraim 23,24

Löffler, Anneliese 35

Loest, Erich 49,83,118,122

Lukács, Georg 33,34,35

Lenz, Jakob Reinhold Michael 45,89

Luther, Martin 137

M

Mann, Heinrich 24,49

Mann, Thomas 24

Maron, Monika 84,116,117,122

Marx, Karl 33

Masters, Edgar Lee 49

Maurer, Georg 48

Mayer, Hans 36,79

Mickel, Karl 58,63,64

Mielke, Erich 128

Mitscherlich, Alexander 61

Molière, Jean Baptiste 45

Morgner, Irmtraud 60,61,77,80,90,91,112,120

Müller, Christine 78

Müller, Heiner 10,20,46,47,49,53,71,74-77,100,101,112,114,115,120,122

N

Neutsch, Erik 58,74

Neumann, Gert 117

Novak, Helga M. 86,121

P

Papenfuß-Gorek, Bert 105

Petersen, Jan 24,88

Petzold, Jutta 121

Plenzdorf, Ulrich 71-74,79

Plievier, Theodor 24

151


Poche, Klaus 107

Poppe, Gert 9

R

Ravel, Maurice 82

Reimann, Brigitte 37,58,80

Reinig, Christa 121

Remarque, Erich Maria 24

Renn, Ludwig 24

Rennert, Jürgen 102

Rosenlöcher, Thomas 105,117

S

Saeger, Uwe 107,119,122

Sartre, Jean Paul 43

Schabowski, Günther 133

Schädlich, Hans Joachim 118,122

Schedlinski, Reiner 105

Schelling-Schlegel, Caroline 89

Schiller, Friedrich 23,24,113

Schirrmacher, Frank 113,114

Schlesinger, Klaus 107,122

Schneider, Peter 119

Schneider, Rolf 74,107

Schubert, Dieter 107

Schubert, Helga 81

Schulze, Ingo 117,119

Schütz, Helga 54,74,117

Sebald, W. G. 13

Seghers, Anna 20,24,25,26,40,87,89

Seyppel, Joachim 107

Shakespeare, William 45,46

Shdanow, Andrej 33

Sparschuh, Jens 116

Stanislawski, Konstantin 43

Stalin, Josef W. 32,33,36,47,48,86

Strittmatter, Erwin 45,58,86,109,116

Strittmatter, Eva 109

Struzyk, Brigitte 89

Suhrkamp, Peter 42

T

Tetzner, Gerti 80

Trakl, Georg 39

Trolle, Lothar 99,106

U

Ulbricht, Walter 36,52,71

V

Villon, François 64

W

Wagenbach, Klaus 64

Wagner, Bernd 106,119

Walser, Martin 53

152


Walther, Joachim 69

Walther, Peter 123

Wander, Fred 55

Wander, Maxie 78

Weber, Hermann 32

Weiss, Peter 53

Weigel, Helene 45,88

Williams, Tennessee 43

Wittstock, Uwe 114

Wolf, Christa 10,11,13,21,26,37,58,59,60-62,74-77,84-86,89,90,112-114,120,122,124,

131,132

Wolf, Friedrich 24,43-45

Wolf, Gerhard 20,74,89

Wolf, Markus 115

Wolter, Christine 81

Woolf, Virginia 61

Worgitzky, Charlotte 81

Wünsche, Günter 63

Z

Zinnemann, Fred 24

Zeplin, Rosemarie 81

Zweig, Arnold 24

153


154


QUELLENVERZEICHNIS DER TEXTE

Wolf Biermann, "Rücksichtslose Schimpferei", aus: Die Drahtharfe, Berlin (West) 1965

Johannes Bobrowski, "Mäusefest", aus: Mäusefest/ Der Mahner, Berlin (West) 1965

Volker Braun, Hinze-Kunze-Roman, Frankfurt/M.1985

---, "Die Industrie", aus: Gegen die symmetrische Welt, Halle/Leipzig 1974

---, “Das Eigentum”, Die Zickzackbrücke. Ein Abrißkalender, Halle 1992

Bertolt Brecht, "Vergnügungen", aus: Gesammelte Werke, Frankfurt/M. 1964

Thomas Brussig, Helden wie wir, Berlin 1996

Elke Erb, “Widerspiegelung”, aus: Der Faden der Geduld, Berlin (DDR) 1978

Franz Fühmann, Das Judenauto. Erzählungen, Berlin (DDR) 1962

Christoph Hein, Der fremde Freund, Berlin und Weimar 1982

Wolfgang Hilbig, Der Brief, Frankfurt/M 1985

---, »Der Geruch der Bücher«, in: Text und Kritik 123, Juli 1994

---, Ich, Frankfurt/M, 1995

---, Die Übertragung, Frankfurt/M 1989

---, Die Weiber, Frankfurt/M 1996

Peter Huchel, "Chausseen", aus: Chausseen Chausseen, Frankfurt/M. 1963

Manfred Jendryschik, Die Reise des Jona, Halle 1995

Uwe Johnson, Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt 1980

Sarah Kirsch, "Ich wollte meinen König töten", aus: Zaubersprüche, Ebenhausen 1973

Helga Königsdorf, "Bolero", aus: Meine ungehörigen Träume, Berlin und Weimar 1978

Uwe Kolbe, "S-Bahn-Fahren für dich", aus: Abschiede, Berlin und Weimar 1981

Günter Kunert, "Über einige Davongekommene", aus Wegschilder und Mauerinschriften,

Berlin (DDR) 1950

Reiner Kunze, “Ethik” (aus “Kurzer lehrgang”), Sensible Wege, Reinbek 1969

---, "Mitschüler", aus: Die wunderbaren Jahre, Frankfurt/M. 1976

Heiner Müller, “Nachtstück”, aus: Germania Tod in Berlin, Berlin (West) 1977

---, “Der Findling (nach Kleist)” (aus “Wolokolamsker Chaussee”), Shakespeare Factory,

Berlin (West) 1989

---, “Selbstkritik” (aus “Fernsehen”), Die Gedichte, Frankfurt/M 1998

Bert Papenfuß-Gorek, “reißaus”, aus: dreizehntanz. Gedichte, Frankfurt/M 1989

Ulrich Plenzdorf, Die neuen Leiden des jungen W., Rostock 1973

Anna Seghers, Der Ausflug der toten Mädchen, Darmstadt 1979

Christa Wolf, “Selbstinterview”, Die Dimension des Autors, Darmstadt und Neuwied 1987

---, Kindheitsmuster, Berlin und Weimar 1976

---, Kein Ort. Nirgends, Berlin und Weimar 1979

…UND ABBILDUNGEN

Alle Abb.: Paul Kroker; mit Ausnahme der Arbeiten auf S. 88 (Kohle, Acryl auf Papier,

100x70) und S. 111 (Installation, variabel, Teilansicht) handelt es sich bei den

Abbildungen, auch auf dem Umschlag, um digitale Malerei.

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