DDR Book neu
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Der Autor ist Germanist, Künstler und Übersetzer und lehrt deutsche Literatur am Dipartimento di
lingue (Stiftung SCM) in Mailand.
p.kroker@scuolecivichemilano.it
http://paulkroker.jimdo.com
http://beatrizszonell.jimdo.com
Paul Kroker
Vorwärts
und nicht vergessen
Ein halbes Jahrhundert Literatur der DDR
Eine Einführung
Copyright © Paul Kroker 2009
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentl. Vortrags, der
Übertragung durch Massenmedien und Übersetzung (auch teilweise).
Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form ohne schriftliche
Genehmigung des Autors reproduziert, verarbeitet, vervielfältigt oder
verbreitet werden.
Umschlagfoto: der Autor
Druck & Verlag: lulu.com
ISBN: 5 800032 387927 (Taschenbuchausgabe)
Inhaltsverzeichnis
VORWORT ZU EINEM NACHRUF 9
LITERATUR DER ETWAS ANDEREN ART 16
AUFERSTANDEN AUS RUINEN 22
Anna Seghers, Der Ausflug der toten Mädchen 26
Peter Huchel, Chausseen 29
DEM SOZIALISTISCHEN REALISMUS ZUM TROTZ 31
Volker Braun, Hinze-Kunze-Roman 34
Franz Fühmann, Das Judenauto 39
Uwe Johnson, Mutmassungen über Jakob 42
Bertolt Brecht, Vergnügungen 48
Günter Kunert, Über einige Davongekommene 50
HINTER DER MAUER – "IN DIESEM BESSEREN LAND" 52
Johannes Bobrowski, Mäusefest 56
Christa Wolf, Selbstinterview 62
Reiner Kunze, Ethik 64
Wolf Biermann, Rücksichtslose Schimpferei 65
Sarah Kirsch, Ich wollte meinen König töten 68
ZUCKERBROT, PEITSCHE UND DAS ANDERE 69
Ulrich Plenzdorf, Die neuen Leiden des jungen W. 73
Heiner Müller, Nachtstück 76
Reiner Kunze, Mitschüler 79
Helga Königsdorf, Bolero 81
Christoph Hein, Der fremde Freund 83
Christa Wolf, Kindheitsmuster 85
Christa Wolf, Kein Ort. Nirgends 89
Exkurs: Wolfgang Hilbig 92
Heiner Müller, Der Findling (nach Kleist) 101
Volker Braun, Die Industrie 102
Elke Erb, Widerspiegelung 103
Uwe Kolbe, S-Bahn-Fahren für dich 104
Bert Papenfuß-Gorek, reißaus 105
DER KAISER IST NACKT 107
VON WINDUNGEN UND WENDUNGEN 111
Volker Braun, Das Eigentum 112
Heiner Müller, Selbstkritik 115
Exkurs: Thomas Brussig, Helden wie wir 123
Exkurs: Manfred Jendryschik, Die Reise des Jona 134
AUSWAHLBIBLIOGRAPHIE 147
PERSONENVERZEICHNIS 149
QUELLENVERZEICHNIS DER TEXTE 155
Vorwort zu einem Nachruf
“Osten, Planwirtschaft, kommunistische Zentralverwaltung, Abschaffung
des Kapitalismus, keine Klassenunterschiede, sehr freundliche Leute, viele
neue Theater und Konzerthallen, gute Sportler, große Frauenemanzipation,
Spaltung, Zonengrenze, Unfreiheit, Zensur, Ausbürgerung, Armut,
Rückständigkeit, schlechtes Essen in Jugendherbergen” und auch "Dreck in
den schönen, aber schmutzigen Städten" – so präsentierte sich die DDR hier in
Italien und nicht nur unter meinen italienischen Studentinnen vor dem Umsturz
im Herbst 1989, als ich ein kleines Buch über vier Jahrzehnte Literatur in der
DDR für Deutschlehrende und -lernende herauszugeben im Begriff war und von
den Ereignissen überrascht wurde. Ja, wir wurden alle, im Westen wie im
Osten, überrascht von der Rapidität der Vorgänge. Ich erinnere mich noch, wie
ich nach einer Aufführung im Berliner Ensemble am Abend des 7. November
1989 mit Gert Poppe von der Initiative Frieden und Menschenrechte – einem
späteren Minister ohne Geschäftsbereich in der ersten frei gewählten
Regierung – über Möglichkeiten einer intensiveren Unterstützung der
oppositionellen Gruppen in der DDR nachdachte. Achtundvierzig Stunden
später war die Mauer offen.
Doch lassen wir uns nicht täuschen, was den tatsächlichen
Kenntnisstand über die DDR im Ausland betraf: Die nun Tote war immer eine
terra incognita, man wusste wenig über sie, ja man dachte nicht einmal an sie.
Beim Wort "deutsch" wurde in Italien zuallererst immer die Bundesrepublik
Deutschland assoziiert, dann Österreich, dann die Schweiz – und dann
vielleicht auch die DDR. Und diese Reihenfolge galt auch für die
deutschsprachige Gegenwartsliteratur im Spiegel der italienischen Presse.
So marginal die Präsenz der DDR-Literatur in Kritik und Rezension war,
so bewundert und gelobt wurde sie, zog man sie dann endlich einmal wirklich in
Betracht. Jedoch erst seit etwa Anfang der achtziger Jahre kann man davon
sprechen, dass sie zu einem literarischen Ereignis in Italien geworden ist.
Exemplarisch dafür stehen Herausgabe und Auseinandersetzung mit dem Werk
9
von Christa Wolf: Zehn Jahre nach der Übersetzung von Nachdenken über
Christa T. wird im Frühjahr 1983 als zweites Buch Der geteilte Himmel
veröffentlicht. Ein Jahr später erscheinen dann Kein Ort. Nirgends, der
Günderrode-Essay und Kassandra samt den Voraussetzungen einer Erzählung.
Nur mit knapper Verzögerung gegenüber den beiden Deutschländern kommt
1987 Störfall heraus; Sommerstück wurde im Herbst 1989 der italienischen
Öffentlichkeit vorgestellt, die Essay-Auswahl Pini e sabbia del Brandeburgo
Anfang 1990. Gleichsam als Kommentar zum erwachten Interesse an DDR-
Literatur las sich die Überschrift eines Interviews mit Heiner Müller im Jahre
1984: "All'Est qualcosa di nuovo" (“Im Osten was Neues”).
Sehr aufmerksam verfolgte schon längere Zeit die italienische
Germanistik die literarischen Entwicklungen in der DDR, deren sich seit Mitte
der sechziger Jahre abzeichnende Veränderungen in Inhalt und Form auf den
Begriff der Entgrenzung (Anna Chiarloni) gebracht werden. Das Aufgreifen
ehemals tabuisierter Themen (wie z. B. Selbstmord oder Mauer) wurde ebenso
herausgestellt wie die Verabschiedung des positiven Helden, seine Ersetzung
durch in sich gebrochene, widersprüchliche Protagonisten sowie die Aufgabe
der traditionellen Handlungs- und Erzähltotalität und der Übergang zu
narrativen Experimenten.
Grenzüberschreitung gehe aber, so wurde weiter konstatiert, einher mit
Anpassung, mit Anpassung und Unterwerfung unter eine gesellschaftliche
Praxis der Entfremdung, unter Zensur und Selbstzensur sowie auch mit der
Verabschiedung von Utopien und Träumen.
Wie DDR-Literatur in Italien von jungen Lesern in den frühen Achtzigern
rezipiert werden konnte, soll im Folgenden beispielhaft anhand einiger
Hausarbeiten seitens Mailänder Studentinnen der Städtischen Dolmetscherund
Übersetzerhochschule zu den beiden Büchern Christa Wolfs Der geteilte
Himmel und Nachdenken über Christa T. verdeutlicht werden.
Die weiblichen Zentralgestalten, Rita Seidel und Christa T., werden
durchweg als zwei Modelle der Selbstverwirklichung gesehen. Ausgehend von
dem Motto Johannes R. Bechers "Was ist das: Dieses Zu-sich-selber-Kommen
des Menschen?", das Nachdenken über Christa T. vorangestellt ist, definiert
Elisabetta P. als "Kernfrage" des literarischen Schaffens der Autorin jene nach
dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft und schreibt:
10
In beiden Werken wird die Erkenntnis- und Erfahrungswelt der Frau in der
jungen sozialistischen Gesellschaft geschildert: Die gesellschaftlichen Zustände und
Widersprüche werden auf die individuelle Lebenssphäre zurückbezogen, wobei die
Erzählerin die Möglichkeit hat, diese Individualität durch jene Widersprüche zu erklären
und am Beispiel dieser Subjektivität jene Zustände zu beleuchten. Rita und Christa T.
durchlaufen beide einen Entwicklungsprozess, dessen Ziel die individuelle "Ganzheit"
ihres Lebens... ist – in einer Gesellschaft, die dieses Ganzheitsdenken aus den Augen
zu verlieren scheint.
"Gescheitertes oder erfülltes Leben?" so stellt sich für Laura S. das
Hauptproblem der Rezeption von Nachdenken über Christa T.:
Mit ihrem Tod scheint ihr ganzes Leben sinnlos zu werden. Das
fragmentarische Schreiben, die Ehe, das Haus, das ohne sie seine "Seele" verliert.
Hätte Christa T. ihr Leben als gescheitert bezeichnet? Wohin sollte... ihre große
Hoffnung? Ist sie mit ihr gestorben? Mit diesem Menschen, der nicht glaubt, dass
Hoffnung sterben kann?... Die Leukämie als Lebens-Überproduktion betrachten.
Lebenslust, die zum Tode führt... Sich zu Tode leben. Sich zu Tode suchen.
Selbstmord? Es gibt eine ungeheure Freiheit im Sein, und doch scheint es wie ein
Käfig... Zu sich kommen und gleichzeitig verloren gehen.
Auf die Poetik Christa Wolfs Ende der 60er Jahre kommt Gabriella P. zu
sprechen:
Christa Wolf ist eine Schriftstellerin, die auf den Konflikt zwischen dem
Grundanspruch der marxistischen Persönlichkeits- und Bildungsidee von einem
ganzheitlichen Menschsein und einer sozialistischen Realität im Zusammenhang mit
ihrer Entwicklung zu einer hochkomplexen Industriegesellschaft trifft... C. Wolf hält
dafür, dass die Prosa... als Medium besonders geeignet ist, die Frage nach der Rolle
des Subjekts in der sozialistischen Gesellschaft aufzuwerfen.
Wie dies zu "einer neuen Form von Schreiben" bei Wolf führe, reflektiert
Grazia G.:
Die moderne Prosa übernimmt bewusst die Technik des Eingreifens des Autors
als eine Überwindung der dreidimensionalen Welt... Aufgabe der Prosa ist nicht mehr,
die Realität in der perfekten Erzähleinheit der klassischen Prosa darzustellen, sondern
das Element des Zweifelns an der Realität und dadurch das der Analyse einzuführen...
Dieser Prozess hat zwei Pole: den Schriftsteller und den Leser. Die Prosa muss ein
Instrument sein, um diese beiden Pole in Beziehung zu setzen.
Das zwinge den Leser, so wiederum Elisabetta P.,
den Widerspruch in Christa T. in sich aufzunehmen und zu verarbeiten, wobei
sich neue Widersprüche ergeben, die er immer wieder bewältigen muss... Auf diese
Weise wird die Prosa zum Mittel der Selbstverwirklichung nicht nur für die Autorin,
sondern auch für den Leser. Das Werk selbst ist also als Modell der Identitätsfindung
zu betrachten.
11
Diese Bücher, aus der DDR eben, wurden hier gelesen als Texte, in die
– ausgehend von einem humanistischen Grundanliegen – die Suche nach der
eigenen Identität und der eigene Lebens- und Glücksanspruch hineinverwebt
werden können, als Texte, die Perspektiven aufreißen, Utopien, auch negative,
entwickeln, die es gestatten, mitzuträumen einen poetisch-zarten, aufregendprosaischen,
realistischen Traum vom Unmöglichen, dessen ästhetische
Gestaltung nicht weniger zur Reflexion anregte.
Die Unbedingtheit des Lebens- und Emanzipationsverlangens war vor
zwanzig, dreißig Jahren im Verhältnis zu bestimmten Texten aus der DDR bei
jungen Lesern sicher ein wichtiges identifikationsstiftendes Moment,
insbesondere auch was die Beziehung junger Italienerinnen zu Frauentexten
von dort betrifft. Dabei kommt es natürlich auch zu Überzeichnungen, wenn
zum Beispiel das jugendfrische pro-sozialistische Engagement Rita Seidels aus
dem Geteilten Himmel in Richtung auf einen Heroismus interpretiert wird, an
welchem sich sozialistisch-realistische Dogmatiker wohl erfreut hätten. Oder
aber, wenn es im Anschluss an die Beschäftigung mit DDR-Frauenliteratur in
einer Diskussion heißt:
Elena: Ich denke, dass die Frauen in der DDR klüger sind
als die in Italien... Die Feministinnen in Italien
können sagen, was sie wollen, aber sie sind meiner
Meinung nach doof: Die wollen wie die Männer sein,
was nicht möglich ist. Die Frauen in der DDR sagen:
'Wir wollen nicht wie die Männer sein.' Ihre
Emanzipation ist eine Emanzipation der Gesellschaft
und nicht nur von Frauen.
Simona: Ich glaube, dass sie ein Stück weiter sind.
Elena: Sicher, sicher. Was mich überraschte, weil man
vielleicht denkt, dass die östlichen Länder ein wenig
hinter uns sind, was ja gar nicht stimmt.
Jahrestage werden ja häufig zum Anlass genommen, das Gedächtnis zu
mobilisieren – und zwanzig Jahre Mauerfall und Grenzöffnung bieten genug
Gelegenheit, noch einmal vier Jahrzehnte Kultur und Literatur der DDR vor
unserem Auge passieren zu lassen und kritisch zu hinterfragen, ob und was
davon noch heute Bestand hat und ästhetische Anerkennung finden kann. Dazu
kann ein literaturgeschichtliches Lesebuch, das ganz bewusst eine Reihe von
Texten auch in längeren Auszügen vorstellt, natürlich nur einen ganz kleinen
Beitrag leisten. Doch wichtige Autoren – und ihre Werke – sollten nicht in
12
Vergessenheit geraten, nur weil sie zu DDR-Zeiten schrieben und veröffentlichen
konnten, was ja nicht immer der Fall war oder nur unter großen
Schwierigkeiten. Die Trauerarbeit hinsichtlich dieser sozialistischen Diktatur auf
deutschem Boden ist von den direkt und indirekt Beteiligten – und dazu rechnet
für mich auch die ehemalige westdeutsche Linke Moskauer wie maoistischer
Prägung – noch längst nicht abgeschlossen. Verlust und Niederlage, ein
kollabiertes Zukunftsprojekt gehen meist Hand in Hand mit einem tiefen Gefühl
von Schmach und Schande; und es wird oft so unsäglich schwer, aus der
Verstrickung entwürdigender Erfahrungen von Schuld, Täterschaft und
Opfertum herauszufinden – wie wir es ja gerade erst hinsichtlich des 2.
Weltkrieges an Büchern lernen mussten wie W.G. Sebalds Essays Luftkrieg
und Literatur (1999) oder an den Tagebuchaufzeichnungen Eine Frau in Berlin
(anonym, 1959/2003). Jedes Buch, jede künstlerische Arbeit, die uns helfen,
uns über Entwürdigung bewusst zu werden und vielleicht davon ein Stück weit
zu befreien, ist von unersetzlichem Wert. Im Kontext der Arbeit an verschiedenen
Aufsätzen für den Band Tra malinconia e utopia (Milano 2000), womit ich in
der Auseinandersetzung mit dem Stalinismus auch für mich selbst eine
Bestandsaufnahme meiner politisch aktiven Vergangenheit bis an die Schwelle
der achtziger Jahre vornehmen wollte, hatte ich Christa Wolf um ein Gespräch
während ihres Mailänder Aufenthaltes 1992 gebeten. Ich schrieb ihr:
Wir sind ja alle mehr oder minder persönlich betroffen. Auch die Linke des
Westens hat ihren Stalinismus, ihre Sozialismusvorstellungen aufzuarbeiten. Nur wie
und wohin? Und wer will das überhaupt? Mettersi al nudo, sagt man hier: sich nackt
zeigen und sein Herz bloßlegen. Doch die Linke scheint merkwürdig prüde und auch
unter Verstopfung zu leiden.
In ihrer raschen Antwort gibt mir die für meine eigene Entwicklung so
bedeutende Autorin im Dezember 91 ihre Ablehnung bekannt, denn sie “denke,
über die Zeit, die Sie bearbeiten wollen, werde ich selbst einmal schreiben”.
Vor einem Jahrzehnt noch wollte ich zu dem für ausländische
Deutschlerner konzipierten Büchlein Literatur der DDR (Langenscheidt 1989) –
das in der Presse oft besprochen wurde, als sei es an bundesdeutsche Leser
gerichtet – einen kleinen historischen und didaktischen Ergänzungsband
herausgeben, um einen Beitrag zu leisten
die Literatur der ehemaligen DDR aus ihrem Schattendasein an Schule und
Hochschule herauszuführen und als gute, interessante, moderne Literatur deutscher
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Sprache vorzustellen, die angesichts des großen geeinten Deutschlands nicht in
Vergessenheit geraten sollte.” Ich definierte das neue Buch “einmal als Einführung in
Literatur und Literaturgeschichte der DDR, zum anderen aber auch als ein Lesebuch
für Interessierte sowie als begleitendes Lehrwerk für den Sprachunterricht. Es wendet
sich also in gleicher Weise an Schüler, Studenten und Dozenten des Faches Deutsch
als Fremdsprache.
Heute habe ich fast den Eindruck, dass dies eine sehr verengte,
gleichsam sektiererische Sicht der Zielgruppe ist. Wissen denn in Deutschland
junge Menschen, heutige Zwanzigjährige, soviel mehr als Gleichaltrige im
Ausland zum Beispiel über das Nachkriegsdeutschland aus zwei Nationen, also
auch über die DDR?! Fehlendes Vorwissen sollten wir nicht bedauern, sondern
einfach nur in Rechnung stellen. Und man gestatte mir den Hinweis auf den
Gemeinplatz: Das Voranschreiten der Zeit drängt nun einmal zum Vergessen.
vorwärtsundnichtvergessen (2009)
14
Deshalb wird mit Vorwärts und nicht vergessen, das im anderen als der
Autoren Sinn einen Refrain aus dem Solidaritätslied (1931) von Bertolt Brecht
und Hanns Eisler aufgreift, Literaturgeschichte erzählt und werden Lektüreproben
aus wichtiger Prosa, Lyrik und Dramatik gegeben. Die Auswahl hat nicht
das Ziel, anhand literarischer Texte Historie und Realitäten zu belegen oder zu
illustrieren (wozu sie natürlich auch dienen können), sondern will ästhetisch
ansprechende wie anspruchsvolle Texte präsentieren, die zum Weiterlesen
motivieren wollen – und damit in ganz ur-romantischer oder in ganz Brechtscher
Art zu Verstehen und Vergnügen.
Mit den abgedruckten Texten und Textauszügen habe ich früher im
Literaturunterricht an Hochschule und Goethe-Institut in Italien verschiedentlich
gearbeitet (ab dem B2/C1-Sprachniveau des Europäischen Referenzrahmens)
und dabei darauf geachtet, wie schon bei der Textauswahl selber, nicht nur auf
die Inhaltsseite und auf bloße Verständnissicherung abzuheben, sondern
zugleich auch immer auf ästhetische Dimensionen hinzuführen. Dennoch habe
ich auf einen didaktischen Anhang verzichtet aus dem Bewusstsein heraus,
dass neben der immanenten Komplexität eines Textes zum Ensemble der
Bedingungen für seinen Einsatz im Unterricht auch eine Vielzahl schwer
kalkulierbarer konkreter Faktoren gehören wie das sprachliche, literarische und
kulturelle Wissen der Lerner, die soziokulturelle Struktur des Umfelds, die
curriculare und materielle Ausbildungssituation sowie die berufliche und
persönliche Disponibilität der DozentInnen, ihre methodische und didaktische
Herangehensweise, ihre Einstellung zu Thema, Text und Autor.
15
Literatur der etwas anderen Art
Mehr als vierzig Jahre lang hatte im östlichen Teil Deutschlands die
Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) die öffentliche Meinung fest in
der Hand und übte auch im Bereich der Informationspolitik eine Alleinherrschaft
aus. Was im Schutz von Kontrolle und Zensur zur Sprache kam, war eine
ideologisch vollständig verzerrte Wirklichkeit, eingehüllt in den Einheitsjargon
des preußischen Feudalsozialismus. Wie die Berichterstattung funktionierte,
sollen hier einige Schlagzeilen aus dem Parteiorgan "Neues Deutschland"
veranschaulichen:
So werden die Beschlüsse des XI. Parteitages verwirklicht: Kollektive wetteifern
um Bestwerte im Wohnungsbau/ Sonneberger Werk sorgt für eine saubere Umwelt/ In
aktiver Solidarität mit dem Volk Nikaraguas verbunden/ Bauern bergen von Wiesen
und Feldern zweite Futterernte/ BRD: Schon 281 Drogentote.
Selbstbejubelung, Affirmation, ideologische Schwarzweißmalerei,
Hagiographie in einer zu Formeln erstarrten Sprache lassen es nicht
verwunderlich erscheinen, dass der Literatur in einer dergestalt monopolisierten
Öffentlichkeit auch die Aufgabe zufiel, zumindest partiell die verhinderte
öffentliche Meinung zu kompensieren. Die Literatur – natürlich ebenfalls unter
Kuratel gestellt – konnte immer wieder einen größeren Spielraum behaupten
und sich der gesellschaftlichen Realität annehmen, sie in ihrem Werden und
Geworden-Sein, in ihrer Widersprüchlichkeit diskutieren. Sie sprach von
deutscher und DDR-Geschichte, Theorie und Praxis des Sozialismus und auch
des Stalinismus, Grenz- und Deutschlandproblematik, dem alltäglichen Leben
mit seinen Freuden und Restriktionen, der Situation der Jugend in Ausbildung,
Beruf und beim Militär, der Emanzipation der Frauen, dem Zustand der Umwelt,
dem Umgang mit Kunst, Literatur und Sprache, über Ängste und Hoffnungen
der Menschen. Insofern ist Helga Königsdorf zuzustimmen, wenn sie schreibt:
"Wenn man später wissen will, wie es gewesen ist, in dieser DDR, wird man es
vor allem aus der Literatur erfahren." Wobei wir nicht vergessen wollen, dass
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der Einblick, den uns ein Autor in sein Land vermittelt, immer auch nur ein Blick
ist.
Als 1945 der Zweite Weltkrieg in Deutschland zu Ende war, begann sich
auf dem Territorium der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) ein neues
ökonomisches und politisches System herauszubilden, das 1949 auch zu seiner
staatlichen Eigenständigkeit fand. Mit der Gründung der Deutschen
Demokratischen Republik wurde im deutschen Sprachraum ein Novum
geschaffen: eine soziale Ordnung, aus der sich bald ein sozialistischer Staat
nach sowjetischem Muster entwickeln sollte. Mit diesem historischen Prozess
beschäftigten sich natürlich auch Kunst und Literatur und reflektierten die
Bedingungen dieser neuen Gesellschaft. Der Kalte Krieg verhärtete die
ideologischen und politischen Fronten zwischen Ost und West, insbesondere in
Europas Mitte, in Deutschland, wo die beiden Machtblöcke direkt aufeinander
stießen. Das hatte auch für die Literatur in der DDR und ihre Betrachtung seine
Folgen.
Schon 1948 fing man in der SBZ damit an, der Literatur eine
propagandistische Rolle beim Aufbau der neuen Gesellschaft vorzuschreiben.
Und wo sie dem folgte – wie z.B. in der nie wirklich ernst genommenen
weltanschaulichen "Traktorenlyrik" der fünfziger Jahre –, war die westdeutsche
Literaturkritik sofort zur Stelle, um pars pro toto die ganze ostdeutsche Literatur
als kommunistisch infiziert zu verurteilen. Oder sie suchte nach Texten, die im
Westen als Dissidenten-Bücher verkauft und propagandistisch ausgeschlachtet
werden konnten.
Doch die Zeiten änderten sich. Nach dreißig, fünfunddreißig Jahren
merkten die Leser im westlichen Deutschland und in Europa nicht mehr
unbedingt sofort und bei jedem Werk, ob es der DDR zuzurechnen war. Dafür
gibt es viele Gründe. Einer ist, dass sich – unabhängig von Ideologie und Politik
– die Industriegesellschaften in Ost und West in ihren Fehlentwicklungen auf
einander zu bewegten, was in der Wissenschaft Konvergenzentwicklung
genannt wird. Und die Literatur nimmt seismographisch auch davon Kenntnis.
Nach 1976 wurde auch auf die DDR-Literatur der Begriff "Exilliteratur"
angewendet, da in den dreizehn Jahren bis zum Herbst 1989 mindestens
achtzig Schriftsteller gezwungenermaßen ihr Land verließen. Durch die
Emigration in der Zeit des Nationalsozialismus ist der Begriff historisch natürlich
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vorgeprägt und führt deshalb fast automatisch zum Vergleich. Wir wollen und
können Nationalsozialismus und stalinistischen Sozialismus nicht
gegeneinander aufrechnen. Klar ist aber, dass es in der SBZ/DDR politische
Verfolgung, Folter, Arbeitslager, Ausbürgerung, Zensur und massenhafte
Bespitzelung gab und der humanistische Anspruch des Sozialismus zutiefst
diskreditiert wurde. Doch konnte, wer wegen politischer oder weltanschaulicher
Repressalien aus der DDR freiwillig oder unter Zwang fort ging, immer noch im
deutschen Sprachraum bleiben. Das ist ein gerade für Schriftsteller wichtiger
Unterschied zu den Jahren 1933-45.
Hommage an Reiner Kunze (2008)
Zu allen Zeiten war es schwer, wenn nicht unmöglich, zu bestimmen,
was denn DDR-Literatur sei, wo sie entstünde. Denn sie entstand auch
außerhalb des Staates DDR und unabhängig von ihm. Während ein Autor wie
Jürgen Fuchs, der nach monatelanger Haft in die Bundesrepublik abgeschoben
wurde, seinen literarischen Stoff immer wieder in seiner DDR-Vergangenheit
fand, ist der Lyriker Reiner Kunze nach der Übersiedelung aus der DDR in
seinen späteren Gedichtbänden davon losgekommen. Zeigten sich schon bei
den im Westen lebenden DDR-Autoren große Unterschiede in Thema, Stil und
Sprache ihrer Bücher sowie in der Qualität ihres literarischen Schaffens in der
neuen Umgebung, so existierten auch in der DDR schon immer viele
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Handschriften. Bei allen zu unterstellenden spezifischen Produktions- und
Rezeptionsbedingungen hat es eine DDR-Literatur eigentlich nie gegeben, eher
eine Vielfalt von Strömungen und Tendenzen, die sich zwischen Zustimmung
und Widerspruch bewegten, zwischen Übernahme und Befreiung von
politischen, ideologischen, künstlerischen und ästhetischen Vorgaben und
Traditionen. Festzustellen war nicht Einheitlichkeit der DDR-Literatur, sondern
waren eher Dominanten und Konstanten. So sprach einerseits die DDR-
Literaturwissenschaft zu Recht davon, dass die Auseinandersetzung mit dem
Faschismus ein die DDR-Literatur prägendes "Jahrhundertthema" sei. Und der
westdeutsche Germanist Wolfgang Emmerich charakterisierte andererseits zum
Beispiel die vorherrschende Linie in der Literatur bis Anfang/Mitte der sechziger
Jahre als "literarische Vormoderne".
Wenn es ein besonderes Charakteristikum der Literatur der DDR gibt,
das uns dazu berechtigt, von dieser Literatur als einem Sonderweg im
deutschsprachigen Raum zu sprechen, dann ihr offizielles und von vielen
Autoren oft in ganz unterschiedlicher Weise vertretenes Verständnis als
gesellschaftlicher Faktor: Literatur als res publica. Der Dichter und ab 1954
erste Kulturminister der DDR Johannes R. Becher prägte dafür den Begriff der
"Literaturgesellschaft": Literatur als Institution der Selbstverständigung und
Bewusstwerdung einer Gesellschaft, in der Autoren, Leser, Verleger
demokratisch miteinander kommunizieren und die werktätigen Massen an der
Literatur teilnehmen können.
Wie sich dieses ideale Modell eines Literaturbetriebs in der Praxis
darstellte, wollen wir im folgenden an einigen Beispielen erläutern:
– Alle großen Buchverlage waren bis 1989 Staatsverlage oder gehörten
verschiedenen Organisationen und Parteien. Mit dem Zusammenbruch des
stalinistischen Systems 1989 kam aber ans Tageslicht, dass die SED, die
letzten Endes allein herrschende kommunistische Partei, nicht nur im Besitz
ihres Parteiverlages, sondern auch von fünfzig Prozent der größten
Belletristikverlage der DDR war.
– Die Buchproduktion der DDR mit sechstausend Titeln und einer
Gesamtauflage von hundertfünfzig Millionen jährlich war, gemessen an den
Zahlen der BRD, natürlich lächerlich gering, jedoch angesichts einer relativ
kleinen Bevölkerung von sechzehn bis siebzehn Millionen Einwohner ganz
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erstaunlich. Ein Drittel aller Bücher entfiel dabei auf die Belletristik. Heinrich
Heines Deutschland. Ein Wintermärchen, der KZ-Roman von Bruno Apitz Nackt
unter Wölfen und Anna Seghers' Das siebte Kreuz erreichten Gesamtauflagen
zwischen eineinhalb und zwei Millionen; Hermann Kants Die Aula hat eine
Million verkaufter Exemplare erreicht.
– Es verwundert nicht, dass derselbe Kant dann die DDR ein "Leseland"
nennt. Aber war sie das? Ja und nein. Zwar lasen verhältnismäßig mehr
Arbeiter als in westeuropäischen Ländern belletristische Literatur, besuchten
rund drei Viertel der Kinder im Lesealter die Kinderbibliotheken und ließ sich
insgesamt eine größere Nähe zu Autor und Buch konstatieren. Doch auch in
der DDR beeinflusste der gesellschaftliche Status die Wahl des Mediums und
des Buches. Auch hier zog der Durchschnittsleser einem anspruchsvollen Werk
die leichte Unterhaltungsliteratur vor, besonders Reiseliteratur, da er so –
wenigstens im Buch – der DDR-Realität in Richtung Westen oder fernen
Horizonten entgegen entfliehen konnte.
– Die Autoren waren in der Regel Mitglieder im Schriftstellerverband,
womit sie statutenmäßig die Aufgabe anerkannten, sich als Künstler für den
Sozialismus einzusetzen. Die Verbandsmitgliedschaft verschaffte diverse
Vorteile: Stipendien und Förderungen, Arbeitsvermittlung als Dramaturg oder
Übersetzer sowie als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Verbandes. Daneben
gab es ein ausgedehntes System der Unterstützung, z.B. insgesamt fünfzig
Literaturpreise – darunter den hoch dotierten Nationalpreis, den Heinrich-Mann-
Preis, den Heinrich-Heine-Preis, den Lessing-Preis. Überdies hatten die
meisten Schriftsteller weitere Vergünstigungen, so das begehrte Reise-Privileg.
– Wie einerseits die erzieherische Wirkung der Literatur gefördert wurde,
so wurde diese selbst zu allen Zeiten der Lenkung und Kontrolle unterworfen.
Ein Instrument dazu war die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel beim
Kulturministerium, die erst im Dezember 89 aufgelöst wurde. Sie war neben
dem Büro für Urheberrechte eine der zentralen Zensurinstanzen. Doch konnte
die Zensur schon im Verlag, beim Lektor, einsetzen oder, einmal verinnerlicht,
gar als Selbstzensur beim Schreiben selber.
– Zensierte Autoren konnten aus dem Schriftstellerverband und der
Partei ausgeschlossen (Heiner Müller, Gerhard Wolf), zu Geldstrafen verurteilt
werden (Stefan Heym, Robert Havemann), ins Gefängnis kommen (Jürgen
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Fuchs, Stephan Krawczyk), ausgebürgert (Wolf Biermann) und psychisch unter
Druck gesetzt werden (Reiner Kunze).
Die Liste wichtiger Dichter, die Opfer der Zensur wurden, ist recht lang,
sie reicht von Bertolt Brecht (Das Verhör des Lukullus, 1951) bis zu Christa
Wolf (Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra, 1983). Volker Braun
musste auf die Uraufführung seines Theaterstücks Lenins Tod achtzehn Jahre
warten. Und es war wohl kein Zufall, dass die Zensur auf dem X.
Schriftstellerkongress im Jahre 1987 zum Hauptthema der Tagung wurde:
Zunächst sprach Günter de Bruyn im Plenum dazu, dann Christoph Hein in
einer allerdings nicht öffentlichen Arbeitsgruppe: "Die Zensur ist überlebt,
nutzlos, paradox, menschenfeindlich, ungesetzlich und strafbar". Immer mehr
Tabus wurden gebrochen in der Literatur, auf der Bühne, bis endlich die Mauer
fiel – und damit ein ganzes System der Unterdrückung und falscher
Hoffnungen.
Hommage an Christoph Hein (2008)
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Auferstanden aus Ruinen…
ruinenruinen (2008)
…und der Zukunft zugewandt – die ersten Verse der Nationalhymne der
späteren DDR (Text: Johannes R. Becher, Musik: Hanns Eisler) beschreiben
nur zu genau Wirklichkeit, Wunsch und Willen derer, die im Ostteil Deutschlands
das gesellschaftliche Leben bestimmen werden. Nach rund zwanzig
Jahren wird dann der Text nicht mehr gesungen, da die DDR sich als eigenständige
Nation sozialistischen Typs definiert und “Deutschland einig Vaterland”
nicht mehr ins politische Konzept passt.
Aber zurück zu den Anfängen: Zeigt sich schon für die Entwicklung in
den Westzonen, dass sich die erste Nachkriegsperiode kaum als Nullpunkt oder
Stunde Null fassen lässt, so gilt gleiches für die SBZ. Die sowjetische Militäradministration
in Deutschland (SMAD) und die aus ihrem Moskauer Exil schnell
zurückgekehrte Führungsgruppe der kommunistischen Partei KPD führten die
Tradition ihres antifaschistischen Kampfes fort und deshalb wurde, da die
Sowjetunion zum damaligen Zeitpunkt noch die Einheit Nachkriegsdeutschlands
anvisierte, in Anknüpfung an die Volksfrontpolitik der dreißiger
Jahre, die Linie einer Einheitsfront auch jetzt eingeschlagen, um – so die
22
strategische Idee – die bürgerlich-demokratische Revolution zu vollenden und
von dort aus zum Sozialismus voranzuschreiten. Kulturelle Leitbilder waren also
zunächst nicht proletarisch-revolutionäre Ideale, wie sie noch in der Arbeitermassenkultur
der Weimarer Republik entwickelt worden waren, sondern jene
des Humanismus der deutschen Klassik und der nationalen und demokratischen
Bewegungen des 19. Jahrhunderts. Die sowjetische Besatzungsmacht
wurde sofort nach der Niederschlagung des Nazi-Systems in dieser Hinsicht auf
vielfältige Art im Kulturleben initiativ, ja musste dieses weitgehend überhaupt
erst einmal reorganisieren. Bis 1946 jedoch konnten schon fünfundsiebzig
Theater in den weitgehend zerstörten Städten wieder bespielt werden. Der auf
kommunistische Initiative gegründete Kulturbund zur demokratischen Erneuerung
Deutschlands sollte die zentrale Aufgabe der "Bildung einer nationalen
Einheitsfront der deutschen Geistesarbeiter" übernehmen, eines breiten
Bündnisses politisch und weltanschaulich unterschiedlichster Kräfte. Ziele des
Kulturbundes waren
Vernichtung der Naziideologie auf allen Lebens- und Wissensgebieten...Wiederentdeckung
und Förderung der freiheitlichen humanistischen,
wahrhaft nationalen Traditionen unseres Volkes...Verbreitung der Wahrheit.
Wiedergewinnung objektiver Maße und Werte. Kampf um die moralische Gesundung
unseres Volkes.
Dabei wollte man an Kultur und Literatur der bürgerlichen Epoche wieder
anknüpfen, von den Bauernkriegen über die Aufklärung, die Weimarer Klassik,
den Vormärz bis schließlich zum bürgerlichen Realismus. Hinzu kam noch die
Sowjetliteratur und die im Exil entstandene antifaschistische Literatur. Die
Ausrichtung auf dieses Erbe gab der Kulturpolitik der ersten Jahre eine
einseitige, deutlich rückwärts gerichtete Orientierung auf die Tradition, von der
allerdings bestimmte Strömungen und Künstler (z.B. die Romantik, Heinrich v.
Kleist) ausgegrenzt blieben. Auch hielt diese ästhetische Kanonbildung Kunst
und Literatur der DDR lange Zeit fern von der europäischen Moderne eines
Franz Kafka, James Joyce, Samuel Beckett und der Expressionisten.
Praktische Bedeutung hatte dies auf dem Theater − die meistgespielten
Stücke waren Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise, Johann Wolfgang
Goethes Iphigenie auf Tauris und Egmont sowie Friedrich Schillers Wilhelm Tell
− und in den Lehrplänen der Schulen, die die bürgerlich-realistische Literatur
23
(Lessing, Goethe, Schiller, Heine, Gottfried Keller, Thomas und Heinrich Mann)
deutlich bevorzugten. Die neue Literatur jener Zeit stammte von Schriftstellern,
die in der Nazizeit verfolgt und außer Landes getrieben worden waren: Das war
die Exilliteratur. Die meisten ihrer radikaldemokratischen, linken, sozialistischkommunistischen
Autoren, von denen sich viele während des Faschismus im
aktiven Widerstand befunden hatten, kamen in die SBZ/DDR − aus der
Sowjetunion Johannes R. Becher, Willy Bredel, Friedrich Wolf, Theodor
Plievier, aus Mexiko Anna Seghers und Ludwig Renn, aus den USA Bertolt
Brecht, Ernst Bloch und Stefan Heym, aus Palästina Arnold Zweig, aus England
Jan Petersen, aus Kolumbien Erich Arendt. Warum sie diesen Teil
Deutschlands wählten und nicht die Westzonen, formulierte Anna Seghers für
viele andere so: "Weil ich hier ausdrücken kann, wozu ich gelebt habe."
Die Exilliteratur einzubürgern, hieß aber auch, denjenigen Autoren eine
neue Heimat in Deutschland zu geben, die sich wie Thomas Mann oder Lion
Feuchtwanger nicht in der SBZ/DDR niederließen. Gleichzeitig umfasste die
antifaschistische Bündniskonzeption auch jene Dichter, die in Deutschland
geblieben und wie Peter Huchel der "inneren Emigration" zuzurechnen waren.
Eine erste Bilanz des Faschismus, des von ihm verursachten Ausmaßes
von Mord, Gewalt und Zerstörung zogen die zumeist noch in der Emigration
entstandenen Prosatexte, die jetzt in der SBZ sofort verlegt wurden. 1945
erschien Theodor Plieviers Roman Stalingrad, der – in der Nachfolge von Erich
Maria Remarques Im Westen nichts Neues (1927) – den Alltag und die Gräuel
des Krieges im Stil der Reportage wiedergibt. Ein Jahr später wird Anna
Seghers Das siebte Kreuz verlegt, das – schon 1942 im mexikanischen Exil
erschienen und 1944 von Fred Zinnemann in den USA verfilmt – den Weg
eines KZ-Flüchtlings durch Hitler-Deutschland beschreibt. Hingegen verschafft
Jan Petersens Unsere Straße (1936/1947), klandestin in Deutschland
geschrieben, ein konkretes Bild vom Widerstand gegen die Nazis. Diese Bücher
stehen stellvertretend für eine Fülle von aufklärerischer, auch dokumentarischer
Literatur über Krieg, Nazismus und Konzentrationslager, die in Form von
Berichten, Chroniken, Reportagen sich als wirklich engagierte Literatur
ausweist.
Obwohl einige Autoren der älteren Generation – wie z.B. Seghers in Die
24
Toten bleiben jung (1949) – auch größere Entwicklungszusammenhänge des
20. Jahrhunderts thematisierten, war es noch viel zu früh, sich davon eine tiefer
gehende Auseinandersetzung mit den geschichtlichen Voraussetzungen des
massenhaften Mitläufertums zu erwarten.
Doch entgegen der verbreiteten Haltung, sich möglichst schnell von der
Vergangenheit abzuwenden und an der Seite der Sowjetunion zu den "Siegern
der Geschichte" zu erklären, wie es offiziell hieß, beharrten viele Schriftsteller
darauf, an der Aufdeckung des Kausalkomplexes von Nationalsozialismus,
Krieg und Niederlage zu arbeiten, und mahnten mit Brecht: "Der Schoß ist
fruchtbar noch, aus dem das kroch".
Anna Seghers – mit bürgerlichem Namen Netty Reiling – veröffentlichte
1927 die erste längere Erzählung. Mit achtundzwanzig Jahren bereits erhielt sie
den wichtigen Kleist-Preis, wurde Mitglied in der Kommunistischen Partei und
im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller (BPRS). Mit der Machtergreifung
Adolf Hitlers verließ sie Deutschland und emigrierte schließlich über
Frankreich nach Mexiko. 1947 kehrte sie nach Ostberlin zurück, wo sie, vielfach
preisgekrönt, bis zu ihrem Tode lebte und arbeitete. Von 1952-1978 war
Seghers Präsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR.
Hommage an Anna Seghers (2008)
25
ANNA SEGHERS, Der Ausflug der toten Mädchen
Die 1943/44 entstandene Erzählung gehört zweifellos zu den schönsten
der Autorin, ist ein Text, an dem man "lesen lernen" kann (Christa Wolf).
Nach zehn Jahren Exil schrieb Anna Seghers diese Geschichte noch in
Mexiko: Die Emigrantin, die hier zum einzigen Mal ganz offen als "ich"
erscheint, ruht sich am Rande eines Dorfes in der Mittagshitze aus. Voller
Heimweh erinnert sie sich plötzlich an ihre Kindheit: Dreißig Jahre zuvor hatte
sie zu Hause, in Deutschland, in ihrer Heimatstadt Mainz, an einem Ausflug
ihrer Mädchenklasse teilgenommen. Inzwischen, so weiß die Erzählerin, sind
die meisten ihrer Schulkameradinnen durch die Nazis und ihren Krieg
umgekommen. Dieses Wissen ist eine schreckliche Belastung für die
Erzählerin, die sich zugleich die Erlebniswelt des Schulkindes anverwandelt und
sehen muss, wie die Freundinnen als erwachsene Frauen standhielten oder
schuldig wurden. Darüber berichtet die Erzählung in Form einer komplexen
Verschachtelung der Zeit- und Erfahrungsebenen wie in folgendem Textauszug:
26
Ich lehnte mich gegen die Wand in den schmalen Schatten. Um Rettung
genannt zu werden, dafür war die Zuflucht in diesem Land zu fragwürdig und zu
ungewiß. Ich hatte Monate der Krankheit gerade hinter mir, die mich hier erreicht hatte,
obwohl mir die mannigfachen Gefahren des Krieges nichts hatten anhaben können.
(...) Es gab nur noch eine einzige Unternehmung, die mich anspornen konnte: die
Heimfahrt. (...)
Es schimmerte grün hinter der langen weißen Mauer. Wahrscheinlich gab es
dort einen Brunnen oder einen abgeleiteten Bach, der das Rancho mehr bewässerte
als das Dorf. Dabei sah es unbewohnt aus mit dem niedrigen Haus, das auf der
Wegseite fensterlos war. (...) Das Gitterwerk war, längst überflüssig und morsch, aus
dem Toreingang gebrochen. Doch gab es im Torbogen noch die Reste eines von
unzähligen Regenzeiten verwaschenen Wappens. Die Reste des Wappens kamen mir
bekannt vor, wie die steinernen Muschelhälften, in denen es ruhte. Ich trat in das leere
Tor. Ich hörte jetzt inwendig zu meinem Erstaunen ein leichtes regelmäßiges Knarren.
Ich ging noch einen Schritt weiter. Ich konnte das Grün im Garten jetzt riechen, das
immer frischer und üppiger wurde, je länger ich hineinsah. Das Knarren wurde bald
deutlicher und ich sah in dem Gebüsch, das immer dichter und saftiger wurde, ein
gleichmäßiges Auf und Ab von einer Schaukel oder von einem Wippbrett. Jetzt war
meine Neugier wach, so daß ich durch das Tor lief, auf die Schaukel zu. Im selben
Augenblick rief jemand: “Netty!” Mit diesem Namen hatte mich seit der Schulzeit
niemand mehr gerufen. (...)
Auf jedem Ende der Schaukel ritt ein Mädchen, meine zwei besten
Schulfreundinnen. Leni stemmte sich kräftig mit ihren großen Füßen ab, die in eckigen
Knopfschuhen steckten. Mir fiel ein, daß sie immer die Schuhe eines älteren Bruders
erbte. (...) Ich wunderte mich zugleich, wieso man Lenis Gesicht gar keine Spur von
den grimmigen Vorfällen anmerkte, die ihr Leben verdorben hatten. Ihr Gesicht war so
glatt und blank wie ein frischer Apfel, und nicht der geringste Rest war darin, nicht die
geringste Narbe von den Schlägen, die ihr die Gestapo bei der Verhaftung versetzt
hatte, als sie sich weigerte, über ihren Mann auszusagen. (...)
Auf der anderen Schaukelseite hockte Marianne, das hübscheste Mädchen der
Klasse, die hohen, dünnen Beine vor sich auf dem Brett verschränkt. Sie hatte die
aschblonden Zöpfe in Kringeln über die Ohren gesteckt. In ihrem Gesicht, so edel und
regelmäßig geschnitten wie die Gesichter der steinernen Mädchenfiguren aus dem
Mittelalter im Dom von Marburg, war nichts zu sehen als Heiterkeit und Anmut. Man
sah ihr ebensowenig wie einer Blume Zeichen von Herzlosigkeit an, von Verschulden
oder Gewissenskälte. (...)
Mir kam jetzt alles unmöglich vor, was man mir über die beiden erzählt und
geschrieben hatte. Wenn Marianne so vorsichtig die Schaukel für Leni festhielt und ihr
mit soviel Freundschaft und soviel Behutsamkeit die Halme aus dem Haar zupfte und
sogar ihren Arm um Lenis Hals schlang, dann konnte sie sich unmöglich mit kalten
Worten später schroff weigern, Leni einen Freundschaftsdienst zu tun. (...) Doch
Marianne weigerte sich und fügte hinzu, ihr eigener Mann sei hoher Nazibeamter, und
Leni samt ihrem Mann seien zu Recht arretiert, weil sie sich gegen Hitler vergangen
hätten.
Nach den Jahren des Exils, diesen "finsteren Zeiten", dieser "schlechten
Zeit für Lyrik" (Brecht) stellte sich auch für die lyrische Dichtung die Frage, wie
die Hinterlassenschaft der Nazi-Zeit zu bewältigen sei.
Hommage an Johannes R. Becher (2008)
Einflussreichster Lyriker war Johannes R. Becher, der vor dem 1.
Weltkrieg schon als expressionistischer Dichter von sich reden machte und
1917 einer der wenigen bekannten Autoren war, die die russische Revolution
emphatisch begrüßten. Bald Mitglied der KPD, geht er 1933 ins Moskauer Exil
27
und ist als hoher KP-Funktionär kulturpolitisch im Kampf gegen Nazi-
Deutschland tätig. 1945 nach Ostberlin zurückgekehrt, stellt er seine Person
und Dichtung in den Dienst des Aufbaus einer antifaschistisch-demokratischen
Ordnung. Klassisch im Stil, oftmals in der Form des Sonetts, benützt Becher
Topoi wie Volk, Heimat, Befreiung, damit nach Jahren der Gewalt und des
Bösen nun "das Gute zur Macht kommt" (Brecht):
Heimat, meine Trauer,
Land im Dämmerschein,
Himmel, du mein blauer,
du mein Fröhlichsein.
Ist die mitunter patriotische Dichtung Bechers auf der Suche nach einem
neuen Deutschland, so ist das lyrische Werk Brechts zunächst von Satiren und
Warngedichten gegen Krieg und Faschismus geprägt (An meine Landsleute,
1949), beschäftigt sich aber auch mit den Entwicklungen in West- und
Ostdeutschland. So nimmt er im "Aufbaulied" (1948) eindeutig Partei für eine
neue Gesellschaft:
Besser als gerührt sein, ist: sich rühren
Denn kein Führer führt aus dem Salat!
Selber werden wir uns endlich führen:
Weg der alte, her der neue Staat!
In eine ähnliche gesellschaftspolitische Richtung weist die Dichtung des
poeta doctus Stephan Hermlin, aber auch die agitatorisch-operative Lyrik eines
KUBA (Kurt Barthel).
Peter Huchel vertritt einen anderen Aspekt der ostdeutschen Nachkriegslyrik.
Schon in den zwanziger Jahren als Heimatpoet und Naturdichter bekannt,
sind es vor allem seine Kriegserfahrungen als Soldat der Wehrmacht, die nun
seine Dichtung nachhaltig verändern. Seine Art von Naturlyrik ist nicht mehr
zeitlos und menschenleer, in ihren Bildern ist die Geschichte stets präsent, wird
auf individuelle und gesellschaftliche Zustände verwiesen. Nach einem
Literatur- und Philosophiestudium, ersten Gedichtveröffentlichungen (1924/25)
wird Huchel Mitarbeiter von Zeitschriften wie "Literarische Welt" und "Die
Kolonne", deren Lyrikpreis er 1928 erhält. Nach dem Krieg wird er für drei Jahre
28
künstlerischer Direktor des Ostberliner Rundfunks und von 1949 bis 1962
Chefredakteur von "Sinn und Form". Des Postens enthoben, von der Partei
denunziert und drangsaliert, verlässt Huchel 1971 die DDR und lebte danach in
der Bundesrepublik und Italien.
PETER HUCHEL, Chausseen
In seinem Band Chausseen Chausseen, dem auch das vorliegende
Gedicht angehört und den Titel gab, zeigt sich Huchels Hang zu "Zuspitzung
und Verknappung" (Walter Jens). "Chausseen" leitet die schmale, aus sieben
Gedichten bestehende Abteilung ein, die des Grauens und der Gräuel des
Krieges gedenkt, und thematisiert hier besonders die Erfahrungen von Millionen
Flüchtlingen in den Wirren des Kriegsendes. Schon die Titel der Gedichte sind
beredt: "Bericht des Pfarrers vom Untergang seiner Gemeinde", "Der Treck",
"Soldatenfriedhof". Der Gedichtband ist erst 1963 und nur in der BRD
erschienen.
Hommage an Peter Huchel (2008)
29
Erwürgte Abendröte
Stürzender Zeit!
Chausseen. Chausseen.
Kreuzwege der Flucht.
Wagenspuren über den Acker,
Der mit den Augen
Erschlagener Pferde
Den brennenden Himmel sah.
Nächte mit Lungen voll Rauch,
Mit hartem Atem der Fliehenden,
Wenn Schüsse
Auf die Dämmerung schlugen.
Aus zerbrochenem Tor
Trat lautlos Asche und Wind,
Ein Feuer,
Das mürrisch das Dunkel kaute.
Tote,
Über die Gleise geschleudert,
Den erstickten Schrei
Wie einen Stein am Gaumen.
Ein schwarzes
Summendes Tuch aus Fliegen
Schloß ihre Wunden.
30
Dem sozialistischen Realismus zum Trotz
proletenpanzer siebzehnterjunidreiundfünfzig (2008)
In den Jahren 1945-49 hatte sich in der SBZ eine “antifaschistischdemokratische
Neuordnung” durchgesetzt. Auf dem Lande wurde eine
Bodenreform eingeleitet, die zur Totalprivatisierung von Grund und Boden
führte, welche ihrerseits aber mittels einer Kollektivierung ab 1952 wieder
rückgängig gemacht wurde. Sechzig Prozent der industriellen Produktionsmittel
waren bis 1950 sozialisiert. Große Lücken verzeichnete der Wirtschaftsaufbau
in der Grundstoffindustrie (vor allem in den Sektoren Energie, Chemie, Eisen
und Stahl) sowie im Schwermaschinenbau. Das alles ist zu sehen vor dem
Hintergrund eines enormen Zerstörungsgrades der Städte wie der gesamten
Infrastruktur sowie umfangreicher Demontagen und Reparationsleistungen für
die Sowjetunion.
Für die werktätige Bevölkerung als menschlicher und einziger relevanter
Ressource bedeutete dies stetige Steigerung der Arbeitsproduktivität bei
gleichzeitigem Konsumverzicht. Bereits 1947 hatte die Sozialistische
Einheitspartei Deutschlands (SED) die Losung ausgegeben: "Mehr produzieren,
gerechter verteilen, besser leben" und eine Aktivistenbewegung nach
sowjetischem Vorbild initiiert, für die als alles überragendes Beispiel der
Bergarbeiter Adolf Hennecke steht, der 1948 seine Tagesschicht um 387%
31
übererfüllte und flugs zum “Helden der Arbeit” deklariert wurde.
1952 formulierte die SED den "Aufbau des Sozialismus als grundlegende
Aufgabe". Nach Hermann Weber bedeutete dies die "Stalinisierung der DDR":
Partei und Staat – am 7. Oktober 1949 wurde die DDR als Antwort auf die
Gründung der Bundesrepublik konstituiert – wurden einer straffen Planung,
Leitung und Kontrolle von oben nach dem rigiden Prinzip des "demokratischen
Zentralismus" unterworfen.
Die SED, die 1946 aus der Zwangsvereinigung der kommunistischen
KPD und der sozialdemokratischen SPD hervorgegangen war, bestimmte zwar,
dass die Arbeiterklasse die führende Kraft der Gesellschaft sei, aber es war die
Partei, die immer für die Klasse entschied.
Auch die Aufgaben von Kultur und Literatur wurden nun von der SED
definiert. So heißt es 1949 in einer Entschließung: "Kulturarbeit im Dienste des
Zweijahresplans leisten, das bedeutet in erster Linie die Entfaltung des
Arbeitsenthusiasmus aller Schichten des Volkes".
Marxisten haben stets die gesellschaftliche Funktion von Literatur
befürwortet, dass sie soziale Wirklichkeit ausdrücke und zur Veränderung des
Menschen und der Gesellschaft beitrage. Doch was von ihr unter dem
befohlenen und befehlenden Sozialismus in der DDR gefordert wurde, das war,
sie als Mittel zum Zweck einzusetzen, und der hieß Steigerung der Produktion.
Die Durchsetzung der ideologischen Linie der Partei im Bereich der
Ästhetik beginnt in massiver Weise 1951, als die SED den “Kampf gegen den
Formalismus” eröffnet. Formalismus, das war:
Zersetzung und Zerstörung der Kunst selbst. Die Formalisten leugnen, dass die
entscheidende Bedeutung im Inhalt, in der Idee, im Gedanken des Werkes liegt. Nach
ihrer Auffassung besteht die Bedeutung eines Kunstwerkes nicht in seinem Inhalt,
sondern in seiner Form. Überall, wo die Frage der Form selbständige Bedeutung
gewinnt, verliert die Kunst ihren humanistischen und demokratischen Charakter.
Da dieser Formalismus seine Ursache in der kapitalistischen Produktionsweise
habe, sei der Kampf gegen ihn Teil der Systemauseinandersetzung
zwischen Kapitalismus und Sozialismus im internationalen Maßstab. Aber es
ging nicht nur um eine Abgrenzung gegen westlich-amerikanische
Kultureinflüsse und ihre etwaigen negativen Auswüchse, sondern unter
diversen Etiketten wie "Dekadenz", "Kosmopolitismus", "Naturalismus",
32
"Modernismus" und eben "Formalismus" wurde schlichtweg die gesamte
moderne Weltliteratur angegriffen. Und es galt auch Kunst und Künstlern im
eigenen Land: Da wurde die Oper Das Verhör des Lukullus (Musik: Paul
Dessau, Libretto: Bertolt Brecht, 1951) kritisiert und zensiert und 1952 musste
eine Ernst-Barlach-Ausstellung schließen, weil der Bildhauer Figuren mit "einem
düsteren bedrückenden, pessimistischen Charakter" geschaffen habe, was mit
dem geforderten Bild von einem strahlenden, zukunftsfrohen Sozialismus
unvereinbar war.
Positive Richtlinie der SED für den Kulturkampf war der “sozialistische
Realismus”, der 1932-34 in der Sowjetunion von Josef W. Stalin und Andrej
Shdanow formuliert worden war. Danach sollte ein Kunstwerk vor allem
"parteilich" sein (d.h. für das Proletariat und die KP eintreten), "volksverbunden"
(d.h. vom Volke verstanden werden können und ihm dienend), "positiv" und
"optimistisch" (d.h. Lebensfreude vermittelnd, Arbeitsmoral und sozialistisches
Bewusstsein hebend). Bevorzugtes Thema war die sozialistische Produktion.
Während in der Sowjetunion schon 1956 an diesem Konzept der Kunstproduktion
und -rezeption Kritik laut wurde, galt es in der DDR noch lange als sakrosankt,
denn: “Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen” – so ein
beliebter Propagandaspruch bis zur Ära Gorbatschow.
Seine durchschlagende Wirkung erfährt der sozialistische Realismus in
der DDR vor allem in Verbindung mit der Ästhetik von Georg Lukács.
Lukács, ein bedeutender Denker des Marxismus (Geschichte und
Klassenbewusstsein, 1923), versuchte die Zielvorstellung von Karl Marx, dass
die Befreiung des Menschen aus Entfremdung, Ausbeutung und Unterdrückung
zur "wirklichen Aneignung der menschlichen Natur durch und für den
Menschen" führen müsse, mit dem Gedankengut der deutschen Klassik zu
verbinden. Sie war für Lukács eine große ästhetisch-literarische Revolution,
eine der genialsten "geistigen Revolutionen" in Europa überhaupt, die das Ideal
"der freien und allseitigen Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit " bereits
formuliert hatte. Zugleich wurden damit auch die Normen bürgerlicher
Kunstproduktion des 18. und 19. Jahrhunderts nicht nur übernommen, sondern
sogar als absolut verbindlich gesetzt. Das Kunstwerk sollte Lukács zufolge "alle
wesentlichen objektiven Bestimmungen, die das gestaltete Stück Leben objektiv
determinieren, in richtigem, proportioniertem Zusammenhang widerspiegeln"
33
und selbst "eine Totalität des Lebens" sein.
Ästhetisch bedeutete dieses Konzept die Bevorzugung der organischen
und geschlossenen Form des bürgerlich-realistischen Romans, in dem die
Widersprüche des Lebens in die Harmonie von Welt und Individuum überführt
werden. Die offene Form, Experimente, Montage, Brechtsche Verfremdung
lehnte Lukács strikt als Formalismus ab, ebenso die neu entstehende sozialistische
Literatur, die sich in die proletarisch-revolutionäre Tradition zur Zeit der
Weimarer Republik stellte.
Mit diesen Positionen bestimmte Georg Lukács auf lange Zeit – auch
über 1956 hinaus, als er wegen seiner führenden Beteiligung am Ungarnaufstand
gegen die Sowjets in Ungnade fiel – das literarische Leben in der DDR
und nahm auf offizieller Seite eine Monopolstellung ein. Die Kritik der Partei an
ihm war vor allem eine politische und richtete sich nicht eigentlich gegen seinen
Traditionsbegriff und seine normative Ästhetik.
Hommage an Volker Braun (2008)
VOLKER BRAUN, Hinze-Kunze-Roman
Erst dreißig Jahre später, nämlich 1985 und dennoch nicht zu spät,
erscheint Volker Brauns Hinze-Kunze-Roman: Plaudernd chauffiert Hinze, der
34
Fahrer, Kunze, den Funktionär, durch die realsozialistischen Lande. Aus ihren
Gesprächen und Berichten erfährt der Leser viel – oft ironisch gebrochen – über
die Verhältnisse im Land, über Leben und Liebe, Parolen und Kantinenessen.
Und auch über die Kunst des Schreibens und vor allem über die des
Vorschreibens wie im folgenden Textauszug.
Als der Autor "soweit", d.h. bis S.147 der gebundenen Suhrkamp-Ausgabe,
den vorliegenden Text geschrieben hat, erzählt er – in bester Kenntnis
eines bestimmten Kritikertyps – gleichsam vorwegnehmend dessen
Stellungnahme zum fertigen Roman.
Frau Prof.Messerle, Wortführerin einer an Lukács geschulten Literaturkritik,
verurteilt den Autor, dass er sich nicht an die "Strickvorlagen" des
sozialistischen Realismus gehalten habe, so dass es kein "musterhaftes" Buch
geworden sei. Sie kritisiert "Obszönität", "Spontaneität", mangelnde Planung,
fehlende Parteilichkeit und die Tatsache, dass es kein Entwicklungsroman sei.
Messerle, dieses schneidende Diminutiv, vertritt damit den dogmatischen
Parteistandpunkt, der von Anneliese Löffler, die Messerle auch im Namen
kongenial ist, im SED-Zentralorgan "Neues Deutschland" so formuliert wurde:
Braun greife zu den "absurdesten Konstruktionen... Inhalt und Form gerinnen
zur Farce", da der Autor "statt der realen Welt, statt der realen Widersprüche nur
Gegensätze sieht".
Der folgende Auszug macht deutlich, wie Text und Geschehen
ineinander übergehen, die Handlung praktisch das Manuskript fortschreibt:
Als ich soweit gekommen war, hielt ich es, im gesellschaftlichen Interesse, für
nötig, mich der Diskussion zu stellen, in einem Gremium, das ich im selben Interesse
nicht näher beschreibe. Ich las ein Kapitel vor – der Einfachheit halber und um keine
Zeit zu verlieren dieses, das ich gerade schreibe und das damit beginnt, daß Frau Prof.
Messerle von einem andern Buch sprach, das ich hätte schreiben sollen: obwohl es
kürzlich ein anderer geschrieben hat. Sie konnte nicht genug gleichartige Bücher
bekommen, musterhafte, sie stellte sie vermutlich im Wohnzimmer nebeneinander,
eine sichere Bastion gegen die unzuverlässige Wirklichkeit. Aber wo mein Buch hätte
stehen können, klaffte eine kleine Lücke; in der sie nun mit dem Zeigefinger
fuhrwerkte: wodurch die sich aber, im Verlauf dieses Kapitels, noch erweiterte! Ich
konnte nichts dafür, diese Zuarbeit widerfährt den Realisten von unerwartetster Seite.
Hätte sich der Autor B., fuhr Frau Prof. Messerle fort, an das gehalten, was wir gesagt
haben, immer wieder gesagt haben, immer und immer wiederholt haben in unseren
Modezeitschriften, hätte er einmal die Strickvorlagen angesehn! (…)
Der Autor B. hat einfach ein unsauberes Gewebe geliefert. Er hat den roten
Faden verfitzt. Man erkennt die Masche nicht mehr! (Ich stockte beim Vorlesen, aber
Frau Messerle schloß geläufig an:) Er muß sich nicht wundern, wenn der Leser den
Rock nicht anziehen will. – Von mir aus, versuchte ich zu scherzen, braucht er gar nix
35
anziehn. – Da seht ihr, sagte sie ernst, diese Obszönität. Er will uns nackt sehn. – Da
ist in gewisser Weise etwas dran, las ich weiter. – Aber ein bloß amouröser Roman (:
Frau Messerle) befleckt ... (sie verhaspelte, sie verhackselte sich) bekleckt ... verdeckt
unser Leben, das sich anständig entwickelt. Die Liebe ist die Spontaneität in Person,
bzw. in Personen, die der bewußten Führung und Leitung bedürfen. Der Autor hat das
Werk nicht geplant bzw. den Plan nicht erfüllt. Er ist ein Opfer seiner Triebe, seiner
Antriebe, seiner, nun, Sehnsüchte, seiner ... wir kennen das alle, Wunschvorstellungen
... Diese Figuren (schrie sie unvermittelt, unbegreiflicherweise) entwickeln sich einfach
nicht! – Sie saß hochrot im Vorsitz, mit zusammengekniffnen Knien, und die Kollegen,
irgendwie ergriffen, beeilten sich, ihr beizupflichten. Sie entwickeln sich nicht, sie
entwickeln sich nicht! riefen sie reihum, und ich sah beschämt auf meine Blätter. Sie
welkten dahin.
Das muß ich sofort ändern, las ich.
Die Kulturpolitik Mitte der fünfziger Jahre bewegte sich zwischen
Vorgabe der ästhetischen Linie, Kritik und Zensur des Unerwünschten
einerseits und der Tolerierung einer gewissen Autonomie der Künstler
andererseits, denen die SED "die Möglichkeit einer freien schöpferischen
Tätigkeit" zugestand, als man in der so genannten Tauwetter-Periode nach
Stalins Tod im März 1953 aufzuatmen begann.
Damit ging einher, dass die von der Partei anbefohlene Aufbau- und
Produktionsliteratur künstlerisch in die Krise und wegen ihres schematischen
und schönfärberischen Charakters ins Kreuzfeuer der Kritik geriet. Sie wurde
auf dem Schriftstellerkongress 1956 allgemein verurteilt: Der scharfsichtige
Leipziger Literaturwissenschaftler Hans Mayer kritisierte ihre "Panpolitisierung"
und "mangelnde Opulenz", der oftmals von der Zensur belangte Stefan Heym
ihre "hölzerne Primitivität" und sogar der kommunistische Arbeiterschriftsteller
Eduard Claudius das "öde kleinbürgerliche Niveau".
Der V. Parteitag der SED 1958 stellte die Losung "sozialistisch arbeiten,
lernen und leben" auf und Parteichef Walter Ulbricht verlangte: "In Staat und
Wirtschaft ist die Arbeiterklasse der DDR bereits Herr. Jetzt muss sie auch die
Höhen der Kultur stürmen und von ihnen Besitz ergreifen." Der Literatur
widmete man sich ein Jahr später auf der Bitterfelder Konferenz, an der
professionelle und Laienschriftsteller, Verlags- und Kulturfunktionäre
teilnahmen. Programmatisch sollte die historische Trennung von Kunst und
Leben, von Kulturschaffenden und Produktionsarbeitern, die Arbeitsteilung von
Hand- und Kopfarbeit aufgehoben werden. Einerseits sollten die Schriftsteller in
die Betriebe gehen und sich mit Arbeit und Leben in der Produktion vertraut
machen, um besser darüber berichten zu können; andererseits sollten die
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Arbeiter selbst zum Schreiben angeregt werden unter dem Slogan: "Greif zur
Feder, Kumpel, die sozialistische Nationalkultur braucht dich!" Auch wenn
einzelne bedeutende Schriftsteller wie Christa Wolf, Brigitte Reimann oder
Franz Fühmann wirklich in Fabriken gingen, wurde dies jedoch nicht zu einer
allgemeinen Bewegung, da es bei vielen Autoren sowohl Vorurteile als auch
reale Bedenken gab, das solch eine Initiative literarisch fruchtbar werden
könne.
In einem Brief an den Kulturminister machte Fühmann 1964 deutlich,
warum er nicht in der Lage sei, den von der Partei gewünschten Betriebsroman
zu schreiben:
Was zum Beispiel empfindet ein Mensch, der weiß, dass er sein Leben lang so
ziemlich dieselbe Arbeit für so ziemlich dasselbe Geld verrichten wird, als beglückend
und was als bedrückend an eben dieser Arbeit; wo bringt sie ihm Reize, wo Freude, wo
Leid, in welchen Bildern, auf welche Weise erscheint sie in seinem Denken und Fühlen
usw. Ich weiß es nicht und kann es nicht nachempfinden.
Andererseits aber bildeten sich neben der sprunghaft wachsenden
Volkskorrespondentenbewegung aus fast zehntausend ehrenamtlichen
Mitarbeitern bei Zeitungen und Rundfunk Hunderte von Zirkeln schreibender
Arbeiter, wodurch eine passive Konsumentenhaltung gegenüber dem
Schreiben aufgebrochen werden konnte. Ein neues literarisches Genre
entstand: das Brigadetagebuch, worin Arbeiter selbst über Probleme in der
Produktion und unter den Kollegen berichteten, ohne sich unbedingt an die
parteioffiziellen Vorgaben zu halten. Vollständig vermessen war es dann aber,
in diesen Texten eine "Keimzelle der deutschen Nationalliteratur" zu erblicken.
Auf der 2. Bitterfelder Konferenz 1964 wurde die Kampagne
abgebrochen: Widerstände unter den Berufsschriftstellern hatten sich als zu
stark herausgestellt; ein weiteres Hemmnis waren auch ästhetische
Konventionen aus dem Kanon des sozialistischen Realismus. Dazu kam bei
vielen die Weigerung, sich für eine Literatur der Partei instrumentalisieren zu
lassen oder als nicht-proletarische Dichter die Lebenserfahrungen der Arbeiter
literarisch zu realisieren, wie es ja auch Fühmann abgelehnt hatte. Zudem
hatten sich zu Beginn der sechziger Jahre einige gesellschaftspolitische
Voraussetzungen geändert, die es der Partei kulturpolitisch nicht mehr opportun
erscheinen ließen, noch länger auf einer Produktionsliteratur aus der
37
Perspektive von unten zu insistieren.
In der offiziell nach wie vor beliebten antifaschistischen und
Antikriegsliteratur begann mittlerweile eine Darstellungsweise zu dominieren,
die das Geschehen vom Standpunkt bereits überzeugter Antifaschisten und
Widerstandskämpfer präsentiert. Weitgehend unberücksichtigt blieb aber die
Frage, wie denn die Indifferenten, Naiven und Opportunisten der Hitlerzeit
anzusprechen seien, die schließlich die übergroße Mehrheit der DDR-Bürger
bildeten. Inmitten dieser Literatur war Franz Fühmann die Ausnahme. Motive
und Ursachen für die Hinwendung zum Faschismus sowie Bedingungen für die
Abwendung davon hat der Autor in der vielbeachteten Novelle Kameraden
(1955) wie auch später in dem Erzählband Das Judenauto (1962) literarisch
beispielhaft aufgearbeitet. Fühmann, 1922 geboren, war selbst jahrelang Soldat
der Nazi-Wehrmacht und hatte erst in sowjetischer Kriegsgefangenschaft damit
begonnen, sich zum Antifaschisten und Sozialisten zu entwickeln:
Ich bin gleich Tausenden andren meiner Generation zum Sozialismus nicht
über den proletarischen Klassenkampf oder von der marxistischen Theorie her, ich bin
über Auschwitz in die andre Gesellschaft gekommen. Das unterscheidet meine
Generation von denen vor ihr und nach ihr, und eben dieser Unterschied bedingt
unsere Aufgabe in der Literatur...
Hommage an Franz Fühmann (2008)
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Seit 1950 in Berlin/DDR lebend, ist Fühmann als sehr einflussreicher
Autor von Gedichten, erzählender Prosa, Tagebüchern und Nachdichtungen
hervorgetreten. Nicht zu vergessen sind seine literaturkritischen Aufsätze und
Essays, besonders über E.T.A. Hoffmann und Georg Trakl. Unermüdlich setzte
er sich für junge, noch unbekannte Autoren ein. 1976 gehörte er zu den
Erstunterzeichnern der Resolution gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns.
Franz Fühmann verstarb 1984.
FRANZ FÜHMANN, Das Judenauto
Sein Grundthema der Aufarbeitung der – auch eigenen – faschistischen
Vergangenheit konkretisiert der Autor in dieser Erzählung im Bild des
bluttriefenden Judenautos, in das sich dem Hass berauschten Schüler ein
harmloses Fahrzeug verwandelt.
Wie tief hinab reicht das Erinnern?
(…)
Eines Morgens, es war im Sommer 1931, und ich war damals neun Jahre alt,
kam, wie immer wenige Minuten vor dem Läuten, das Klatschmaul der Klasse, die
schwarzgezopfte, wie ein Froschteich plappernde Gudrun K. wieder einmal mit ihrem
Schrei: “Ihr Leute, ihr Leute, habt ihr´s schon gehört!” in die Klasse gestürmt. Sie
keuchte, da sie das schrie, und fuchtelte wild mit den Armen; ihr Atem flog, doch sie
schrie dennoch: “Ihr Leute, ihr Leute!” und rang im Schreien schnaufend nach Luft. Die
Mädchen stürzten ihr, wie immer, entgegen und umdrängten sie jäh wie ein
Bienenschwarm seine Königin (…).
Ein Judenauto sei, so sprudelte sie heraus, in den Bergen aufgetaucht und
fahre abends die wenig begangenen Wege ab, um Mädchen einzufangen und zu
schlachten und aus ihrem Blut ein Zauberbrot zu backen; es sei ein gelbes, ganz
gelbes Auto, so redete sie, und Mund und Augen waren vor Entsetzen verzerrt: ein
gelbes, ganz gelbes Auto mit vier Juden drin, vier schwarzen mörderischen Juden mit
langen Messern, und alle Messer seien blutig gewesen, und vom Trittbrett habe auch
Blut getropft, das hätten die Leute deutlich gesehen, und vier Mädchen hätten sie
bisher geschlachtet, zwei aus Witkowitz und zwei aus Böhmisch-Krumma; sie hätten
sie an den Füßen aufgehängt und ihnen den Kopf abgeschnitten und das Blut in
Pfannen auslaufen lassen, und wir lagen übereinandergedrängt, ein Klumpen
Entsetzen, der kreischte und bebte (…).
(…) da kam, Korn und Gras zur Seite drängend, ein braunes Auto langsam den
Feldweg herunter.
Da ich es vernahm, schrak ich zusammen, als sei ich bei einem Verbrechen
ertappt worden; ich riß die Hände von meiner Brust, und das Blut schoß mir jäh in den
Kopf. Mühsam sammelte ich meine Gedanken. Ein Auto? Wie kommt ein Auto hierher,
dachte ich stammelnd; da begriff ich plötzlich: das Judenauto! Ein Schauer überrann
mich; ich stand gelähmt. Im ersten Augenblick hatte ich zu sehen vermeint, daß das
Auto braun war; nun, da ich, entsetzt und von einer schaurigen Neugier angestachelt,
ein zweites Mal hinblickte, sah ich, daß es mehr gelb als braun war, eigentlich gelb,
39
ganz gelb, grellgelb. Hatte ich anfangs nur drei Personen drin gesehen, so hatte ich
mich sicher getäuscht, oder vielleicht hatte sich einer geduckt, sicher hatte sich einer
geduckt, es waren ihrer vier im Wagen, und einer hatte sich geduckt, um mich
anzuspringen, und da fühlte ich Todesangst. Es war Todesangst; das Herz schlug nicht
mehr; ich hatte sein Schlagen nie wahrgenommen, doch jetzt da es nicht mehr schlug,
fühlte ich es: ein toter Schmerz im Fleisch, eine leere Stelle, die, sich verkrampfend,
mein Leben aussog. Ich stand gelähmt und starrte auf das Auto, und das Auto kam
langsam den Feldweg herunter, ein gelbes Auto, ganz gelb, und es kam auf mich zu,
und da, als habe jemand einen Mechanismus in Gang gesetzt, schlug mein Herz
plötzlich wieder, und nun schlug es rasend schnell, und rasend überschlugen sich
meine Gedanken: schreien, davonlaufen, im Korn verstecken, ins Gras springen, doch
da fiel mir in der letzten Sekunde noch ein, daß ich keinen Verdacht erregen durfte. Ich
durfte nicht merken lassen, daß ich wußte: Das war das Judenauto, und so ging ich,
von Grauen geschüttelt, mäßigen Schrittes den Feldweg hinunter, mäßigen Schrittes
vor dem Auto, das Schritt fuhr, und mir troff der Schweiß von der Stirn, und ich fror
zugleich, und so ging ich fast eine Stunde, obwohl es zum Dorf nur ein paar Schritte
waren. Meine Knie zitterten; ich dachte schon, daß ich umfallen würde, da hörte ich,
wie ein Peitschenschlag knallend, eine Stimme aus dem Wagen: ein Anruf vielleicht
oder ein Befehl, und da wurde mir schwarz vor den Augen: ich spürte nur noch, wie
meine Beine liefen und mich mit sich nahmen; ich sah und hörte nichts mehr und lief
und schrie, und erst, als ich mitten auf der Dorfstraße stand, zwischen Häusern und
unter Menschen, wagte ich keuchend, mich umzuschauen, und da sah ich, daß das
Judenauto spurlos verschwunden war.
Natürlich erzählte ich am nächsten Morgen in der Klasse, daß mich das
Judenauto stundenlang gejagt und fast erreicht habe und daß ich nur durch ganz tolles
Hakenschlagen entkommen sei, und ich schilderte das Judenauto: gelb, ganz gelb und
mit vier Juden besetzt, die blutige Messer geschwungen hatten, und ich log nicht, ich
hatte alles ja selbst erlebt. Die Klasse lauschte atemlos.
Der bedeutendste und auch populärste KZ-Roman nach Anna Seghers
Das siebte Kreuz ist Nackt unter Wölfen (1958) von Bruno Apitz. Der Autor hat
selbst fast die ganze Nazi-Zeit in Zuchthäusern und Lagern verbracht, zuletzt in
Buchenwald. Der authentisch fundierte Roman erzählt von der Rettung eines
dreijährigen jüdischen Kindes, das in Buchenwald versteckt gehalten wird. Der
Plan der illegalen Lagerleitung, einen bewaffneten Aufstand gegen die KZ-
Bewacher vorzubereiten, gerät in Gefahr, da einige der führenden Genossen in
die Rettungsaktion für das Kind verwickelt sind. Doch der Aufstand gelingt, das
Kind wird gerettet, das nun symbolträchtig nach monatelanger Stummheit
schreit.
Stellvertretend für die in den fünfziger Jahren entstandene Produktionsoder
Aufbauliteratur steht der Roman von Eduard Claudius Menschen an
unserer Seite aus dem Jahre 1951, da er den entscheidenden Impuls für diese
Tendenz bis hin zur Bitterfelder Konferenz gab. Claudius hat die geradezu
vorbildliche Biografie eines proletarisch-revolutionären Schriftstellers:
40
kommunistischer Arbeiter, Kämpfer bei den Internationalen Brigaden im
Spanischen Bürgerkrieg, während des Faschismus zuerst in Haft, dann als
Internierter im Schweizer Exil, schließlich Partisan in Norditalien. Nach
Kriegsende zuerst in den Westzonen, dann ab 1948 in der SBZ. Freier
Schriftsteller, ab 1956 im Diplomatischen Dienst der DDR.
Der Roman zeigt den neuen proletarischen Menschen im Kampf mit
Widersprüchen und Konflikten und nicht einfach als einen strahlenden Helden.
Ausgangspunkt des Romans ist eine wahre Begebenheit: Der Arbeiter Hans
Garbe hatte sich die Reparatur eines Brennofens in einem Berliner Großbetrieb
zum Ziel gesetzt, ohne diesen abstellen zu lassen. Gegen Widerstände, selbst
bei Parteivertretern, und auch gegen Sabotageakte seiner Kollegen gelingt es
Garbe und seinem Kollektiv, den bei eintausend Grad arbeitenden Ofen neu zu
mauern. Auffallend ist die relativ realistische und wenig plakative Beschreibung
der Menschen, auch in ihrem Verhältnis zur SED, der Probleme des
gespaltenen Deutschlands sowie die freie Behandlung erotischer Themen.
Deshalb hatte der ursprüngliche Verlag des Autors den Roman als
"unsozialistisch" und "parteifeindlich" abgelehnt; Claudius musste sich einen
anderen Verleger suchen.
Hommage an Stefan Heym (2008)
41
Ebenfalls als Betriebsroman kann Stefan Heyms 5 Tage im Juni gelesen
werden, der – im Jahre 1959 unter dem Titel Der Tag X entstanden – erst
dreißig Jahre später, im November 1989, in der DDR erscheinen konnte.
Heyms Buch, das 1974 in überarbeiteter Form bereits in der Bundesrepublik
publiziert wurde, ist der bis dato einzige nicht parteikonforme belletristische Text
zu den Ereignissen des Arbeiteraufstands 1953. Am 17. Juni kam es damals in
vielen Städten der DDR zu einem Generalstreik und Massendemonstrationen
der Arbeiter, die eine Herabsetzung der Arbeitsnormen und politische Freiheiten
forderten. Da Partei- und Staatsmacht der DDR sich versteckt hielten, wurde
die Revolte von sowjetischen Panzern unterdrückt.
Uwe Johnson, Mutmassungen über Jakob
Noch nicht allzu lange wird Uwe Johnson zur DDR-Literatur gerechnet,
der während seiner Zeit im preußisch-deutschen Sozialismus vielleicht die
interessanteste Prosa dort schrieb. Sein erstes Werk Ingrid Babendererde.
Reifeprüfung 1953 entstand zwischen 1953-56, wurde jedoch erst 1985 aus
dem Nachlass veröffentlicht. Ein inhaltlich brisantes Buch (auch über das Tabu
der Republikflucht junger Menschen) in einem hochkomplexen Erzählstil. Der
publizistische Erstling war dann aber Mutmassungen über Jakob, der 1959 nur
in der Bundesrepublik erschien und auch den Wechsel Johnsons von Ost nach
West markiert. Mit diesem Roman rückte der junge Autor auf einen Schlag zu
einem der Protagonisten des neuen westdeutschen Romans an der Seite von
Heinrich Böll und Günter Grass auf: Thematisch von der Kritik sofort als
“Roman der beiden Deutschland” bezeichnet, der in Wirklichkeit aber eher über
die DDR denn die BRD berichtet, macht sich der Autor früher als seine
ostdeutschen Kollegen Erzähltechniken der Moderne, insbesondere von
Faulkner, Joyce und Brecht, zu eigen. Eigentlich hätten die Mutmassungen
durchaus auch ins Schema des offiziell eingeforderten Betriebsromans gepasst,
denn selten nur haben die Leser eine derartig präzise Beschreibung der
Arbeitswelt, in diesem Fall bei der DDR-Eisenbahn, vorgeführt bekommen.
Worum es dem Autor bei seinem Buch geht, fasst er in einem Exposé für den
Verleger Suhrkamp so zusammen: Es solle
42
Hommage an Uwe Johnson (2008)
erzählen von der Bedingung und Veränderung dreier Personen durch ihre
Aufgaben im Bereich der Arbeit und durch ihre Berührungen mit der Maschine
Gesellschaft. Einer (...) ist im Herbst 1956 achtundzwanzig Jahre alt, in der beruflichen
Ausbildung und Tätigkeit auf der Stufe eines Dispatchers bei der “Deutschen
Reichsbahn”. Darin schon überfordert, wird er nachhaltig gestört durch das Verhalten
seiner Mutter, die unverhofft und unerklärt aus dem Land davonläuft. Zu danken hat er
dies einem Interessenten von der geheimen Polizei, der Auskünfte wünscht über eine
Person, an der sie einmal Mutterstelle vertreten hatte. Diese Halbwaise, Tochter ihres
Hauswirts, inzwischen dreiundzwanzig Jahre alt, ist als Angestellte einer Behörde des
Nordatlantischen Vertrages womöglich im Besitz von Kenntnissen, nach denen die
Rote Armee sich sehnt.
Ähnlich wie in den drei Westzonen wurde auch in der SBZ schon in den
ersten Nachkriegsmonaten das Theaterleben nachhaltig gefördert, kamen
Autoren und Stücke auf die Bühne, die dem deutschen Theaterbesucher
unbekannt waren – so von Jean Anouilh, Jean Paul Sartre, Noel Coward, T.S.
Eliot, Tennessee Williams. In der Dramaturgie herrschte die Darstellung von
Emotionen, Konflikten und Aktion vor, insbesondere die Methode der
psychologischen Einfühlung des russischen Theatermachers Konstantin
Stanislawski. Die großen Lehrmeister des sozialistischen deutschen Theaters,
Friedrich Wolf und vor allem Bertolt Brecht, verfügten zunächst nur über
geringen Einfluss.
43
Wolf kam gleich 1945 aus sowjetischen Exil nach Ostberlin zurück. Er,
der in der Weimarer Zeit und in der Emigration durch politisch effektvolles
Theater mit Stücken wie Cyankali und Professor Mamlock hervorgetreten war,
hatte in den ersten Jahren in der auf Klassik und bürgerliches Theater
ausgerichteten Theaterlandschaft der SBZ große Schwierigkeiten, wieder Fuß
zu fassen. Konsequenterweise war aber gerade Wolf einer der ersten
Stückeschreiber, die sich der neuen Realität in der DDR zuwandten: In
Bürgermeister Anna (1950) thematisierte er die Lage auf dem Lande und die
damalige Situation der Frau.
Brecht kam erst 1948 und damit relativ spät nach Ostberlin und war
zunächst nur mit zwei Stücken aus der Emigrationszeit auf den Bühnen
vertreten (Die Gewehre der Frau Carrar und Furcht und Elend des Dritten
Reiches), die zudem nicht in seinem Sinne inszeniert wurden. Er erkannte bald,
dass er seine revolutionäre Theaterkonzeption des Lehrtheaters den neuen
Bedingungen des Nachkriegs anpassen musste: Nach zwölf Jahren
Nationalsozialismus, Krieg, Niederlage und tausendfach erlebter Schmach und
Schande fand sich kein breites klassenbewusstes Arbeiterpublikum mehr. Eine
proletarische Öffentlichkeit wie vor 1933 existierte nicht mehr. Notwendig war
eine – so Brecht – "demokratisierung des theaters".
Bereits 1922 erhielt er den anerkannten Kleist-Preis für Trommeln in der
Nacht. Danach war Brecht als Dramaturg und freier Schriftsteller tätig. 1933
geht er in die Emigration über die Tschechoslowakei, die Schweiz, Frankreich,
Dänemark, Schweden, Finnland, die Sowjetunion schließlich in die USA, wo er
ab 1941 lebt. 1947 Rückkehr nach Europa, zuerst nach Zürich, dann nach
Ostberlin. 1951 wird ihm der Nationalpreis I. Klasse der DDR zuerkannt. Im
"Kleinen Organon für das Theater", 1947/48 geschrieben und ein Jahr später
veröffentlicht, wird deutlich an Grundelementen des epischen Theaters
festgehalten: Gegen ein Theater der Einfühlung, Identifikation und Illusionierung
stellt Brecht nach wie vor das mittels Verfremdungseffekt den Schein
zerstörende, kritische, historisierende Theater, welches dem Zuschauer Lernen,
Erkennen und parteiliches Verhalten ermöglichen soll. Doch wird nun die
Ästhetik des Schauens rehabilitiert und explizit die Fabel als "Herzstück der
theatralischen Veranstaltung" wieder aufgewertet.
1949 gründeten Brecht und seine Ehefrau und bevorzugte Schau-
44
spielerin Helene Weigel das noch heute bestehende Berliner Ensemble, wo
Brecht nun im eigenen Theater seine Konzeptionen erproben konnte und
dadurch in der Folgezeit für die DDR-Dramaturgie und Theaterliteratur zum
spiritus rector wurde. Neben eigenen Stücken aus der Exilzeit, so die
beispielhafte Inszenierung seiner Mutter Courage und ihre Kinder (Uraufführung
1941 in Zürich mit Helene Weigel in der Hauptrolle), brachte er einige
zeitgenössische Stücke anderer Autoren (z.B. von Erwin Strittmatter und J.R.
Becher) auf die Bühne, beschäftigte sich ansonsten nur partiell mit der
Gegenwart der DDR und widmete sich vor allem der Bearbeitung älterer
Vorlagen von Shakespeare, Goethe, Molière und Jakob Reinhard Michael Lenz.
Hommage an Bertolt Brecht (2008)
Mit der neuen Wirklichkeit in der industriellen und landwirtschaftlichen
Produktion der jungen DDR beschäftigte sich aber das Theater durchaus und
kreierte dabei auch ein eigenes Genre, das “Agrodrama” (David Bathrick), für
das Friedrich Wolfs Bürgermeister Anna und Erwin Strittmatters Katzgraben in
der Inszenierung Brechts die Maßstäbe setzten und das sich bei Autoren und
Publikum großer Beliebtheit erfreute. Jedoch sind nur wenige anspruchsvolle
Stücke zu verzeichnen, da die meisten appellativ und tendenziös bleiben.
Erwähnenswert sind Moritz Tassow von Peter Hacks (Uraufführung 1965) und
45
Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande von Heiner Müller,
geschrieben zwischen 1956-61. Nach einer einmaligen Aufführung auf einer
kleinen Studentenbühne wird das Stück sofort abgesetzt und der Autor aus dem
Schriftstellerverband ausgeschlossen. Müller hatte eine zu realistische und
kompromisslose Darstellung des Lebens auf dem Land gegeben und gezeigt,
wie sehr der Aufbau in der DDR mit der Hypothek der faschistischen
Vergangenheit belastet ist: "So sah sie aus, die neue / Zeit: nackt, wie
Neugeborene immer, naß / Von Mutterblut – Beschissen auch." Die neue
Version Die Bauern (1964) erlebte ihre Uraufführung erst 1976, bis das Stück
dann 1985 endlich unzensiert gespielt werden konnte.
Heiner Müller ist – aus historischem Abstand betrachtet – zweifellos der
eigenwilligste und originellste Theaterdichter der DDR nach Brecht. Nach dem
Kriege und der Übersiedlung nach Ostberlin war er ab 1950 Journalist und
später Mitarbeiter beim Schriftstellerverband der DDR. Seit 1955 arbeitete er an
den ersten eigenen Stücken. 1956-58 erste Aufführungen in Leipzig und Berlin.
Thematisch beschäftigen sich Müllers Dramen mit der DDR und ihrer
Entwicklung, deutscher Geschichte (Germania Tod in Berlin, 1971) und der
Geschichte der Revolution (Zement, 1972; Der Auftrag, 1979). Immer wieder
greift er auf den Mythos zurück (Philoktet, 1958-64; Prometheus, 1967) sowie
auf Vorlagen von anderen Autoren wie Shakespeare oder Choderlos de Laclos
(Die Hamletmaschine, 1977; Quartett, 1980/81). Auch Heiner Müller gehörte zu
den ersten, die die Biermann-Resolution unterzeichneten.
Neben das Agrodrama trat als neues Genre, das sich mit DDR-
Wirklichkeit beschäftigte, das Produktionsstück, eine Tendenz der DDR-
Dramatik, die in der Prosa ihre Analogien fand und bis in die jüngste
Vergangenheit zurückreicht. Oft aber verbindet sich darin der Einfluss
Brechtscher Dramaturgie mit der Darstellung der Fabrik-Realität und einem
allzu harmonischen Ausklang. Auch hier faszinieren vor allem die Stücke Heiner
Müllers durch ihren Realismus, der sie die Zeit überdauern lässt. Beispielhaft
Der Lohndrücker (entstanden 1956, uraufgeführt 1958), den der Autor selber
nach dreißig Jahren noch einmal höchst aktuell inszenierte. Der Stoff geht auf
jene authentische Begebenheit zurück, die Eduard Claudius in seinem
Betriebsroman Menschen an unserer Seite verarbeitet hatte und an der sich
46
auch Brecht versucht hatte. Interessant sind bei Müller die offene Form,
neunzehn kurze Bilder ohne Kontinuität der Handlung; die fehlende
Hierarchisierung der Rollen: der Protagonist steht weder im Zentrum noch ist er
beispielgebend. Das alles präsentiert in einer präzisen, gestischen Sprache.
Hommage an Heiner Müller (2008)
In der Zeitspanne von der Gründung der Republik bis zum Bau der
Mauer war die Lyrik recht vielförmig und kaum auf einen Nenner zu bringen.
Stellvertretend für die affirmative, den Sozialismus und die Partei
propagierende Dichtung sollen hier nur einige Verse aus Hasso Grabners
Preisgedicht "Dem jungen Flieger" (1961) zitiert werden:
Reiß hoch den silbernen Pfeil,
Arbeiterjunge am Steuer
des Düsenjägers. Dein ist der Himmel,
du neuer Herr im neuen Land,
du, mit des guten Hegers
schützender Hand,
Sinnbild der Arbeit erstarke.
Doch auch die Exzesse der Stalin-Verehrung in der Lyrik, an der viele
47
namhafte Dichter und selbst Brecht sich beteiligten, sollen nicht unerwähnt
bleiben. Anlässlich des Todes von Stalin 1953 verfasste J. R. Becher ein
hymnisches Bekenntnis. Darin heißt es:
Gedenke, Deutschland, deines Freunds, des besten.
O danke Stalin, keiner war wie er
So tief verwandt dir. Osten ist und Westen
in ihm vereint. Er überquert das Meer,
Und kein Gebirg setzt ihm eine Schranke,
kein Feind ist stark genug, zu widerstehn
Dem Mann, der Stalin heißt, denn sein Gedanke
wird Tat, und Stalins Wille wird geschehn.
Schnell erkennen die Leser, dass hier die künstlerische Aussage durch
das ideologische Dogma zunichte wird: Poesie im Dienst des Personenkults.
Becher hatte Stalin "für einen der Genien der Menschheit" gehalten, später
jedoch in seiner Selbstkritik zum Stalinismus, die 1988 in der DDR veröffentlicht
wurde, auch bekannt, "dass die Methoden, derer er (Stalin, d. Verf.) sich zu
seiner Machterhaltung bediente,... rückständige, wenn nicht barbarische
waren".
Neben dem Werk Peter Huchels, Erich Arendts und des für die junge
Lyriker-Garde wichtigen Dichter-Lehrers Georg Maurer macht vor allem die
Spätlyrik Brechts ihren Einfluss geltend. Vor allem in den seit 1953
entstehenden Gedichten, so in den Buckower Elegien, wird nun die ganze
Wirklichkeit, ebenfalls in ihren scheinbar unpolitischen Aspekten erfasst. Auch
die Liebe und die Natur kommen wieder zu ihrem Recht, ohne dass die
gesellschaftliche Perspektive verloren ginge. Brecht geht es immer deutlicher
um die Produktion von Glück und Freundlichkeit im Sozialismus. Dabei greift
der Dichter in der Form zu den Mitteln der Verknappung, sprachlicher
Überraschungen bis hin zur Auflösung der Syntax.
BERTOLT BRECHT, Vergnügungen
Als inhaltlich und formal beispielhaft kann ein um 1954 entstandenes
Gedicht gelten, das, oberflächlich besehen, sich als ein Katalog rein zufällig
zusammengetragener privater Glücksmöglichkeiten darstellt. Dennoch kann
48
jeder Vers – zum Beispiel im Kontext mit Brechts Biografie und der
Zeitgeschichte – eine soziale Dimension gewinnen. Außerdem zeigen die
Paarbildungen, die Positionierung des Begriffs "Dialektik" in der
Gesamtstruktur, sowie die Referenzmöglichkeiten der einzelnen Verse die
künstlerische Reflexion des Dichters.
Der erste Blick aus dem Fenster am Morgen
Das wiedergefundene alte Buch
Begeisterte Gesichter
Schnee, der Wechsel der Jahreszeiten
Die Zeitung
Der Hund
Die Dialektik
Duschen, Schwimmen
Alte Musik
Bequeme Schuhe
Begreifen
Neue Musik
Schreiben, Pflanzen
Reisen
Singen
Freundlich sein.
Von den jüngeren machen vor allem zwei Dichter in dieser Zeit auf sich
aufmerksam: Der 1929 in Berlin geborene Günter Kunert veröffentlichte mit
einundzwanzig Jahren bereits seinen ersten Gedichtband, der ein junges
unangepasstes, hochbegabtes Talent vorstellt. Auch die folgenden Bände Unter
diesem Himmel (1955), Tagwerke (1960), Das kreuzbrave Liederbuch (1961)
verweisen auf ein an Brecht, aber auch z.B. an Heinrich Heine und Edgar Lee
Masters geschultes Aussage- und Formbewusstsein, auf eine Vorliebe für
Paradox, Lakonik und Lapidarstil. Dabei lehnt Kunert die Brechtsche Didaktik
ab, wenn er 1965 sagt:
Lehrgedichte heute müssten schwarze Lehrgedichte sein, die mit schlechtem
Beispiel vorangehen, das Negative (was ist das?) als Ziel zeigen – auf eine Art aber,
die aus dieser 'Lehre' eine Gegenlehre ziehen läßt.
Günter Kunert besuchte von 1936-38 die Volksschule, eine weitere
Ausbildung war ihm zunächst durch die NS-Rassengesetze verwehrt; 1943-44
Lehre; 1946-49 Studium der angewandten Kunst (Grafik). 1950 Teilnahme am
1. Schriftstellerlehrgang (zusammen mit Heiner Müller, Erich Loest). 1962
Heinrich Mann-Preis, 1973 Johannes R. Becher-Preis. 1976 Unterzeichnung
49
der Biermann-Petition. 1977 Streichung der SED-Mitgliedschaft. Lebt und
arbeitet seit 1979 in der Bundesrepublik.
Hommage an Günter Kunert (2008)
GÜNTER KUNERT, Über einige Davongekommene
1950 veröffentlichte Kunert in seinem ersten Gedichtband Wegschilder
und Mauerinschriften den Neunzeiler "Über einige Davongekommene". Die
Skepsis, die darin zum Ausdruck kommt, lässt sich durch die damalige
politische Großwetterlage (Kalter Krieg, Korea-Krieg) erklären, wurzelt ohne
Zweifel aber noch tiefer.
Als der Mensch
unter den Trümmern
seines
bombardierten Hauses
hervorgezogen wurde,
schüttelte er sich
und sagte:
Nie wieder.
Jedenfalls nicht gleich.
Der um einiges ältere Johannes Bobrowski begann erst in sowjetischer
Kriegsgefangenschaft zu schreiben. Er steht nach eigener Aussage in der
Tradition des Naturgedichts von Peter Huchel. Sein besonderes Thema, dem er
50
in Lyrik und Prosa nachgeht, sind aufgrund auch persönlicher Erfahrungen "die
Deutschen und der europäische Osten". Dabei verwendet er eine geografische
Chiffre: Sarmatien (Sarmatische Zeiten, BRD 1960/ DDR 1961). Diese antike
Bezeichnung für den Siedlungsraum zwischen Ostsee und Schwarzem Meer
steht hier ganz speziell für das aggressive Verhältnis der Deutschen zu ihren
östlichen Nachbarn und den Juden.
Das für Bobrowski typische Ineinander von Natur, Geschichte, Krieg und
Zerstörung kommt in seiner syntaktisch und lexikalisch eigenwilligen Sprache in
dem Gedicht "Kloster bei Nowgorod" (1960/61) in wenigen Versen so zum
Ausdruck:
das Hungertuch Nacht, von verstummten
Vögeln durchstürzt...silberner steigt,
flossenstarrend
der Hecht aus dem Grund.
Es ist die Natur, aber als "Wirkungsfeld des Menschen", die die "lange
Geschichte aus Unglück und Verschuldung" (Bobrowski) im Gedächtnis
aufbewahrt. So heißt es am Schluss des Gedichts "Antwort" (1963):
Die mich einscharren
unter den Wurzeln,
hören:
er redet,
zum Sand,
der ihm den Mund füllt - so wird
reden der Sand, und wird
fliegen das Wasser.
51
Hinter der Mauer – "in diesem besseren Land"
Hommage an Wolf Biermann (2008)
Die sechziger Jahre bringen einige einschneidende gesellschaftspolitische
Veränderungen mit sich. Zunächst einmal den Bau der Berliner Mauer am
13. 8. 1961 und den Ausbau der gesamten Grenzanlagen zur BRD. Offizielle
Begründung dafür ist der Schutz gegen imperialistische Machenschaften, in
Wirklichkeit geht es darum, den Massenexodus zu stoppen: Von der Gründung
der Republik bis zu diesem Tag waren zweieinhalb Millionen Menschen in den
Westen gegangen.
Obwohl SED-Chef Walter Ulbricht nur kurz davor noch erklärte:
“Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!” und die DDR
programmatisch noch bis Anfang/Mitte der 70er Jahre an der Einheit der
deutschen Nation festhielt, war der Mauerbau doch eine praktische Lösung der
nationalen Frage, der dann auch bald die offizielle Absage an eine einheitliche
deutsche Kultur folgte.
Mit der Abschottung Richtung Bundesrepublik entstand die Tendenz und
auch der Zwang für die Schriftsteller, sich stärker auf das eigene Land, seine
Widersprüche und Alltagsprobleme zu konzentrieren. Viele taten dies auch in
52
der offen eingestandenen Hoffnung, nun – ungestört von äußeren Einwirkungen
des Kalten Krieges – in einer freieren, demokratischeren Atmosphäre sich mit
Zustand und Bedingungen einer sozialistischen Entwicklung auseinandersetzen
zu können. Die Literatur verzeichnet also eine deutliche Ausprägung eines –
keineswegs antikommunistischen – Kritikpotentials, auf die Partei und Staat
prompt mit der Intensivierung der Zensur reagierten, wodurch sich für eine
Reihe von Autoren bald die schizophrene Situation einstellte: in der DDR über
und für sie zu schreiben, aber nur in der BRD veröffentlichen zu können und
auch hauptsächlich dort gelesen zu werden.
Dennoch herrschte bis Mitte der sechziger Jahre eine durchaus
widersprüchliche kulturpolitische Situation. Einerseits wurde noch 1963 von der
DDR-Germanistik mit Franz Kafka abgerechnet, doch erschienen zugleich
einzelne Werke des Prager Autors. Westdeutsche Literatur konnte durchaus
veröffentlicht werden, wenn auch bevorzugt von eher "links" eingestuften
Autoren wie Martin Walser, Peter Weiss, Heinrich Böll. Und Stephan Hermlin
konnte 1962 die keineswegs botmäßigen Vertreter der jungen Lyrikergeneration
wie Sarah Kirsch, Volker Braun und Wolf Biermann der Öffentlichkeit vorstellen.
Dafür wurde er jedoch alsbald von der Partei schwer kritisiert. Auch schirmte
sich die offizielle Kultur immer stärker gegen neue, moderne Tendenzen und
dann auch gegen die bundesrepublikanische Literatur schlechthin ab. In diesen
Rahmen gehörte auch die ebenfalls 1962 beschlossene Absetzung von Peter
Huchel als Chefredakteur der wichtigen Literaturzeitschrift "Sinn und Form", die
er seit 1949 geleitet hatte.
Das Jahr 1965 sah den Höhepunkt des Kampfes der SED gegen alle
intellektuellen und literarischen Strömungen, die sich unangepasst und kritisch
zum "realen Sozialismus" verhielten. Auf einer Konferenz des Zentralkomitees
der Partei wurden sie verurteilt als "modernistisch", "skeptizistisch",
"anarchistisch", "nihilistisch", "liberalistisch" und sogar "pornografisch". Die
betroffenen Autoren waren Günter Kunert, Heiner Müller, Stefan Heym, Wolf
Biermann. Der spätere Parteichef Erich Honecker fasste die Aktion zur
Reinigung der DDR-Literatur von nonkonformistischen ideologischen und
politischen Tendenzen in dem Satz zusammen: "Unsere DDR ist ein sauberer
Staat." Eine Zeit der Verhärtung setzte ein, die sich mit den Ereignissen des
Jahres 1968 noch verstärkte: Gegenüber der Studentenbewegung und der
53
neuen Linken in Westeuropa reagierte die SED mit Unverständnis und weiterer
Abgrenzung. Und die Beteiligung der DDR als Mitglied des Warschauer Pakts
an der militärischen Intervention gegen den "Prager Frühling" als Versuch des
tschechoslowakischen Volkes, seinen Weg zu einem demokratischen
Sozialismus in Unabhängigkeit und Freiheit zu verfolgen, ließ die Partei- und
Staatsführung innenpolitisch noch rigider und unduldsamer reagieren.
In der Wirtschaftspolitik orientierte sie ab 1963 besonders auf eine
Modernisierung und Rationalisierung des ökonomischen Systems. Zentrale
personalpolitische Bedeutung erlangten dabei auf der einen Seite
Wissenschaftler und Techniker, auf der anderen die Planer und Leiter – im
Westen Manager geheißen – an den Schaltstellen der Produktion und in den
einzelnen Betrieben und Kombinaten. Um eine Steigerung der Produktivität
möglichst effektiv in Gang zu setzen und auch den einzelnen Werktätigen dafür
zu gewinnen, wurde das Prinzip des materiellen Anreizes zur Er- und
Übererfüllung des Wirtschaftsplanes generell durchgesetzt. Im Rahmen der
Systemkonkurrenz mit dem Kapitalismus, der immerzu "überholt" werden sollte,
wurde auch die DDR Opfer des Industrialismus und Konsumismus. Weite
Kreise in Partei, Staat und Wirtschaft waren von Wissenschaft und modernen
Technologien so fasziniert, dass Günter Kunert 1966 noch ganz allein stand mit
seiner Warnung, der wissenschaftlich-technische Fortschritt könne auch in
Menschenfeindlichkeit umschlagen:
Am Anfang des technischen Zeitalters steht Auschwitz, steht Hiroshima, die ich
nur in bezug auf gesellschaftlich organisiert verwendete Technik hier in einem Atemzug
nenne. Ich glaube, nur noch große Naivität setzt Technik mit gesellschaftlichhumanitärem
Fortschreiten gleich.
Die DDR-Literaturwissenschaft konstatiert für die sechziger Jahre, dass
die Literatur eine neue Qualität erreicht habe und man am "Anfang...der
Entfaltung der sozialistischen Nationalliteratur der DDR" stehe. Aus dem
historischen Abstand wird der Propagandacharakter eines solchen Anspruchs
überdeutlich. Was sich für diesen Zeitabschnitt feststellen lässt, ist eine
beachtliche literarische Vielfalt, die man in dieser Periode verschärften Kalten
Krieges vielleicht nicht vermuten würde. Die Arbeit am Vergangenheitsstoff –
Deutschland in Krieg und Faschismus – wurde fortgeführt und es entstanden
bedeutende Texte wie die von Helga Schütz (Vorgeschichten oder Schöne
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Gegend Probstein, 1970), Johannes Bobrowski (Levins Mühle. 34 Sätze über
meinen Großvater, 1964; Böhlendorff und Mäusefest, 1965), Jurek Becker
(Jakob, der Lügner, 1968) sowie von Fred Wander, der mit Der siebente
Brunnen (1971) einen der poetischsten KZ-Romane überhaupt vorlegt.
Die Erzählung "Mäusefest" von Johannes Bobrowski legt Zeugnis ab
von der fast vollkommen zerstörten Kultur des osteuropäischen Judentums. Der
Name des Helden Moise Trumpeter ist jiddisch, er selbst spricht auch Jiddisch,
eine aus mittelhochdeutschen, hebräischen, romanischen und auch slawischen
Elementen durchmischte Sprache. Wie diese selbst eine Form des
interkulturellen Austauschs darstellt, so geht es im Werk Bobrowskis auch
immer wieder um die Auseinandersetzung mit einer Vergangenheit des
Zusammenlebens verschiedener Ethnien im mittelosteuropäischen Raum,
besonders um das Verhältnis der Deutschen zu ihren osteuropäischen
Nachbarn. In den beiden Erzählbänden Boehlendorff und Mäusefest und Der
Mahner werden die wesentlichen durch den Krieg hervor gerufenen Zäsuren im
Leben der Generation des Autors sowie Menschen, Landschaften und
Geschichtliches seiner Heimat Ostpreußen geschildert. Bobrowskis Versuch
der Aussöhnung brachte ihm noch vor seinem frühen Tod mit achtundvierzig
Jahren ungeteilte Anerkennung sowohl in der DDR wie in der BRD.
Hommage an Johannes Bobrowski (2008)
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JOHANNES BOBROWSKI, Mäusefest
Die kleine 1962 verfasste Geschichte "Mäusefest" stellt immer wieder
und unvermutet die humorig-heitere Mäuse-Idylle in den großen historischen
Kontext des deutschen Überfalls auf Polen und der Judenvernichtung in den
Konzentrationslagern: Der 2. Weltkrieg wurde ausgelöst durch Hitlers
Einmarsch in Polen am 1. September 1939. Im so genannten Warschauer
Ghetto lebten rund vierhunderttausend Juden, von denen ab Juli 1942 täglich
bis zu zwölftausend Menschen in das Vernichtungslager Treblinka
abtransportiert wurden.
Moise Trumpeter sitzt auf dem Stühlchen in der Ladenecke. Der Laden ist klein, und er ist
leer. Wahrscheinlich weil die Sonne, die immer hereinkommt, Platz braucht und der Mond
auch. Der kommt auch immer herein, wenn er vorbeigeht. Der Mond also auch. Er ist
hereingekommen, der Mond, zur Tür herein, die Ladenklingel hat sich nur einmal und ganz
leise nur gerührt, aber vielleicht gar nicht, weil der Mond hereinkam, sondern weil die
Mäuschen so laufen auf den dünnen Dielenbrettern. Der Mond ist also gekommen, und
Moise hat Guten Abend, Mond! gesagt, und nun sehen sie beide den Mäuschen zu.
Das ist aber auch jeden Tag anders mit den Mäusen, mal tanzen sie so und mal so, und
alles mit vier Beinen, einem spitzen Kopf und einem dünnen Schwänzchen.
Aber lieber Mond, sagt Moise, das ist längst nicht alles, da haben sie noch so ein
Körperchen, und was da alles drin ist! Aber das kannst du vielleicht nicht verstehen, und
außerdem ist es gar nicht jeden Tag anders, sondern immer ganz genau dasselbe, und das,
denk ich, ist gerade so sehr verwunderlich. Es wird schon eher so sein, daß du jeden Tag
anders bist, obwohl du doch immer durch die gleiche Tür kommst und es immer dunkel ist,
bevor du hier Platz genommen hast. Aber nun sei mal still und paß gut auf.
Siehst du, es ist immer dasselbe.
Moise hat eine Brotrinde vor seine Füße fallen lassen, da huschen die Mäuschen näher, ein
Streckchen um das andere, einige richten sich sogar auf und schnuppern ein bißchen in die
Luft. Siehst du, so ist es. Immer dasselbe.
Da sitzen die beiden Alten und freuen sich und hören zuerst gar nicht, daß die Ladentür
aufgegangen ist. Nur die Mäuse haben es gleich gehört und sind fort, ganz fort und so
schnell, daß man nicht sagen kann, wohin sie gelaufen sind.
In der Tür steht ein Soldat, ein Deutscher. Moise hat gute Augen, er sieht: ein junger
Mensch, so ein Schuljunge, der eigentlich gar nicht weiß, was er hier wollte, jetzt, wo er in
der Tür steht. Mal sehen, wie das Judenvolk haust, wird er sich draußen gedacht haben.
Aber jetzt sitzt da der alte Jude auf seinem Stühlchen, und der Laden ist hell vom Mondlicht.
Wenn Se mechten hereintreten, Herr Leitnantleben, sagt Moise.
56
Der Junge schließt die Tür. Er wundert sich gar nicht, daß der Jude Deutsch kann, er steht
so da, und als Moise sich erhebt und sagt: Kommen Se man, andern Stuhl hab ich nicht,
sagt er: Danke, ich kann stehen, aber er macht ein paar Schritte, bis in die Mitte des Ladens,
und dann noch drei Schritte auf den Stuhl zu. Und da Moise noch einmal zum Sitzen
auffordert, setzt er sich auch.
Jetzt sind Se mal ganz still, sagt Moise und lehnt sich an die Wand.
Die Brotrinde liegt noch immer da, und, siehst du, da kommen auch die Mäuse wieder. Wie
vorher, gar nicht ein bißchen langsamer, genau wie vorher, ein Stückchen, noch ein
Stückchen, mit Aufrichten und Schnuppern und einem ganz winzigen Schnaufer, den nur
Moise hört und vielleicht der Mond auch. Ganz genau wie vorher.
Und nun haben sie die Rinde wiedergefunden. Ein Mäusefest, in kleinem Rahmen, versteht
sich, nichts Besonderes, aber auch nicht ganz alltäglich.
Da sitzt man und sieht zu. Der Krieg ist schon ein paar Tage alt. Das Land heißt Polen. Es ist
flach und sandig. Die Straßen sind schlecht, und es gibt viele Kinder hier. Was soll man da
reden? Die Deutschen sind gekommen, unzählig viele, einer sitzt hier im Judenladen, ein
ganz junger, ein Milchbart. Er hat eine Mutter in Deutschland und einen Vater, auch noch in
Deutschland, und zwei kleine Schwestern. Nun kommt man also in der Welt herum, wird er
denken, jetzt ist man in Polen, und später vielleicht fährt man nach England, und dieses
Polen hier ist ganz polnisch.
Der alte Jude lehnt an die Wand. Die Mäuse sind noch immer um ihre Rinde versammelt.
Wenn sie noch kleiner geworden ist, wird eine ältere Mäusemutter sie mit nach Hause
nehmen, und die andern Mäuschen werden hinterherlaufen.
Weißt du, sagt der Mond zu Moise, ich muß noch ein bißchen weiter. Und Moise weiß schon,
daß es dem Mond unbehaglich ist, weil dieser Deutsche da herumsitzt. Was will er denn
bloß? Also sagt Moise nur: Bleib du noch ein Weilchen.
Aber dafür erhebt sich der Soldat jetzt. Die Mäuse laufen davon, man weiß gar nicht, wohin
sie alle so schnell verschwinden können. Er überlegt, ob er Aufwiedersehn sagen soll, bleibt
also einen Augenblick noch im Laden stehen und geht dann einfach hinaus.
Moise sagt nichts, er wartet, daß der Mond zu sprechen anfängt. Die Mäuse sind fort,
verschwunden. Mäuse können das.
Das war ein Deutscher, sagt der Mond, du weißt doch, was mit diesen Deutschen ist. Und
weil Moise noch immer so wie vorher an der Wand lehnt und gar nichts sagt, fährt er
dringlicher fort: Weglaufen willst du nicht, verstecken willst du dich nicht, ach Moise. Das war
ein Deutscher, das hast du doch gesehen. Sag mir bloß nicht, der Junge ist keiner, oder
jedenfalls kein schlimmer. Das macht jetzt keinen Unterschied mehr. Wenn sie über Polen
gekommen sind, wie wird es mit deinen Leuten gehn?
Ich hab gehört, sagt Moise.
Es ist jetzt ganz weiß im Laden. Das Licht füllt den Raum bis an die Tür in der Rückwand.
Wo Moise lehnt, ganz weiß, daß man denkt, er werde immer mehr eins mit der Wand. Mit
jedem Wort, das er sagt. Ich weiß, sagt Moise, da hast du ganz recht, ich werde Ärger
kriegen mit meinem Gott.
57
Dominierend ist aber die Auseinandersetzung mit dem eigenen Land, mit
der eigenen Zeit, was sowohl dem offiziellen Auftrag wie auch dem eigenen
Interesse der Schriftsteller geschuldet war. Es bildete sich eine nach dem
Roman von Brigitte Reimann Ankunft im Alltag (1961) benannte
“Ankunftsliteratur” heraus. Das Ankommen in diesem besseren Land – so der
provokante Titel einer Lyrikanthologie (Hrsg. Adolf Endler und Karl Mickel) von
1966 – und im "realen Sozialismus", wie die Partei die aktuelle Gesellschaftsform
damals bezeichnete, geschieht aber nicht problemlos, sondern wird immer
auch zur Frage der Ankunft bei sich selbst, des "Zu-sich-selber-Kommens"
(J.R. Becher), zur Frage nach den Realisierungsmöglichkeiten des Individuums.
Das kann dann sogar, wie in dem wichtigen Dorfroman Ole Bienkopp (1963)
von Erwin Strittmatter, mit dem Tod des Helden enden. Widersprüche werden
entfaltet, die Partei hat nicht immer recht, auch wenn die Handlung letztlich
positiv ausgehen mag wie in Erik Neutschs Spur der Steine (1964), dem
wichtigsten Industrieroman, dessen Verfilmung 1966 nicht nur wegen einiger
Nacktszenen verboten wurde. Den DDR-Roman schlechthin veröffentlichte zu
jener Zeit Hermann Kant mit Die Aula (als Buch 1965 erschienen). Dabei
handelt es sich um ein grundsätzliches Bekenntnis zu Geschichte und System
der DDR, von wo aus die BRD nur noch als "absurde Fremde" erlebt wird. Der
Aufbau der neuen Gesellschaft wird am Beispiel der Brechung des bürgerlichen
Bildungsprivilegs, durch junge Arbeiter demonstriert, worauf auch der Titel
anspielt. Ein durchaus interessant geschriebenes Buch der Bilanz von zwanzig
Jahren DDR, das aber aufgeworfene Widersprüche nicht austrägt. Anders Der
geteilte Himmel, 1963 als zweite Erzählung von Christa Wolf erschienen.
Oberflächlich besehen scheint sie damit eine Geschichte über das geteilte
Deutschland und den Bau der Mauer zu erzählen. Das ist auch der
gesellschaftspolitische Hintergrund, doch nicht das – wie Wolf sagt –
"Grundthema". Das sei vielmehr "die Frage: Wie kommt es, dass Menschen
auseinandergehen müssen?" Warum bedeutet die Entscheidung für das jeweils
andere Deutschland das Ende einer Liebe? Was ist notwendig, um sich selbst
verwirklichen zu können und wo kann man es? Ein gut geschriebenes und
intelligent gebautes Buch, das sich inhaltlich und formal von den Vorgaben des
sozialistischen Realismus fast vollkommen verabschiedet und deshalb auch
von der DDR-Kritik nicht umstandslos in die Arme geschlossen werden konnte.
58
Doch: das Talent der jungen Autorin besticht, man will sie – divide et impera –
an sich binden und nimmt sie für drei Jahre probehalber ins Zentralkomitee auf.
Christa Wolf machte 1949 das Abitur und trat im selben Jahr der
kommunistischen Partei bei. Nach dem Germanistikstudium arbeitete sie
zunächst als Literaturkritikerin und Redakteurin. 1961 und 1963 veröffentlichte
sie ihre ersten eigenen Arbeiten, die in der DDR ein großes, nicht ungeteiltes
Echo fanden. 1965 wurde sie Mitglied des PEN-Zentrums der DDR. Ihre sehr
erfolgreichen Werke, die in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt sind und
allein in der DDR eine Millionenauflage erreichten, wurden allerdings von den
Partei- und Kulturfunktionären nicht immer einhellig positiv aufgenommen,
sondern oft scharf kritisiert und in einem Fall sogar stellenweise zensiert.1976
protestierte die Autorin als eine der ersten gegen die Biermann-Ausbürgerung.
Hommage an Christa Wolf (2008)
Ästhetisch beginnen sich in vielen Büchern dieser Jahre neue, der
Moderne verschriebene Tendenzen geltend zu machen. Lineare Erzählstrukturen
weichen der Zeitenschichtung, dem Einsatz von Rückblenden,
Perspektivwechsel; häufiger benutzt man den inneren Monolog oder die erlebte
Rede und setzt die Technik des Bewusstseinsstroms ein. Dies bündelt sich –
59
sehen wir einmal von Uwe Johnson und früheren Ansätzen bei Christa Wolf ab
– vor allem in drei längeren Romanwerken, mit denen ein bedeutsamer Teil der
DDR-Literatur in der zweiten Hälfte der 60er Jahre den Anschluss an die
moderne internationale Prosa vollziehen kann.
Der Weg nach Oobliadooh von Fritz Rudolf Fries (1966 nur in der BRD
veröffentlicht) konnte dreiundzwanzig Jahre lang in der DDR nicht erscheinen,
weil er den Normen des sozialistischen Realismus allzu deutlich widersprach.
Der Roman, der 1957/58 vor allem in Leipzig spielt, hat gleich zwei negative
Helden: Paasch, den Zahnarzt, und Arlecq, den Schriftsteller (der sehr stark an
den Autor selbst erinnert). Beide Freunde haben keine Lust, in der vorgefundenen
Gesellschaft sich mit einem genormten, langweiligen Leben abzufinden,
vielmehr zieht es sie in das "Land of Oobliadooh" (nach einer Jazzkomposition
von Dizzie Gillespie). "Oobliadooh" ist im Buch die Chiffre eines Traumes von
einem Leben, den die Freunde allerdings nicht realisieren können, auch nicht
bei einem Aufenthalt in Westberlin. Paasch endet in einer psychiatrischen
Anstalt, die Arlecq, der zunächst ebenfalls dort interniert war, wieder verlässt.
Der Text, der nicht auf ein Einverständnis mit der real existierenden sozialistischen
Gesellschaft hinausläuft, steht in der Tradition des Schelmenromans, die
der in Spanien geborene Fries als Autor und Übersetzer bestens kennt. Und:
nomen est omen – der Name Arlecq erinnert an Harlekin und weist auf den
pikarischen Helden hin, der nicht zu vorbildlichem Verhalten und zu einer
positiven Entwicklung verpflichtet werden kann.
Ein anderer, diesmal weiblicher Abenteuerroman ist Irmtraud Morgners
Hochzeit in Konstantinopel (1968) und erzählt die Vorhochzeitsreise einer
sozialistisch-feministischen Scheherazade, die ihrem Geliebten zwanzigundeine
Geschichten erzählt, um mit dem von ihm betriebenen Kult naturwissenschaftlicher
Abstraktion und seiner männlichen Eitelkeit fertig zu werden. Doch alles
vergebens. Aus der Hochzeit wird nichts – entscheidet sie. Ironie und
Montagetechnik sind Morgners kennzeichnende Stilmerkmale, die auch die
anderen Texte, vor allem ihre voluminösen Romane Leben und Abenteuer der
Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura (1974) und Amanda.
Ein Hexenroman (1983) auszeichnen.
60
Hommage an Irmtraud Morgner (2008)
Mit Nachdenken über Christa T. (1968) hat bei Christa Wolf eine
Entwicklung eingesetzt, die sie zu einer der bedeutendsten Nachkriegsschriftstellerinnen
deutscher Zunge macht, die seitens der Literaturwissenschaft
nicht von ungefähr an die Seite von Marguerite Duras, Virginia Woolf und
Ingeborg Bachmann gestellt wird. Bei Christa T. handelt es sich um eine Prosa
der "Trauerarbeit" (Alexander Mitscherlich), der Erinnerungsarbeit gegen das
Vergessen und Verdrängen gesellschaftlicher und individueller Geschichte.
Christa T., Schulkameradin und Kommilitonin der Erzählerin, später Frau
eines Tierarztes auf dem Lande und Mutter dreier Töchter, die schließlich im
Alter von etwa fünfunddreißig Jahren an Leukämie stirbt: das ist fast eine
banale Biographie. Und doch ist es viel mehr: Es ist der Lebenslauf einer
jungen Frau, die durchaus in Übereinstimmung mit den Idealen der
sozialistischen Gesellschaft voller Ungeduld, Lebenslust, Wahrheitsliebe und
Sehnsucht nach Vollkommenheit entdecken muss, dass ihre reale, die
realsozialistische Umgebung auf ein solches Individuum keinen Wert legt. Was
diese Gesellschaft benötigt, sind gut angepasste, wie Schräubchen funktionierende,
phantasielose "Tatsachenmenschen", "Hopp-Hopp-Menschen". Das
Nachdenken über die zu früh verstorbene Freundin führt zu einem Nachdenken
über sich selbst, die eigenen Lebensmöglichkeiten der Erzählerin, über den
"Versuch, man selbst zu sein". Die traditionelle auktoriale Erzählweise hat
Christa Wolf damit vollkommen hinter sich gelassen. In dem ebenfalls 1968
61
veröffentlichten Essay “Lesen und Schreiben", der den poetologischen
Hintergrund ihrer Prosa darstellt, betont sie ferner die existentielle Bedeutung
der Literatur: "Sie unterstützt das Subjektwerden des Menschen. Sie ist
revolutionär und realistisch: sie verführt und ermutigt zum Unmöglichen."
Christa Wolf war zu intelligent, um nicht zu ahnen, dass sie thematisch
und ästhetisch nicht mehr lange unbehelligt bleiben würde, weshalb sie schon
vor der Veröffentlichung von Christa T. im DDR-Rundfunk dazu Stellung nahm.
Christa Wolf, Selbstinterview (1966)
Frage: Was lesen Sie?
Antwort: Ich lese die ersten Seiten einer neuen Erzählung, an der ich,
womöglich noch längere Zeit, arbeite. Wahrscheinlich wird sie heißen “Nachdenken
über Christa T.”
Frage: Könnten Sie etwas über den Stoff dieser Erzählung sagen?
Antwort: Schwerlich. Denn da ist kein “Stoff” gewesen, der mich zum
Abschildern reizte, da ist kein “Gebiet unseres Lebens”, das ich als Milieu nennen
könnte, kein “Inhalt”, keine “Fabel”, die sich in wenigen Sätzen angeben ließen. Zu
einem ganz subjektiven Antrieb muß ich mich bekennen: Ein Mensch, der mir nahe
war, starb, zu früh. Ich wehre mich gegen diesen Tod. Ich suche nach einem Mittel,
mich wehren zu können. Ich schreibe, suchend. Es ergibt sich, daß ich eben dieses
Suchen festhalten muß, so ehrlich wie möglich, so genau wie möglich.
Frage: Gut. Aber die Substanz dieses Suchens? Was wird denn die Seiten
Ihres Manuskriptes füllen?
Antwort: Ich dringe in die frühere Welt dieser Toten ein, die ich zu kennen
glaubte und die ich mir nur erhalten kann, wenn ich es unternehme, sie wirklich
kennenzulernen. Ich stütze mich nicht nur auf die trügerische Erinnerung, sondern auf
Material: Tagebücher, Briefe, Skizzen der Christa T., die mir nach ihrem Tod
zugänglich gemacht wurden. In dem Strom meiner Gedanken schwimmen wie
Inselchen die konkreten Episoden - das ist die Struktur der Erzählung.
Frage: So schreiben Sie eine Art von posthumem Lebenslauf.
Antwort: Das dachte ich zuerst. Später merkte ich, daß das Objekt meiner
Erzählung gar nicht so eindeutig sie, Christa T., war oder blieb. Ich stand auf einmal
mir selbst gegenüber, das hatte ich nicht vorhergesehen. Die Beziehungen zwischen
“uns” – der Christa T. und dem Ich-Erzähler – rückten ganz von selbst in den
Mittelpunkt: die Verschiedenheit der Charaktere und ihre Berührungspunkte, die
Spannungen zwischen “uns” und ihre Auflösung, oder das Ausbleiben der Auflösung.
Wäre ich Mathematiker, würde ich wahrscheinlich von einer “Funktion” sprechen:
Nichts mit Händen Greifbares, nichts Sichtbares, Materielles, aber etwas ungemein
Wirksames.
Frage: Immerhin haben Sie nun zugegeben, daß zwei authentische Figuren
auftreten, Christa T. und ein Ich.
Antwort: Habe ich das zugegeben? Sie hätten recht, wenn nicht beide Figuren
letzten Endes doch erfunden wären.
Frage: Sie sprechen von Material, das Sie verwendeten, von Erinnerungen.
Antwort: Das Material habe ich souverän behandelt. Die Erinnerungen habe ich
durch Erfindung ergänzt. Auf dokumentarische Treue habe ich keinen Wert gelegt. Ich
wollte dem Bild gerecht werden, das ich mir von ihr, Christa T., gemacht hatte. Das hat
sie und das Ich, um das ich nicht umhingekommen bin, verwandelt.
62
Auch das aber half nichts gegen die Zensur, wie aus den Tagebuchaufzeichnungen
der Autorin hervorgeht:
Mein Zensor war neulich da. Er brachte seine ausführliche Beanstandungsliste vor. Ich
sagte: Schön und gut. Aber mit welchem Recht verbietest du das Buch, wenn du doch
offenbar nicht der Ansicht bist, die DDR breche daran zusammen? – Er: Man habe ihn
nun mal auf diesen Platz gesetzt (später kam heraus, daß er lieber nicht da säße), er
könne ein solches Manuskript nicht durchlassen, schließlich diskutiere er ja noch mit
mir. [...] Nur gehe ein Manuskript von mir eben nicht bloß bis zu ihm, sondern noch zu
ganz anderen Stellen. Und dann sei die nächste Frage: Wer hat das durchgelassen?
Er habe ja schon eine Parteistrafe wegen eines ähnlichen Delikts. Von da an konnte
man menschlich mit ihm reden. Ihm fehlten in der Erzählung vor allem die ‚positiven
Züge‘ unserer Gesellschaft. Alle Nebenfiguren verstand er als ‚angeknackst‘. Christa T.
sei ‚lebensuntüchtig‘. Er beanstandet die Gegenüberstellung mit der Figur der Gertrud
Dölling, die ihn anscheinend selbst betraf. Er schlug mir vor, eine ganz andere
Geschichte zu schreiben: Ein Mensch, eben Christa T., eine tragische Figur, die lange
Zeit unter dem Druck ihrer Erlebnisse während der Zeit des Faschismus steht, schwer
den Weg in unsere neue Gesellschaft findet (er sieht sie ‚kontaktarm‘) und die, als sie
sich so weit durchgerungen hat, schließlich stirbt. Die Gesellschaft soll gegenüber dem
Individuum in jedem Fall recht behalten.
Konstatiert vor allem die westliche Literaturwissenschaft für die fünfziger
und sechziger Jahre als ästhetische Dominante eine literarische Vormoderne,
einen sozialistisch-realistischen Provinzialismus, so zeigen sich nun
zunehmend Werke, die die Grenzen zur modernen Literatur sowohl im
Thematischen wie im Formalen durchstoßen.
Das gilt auch für die neue Dichtergeneration der um 1935 Geborenen.
Adolf Endler, der älteste, nannte diese massive Gruppe höchst talentierter
Poeten die "Vorhut unserer Lyrik" und meinte damit Volker Braun, Sarah Kirsch,
Rainer Kirsch, Wolf Biermann, Reiner Kunze, Karl Mickel, Heinz Czechowski,
Kurt Bartsch, Elke Erb, Hanns Cibulka und all die andern. Die Aufbruchsstimmung
dieser Dichter, die mit Staat und Partei um die Rolle des Subjekts
streiten, drückte Volker Braun 1966 in Vorläufiges so aus:
Kommt uns nicht mit Fertigem... Hier herrscht das Experiment und keine steife
Routine... Raus aus den Sesseln, Jungs... Nicht so feierlich, Genossen, das Denken
will heitere Stirnen.
Gegen eine affirmative Lyrik, die der offiziellen Kulturpolitik folgte, wurde
nun die "Rehabilitierung des Ich" (nach einem Gedicht von Günter Wünsche)
gefordert. Besonders dem 1933 geborenen Reiner Kunze, der vor 1969 wenig
in der DDR publizieren konnte und danach nichts mehr, ist dies ein poetisches
63
Anliegen. In seinem Gedichtband Sensible Wege (1969), für den ihm in der
DDR "Antikommunismus" und "Innenweltschau" vorgeworfen wurde, lautet eine
Strophe seines Gedichts "Kurzer Lehrgang" mit der Überschrift "Ethik":
Im mittelpunkt steht
der mensch
Nicht
der einzelne
Der politische und psychologische Druck in seinem Land zwang Kunze
dazu, 1977 mit seiner Familie in die BRD zu ziehen.
Mit Wolf Biermann hat das politische Lied und Gedicht in der DDR eine
neue Qualität erreicht. Im Unterschied zu den Agitprop-Dichtern, die den
Sozialismus lobpriesen, verstand sich Biermann als linker Kritiker des
preußisch-stalinistischen Sozialismus. 1936 in Hamburg als Sohn einer
antifaschistisch-kommunistischen Familie geboren, ging Biermann 1953 aus
politischer Überzeugung in die DDR und studierte dort Politische Ökonomie,
Philosophie und Mathematik. 1957-59 war er Regieassistent, seit 1960 freier
Schriftsteller und Liedermacher. 1963 wird er aus der SED ausgeschlossen;
1965 erhielt er von der Partei absolutes Publikations-, Auftritts- und
Reiseverbot, denn man beschuldigte ihn der "prinzipiellen Gegnerschaft zum
realen Sozialismus". 1976 erhält er überraschend die Erlaubnis zu einer
Liedertournee in der BRD, von der er nicht wieder in die DDR zurück darf.
Seine Ausbürgerung dauerte bis zum 1. Dezember 1989, als Biermann nach
fast 25 Jahren wieder in der DDR auftreten konnte. Sich auf François Villon,
Heinrich Heine und Bert Brecht berufend, verbindet Biermann in der
kompromisslosen Offenheit seiner Dichtung stets das Politische mit dem
Privaten. 1965 erscheint im Westberliner Wagenbach-Verlag ein achtzig Seiten
starkes Bändchen mit Balladen, Gedichten und Liedern, entstanden seit 1960,
unter dem Titel Die Drahtharfe. Darüber ließ sich Erich Honecker auf der
bekannten ZK-Sitzung desselben Jahres so aus:
Biermanns so genannte Gedichte kennzeichnen sein spießbürgerliches,
anarchistisches Verhalten, seine Überheblichkeit, seinen Skeptizismus und Zynismus.
Biermann verrät heute mit seinen Liedern und Gedichten sozialistische
Grundpositionen. Dabei genießt er wohlwollende Unterstützung und Förderung einiger
Schriftsteller, Künstler und anderer Intellektueller. Es ist an der Zeit, der Verbreitung
64
fremder und schändlicher Thesen und unkünstlerischer Machwerke, die zugleich auch
stark pornographische Züge aufweisen, entgegenzutreten.
Im Gedicht "Rücksichtslose Schimpferei", das zur letzten Abteilung
"Beschwichtigungen und Revisionen" gehört, schreit sich ein junger Kommunist
den Ärger über die besserwisserischen, dogmatischen, halsstarrigen Altgenossen
und ihre Methoden der Auseinandersetzung von der Seele. Wohl nicht
zufällig ist auch der Rahmen dieses Gedichts: Das vorangehende "An die alten
Genossen" endet mit den Versen: "Setzt eurem Werk ein gutes Ende/ Indem ihr
uns/ Den neuen Anfang lasst!". In der folgenden "Ballade vom Mann (der sich
eigenhändig die beiden Füße abhackte)" heißt die vorletzte Strophe: "Es hackte
die Partei/ sich ab so manchen Fuß/ so manchen guten Fuß/ abhackte die
Partei".
WOLF BIERMANN, Rücksichtslose Schimpferei
1
Ich Ich Ich
bin voll Haß
bin voll Härte
der Kopf zerschnitten
das Hirn zerritten
Ich will keinen sehn!
Bleibt nicht stehn!
Glotzt nicht!
Das Kollektiv liegt schief
Ich bin der Einzelne
das Kollektiv hat sich von mir
i s o l i e r t
Stiert mich so verständnisvoll nicht an!
Ach, ich weiß ja schon
Ihr wartet mit ernster Sicherheit
daß ich euch
in das Netz der Selbstkritik schwimme
Aber ich bin der Hecht
Ihr müßt mich zerfleischen
zerhacken, durchn Wolf drehn
wenn ihr mich aufs Brot wollt!
2
Ja, wenn ich zahnlos wäre
nenntet ihr mich reif
Wenn ich bei jeder fetten Lüge
milde lächeln würde
wär ich euch der Kluge
65
Wenn ich über das Unrecht hinweggehn würde
wie ihr über eure Frauen hinweggeht
ihr hättet mich schon längst
in euer Herz geschlossen
3
Das Kind nicht beim Namen nennen
die Lust dämpfen und
den Schmerz schlucken
den goldenen Mittelweg gehen
am äußersten Rande des Schlachtfelds
den Sumpf mal Meer, mal Festland nennen
das eben nennt ihr
V e r n u n f t
Und merkt nicht, daß eure Vernunft
aus den Hirnen der Zwerge
aus den Schwänzen der Ratten
aus den Ritzen der Kriechtiere
entliehen ist? Ihr
wollt mir den Kommunismus predigen
und seid die Inquisition des Glücks. Ihr
zerrt die Seelen auf den Feuerpfahl. Ihr
flechtet die Sehnsucht auf das Rad. Ihr!
Geht mir weg mit euren Schwammfressen!
Geht beleidigt und entrüstet!
Geht mit Kopfschütteln über meine falsche Haltung
aber Geht!
4
Ich will beharren auf der Wahrheit
ich Lügner
5
Ich habe euch lieb
Hier habt ihr den Schrieb
schwarz auf weiß
ich liebe euch heiß
aber jetzt laßt mich bitte allein sein
auf der schiefen Linie
getrennt vom Kollektiv
Ich liege eben schief
Ich lieg bei meiner Frau
und die kennt mein Herz
66
Mit Sarah Kirsch macht in den sechziger Jahren ein lyrisches Talent auf
sich aufmerksam, das sich in der Folgezeit zu einer der wichtigsten Lyrikerinnen
der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur entwickelt. 1935 geboren,
absolvierte Sarah, die eigentlich Ingrid heißt, nach dem Abitur ein
Biologiestudium. 1963-65 besuchte sie das Institut für Literatur Johannes R.
Becher in Leipzig. Danach ist sie als freie Schriftstellerin tätig. 1967
veröffentlichte sie ihren ersten eigenständigen Gedichtband Landaufenthalt.
Neben Gedichten tritt Kirsch auch mit Erzählungen und Übersetzungen in
Erscheinung. In den achtziger Jahren verwischen sich häufig die Grenzen
zwischen Lyrik und Prosa: Es erscheinen Prosagedichte (La Pagerie, 1980)
und lyrische Prosa (Allerleih-Rauh, 1988). Orte, die die Dichterin immer wieder
aufsucht, sind Natur und Eros; dabei spricht sie oft von Einsamkeit und ist doch
voller Sehnsucht, für sich allein und doch mit anderen sein zu können. Ihre
Sprache kann ebenso knapp und präzis wie metaphernreich und verspielt sein.
Nach der Biermann-Ausbürgerung, gegen die auch Sarah Kirsch protestiert,
geht sie 1977 zuerst nach Westberlin und lebt heute in Norddeutschland.
Insgesamt gelingt es ihr und der Sächsischen Dichterschule überhaupt – zu der
sie und ihre Freunde gerechnet werden – in außerordentlich schöpferischer
Weise, Gesellschaftliches und Persönliches, Politisches und Poetisches,
Zustimmung und Widerspruch miteinander zu verbinden. Viele Gedichte und
Erzählungen Sarah Kirschs werden gern als der Frauenliteratur zugehörig
bezeichnet. Wenn dabei kein modisch-oberflächliches, radikal-feministisches
Verständnis zugrunde gelegt wird, kann das durchaus angehen. Wie sie es
aber selbst sieht, formuliert die Dichterin so: "Ich halte Emanzipationsschreiberei
für unsinnig. Mann und Frau sollen nicht gegeneinander, sondern
miteinander fertig werden. Beide müssen menschlich leben können."
Hommage an Sarah Kirsch (2008)
Das folgende Gedicht stammt aus Sarah Kirschs drittem Gedichtband
(Zaubersprüche, 1973), erzählt den Prozess einer Befreiung und ist zugleich ein
67
Hymnus auf die Liebe. Franz Fühmann schrieb darüber:
Dieses Gedicht – eines der bedeutendsten und schönsten, die unsere Zeit
hervorgebracht hat – besitzt den Vorzug gültiger Lyrik: Es widersetzt sich dem völligen
Auflösen ins Rationale, wiewohl es ebendazu stachelt, und dies umso drängender, je
deutlicher jener Rest hervortritt, dessen Bedrängnis zuletzt noch in Genugtuung
umschlägt. Dazu muss man Wort um Wort vorangehen.
SARAH KIRSCH, Ich wollte meinen König töten
Ich wollte meinen König töten
Und wieder frei sein. Das Armband
Das er mir gab, den einen schönen Namen
Legte ich ab und warf die Worte
Weg die ich gemacht hatte: Vergleiche
Für seine Augen die Stimme die Zunge
Ich baute leergetrunkene Flaschen auf
Füllte Explosives ein – das sollte ihn
Für immer verjagen. Damit
Die Rebellion vollständig würde
Verschloß ich die Tür, ging
Unter Menschen, verbrüderte mich
In verschiedenen Häusern – doch
Die Freiheit wollte nicht groß werden
Das Ding Seele dies bourgeoise Stück
Verharrte nicht nur, wurde milder
Tanzte wenn ich den Kopf
An gegen Mauern rannte. Ich ging
Den Gerüchten nach im Lande die
Gegen ihn sprachen, sammelte
Drei Bände Verfehlungen eine Mappe
Ungerechtigkeiten, selbst Lügen
Führte ich auf. Ganz zuletzt
Wollte ich ihn einfach verraten
Ich suchte ihn, den Plan zu vollenden
Küßte den andern, daß meinem
König nichts widerführe.
68
Zuckerbrot, Peitsche und das Andere
Von 1971 bis 1989 stand dem Feudalsozialismus der DDR in Partei und
Staat ein Mann vor: Erich Honecker. An seine Herrschaft erinnerte sich Ende
1989 der Schriftsteller Joachim Walther so:
Als vor achtzehn Jahren Rauch aus dem Kamin des Großen Hauses stieg, war
uns ein neuer Generalsekretär beschieden und ich achtundzwanzig. Dem Neuen
damals wollten viele glauben. Er ermunterte zu Meinungsstreit, doch zeigte sich sehr
bald, er hatte es nicht ernst gemeint: die öffentliche Widerrede blieb weiter
unerwünscht... Er referierte über Volksverbundenheit, Lebensnähe, Realismus in der
Politik und besah sein Volk am liebsten von Tribünen, wie es, straff organisiert,
spontan vorüberjubelte. Er versprach den Bürgern kühn eine bürgernahe Bürokratie,
doch war's verbal die Quadratur des Kreises, da jegliche Büroherrschaft zum
Eigenleben neigt und Sekretär, zum Beispiel, von lat. secretus kommt und
abgesondert, geheim heißt... und während er das politische Strafrecht um drei
dehnbare Paragraphen bereicherte, rief er seinem Volke munter zu, es habe zu keiner
Zeit so frei geatmet wie eben hier und jetzt, unter seiner Führung. Demokratie, sprach
er, wir hätten sie schon, die sozialistische, und nannte als Beweis die Mitarbeit in
Küchenkommissionen. Die Statistik produzierte Wachstumszahlen, die auf dem Weg
nach oben dynamisch schwollen, indes der reale Mangel unten blieb und wuchs.
Transparente statt Transparenz. Losungen statt Lösungen.
Als seit 1986 die Reformpolitik Michail Gorbatschows in der Sowjetunion,
die Entstalinisierung und Demokratisierung in Polen und Ungarn irreversible
Fortschritte gemacht hatten; als Zehntausende die DDR über die geöffnete
Grenze Ungarns nach Österreich verließen und massenhaft auf den Straßen
nach Freiheit und Demokratie riefen, was die Parteiführung bis zuletzt
versagen wollte; als gerade der 40. Jahrestag der Republik am 7. Oktober wie
immer als großes Parade-Staatsfest gefeiert worden war – da war es soweit:
der Patriarch Honecker und seine engsten Vertrauten mussten am 18. Oktober
1989 abtreten. Unmittelbar darauf setzte ein sich überstürzender Korrosionsprozess
des alten Systems ein.
Wenn also fast zwei Jahrzehnte der DDR-Kulturpolitik und -Literatur hier
gemeinsam als einheitliche Phase abgehandelt werden, dann geschieht das
aus zwei Gründen. Erstens ist eine gesellschaftspolitische Orientierung deshalb
unerlässlich, weil am Ende von fast fünfundvierzig Jahren die Auflösung eines
69
autoritären Herrschaftsmodells sozialistischen Anspruchs steht, das an seinen
inneren und äußeren Widersprüchen zugrunde gegangen ist. Und eben am
Untergang dieser preußisch-stalinistischen Diktatur hatten Künstler und
Literaten einen wichtigen Anteil. Nicht so sehr als politische Avantgarde in der
Stunde der Wahrheit, als Tausende unablässig auf den Straßen ihre Rechte
einklagten. Die Bedeutung von Kunst und Literatur lag eher dort, wo sie über
lange Jahre auch als Instanzen der Hoffnung und Moral das Gewissen des
Volkes repräsentierten. In den Künsten und durch die Künste wurden Grenzen
eingerissen, neue Wege ins Freie beschritten, Jahrzehnte bevor sich am 9.
November 1989 die Mauer öffnete.
Zweitens kann als einigendes Band der Belletristik in dieser Zeit die
Tatsache gelten, dass sie, einmal aus der ästhetischen Vormoderne herausgetreten,
die Entwicklung zu einer inhaltlich und formal aufschlussreichen,
ansprechenden und anspruchsvollen Literatur weiter fortsetzte. Auch weil sie
eins der wenigen Medien war, das sich der Kulturenvielfalt, die sich in der DDR
herausgebildet hatte, in kreativer Weise stellte.
Soziologische Untersuchungen hatten festgestellt, dass sich neben der
kommunistischen Zielkultur und der traditionellen deutschen Kultur eine dritte
dominante Komponente, eine "industrialistische" herausgebildet hatte, wobei
die mit dem Industrialismus – damit einhergehend auch mit dem Konsumismus
– zusammenhängenden Tendenzen immer stärker wurden: Auch im "Leseland"
DDR sahen die Leute abends nach der Arbeit zur Entspannung hauptsächlich
fern – und zwar die Programme des “Klassenfeinds” in der BRD. Fernsehen
war da auch wirklich noch ein Fern-Sehen, über die Grenzen der kleinen
Republik hinweg, die man ja sonst westwärts vor dem Rentenalter kaum anders
verlassen konnte. Immer stärker zeichneten sich aber auch Gegenströmungen
einer sich vor allem in den 70er Jahren entwickelnden sozialistischen
Opposition ab – um Intellektuelle wie Robert Havemann, Wolf Biermann, Rudolf
Bahro und Volker Braun. Daneben dann alternative Subkulturen wie im
Ostberliner Prenzlauer Berg, die ihre Suche nach neuen Kunst- und
Lebensformen geltend machten. In diesem Spannungsfeld dreier dominanter
und zweier nicht-dominanter Kulturen ist die Literatur der siebziger und
achtziger Jahre entstanden und zu verstehen, wobei sich die einander
gegenüberstehenden Pole keineswegs ausschließen müssen, sondern sich im
70
Gegenteil beeinflussen, interagieren und zu einer explosiven Mischung geraten
können.
Mit dem personellen Wechsel, der Ablösung Walter Ulbrichts als 1.
Sekretär der SED durch Erich Honecker, ließ sich durchaus auch eine
Veränderung im kulturpolitischen Klima feststellen. Die DDR war aufgrund
weltweiter Anerkennung und der neuen Ostpolitik der SPD/FDP-Regierung
unter Willy Brandt selbstbewusster geworden und die SED hinsichtlich der
Verhältnisse im eigenen Land etwas realistischer, Kritik schien mitunter sogar
legitim. Vor allem seit im Dezember 1971 Honecker vor dem Zentralkomitee
eine Rede gehalten hatte, die man allgemein als Signal für eine Liberalisierung
wertete. Er sagte:
Wenn man von der festen Position des Sozialismus ausgeht, kann es meines
Erachtens auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben. Das betrifft
sowohl die Fragen der inhaltlichen Gestaltung als auch des Stils – kurz gesagt: die
Fragen dessen, was man die künstlerische Meisterschaft nennt.
Das sah nach Fortschritt aus: keine Tabus mehr! Was aber war mit der
"festen Position des Sozialismus" gemeint und wer legte diese fest? Wehte
einerseits durchaus ein frischerer Wind, so wurde doch die kulturpolitsche
Ordnung unnachsichtig aufrechterhalten: Wolf Biermann, Reiner Kunze, Volker
Braun, Stefan Heym, Rainer Kirsch, Günter Kunert, Heiner Müller mussten
weiterhin Publikations- und Aufführungsverbote ertragen.
Das Werk, das paradigmatisch für die Phase einer allerdings nicht zu
überschätzenden Enttabuisierung steht, ist Die neuen Leiden des jungen W.
von Ulrich Plenzdorf. Das ursprüngliche Filmszenarium erschien 1973 als
Erzählung und wurde im gleichen Jahr an vierzehn Theatern der DDR mit
großem Erfolg aufgeführt. Um den Text entstand eine heftig geführte
Kontroverse, in der die Dogmatiker ihren "Ekel" äußerten, die meisten
Jugendlichen allerdings ihre Faszination bekundeten.
Der siebzehnjährige Lehrling Edgar W. leidet an dem rigiden
Anpassungsdruck der Gesellschaft – ähnlich wie der Goethesche Werther
zweihundert Jahre zuvor –, an autoritären Erwachsenen und kleinbürgerlichen
Normen, die unter der realsozialistischen Diktatur prächtig gediehen. Er beginnt
ein Leben auf eigene Faust, lebt in einer Laube am Ostberliner Stadtrand, ist
aber keineswegs ein Aussteiger, denn er sucht den Kontakt zu seiner Umwelt,
71
arbeitet in einer Malerbrigade, für die er schließlich sogar ein neues Gerät
entwickeln möchte. Beim Ausprobieren wird er durch einen Stromstoß getötet.
Bei den Plenzdorfschen Figuren gibt es zahlreiche weitere Verbindungen zur
Vorlage von Goethe und der Tod am Ende evoziert den Freitod Werthers, lässt
aber die Frage offen: Unfall oder Selbstmord? Klar wird nur, dass – in Analogie
zu Christa T. – ein junger Mensch mit den Erwartungen Edgars unter den
Bedingungen der DDR-Gesellschaft nicht leben kann. Dass Plenzdorf den Frei-
/Tod im "realen Sozialismus" thematisierte – die DDR war ein Land mit einer
extrem hohen, statistisch nirgendwo erfassten Selbstmordrate –, brach mit
einem tief verankerten Tabu.
Hommage an Ulrich Plenzdorf (2008)
Da der Autor einen realen Jungarbeiter mit realen Bedürfnissen vorstellt
und ihn allein – aus dem Jenseits – sein Leben und Sterben erzählen und
bewerten lässt und sich also nicht als auktorialer Erzähler im Sinne der
Parteiliteratur einmischt, gewinnt der Text eine enorme soziale Präzision, die
ihn vor allem unter der DDR-Jugend beliebt gemacht hat. Ebenso innovativ ist
die Tatsache, dass zum ersten Mal der reale Sprachgebrauch der Jugendlichen,
die von der Partei so heftig kritisierte normverletzende "Jeanssprache",
72
in die Literatur einzieht.
Ulrich Plenzdorf, Die neuen Leiden des jungen W.
Natürlich Jeans! Oder kann sich einer ein Leben ohne Jeans vorstellen? Jeans
sind die edelsten Hosen der Welt. Dafür verzichte ich doch auf die ganzen
synthetischen Lappen aus der Jumo, die ewig tiffig aussehen. Für Jeans konnte ich
überhaupt auf alles verzichten, außer der schönsten Sache vielleicht. Und außer
Musik. Ich meine jetzt nicht irgendeinen Händelsohn Bacholdy, sondern echte Musik,
Leute. Ich hatte nichts gegen Bacholdy oder einen, aber sie rissen mich nicht gerade
vom Hocker. Ich meine natürlich echte Jeans. Es gibt auch einen Haufen Plunder, der
bloß so tut wie echte Jeans. Dafür lieber gar keine Hosen. Echte Jeans dürfen zum
Beispiel keinen Reißverschluß haben vorn. Es gibt ja überhaupt nur eine Sorte echte
Jeans. Wer echter Jeansträger ist, weiß, welche ich meine. Was nicht heißt, daß jeder,
der echte Jeans trägt, auch echter Jeansträger ist. Die meisten wissen gar nicht, was
sie da auf dem Leib haben. Es tötete mich immer fast gar nicht, wenn ich so einen
fünfundzwanzigjährigen Knacker mit Jeans sah, die er sich über seine verfetteten
Hüften gezwängt hatte und in der Taille zugeschnürt. Dabei sind Jeans Hüfthosen, das
heißt Hosen, die einem von der Hüfte rutschen, wenn sie nicht eng genug sind und
einfach durch Reibungswiderstand obenbleiben. Dazu darf man natürlich keine fetten
Hüften haben und einen fetten Arsch schon gar nicht, weil sie sonst nicht zugehen im
Bund. Das kapiert einer mit fünfundzwanzig schon nicht mehr. Das ist, wie wenn einer
dem Abzeichen nach Kommunist ist und zu Hause seine Frau prügelt. Ich meine,
Jeans sind eine Einstellung und keine Hosen. Ich hab überhaupt manchmal gedacht,
man dürfte nicht älter werden als siebzehn-achtzehn. Danach fängt es mit dem Beruf
an oder mit irgendeinem Studium oder mit der Armee, und dann ist mit keinem mehr zu
reden. Ich habe jedenfalls keinen gekannt.
Nachdem ihm bereits zwei Jahre zuvor eine Auswanderung aus der DDR
nahegelegt worden war und zwar von offizieller Seite, die sich schon seit
langem mit dem unerwünschten Wolf Biermann beschäftigte, erhielt der im
Herbst 1976 die Erlaubnis zu einer Konzertreise in die BRD. Am 17. November
– vier Tage nach dem ersten Liederabend in Köln – erfuhr er dann über das
Autoradio die Nachricht, dass ihm die Staatsbürgerschaft entzogen worden sei.
Die offensichtlich vorher beschlossene Maßnahme wurde mit seinem
"feindseligen Auftreten" gegenüber der DDR während des Konzerts begründet,
wo er seinen Staat zwar scharf kritisiert, jedoch gleichzeitig als "kostbare
Errungenschaft" verteidigt hatte. Gegen diese Ausbürgerung, in Deutschland
zuletzt während des Nationalsozialismus praktiziert, protestierten sofort zwölf
der prominentesten Schriftsteller der DDR:
Wolf Biermann war und ist ein unbequemer Dichter – das hat er mit vielen
Dichtern der Vergangenheit gemein. Unser sozialistischer Staat, eingedenk des Wortes
aus Marxens 18. Brumaire, dem zufolge die proletarische Revolution sich unablässig
selber kritisiert, müsste im Gegensatz zu anachronistischen Gesellschaftsformen eine
73
solche Unbequemlichkeit gelassen nachdenkend ertragen können. Wir identifizieren
uns nicht mit jedem Wort und jeder Handlung Biermanns und distanzieren uns von
Versuchen, die Vorgänge um Biermann gegen die DDR zu missbrauchen. Biermann
selber hat nie, auch nicht in Köln, Zweifel daran gelassen, für welchen der beiden
deutschen Staaten er bei aller Kritik eintritt. Wir protestieren gegen seine
Ausbürgerung und bitten darum, die beschlossene Maßnahme zu überdenken.
Erstunterzeichner waren Sarah Kirsch, Christa Wolf, Volker Braun, Franz
Fühmann, Stephan Hermlin, Stefan Heym, Günter Kunert, Heiner Müller, Rolf
Schneider, Gerhard Wolf, Jurek Becker, Erich Arendt. Ihnen schlossen sich
über einhundert weitere Künstler und Intellektuelle an, darunter Ulrich
Plenzdorf, Fritz Rudolf Fries, Thomas Brasch, Günter de Bruyn, Helga Schütz,
Elke Erb. Reiner Kunze und Bernd Jentzsch protestierten mit eigenen
Erklärungen. Natürlich gab es auch renommierte Kunstschaffende, die sich für
die vom Staat getroffene Entscheidung aussprachen, unter den Literaten
waren das unter anderen Hermann Kant, Erik Neutsch und Peter Hacks.
Die Biermann-Ausbürgerung ist ein historischer Einschnitt in die
kulturpolitische Entwicklung der DDR gewesen und hat zweifellos zum Ende
des Repressionssystems dreizehn Jahre später beigetragen. Zunächst einmal
aber erfolgte dessen Ausbau: Verhaftung, Hausarrest, Ausschluss aus Partei
und Schriftstellerverband, Publikations- und Auftrittsverbot wie auch rasch
bewilligte Ausreiseanträge waren ein vorzügliches und unkalkulierbares
Instrumentarium zur Disziplinierung anders denkender Intellektueller. Eine
Politik von Zuckerbrot und Peitsche bedeutet aber andererseits auch, dass die
Linie der Enttabuisierung punktuell fortgesetzt werden, jedoch nicht verhindern
konnte, dass seit 1976 ein wahrer Exodus von Künstlern und Intellektuellen in
Gang kam.
Hatte schon in den fast drei Jahrzehnten zuvor ein steter Wechsel von
West nach Ost, vor allem aber von Ost nach West stattgefunden, so gingen
jetzt (oder wurden gegangen) so viele Autoren in die Bundesrepublik, dass nicht
mehr allein die DDR als Entstehungsort ihrer Literatur betrachtet werden
konnte. Oder anders gesagt: Wie DDR-Literatur definiert werden sollte, wurde
immer komplizierter.
Unter dem Druck der internationalen Spannungen kam mit Beginn der
achtziger Jahre wiederum einige Bewegung in die kulturpolitische Szenerie.
Stimmen auch von führenden Schriftstellerpersönlichkeiten wurden laut, die
74
sich angesichts der Hochrüstungspolitik der Supermächte USA und UdSSR
öffentlich über Probleme von Krieg und Frieden aussprachen und eine
Zivilisation allgemeiner Zerstörung beklagten.
Mit Michail Gorbatschow erhielten diese Kräfte unerwarteten Auftrieb, in
der Sowjetunion sah man nun "die Renaissance einer Hoffnung" (Heiner Müller,
1987); und es war die Partei- und Staatsführung in der DDR, die gegenüber
dem sowjetischen Reformkurs in immer größere Schwierigkeiten geriet. Trotz
nie endender Repressionsmaßnahmen mussten Zugeständnisse gemacht
werden, fand der Kontroll- und Spitzelapparat seine Grenzen, so dass die
Zeichen der Zeit immer deutlicher sichtbar werden konnten: die Wiederaufführung
von Heiner Müllers Die Umsiedlerin in Dresden, die endliche Herausgabe
unliebsamer Romane wie Günter de Bruyns Neue Herrlichkeit und Volker
Brauns Hinze-Kunze-Roman im Jahre 1985; die Verleihung des Nationalpreises
1986 an Christa Wolf und 1987 an Heiner Müller, dessen Wiederaufnahme in
den Schriftstellerverband 1988; die Veröffentlichung des fast dreißig Jahre
zurückgehaltenen Romans Die Blechtrommel von Günter Grass aus der
Bundesrepublik; erste Inszenierungen des lang unterdrückten Samuel Beckett
und seines Warten auf Godot; die große, wenn auch nur halböffentliche Rede
Christoph Heins gegen die Zensur 1987.
kassandrapassion (2008)
75
In der Beschreibung der conditio humana schauen die Autoren der DDR
über den gesellschaftspolitischen Rand ihres kleinen halben Landes hinaus,
examinieren mit nüchternem, geradezu hartem Blick Geschichte und
Gegenwart der abendländischen Zivilisation. So kommt Christa Wolf 1980 in
ihrer Dankrede für den Büchnerpreis der Deutschen Akademie für Sprache und
Dichtung in Darmstadt zu dem Ergebnis:
Wir, ernüchtert bis auf die Knochen, stehen entgeistert vor den vergegenständlichten
Träumen jenes instrumentalen Denkens, das sich immer noch Vernunft
nennt, aber dem aufklärerischen Ansatz auf Emanzipation, auf Mündigkeit hin, längst
entglitt und als blanker Nützlichkeitswahn in das Industriezeitalter eingetreten ist.
Und Heiner Müller spricht 1981 von dem "Alptraum",
dass die Alternative Sozialismus oder Barbarei abgelöst wird durch die
Alternative Untergang oder Barbarei. Das Ende der Menschheit als Preis für das
Überleben des Planeten.
Solche Schreckensvisionen waren in den siebziger Jahren noch
weitgehend unbekannt und erweiterten nun den Gesichtskreis der DDR-
Literatur über sich selbst hinaus auf existentielle Probleme der Gattung Mensch
schlechthin. Abschied von der Utopie, Apokalypse als Alternative? Ohne
Zweifel hatte sich der Widerspruch der Utopie zur Lebenspraxis stets
vergrößert, dabei ist die eigene Haltung realistischer geworden und Skepsis
gewinnt zunehmend an Boden.
HEINER MÜLLER, Nachtstück
Auf der Bühne steht ein Mensch. Er ist überlebensgroß, vielleicht eine Puppe.
Er ist mit Plakaten bekleidet. Sein Gesicht ist ohne Mund. Er betrachtet seine Hände,
bewegt die Arme, probiert seine Beine aus. Ein Fahrrad, von dem Lenkstange oder
Pedale oder beides oder Lenkstange, Pedale und Sattel entfernt worden sind, fährt von
rechts nach links schnell über die Bühne. Der Mensch, der vielleicht eine Puppe ist,
läuft hinter dem Fahrrad her. Eine Schwelle fährt aus dem Bühnenboden. Er stolpert
darüber und fällt. Auf dem Bauch liegend, sieht er das Fahrrad verschwinden. Die
Schwelle verschwindet von ihm ungesehn. Wenn er aufsteht und sich nach der
Ursache für seinen Sturz umsieht, ist der Bühnenboden wieder glatt. Sein Verdacht fällt
auf seine Beine. Er versucht sie sich im Sitzen auszureißen, in der Rückenlage, aus
dem Stand. Die Ferse am Gesäß, den Fuß mit beiden Händen packend, reißt er sich
das linke Bein aus, dabei aufs Gesicht gefallen in der Bauchlage das rechte. Er liegt
noch auf dem Bauch, wenn das Fahrrad von links nach rechts langsam an ihm vorbei
über die Bühne fährt. Er bemerkt es zu spät und kann es kriechend nicht einholen. Sich
aufrichtend und seinen schwankenden Rumpf mit den Händen abstützend, macht er
die Entdeckung, daß er seine Arme zur Fortbewegung gebrauchen kann, wenn er den
76
Rumpf in Schwung bringt, nach vorn wirft, mit den Händen nachgreift usw. Er übt eine
neue Gangart. Er wartet auf das Fahrrad, erst am rechten, dann am linken Portal. Das
Fahrrad kommt nicht. Der Mensch, der vielleicht eine Puppe ist, reißt sich, den rechten
mit der linken und den linken mit der rechten Hand, gleichzeitig beide Arme aus. Hinter
ihm fährt bis in Kopfhöhe die Schwelle aus dem Bühnenboden, diesmal, damit er nicht
fällt. Vom Schnürboden kommt das Fahrrad und bleibt vor ihm stehen. An die kopfhohe
Schwelle gelehnt, betrachtet der Mensch, der vielleicht eine Puppe ist, seine Beine und
Arme, die weit verstreut auf der Bühne herumliegen, und das Fahrrad, das er nicht
mehr gebrauchen kann. Er weint mit jedem Auge eine Träne. Zwei Beckett-Stachel in
Augenhöhe werden von rechts und links hereingefahren. Sie halten am Gesicht des
Menschen, der vielleicht eine Puppe ist, er braucht nur den Kopf zu wenden, einmal
nach rechts, einmal nach links, den Rest besorgt der Stachel. Die Stachel werden
hinausgefahren, jeder eine Auge auf der Spitze. Aus den leeren Augenhöhlen des
Menschen, der vielleicht eine Puppe ist, kriechen Läuse und verbreiten sich schwarz
über sein Gesicht. Er schreit. Sein Mund entsteht mit dem Schrei.
In der Pantomime des "Nachtstücks" fasst Heiner Müller noch einmal alle
Figuren der Selbstzerstörung, Fragmentierung und verzweifelten Trauer aus
seinem Theaterstück Germania Tod in Berlin (1977) zusammen: "Der Mensch,
der vielleicht eine Puppe ist", zerstückelt sich im Verlauf der Szene selbst. Am
Ende werden ihm − unter explizitem Verweis auf Samuel Beckett − die Augen
ausgestochen. Die groteske Selbst-Demontage ist perfekt.
In einer Zeit der "gestockten Widersprüche" (Franz Fühmann), die sie als
Stagnation empfanden, sahen es viele Schriftsteller als ihre Pflicht an,
"Phantasie zu mobilisieren" (Heiner Müller) oder "bildliches Denken", wie es
Irmtraud Morgner formuliert, die in ihrer Kritik der maßgeblich männlichen
Fetischisierung des abstrakten Denkens die Kraft der Imagination durch die
Verlebendigung von Mythen, Märchen, Sagen und Legenden stimuliert. Ihre
phantastischen Texte verrücken in spielerischer und selbstironischer Manier die
immer enger gezogenen Grenzen der Realität. Dagegen schreibt man an zum
Beispiel mit Saiäns Fiktschen (1981), wie Fühmanns Science-Fiction-
Erzählungen heißen über die sich nach dem Atomkrieg feindlich
gegenüberstehenden, fast perfekten Zukunftsgesellschaften Libroterr und
Uniterr, die traumatische Verlängerung der gesellschaftlichen Ordnungen der
Gegenwart in eine monströse Zukunft. Der begegnet Christa Wolf 1970
satirisch. So in ihren Erzählungen “Neue Lebensansichten eines Katers” – eine
Kritik der instrumentellen Vernunft im deutlichen Rekurs auf E.T.A. Hoffmann –
und "Selbstversuch", die phantastische Geschichte der Geschlechtsumwandlung
einer Frau. Die späteren Texte Kassandra. Eine Erzählung (1983)
77
und Störfall (1987) versuchen dagegen, gegenüber der schier unendlichen
Macht der (Selbst-)Zerstörung in Mythos und Gegenwart einen Funken
Hoffnung zu retten.
Hommage an Maxie Wander (2008)
Gleichsam als Gegenbewegung zur Erschließung bisher unbekannter
fiktionaler Räume ist die sich in den siebziger Jahren entwickelnde
Dokumentarliteratur zu verstehen, die in der DDR ja immer auch als ein
Korrektiv mangelnder massenmedialer Berichterstattung zu lesen ist und eine
"Ersatzfunktion für Journalismus" (Thomas Brasch) hatte. Sie beginnt mit Sarah
Kirschs 1973 erschienenen "5 Erzählungen aus dem Kassetten-Recorder" unter
dem Titel Die Pantherfrau, die der Situation von Frauen in der DDR ebenso
nachspüren wie die Protokolle Maxie Wanders Guten Morgen, du Schöne
(1977). Das war das Buch, das eine Bresche schlug für den dokumentarischen
Stil einer aufrichtigen, sehr subjektiven, sprachmächtigen Erforschung von
(weiblicher) Realität. Später folgten dann auch von Frauen geschriebene
Männerbücher wie Christine Lambrechts Männerbekanntschaften und Christine
Müllers Männerprotokolle (beide 1986). Das Tabu, mit dem Homosexualität
belegt wurde, brach dann Jürgen Lemke mit seinem Ganz normal anders
78
(1989). Aber auch andere Bereiche gesellschaftlicher Wirklichkeit wurden
erforscht: So die Arbeits- und Lebenssituation in einem Obstanbau-Betrieb von
Gabriele Eckart (So sehe ick die Sache, 1984) oder die Ostberliner Alternativ-
Szene in Daniela Dahns Prenzlauer-Berg-Tour (1987).
An Umfang und Bedeutung hatte in den letzten fünfzehn Jahren vor der
Grenzöffnung auch die Memoiren- und Reiseliteratur gewonnen, die als
Unterhaltungsgenre in der DDR und mit ihrer kompensatorischen Funktion eine
ganz besondere, dem Fernsehen ähnliche Rolle spielte, während die Hinwendung
zum Alltag, die schon für die sechziger Jahre vermerkt wurde, nun eine
Konstante der DDR-Literatur wird, die besonders dem Leser draußen zahllose
Informationen über das Land und über Einstellungen zu ihm vermittelte. Da ist
anzuführen die Darstellung der Situation der Kinder und Jugendlichen, wie sie
Plenzdorf initiiert hatte. Dann aber auch Volker Brauns Unvollendete
Geschichte (1975), die zunächst nur in einer Zeitschrift abgedruckt wurde und
dann dreizehn Jahre auf die Buchveröffentlichung warten musste: Denn allzu
offen wurde hier über die Liebe zwischen einer Funktionärstochter und einem
Jungarbeiter berichtet, der verdächtigt wird, Kontakte mit dem Westen zu
unterhalten. Als sie sich unter massivem elterlichen Druck von ihm trennt,
unternimmt er einen Selbstmordversuch. Da löst sich das Mädchen von ihrem
Elternhaus.
Wie Jugendliche am realen Sozialismus kaputt gehen, zeigen auch die
Erzählungen Thomas Braschs (Vor den Vätern sterben die Söhne, 1977); wie
Jugendliche ihren Lebensanspruch formulieren, die Prosaminiaturen Die
wunderbaren Jahre von Reiner Kunze (1976). Hier – wie auch in anderen
Prosatexten, so z.B. in Jurek Beckers Schlaflose Tage (1978) – kommt auch
der Themenkomplex Schule zur Sprache. Eine präzise, stark autobiographische
Innenansicht des Militärs liefern die Romane von Jürgen Fuchs Fassonschnitt
(1984) und Das Ende einer Feigheit (1988).
REINER KUNZE, Mitschüler
Der kleine Text "Mitschüler" entstammt einer Sammlung "poetischer
Prosa" (Hans Mayer), die unter dem Titel Die wunderbaren Jahre 1976 vom
DDR-Büro für Urheberrechte zur Publikation in der Bundesrepublik freigegeben
79
und dort in kurzer Zeit zum Bestseller wurde. Der Titel des Buches zitiert
Truman Capote: "Ich war elf, und später wurde ich sechzehn. Verdienste
erwarb ich mir keine, aber das waren die wunderbaren Jahre." Kunze schildert
den Alltag von Kindern und Jugendlichen in der DDR und – in den letzten
beiden Abteilungen des Bandes – jenen im Prag der Jahre 1968 und 1975. Mit
der Veröffentlichung in der BRD begann gegen Reiner Kunze in der DDR eine
Diffamierungskampagne, in deren Verlauf er als "Staatsfeind" aus dem
Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen wurde. Im April 1977 siedelte
der Autor mit seiner Familie in die BRD über. "Mitschüler" ist Teil des größten
Abschnitts des Buches, der überschrieben ist mit "Verteidigung einer
unmöglichen Metapher", eben der der "wunderbaren Jahre", in denen das
Lebensgefühl von jungen Menschen sich Ausdruck verschafft gegenüber
staatlicher, schulischer und elterlicher Autorität.
Sie fand, die Massen, also ihre Freunde, müßten unbedingt die farbige
Ansichtskarte sehen, die sie aus Japan bekommen hatte: Tokioter Geschäftsstraße am
Abend. Sie nahm die Karte mit in die Schule, und die Massen ließen beim Anblick des
Exoten kleine Kaugummiblasen zwischen den Zähnen zerplatzen.
In der Pause erteilte ihr der Klassenlehrer einen Verweis. Einer ihrer Mitschüler
hatte ihm hinterbracht, sie betreibe innerhalb des Schulgeländes Propaganda für das
kapitalistische System.
Der Grad der Emanzipation einer Gesellschaft beweist sich an den
traditionell Schwachen, den Kindern, den Heranwachsenden und den Frauen.
So ist es kein Zufall, dass in der DDR nach ersten Schritten juristischer, sozioökonomischer
und politischer Gleichberechtigung die Frauen seit den siebziger
Jahren verstärkt dazu übergehen, ihre Rolle auch in der Literatur geltend zu
machen. Hatten bisher hauptsächlich männliche Autoren weibliche Ansprüche
formuliert – wie beispielsweise H. Müller in Zement, 1973 –, taten es nun die
Frauen selber.
Das Schlüsseljahr ist 1974: Es erscheinen die drei wichtigen
Frauenromane Franziska Linkerhand von Brigitte Reimann, Gerti Tetzners
Karen W. und Irmtraud Morgners Trobadora Beatriz. Damit präsentierten sich
Frauengestalten, die immer stärker und selbstbewusster darauf drängten, ihre
Lebens- und Glücksansprüche jenseits von männlichen Modellen zu entwerfen.
Prosatexte, die nachdrücklich die Frauenliteratur der DDR charakterisieren und
von Anspruch auf Emanzipation wie von gehörigem literarischem Talent
80
künden, sind weiter: Lauter Leben (1975) von Helga Schubert, Vieräugig oder
blind (1978) von Charlotte Worgitzky, Wie ich meine Unschuld verlor (1976) von
Christine Wolter, Meine ungehörigen Träume (1978) von Helga Königsdorf,
Schattenriß eines Liebhabers (1981) von Rosemarie Zeplin. Spätere Texte
dieser und anderer Autorinnen lassen sich dann aber kaum noch mit dem zu
engen Begriff der Frauenbücher fassen.
HELGA KÖNIGSDORF, Bolero
Als Leitspruch des ersten Bandes Erzählungen Meine ungehörigen
Träume (1978), dem der Text "Bolero" entnommen ist, hat die Autorin gewählt:
"Meiner Liebe, die mir täglich stirbt und die ich immer neu erschaffe", wozu sie
auf literarischer Ebene mit dem Einsatz des Phantastischen und der ironischen
Brechung arbeitet – wie eben auch am Ende des vorliegenden Textes. Nicht ihr
mangele es an Phantasie, "sondern dem Leben", stellt Helga Königsdorf dazu
fest. 1938 in Gera geboren, ist Helga Königsdorf nach absolviertem Physikstudium
seit 1961 als Mathematikerin tätig und publiziert seit 1978 regelmäßig
Erzählungen und Romane.
Die Liebe mit ihm war nicht sonderlich erfreulich. Er kam ohne weitere
Einleitung über mich und beschäftigte sich an mir mit sich. Hinter der Sinnlichkeit der
Frauen mutmaßte er Tonnenideologie, und folglich bemaß er die Kultur seiner
Liebeshandlung in deren Quantität. Trotzdem wäre ihm die Offenbarung meines
Empfindens wohl nicht als Niederlage nahegegangen, denn durch Statistiken
aufgeklärt, schätzte er den Prozentsatz der frigiden Frauen im Abendland auf
sechsundneunzig. Welche richtige Frau aber würde nicht ihren Ehrgeiz dareinsetzen,
zu den verbleibenden vier Prozent gezählt zu werden. Außerdem war allen
Gedankengängen vorzubeugen, die in der Frage endeten: “Warum ich eigentlich?”
Während ich also für seine Befriedigung schwer atmete und leise stöhnte,
dachte ich daran, daß das blaue Sommerkleid zur Reinigung müsse. Ich legte seine
Hand mit der Narbe zwischen meine Schenkel, doch er begriff nichts. Vielmehr
registrierte er mit Staunen die ihm neu erschaffenen Fähigkeiten zur Lust, überließ sich
gänzlich dem passiven Genießen, so daß in Zukunft ich über ihn kommen mußte, was
meinem natürlichen Empfinden zuwiderlief. Vielleicht hätte ich es nicht getan, wenn ich
bedacht hätte, daß er so schreien würde. Aber das konnte ich wirklich nicht ahnen,
denn er war der ruhigste Mensch, den ich gekannt habe.
Danach übermannte ihn meist die Müdigkeit, und er fiel in einen kurzen tiefen
Schlaf, während ich einer kleinen Mahlzeit die letzte Würze verabreichte.
(...)
Er führte ein einwandfreies Familienleben, in dem ich keinen Platz hatte, nicht
einmal als entfernte Kollegin. Ich stimmte dem unbedingt zu. Nüchtern gesehen:
Scherereien hätte es nicht verlohnt. Ein Geheimnis war auch eine Waffe. Eine Waffe
gegen das unerhörte Gefühl der Verlassenheit, das mich damals wie ein wieder- und
wiederkehrender Angsttraum bedrängte. Ein Spannungselement, und hing auch noch
81
soviel Selbstironie daran. Ein Kontrast im Gleichklang meiner Tage. (...)
An jenem Abend kam er direkt nach einer Sitzung zu mir. Ich legte ihm die
Kissen im Sessel zurecht, schob die Fußbank heran, draußen wurde es bereits dunkel.
Ich sah, er war sehr müde. Ich kochte einen starken Kaffee, würzte ihn mit Zucker und
Zimt, gab etwas Himbeergeist in die breiten Schalen, zündete ihn an und goß dann
langsam den Kaffee hinein. Ich fand es rührend, daß er sagte: “Ich bin heute sehr
abgespannt, aber ich wollte dich unbedingt sehen.” Ich trug den neuen hauchdünnen
weinroten Hausanzug, sonst nichts, und als er mich an sich zog, spürte ich, er war
doch nicht so müde. Irgendwie mochte ich ihn in diesem Moment wie nie zuvor. Ich war
besonders zärtlich zu ihm und ganz ohne Verstellung. Als ich seinen Kopf an meine
Schulter legte, knurrte er leise. Ich fragte ihn, was er denke, und er sagte, mich
wegschiebend: “Ach nichts. Aber ich bin doch ein altes Schwein.”
Das andere geschah völlig unerwartet. Wir aßen schneller als sonst, weil er zu
Hause nicht abgemeldet war. Dann ging er, schon im Anzug, aber noch in Strümpfen,
auf den Balkon, lehnte sich über die Brüstung, um nach seinem Auto zu sehen. Wie er
so auf Zehenspitzen stand und sich reckte, faßte ich seine Füße und riß seine Beine
hoch. Er hat nicht versucht, sich festzuhalten, er war wahrscheinlich zu überrascht.
Das erklärt auch, wieso er erst so spät geschrien hat. Da war er schon in der Höhe des
siebenten oder sechsten Stocks. Seine Schuhe und seinen Mantel habe ich
hinterhergeworfen. Ich räumte die Wohnung auf, badete und setzte mich an die offene
Balkontür. Ravels Bolero erfüllte anschwellend den Raum.
Manchmal grübele ich darüber nach, wie diejenigen, die seinen Nachruf
verfassen, die Tatsache, daß er ohne Schuhe Selbstmord beging, damit in Einklang
bringen, daß er der korrekteste Mensch war, den sie oder irgend jemand anderes
kannten.
wasichzubolerofand (2008)
82
Die Literatur der Arbeitswelt, die ja in der DDR eine lange und zum Teil
beachtenswerte Tradition und einen Status der Selbstverständlichkeit erworben
hatte, erfüllte – nicht immer in der gewünschten ästhetischen Weise – ihren
Parteiauftrag, wenn sie sich auch weiterhin mit den Arbeits- und
Lebensverhältnissen von Menschen aus dem proletarischen Milieu
beschäftigte – hier wären unter anderem zu nennen Wolfgang Hilbigs Die
Weiber (1987), Paul Gratziks Transportpaule (1977) und Angela Krauß' Das
Vergnügen (1984). Doch erfolgte, wie wir sahen, schon bald eine soziale
Ausweitung auf Berufstätige aus den Reihen der Intelligenz und aus der
Verwaltung. Zu dieser sozialen Kategorie gehören die Protagonisten der Bücher
von Günter de Bruyn Buridans Esel (1968), Erich Loest Es geht seinen Gang
oder Mühen in unserer Ebene (1978) oder Christoph Hein Der fremde Freund
(1982). Heins "Endspiel in Prosa" (Wolfgang Emmerich) rechnet Errungenschaften
wie relativen Wohlstand und Sicherheit gegen Verlust von Liebesfähigkeit
und eine sich ausbreitende innere Leere auf.
Christoph Hein, Jahrgang 1944, verlebte seine Kindheit in Sachsen,
besuchte das Gymnasium in Westberlin und musste nach dem Mauerbau in
Ostberlin bleiben. Nach verschiedenen Tätigkeiten, darunter als Regieassistent,
ab 1967 Studium der Philosophie und Logik. Seit 1979 freier Schriftsteller von
Theaterstücken, Essays, Erzählungen und Romanen.
CHRISTOPH HEIN, Der fremde Freund
Die Ich-Erzählerin Claudia ist eine knapp vierzigjährige, geschiedene,
kinderlose, im Beruf erfolgreiche Ärztin, die sich in ihrem Berliner Appartement
und in ihrem Single-Dasein eingerichtet hat. Eine Änderung ist nicht absehbar,
scheint auch nicht wünschenswert. Ihr Leben besteht aus ein paar Bekannten,
mehr oder weniger angenehmen Kollegen, Auto und Sommerurlaub in einem
Ostseedorf, ab und zu einem Liebhaber und einem Besuch bei den Eltern, mit
denen sie emotional nichts weiter verbindet, und schließlich dem Fotografieren
meist menschenleerer Landschaften. In diese Lebenswelt platzt die Bekanntschaft
mit Henry, dem "fremden Freund". Ein Jahr dauert ihre Beziehung; er
kommt ihr nah und bleibt ihr doch fremd, auch wenn er einmal bekennt: "Ich
fürchte mich nicht davor zu sterben. Schlimmer ist es für mich, nicht zu leben."
83
Mit dem Tod Henrys endet auch der Einbruch von Spontaneität und Freiheit im
Leben Claudias, sie zieht Bilanz:
Ich bin auf alles eingerichtet, ich bin gegen alles gewappnet, mich wird nichts
mehr verletzen. Ich bin unverletzlich geworden. Ich habe in Drachenblut gebadet, und
kein Lindenblatt ließ mich irgendwo schutzlos.
Es geht mir gut. Heute rief Mutter an, und ich versprach, bald vorbeizukommen.
Mir geht es glänzend, sagte ich ihr. Ich bin ausgeglichen. Ich bin einigermaßen beliebt.
Ich habe wieder einen Freund. Ich kann mich zusammennehmen, es fällt mir nicht
schwer. Ich habe Pläne. Ich arbeite gern in der Klinik. Ich schlafe gut, ich habe keine
Alpträume. Im Februar kaufe ich mir ein neues Auto. Ich sehe jünger aus, als ich bin.
Ich habe einen Friseur, zu dem ich unangemeldet kommen kann, einen Fleischer, der
mich bevorzugt bedient, eine Schneiderin, die einen Nerv für meinen Stil hat. Ich habe
einen hervorragenden Frauenarzt, schließlich bin ich Kollegin. Und ich würde,
gegebenenfalls, in eine ausgezeichnete Klinik, in die beste aller möglichen Heilanstalten
eingeliefert werden, ich wäre schließlich auch dann noch Kollegin. Ich bin mit
meiner Wohnung zufrieden. Meine Haut ist in Ordnung. Was mir Spaß macht, kann ich
mir leisten. Ich bin gesund. Alles was ich erreichen konnte, habe ich erreicht. Ich wüßte
nichts, was mir fehlt. Ich habe es geschafft. Mir geht es gut.
Ende.
Volker Braun verfolgt in seinem Hinze-Kunze-Roman (1985), aus dem
schon zitiert wurde, ein anderes Interesse, wenn er am Beispiel eines
Funktionärs und seines Chauffeurs zeigt, wie und warum das Herr-Knecht-
Verhältnis, allen Proklamationen der Partei trotzend, auch im realen
Sozialismus funktioniert.
Die einmal von offizieller Seite so nachdrücklich geforderte Beschäftigung
mit der Wirklichkeit in Wirtschaft und Gesellschaft führte, wo sie nicht mit
Scheuklappen betrieben wurde, notwendigerweise auch zur Auseinandersetzung
mit den Umweltbelastungen als Folge der rücksichtslos forcierten
Industrialisierung der DDR. Die extrem starke Verschmutzung von Luft und
Wasser – Flüsse wie Elbe und Saale waren von exkrementöser Farbe – und
überhaupt die Mißachtung der Natur und die Gefahren des Primats der
Ökonomie wurden jetzt von der Prosa vermehrt thematisiert. Dafür stehen
Bücher wie Monika Marons Flugasche (1981), Hans Cibulkas Swantow. Die
Aufzeichnungen des Andreas Flemming (1982), aber auch Störfall (1987), in
dem Christa Wolf ebenfalls die Situation nach dem Reaktorunglück in
Tschernobyl reflektiert. Allerdings heißt es auch schon im Geteilten Himmel –
und das bereits 1963 und also wohl eher unfreiwillig ökologiekritisch:
84
Die Leute, seit langem an diesen verschleierten Himmel gewöhnt, fanden ihn
auf einmal ungewöhnlich und schwer zu ertragen (…). Die Luft legte sich schwer auf
sie, und das Wasser – dieses verfluchte Wasser, das nach Chemie stank, seit sie
denken konnten – schmeckte ihnen bitter.
The past is never dead. It’s not even past – dieses Motto William
Faulkners bestimmte nun die Vergangenheitsbewältigung in der DDR, die
Reflexion ihrer Geschichte und Vorgeschichte. Trotz vieler Bücher über den
Nationalsozialismus fehlte noch die kritisch-selbstkritische Aufarbeitung der
Voraussetzungen in den Individuen dafür. Ein mutiger Versuch in dieser
Richtung sind die außerordentlich komplexen und gleichzeitig spannenden
Kindheitsmuster (1976) von Christa Wolf.
Ausgangsfrage dieser Prosa ist: "Wie sind wir so geworden, wie wir
heute sind?" Es ist die Frage nach dem ganz normalen, alltäglichen Faschismus,
der von den meisten Menschen mitgemacht, mehr oder minder unwillig
ertragen, auch erlitten, doch nicht bekämpft wurde. Christa Wolf stellt die
Familie eines kleinen Lebensmittelhändlers vor, in der das Mädchen Nelly seine
Kindheit während der Nazi-Zeit erlebt und die typischen Eigenschaften erlernt,
die "Kindheitsmuster" eben, um sich dem Leben unter der Diktatur anzupassen:
Angst, Hass, Härte, Verstellung, Unterdrückung authentischer Gefühle, Abhängigkeit,
Pflicht und Treue. Auf einer zweiten Ebene konfrontiert die Erzählerin
die Erinnerung an ihre beschädigte Kindheit mit der Gegenwart einer Reise an
den Ort eben ihrer Mädchenjahre. Auf einer dritten Ebene bezieht die Autorin
ihre alltäglichen Erfahrungen zur Zeit der Niederschrift des Buches 1972-75 mit
ein, und auf einer vierten reflektiert sie die Schwierigkeiten des Schreibens über
Themen, die lange Zeit tabuisiert waren.
Dieser bis dato längste und komplizierteste Prosatext Christa Wolfs
dokumentiert den Prozess der Trauerarbeit, der komplexen Auseinandersetzung
mit der eigenen Vergangenheit, um Energien freizusetzen, den
Problemen der Gegenwart auf andere Weise begegnen zu können.
Christa Wolf, Kindheitsmuster
Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von
uns ab und stellen uns fremd.
Frühere Leute erinnerten sich leichter: eine Vermutung, eine höchstens
halbrichtige Behauptung. Ein erneuter Versuch, dich zu verschanzen. Allmählich, über
Monate hin, stellte sich das Dilemma heraus: sprachlos bleiben oder in der dritten
Person leben, das scheint zur Wahl zu stehen. Das eine unmöglich, unheimlich das
andere. Und wie gewöhnlich wird sich ergeben, was dir weniger unerträglich ist, durch
das, was du machst. Was du heute, an diesem trüben 3. November des Jahres 1972,
85
beginnst, indem du, Packen provisorisch beschriebenen Papiers beiseite legend, einen
neuen Bogen einspannst, noch einmal mit der Kapitelzahl 1 anfängst. Wie so oft in den
letzten eineinhalb Jahren, in denen du lernen mußtest: die Schwierigkeiten haben noch
gar nicht angefangen. (…)
Im Kreuzverhör mit dir selbst zeigt sich der wirkliche Grund der Sprachstörung:
Zwischen dem Selbstgespräch und der Anrede findet eine bestürzende
Lautverschiebung statt, eine fatale Veränderung der grammatikalischen Bezüge. Ich,
du, sie, in Gedanken ineinanderschwimmend, sollen im ausgesprochenen Satz
einander entfremdet werden. Der Brust-Ton, den die Sprache anzustreben scheint,
verdorrt unter der erlernten Technik der Stimmbänder. Sprach-Ekel. Ihm gegenüber
der fast unzähmbare Hang zum Gebetsmühlengeklapper: in der gleichen Person.
Zwischenbescheide geben, Behauptungen scheuen, Wahrnehmungen an die
Stelle der Schwüre zu setzen; ein Verfahren, dem Riß, der durch die Zeit geht, die
Achtung zu zollen, die er verdient.
In die Erinnerung drängt sich die Gegenwart ein und der heutige Tag ist schon
der letzte Tag der Vergangenheit. So würden wir uns unaufhaltsam fremd werden ohne
unser Gedächtnis an das, was wir getan haben, was uns zugestoßen ist. Ohne unser
Gedächtnis an uns selbst.
Und die Stimme, die es unternimmt, davon zu sprechen.
Mit diesen Worten, die deutlich machen, wie schwer die Vergangenheit
der Hitlerzeit noch auf vielen Autoren lastete, beginnt das Wolfsche Prosa-
Unterfangen, ganz im Zeichen der Sprachskepsis der Moderne und der eigenen
ethischen Verantwortung, wie sie Ingeborg Bachmann auf den Punkt gebracht
hatte: “Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar”. Wer sie aber formulieren
will, weiß auch: “Die Sprache ist die Strafe”.
Das betraf in besonderer Weise natürlich auch die Stalin-Zeit und den
hauseigenen Stalinismus, was verschiedentlich Gegenstand einer ersten
kritisch-selbstkritischen literarischen Auseinandersetzung wurde. Verständlichermaßen
beginnt dies erst einmal mit der Benennung des unsagbar
Unsäglichen: Stefan Heyms 5 Tage im Juni, dann Collin (1979) sowie sein zu
Lebzeiten erschienener autobiographischer Nachruf (1988) dokumentieren
einschneidende Ereignisse der DDR-Diktatur. Erwin Strittmatter rechnet in
seinem dritten Band des Romans Der Wundertäter (1980) mit dem realsozialistischen
Alltag ab, Helga M. Novaks Kindheitserinnerungen mit dem Leben in
einem DDR-Internat (Vogel federlos, 1982), Christoph Hein in Horns Ende
(1985) mit den 50er Jahren und Der Tangospieler (1989) mit den Ereignissen
des Jahres 1968, Walter Jankas autobiographische Aufzeichnungen
Schwierigkeiten mit der Wahrheit(1989) mit den Terrorprozessen 1956 gegen
oppositionelle Kommunisten, Christa Wolfs Was bleibt (1990) mit Verfolgung
und Bespitzelung durch den Staatssicherheitsdienst (Stasi).
86
1990 erscheint eine im ersten DDR-Jahrzehnt niedergeschriebene
Novelle von Anna Seghers, die nie überarbeitet und abgeschlossen wurde: Der
gerechte Richter: Ein junger unbestechlicher Untersuchungsrichter wird in
einem nicht näher bezeichneten Land dazu bestellt, in der Hauptstadt den "Fall
Viktor Gasko" zu übernehmen. Gasko – knapp vierzig, Kommunist, Teilnehmer
am Spanischen Bürgerkrieg, interniert in Frankreich und in einem deutschen
Lager – wird "von einer Seite, die über jeden Zweifel erhaben ist" beschuldigt,
als Agent für das Ausland tätig geworden zu sein. Dem Untersuchungsrichter ist
er hingegen aus früheren Jahren als ehrlicher Mensch bekannt und ihm
scheinen die Unterlagen zur Durchführung eines Prozesses keinesfalls
ausreichend. Auch Verhöre des Angeklagten erbringen nichts Belastendes,
machen diesen nur noch verzweifelter: "Unsre Idee ist die beste, die Menschen
sich jemals ausgedacht haben. Was macht ihr aus dieser Idee, ihr?" Druck von
oben, mysteriöse Hinweise, Sich-Zurückziehen ehemaliger Freunde aus dieser
Affäre lassen den "gerechten Richter" zwar nicht unbeeindruckt, ändern jedoch
auch nicht sein korrektes Verhalten. So wird ihm der Fall entzogen, er selbst
verhaftet und in ein Arbeitslager eingewiesen, wo er unter psychischem und
physischem Terror zu leiden hat. Dort trifft er auch den inzwischen verurteilten
Gasko wieder, der als Mensch zu Grunde gerichtet scheint. Doch stehen die
beiden alle Unbill durch: "Wir müssen kommen, wir sind im Recht", heißt es am
Ende dieser mehr als realistischen Geschichte.
Jedoch bleibt das meiste noch zu tun, und es wird viel Zeit und Kraft
kosten und noch mehr: Aufrichtigkeit und Mut, die geeigneten Fragen stellen zu
können. Denn die Tatsache des Scheiterns der sozialistischen Staaten muss
jedem überzeugten Sozialisten wie Feuer auf der Haut brennen. Nicht nur
Helga Königsdorf hat diese Selbstbefragung im Frühjahr 1990 aufgenommen:
Wieso haben wir nicht die ganze Wahrheit geschrieben?... Wir sagen nicht, wir
haben es nicht gewusst. Oder wir sind betrogen worden... Man konnte immer alles
wissen, wenn man nur wollte... Wir kritisierten, aber wir stellten nicht in Frage.
Jedenfalls nicht total... Wir glaubten an die Möglichkeit, ihn (den Sozialismus) von
innen her zu reformieren, ihn zu bessern. An die Möglichkeit, der schönen Utopie ein
Stück näher zu kommen... Wir akzeptierten es nicht, das System, das uns umgab, aber
wir liebten die Utopie, die es einst auf seine Fahnen geschrieben hatte... Dafür
schrieben wir, waren listig, verbündeten uns zeitwillig sogar mit den Gegnern unserer
Hoffnung. Das war die Wurzel unserer inneren Zensur.
87
Für die Veröffentlichung seines Romans Collin in der BRD war Stefan
Heym 1979 in seinem Land zu neuntausend Mark Geldstrafe verurteilt und aus
dem Schriftstellerverband ausgeschlossen worden. Collin ist ein in der DDR
sehr angesehener Schriftsteller und liegt wegen Herzinsuffizienz in einer
Eliteklinik, wo er seine Memoiren schreibt, in denen er endlich die Wahrheit
über sein Land in den fünfziger Jahren aussprechen will. Heyms Buch ist ein
Roman über die Gesellschaft der DDR, über stalinistischen Terror; die
Romanfiguren sind typische Vertreter dieses Gesellschaftssystems und leicht
identifizierbar als Johannes R. Becher, Helene Weigel, Jan Petersen oder
Stephan Hermlin. Spannend geschrieben wie die meisten Bücher des Autors,
ist das der erste Text, der wirklich offen, ohne Vor- und Rücksicht über Macht
und Abhängigkeit in der DDR spricht.
constructa romantika (1998)
88
Eine Gegenwart, die bedrängend als Stillstand und Bedrohung innerhalb
und außerhalb der DDR erfahren wurde, führte zu einer verstärkten Beschäftigung
mit Vergangenheit, mit Historie und das heißt auch mit Epochen und
Künstlern, die lange aus dem landeseigenen kulturellen Erbe ausgeschlossen
waren. Die Schriftsteller wandten sich dem zu, was nicht einfach gesunde
Fortschrittsgläubigkeit und -ideale sowie gestandene Klassizität im Sinne der
Goethe kolportierenden Doktrin verkörperte und nicht in ein von Siegermentalität
geprägtes Historienbild passte: dem elend zugrunde gegangenen
Sturm-und-Drang-Dichter J.M.R. Lenz in der einfühlsamen Lebensbeschreibung
von Sigrid Damm Vögel, die verkünden Land (1985); dem wahnsinnig
gewordenen Hölderlin (Gerhard Wolf, Der arme Hölderlin, 1972); Günderrode
und Kleist, die den Freitod suchten (Günter Kunert, Ein Pamphlet für K., 1975;
Christa Wolf, Kein Ort. Nirgends, 1979); weitgehend unbeachtet gebliebenen
Frauen wie Caroline Schelling-Schlegel (Brigitte Struzyk, Caroline unterm
Freiheitsbaum. Ansichtssachen, 1988) oder Goethes Schwester (Sigrid Damm,
Cornelia Goethe, 1987).
In den Gestalten Kleists und der Günderrode führt Christa Wolf zwei
jener deutschen Dichter zu einer fiktiven Begegnung zusammen, die
menschlich und literarisch – wie Anna Seghers anmerkte – „ihre Stirn an der
gesellschaftlichen Mauer wundrieben“.
CHRISTA WOLF, Kein Ort. Nirgends
Einer, Kleist, geschlagen mit diesem überscharfen Gehör, flieht unter
Vorwänden, die er nicht durchschauen darf. Ziellos, scheint es, zeichnet er die
zerrissene Landkarte Europas mit seiner bizarren Spur. Wo ich nicht bin, da ist das
Glück.
Die Frau Günderrode, in den engen Zirkel gebannt, nachdenklich, hellsichtig,
unangefochten durch Vergänglichkeit, entschlossen, der Unsterblichkeit zu leben, das
Sichtbare dem Unsichtbaren zu opfern. Daß sie sich getroffen hätten: erwünschte
Legende. Winkel am Rhein, wir sahn es. Ein passender Ort. Juni 1804.
Wer spricht?
(…)
Glauben Sie, Günderrode, daß jeder Mensch ein unaussprechbares Geheimnis
hat?
Ja, sagt die Günderrode. In dieser Zeit? Ja.
Die Antwort hat sie bei der Hand gehabt.
Sie bleiben stehen, drehn sich einander zu. Jeder sieht den Himmel hinter dem
Kopf des andern. Das blasse spätnachmittagliche Blau, keine Wolkenzüge. Sie
mustern sich unverhohlen. Nackte Blicke. Preisgabe, versuchsweise. Das Lächeln
zuerst bei ihr, dann bei ihm, spöttisch. Nehmen wir es als Spiel, auch wenn es Ernst
89
ist. Du weißt es, ich weiß es auch. Komm nicht zu nah. Bleib nicht zu fern. Verbirg dich.
Enthülle dich. Vergiß, was du weißt. Behalt es. Maskierungen fallen ab, Verkrustungen,
Schorf, Polituren. Die blanke Haut. Unverstellte Züge. Mein Gesicht, das wäre es. Dies
das deine. Bis auf den Grund verschieden. Vom Grund her einander ähnlich. Frau.
Mann. Unbrauchbare Wörter. Wir, jeder gefangen in seinem Geschlecht. Die
Berührung, nach der es uns so unendlich verlangt, es gibt sie nicht. Sie wurde mit uns
entleibt. Wir müßten sie erfinden. In Träumen bietet sie sich uns an, entstellt,
schrecklich, fratzenhaft. Die Angst im Morgengrauen, nach dem frühen Erwachen.
Unkenntlich bleiben wir uns, unnahbar, nach Verkleidungen süchtig. Fremde Namen,
die wir uns zulegen. Die Klage in den Hals zurückgestoßen. Trauer verbietet sich, denn
wo sind die Verluste?
Ich bin nicht ich. Du bist nicht du. Wer ist wir?
Aber nicht nur vergessene Geschichte und Literaten, sondern auch
Mythen und Legenden zogen in die Literatur der siebziger und achtziger Jahre
ein. In der Prosa sind es vor allem Fühmann, Wolf und Morgner, die sich von
der Mythologie inspirieren ließen und darin Archetypen abendländischer
Erfahrung schlechthin suchten und fanden. Fühmanns mythologische
Erzählungen, die mit seinem Tod 1984 abbrechen, sind im eigentlichen Sinn
Menschengeschichten, die von den ältesten Themen überhaupt sprechen: von
der Macht der Liebe und des Todes.
In Kassandra (1983) führt Christa Wolf ihren Ende der Sechziger
begonnenen Prozess des Nachdenkens noch weiter in die Tiefe der Zeit, hin zu
den antiken Quellen.
Die äußeren Stationen der Handlung übernehmen weitgehend die
Vorlagen des Mythos: Kassandra, Tochter des trojanischen Königs Priamos
und seiner Frau Hekabe, weissagt ungehört den Untergang Trojas, wird vom
siegreichen Griechenkönig Agamemnon als Sklavin nach Mykenä verschleppt
und dort zusammen mit ihm von seiner Frau Klytaimnestra getötet. Doch der
eigentliche Schauplatz der Erzählung liegt im Innern Kassandras. In der ihr
verbleibenden Zeit kurz vor dem Tod, reflektiert sie ihr Leben – die Entwicklung
von der Königstochter, die zugleich Priesterin und Seherin war, zur Außenseiterin
in der trojanischen Gesellschaft, von Vater und Hof verstoßen. Die
Themen dieser Meditation – Macht und Machtmissbrauch, Sprache als
Herrschaftsinstrument, Vorbereitung und Logik des Krieges, Rolle der Frau,
auch in utopischer Form – zeigen, wie die Autorin in einem Zeitsprung von
dreieinhalbtausend Jahren versucht, sich mit grundlegenden Fragen der
abendländischen Zivilisation auseinanderzusetzen. Dabei erlebt der Leser
immer wieder, wie eng persönliche Betroffenheit und fiktionale Verarbeitung
90
miteinander verbunden sind, was auch das Publikum tief betroffen macht und
diesen Text schnell zu einem Kultbuch der Friedens- und Frauenbewegung in
Ost und West werden lässt.
Ganz anders wendet sich Irmtraud Morgner dem mythologischen
Erzählen zu und das schon im Titel ihres ersten veröffentlichten Romans Leben
und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura.
Das war 1974 und in dieser Form für die DDR Neuland: Die Trobadora Beatriz
de Diaz, im 12. Jahrhundert die einzige ihrer Art unter lauter männlichen
Kollegen, wird 1968 aus achthundertjährigem Schlaf geweckt wie einst Dornröschen.
Sie untersucht nun die Welt, ob sie immer noch eine "Frauenhaltergesellschaft"
ist oder mittlerweile für Frauen bewohnbar. In Paris erlebt sie die
Mairevolte der Arbeiter und Studenten und bricht dann in die DDR auf, von der
sie als einem "Ort des Wunderbaren" gehört hat. Dieser ironische Vorwand
gestattet es der Autorin vor dem Leser, ungeschminkte DDR-Wirklichkeit
auszubreiten. In die Handlung montiert sie Erzählungen, Lieder, Gedichte,
Legenden, Träume, Zeitungsnachrichten, Forschungsberichte, Interviews,
Passagen aus verschiedenen wissenschaftlichen Werken. Der 700-Seiten-
Roman ist in dreizehn Bücher und sieben Intermezzi gegliedert, die auch Teile
des 1965 zensierten Romans Rumba auf einen Herbst (1992) enthalten. Neben
Beatriz gibt es noch zwei weitere weibliche Figuren: Laura, eine Germanistin
mit Kind, die bei der S-Bahn arbeitet, und die Ernährungswissenschaftlerin
Valeska, die, wann immer sie es begehrt, sich in einen Mann verwandeln kann,
was auch dazu dient, hinter die Fassaden der patriarchalisch-chauvinistischen
Männerwelt zu blicken auf der Suche nach dem neuen Mann.
Im zweiten Teil der geplanten Trilogie Amanda. Ein Hexenroman (1983)
greift die Autorin unter anderem auf die nördlich-deutsche Brocken- und
Walpurgisnacht-Mythologie zurück und erzählt die Fortsetzung: die verrückte
Geschichte von der als Sirene mit Menschenkopf und Vogelleib reinkarnierten
Trobadora sowie von Laura und der von ihr abgespaltenen hexischen Hälfte
Amanda. So blicken Leserin und Leser wiederum durch ein großes erzählerisches
Kaleidoskop und erfahren jenes "Evangelium einer Prophetin", das
Morgner sich zu schreiben gewünscht hat: "die gute Botschaft von einer
genialen Frau, die die Frauen in die Historie einführt."
91
Exkurs zu Wolfgang Hilbig
Nicht erst zu seinem Tod im Alter von fünfundsechzig Jahren, sondern
schon zur Verleihung des Büchner-Preises 2002 war man sich einig: Wolfgang
Hilbig, der Mann, der die idealtypische Biografie des Arbeiterdichters aufweisen,
aber in der DDR nie publizieren konnte, war einer der sprachmächtigsten
Schriftsteller der deutschsprachigen Literatur schlechthin, was er in überzeugender
Weise mit den Texten unter Beweis stellte, die seit seiner Ankunft im
Westen 1985 erschienen sind.
Der Meuselwitzer Autor überschüttet mit seinen in Prosa vorgetragenen
Offenbarungen vom Zustand der Welt und der darin hausenden Menschheit –
auf der Folie einer mittlerweile nur noch Älteren unmittelbar nachvollziehbaren
realsozialistischen Wirklichkeitsreduktion – die Lesergemeinschaft unbeirrt mit
immer wieder zum Verwechseln ähnlichen Szenarien und Protagonisten, so
dass es gar angebracht scheint, von der Präsenz einer einzigen mit vielen
autobiografischen Details ausgestatteten Mittelpunktfigur in ein- und demselben
großen Erzählfluss zu sprechen, was diesem profund apokalyptischen
Bewusstsein von der Dialektik der Aufklärung auch nur wahlverwandt wäre.
Dazu passend dann die vormaligen Naturlandschaften – längst Opfer
des Industriemolochs und nurmehr noch Erinnerungen „aus der Literatur“ – und
der, der „aus der Asche“ kommt, dieser selbsternannte „Kaspar Hauser“ made
in GDR, dem der Mensch – das „Volk“ des ehemaligen Arbeiter-und-Bauern-
Staates in Gestalt von „Müßiggängern, Gaffern und Streunern“ – schlichtweg
klaustrophobisch „verdächtig“ ist, auf dass ihn sintflutartige „fette schwarze
Schauer... versetzt mit Rußflocken“, „niederstürzendes Wasser“, vom
stadtzentralen Alexanderplatz, dem ästhetischen Horror sozialistischer
Hauptstadtplanung schlechthin, in sein unterirdisches Asyl vertreiben. Da sitzt
nun unser Keller-Ich vielfach auch in der 3. Person „hier unten“ im Refugium
seines Erdlochs – Dostojewskis Untergrund lässt grüßen! –, das ihm ja kein
Idyll mehr sein kann, weil in diesem Bau – ganz anders als bei dem des
Tierchens des nun endlich genannten Kafka, das von den eigenen obsessiven
Befürchtungen umgetrieben wird – durch Phallus-Graffito und Möbelklau
geheimnisumwittert aufgestöbert und gestört. Jedoch als Laboratorium von
92
Phantasien und Werkstätte von Gedanken ist ihm seine mutterbauchartige
Zuflucht weniger Hölle denn doch heimelige Höhle.
Wo dem Individuum innere und äußere Lebensorientierung sowie
Sprache gänzlich abhanden gekommen, Geist und Körper in Auflösung
begriffen oder einer Metamorphose ins beliebte Exkrementöse ausgesetzt,
Oben und Unten ohne Wechselkurs austauschbar, ununterscheidbar geworden
sind und also das Inferno dem Diesseits gleichfalls eingeschrieben ist, wird
LeserIn zugeben müssen, dass mitunter – wie in den Weibern noch –
anzutreffendes happy ending ihm/ihr eine wohl verdiente Atempause für
stimmungsmäßige Lockerungsübungen verspricht und zudem zu den Raritäten
Hilbigscher Prosa rechnet – satirische Anwandlungen manchmal, wenngleich
eigentlich auch weniger auf der Handlungsebene als schon eher nur gegenüber
möglichen Dispositionen des Kopfes und des Herzens. Das sind im Klima
allgegenwärtiger „Abwesenheit“ und Hoffnungslosigkeit im Sinne des
Danteschen lasciate ogni speranza geradezu vollständig entschwunden
geglaubte Gefühlswelten, atlantidische Seelenlandschaften. Was noch bleibt
von Welt, ist Unterwelt, und Wirklichkeit ist schließlich nur Entleerung, Verfall,
Abraum, erstarrte Richtungslosigkeit, Simulation und Halluzination. Wo Zeit und
Raum so eigentlich aufgehoben sind und Geschehen nicht mehr statthat, bleibt
einzig der offene Abgrund, an dessen Rändern verstümmelte Sinne
aufständisch-künstlerisch noch walten. Mitunter also, von weit her, aus
Müllerschen Räumen, hamletmaschinenartige Signale der Wollust. Oder als
finale Benn-Ironie ein mediterranes Wehen – noch...
Solch Vorspruch zur nun anstehenden Hades-Tour durch ein Dezennium
Hilbigscher Prosa will die Absicht nicht verheimlichen, dass der O-Ton-Extrakt
aus knapp tausend Seiten sich selbstverständlich den Herztönen des Autors
verpflichtet fühlt und nicht vollkommen einer eigenen Leseregie zum Opfer fällt.
Wenngleich mit ein wenig leggerezza der Weg in den Himmel wahrhaft leichter
wird, grad weil er über und durch Abfallhaufen hindurch führt. Aber ob das zu
den möglichen Reisezielen rechnet, ist mehr als fraglich: diese infernalische
Komödie kennt keinen Gott noch Paradies.
aus der Asche (O-Ton I)
Die üblichen Schwelgerüche von Kohle, die kühle salpetrige Ausdünstung alter
Wände, die unter abblätternder Ölfarbe hervorkroch, den Geschmack der Stadt in
93
seinen Schleimhäuten, ihre Bitterkeit in den Lungen, Gift, aber vielleicht, so dachte er,
lag es auch an der Qualität der Kohle. Und der Geruch, den sie absonderte, sank
braungelb und bleischwer in die Straßen. Es war der Geruch des Todes. In jener Zeit,
in der ich noch als Heizer im Kohlekesselhaus gearbeitet hatte, war er mir oft genug
begegnet. Wenn wir Kohle erhielten, die zu lange gelagert worden war, die man
wahrscheinlich aus den feuchten schlammigen Gründen sich leerender Depots
gekratzt hatte, wo sie schon einige Jahre den Einflüssen des Wetters ausgesetzt
gewesen war, dann entstand, sobald die Flammen angriffen, genau derselbe Dunst.
Nur mühsam fraß sich Glut in die ausgelaugten verklumpten Haufen auf den
Brennrosten, und dabei traten Schwelgase aus, die von beinah gelbgrüner Farbe
waren; sie waren immerhin sichtbar, man konnte sie mittels guter Belüftung und unter
laufendem Schüren in den Abzug kanalisieren. Über den Heizkesseln aber schwebte,
fast bewusstseinstrübend, ein unsichtbarer Moorgeruch, der alle atemberaubenden
Ausdünstungen der Verwesung zu enthalten schien. Es war deutlich, das abwesende
Leben begann in der Kohle zu kochen, wenn sie in der zunehmenden Hitze in den
Öfen auseinander fiel. Kurz bevor die schwarze Erde, die auf den Feuerrosten lag, in
Flammen aufging, wurde das Mysterium auf die simpelste Weise offenbar: verjüngt
brachen die Ingredienzen des aufgespeicherten Lebens aus der zu Asche zerfallenden
Materie und stiegen in den Äther empor. Zellulosen... Zellen also, angefüllt mit
jahrtausendaltem Leben, gingen auf im rosenfarbenen Geist des Feuers. Die Heizer
standen davor und wiegten die Köpfe, die trunken waren von einem Ansturm
barbarischer Gedanken. Im düsteren Licht ließen sie die Blicke über die mattfarbenen
Wände der Kesselbatterien schweifen und lauschten in das gewitternde Brausen der
Glut; dann sprachen sie grinsend: Auf diese höchst einfache Art werden auch wir eines
nicht fernen Tages die unio mystica vollziehen. Denn wir sind es, die den Boden, auf
dem wir fußen, in Verbrennung auflösen und zum Himmel entfliegen lassen. Wir
wissen, dass alles Leben nur ein dem Himmelsraum entliehener Geruch ist, und wenn
wir heizen, rufen wir ihn wieder hervor. Und wir wissen, dass wir nicht ruhen werden,
ehe wir die gesamte Erde in einen graublauen Ball kalter und geruchloser Asche
verwandelt haben.
Hommage an Wolfgang Hilbig (2008)
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Der Geruch, der von ihm selber ausging, der nichts anderes als eine Wolke von
Grabesluft war, war angsteinflößend, atemberaubend und entsetzlich. Er steckte nass
in seinen Achselhöhlen, troff ihm von Brust und Lenden und quoll aus allen Falten
seines Unterleibs, er dampfte aus der Gegend seiner Nieren hervor, drang aus dem
grünen Fett seiner Leber... es war der schwarze, unverkennbare Geruch seines
Absterbens, das widerwärtige Aroma des Todes, etwas, das in ihm siechte und
verweste, etwas Fremdes und Böses in ihm, wenn er es nicht in der Hauptsache selbst
war... dieser Geruch erinnerte ihn plötzlich an das Schwelen einer bestimmten, zu
lange abgelagerten Kohlensorte, wenn sie trübe zu glimmen begann, ein
fleischgedüngtes Wasser, das dieser Kohle mit den gleichen funkenwerfenden,
phosphorizierenden Gerüchen entstieg.
Im Schoß unterprivilegierter Schichten - das heißt noch darunter -, hier, in den
Tiefen unter überalterten, dicht zusammengeballten Häusermassen, unter
ausgeplünderten Straßenmassen und Hinterhöfen, war das Grundgemäuer porös und
durchlässig, und es sonderte die Restbestände menschlicher Daseinsenergie häufiger
und nachhaltiger ab. Der Glitzer, der von den Wänden floss, wies auf die brachiale
Ernährung hin, die Ballaststoffe, versetzt mit ranzigen Fetten und minderwertigen
Spirituosen, schienen sengend und unter düsteren Emanationen aus den Ziegelfugen
zu tropfen, und scharfe, säurehaltige Urine brannten sich hier immer tiefer ins Erdreich
hinab.
Sein Körper war ihm verlorengegangen... jedenfalls hatte er sich in eine Masse
verwandelt. Es war etwas Schmieriges, glattglänzend, braun, exkrementös. Er war
durch Gänge gekrochen..., vielmehr war er bewegt worden, es war ein Voranwälzen,
Gleiten, Rutschen auf einer schiefen Ebene. Es war Licht, glitzernd, und die Wände
waren verschliffen und undeutlich, sie schienen aus einer losen, schleimigen Substanz
zu bestehen, die immer weiter mitrutschte, er war ein Teil der Substanz, braun bis
schwarz, und wie ein Chamäleon glich er sich allen Farbübergängen der Wände an. -
Anfangs noch hatten ihn die Wörter entsetzt, die in seiner Kehle waren, aber dann
normalisierten sie sich ihm, schließlich intonierte er sie rhythmisch, und bald klangen
sie wie das Hacken auf einer Schreibmaschine: Ex-kre-men-te-Ex-kre-men-te-Ex-krement...ich
bin ein Exkrement... Deckname Kot.
Ich in der Hölle, ich selbst das Höllenwesen in verräucherten Höhlen über
schmierigen Papieren, in der übelriechenden Abgeschiedenheit meiner Verstecke
ausgewachsen zu einer bestialischen Riesenspinne, die, in ihren Schmutz verkrallt,
unter konvulsivischem Gemurmel giftige Buchstaben wiederkäute. Ein Ungeheuer,
dem die Verrottung sich in Form roter Hektikflecken in alle Hautwinkel schrieb, dem
eintrockende Harnsäure auf der Kopfdecke juckte, ein schon nicht mehr aufzuhaltender
Wahnsinn, in welchem sich verklebte Haarbüschel schmerzlos abzusondern
begannen. Das Scheusal, das sich seine Zigarettenglut in den Zehenzwischenräumen
löschte, um das schlammige nässende Kribbeln abzutöten, das immer wieder
hervorbrach... das mich schließlich in die Nacht hinaustrieb, wo ich die widerwärtigsten
aller verwüsteten Plätze der mir verhassten Stadtränder durchstreunte.
Ich fürchtete die Wohnung, ihr unsauberes, dunkles Chaos einem
unaufhaltsamen giftigen Sumpf vergleichbar. Seit mehr als einem Monat, seit zwei
Monaten fast nichts als kalte, ranzig schillernde Konserven, den Inhalt von Dosen, die
zwischen bräunlichem Gallert und fadem, beinfarbenem Schmalz einen versalzenen
Fleischkern versteckt hielten, der kleingehackt war, damit er möglichst undefinierbar
blieb. Finsterer Gestank, schimmelnde Berge unabgewaschenen Geschirrs,
Zigarettenreste in überquellenden Aschenbechern, aus den Aschenbechern schließlich
knisternde, blauschwarze Qualmwolken, Rauchflut bis zu einem Meter Dicke, die
Ellenbogen im Unrat auf der Schreibtischplatte, üble, zum Erbrechen reizende und
vollgespuckte Zeitungsstapel, die vom Sud schwarzgefaulter Tomaten unleserlich
geworden und zusammengeklebt waren, ein schier grauenerregender Anblick: Wohin
er auch blickte, war irgendein undefinierbarer Brei, von grauweißer bis gelblicher
Farbe, verschüttet... oder abgelagert worden. Die Substanz war einem sonderbaren
95
Auswurf ähnlich, und zum Teil war sie schon vertrocknet, wie Gips häufte sich der Brei
in allen Winkeln des Fußbodens, Eimer, Töpfe, Pappkartons waren mit ihm gefüllt und
quollen über; ein süßlicher Fäulnisgeruch beherrschte die Küche, dessen Ursprung nur
die helle Masse sein konnte, die sich allerorts mit braunen Gärungsflecken überzog.
Nun füllte die Flüssigkeit in den verschiedensten Stufen des Verkommens, ja der
Versteinerung, jedes verfügbare Gefäß, nun wälzte sie sich auf dem Fußboden und
staute sich in den Winkeln der Wohnküche; auf dem Herd, auf drei Vierteln der
Tischplatte, auf den unbenutzten Stühlen türmten sich Töpfe, Pfannen, Flaschen und
Gläser, allesamt halb oder ganz gefüllt mit dem Brei, der, in Gärung oder Verfestigung
begriffen, Blasen warf und, ehe er erstarrte, alles in ein unauflösliches, süß stinkendes
Chaos verwandelte. Das Abflussbecken der Wasserleitung war voller Brei, und darin
versanken Geschirrberge und Papptüten, ebenfalls voller Brei... den grauenvollsten
Anblick aber bot der Ofen, aus dem der randvoll mit Brei gefüllte Aschebehälter ragte;
die Ringe der Herdplatte waren herausgenommen worden, in verzweifelter
Nachlässigkeit war der wochenlang umsonst gekochte Brei in den Ofen geschüttet
worden, nun troff er aus den Ritzen der Feuertür, sickerte aus allen undichten Stellen
der Schutzbleche wieder hervor und sammelte sich auf dem Fußboden. Dort war die
dickflüssige, sich ausbreitende Lache mit Kinderwindeln eingedämmt worden: aber der
Deich aus Windeln, aus teilweise schon verwendeten Windeln, hatte das Überfließen
der Flut nicht hindern können; sie war durch die schon versteinerten Windeln
gekrochen, und darüber hinweg, hatte sich an den kotbefleckten Stoff- und
Papierwällen verfärbt, und strebte in bräunlichen Rinnsalen übelriechend der Mitte der
Küche zu.
Alles... alles, was abwesend war, befand sich dort oben, hinter jener
brennenden Himmelswand, die im Norden meine Mauer vor der Welt bildete.
Umgegend? Ich sah den Jüngling, der ich gewesen war, die schlecht gepflasterten und
verschlammten Straßen verlassen, auf der Seite, die der Stadt zugewandt war,
begrenzte seinen Blick noch grauschwarzes Industriegemäuer, abgeschunden und
wüst bekritzelt; nach der anderen Richtung hin, wo ich durch versumpfte
Straßengräben stieg, waren aufgeschüttete Flächen voll von unansehnlichem Gras, es
waren weite, von Papierwolken überwehte Müllablagen, die schon planiert waren,
langsam durchquerte ich eine Brandung von Rauch und sprühendem Nebel, einen
Verhau von auch im Sommer nicht mehr grünendem Buschwerk, aus dem Regen
braune Rinnsale spülte. Meine Stärke schien mir im Wald zuzuwachsen. Der Wald war
das Gebiet vergangener Jahrhunderte, er hatte in der Wirtschaft des jungen Staates
nichts zu suchen, er war eine Gegend aus der Literatur. Am Abend erst kehrte ich
täglich aus ihm zurück. Dann illuminierte sich der Qualm der Industrie, hinter seinen
Wolkenwänden flackerten Brände, die aufrecht stehenden Batterien der
Produktionsfront feuerten aus allen Rohren, Funkenströme schossen in den
dampfenden, zischenden Himmel; es war ein unheimlicher Himmel, giftgeladen und
voller Drohung, aber sein dauernder Niederschlag von Dreck und Ruß wurde
unsichtbar, die Verfärbungen der Horizonte plötzlich malerisch... - mystische
Ausdünstungen eines pestilenzalischen Acheron... Es war das Jenseits, die
Schattenwelt. Es war ein Höllenstrich, weil es auf ihm keine Sprache gab.
...vor der Mauer (O-Ton II)
Mitten im Unterleib der Stadt, als sei man der Stadt Berlin, jener uralten
monströsen Vettel, unter die Röcke gekrochen, hier nahm man auf einmal alles wahr,
was sie aus Schamgefühl vor der Welt verbarg... und was ihr eigentliches Wesen
verriet, was von ihrer Hurerei mit den wechselnden Systemen noch übrig war... hier
hatte sie ihre abgelegten Fetische versteckt, hier waren ihre vergangenen Sprachen
begraben, in den Bündeln alter verbotener Zeitungen zum Beispiel, wilhelminische,
nationalistische, demokratische, faschistische, stalinistische, nachstalinistische... hier
unten phosphorizierte das alte verbrecherische Papier wie ungewaschene
Unterwäsche... und hier unten wandelten die Toten und Untoten und belustigten sich
96
an den Überbleibseln ihrer einstigen Obsessionen. Und hier lagen die unausgebrüteten
Eier der Stadt. Gegen die Stadtmitte hin Wüstheit und Baufälligkeit... große Flächen
von Brackwasser am Boden stehend, das in der schwächer werdenden Beleuchtung
trübe und farbig schillerte wie Benzin oder Öl. Manchmal war es, als ob durch die tiefen
Lachen Schlangenlinien huschten wie die unheimlichen Spuren von Getier, das vor
dem Licht floh. Und der Dunst, der von den nassen Böden aufstieg, verwob sich düster
mit meinen Sinnen und verschleierte mir den Ausblick nach vorn. Ab und zu war Schutt
in den Gang gerutscht, als ob hier, vor nicht allzu langer Zeit, Erschütterungen
stattgefunden hätten, Erdumwälzungen, Aufbrüche... und hinter den zerbrochenen
Wänden sickerte es hervor wie Urin, mit faden Gerüchen, milchig und quecksilbern aus
dem fetten Hintergrund der Gewölbewand, und immer mehr Steine lockerten sich in
der durchdringenden Jauche.
Auf seinem Sitz im Keller lebte (er) gleichsam auf der Nulllinie, die sein
Kontostand bildete: er hatte das Gefühl eines zu Tode erschöpften
Langstreckenläufers, wenn er an diese Linie dachte: nie tauchte er unter ihre
Oberfläche hinab, obwohl es seit langem nicht mehr weiterging, eine der
Merkwürdigkeiten seiner Existenz. Er hatte früher sogar einen Sessel hier unten
gehabt, doch eines Tages war ihm dieser verschwunden. Es war ein roter
Polstersessel gewesen, an vielen Stellen schon speckig glänzend, aber bequem und
breit, als wäre er für zwei Leute gebaut worden: er war das einzige Stück eigenen
Mobiliars. Und der Sessel hatte ihm dann zum Ruhesitz vor der kühlen Betonmauer
gedient, wenn er sich aus der Sommerhitze schon frühzeitig hinabflüchtete und in dem
trüben Licht die Stille auf sich wirken ließ. So saß er auf einem Thron, die Kellerluft
durchfloss ihn und schien ihn zu stärken, als säße er direkt an der Quelle des
Sauerstoffs. Und so machte er sich Gedanken über den Sauerstoff... es schien ihm, er
atme, was in ihm war, und was aus ihm hinausströmte, das nahm er wieder auf, und so
war er eins mit der Atmosphäre, die ihn umgab. Eine Zeitlang war er der Patriarch der
Unterwelt hier unten, der Alleinherrscher über ein unbekanntes halbdunkles Reich,
unangefochten ruhte er, und alle Gedanken waren so ferne, ermüdende Gründe für ein
Leben oberhalb, dass er sie, kaum dass sie ihn berührten, leicht wieder fallenlassen
konnte. Jetzt hatte ich es bequem vor der Mauer, bei kühlem Kellergeruch thronte ich
in dem Sessel wie ein breiter Gott (und wie ein Höllenfürst, wenn verdichtet die Dünste
toter Ausscheidungen aus der Stadt heranzogen), die Arme ausgestreckt auf den
Armstützen, Kopf und Rücken aufrecht an der Rückenlehne, die Füße auf der
Gemüsekiste. Dies dauerte an, bis eines Tages der Riesenphallus an der Betonwand
aufgetaucht war. Kurz darauf wurde ihm der Sessel aufgeschlitzt und dann gestohlen.
Es war wie der Einbruch der Realität in einen erfundenen Zustand... plötzlich war er
darin nicht mehr allein.
Es war eine stabile Gemüsekiste, eine Kartoffelkiste vielleicht, ich hatte sie
umgedreht und an die Betonmauer gestellt, so konnte sie mir zu einem leidlichen
Sitzplatz dienen. - An die Wand gelehnt und die schmerzenden Füße weit von mir
gestreckt, in dieser Haltung dachte ich nach über meine dunklen Wege durch die Stadt
Berlin; ich mühte mich, meine Gedanken zusammenzunehmen und möglichst
ausschließlich an die Wege zu denken, die ich noch vor mir hatte, oder an die der
letzten Tage, oberhalb und unterhalb des Straßenbodens... und möglichst nicht weiter
zurück, ich war hier, und hier wollte ich bleiben, - mit dem Ohr an dem
glattgeschliffenen Beton, so ruhte ich aus. - Manchmal jedoch suchte ich die
Geräusche auf der Gegenseite der Mauer zu erlauschen: ich hörte nichts, offensichtlich
gab es drüben keine Geräusche. Ab und zu nur bildete ich mir ein, dass da ein sehr
leises Klirren gewesen sei; immer war es schon vergangen, mein Gehör schien es nur
nachzuholen. Wenn es abriss, fuhr ich aus dem Schlaf hoch. Und in diesem Schlaf
hatte ich das Licht hinter der Wand gesehen: ein warmes helles Licht, das hinter
meinen geschlossenen Lidern war, wenn ich im Schlaf an die Zukunft dachte, - drüben
auf der anderen Seite, wo die Innenräume hell gekachelt waren und das Licht noch
heller zurückgaben; Möbel waren darin, und wahrscheinlich ordentliche Toiletten und
Bäder, und vielleicht Vorratsräume, Regale, die mit gefüllten Flaschen vollgestellt
97
waren, und die kleinen Beistelltische davor, mit sauberen Gläsern, die auf Tabletts
gestürzt waren... es spukte mir der Gedanke an den Tunnel unter der Mauer durch den
Schlaf, er spukte durch den Schlaf des ganzen Lands... und es gab dort vielleicht
Zimmerpflanzen dunkelgrüne großblättrige Gewächse südlicher Herkunft, sie gediehen
prächtig in der stetigen Wärme und dem strahlenden Licht, denn drüben, in den Kellern
auf der anderen Seite, war immer Tag, während hier immer Nacht war. Oh, wie
wünschte er sich hinüber... dachte ich. Nein, überhaupt nicht hinauf in die Büros, unten
im Keller wäre es ihm gerade recht gewesen. - Es war beinahe warm unter der Erde,
jedenfalls nicht ausgesprochen kalt, ich fror nicht, wenn ich hier eine oder zwei
Stunden verschlief. Ich war, dies konnte ich mit Fug und Recht behaupten, abgehärtet
genug für den Dienst in der Unterwelt - wenn dieser Gedanke auch einer Romantik
verpflichtet war, der mit unserer Wirklichkeit, nicht viel zu tun hatte. Ich war ruhig bei
dem Gedanken, unterhalb des Lebens zu sitzen... - Damit beschreibe ich mir mein
Leben, dachte ich, mein Leben mit all seinen Untergründen, Kellerverliesen,
Unterböden, Untermauerungen, damit benenne ich es endlich, und es könnte sein,
dass ich mich damit endlich dazu bekenne...
cyberleiber 134 (2008)
Angenehme Gegend - Weiber im Herzen (O-Ton III)
Angenehme Gegend: Es war ein freundlicher Morgen im Frühherbst, der noch
einmal sommerlich zu strahlen anfing. Die Schwerelosigkeit und die... sollte ich so
sagen... Beschwingung während meines Einherschreitens durch die kühle
Morgensonne unter Linden, welche, schon in Schimmer von Gelb getaucht, reglos ihrer
großartigen leuchtenden Entblätterungsszene zu harren schienen, diese luftige
Leichtigkeit meiner Gliedmaßen. Dieses Bild war südlich, mediterran, ich dachte an die
spanischen Lyriker, die von der Abwesenheit des Meeres so leuchtend sprachen. Es
war mir, als säße ich an einem Fenster, in dem sich die Nachmittagssonne brach,
Schatten versengten sich in gleißenden Lichtstrahlen und beschwerten mir die Lider.
Irgendein Punkt in der Welt dort draußen, auf dem mir der Blick lange geruht hatte,
verschwamm, wurde deutlicher und nahm unversehens Ähnlichkeit mit der schwarzen
Silhouette eines kleinen Bootes an, das weit vor dem freien Horizont, in kaum
merklicher Fahrt, über die lichtflammende Fläche zog.
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Was ich sah, hatte ich vorher gewusst, dennoch war es mir plötzlich, als dürfe
ich meinen Augen nicht trauen. Dort unten auf dem Hof gingen die Frauen.
Gemächlich, in angeregtes Schwatzen vertieft, gingen dort die Frauen, in Reihen zu
zweit oder zu dritt; flankiert von den Wärterinnen, die große Schäferhunde führten; sie
schienen lustig, sie lachten, warfen einander Scherze zu. Es waren junge und alte,
kräftige und dünne, ich sah die Wölbungen ihrer Brüste, das Gleiten ihrer Schenkel
unter den Röcken. – Sie hatte sich ihrer Kleider entledigt und saß in dem Sessel, die
Oberschenkel über die beiden Armstützen gelegt. Mit erstaunlich geübten, fast
eleganten Bewegungen begann sie sich zwischen den Beinen zu streicheln, nachdem
sie sich die Fingerspitzen der rechten Hand an den Lippen befeuchtet hatte, ihre linke
Hand... – Ich sah ihr Haar, braunes und blondes Haar, das teils kurz geschnitten war,
teils in langen Wellen auf ihre Schultern fiel. Ich versuchte ihre Gesichter zu sehen, ich
glaubte, in einigen davon ebenmäßige, schöne, engelsgleiche Gesichter zu erkennen.
Meine Augen hatten sich erst hier ganz geöffnet, hier sah ich sie wirklich, hier fand ich
sie wieder. Frauen, Weiber. Ich sah sie und erschauerte, es war keine Halluzination,
ich war in diesem Moment frei von allen Zweifeln. – Ich liebe euch, murmelte ich voller
Entzücken, ich liebe dich. Und ich fasste mir ein Herz und schrie: ich liebe dich.
Plötzlich schien mir, sie machten ein Zeichen, das schmutzigste, das möglich war, sie
hatten sich mit mir verbündet, es war ein Zeichen gegen den reinen Staat. Und es
bedeutete auch: warte auf uns... warte noch einige wenige Jahre... – Das Zeichen sank
mir ins Innerste. Ich wusste nun, wo sie zu finden waren, ich hatte sie wiedergesehen
und in meinem Herzen bewahrt, ich konnte auf sie warten.
Nachdem schon das vorhergehende Jahrzehnt der 60er einen – dank
auch kulturpolitischer Restriktionen – recht blassen und wirkungslosen
Theaterbetrieb erlebt hatte, sprach man in den siebziger und achtziger Jahren
mehrfach von einer Krise des Theaters in der DDR. Einmal hatte das zu tun mit
einem Einbruch der Zuschauerzahlen auf unter zehn Millionen, was angesichts
der Gesamtbevölkerung und vergleichbarer Zahlen in anderen Ländern
keinesfalls so drastisch erscheint. Aber auch hier verloren die Theater viele
Zuschauer an das neue Massenmedium Fernsehen. Zugleich war besonders
unter jungen Leuten ein bestimmtes Interesse wiedererwacht, was besonders in
dieser Zeit, bis Mitte der achtziger Jahre, zu verstärkten Kontrollen und
Sanktionen auf den DDR-Bühnen führte. Das war die Kehrseite der mehrfach
offiziell erhobenen Klage über fehlende Gegenwartsdramatik besonders von
jungen Autoren. Diese kamen erst gar nicht auf die Bühne, schrieben praktisch
für die Schublade: "Wer ungedruckt und ungespielt ist, bleibt ewig jung",
kommentierte das Lothar Trolle, der wie viele der Theatermacher um die Vierzig
noch 1987 als junger Autor galt. Der Theateralltag, der auch in der DDR
hauptsächlich von Genres wie Operette, sozialistischer Boulevardkomödie,
Unterhaltungskabarett und Klassikeraufführung bestimmt war, sah zwar 1986
bis zu fünfundzwanzig Prozent Neuinszenierungen von DDR-Autoren, wobei
allerdings zu unterscheiden war zwischen Theaterstücken, die dem
99
Publikumsgeschmack bzw. der Zensurbehörde Konzessionen machten, und
wirklich anspruchsvoller Dramatik.
Hinsichtlich der Qualität war die Theaterproduktion dieser Zeit von drei
Namen geprägt: Heiner Müller, Volker Braun und Christoph Hein.
Volker Braun gehört zweifellos zu den interessantesten Schriftstellern der
DDR und zwar in allen Genres – von der Lyrik, über das Drama bis hin zur
erzählenden und essayistischen Prosa. Nach dem Abitur 1957 arbeitete er für
einige Jahre in der Produktion und studierte dann Philosophie in Leipzig. Ab
Mitte der sechziger Jahre war er an verschiedenen Theatern tätig, veröffentlichte
1965 seinen ersten Lyrikband Provokation für mich mit einem Titel, der für
Brauns Opus programmatisch ist: Literatur als permanente Herausforderung.
1973 wird er Vorstandsmitglied des Schriftstellerverbandes; 1976 gehört er zu
den Erstunterzeichnern der Biermann-Resolution. Von seiner Lyrik sei hier auf
die Bände mit den besonders sprechenden Titeln hingewiesen: Gegen die
symmetrische Welt (1974) und Training des aufrechten Gangs (1979). In
seinem dramatischen Schaffen konzentriert sich Braun auf DDR-Probleme
(Tinka 1972/76, Die Übergangsgesellschaft 1982), Revolutionsstücke (Lenins
Tod 1970/88, Guevara oder Der Sonnenstaat 1977) oder Fragen deutscher
Geschichte (Siegfried Frauenprotokolle Deutscher Furor 1986).
Heiner Müller, seit Mitte der siebziger Jahre international einer der
bedeutsamsten dramatischen Künstler überhaupt, steht Volker Braun
thematisch nicht fern und ist von der (deutschen, Revolutions-, Welt-)
Geschichte geradezu besessen. Er sucht in ihr
“die Lücke im Ablauf, das Andre in der Wiederkehr des Gleichen, das Stottern
im sprachlosen Text, das Loch in der Ewigkeit, den vielleicht erlösenden Fehler"
(1985). Über seine Schreibtechnik sagte er 1975: "Die Fragmentarisierung eines
Vorgangs betont seinen Prozesscharakter, hindert das Verschwinden der Produktion
im Produkt... ich glaube nicht, dass eine Geschichte, die Hand und Fuß hat (die Fabel
im klassischen Sinne), der Wirklichkeit noch beikommt.”
Müllers Stücke nehmen damit endgültig Abschied von Brecht, werden
Collagen, immer fragmentarischer, kürzer und subjektiver – ein Vorgang, der
sich auch in der Sprache niederschlägt. Oft fehlen die dramatis personae wie in
Die Hamletmaschine (1977) oder in der fünfteiligen Szenenfolge
Wolokolamsker Chaussee (1985-88). Es geht auch hier um den "Kindertraum/
Von einem Sozialismus ohne Panzer", der aber mit der Wirklichkeit des
100
Krieges, der Nachkriegszeit bis zum Arbeiteraufstand 1953 kontrastiert: Es
waren gerade die Panzer, "die uns geboren haben", die Panzer der Roten
Armee, die Nazi-Deutschland besiegten, den Aufbau des Sozialismus schützten
und demonstrierende Arbeiter unterdrückten. Die Gründungsgeschichte der
DDR wird dargestellt als eine Geschichte von Terror und Tod – über den
17.Juni 53 (Szene III) hinaus bis hin zum Triumph der Bürokratie (Szene IV)
und "zum Jahr der Panzer" 1968, als die Truppen des Warschauer Pakts, und
also auch DDR-deutsche, den Reformkurs in der Tschechoslowakei brutal
beseitigten. Im Teil V "Der Findling (nach Kleist)" wird ein Jugendlicher
geschildert, der gegen die Repression des Prager Frühlings protestierte und
deswegen – von seinem Vater, dem treuen Parteigenossen, denunziert – ins
Gefängnis gesteckt wurde. Hier die ersten Zeilen:
Heiner Müller, Der Findling (nach Kleist)
Er saß mir gegenüber in der Sprechzeit
Meine fünf Jahre lang im Zuchthaus Bautzen
Er redete MIT MARXUNDENGELSZUNGEN
Für sein Arbeiterparadies Ich sah
Wie seine Lippen sich bewegten und
Zwischen den Zähnen seine Zunge Schweiß
Auf seiner Stirn wenn er in Fahrt kam Tränen
Und was er sagte war wie nicht gesagt
Seit meinem Umzug von Berlin nach Bautzen
In einer nicht vergessnen Sommernacht
Im Jahr der Panzer Neunzehnachtundsechzig
Und in fünf Jahren sagte ich kein Wort
Und keine Silbe seine Sprechzeit lang
Aber ich tat ihm den Gefallen und
Kassierte die Geschenke Und sein Rücken
War krummer jedesmal wenn er zurück ging
In seine Hölle die sein Paradies war
Und ich durfte zurück in meine Zelle... .
Gegenüber solch groß angelegten mit Historie und Mythos arbeitenden
Modellen verengten die meisten jüngeren Dramatiker ihre Sicht auf bestimmte
Gegenwartsausschnitte der DDR, arbeiteten kleinteiliger. So provinziell das
scheinen mochte und auch oft war, zeigte sich doch Ende der achtziger Jahre
deutlich ein Sich-Lösen von inhaltlichen und formalen Beschränkungen. Über
diese neue Dramatik schrieb ein Kritiker:
Stücke werden aus disparaten Wirklichkeitspartikeln montiert, Autorenkommentare,
literarische Zitate und Bezüge, filmische Elemente, mythologische
101
Verweise vermischen sich in durcheinanderwirbelnden Zeitebenen. Die Kunstebene als
eigene Wirklichkeit wird betont: Theater als Denk-, Sprach-, oder Spiel-Spiel. Godot
tummelte sich zwischen den Zeilen.
Fragender Gestus der Selbstvergewisserung, rhapsodische Form: das dramatische Ich
reflektiert in langem monologischem Strom von Erinnerungen, Alb- und Wunschträumen
seine Situation, Verdrängungen werden entlarvt, Realität und Fiktion
vermischen sich bis zur Ununterscheidbarkeit. Die Sprache ist meist karg, knapp,
pointiert. Kein plaudriger Alltagston, sondern scharf geschliffene Kunstsprache.
Die gesellschaftlichen Erfahrungen und die politischen Ereignisse der
siebziger Jahre bewirkten, dass sich auch unter den einmal so fortschrittsfreudigen
Lyrikern eine Abschiedsstimmung durchsetzte, ein Abschied vom
"Prinzip Hoffnung" des Philosophen Ernst Bloch, der bis zu seiner vorzeitigen
Emeritierung in Leipzig lehrte, aber auch von Freunden, die als Konsequenz der
Biermann-Ausbürgerung das Land verlassen mussten oder wollten. Jürgen
Rennert formulierte es so: "Es stirbt das Land an seinen Zwecken".
Ernüchterung gegenüber Gesellschaft und Natur greift um sich; der
ökologisch-kritische Blick der DDR-Naturlyrik trifft auch die Verkümmerung der
zwischenmenschlichen Beziehungen und der menschlichen Existenz
schlechthin.
VOLKER BRAUN, Die Industrie
Das Gedicht "Die Industrie" gehört zu einer Sammlung mit dem
programmatischen, an Hölderlin erinnernden Titel Gegen die symmetrische
Welt, die Volker Braun 1974 veröffentlichte. Der Dichter gibt darin eine lyrische
Situationsbeschreibung der realsozialistischen Gesellschaft Mitte der siebziger
Jahre und problematisiert die Reduktion menschlichen Lebens auf bestimmte
Funktionen, vor allem auf die Arbeit. Die beiden hier ausgewählten Strophen
scheinen uns in diesem Zusammenhang besonders signifikativ:
In der mitteldeutschen Ebene verstreut
Sitzen wir, hissen Rauchfahnen.
Verdreckte Gegend. Glückauf
Und ab in die Wohnhülsen. Die Brüste der Frau
Haltegriffe in der Schnellbahn
Schlaf. Die Sonne, oder sagen wir:
Regen pißt auf Beton. Mensch
Plus Leuna mal drei durch Arbeit
Gleich
Leben.
102
(...)
Gleich
Leben, gleich!
Ich habe nur noch wenige Sommer.
Und aus den Rippen fühl ich sprossen
Die Arme
Und die ganze Haut
Greift nach den Freunden
Und mein Mund umschreibt auf deinem, Geliebte
Was kommt, kommt, kommt!
Immer mehr Dichter beginnen am bedrückenden Status quo des
Unveränderlichen zu leiden, verlieren ihren Ansprechpartner in der Gesellschaft
und untereinander. Das poetische Ich kann nicht mehr für andere, nur noch für
sich selbst sprechen – "Ich hoffe schon nichts mehr. Und alle meine Briefe /
Schreibe ich schließlich und endlich / An mich" (Heinz Czechowski). Das
Gedicht zieht sich zurück, wird auch komplizierter, hermetischer. 1976 publiziert
Elke Erb, Widerspiegelung
Ich seh mich wieder groß an meinen Grenzen
Aufgetaucht, ich hatte mich vergessen.
Vogel, flugs die Grenzen zu verwunden,
Frohlocke ich, die Spiegelscherben glänzen.
Ich hungerte, jetzt will ich wieder essen:
Dies Manna der Verletzungen, die munden.
Hommage an Elke Erb (2008)
103
Die nach 1949 geborenen Dichter, die also in die DDR "hineingeboren"
(Titel eines Gedichts von Uwe Kolbe) waren, müssen sich nicht mehr wie die
Älteren von der Hoffnung auf einen menschlichen Sozialismus lösen oder die
Zerschlagung dieser Hoffnung betrauern. Das Credo dieser Generation
formulierte der 1957 geborene Uwe Kolbe 1979 so:
Die Fahnen blind, die Zeichen
abgenutzt, die Losung
gleicht sich Tag für Tag.
Soll ich dessen Ende singen? (...)
Glauben ersetz ich nicht durch weiteren Glauben.
UWE KOLBE , S-Bahn-Fahren für dich
Kolbe gehört zu jenen Autoren in der DDR, die von sich sagen können:
"Ich bin achtzehn./ Im Sozialismus aufgewachsen./ Hab keinen Krieg erlebt." Zu
jenen also, die mit Diskomusik und Englisch groß geworden sind, die – so
formulierte es Elke Erb –
wie die Jugend westlicher Länder die automatisierten und anonymisierten
Vollzüge der gegenwärtigen Zivilisation zu bestehen (haben) und... wie diese in der
Tradition der europäischen Moderne (stehen).
“S-Bahn-Fahren für dich" – aus dem Band Abschiede. Liebesgedichte
(1981) – beschreibt den Versuch, sich selbst zu bewahren für das geliebte Du
in und gegenüber einer das Individuum sinnlich verschleißenden Umwelt.
Diese Füße sind zu schonen diese Augen zu schließen
jetzt.
Mühelos sind zu überhören das Trampeln und Schrein und das
Rattern und der Bahnhofsvorsteher.
Der ich bin wirkt höflich und drängt sich nicht auf.
Ruhig laß ich mich kontrollieren.
Du sagtest du brauchest mich ganz.
104
Hommage an Uwe Kolbe (2008)
Zusammen mit Kolbe, Jan Faktor, Reiner Schedlinski, Thomas
Rosenlöcher waren es viele junge Poeten, die der Lyrik der DDR in den
siebziger und achtziger Jahren ein neues, oft surrealistisches oder
dadaistisches, wildes Aussehen verliehen. Auf große Worte verzichtend,
experimentierten sie mit der Sprache, um Kommunikationstraditionen radikal zu
verändern, wie 1986
Bert Papenfuß-Gorek, reißaus
geschmähte angeflehte, flieht
eh' sie euch entdek-ken, keck vollstrek-ken
& euch fosen zecken in die schmacht
bitt' ich euch; nehmt eure flucht auf/euch
: seid gerissen & wie immer – ridikül
verbleibe ich zwar im engeren sinne
aber erweiterten einvernehmen
zwischendurch schrei' ich euch
das neuro-mantische gedichtfragment
"reizend nahm sie reißaus"
& schmeiß's euch hinter.
Sicherlich brachten Vielfalt, spielerischer Einfall, Austritt aus eingefahrenen
Ordnungen bei diesen jungen Dichtern, die oft auch als Prosaautoren
und Multimediakünstler hervortraten, nicht nur ihren Wunsch, sondern auch ihre
105
Fähigkeit zum Ausdruck, sich aus der Enge der DDR-Verhältnisse herauszuarbeiten
und sich der Welt und ihrer Literatur zu öffnen.
Das Programm dieser neuen jungen Literatur formulierten die drei
Herausgeber (Bernd Wagner, Lothar Trolle, Uwe Kolbe) der von 1983 bis 1987
im Ostberliner Untergrund erscheinenden Literaturzeitschrift "Mikado" (Auflage
100 Exemplare) so:
Wir wollten nicht das Gesamtkunstwerk, keine Hermetik, keine Sammlung der
literarischen Opposition, wir wollten einfach eine andere Öffentlichkeit, die die Worte
des Einzelnen bündelt, gegen- und miteinander sprechen läßt... Wir suchten die
Brisanz der Gegenwart in der Sprache diesseits und jenseits des Vokabulars der
Macht und der Anpassung... Wege aus der Ordnung sind angefangen. Der Kaiser ist
nackt.
106
Der Kaiser ist nackt
– ein durchaus passendes Motto für den gesellschaftlichen Umbruch in
der DDR Ende 1989, dem sich kein Bürger und schon gar keiner ihrer
Schriftsteller und Intellektuellen entziehen konnte.
Viele Fragen warfen sich nun auf: Was ist eigentlich in den vier
Jahrzehnten passiert mit den Menschen, der Gesellschaft, mit der großen
Utopie der Befreiung von Ausbeutung und Unterdrückung? Worauf hatte man
sich mit dem stalinistischen Sozialismus eingelassen? Wer war eigentlich
schuld an diesem System, das soviel versprach und sowenig hielt? War wirklich
jemand "außerhalb von Schuld" (Uwe Saeger)? Wo fing die Verantwortung des
Schriftstellers an und wo hörte sie auf, wo stand er wirklich angesichts von
Privilegien, Reisen und Preisen, Zensur und Berufsverbot?
In diese Debatte um die Aufarbeitung der Vergangenheit griff Wolf
Biermann im September 1990 so ein:
In der Literatur gibt es Leute, die politisch reaktionär sind oder den Herrschenden
nach dem Munde reden und trotzdem große Schriftsteller sind. Und es gibt
anständige Kerle, die aber leider von den Musen nicht geküsst wurden. Ein schlechtes
Lied, ein schlechtes Gedicht, ein schlechter Roman mit anständigem Herzen ist immer
noch schlecht. In der Literatur ist also alles noch dreimal komplizierter. Dennoch
gehören die Schriftsteller, die Künstler auch noch zu den Menschen, sind nicht
außerhalb des Volkes. Also muss man sie auch mit Maßstäben messen, die für alle
gelten. Und da gab es eben Schweinehunde und grundehrliche Menschen, die aber
auch verstrickt waren ins alte System.
Der langjährige Präsident des Schriftstellerverbandes der DDR Hermann
Kant, der sein Bekenntnis zur Parteilinie in der Öffentlichkeit immer wieder
eloquent konterkarierte, erklärte nun:
Weil ich ein Aktivist der DDR gewesen bin, mit Vorsatz an ihr gearbeitet habe
und auch an kulturpolitischen Vorstellungen in ihr, ist selbstverständlich in meiner
Biographie schuldhaftes Verhalten zu vermerken. Oder die berühmt-berüchtigten
Ausschlussvorgänge (gegen Stefan Heym, Kurt Bartsch, Adolf Endler, Klaus Poche,
Joachim Seyppel, Dieter Schubert, Klaus Schlesinger, Rolf Schneider und Karl-Heinz
Jakobs, die 1979 unter maßgeblicher Beteiligung Kants aus dem Schriftstellerverband
ausgeschlossen worden waren, d. Verf.) sind, weil ich mich von Kräften außerhalb der
Literatur zu sehr drängen ließ und eigene Geduld nicht mobilisierte, natürlich eine
107
Frage meiner Schuld. Da gibt es überhaupt keine Debatte. Nur finde ich, die Leute
sollten sich zufrieden geben mit dem, was ich von mir her einräume...
War das schon Selbstkritik oder eher ein Versuch, die kaum begonnene
Diskussion schnell abzuwürgen?
Ganz anders klang die Stellungnahme von Fritz Rudolf Fries, der zurückgezogen
in Petershagen bei Berlin die Wende erlebte:
Ich bin auch dabei, in diesen Wochen aus einem Dornröschen-Schlaf aufzuwachen.
Ich habe mich auch in einer DDR-Nische eingerichtet in den letzten Jahren,
mit einer Hecke ums Haus, und habe mir so "my home, my castle" aufgebaut. Das
führte sicherlich auch zu einer machtgeschützten Innerlichkeit, die natürlich den
Einzelnen verderben, korrumpieren kann. Ich bin eigentlich überrascht worden von den
Ereignissen des 9. November. Ich habe auch das Engagement der Leute unterschätzt;
ich habe gedacht, dass die DDR-Bürger sehr zufrieden sind mit dem, was sie haben,
mit den sozialen Möglichkeiten. Dass sie in diesem Maße auf die Straße gehen
würden, habe ich mir nicht vorstellen können, auch nicht durch meine eigenen Kinder,
die ja der Generation angehören, die die Revolution getragen hat.
Nach den kulturpolitischen Auseinandersetzungen Mitte/Ende der
Siebziger war Günter Kunert in die Bundesrepublik gegangen. Von dort aus
blickte er nachdenklich auf die politische und literarische Entwicklung in
Deutschland:
Der DDR-Schriftstellerverband hatte in Berlin dreihundertfünfzig Mitglieder
gehabt, obwohl es nie dreihundertfünfzig Schriftsteller gegeben hat, sondern höchstens
eine Handvoll. Selbstverständlich haben viele dieser Autoren nicht einmal Kompromisse
geschlossen, sondern sie waren einfach Kompagnons des Systems und haben
von dem System gelebt, indem sie geliefert haben, was an Ware gefordert wurde. Aber
über diese Autoren sollte gar nicht gesprochen werden. Dass jeder, wo immer er auch
lebt, in seine Gesellschaft verstrickt ist, dass jeder in Ambivalenz existiert, auch hier
natürlich (in der BRD, d. Verf.), ist auch klar. Doch diese Ambivalenz kann man bedeutenden,
schätzenswerten Autoren nur bedingt vorwerfen. Es gibt natürlich auch unter
den namhaften Leute, die Henkersdienste geleistet haben. Aber diejenigen, die wirkliche
Literatur geschrieben haben, haben auch etwas von dieser Ambivalenz, in der sie
gestanden haben, spüren lassen und haben die mit in ihr Werk übernommen. Für
diese Autoren ist gerade die Situation des totalen Umbruchs in der DDR eine
Erfahrung, die eines Tages äußerst fruchtbar sein dürfte.
Einer der bekanntesten DDR-Autoren, dessen Bücher in beiden Teilen
Deutschlands erscheinen konnten, war zweifellos Günter de Bruyn. In seine
Erinnerungen an die Konflikte mit der Zensur mischte sich auch Selbstkritik:
Ich selbst war in den letzten zehn Jahren immer der Meinung, dass ich an
Zensur beim Schreiben überhaupt nicht denke. Und ich frage mich heute, wo das alles
vorbei ist, ob nicht doch unbewusst so etwas wie eine innere Zensur da war, die so
108
geheim wirkte, dass man überhaupt bloß solche Ideen hatte, die eine Chance hatten
durchzukommen. Das war ein Training, das man nur schwer ablegen kann. Ich bin
nicht nur jetzt, nachträglich, sondern war auch schon früher der Meinung, dass die
Freiräume – bis zu dem Punkt, wo man ins Gefängnis gekommen wäre – doch größer
waren, als sie wirklich ausgeschöpft worden sind. Ich glaube schon, dass wir alle
Schuldgefühle haben müßten.
De Bruyn zufolge wird darüber zu schreiben sein, wird die DDR, die ja
nun nicht mehr existierte, als Thema erhalten bleiben:
Ein Schriftsteller kann nur aus seinen individuellen Erfahrungen heraus
schreiben, und wenn die mit der DDR zusammenhängen, dann wird das natürlich
immer präsent bleiben. Autoren, die schon frühzeitig in den Westen gegangen sind –
Uwe Johnson z.B., den ich für den bedeutendsten von ihnen halte –, sind von ihrem
DDR-Stoff nie losgekommen.
Die erfolgreichste Lyrikerin der ehemaligen DDR, deren Werk eine
Gesamtauflage von fast einer Million erreichte, war Eva Strittmatter, Frau des
Romanciers Erwin Strittmatter. Sie bekennt sich zur DDR, zu ihrer Vergangenheit
ohne jede Einschränkung:
Ich gehöre nicht zu denen, die ihr Leben verleugnen, irgendetwas
davon zurücknehmen wollen, sich für irgendetwas schuldig bekennen wollen. Dieses
pauschale Schuldbekenntnis und diese pauschale Schuldzuweisung finde ich einfach
unwürdig. Es kann nicht sein, dass so viele Millionen Menschen ihr Leben verleugnen
müssen. Wir haben versucht, das Leben mit Anstand zu leben, in gegenseitiger
Verpflichtung zu leben, und davon kann ich absolut nichts zurücknehmen.
Und in typisch (n)ostalgischer Trauer dagegen eine Tagebuchnotiz von
Helga Königsdorf:
Nach diesem Jahr werden Gedichte unmöglich sein. Nach diesem Jahr wird es
keine Liebe und keine Revolution mehr geben. Nichts wird da geschrieben sein von
unserer Einsamkeit, von unserer Angst, von unserem Glück.
Besonders für diejenigen Schriftsteller, die bis zuletzt an die Reformfähigkeit
des maroden SED-Regimes geglaubt hatten, fiel der Abschied von der
DDR schmerzlich aus. Ende Januar 1990 trat Königsdorf aus der PDS (Partei
des demokratischen Sozialismus, der Nachfolgeorganisation der alten SED)
aus. Wehmütig erinnerte sie sich an den November 1989, den sie einen
"historischen Moment der Schönheit" nannte. Die DDR verloren zu haben,
bedeutete für diese Autorin und für viele andere Heimatverlust, das neue und
109
geeinte Deutschland hingegen Fremde:
Heimat ist das Land, wo alles zum ersten Mal war, wo man sich einmischen
darf. Ich hatte hier doch das Gefühl, dass alles überschaubar war, vertraut war, und
das ist nun weg. Ich habe einmal geschrieben: Ohne den Ort zu verändern, gehen wir
in die Fremde. Doch ich glaube, man gewinnt sich die neue Heimat, diese größere, am
besten dadurch, dass man sie mitgestaltet.
Und zum Schluss noch einmal Wolf Biermann:
Was übrig bleibt, was am Leben bleibt, ist wahrscheinlich das, was wirklich tot
ist, was gestorben ist: die Hoffnung auf eine gerechtere Gesellschaft, die wir in
unserem alten Jargon Kommunismus und Sozialismus nannten, also die Utopie. Die
scheint ja jetzt für allemal gestorben zu sein. Und sie ist auch gestorben, aber – sie
wird auferstehen.
Ein mehr als vierzigjähriges Experiment in Sachen Sozialismus ist
gescheitert, hat aber tiefe Spuren im Leben von Millionen Menschen hinterlassen.
Davon werden die Schriftsteller schreiben und dieses Kapitel deutscher
Nachkriegsgeschichte und -literatur auf ihre Weise hoffentlich mit Würde
abschließen. Die friedliche Revolution im Herbst 1989 – die unter dem Slogan
"Wir sind das Volk" begann und mit dem "Wir sind ein Volk" endete – hat nicht
nur die SED-Diktatur beseitigt und erstmalig zu freien Wahlen geführt, sondern
auch die Einheit Deutschlands ermöglicht: Die Volkskammer der ehemaligen
DDR beschloss den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland für den 3. Oktober
1990, der somit zum Tag der Deutschen Einheit geworden ist.
"Es ist ungewöhnlich, dass sich ein Staat freiwillig aus der Geschichte
verabschiedet", kommentierte der letzte Ministerpräsident der DDR diesen
Schritt. Doch: "Ebenso ungewöhnlich und widernatürlich war aber auch die
Teilung unseres Landes."
110
Von Windungen und Wendungen
berlin du deutsche deutsche frau (1998)
Der Zusammenbruch der DDR wurde bewirkt durch eine Unzahl innenwie
außenpolitischer Faktoren. Angesichts von Mangelwirtschaft und
Auslandsverschuldung, Raubbau an den natürlichen Ressourcen sowie der
politischen Reformunfähigkeit des SED-Regimes, wandten sich immer mehr
Menschen von diesem System ab, hatten sie doch Entwicklungen wie in Polen
und Ungarn vor Augen, wo andere Wege beschritten wurden. Massenflucht von
Ost nach West – in einem halben Jahr 500.000 Menschen – , neue
Bürgerbewegungen und Massendemonstrationen im ganzen Land führten zu
einer revolutionären Situation, an deren Ende der Sturz der kommunistischen
Diktatur stand, die sich weder an ihre ideologischen und politischen
Verlautbarungen noch an die eigenen Gesetze hielt. Diese Revolution hatte
natürlich auch weitgehende Konsequenzen für Literatur und Literaten.
Die Schriftsteller sahen sich wie viele ihrer Landsleute nun plötzlich
abgewickelt, entlassen, doppelt entlassen sogar: zum einen aus der Fremdbestimmung
als pädagogischer Avantgarde des Systems, in dem die Literatur,
da das Buch die Medienlandschaft gleichsam monopolisierte, Leitmedium und
Ersatzöffentlichkeit war. So waren die Autoren entlassen aus der sich aus ihrem
111
spezifischen Systemstatus ableitenden Privilegierung als Erzieher, aber zum
anderen auch als kritisches Gewissen der sozialistischen Nation – Christa Wolf
konnte noch 1968 durchaus zu Recht formulieren: „Der Autor nämlich ist ein
wichtiger Mensch“.
Die so vom Sockel gestürzten Dichter, speziell ihr kritisch-sozialistischer
Teil der Generation der damals Sechzigjährigen wie die Wolfs, Müller, Braun,
Morgner, Königsdorf, Fries und auch die schon älteren wie Hermlin und Heym,
mussten sich schlagartig mit einer neuen Situation messen, die gekennzeichnet
war durch einen doppelten und dreifachen Verlust. Die Adressaten ihres
Schaffens waren ihnen verloren gegangen: sowohl das zu großen Teilen ja
tatsächlich lesefreudige Volk, das sich nun – wie Heym grimmig anmerkte – als
ein konsumorientiertes demaskierte. Aber auch der Übervater Staat und
Zensor, die „heimlichen Adressaten“ – so Christa Wolf ironisch – eines Modells
sozialistischer Fürstenerziehung, war ihnen abhanden gekommen. Und mit dem
galoppierenden Verlust der kommunistischen Vision im Verlauf der Wende
breitete sich ein Gefühl aus von Zusammenbruch, Kahlschlag und Leere, das
sich noch verstärkte unter der einsetzenden westlichen Kommerzialisierung und
Überfremdung des bisherigen Literaturmarktes.
Diese Schriftsteller, die jahrzehntelang bis hinein in die Achtziger zu den
wesentlichen Trägern oppositionellen und alternativen Denkens in der DDR
gehörten, geraten nach dem 9. November 1989 in eine Paradoxie, weil der
Sozialismus, der Zweifel an ihm und die Hoffnung auf ihn, in ihre Biografien
eingeschrieben war. So prägnant wie bis dato nirgendwo anders wird das in
folgendem Gedicht von 1990 vorgestellt:
Volker Braun, Das Eigentum
Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen.
KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN.
Ich selber habe ihm den Tritt versetzt.
Es wirft sich weg und seine magre Zierde.
Dem Winter folgt der Sommer der Begierde.
Und ich kann bleiben wo der Pfeffer wächst.
Und unverständlich wird mein ganzer Text
Was ich niemals besaß, wird mir entrissen.
Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen.
Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle.
Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle.
Wann sag ich wieder mein und meine alle.
112
Das lyrische Ich dieser zwölf Verse konstatiert die Ausreisewelle seiner
Mitbürger im Sommer 89 und – in der Zeile, die das Büchnersche Motto aus
dem Hessischen Landboten verkehrt – den Sieg des Konsumkapitalismus, an
dem es als regimekritisches in letzter Konsequenz, wie es sich selbst eingesteht
(Vers 3), nicht ganz schuldlos ist. Ein Bewusstsein macht sich geltend,
welches das DDR-Volk als sich wegwerfende magersüchtige Frau in ihrer
„Begierde“ ent-, doch in ihrer nicht weiter ausgewiesenen „Zierde“ weiterhin
mystifiziert und sich und die eigene Utopie als heimatlos ortet: nicht nur all
seine Texte werden, ja sein ganzes Leben wird „unverständlich“. Doch die Hoffnung,
diese „Falle“(!), der Mythos einer solidarischen Menschengemeinschaft
wird nicht preisgegeben, die kommunistische Epochenillusion wird konserviert
und schlimmstenfalls zu einer wahren Wunschpsychose. Dabei hatte man sich
schon eigentlich mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 eingestehen
müssen, dass der Gott, an den man glaubte und glauben wollte, keiner war.
Dann kamen Gorbatschow und die anwachsende Protestwelle und die Wende
und damit ein neues kurzzeitiges Hochschwappen der Illusionen vom endlich
revolutionären Volk – und schließlich der Aschermittwoch des Abgesangs.
Der Vollzug der Einigung der beiden Deutschland wird auf der Ebene des
Literaturbetriebs begleitet durch eine wichtige Fragen aufwerfende Debatte, die
oft – da sie von hegemonialen Intentionen wie seitens der Journalisten Frank
Schirrmacher (FAZ) und Ulrich Greiner (Die Zeit) geprägt ist – die Form einer
rüden, pauschalisierenden Abrechnung mit der DDR-Literatur schlechthin
annimmt.
Die fast dreijährige Kontroverse wird ausgelöst durch die 1990 erschienene
Erzählung Was bleibt von Christa Wolf, die sich von den Platz
beherrschenden Kritikern den Vorwurf des Opportunismus und heroischer
Selbststilisierung als Stasi-Opfer einhandelt, da sie den Text erst jetzt, also
zehn Jahre nach seiner Fertigstellung, und in einer für sie ungefährlichen
Situation, veröffentlicht habe. „O, Freunde, nicht diese Töne!“ – mit Schiller
wäre zur Mäßigung aufzurufen gewesen und zur Erkenntnis, dass Literaten
natürlich keine politischen Helden sein müssen. Doch ist die Auseinandersetzung
insofern berechtigt, als damit die Diskussion über Lage und
Deformation der Intelligenz im Realsozialismus auf breiter Ebene eröffnet wird.
113
Darüber hinaus dienen Wolf und ihr Buch zwar als konkrete Zielscheibe, aber
„es geht nicht um Christa Wolf“ (Schirrmacher) oder besser: nicht nur um sie.
„Es geht...um eine exemplarische Abrechnung mit exemplarischen
Lebensläufen“ (Uwe Wittstock), es geht um das Definitionsmonopol, was
Literatur ist und was nicht, ob die DDR- (und später dann die gesamte
deutschsprachige Nachkriegs-) Literatur überhaupt einen ästhetischen Wert
besitze oder als rein ideologisch zu disqualifizieren sei. Auf der einen Seite wird
Christa Wolf, dann aber auch Günter Grass und Heinrich Böll der Vorwurf der
„Gesinnungsästhetik“ gemacht und den DDR-Literaten insbesondere noch der,
nicht mutiger und offener die Diktatur angeprangert zu haben. Da wird also die
Forderung nach mehr systemkritischer, engagiert antistalinistischer Literatur
erhoben und das von westlichen Vertretern einer Literaturkritik, die normalerweise
eher einer littérature pure das Wort redeten. Das sind Überspitzungen,
die sich auch die andere Seite anrechnen lassen muss, wenn sie sich ihren
vehementen Kritikern gegenüber wie Christa Wolf mit den Verfolgten des Nazi-
Regimes vergleicht.
Aus historischem Abstand aber ist das Verdienstvolle an dieser Auseinandersetzung
– so auch als Wolf Biermann im Oktober 1991 die Stasi-Mitarbeit
des Avantgarde-Dichters Sascha Anderson enthüllt oder 1993 die IM-Tätigkeit
von Christa Wolf und die Gespräche Heiner Müllers mit der Stasi debattiert
werden –, die moralische und ästhetische Legitimation von Buch und Autor zu
hinterfragen.
In seiner weitsichtigen Analyse der DDR-Literaturgeschichte kommt
Wolfgang Emmerich 1996 zu dem Schluss, dass der Vorwurf an die Schriftsteller
der DDR, ideologische Erfüllungsgehilfen gewesen zu sein, in dieser
Form nicht berechtigt sei. Zwar habe es Gesinnungsliteratur gegeben – und
man könne in vielen Fällen auch von Propagandaliteratur sprechen. Daneben
aber entwickle sich vor allem seit Mitte der sechziger Jahre eine Literatur der
„Sinngebung“ und auch „-krise“, eine Literatur, welcher der Status der inneren
Emigration im realen Sozialismus zugesprochen werden könne – als Literatur,
die warne und zugleich zum Aushalten auffordere, die klage und zugleich
tröste, die Subversion und zugleich Kalligraphie betreibe.
Überblickt man das Jahrzehnt nach der Wende, wird deutlich, dass die
Anfänge des Endes der DDR und die Phase just danach nicht durch eigentlich
114
neue belletristische Texte bestimmt sind – dafür waren die Autoren wohl noch
zu betroffen von der Krise des Systems und dessen Untergang, der ja auch
immer als Katastrophe empfunden wurde –, sondern durch eine Fülle dokumentarischer
und autobiografischer Bücher, welche verdrängte und beschwiegene –
wenn auch zugleich nie die ganze – Vergangenheit mit ihrer Zensurpraxis,
Bespitzelung und Repression im sowjetischen und DDR-Stalinismus ans
Tageslicht brachten. Stellvertretend dafür stehen Veröffentlichungen von
kommunistischen Opfern wie Walter Janka, auf dessen Schwierigkeiten mit der
Wahrheit (1989) dann die ausführlichen Spuren eines Lebens (1991) folgen,
und kommunistischen Tätern wie Markus Wolf, bis 1987 Leiter der Abteilung
Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit, der die eigene und die
Lebensgeschichte anderer gleichsam aus dem Herzen der Macht erzählt (Die
Troika, 1989).
Selten zeichnet diese Texte eine besondere ästhetische Qualität noch
eine besondere Tiefe der Aufarbeitung der eigenen Geschichte aus. Da sind die
kurzen Texte wie Brauns Das Eigentum oder das Teilgedicht Selbstkritik, von
Heiner Müller im Herbst 89 öffentlich in einem Ostberliner Theater vorgetragen,
von ganz anderem Kaliber, wenngleich – wie der Autor in einem Gespräch im
April 1991 anmahnt – das poetische Ich natürlich nicht mit dem Dichter verwechselt
werden dürfe:
Heiner Müller, Selbstkritik
Meine Herausgeber wühlen in alten Texten
Manchmal wenn ich sie lese überläuft es mich kalt. Das
Habe ich geschrieben IM BESITZ DER WAHRHEIT
Sechzig Jahre vor meinem mutmaßlichen Tod
Auf dem Bildschirm sehe ich meine Landsleute
Mit Händen und Füßen abstimmen gegen die Wahrheit
Die vor vierzig Jahren mein Besitz war
Welches Grab schützt mich vor meiner Jugend
Ansprechende und anspruchsvolle Literatur lässt dann auch nicht mehr
lange auf sich warten. Dass es darin dann immer wieder um die DDR, ihren
Untergang und das Danach im neuen Deutschland geht, kann nicht
verwundern, war doch die DDR „von allen möglichen Themen immer der DDR-
Literatur liebstes Kind“ (W. Emmerich), was mit Abstrichen auch noch ein
Jahrzehnt danach galt. Dabei ist zu unterscheiden zwischen Büchern, die in
115
ihrem Rückblick auf den verschwundenen ersten deutschen „Arbeiter-und-
Bauern-Staat“ nicht ohne Trauer, Melancholie und Verklärung auskommen oder
aber zumindest einer derartigen Lektüre Vorschub leisten, jenem (n)ostalgischen
identifikatorischen Blick auf die Vergangenheit, die von vielen noch lange
als „gestohlene Heimat“ – wie Günter Kunert treffend bemerkte – angesehen
wurde. Das gilt für Erwin Strittmatters Heimatroman Der Laden 3 (1992), der in
den neuen Bundesländern eine Bestseller-Auflage erreichte, ebenso wie für
Günter Grass’ Ein weites Feld (1995): „Man will vorkommen – warm
beschrieben, stimmig im Detail“ (Christoph. Dieckmann). Auf dieser Linie liegt
auch Helga Königsdorfs Im Schatten des Regenbogens (1993), das ganz aus
der Perspektive abgewickelter älterer Menschen geschrieben ist, die zudem
auch noch aus der Zuflucht ihrer Not-Wohngemeinschaft vertrieben werden.
Als Heimatroman im Untertitel bezeichnet, aber die Ostalgie sarkastisch
konterkarierend, kommt Jens Sparschuhs Der Zimmerspringbrunnen (1995)
daher, ein durchaus auch amüsanter Gegenwartsroman über einen ebenfalls
abgewickelten Kader der ehemaligen DDR-Wohnungsverwaltung, der
erfolgreich in die Vertreterlaufbahn für Wohnzimmernippes in Ostberlin
einsteigt. Mit einem Finale nicht unähnlich dem in Bölls Ansichten eines
Clowns.
DDR als Thema, als Bezugspunkt kann, wie wir sehen werden, in ganz
verschiedener Weise aufgezogen werden; für einen klareren Überblick könnte
eine Einteilung nach Phasen von Nutzen sein.
Erstens. Literatur als Rückblick auf das Leben in vier Jahrzehnten DDR:
als Blick zurück im Zorn wie in Kurt Drawerts Spiegelland (1992), einem kleinen
Roman-Essay der Suche nach einem verlorenen Leben und der
erbarmungslosen Beschreibung oktroyierter Kindheitsmuster. Oder als
Beschreibung der DDR-Welt als Mordschauplatz, wo Hass, Zerfleischung und
das Böse schlechthin regieren wie in Abschied von den Feinden (1995) und
auch in Die atlantische Mauer (2000) von Reinhard Jirgl. Adolf Endler dagegen
bleibt sich weiterhin treu und wirft einen ironisch-bösen Blick auf die
Realgroteske DDR in Tarzan am Prenzlauer Berg (1994). Monika Maron
beschäftigt sich in Stille Zeile Sechs (1991) mit dem hochkomplexen Geflecht
von Intelligenz und Macht. Katrin Asken behandelt in ihrem dritten Roman Aus
116
dem Schneider (2000) die letzten dreieinhalb Stunden einer jungen Ostberlinerin
vor ihrer Flucht in den Westen im Jahr 1986 – eine Familien-
Retrospektive des letzten halben Jahrhunderts. Gert Neumann wendet sich in
seinem sprachlich hochkomplexen Anschlag (1999) der Problematik zu: „Wie
erzählt sich Vergangenheit?“ und lässt sich dabei auf Themenkomplexe ein wie
Sprache des Stalinismus, Diktatur und Affirmation, realsozialistisches Elend,
Lebensgefühl Ost, Poesie und Zensur. Zum neuen Millennium erschien der
Roman von Helga Schütz Grenze zum gestrigen Tag, eine DDR-
Familiengeschichte im Schatten des Todesstreifens.
Jüngste Vergangenheit immer wieder aktuell und doch gab es auch
schon lange eine deutlich erkennbare Tendenz, sich von diesem Thema
zurückzuziehen. So ergibt sich eine sukzessive Abwendung von diesem Sujet
bei Autorinnen wie Maron oder Brigitte Burmeister, wenn man die Arbeiten von
1991-98 gerade von Maron betrachtet. In Burmeisters Roman Pollok und die
Attentäterin (1999) erscheint dann die DDR nur noch als ein schwacher Reflex,
in Christoph Heins Napoleonspiel von 1992 spielt sie praktisch überhaupt keine
Rolle mehr, was in den Neunzigern ebenso für den literarischen Neuling Jenny
Erpenbeck und ihr Prosastück Geschichte vom alten Kind (1999) gilt, der
Geschichte eines weiblichen Kaspar Hauser, vermischt mit Elementen, die an
Grass’ Oskar Matzerath erinnern. Ingo Schulze dagegen kehrt mit Am Ende der
Sonnenallee (1999) ins volle DDR-Geschehen zurück. Dieses Land bleibt erst
einmal – anders kann es auch gar nicht sein – Schreibgegenstand der
deutschsprachigen Literatur.
Zweitens. Verteilt über das ganze erste literarische Jahrzehnt nach dem
Mauerfall, erschienen Texte, die die Zeit der Wende ins Zentrum rücken. Neben
Thomas Brussigs Helden wie wir (1996) sind andere Bücher aus anderen
Gründen hier erwähnenswert: Die verkauften Pflastersteine (1990) von Thomas
Rosenlöcher ein Dresdner Tagebuch, wie der Untertitel verrät, des damals
53jährigen Dichters vom 8.9.89 bis 19.3.90, den entscheidenden Monaten der
Wende bis zur ersten demokratischen Wahl auf dem Gebiet der DDR. Ein
ehrlicher, unbestechlicher, mitunter selbstironischer Erlebnisbericht aus der
Perspektive des ewigen linken Verlierers. Ganz anders die Kalendertexte aus
dem Zeitraum 1988-1991 von Volker Braun in Die Zickzackbrücke (1992). Eine
117
Textsammlung im Zickzack der Genres von Gedichten bis hin zu literarischer
und journalistischer Prosa, ein wahrer Aufschrei der Verunsicherung, Enttäuschung
und Zerrissenheit. Auf die letzten Jahre vor dem unmittelbaren Ende
der DDR konzentriert sich Erich Loests Roman Nikolaikirche (1995), eine
Familienchronik, in der sich sehr genau und detailreich das Leben auf den so
unterschiedlichen Seiten von Macht und Widerstand im Leipzig der zweiten
Hälfte der achtziger Jahre dargestellt findet. Hans Joachim Schädlich dagegen
schildert Ende und Wende als Geschichte der letzten Stunden einer Clique
gewöhnlicher Krimineller oder politischer Mafiosi, erzählt vom opportunistischen
Intellektuellen der Gruppe: Trivialroman (1998).
Hommage an Erich Loest (2008)
Drittens. Nach der Literatur der Wende nun die über das gewendete,
vereinte Land, ein Thema, das nicht so schnell an sein Ende kommen wird und
über das auch immer und immer wieder Autoren aus den alten Bundesländer
schreiben. Zeugnis dafür legten bereits 1991 F. C. Delius mit Die Birnen von
Ribbeck und 1992 Rolf Hochhuth mit Wessis in Weimar ab. Während Delius in
einem fast achtzig Seiten langen Monolog einen DDR-Bauern die Geschichte
118
seines Dorfes in diesem Jahrhundert reflektieren lässt, auf wohltuend
ausgeglichene Art kritisch gegenüber Feudalismus, Sozialismus und (Neo-)
Kapitalismus – polemisiert Hochhuth mit seinen Szenen aus einem besetzten
Land gegen den „Kolonialismus“ der BRD-Regierung gegenüber der
ehemaligen DDR. Zu den Werken, die das neue Deutschland reflektieren,
gehören dann natürlich auch Königsdorfs Regenbogen-Roman und Sparschuhs
Zimmerspringbrunnen, genauso wie Volker Brauns diffiziles Psychogramm der
ersten Nach-Wende-Jahre (Wendehals, 1995), Christoph Heins Randow
(1994), das nicht zuletzt das Problem der Änderung der Besitzverhältnisse in
den neuen Bundesländern ins Zentrum rückt, wie es auch Peter Schneider in
Eduards Heimkehr (1999) tut. Bernd Wagner, der seit 1985 im Westen lebt,
erzählt in Paradies (1997), dem „großen Roman der Wendezeit“ (Die Zeit), von
einer verspäteten Republikflucht im Jahre 1992 aus dem inzwischen untergegangenen
Arbeiter-und-Bauern-Paradies in den für paradiesisch gehaltenen
Westen und landet im wirklich paradiesischen Griechenland – ein On-the-road-
Roman, der einfühlsam den ostdeutschen Emanzen-Ton trifft. Eine knallharte
Bestandsaufnahme des Lebens im neuen Ostdeutschland macht Uwe Saeger
in dem Buch zum Fernsehfilm Landschaft mit Dornen (1993), in dessen
Mittelpunkt vier orientierungslose, hasserfüllte, verzweifelte Jugendliche stehen,
die aus Langeweile ein Todesspiel spielen, das schließlich neben ihrem Opfer
auch alle vier Täter verschlingt. Ebenfalls die ostdeutsche Provinz hat Ingo
Schulze in Simple Storys (1998) im Visier. Lakonisch, unpathetisch, in der
Tradition der nordamerikanischen Short Story werden kleine einfache, scheinbar
ganz gewöhnliche Geschichten über die Bewohner einer ostthüringischen
Kleinstadt im Jahre 1990 erzählt, die sich dank des strukturellen Einfallsreichtums
des Autors zu einem Grossen und Ganzen schließen. Gegenwartsgeschichte
wird im Kleinen verdeutlicht oder wie Schulze sagt: „Literatur
bedeutet für mich, die Welt im Wassertropfen zu sehen.“ Mit Brigitte
Burmeisters Unter dem Namen Norma (1994) wird aus der Perspektive einer
Ostberliner Übersetzerin im Jahre 1992 die Frage nach Heimat, Identität,
Biografie im konkreten historischen Kontext aufgeworfen, nach der Bedeutung
der Erinnerungsarbeit, nach Geschichtsopfern und -tätern, zugespitzt am
Beispiel der Selbstdenunziation als angebliche Stasi-Informantin. Die Frage
nach Realität und Fiktion stellt sich auch hinsichtlich des Decknamens Norma,
119
der anagrammatisch als Roman gelesen werden kann. Die Entscheidung des
Mannes, im Westen seiner beruflichen Laufbahn nachzugehen, und der Frau,
die alte Heimat im Osten nicht aufzugeben, nimmt im Abstand von einer
Generation eine Konstellation wieder auf, wie sie Christa Wolf in Der geteilte
Himmel unter anderen historischen Voraussetzungen entworfen hatte.
Hatte schon der Literaturstreit Anfang der Neunziger die Frage
hinsichtlich einer Neudefinition des heiklen Verhältnisses von Ethik und Ästhetik
aufgeworfen, d.h. eben auch die nach einer neuen Aufarbeitung der Vergangenheit
nach vierzig Jahren sozialistischer Diktatur, so scheint dies auch heute
noch eine dringende Notwendigkeit angesichts der Unmöglichkeit, Unwissenheit,
Befehlszwang oder naives Mitläufertum als Entschuldigung vorgeben zu
können – wie es ja gegenüber der Nazi-Zeit zunächst einmal an der deutschen
Tagesordnung war.
Dabei kann es nicht darum gehen, die Kritik der Autorenmoral für andere
Zwecke zu funktionalisieren, und darf auch nicht vergessen werden, dass der
verantwortungsbewusste Umgang mit Wirklichkeit und Geschichte in jeder
Phase der DDR-Literatur ein integraler Bestandteil war, der natürlich in nicht
immer gleicher Weise ihr Gesicht mitbestimmte, doch – unter der Bedingung
der Publikationsmöglichkeit im Westen – in der Art der Auseinandersetzung, der
ästhetischen Gestaltung, verstanden auch als kulturelle Subversion des
Systems, sowie unter quantitativem Gesichtspunkt ganz anders zu bewerten ist
als etwa die Literatur der Inneren Emigration während des Nazifaschismus. Zu
erinnern gilt hier zuvorderst ein Autor wie Uwe Johnson, der zu den entscheidenden
Wegbereitern der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur zählt. Seine
beiden in der DDR entstandenen Erstlingsromane wie sein Lebenswerk
überhaupt geben das Paradigma für ein fruchtbares dialektisches Verhältnis
von Kunst und Moral. Aber auch andere ‚genuine’ DDR-Schriftsteller wie Volker
Braun, Stefan Heym, Sarah Kirsch, Wolf Biermann, Franz Fühmann, Günter de
Bruyn, Heiner Müller und natürlich die seit der Wende umstrittene Christa Wolf
sind hier zu erwähnen wie auch die Werke der Sinnkrise der 70er und 80er, die
Jugend- und Frauenliteratur und jene revolutionären Texte von Irmtraud
Morgner, F.R. Fries und Wolf Mitte der Sechziger, die der ostdeutschen
Literatur den Anschluss an die Moderne gestatteten. Entgrenzung und
120
Tabubruch wurden damals nicht zufällig bei Literaturkritik und -wissenschaft zu
beliebten Schlagwörtern.
Dabei finden unter all diesen Namen nur einige wenige derer
Erwähnung, die den Durchbruch geschafft haben und auf – auch internationale
– Anerkennung gestoßen sind. Viele von ihnen hatten die DDR verlassen
(müssen), um schreiben und leben zu können – erinnert seien hier nur Christa
Reinig, Helga Novak, Reiner Kunze und Jürgen Fuchs.
Andere hatten selbst diese Chance nicht. Susanne Kerckhoff, Autorin der
Inneren Emigration während der Nazi-Zeit, wurde wegen ihrer nicht
angepassten, engagierten Haltung in der DDR zum Verstummen gebracht und
aus der Literaturgeschichte getilgt. Sie nahm sich 1950 das Leben. Eveline
Kuffel, Bildhauerin und Poetin aus proletarischem, kommunistischem
Elternhaus, gerät nach der Republikflucht ihres Vaters ins Fadenkreuz der
Behörden. Nach einschneidenden Erfahrungen wie einer Gefängnisstrafe im
Alter von fünfzehn Jahren und dem Zwangsentzug ihres zweijährigen Sohnes
nach ihrer Scheidung beginnt sie zu schreiben, von der Stasi observiert und
ohne Chance auf Publikation in der DDR. Sie endet als Gelegenheitsarbeiterin
und Alkoholikerin, leidet an Kehlkopfkrebs und stirbt 1978 an den Folgen eines
Schwelbrands im Bett. Jutta Petzold, Germanistin und Poetin, wird nach der
Flucht ihrer Künstlerfreunde Anfang der 60er von der Stasi bespitzelt. 1965
stellt sie ihr Schreiben ein und endet als mehrfach stationäre Patientin der
Nervenklinik in der Berliner Charité. Hannelore Becker weist zunächst eine
staatskonforme Biografie auf. Nach dem Abschluss der gymnasialen
Oberschule wird die als begabt eingestufte Autorin als IM verpflichtet, die u.a.
von Lesungen Franz Fühmanns berichtet. Um schriftstellerisch arbeiten zu
können, entzieht sie sich 1974 der Stasi und wird Verkäuferin. 1976 begeht sie
Suizid.
Die tragische Bilanz dieser Lebensläufe von vier Autorinnen ist nur ein
kleiner Teil dessen, was unter der stalinistischen Diktatur in der DDR an Leben
und Kunst vernichtet worden ist. Die Reihe der Opfer ist lang, zu lang, um ihrer
aller hier gedenken zu können. Doch die Literatur ist es, die an dieser Stelle
aktive Trauerarbeit leistet. Hochehrliche, zutiefst moralische Bücher der
Auseinandersetzung mit einer komplexen Vergangenheit sind erschienen, aus
denen deutlich wird, dass sich niemand aus jenem Staatswesen außerhalb von
121
Schuld (nach dem gleichnamigen Theaterstück von Uwe Saeger, 1988) wähnen
kann, dazu waren die Verstrickungen einfach zu groß. Oder mit den Worten
Wolf Biermanns:
Wir waren verfitzt, verfilzt und hochverschwägert mit unseren Widersachern...
Die tiefen familiären Kontakte zu unseren Todfeinden nahmen nie ab, weil wir den
Widerspruch alle in uns selber trugen... Und aller Hass, das Gift, die Galle kamen aus
dieser familiären Verklammerung mit unseren Unterdrückern.
Daran arbeiten sich ernsthaft und engagiert viele der hier aufgeführten
Texte ab, zuvorderst seien (zum Teil noch einmal) genannt „Ich“ (Wolfgang
Hilbig, 1993), Die Reise des Jona (Manfred Jendryschik), Helden wie wir
(Thomas Brussig), Medea: Stimmen (Christa Wolf, 1996), Spiegelland (Kurt
Drawert), Von der Schwierigkeit, Westler zu werden (Klaus Schlesinger, 1998),
Nikolaikirche (Erich Loest), Trivialroman (H.J. Schädlich), Unter dem Namen
Norma (Brigitte Burmeister), Stille Zeile Sechs (Monika Maron) sowie die
Autobiografien von Heiner Müller (Krieg ohne Schlacht, 1992), Günter de Bruyn
(Vierzig Jahre, 1996), Erich Loest (Der Zorn des Schafes, 1990/ Durch die Erde
geht ein Riss, 1991). Diesen Prozess der Klärung, der Aufklärung und
Selbstaufklärung als abgeschlossen zu betrachten, wäre mehr als verfrüht,
denn man steckte zu lange und zu tief in dem, wie es der Autor Martin Ahrends
formulierte,
schwer durchschaubaren Schlamassel... eines schockierten Volkes, das seinen
Nachwuchs ängstlich behütete und ihm mit zitternder Stimmen Ammenmärchen sang
vom Neuen Leben in der Neuen Zeit.
122
Exkurs: Thomas Brussig, Helden wie wir
Hommage an Thomas Brussig (2008)
I. Versucht man, die Kritikerstimmen aus dem deutschsprachigen Raum
zum Text Brussigs zusammenzufassen, dann könnte man dies in der Art von
Peter Walther (taz) tun, der dem Autor attestiert, mit diesem Nach-89er-
Deutschlandbuch »die Wunschträume der Literaturkritik vom großen
Wenderoman« zu erfüllen.
Es geht in diesem in der Ich-Form erzählten Buch um das traurigkomische
Schicksal des am 20. August 1968, als die DDR-Panzer gen Prag
rollten, geborenen Klaus mit dem unaussprechbaren Nachnamen Uhlztsch, der
sich allerdings anagrammatisch in einen Allerweltsnamen auflösen lässt. Ein
ungeliebtes Kind der Hineingeborenen-Generation mit wenig Selbstwertgefühl
inmitten eines trostlosen deutsch-demokratischen Kleinbürgermilieus. Es ist die
Geschichte eines Adoleszenten mit all seinen sozialen, vor allem aber
sexuellen Irrungen und Wirrungen in Gestalt eines pikaresken Bildungsromans,
wobei die Stasi wesentliche Entwicklungshilfe leistet zu einem Reifungsprozess,
der in der Öffnung der Berliner Mauer gipfelt. Ja, es war Klaus, der – dank
seines schließlich übergroßen Genitals, das mit maxi kompensiert, was zwanzig
Jahre lang nur mini war – das historische Ereignis bewirkte, wie er in einem
123
Interview mit der New York Times verlauten lässt, welches die Rahmenhandlung
für die weit ausholenden autobiografischen Bekenntnisse megalomanischen
Formats bildet:
Die Geschichte des Mauerfalls ist die Geschichte meines Pinsels, aber wie lässt
sich dieser Ansatz in einem Buch unterbringen, das als eine nobelpreiswürdige
Kreuzung von David Copperfield und Ein Zeitalter wird besichtigt konzipiert ist?
Ein solches Buch, das als Rollenprosa rücksichts- und schamlos mit den
Sozialismus-Illusionen der Autorengeneration einer Christa Wolf und explizit
auch mit Aspekten ihres literarischen Schaffens abrechnet, konnte nur von
einem Vertreter der in den Sechzigern Geborenen vorgelegt werden. Und
wurde von älteren Schriftstellerkollegen aus Ost und West wie Wolf Biermann
und Günter Grass auch hochgelobt, und Christoph Dieckmann (Die Zeit)
schrieb dazu: »Brussigs Gedächtnis für die Trivialitäten der DDR entlarvt die
teure Tote besser als jeglicher Vergangenheits-Generalismus«.
Klaus – Sohn einer autoritären Hygiene-Ärztin und eines herrischen
Stasi-Vaters, wahrhafter Repräsentanten des preußischen Stalinismus’ –
verbringt Kindheit und frühe Jugend ganz im Spannungsfeld zwischen der
Obsession, ein Versager und Zuspätkommer, ein »Flachschwimmer« und
»Sachenverlierer« und »Toilettenverstopfer« zu sein, und andererseits dem
Größenwahn seiner literarischen Nobelpreiswürdigkeit, zu dem ihn die
Auszeichnung als Junger Naturforscher auf der Messe der Meister von morgen
im Alter von neun Jahren und die entsprechende Berichterstattung mit Titelbild
in der Zeitung verleitet.
Er tut sich schwer bei der Suche nach Anerkennung, Freundschaft und
Liebe in Familie und Schule, unter Gleichaltrigen; die Pubertät dann bringt den
zudem noch gänzlich unaufgeklärten Jungen in höchste sexuelle Nöte und
Ängste, die er durch eine Vielzahl von Abwehrstrategien vergeblich zu meistern
sucht. Es sind diese individuellen Schwierigkeiten als Kind, Heranwachsender
und schließlich junger Mann, die ihn für den Sozialismus optieren lassen, denn
er möchte auch einmal zu den allseits gerühmten Siegern der Geschichte
gehören. Und es ist sein »Wunsch nach Größe«, der ihn zur Mitarbeit beim
Staatssicherheitsdienst verleitet, »als Kundschafter in historischer Mission«, als
sozialistischer 007 zu spionieren. Da der Erzähler seine persönlichen
Beweggründe, die nicht aus irgendwelchen ideologischen Überzeugungen
124
herrühren, offen legt, braucht er seine Vergangenheit nicht zu verdrängen und
auch nicht zu Mystifizierungen des Systems zu greifen, sondern definiert es
schlicht als »menschenfeindlich«, und verklärt auch seine Mittäterschaft nicht.
Denn: »Ich war einer von uns«.
Wovon der Roman spricht und wie er es tut, soll im Folgenden anhand
des 5. Kapitels – des längsten der insgesamt sieben Tonbänder, auf denen das
Interview der NYT aufgenommen wird – demonstriert werden.
II. Nach einer ersten Ausbildungsphase in einem Militärlager der Stasi
bekommt Klaus in der Berliner Zentrale die weiteren Instruktionen für seinen
Einsatz in einer als Postzeitungsvertrieb getarnten Agentengruppe. Die drei
Mitglieder mit ihrem beschränkten IQ sowie die wahrzunehmenden Beobachtungs-
und Einschüchterungsaufgaben lassen Klaus alsbald zweifeln:
War ich jetzt wirklich bei der Stasi, bei der richtigen, echten, sagenumwobenen
Stasi? Oder war ich bei einem Verein, der sich nur Stasi nannte – damit die echte
Stasi, die mich eines Tages rufen wird, umso besser getarnt bleibt?
Nach Vorstellung bei seinen drei neuen Kollegen erfährt der Offiziersschüler
Klaus, dass am nächsten Tag Sport auf dem Programm steht, was ihn
zu einem kleinen Exkurs über »diese morbide Angelegenheit« verführt, da er
Laufen auf dem Sportplatz hasst, weil er weiß, dass er die fünf angesetzten
Runden kaum schaffen wird. Und dann die Angst, die BILD-Zeitung könnte
deshalb schreiben: »OSTBERLIN LACHT: DER LAHMSTE LAHMARSCH DER
STASI« Und tatsächlich: wieder einmal wird Klaus nur letzter und hat vor
Augen, dies jede Woche wiederholen zu müssen.
Es folgen vier weitere Exkurse, die dem Leser Klaus’ Stasikollegen näher
bekannt machen, wobei der interessanteste und humorvollste der zu Martin
Eulert (»Meine Freunde nennen mich Eule«) ist, demzufolge Das Lächeln der
Sixtinischen Madonna von Leonardo in Dresden »steht«, was er als einen
schlagenden Beweis für die Negation der Negation ansieht:
Der Maler, der dieses Kunstwerk geschaffen hat, war sehr gleubisch. Unsere
Menschen sind nicht mehr gleubisch. Aber trotzdem bewundern sie dieses Bild und
erfreuen sich an seiner Schönheit... Das ist die Negation der Negation.
125
Der erste und letzte dieser Exkurse ist Wunderlich, dem Chef der Gruppe
gewidmet, der sich neben seinem exorbitanten Gedächtnis – er kennt alle DDR-
Rekorde im 800-Meter-Lauf – auch noch eines gewieften geheimdienstlichen
Einfallsreichtums zu rühmen weiß: so erfindet er ein regional begrenztes
Erdbeben in der DDR als offizielle Erklärung für einen bei einer klandestinen
Hausdurchsuchung zu Bruch gegangenen Spiegel.
Danach geht’s weiter mit Berichten aus der Stasi-Kleinarbeit und ihren
Dienstbesprechungen, die dazu dienen, z. B. die Herkunft eines Glasnost-
Flugblattes zu ermitteln oder die Möglichkeit der Unterdrückung von Flugblättern
zu debattieren, wozu Klaus die glänzende Idee hat, den Verkauf des
ohnehin kontingentierten Schreibpapiers ganz zu unterbinden. In Gedanken
sonnt er sich schon in der Vorstellung, wegen dieser Idee zum Minister gerufen
und ein bedeutender Geheimagent zu werden:
Ich meine, wenn ich mit ein paar Wochen Diensterfahrung quasi im
Handumdrehen das Flugblattunwesen eliminieren kann – darf ich dann nicht auf
höhere, auf höchste Aufgaben hoffen?
Doch noch verbleiben wir im grauen, langweiligen Stasi-Alltag aus
Observation, Postkontrolle der Observierten und Berichteschreiben, das Klaus
zunächst einige Probleme aufgibt. Denn, wenn man eine Frau beobachtet, die
aus einem Haus kommt, »wie schreibt man Eine Frau kam aus dem Haus,
wenn man für die Stasi arbeitet?« Doch der Neu-Agent löst das bald vorbildlich
und schreibt – damit die Kapitelüberschrift entdeckend: »wbl. Pers. Str. hns. trat
8.34.«
Da sein persönlicher Ausbilder Eule nicht wenige linguistische Schwierigkeiten
hat und Klaus eine grenzenlose Phantasie, passiert es letzterem, als
Eule einmal von der einmaligen Agentenchance spricht, dem Nato-Generalsekretär
seine Mikrofische zu stehlen, dass er in seiner Ignoranz und
Unkenntnis dieses Wortes fremdsprachlicher Herkunft (»Mikrofische, sind das
etwa Fische , die sehr klein sind?«) seinen Vorstellungen über einen derartigen
Auftrag freien Lauf lässt, in die sogleich seine sexuellen Assoziationen Eingang
finden:
Wie soll ich eine Ampulle mit den Mikrofischen des Nato-Generalsekretärs
erbeuten? Und was wollen unsere damit? Wollen sie vielleicht aus den Erbinfor-
126
mationen, aus den DNS, einen zweiten Nato-Generalsekretär klonen?... (Denn:) Wer
eine todsichere Grenze mitten durch das Zentrum einer normal funktionierenden Stadt
ziehen kann, der kann einfach alles – einen einzigen Menschen zu bauen, müsste
dagegen ein Kinderspiel sein.
Auch die Fahrt entlang der Staatsgrenze zu einem Observationsobjekt
entfesselt in unserem Helden eine ganze Reihe von Vorstellungen und
Erinnerungen. Wenn er den Transit-Bahnhof Friedrichstrasse passiert, sieht er
sich als Topagent durch eine Geheimtür in den Westteil der Stadt gelangen und
erinnert sich zugleich an eine Begebenheit vor nicht allzu langer Zeit, als ihn
sein sexueller Notstand auf die Lüftungsgitter der U-Bahn dort getrieben hatte.
Warum das? Auf einer Party bei einem Mitschüler hatten es ihm der Katalog
des westlichen Versandhauses Quelle und ganz besonders die Seiten mit der
Damenunterwäsche und ihren Models angetan. Die dringend zu lösende Frage
war nun:
Aber wo im Osten kann man Westfrauen... nahe sein? So nahe, dass es näher
nicht geht? Genau, in der Friedrichstrasse, über der U-Bahn. Ich kam auf vier Meter an
sie ran... Ich verbrachte Stunden auf dem Gitter der Lüftungsschächte, und jedes Mal,
wenn ich eine U-Bahn unter mir rumpeln hörte, warf ich einen lechzenden Blick auf die
Quelle-Frauen meiner vier herausgerissenen Doppelseiten und wusste, dass die U-
Bahn, die gerade unter mir hindurchfährt, voll von solchen Frauen ist... Wäre ich
bereits damals von derselben perversen Energie getrieben gewesen wie nur wenige
Jahre später, hätte ich das Lüftungsgitter vergewaltigt.
Aber: »Ich habe niemals auf der Friedrichstrasse gelegen und ein
Lüftungsgitter vergewaltigt«. Das nicht, nur beinahe einmal eine reale Frau. Und
das kam so: Um seinen Sexualhaushalt ins Gleichgewicht zu bringen, hatte
man ihm geraten, einfach einmal nachts bei einem Tanzlokal eine allein nach
Haus gehende Frau abzupassen und es bei ihr zu versuchen. So kommt Klaus
an seine doppelt so alte, kleine und dickliche – wie er sie nennt – Wurstfrau, die
ihn mit zu sich auf die Wohnung nimmt. Doch als sie seinen Penis sieht (»Ist
der aber klein!«), kommt ihr das Lachen und vergeht ihr die Lust. Da brennt
Klaus durch und will... – sie aber nicht und zwar explizit: »Ich will nicht! Lass
mich!« Das und der Gedanke an seine Eltern lässt Klaus die Flucht ergreifen –
vor die Wohnungstür, wo er sich erst einmal wieder anzieht. Nun war er aber
auf Touren gekommen und musste das Verhinderte irgendwie kompensieren.
Er tut dies auf dem obersten Treppenabsatz – offensichtlich mit einiger
Verspätung – und sieht »die ersten Mikrofische, die ich eigenhändig zutage
127
beförderte«. Auf den Geschmack gekommen und zugleich von Angstvorstellungen
getrieben, wird er zum Wiederholungstäter von großer Ausdauer,
wobei er an seinen obersten Chef denkt – »ich kann es nicht abstreiten:
Minister Mielke war das Objekt meiner Wichsphantasien« – und ihm
„floggfloggflogg“ seinen Tribut zollt. Nun aber passiert es: der Ejakulant rutscht
im dunklen Treppenhaus in seinem Ejakulat aus und bricht sich den linken
Daumen und das rechte Handgelenk:
heldenschaft (2008)
Meine Hosen waren offen, mein Schwanz entblößt ... und ich konnte meine
Hände nicht benutzen. ... Ich wälzte und wand mich zehn Minuten auf der Treppe.
Nicht vor Schmerzen, aber versuchen Sie mal, sich ohne Zuhilfenahme der Hände Ihre
Unterhose die entscheidenden Zentimeter nach oben zu ziehen. Und die offene Hose?
Was sollte mit der offenen Hose passieren?
Das aber interessiert in der Unfallklinik niemand, da werden nur beide
Arme eingegipst. Auch daheim bei seinen Eltern unterbleibt das erwartete
128
Verhör plus die anschließende Verurteilung, da Klaus Fragen mit einem
geheimdienstlich zu interpretierenden »Darüber will ich nicht sprechen«
abwehrt. Mutter, die Hygienespezialistin, ist glücklich, ihren Sohn bis auf die
Toilette – natürlich, wie soll man denn ohne Hände?! – zu bemuttern und gleich
auch noch seinen „Pinsel“ zu bepudern.
»Als mir der Gips abgenommen worden war, hatte ich endlich wieder
beide Hände frei zum Sachenverlieren.« Und Klaus verliert auch gleich sein
Portemonnaie – und somit Ausweis, Krankenschein, Schecks und mehrere
Bibliotheksausweise und die Monatskarte und den Abholzettel vom Schuster.
Gott sei dank, der Klappfix, der Stasiausweis, ist noch da! Dennoch, schon der
Anruf beim Schuster wird zu einem einzigen Verständigungsunfall. Da aber, das
Schlechte wendet sich zum Guten, ruft eine gewisse Yvonne an: sie hat das
Portemonnaie gefunden!
Man verabredet sich zur Übergabe am folgenden Tag. Unser Held macht
sich blumenbewehrt – eine Empfehlung seiner Mutter – zur ihn sofort
faszinierenden Yvonne auf, die ihn mit ihrer Holland-Begeisterung überschüttet.
Klaus allerdings, wie nicht anders zu erwarten, ist so verklemmt, dass er nur auf
sein Portemonnaie wartet und geht. Doch »als ich in der U-Bahn saß..., stellte
ich mir vor, wie es wäre, mit Yvonne in Holland verheiratet zu sein...«.
Aber zunächst einmal ruft wieder die Pflicht: einmal mit der
Überraschung in Form einer eigenen Wohnung, ein Privileg, das Klaus zu
schätzen weiß: »Nicht mal Alain Delon wohnte als Der eiskalte Engel so
bevorzugt«. Zum anderen warten die unendlichen Dienstbesprechungen, bei
denen es auch um das Thema Poststrukturalismus geht. Die holpernde
Begriffsdefinition, die Klaus’ Kollegen versuchen, wird vom Chef rigoros
abgeschnitten, der festlegt, was Poststrukturalismus sei:
also – A – die Struktur der Post zu erkunden, um – B – im Spannungsfall die
Effizienz unserer Nachrichtenwege zu unterminieren. (Denn) zum Beispiel können sie
ausspionieren, wo die Telefonverteilerkästen stehen, um im Spannungsfall Anschläge
gegen das Telefonnetz zu tätigen.
Das sei aber bei weitem noch nicht alles, denn neuerdings betreibe diese
staatsfeindliche Gruppierung »ganz unverhohlen Post-Post-Strukturalismus«,
der noch gefährlicher sei, denn er könne unüberwindliche Schäden anrichten:
Briefkästen würden nicht mehr entleert, die Öffnungszeiten der Postämter
129
verändert, das Zeitzeichen würde manipuliert werden, was zu Zugunglücken
und Flugzeugkatastrophen führen würde... »Und wir würden alle wahnsinnig
werden«. Da diese Besprechung allerdings zu keinem fassbaren Ergebnis
kommt, plant man erst einmal, mit einer laufenden Angelegenheit fertig zu
werden, d.h. mit dem Vorgang Individualist, bei dem eine Wohnungsdurchsuchung
vorzunehmen ist, was Klaus in seinem Ordnungsdenken (»Jedes
Kind weiß doch, dass Einbrechen verboten ist«) tief verwirrt und in Angst vor
etwaiger Entdeckung versetzt. Ganz bei der Sache ist er jedoch wieder, als er
von einer Bekannten der zu beobachtenden Person hört, eine IM mit dem
Decknamen Katalog, die sich, obwohl »die Quelle Katalog unverzichtbar ist«,
der Zusammenarbeit verweigert. »Quelle-Katalog« versetzt Klaus in einen
Zustand fiebriger Erregung und er willigt in den Auftrag ein, zur Einschüchterung
der IM deren Kind für einen Nachmittag zu entführen. Er holt also die
kleine Sara von der Schule ab, bringt sie in eine konspirative Wohnung, lässt
sie mit der Mutti telefonieren und bei Mensch-ärgere-dich-nicht und Monopoly
systematisch verlieren: »Sie heulte, und ich fühlte mich großartig.« Danach
zieht es ihn zur Mutter, die er immer noch als Katalog-Model imaginiert und die
als Bibliothekarin arbeitet. Er leiht das erstbeste Buch aus, Das Tagebuch der
Anne Frank, und liest es sogar, denn die Bibliothekarin könnte ihn danach
fragen. Das bei der Lektüre mit Anne geführte Zwiegespräch bringt Klaus ein
Stück weit auf den Weg zur Selbsterkenntnis und gibt ihm den Mut, Yvonne zu
schreiben.
Mit Verspätung antwortet sie auf den Liebesbrief, sie treffen sich,
schauen sich einen Nachmittag lang ganz verliebt an, plauschen miteinander,
küssen sich, und er würde sie gern..., doch kann man »einen Engel ficken«? Ihr
Liebesspiel unterbricht er genau an dem Punkt als Yvonne ihm zuflüstert »Tu
mir weh!« Er ist schockiert, verlässt sie und weiß doch ganz genau, was das für
ihn heißt: »Verlust! Verlust! Verlust!«
III. Das 6. Kapitel widmet sich ganz der Forschungstätigkeit von Klaus zu
Fragen sexueller Perversionen, womit er auf das Engste persönliche und
Staatsschutzinteressen zu verbinden weiß. Oder wie es im O-Ton heißt: »Ich
lege Wert auf die Feststellung, dass ich pervers wurde, um dem Sozialismus
zum Sieg zu verhelfen«. Deshalb also Experimente zur Perversionsforschung
130
wie Vergewaltigung von Brathähnchen, Massensodomie mit Kaulquappen im
Kondom, Entwicklung von Lippensimultatoren wie dem „Fellatiomat“, was alles
abzielt auf eine schöpferische Erweiterung von Dr.Schnabls Sexualfibel, deren
Veröffentlichung Klaus für 2005 anpeilt als eine Hommage an Einstein, Freud
und Lenin.
Schließlich ereilt ihn dann doch der Ruf der echten Stasi, er solle sich ins
Ministerium in der Berliner Magdalenenstraße begeben, und zwar in die
Poliklinik. Klaus ist im siebten Himmel! Man braucht sein Blut zur Entwicklung
eines besonderen Medikaments. Begeisterung und Größenwahn packen ihn,
bis Ernüchterung und Angst sich einstellen. Und in der Tat, dieses Experiment
scheint nicht ganz ungefährlich – sicherheitshalber wurde schon vorab sein
Totenschein ausgestellt. Doch lohnt sich das Ganze? Dank der Bluttransfusion
kann zwar das Leben des Generalsekretärs Erich Honecker verlängert werden,
den er nun in der Klinik als Mikado spielenden Greis kennen lernt:
Den ganzen Nachmittag saß er stur und ohnmächtig vor einem Haufen
Stäbchen und hörte nichts als das Knacken des Plattenspielers.... Als die Schwester
kam und das Abendessen servierte, räumte sie das Mikado weg. Es war zehn nach
sechs, und er maulte: Jetzt könne er nicht mehr beweisen, dass er noch nicht am Ende
ist.
Enttäuschung stellt sich bei unserem Helden ein:
Ich wollte nicht wahrhaben, dass ich mein Leben nur einem alten Mann, der
sich hoffnungslos verrannt hatte, geopfert hätte – und laut Totenschein sogar geopfert
hatte.
Das Schlusskapitel ist schon in der Überschrift dem zentralen Ketten-
Glied im Denken und Leben des Klaus Uhltzsch gewidmet, das ja nach seiner
Version eine geradezu historische Dimension annimmt – es heißt: Der geheilte
Pimmel, ein Spiel der Paronomasie mit dem Titel der ersten wichtigen
Erzählung im Werk Christa Wolfs, denn dank dieses Organs schließt sich der
Himmel über Berlin wieder.
Die Handlung spielt im Herbst 1989 und sieht zunächst unseren
Protagonisten beim Verhaften von Demonstranten. Klaus, schon auf dem
besten Weg der Erkenntnis, scheut vor einer Selbstanklage und -verurteilung
keineswegs zurück – »Jawohl, ich bin mies, ich bin Abschaum, ich sollte mich
131
steinigen lassen« – und geht wegen dieses Schuldbewusstseins und gegen den
ausdrücklichen Befehl der Stasi-Zentrale zur größten freien Demonstration aller
DDR-Zeiten am 4. November. Dabei relativiert sich sein Schuldgefühl etwas
und wohl nicht ganz zu Unrecht:
Zugegeben, ich bin der Schlimmste und Abscheulichste,... ich bin der perverse
Stasi, der Kindesentführer... (aber die andern) haben doch alle mitgemacht!... ich
bin...ein Kind aus ihrer Mitte.
Und da hat die Abschlusskundgebung begonnen und er hört die Rede
einer Frau, die er mit jemand anderem verwechselt und die ihn in Art und
Tonfall an seine Frau Mutter erinnert. Eine Rede über die Befreiung der
Sprache, über Wendehälse, über die »hellwache Vernunft« des Slogans Stell
dir vor, es ist Sozialismus und keiner geht weg! Klaus möchte wissen, wer da
spricht, und auch eingreifen, denn ihm passt diese Rede absolut nicht,
„Sozialismustümelei“ nennt er das, da könnte man seiner Meinung nach gleich
übers Wetter reden. Er nähert sich unter Schwierigkeiten der Rednertribüne
stolpert mal wieder auf einer Treppe über einen Transparentstiel, der sich in
seine Genitalien bohrt. Also bedarf’s mal wieder einer Operation, etwas heikler
als das andere Mal, auch schmerzhafter, aber geradezu die Katharsis
befördernd:
Der Schmerz war die erste Stunde der Wahrheit. Ich lernte meine Strafe
kennen und begann, nach Schuld und Verantwortung zu suchen... Es tat so verdammt
weh, aber es war auch so verdammt ehrlich.
Das Ergebnis des chirurgischen Eingriffs ist ein Wachstumsschub des
Penis, der den einst so kleinen in einen supergroßen verwandelt, der den
Träger, seine Mutter, Ärzte und Patienten – ja, wie wir später sehen werden,
überhaupt alle – in maßloses Erstaunen versetzt.
Seine Rekonvaleszenz verbringt Klaus, der natürlich längst erfahren hat,
wem er da auf dem Alexanderplatz unwillig zuhörte, damit, sich mit dem Werk
Christa Wolfs zu befassen. Eine Lektüre, nonkonformistisch und in der
Abrechnung mit den »olympischen Müttern« typisch für seine Generation. Der
geteilte Himmel, Nachdenken über Christa T. und Was bleibt werden punktuell
einer harten literarischen wie ideologischen Kritik unterzogen, einer Kritik, die
132
Teil seiner Selbstkritik ist, der Aufarbeitung von geschichtlicher Schuld, der sich
Klaus ernsthaft stellen will:
Solange sich Millionen Versager ihrem Versagen nicht stellen, werden sie
Versager bleiben... ich bin fast schon wieder froh, dass ich bei der Stasi war. Ich kann
mir die entsprechenden Fragen stellen. Ich habe die Chance, zum Kern meiner
Erbärmlichkeit vorzustoßen.
Damit kommt der schelmische Entwicklungsroman langsam an sein
Ende, dem nur noch das herz-, besser schwanzhafte Eingreifen seines Helden
in der Nacht des 9. November an der Berliner Mauer zuvorkommt. Nach der
Pressekonferenz des SED-Pressesprechers Schabowski am frühen Abend
waren Tausende zu den Grenzübergangsstellen geströmt und warteten da nun
unfähig, »ein Dutzend Grenzsoldaten wegzuschieben«. Da lässt Klaus seine
Hose und Unterhose runter, verblüfft die Grenzer unsäglich, schiebt das Gitter
auf und ruft seinen Landsleuten zu:
Loslaufen müsst ihr selber! Aber wie miesepetrig ich auch bilanziere – der Weg
war frei für einen der glücklichsten Augenblicke deutscher Geschichte.
heldenschaft II (2008)
133
Exkurs: Manfred Jendryschik, Die Reise des Jona
Die alttestamentarische Geschichte vom Propheten Jona wird in diesem
Roman neu gewendet zu einer höchst aktuellen Parabel:
I. In Thyrsa, „nordöstlich von Sinai“, lebt und arbeitet Jona, der von den
Leuten, da er – wie es im „Volks Mund“ heißt – wahr- und weissagt, der „kleine
Prophet“ genannt wird. Dieser aber hat von sich eine viel realistischere Sicht
und beteuert immer wieder, „dass er nicht in die Zukunft zu blicken vermöchte“,
was von den Ratsuchenden entweder als Bescheidenheit oder Absicherung
abgetan wird. Sie suchen, was sie bei ihm denn auch finden, eine „Linie“ für ihr
Leben; und wenn, was er sagt, nicht eintrifft, dann hat man sich „nicht an die
Linie gehalten“! Auf der dritten Seite des Romans wird der Leser sofort
hellhörig: Das ist doch marxistisch-leninistischer, vielleicht sogar SED-
Parteijargon. Und die Parabel nimmt ihren Lauf: Drei Seiten weiter, „nachdem
der letzte Kunde gegangen war“, setzt sich ein Mann neben Jona, der
plauderte und murmelte und sich zu Andeutungen und angedeuteten
Deutungen verstieg und fragte, was denn zu alldem denn so Volksmeinung sei, in
niemanden wie ihn flössen ja gleichermaßen die einheimischen wie die fremdländisch
zu nennenden Ansichten.
Jona verweigert aus Gründen der Berufsethik konkrete Auskunft und
begibt sich wie allabendlich in die „Oase des Himmels“, um sich zu einem Wein
einladen zu lassen, denn es war ihm eine Freude, „einbezogen zu sein in den
Kreis der Dahockenden“ und ihnen Geschichten zu erzählen:
Gegen Mitternacht schwebten Pferde auf Flügeln durch die Luft, verwandelten
sich Frauen in Rosen und Rosen in Nachtigallen und Nachtigallen in Frauen, nährten
sich Kühe von ihren eigenen Eutern und wurden Löwen Angestellte der staatlichen
Zollverwaltung. Wenig später rundete Jona die Erdscheibe zu einer Kugel, die in alle
Himmels Richtungen zu rollen vermochte, und die Männer hielten sich tapfer an ihrem
Gestühl fest, um nicht unterwegs und für immer verloren zu gehen...
So der Alltag im Single-Dasein Jonas’, der es aber auch nicht verabscheut,
ab und an der Frau eines Rinderhirten beizuliegen.
Eines schönen Tages nun
134
versetzt ihn ein mehr zu ahnendes als mit den Ohren aufzufangendes Sirren in
eine Unruhe, die ihm das übliche in den Tag Gleiten verhinderte, so dass er sich eher
erhob und noch die letzten der Tätigen für den Weg zur Arbeit ihre Hütten verlassen
sah. Sollte etwa, so fragte er und wischte sich die verquollenen Augen, ein Höheres ins
Haus stehen, eine das Leben neu bestimmende Meldung, gar eine Botschaft?
Und in der Tat, was sich hier im Sirren, Schwirren, Rauschen und Geheul
von Stürmen ankündigt, ist kein anderer als Gott Jachweh mit seinem Auftrag:
„Gehe hin zu der leidigen Stadt Ninive und verkündige ihr, dass sie mich seit
langem ärgert und dass sie untergehen wird in vierzig Tagen; Ende.“ Abgang
Gottes. Ratlos, überwältigt bleibt unser kleiner Prophet zurück:
Mein Gott, murmelte es in Jona, und es fügte sich hinzu: Warum hast du mich
verlassen, und weiter: So rasch. Und er fiel zu Boden und begann zu schreien und um
sich zu schlagen und fiel in eine Bewusstlosigkeit.
Jona weiß aber auch: „Mit Gott diskutiert man nicht“; auch wenn ihm
schwere Zweifel kommen, warum nun gerade er für diese Mission auserkoren
sei. Doch Reisevorbereitungen stehen an, man muss sich verproviantieren.
„Und was ist der wichtigste Proviant? Die Kleidung“. Also geht’s zum Herrn
Kaufhausbesitzer Schloime, den Jona in einem Akt der Selbsterkenntnis („nicht
ich bin der wahre Prophet“) zum „Warenpropheten“ befördert. Dann geht es zur
Zollstelle, wo Jona eine andere (Staats-) Lektion erhält: „Wir sind das freieste
Land in einer unfreien Welt“, rief zur Begrüßung der Zöllner, „der doch nur das
Beste will für einen Jeglichen, auch wenn die Absage häufigste Amtshandlung
ist“. Mit Jona wird nun der Leser hineingeführt in den behördlichen Dschungel:
er lernt zu unterscheiden zwischen drei Antragsformen –„Ausreisender, Erstreisender,
Dauervisum“ –, die sich besonders hinsichtlich der „Beibringung der
Papiere“ differenzieren:
So hätte der Ausreisende neben der Geburts- und der Familienurkunde und
den Passoportos das milizionäre Führungszeugnis, die Austragung aus dem
Grundbuch, die Auflösung der Versicherungspolicen, die Tilgung der Schuldscheine,
den derzeitigen Kontostand, eine präzise Liste des zu Verzollenden, die Unterlagen zur
finanziellen Beihilfe für die Hinterbliebenen und dreihundert Schäkel in der Währung
des anzureisenden Landes, außerdem eine signierte Erklärung der letzten drei
Arbeitgeber zu erbringen, während dem Erstreisenden lediglich bliebe, eine
Leumundsbescheinigung von der Straßengemeinschaft herbeizutragen, das Übrige
würden sie sich schon innerhalb der vier Monate üblicher Erwartungsfrist selbst
besorgen, hinwiederum habe man für ein Dauervisum nur die Privilegiertensteuer und
eine Spende für den Blauen Halbmond zu entrichten.
135
Als der Zöllner nun noch das Reiseziel erfährt – Ninive wird von ihm als
„feindliches Ausland“ deklariert –, sieht sich Jona in dessen Augen als Verräter
und Agent enttarnt. An dieser Stelle folgt – und die die Parabel Entschlüsselnden
sehen sich bestätigt – ein Exkurs zu den „Grenzsicherungen“ der Stadt
Thyrsa, die von drei (!) Mauern eingeschlossen ist, was ihren „mählichen Tod“
gewiss mache.
So nimmt denn Jona Abschied von Nachbarn, Kneipenkumpanen und
seiner Geliebten, wirft einen (vor-)letzten Blick auf die heimatliche Stadt und
macht sich auf den Weg zum Eremiten Methusalem , um sich mit ihm, der in
enger Verbindung zu Gott steht, über dessen Beschluss zu beraten. In der
Einsicht, sich fügen zu müssen, kommt ihm eine quasi traumatische Vision vom
Propheten Jeremias und seinem Schreiber Baruch, die in Erfüllung ihres
Auftrags von den Empfängern der Botschaft Gottes verfolgt, aber auch dank
seines Schutzes gerettet wurden.
Vor seinem Aufbruch, auf den er sich mit Leibes- und assyrischen
Sprachübungen vorbereitet, muss Jona noch drei Versuchungen standhalten:
eine Frau möchte ihm ein Paket für ihren Sohn mitgeben, aber das könnte bei
der Grenzkontrolle Probleme bringen; ein exilierter Verschwörer aus Ninive
versucht ihn mit einer zu überbringenden illegalen Nachricht; ein anderer
geheimnisvoller Versucher würde Jona gern seinen Auftrag abkaufen, was
diesen – ganz nebenbei – an Praktiken in „Staaten der geordneten
Mangelwirtschaft“ erinnert, wo man „nicht das Gekaufte verkaufte, sondern die
Anmeldung für den Kauf“.
Auf den letzten zwanzig Seiten des ersten der drei Teile beginnt nun die
Odyssee des Jona, der an einem bestimmten Punkt uns, d.h. dem Erzähler und
den Lesern, entschwindet. Der Erzähler, sich selbst „Autor“ nennend, nutzt dies
als Gelegenheit zu einem Exkurs über Raum und Zeit, den er abbricht, denn
„ich höre Schritte aus der Wüste“. Aber das bleibt eine akustische Fata
Morgana, so dass drei leere Buchseiten lang unser Protagonist auf sich warten
lässt. Doch dann: „Ah, da ist er ja, endlich, wieder.“ Das Wiedererscheinen von
Jona ist dem Erzähler Anlass, darüber nachzudenken, welcher „Kategorie von
Propheten“ er wohl zuzurechnen sei: „schön auffallend“ wie die „Klumpfuß“-
Agitatoren à la Goebbels oder „auffallend schön“ wie die „Knechte der Utopie“
136
in Gestalt eines Che Guevara? „Also kommt er so daher, geht so dahin, wie ein
Zitat“.
Jonas weiterer Weg durch die Wüste – „Und Jona, der geht.“, „Und Jona
geht“, „Und Jona geht“, „Und Jona ging“ – ist angereichert durch verschiedene
Kleinst-Exkurse historisierender Art, bis er schließlich in einem Hafen anlangt
und sich einschifft, denn er will ja seinem Auftrag (-geber) entkommen. Ins
Gespräch mit seinem Gott Jachweh versunken, reflektiert Jona seine Lage,
flieht vor dem heraufziehenden Unwetter in den Bauch des Schiffes und in eine
lutherische Sprache – es ist Hesekiel, der aus ihm spricht –, bis er unliebsam
geweckt und an Bord getrieben wird, wo er – in Kenntnis seiner Schuld – den
Matrosen eine letzte Geschichte, seines „Lebens Lauf“, erzählt, seine „Angst“
vor Gottes Auftrag bekennt und bittet, zur Beruhigung der Wasser als Opfer ins
Meer geworfen zu werden. Nun ist er „für immer entschwunden“.
II.
Natürlich ist es verständlich, dass ein Jeglicher an dieser Stelle den
berühmten Bericht des Jona über seinen Aufenthalt im Riesenbauch des
Riesenfisches erwartet.
Doch „Zweitens oder im Bauch“, das nicht einmal zwanzig Seiten lange
und damit kürzeste der drei Kapitel, hält sich damit nicht auf, sondern uns mit
mehr oder minder fingierten literarhistorischen und anderen wissenschaftlichen
Recherchen z.B. über den Urtext des Jona oder seine Bauch-Erfahrungen, mit
Reflektionen des Erzählers, der hier tatsächlich mit dem Autor identisch wird,
über das Verhältnis Inhalt-Preis des vorliegenden Buches, was alles schließlich
zur Auflösung der Erzähl- und Textkohärenz führt und sich die Fußnoten so
sehr in den Vordergrund drängen, dass sie zum eigentlichen Text werden, der
sich und uns – auch mal im Zitat – nochmals mit der Urtext- und damit mit der
Eckermann-Problematik beschäftigt. Schließlich: „Irgendwie, habe ich den
Eindruck, endet dieses Kapitel, mit seinen vielen und überraschenden
Verweisen und Nebenverweisen, allmählich im Chaos“, weshalb es nach einem
Grußwort auch abgebrochen wird.
137
III. Nun endlich in Ninive angekommen, macht Jona zuerst einmal die
unliebsame Bekanntschaft mit dessen Grenzwächtern, die ihn recht
nachdrücklich einem Verhör unterziehen: „Und der Soldat trat ihm auf die rechte
Hand und sagte, sanft leise zischend: Bei uns Grenzern kommt keiner durch“.
Als Jona bekennt, eine Botschaft überbringen zu wollen, bekommt er zu hören:
Etwas genauer wollen wir nicht werden? fragte der Soldat (und er) hörte die
Gefahr aus diesem väterlichen Wir, diesem Wir der Wunderheiler Tempelvorsteher
Oberpriester, und er sagte: Nur vor dem König.
Also wird das Gespräch von einem Ranghöheren fortgeführt, der nach
und nach Sitten und Gebräuche Ninives demonstriert:
Eigentlich sind wir ein gastfreundliches Land, in den Zeitungen steht es, unser
König spricht davon, in den Liedern wird es besungen, wir haben sogar Tagessprüche
zum Thema... Das Volk hier ist so bodenständig, dass es nicht reisen will... durch die
Bodenständigkeit des Volkes sind wir ganz davon abgekommen, die entsprechenden
Papiere herzustellen... Man sagt, dass viele Reisen verhindere ernsthafte Arbeit... Ich
kenne das Wortspiel von der Weltanschauung, einige unserer jungen Sitzenbleiber
sagen es, um die Schule zu schwänzen.
Nach der eigentlich eher rhetorischen Frage des Offiziers: „Wie seid Ihr
eigentlich zu uns gekommen, so unbemerkt?... Ich habe da einige Freunde bei
den für des Staats Sicherheit zuständigen Organen, die das sehr interessiert“,
erfährt Jona von diesem, dass bis auf zwei alle Etappen und Vorkommnisse
seiner Reise vom niniveschen Geheimdienst vorhergeplant und manipuliert
worden sind, selbst der Riesenfisch „ein Bau von uns“ ist und Kytara, die Frau,
die Jona im Walfischbauch liebte, eine alttestamentarische Mata Hari. Selbst
Gottes Auftrag an den kleinen Propheten war den Sicherheitsorganen bekannt,
ja man kam mit Jachweh sogar zur Kooperation, als Jona einmal aus dem Text
verschwunden war.
Der Status des Sicherheitsdienstes in der Gesellschaft Ninives wird so
umschrieben:
Im Hauptgesetz wurde einmal festgelegt, dass die höheren Etagen uns
beherrschen sollen und nicht wir sie, und so bestimmt diese Einbildung seit
Jahrzehnten die höchsten Köpfe, auch wenn, dies im Vertrauen, es oftmals
Dummköpfe sind. Starr halten sie sich an ihren Richtlinien fest, selbst wenn wir ihnen
ganz uneigennützige Ratschläge geben, und krähen allweil: Wir sind die Vertreter des
138
Volks, nicht ihr. Fehlt nur noch, dass sie eines Tages den Spruch verbreiten, sie seien
das Volk selbst...
Gegenüber dieser Allmächtigkeit spürt Jona die ganze Jämmerlichkeit
seines beobachteten und gelenkten Verhaltens. Doch tröstet ihn der Offizier,
dass er sich „nicht jämmerlicher als jeder Kopfarbeiter“ verhalten habe, denn:
Die sind zu schmerzempfindlich als Opfergaben wie als Führungskräfte, sie
haben zu viele offene Nervenenden, weil sie nicht nur den Nagel im Fleisch spüren,
sondern sich auch noch ausmalen, wie es ist, wenn der Nagel ins Fleisch getrieben
wird... Das ist’s, was ich meine: diese schreckliche, erschreckende Fantasie. Freilich
eine Fantasie, die wir nötig haben, die uns die vertracktesten Situationen ordnet... das
verlangt einen raschen Überblick, das Erfassen der kompliziertesten Gegebenheiten
und eine Kette von Lösungsvorschlägen, dafür sind die Kopfarbeiter wichtig, (die er an
anderer Stelle bezeichnet als ein) Rudel von Utopisten, die uns neue Gesetzestexte
ausarbeiten, Regierungsvorschläge, Staatsreligionen, Gesellschaftskonturen, Entwürfe
des künftigen Menschen...
Nach diesem Verhör („Wen ich verhöre, der verhört sich nicht“) wird zu
Jonas Schrecken noch der Besuch des Scharfrichters angekündigt, der aber
nicht ganz unabsichtlich eine Zeit lang auf sich warten lässt, was zu einem
biographischen Ausflug zu den Berufsanfängen des kleinen Propheten genutzt
wird. Dann aber: Auftritt des martialischen Scharfrichters, der unter derben und
brutalen Sprüchen seine Folterinstrumente dennoch nur erst einmal zeigt.
Und es kommt eben noch ganz anders: Jona, der das Schlimmste
befürchtet, wird von drei Schönheiten in Empfang genommen, geölt und neu
eingekleidet, wobei sich „die Anführerin“ auch noch zur erotischen Entspannung
anbietet. Dann geht es in der Sänfte, von Kamelen getragen, auf einen langen
Marsch durch die Wüste, an dessen Ende die Ankunft in der Stadt Ninive steht,
deren Andersartigkeit, ihre „Rechtwinkligkeit“, Jona jedoch nicht davon abhält,
an der Rechtmäßigkeit der Absichten Jachwehs zu zweifeln.
Jubelnde Menschenmassen („Hoch lebe Jona. Ewige Freundschaft mit
Jachweh!“) erwarten Jona auf dem Platz vor dem Königspalast, dem „Großen
Viereck des irdischen Friedens“. Im „Großen Palast des Reiches“ (im
Volksmund: „Reicher Ballast der Größen“) empfängt ihn der König, dem sich
Jona in einer Serie von Kotaus nähert, was eigentlich überflüssig ist, denn – so
der König – „bei uns ist jeder Diplomat willkommen, wenn er nur Ninive
anerkennt, da mag er kommen vor mich, wie er nur will“. Der Regent, hoch in
den Jahren, altersdünn, schwerhörig weiht nun mit seiner Fistelstimme den
139
Gast – wie diesem schon bei Grenzübertritt geschehen – in die Eigentümlichkeiten
des Landes ein, was sich zusammengefasst so lesen lässt:
Wir lieben nämlich das Geradlinige. Keine Umwege, keine krummen Wege,
keine Auswege, nur geradewegs.. Immer die gerade Linie, die hält die Welt
zusammen. Sich immer an die Linie halten... Darum bauen wir auch so – Linie zu
Linie...Nicht allweil diese Bögen wie im Abendland, ja. Wir sind nämlich das
Morgenland, ja, das sind wir... Und unsere Menschen sind glücklich dabei... so
glücklich wie es in den Bekanntmachungen steht... Die Menschen brauchen einen
Glauben... den Glauben geben wir ihnen, unseren Menschen, da achten wir drauf.
Nach dieser Ouvertüre lässt der König unter Protesten einiger, die
meinen, „sie seien das Volk“, den Thronsaal räumen, der allerdings auch leer
nicht abhörsicher ist. Jona ist von dem Vertrauen und dem Du, mit dem ihn der
König anspricht, so eingenommen, dass ihm plötzlich klar wird,
dass die Macht den Kopfarbeitern nur den kleinen Finger zu reichen braucht,
und schon sind sie, ob des Einbezogenseins, bereit, sich selbst und andere zu opfern.
Er kann nun seine Botschaft überbringen, die dank des Geheimdienstes
zwar nicht mehr ganz neu ist, trotzdem aber noch dem König den Schweiß ins
Gesicht treibt, so dass er in einen tiefen Schlaf fällt. Danach wird das Gespräch
weitergeführt („Ich rede gern mit den Philosophen, sagte der König“) über die
Macht, das Prinzip des divide et impera, bis schließlich der Große Rat
eingelassen wird, der auf die von Jona vorgetragene Botschaft zutiefst getroffen
reagiert: von „Schweinerei“ über „riesengroße Verschwörung“, „Währungskrise“,
„dem Volk verschweigen“ bis zu „dem Propheten das Schwert in den Kopf
drücken“. Schließlich schlägt der König vor: „Wir könnten es mit Demut
versuchen“. Die Krisensitzung, für eine Seite von einem Exkurs zum
Grenzoffizier, der in Wirklichkeit Marschall ist und dem Kabinett angehört,
unterbrochen, dauert noch einige Stunden an und wird mit dem allseits
begrüßten Vorschlag zu einem Festmahl, „der Hohen Schule der Verdrängung“,
abgeschlossen. Die folgende Nacht wird Jona von einer wahren Gottesqual
gepeinigt.
Am Morgen dann lässt ihn der Bittbesuch eines Widerstandskämpfers
erwachen, der im Namen seiner Vereinigung Jona auffordert, sich an die Spitze
der Opposition gegen die Tyrannei zu stellen. Jona lehnt aus Erfahrung ab. Es
folgt am Nachmittag ein Gespräch mit dem Marschall, das mit einer Körper-
140
massage der beiden endet, bei der Jona geraten wird, sich der in ihn verliebten
Agentin Aischa anzunehmen, und dem Marschall unwillentlich der Besuch des
Oppositionellen verraten wird.
Das Fest der Kompensation gestaltet sich zu einer wahren Orgie mit
Wein, Weib und „Volks Kunst“, einer Strip-Tanz-Nummer, deren Ausführende
auch zu anderem bereit sind. Auf diesem Gelage lässt sich Jona über das
obwaltende Gleichheitsprinzip Ninives aufklären, was nicht so einfach ist, wie
der Versuch des Finanzministers zeigt:
Da bei uns nicht das niederdrückende System der Hervorbringung der
Unterschiede durch das Monitäre herrscht, sondern die aufstrebende Anerkennung der
Besten des Volkes durch das Volk, so gibt es unter den Gleichen, nein, über ihnen, die
Gleicheren, und unter den Gleicheren, unter uns gesagt, die Gleichsten, wie unter uns,
ich meine: zwischen uns, also ich meine...: mit uns, aber doch selbständig ja und ja, ich
meine (und er stockte und würgte) demnach als Allergleichsten den König... Also eine
Gleichheit sondersgleichen.
In der Nacht nun endlich „lag er ihr bei“, der Aischa, die ihn nach allen
altbiblischen Regeln der Kunst zur Liebe stimuliert:
höckerhängungen (2008)
141
Jedenfalls, Jona stand und Jona wartete, doch nichts ereignete sich; bis Aischa
sich entkleidete und dann ihn, den etwas tollpatschig unschlüssig Dahockenden, und
dann sich salbte. Dies vollzog sie in so sich biegender und wiegender und windender
Weise, um, zum Beispiel, jeden Fleck ihrer Schönheit zu erreichen, und hernach
wieder schneller und grobstrichig flächig die Landschaften ihres Körpers überfliegend,
dass Jona spürte, es erhob sich, wie er noch meinte, gegen ihn, was zum Wachsen
geschaffen war. Jona glaubte, dies verdecken zu müssen durch angestrengtes sich
ablenkendes Denken an äußerst langweilige, der Dümmlichkeit sich nähernde
Kamelaugen und an, die es auch gibt, stumpfsinnige Wüstengegenden, doch nichts
kam in sein Hirn als die sich so prachtvoll wölbenden Höcker der Getiere und vom
Wind spitzkeglig geformte Sandhügel und allmählich alle Rundheiten der Welt, so dass
er für Momente gar glaubte, auch die Erde könne keine Scheibe sein, sondern nur eine
Kugel; und der Anhänger seines Gemächts ließ sich nun nicht mehr aufhalten, er
steilte sich immerhin in eine Fünfundvierzig- bis Fünfziggradschräge mit aufstrebender
Tendenz (und Jona war, dies nebenbei, nicht mehr der Jüngste, ja von den vielen
Wüstengängen schon ziemlich zerledert). Aischa aber schien diese Art des
Aufbegehrens, der Müpfigkeit für selbstverständlich zu nehmen und als gehörige
Aufmerksamkeit ihrem Leib gegenüber; sie ölte den Mann und das Männliche mit
umsichtiger Zartheit und lächelnder Freude und forderte ihn auf, ihr Gleiches zu tun,
und Jona entdeckte Partien, bei denen ihm die Hand fremd wurde, jedenfalls meinte er,
nicht er führe sie, sondern die Haut der Aischa...
Wir wollen die beiden diskret allein lassen bei ihrem Spiel auf diesen vier
Seiten des Romans, die zum Schönsten gehören, was die deutschsprachige
Nachkriegsliteratur an erotischer Darstellung zu bieten hat. Im anschließenden
Disput der beiden Liebenden über das Kundschaften stellt sich heraus, dass
Aischa eine mit allen Argumenten bestückte Geheimdienstlerin ist, die auf jede
Frage Antwort weiß. Als schließlich
Jona meinte, dass doch des Fragens würdig wäre, was das für ein Volk sei,
dass sich so... dem Betätigtwerden nicht nur, sondern auch dieser Tätigkeit (des
Spitzelns, PK) unterwerfe, was für ein unterwürfiges Volk“, entgegnet die Aischa ihm:
„Aber wieso denn unterwerfen,... kannst du dir denn nicht vorstellen, dass es ein
stolzes Volk ist, ein selbstbewusstes, das sich zu schützen denkt...
Auch in der Frage freier oder manipulierter Wahlen kommen sie zu
keiner Einigung, gewiss aber „auf dem Laken“. Und Jona merkte, „dass ihm der
Schwanz durch den Kopf wuchs“ und: „diese Liebe löst nichts... sie ist ein
Ersatz.“
Entgegen der Vereinbarungen im Rat über den Zeitpunkt der öffentlichen
Demutskampagne eröffnet sie der König selbständig und sofort, in Sack und
Asche gehüllt, den Massen der Stadt zurufend: „Wir haben gesündigt, meine
Kinder. Alle. ... Tuet Buße.“ Auf die eingetretene Stille folgt unsägliches
Geschrei und Geschimpf – ein großes Durcheinander.
142
Der Palast aber schweigt, „es schien, als hätte sich die Regierung
verkrochen“, ein scheinbares Machtvakuum, ein Zeitloch, das Jona zur
Reflektion nutzt darüber,
dass dieses Gottesurteil nur den Vorurteilen Genüge tut, die umlaufen in der
Welt... Ninive war nur ein bisschen streitsüchtiger und -suchender und kriegerischer als
andere Metropolen, nur ein bisschen geldgieriger, nur ein bisschen erpresserischer,
nur ein bisschen hinterhältiger.
Am Abend hört Jona, dass jener Oppositioneller, der bei ihm war,
gefoltert worden ist. Er stellt den Marschall deshalb zur Rede, der ihm den
Mann als Sklaven vermacht – und Jona begreift, „wie sehr der Marschall mit
ihm spielte und wie gut er auf ihn vorbereitet gewesen sein muss.“ Der kleine
Prophet sucht den blutenden Gefangenen auf und trägt ihm die Freiheit an, die
der mit der Frage „Frei wofür?“ abweist, denn er sieht keine Alternative als den
Tod. „In der Nacht schrie Jona zu Gott.“ Immer klarer wird ihm, dass er nichts
anderes war als „ein Überbringer von längst oder andeutungsweise Besprochenem,
Bekanntem, ...ein SchauSpieler wider Willen, in höherem Interesse, ein
benutztes Medium“, das in die Geschichte eingehen würde als der eigentliche
Schuldige am Untergang Ninives, denn er hatte „den Abgesang“ eingeleitet.
Die politisch Mächtigen sind inzwischen heftig zerstritten, weil, als der
König die Sack-und-Asche-Linie zelebrierte, an anderem Ort von Priesterschaft
und Großem Rat ein Tanz um das Goldene Kalb inszeniert worden war. In der
Stadt herrscht Chaos, das der Marschall unter Kontrolle zu halten versucht:
Bandenunwesen, endlose Orgien bei den Reichen, Fluchtbewegung bei den
unteren Schichten – doch alles nur für zehn Tage, dann stellt sich eine „Phase
der Nachdenklichkeit“ ein „mit den Nuancen der Katerstimmung oder der
Niedergeschlagenheit“, eine „Zeit des Umschwungs“, in der – auch wirtschaftlich
– Sack und Asche Hochkonjunktur machen und damit die Krise
beschleunigen. Drei Wochen nach Jonas Ankunft muss sich der Große Rat
eingestehen, dass er am Ende ist:
Finanziell. Wirtschaftlich. Politisch. – So können wir uns begraben? – Wir sind
es schon, sagte der Finanzminister. Nicht der Untergang, sondern das Gerücht von
ihm hat uns ruiniert.
143
Und da geschieht – hinter Jonas Rücken – das Unfassbare, das der
Prophet nicht von Gott, sondern auf der Straße erfährt: Ninive bleibt verschont.
Jona wird als Schwarzseher verlacht, im Rat debattiert man den neuen
Aufschwung der Stadt und „Jona rief im Zorne zu Gott“, denn er fürchtet um
seine Reputation. Es kommt zu einer längeren Auseinandersetzung zwischen
den beiden, während der Gott bekundet, dass er sich eines einwandfreien
Mannes bedienen musste, um seiner Drohung Glaubwürdigkeit zu verleihen
(„Wenn man mit Menschen...umgeht..., so muss man listig sein“), und Jona auf
seinen Einwand hin, sein Ruf sei ruiniert, zu bedenken gibt, ob er deshalb eine
Stadt untergehen lassen wolle.
Da stirbt der König. Jona wird in den Palast gerufen und befürchtet
wegen seiner Falschmeldung das Schlimmste. Doch wieder einmal geschieht
das Gegenteil: Man trägt Jona an, die Staatsgeschäfte zu leiten, man sei selber
in den Augen der Weltöffentlichkeit zu diskreditiert, auch die Nachbarländer
sähen einen Wechsel positiv. Man brauche einen wie ihn – „eine Gallionsfigur“
platzt da der Herkulesartige dazwischen.
Und Jona schwirrte der Kopf. Was, dachte er, für ein Ansinnen! Was für ein
Wahn! Was für eine Möglichkeit! Und wie werden sie mich benutzen! Aber wie könnte
ich sie benutzen! Ein Musterstaat, ja.
Und also wird er „Erster“, nicht König mehr: „wir haben den Thron... drei
Stufen heruntergesetzt.“ Zunächst noch mit allen Ehren überhäuft, kommt es zu
Problemen im Rat, als Jona versucht, Innovationen einzuführen, auch zu
Regierungskrisen, was Jona veranlasst, den Rat zu übergehen und zu Erlassen
des Ersten überzugehen.
Die Kunde von seinem Aufstieg zur Macht führt zu einer Einwanderungswelle
seiner judäischen Landsleute, was auch anfänglich in Ninive begrüßt, dann
aber als eine Form der Vertreibung und Besetzung seitens der Einheimischen
gesehen wird. Unruhe und Schwierigkeiten, besonders Fremdenfeindlichkeit
nehmen weiter zu, Jona hat die Lage nicht mehr im Griff. Was das Volk denkt,
von ihm denkt, hört er heimlich in einer Taverne: „der Ausländler, der.
Verspricht uns das Blaue vom Himmel herunter, der Strolch, und bringt nichts
als Chaos, das bringt er.“ Mittlerweile haben der Marschall und der Herkulesartige
zur Wiederherstellung von Ordnung und Sicherheit ein „Schreckensregime“,
einen „Polizeistaat“, errichtet. Als auf einer folgenden Ratsversamm-
144
lung keiner der Vorschläge des Ersten auch nur ernsthaft in Erwägung gezogen
wird, weiß Jona, „dass er schon entmachtet (ist)“. Bevor er sich zum Abdanken
entschließt, ist als neuer König bereits der Marschall eingesetzt. Jona dagegen
wird deutlich zu verstehen gegeben, er solle (sich) ein Ende machen: Der
Marschall überreicht ihm ein Fläschchen und ein Stilett...
145
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Personenregister
A
Ahrends, Martin 122
Anderson, Sascha 114
Anouilh, Jean 43
Apitz, Bruno 20,40
Arendt, Erich 24,48,74
Asken, Katrin 116
B
Bachmann, Ingeborg 61,86
Bahro, Rudolf 70
Barlach, Ernst 33
Barthel, Kurt (KUBA) 28
Bartsch, Kurt 63,107
Bathrick, David 45
Becher, Johannes R. 10,19,22,24,27,28,45,48,49,58,66,88
Becker, Hannelore 121
Becker, Jurek 55,74,79
Beckett, Samuel 23,75,77
Biermann, Wolf 21,39,52,53,63-65,70,71,73,74,107,110,113,114,120,122,124
Bloch, Ernst 24,102
Bobrowski, Johannes 50,51,55,56
Böll, Heinrich 42,53,114,116
Brandt, Willy 71
Brasch, Thomas 74,78,79
Braun, Volker 21,34,35,53,63,70,71,74,75,79,84,100,102,112,115,117,119,120
Brecht, Bertolt 14,21,24,25,27,28,33,42-49,64,100
de Bruyn, Günter 21,74,75,83,108,109,120,122
Bredel, Willy 24
Brussig, Thomas 117,122,123
Büchner, Georg 113
Burmeister, Brigitte 117,119,122
C
Capote, Truman 80
Chiarloni, Anna 10
Cibulka, Hanns 63,84
Claudius, Eduard 36,40,41,46
Coward, Noel 43
Czechowski, Heinz 63,103
D
Dahn, Daniela 79
Damm, Sigrid 89
Delius, F.C. 118
Delon, Alain 129
Dessau, Paul 33
Dieckmann, Christoph 116,124
Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 92
Drawert, Kurt 116,122
Duras, Marguerite 61
149
E
Eckart, Gabriele 79
Eckermann, Johann Peter 137
Einstein, Albert 131
Eisler, Hanns 14,15,22
Eliot, Thomas Stearns 43
Emmerich, Wolfgang 19,83,114,115
Endler, Adolf 58,63,107,116
Erb, Elke 63,74,103,104
Erpenbeck, Jenny 117
F
Faktor, Jan 105
Faulkner, William 42,85
Feuchtwanger, Lion 24
Freud, Sigmund 131
Fries, Fritz Rudolf 60,74,108,112,120
Fuchs, Jürgen 18,21,79,121
Fühmann, Franz 37-39,68,74,77,90,120,121
G
Garbe, Hans 41
Gillespie, Dizzie 60
Goebbels, Joseph 136
Goethe, Johann Wolfgang 23,24,45,72,89
Gorbatschow, Michail 33,69,75,113
Grabner, Hasso 47
Grass, Günter 42,75,114,116,117,124
Gratzik, Paul 83
Greiner, Ulrich 113
Guevara, Ernesto Che 137
Günderrode, Karoline v. 10,89
H
Hacks, Peter 45,74
Havemann, Robert 20,70
Hein, Christoph 21,75,83,86,100,117,119
Heine, Heinrich 20, 24, 49,64
Hennecke, Adolf 31
Hermlin, Stephan 28,53,74,88,112
Hesekiel 137
Heym, Stefan 20,24,36,41,42,53,71,74,86,88,107,112,120
Hilbig, Wolfgang 83,92,94,122
Hitler, Adolf 25,56
Hochhut, Rolf 118,119
Hölderlin, Friedrich 89,102
Hoffmann, E.T.A. 39,77
Honecker, Erich 53,64,69,71,131
Huchel, Peter 24,28,29,48,50,53
J
Jakobs, Karl Heinz 107
Janka, Walter 86,115
Jendryschik, Manfred 122,134
Jens, Walter 29
Jentzsch, Bernd 74
Jirgl, Reinhard 116
Johnson, Uwe 42,43,60,109,120
150
Joyce, James 23,42
K
Kafka, Franz 23,53,92
Kant, Hermann 20,58,74,107
Keller, Gottfried 24
Kerckhoff, Susanne 121
Kirsch, Rainer 63,71
Kirsch, Sarah 53,63,66,67,68,74,78,120
Kleist, Heinrich von 23,44,89
Königsdorf, Helga 16,81,87,109,112,116,119
Kolbe, Uwe 104,105,106
Krauß, Angela 83
Krawczyk, Stefan 21
Kuffel, Eveline 121
Kunert, Günter 49,50,53,54,71,74,89,108,116
Kunze, Reiner 18,21,63,64,71,74,79,80,121
L
Laclos de, Choderlos 46
Lambrecht, Christine 78
Lemke, Jürgen 78
Lenin, Wladimir Iljitsch 131
Lessing, Gotthold Ephraim 23,24
Löffler, Anneliese 35
Loest, Erich 49,83,118,122
Lukács, Georg 33,34,35
Lenz, Jakob Reinhold Michael 45,89
Luther, Martin 137
M
Mann, Heinrich 24,49
Mann, Thomas 24
Maron, Monika 84,116,117,122
Marx, Karl 33
Masters, Edgar Lee 49
Maurer, Georg 48
Mayer, Hans 36,79
Mickel, Karl 58,63,64
Mielke, Erich 128
Mitscherlich, Alexander 61
Molière, Jean Baptiste 45
Morgner, Irmtraud 60,61,77,80,90,91,112,120
Müller, Christine 78
Müller, Heiner 10,20,46,47,49,53,71,74-77,100,101,112,114,115,120,122
N
Neutsch, Erik 58,74
Neumann, Gert 117
Novak, Helga M. 86,121
P
Papenfuß-Gorek, Bert 105
Petersen, Jan 24,88
Petzold, Jutta 121
Plenzdorf, Ulrich 71-74,79
Plievier, Theodor 24
151
Poche, Klaus 107
Poppe, Gert 9
R
Ravel, Maurice 82
Reimann, Brigitte 37,58,80
Reinig, Christa 121
Remarque, Erich Maria 24
Renn, Ludwig 24
Rennert, Jürgen 102
Rosenlöcher, Thomas 105,117
S
Saeger, Uwe 107,119,122
Sartre, Jean Paul 43
Schabowski, Günther 133
Schädlich, Hans Joachim 118,122
Schedlinski, Reiner 105
Schelling-Schlegel, Caroline 89
Schiller, Friedrich 23,24,113
Schirrmacher, Frank 113,114
Schlesinger, Klaus 107,122
Schneider, Peter 119
Schneider, Rolf 74,107
Schubert, Dieter 107
Schubert, Helga 81
Schulze, Ingo 117,119
Schütz, Helga 54,74,117
Sebald, W. G. 13
Seghers, Anna 20,24,25,26,40,87,89
Seyppel, Joachim 107
Shakespeare, William 45,46
Shdanow, Andrej 33
Sparschuh, Jens 116
Stanislawski, Konstantin 43
Stalin, Josef W. 32,33,36,47,48,86
Strittmatter, Erwin 45,58,86,109,116
Strittmatter, Eva 109
Struzyk, Brigitte 89
Suhrkamp, Peter 42
T
Tetzner, Gerti 80
Trakl, Georg 39
Trolle, Lothar 99,106
U
Ulbricht, Walter 36,52,71
V
Villon, François 64
W
Wagenbach, Klaus 64
Wagner, Bernd 106,119
Walser, Martin 53
152
Walther, Joachim 69
Walther, Peter 123
Wander, Fred 55
Wander, Maxie 78
Weber, Hermann 32
Weiss, Peter 53
Weigel, Helene 45,88
Williams, Tennessee 43
Wittstock, Uwe 114
Wolf, Christa 10,11,13,21,26,37,58,59,60-62,74-77,84-86,89,90,112-114,120,122,124,
131,132
Wolf, Friedrich 24,43-45
Wolf, Gerhard 20,74,89
Wolf, Markus 115
Wolter, Christine 81
Woolf, Virginia 61
Worgitzky, Charlotte 81
Wünsche, Günter 63
Z
Zinnemann, Fred 24
Zeplin, Rosemarie 81
Zweig, Arnold 24
153
154
QUELLENVERZEICHNIS DER TEXTE
Wolf Biermann, "Rücksichtslose Schimpferei", aus: Die Drahtharfe, Berlin (West) 1965
Johannes Bobrowski, "Mäusefest", aus: Mäusefest/ Der Mahner, Berlin (West) 1965
Volker Braun, Hinze-Kunze-Roman, Frankfurt/M.1985
---, "Die Industrie", aus: Gegen die symmetrische Welt, Halle/Leipzig 1974
---, “Das Eigentum”, Die Zickzackbrücke. Ein Abrißkalender, Halle 1992
Bertolt Brecht, "Vergnügungen", aus: Gesammelte Werke, Frankfurt/M. 1964
Thomas Brussig, Helden wie wir, Berlin 1996
Elke Erb, “Widerspiegelung”, aus: Der Faden der Geduld, Berlin (DDR) 1978
Franz Fühmann, Das Judenauto. Erzählungen, Berlin (DDR) 1962
Christoph Hein, Der fremde Freund, Berlin und Weimar 1982
Wolfgang Hilbig, Der Brief, Frankfurt/M 1985
---, »Der Geruch der Bücher«, in: Text und Kritik 123, Juli 1994
---, Ich, Frankfurt/M, 1995
---, Die Übertragung, Frankfurt/M 1989
---, Die Weiber, Frankfurt/M 1996
Peter Huchel, "Chausseen", aus: Chausseen Chausseen, Frankfurt/M. 1963
Manfred Jendryschik, Die Reise des Jona, Halle 1995
Uwe Johnson, Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt 1980
Sarah Kirsch, "Ich wollte meinen König töten", aus: Zaubersprüche, Ebenhausen 1973
Helga Königsdorf, "Bolero", aus: Meine ungehörigen Träume, Berlin und Weimar 1978
Uwe Kolbe, "S-Bahn-Fahren für dich", aus: Abschiede, Berlin und Weimar 1981
Günter Kunert, "Über einige Davongekommene", aus Wegschilder und Mauerinschriften,
Berlin (DDR) 1950
Reiner Kunze, “Ethik” (aus “Kurzer lehrgang”), Sensible Wege, Reinbek 1969
---, "Mitschüler", aus: Die wunderbaren Jahre, Frankfurt/M. 1976
Heiner Müller, “Nachtstück”, aus: Germania Tod in Berlin, Berlin (West) 1977
---, “Der Findling (nach Kleist)” (aus “Wolokolamsker Chaussee”), Shakespeare Factory,
Berlin (West) 1989
---, “Selbstkritik” (aus “Fernsehen”), Die Gedichte, Frankfurt/M 1998
Bert Papenfuß-Gorek, “reißaus”, aus: dreizehntanz. Gedichte, Frankfurt/M 1989
Ulrich Plenzdorf, Die neuen Leiden des jungen W., Rostock 1973
Anna Seghers, Der Ausflug der toten Mädchen, Darmstadt 1979
Christa Wolf, “Selbstinterview”, Die Dimension des Autors, Darmstadt und Neuwied 1987
---, Kindheitsmuster, Berlin und Weimar 1976
---, Kein Ort. Nirgends, Berlin und Weimar 1979
…UND ABBILDUNGEN
Alle Abb.: Paul Kroker; mit Ausnahme der Arbeiten auf S. 88 (Kohle, Acryl auf Papier,
100x70) und S. 111 (Installation, variabel, Teilansicht) handelt es sich bei den
Abbildungen, auch auf dem Umschlag, um digitale Malerei.
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