ART MENSCHENRECHTSBILDUNG/MIHR - ZPSA
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Prof. Dr. Silvia Staub-Bernasconi<br />
MENSCHENRECHTSBLDUNG IN DER SOZIALEN ARBEIT<br />
EIN MASTER OF SOCIAL WORK ALS BEITRAG ZUR THEMATISIERUNG VON<br />
SOZIALRECHTEN 1<br />
Dieser Beitrag möchte zeigen, wie Menschenrechte zu einem Thema der Sozialen Arbeit in Theorie und Praxis<br />
geworden sind, weshalb es notwendig ist, besonderes Gewicht auf die Bildung im Bereich der wirtschaftlichen,<br />
sozialen und kulturellen Rechte zu legen und welche Folgen sich daraus für einen Master of Social Work als<br />
Menschenrechtsbildungsprojekt ergeben haben.<br />
1 Weltgesellschaft, Menschenrechte und Soziale Arbeit<br />
Menschenrechte sind ohne die Vorstellung einer in Entstehung begriffenen Weltgesellschaft nicht denkbar. Dies<br />
gilt auch oder erst recht dann, wenn ihre Universalität zur Diskussion steht (Bielefeldt 1998, 2003). Ein von<br />
Jane Addams in ihrem Buch mit dem Untertitel Report of a Growing World Consciousness bereits 1930<br />
gefordertes Weltbewusstsein geht davon aus, dass nahezu alle sozialen Probleme (Armut, Erwerbslosigkeit,<br />
Wirtschaftsmigration, Rassismus, Frauenhandel usw.), die der Sozialen Arbeit zur Bearbeitung zugewiesen<br />
werden, sowohl in ihrem Vorkommen, ihren Ursachen und Folgen internationale Dimensionen aufweisen. Dies<br />
hat zur Folge, dass sie ihre Aufgabe u.a. unter den menschenrechtlichen Rahmenbedingungen der UNO-Charta,<br />
im besonderen des Artikels 28 der UNO-Menschenrechtserklärung zu erfüllen hat:<br />
"Jeder Mensch hat Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in welcher die in der vorliegenden<br />
Erklärung aufgeführten Rechte voll verwirklicht werden können."<br />
Das vorherrschende Selbstverständnis Sozialer Arbeit bezieht sich allerdings auf die Arbeit mit Individuen und<br />
Familien unter national- und sozialstaatlichen Rahmenbedingungen. Fast unbeachtet oder gar vergessen existiert<br />
eine relativ lange Tradition internationaler Sozialer Arbeit, die sich im Verlauf der Zeit immer dezidierter auf<br />
die Menschenrechtsidee beruft. Sie begann mit der Gründung internationaler Organisationen. So entstand 1856<br />
die International Conference on Charity and Welfare. 1912 erscheint ein Buch von Jane Addams (Gründerin<br />
der Universitätsniederlassung von Chicago, Sozial(arbeits)wissenschafterin und Friedensnobelpreisträgerin von<br />
1931) über international organisierten Frauenhandel, das unter explizitem Bezug auf die Sklavenfrage vom<br />
Handel mit "weissen Sklavinnen" spricht. 1915, ein Jahr nach Kriegsbeginn im ersten Weltkrieg nimmt Jane<br />
Addams an der Women's Peace Conference in Den Haag teil. Krieg verletzt bekanntlich ausnahmslos jedes<br />
Menschenrecht, und zwar auch dann, wenn man sich an das Kriegsrecht halten sollte. An dieser Konferenz wird<br />
beschlossen, die Kriegsminister der kriegführenden wie neutralen europäischen Länder aufzusuchen, um sie zu<br />
überzeugen, den Krieg nicht aufgrund der Sieg-und-Niederlage-Logik, sondern durch Verhandlungen zu<br />
beenden. Zudem wird festgehalten, dass die Verweigerung des Frauenstimmrechts die Frauen zu passiven<br />
Zuschauerinnen der nationalen und der Weltpolitik verurteile, was eine Verletzung der Menschenrechte<br />
darstelle (Addams et al. 1916). Anlässlich des zweiten Frauenkongresses wird die Women's International<br />
League for Peace and Freedom (WILPF) mit Jane Addams als deren erste Präsidentin gegründet. Sie ist eine der<br />
ältesten, UNO-akkreditierten Nichtregierungsorganisationen mit Sitz in Genf, die Zugang zu allen UNO-<br />
Gremien hat und in ihrem Friedenskonzept zentrales Gewicht auf die sozioökonomischen Bedingungen des<br />
Friedens – und damit die Sozialrechte – legt. Das Kinder- und Jugendlichenelend im (Nach)Kriegs-Europa führt<br />
die Engländerin, Sozialarbeiterin, Eglantine Jebb 1923 dazu, den Save the Children Fund zu gründen und eine<br />
Charta der Kinderrechte zu entwerfen, die 1924 vom Völkerbund als Deklaration der Rechte des Kindes<br />
angenommen wurde. 1928 findet die erste internationale Konferenz der Ausbildner in Sozialer Arbeit in Paris<br />
statt; es ist zugleich das Gründungsjahr der International Federation of Social Workers (IFSW) sowie des<br />
International Council on Social Welfare (ICSW). 1943 entsteht die United Nations Relief and Rehabilitation<br />
Administration (UNRRA), die den 35 Ländern, die im zweiten Wetkrieg von den Achsenmächten überfallen<br />
wurden, Hilfe bringen soll. Viele SozialarbeiterInnen engagieren sich in diesem weltweiten UN-Programm.<br />
1 Erschien in: Claudia Mahler/Anja Mihr (Hg.) (2004): Menschenrechtsbildung. Bilanz und Perspektiven, VS Verlag für<br />
Sozialwissenschaften, Wiesbaden, S. 233-244.<br />
1
Ab den 60er Jahren lässt sich eine Wende zu internationalen Bildungs- und Menschenrechtsbildungsaktivitäten<br />
feststellen. 1962 entsteht eine Curriculum-Empfehlung des US Council on Social Work Education, Wissen über<br />
internationale Beziehungen in die Lehrpläne zu integrieren. 1968 wählt der International Council on Social<br />
Welfare für seine 14. Internationale Konferenz in Helsinki das Thema Social Welfare and Human Rights. Der<br />
damalige Präsident, Eugen Pusic, hält fest: "Wenn es eine grundlegende Wertprämisse für alle Professionen im<br />
Feld des Sozialwesens gibt, dann ist es die Bejahung der Menschenrechte. Und wenn es ein zentrales komplexes<br />
methodisches Problem gibt, das alle Sektoren des Arbeitsfeldes umfasst ... dann ist es die Frage, wie man<br />
Menschenrechte umsetzt, schützt und im Alltag der Menschen unter Stress konkretisiert." (1969, S. vi). 1988<br />
gründet der Internationale Berufsverband (IFSW) eine Menschenrechtskommission u.a. mit dem Zweck, die<br />
Idee der Menschenrechte in der Sozialarbeitspraxis zu verbreiten und sich für verfolgte<br />
MenschenrechtsaktivistInnen aus der Sozialen Arbeit bei Gerichten und Regierungen einzusetzen. 1994<br />
publizieren IFSW sowie die International Association of Schools of Social Work (IASSW) - zusammen mit der<br />
UNO - die Schrift Human Rights and Social Work: A Manual for Schools of Social Work and the Social Work<br />
Profession. In diesem 70-seitigen Dokument wird festgehalten: "Die Menschenrechte sind untrennbarer<br />
Bestandteil der Theorie, der Wert- und Moralvorstellungen sowie der Praxis der Sozialen Arbeit.<br />
Rechtsansprüche, die mit den menschlichen Grundbedürfnissen korrespondieren, müssen geltend gemacht und<br />
gestärkt werden; sie bilden die Rechtfertigung und den Beweggrund für das Handeln im Bereich der Sozialen<br />
Arbeit ... selbst wenn in Ländern mit autoritären Regimen für die in der Sozialen Arbeit Tätigen selbst dieses<br />
Engagement ernste Konsequenzen haben kann." (S. 5).<br />
1995 wählen IFSW und IASSW das Thema Menschenrechte für ihre internationale Konferenz in Lissabon; im<br />
gleichen Jahr folgt die Teilnahme am Weltsozialgipfel in Kopenhagen. 1996 formuliert der Internationale<br />
Berufsverband ein Policy Statement on Human Rights und im Jahr 2000 einigen sich IFSW und IASSW zum<br />
einen auf eine gemeinsame internationale Menschenrechtskommission, die u.a. weltweit<br />
Menschenrechtsbildung initiieren soll, zum andern auf folgende Definition Sozialer Arbeit:<br />
"Soziale Arbeit ist eine Profession, die sozialen Wandel, Problemlösungen in menschlichen Beziehungen sowie<br />
die Ermächtigung und Befreiung von Menschen fördert, um ihr Wohlbefinden zu verbessern. Indem sie sich auf<br />
Theorien menschlichen Verhaltens sowie sozialer Systeme als Erklärungsbasis stützt, interveniert Soziale Arbeit<br />
im Schnittpunkt zwischen Individuum und Umwelt/Gesellschaft. Dabei sind die Prinzipien der Menschenrechte<br />
und sozialer Gerechtigkeit für die Soziale Arbeit von fundamentaler Bedeutung". (Internationale Konferenz von<br />
Montréal 2000, herv. StB)<br />
An der Internationalen Konferenz der IASSW/IFSW von 2004 in Adelaide werden Globale Ausbildungs- und<br />
damit Akkreditierungsstandards verabschiedet, welche die Menschenrechte als eine ihrer unverzichtbaren<br />
berufsethischen Grundlagen anerkennen.<br />
Im Frühjahr 2002 wird der erste, 4-semestrige Studiengang Master of Social Work - Soziale Arbeit als (eine)<br />
Menschenrechtsprofession als Kooperationsstudiengang zwischen der Alice-Salomon-Fachhochschule, der<br />
Evangelischen Fachhochschule, der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Berlin und dem Institut für<br />
Rehabilitationswissenschaften der Humboldt Universität zu Berlin eröffnet.<br />
2. Themen der Menschenrechtsbildung in der Sozialen Arbeit<br />
Wie auch immer die philosophischen Begründungen für die Menschenrechtsidee ausfallen mögen, historische<br />
und aktuelle Anlässe für ihre Ausformulierung und Weiterentwicklung sind Leid- und Unrechtserfahrungen<br />
von Menschen, die sich an einem inneren oder kulturell tradierten Bild der Menschenwürde - frei von kultureller<br />
Indoktrination, sozialer Herrschaft, Not und Furcht - orientieren.<br />
2.1 Vulnerable Groups als AdressatInnen Sozialer Arbeit<br />
Soziale Arbeit ist eine Profession, die sich fast ausschliesslich mit Menschen befasst, die man in der<br />
einschlägigen Literatur als vulnerable groups bezeichnet. Gemeint sind nicht nur soziale Kategorien wie Kinder,<br />
Behinderte, Arme, Sozialhilfeempfänger, Obdachlose oder Flüchtlinge. Gemeint sind alle gesellschaftlichen<br />
Differenzierungsformen zwischen Menschen, die es denjenigen, die über mehr Ressourcen verfügen,<br />
ermöglichen, das Anderssein, das heisst die biologische, soziale oder kulturelle Ungleichheit zwischen<br />
Menschen zu nutzen, um ein Diskriminierungs- oder/und Herrschaftsverhältnis aufzubauen oder zu erhalten. Es<br />
handelt sich also um sozioökonomische, alters- und geschlechtsbezogene, ethnische, rassische, ethnische oder<br />
religiöse und weitere Differenzierungen. Jeder Differenzierungsform entspricht eine bestimmte Form der<br />
2
institutionalisierten und meist kulturell legitimierten Benachteiligung und Unterdrückung, diagnostizierbar als<br />
Klassismus, Sexismus miteingeschlossen Heterosexismus, Ethnozentrismus, Rassismus, Anti-Semitismus usw.<br />
(Adams et al. 2000; Tatum 2000)<br />
Vulnerable groups sind nicht nur besonderen Leid- und Unrechtserfahrungen ausgesetzt. Sie zeichnen sich auch<br />
dadurch aus, dass sie sich besonders gut als Sündenbock für erfahrene oder befürchtete strukturelle Bedrohung,<br />
sozialen Abstieg und damit für eine symbolische Politik der Überlegenheit bzw. Entwertung eignen. Dabei<br />
müssen über sie bereits Vorurteile in der Öffentlichkeit zirkulieren oder bewusst verbreitet werden. Sie müssen<br />
zudem als so schwach und machtlos betrachtet werden, dass man nicht befürchten muss, dass sie sich im Fall<br />
eines Angriffs, einer Ungerechtigkeit, einer Menschenrechtsverletzung wehren oder gar zurückschlagen. Und<br />
schliesslich müssen zentrale gesellschaftliche Instanzen, vor allem solche der Politik, des Staates und der<br />
Medien vorhanden sein, die Entwertungs- und Stigmatisierungsprozesse kulturell billigen und strukturell über<br />
soziale Diskriminierungsregeln stützen. (Saenger 1953, in Blumenfeld/Raymond 2000, p. 24).<br />
Menschenrechtsbildung heisst in diesem Zusammenhang den Erwerb von Wissen über die je besondere wie<br />
vergleichbare Situation dieser vulnerable groups und zwar über die Individuen wie über sie als Mitglieder von<br />
diskriminierenden, repressiven sozialen Systemen (für eine äusserst lesenwerte Einführung hierzu vgl. Adams et<br />
al. 2000). Jede konkrete Konstellation muss überdies im Lichte der Menschenrechte als Bewertungsmaßstab<br />
daraufhin beurteilt werden, ob leichte, mittlere oder gravierende Menschenrechtsverletzungen vorliegen, von<br />
wem sie ausgehen, welche (Rechts)Ansprüche davon ableitbar sind und wer zu deren Um- oder Durchsetzung<br />
aufgefordert werden muss.<br />
Menschenrechtsbildung wird aber auch nach den individuellen, strukturellen wie kulturellen Ursachen für<br />
Menschenrechtsverletzungen fragen müssen, sofern sie sich nicht nur auf die korrekte Erfassung der Rechtslage<br />
beschränken will.<br />
2.2 Soziale Rechte als Schwerpunkt der Sozialen Arbeit<br />
Auch wenn an der Wiener Konferenz von 1993 von 171 Staaten einmal mehr feierlich festgehalten wurde, dass<br />
'all human rights are universal, indivisible and interdependent and interrelated" (Vienna Declaration and<br />
Programme of Action, UN doc. A/CONF.157/23, Part I, para 5), kann nicht davon abgesehen werden, dass es<br />
einen Pakt I der juristisch einklagbaren Freiheits- und Bürgerrechte und einen Pakt II der nicht einklagbaren<br />
Wirtschafts-, Sozial- und kulturellen Rechte gibt. Diese, von den reichen westlichen Staaten - insbesondere der<br />
USA - 1951 erwirkte Teilung findet ihre Entsprechung in der Tatsache, dass die Verletzung von Freiheits- und<br />
Bürgerrechten meist einen konzertierten Aufschrei aller möglichen Gruppierungen, NGOs und Massenmedien<br />
bewirkt und nach sofortigem Eingreifen verlangt, dieweil die massive Verweigerung und Verletzung von<br />
Sozialrechten fast ausnahmslos in einem schalltoten Raum stattfindet und mehr oder weniger folgenlos bleibt.<br />
Eine Umfrage in Deutschland zeigt des weitern, dass bei den Befragten die Sozialrechte "so gut wie nicht<br />
präsent" sind oder ihnen teilweise gar der Status als Menschenrechte abgesprochen wurde.<br />
(Sommer/Stellmacher/Brähler 2003, S. 13f.). Aus diesen Ergebnissen muss geschlossen werden, dass nicht<br />
einmal die minimalsten, notwendigen, wenn auch nicht hinreichenden Bedingungen der öffentlichen<br />
Thematisierung von Sozialrechtsverletzungen erfüllt sind.<br />
Menschenrechtsbildung hätte deshalb die Aufgabe, diese grosse Lücke zu schliessen. Dabei ginge es zunächst<br />
um die Auseinandersetzung mit allen Argumenten, die zu ihrer Relativierung, Herabsetzung, ja Ablehnung<br />
führen (für einen prominenten Gegner aus der ehemaligen Sowjetunion vgl. z.B. Sunstein in Steiner/Alston<br />
2000; für Gegenargumente vgl. Coote 1992, Staub-Bernasconi 2000, Kälin 2000, Steiner/Alston 2000; vgl. vor<br />
allem Eide et al. 2001 als ausgezeichnete Einführung in die Gesamtthematik der Sozialrechte). Auch dann, wenn<br />
die Sozialrechte bis heute lediglich in Absichtszielen, Regierungsprogrammen und national geregelten<br />
Sozialgesetzgebungen und nicht auf Verfassungsebene ihren Niederschlag fanden, müsste daran gearbeitet<br />
werden, die Vorstellung von Rechten in diese Politiken und Programme einzubringen. Denn die Befriedigung<br />
von menschlichen (Grund)Bedürfnissen "sollte nicht von der Gnade (mercy) sich wandelnder<br />
Regierungsspolitiken und Programme abhängen, sondern müsste als Anspruch (entitlements) definiert werden."<br />
(op.cit., p. 6, ferner Staub-Bernasconi 1995, 2002, Walz 1998, Ife 2001, Reichelt 2002).<br />
Dieser Fokus auf individuelle Ansprüche und Rechte rechtfertigt sich auch deshalb, weil aufgrund der<br />
Schwächung der Nationalstaaten u.a. als Wohlfahrtsstaaten die Bedeutung lokaler, inter- und transnationaler<br />
Entwicklungs- und Finanzierungs-Organisationen im privaten und öffentlichen Sektor zunehmen und ein<br />
Akteur-Mix in einem neuen "Dritten Sektor" entstehen wird, so dass es immer schwieriger werden dürfte, den<br />
Staat als alleinigen Einlöser von Sozialrechten zu identifizieren. (Kleger 1997, Yeates 2000). Umgekehrt sehen<br />
3
die Maastricht Guidelines on Violations of Economic, Social and Cultural Rights vor (Human Rights Quarterly,<br />
Vol. 20, 1998, pp. 691-705), dass der Staat die Pflicht hat, sicherzustellen, dass private Organisationen oder<br />
Individuen, miteingeschlossen transnationale Unternehmen, die ihrer Gerichtsbarkeit unterstehen, den<br />
Individuen die ökonomischen, sozialen und kulturellen Rechte nicht vorenthalten (zit. in: Eide et al. 2001, S.<br />
732). Auch wenn diese Richtlinien zur Zeit reichlich utopisch scheinen, sind sie doch anrufbar, was zu ihrer<br />
weiteren Verdeutlichung und ersten zögerlichen bis widerspenstigen Umsetzung führen könnte.<br />
2.3 Das Trippelmandat der Sozialen Arbeit als Disziplin und Profession<br />
Es ist üblich geworden, vom Doppelmandat der Sozialen Arbeit zu sprechen. Gemeint ist damit, dass<br />
Sozialarbeitende den Spagat zwischen zwei ungleichen Auftraggebern zu leisten haben: zum einen ist es die<br />
Klientel (Individuen, Familien, Gemeinwesen, Organisationen), deren vorgetragene oder erfasste Problematik<br />
auch unter Menschenrechtsgesichtspunkten betrachtet werden soll. Dabei ist nicht auszuschliessen, dass auch<br />
KlientInnen Sozialer Arbeit - vor allem im Zusammenhang mit sexistischen, rechtsextremistischen<br />
Orientierungen und Gewalt im sozialen Nahraum - Menschenrechte verletzen. Zum andern sind es die<br />
Einrichtungen des Sozialwesens. Dass diese Träger und ihre ausführenden Organe auch in krassester Weise<br />
Menschenrechte verletzen können, ist die bittere Lehre aus den Dokumenten über den aktiven wie passiv<br />
zulassenden Beitrag des Sozial-, Gesundheits- und Anstaltswesens während der nationalsozialistischen Diktatur<br />
(z.B. Otto/Sünker 1986). In schwächerer Form sind auch die heutigen AkteurInnen des Sozialwesens<br />
(Sozialdienste, Jugend- und Vormundschaftsämter, Strafvollzug, Erziehungsheime, Alters- und Pflegeheime,<br />
Ausschaffungsgefängnisse) vor Menschenrechtsverletzungen nicht gefeit.<br />
Soziale Arbeit wird aufzeigen müssen, dass das vielzitierte Doppelmandat nicht ausreicht, um<br />
menschenrechtlich unzumutbare Aufträge abzuwehren. Sie muss sich deshalb auf ein drittes, eigenbestimmtes<br />
Mandat berufen können - und dies unabhängig davon, ob sie sich explizit als (eine) Menschenrechtsprofession<br />
versteht oder nicht. Dieses dritte Mandat verschafft sie sich durch ihr Selbstverständnis als Profession, d.h.<br />
erstens aufgrund ihrer Wissenschaftsbasierung, die sich um theoretisch und empirisch begründete Problem- und<br />
Situationserfassung, -erklärung und -veränderung bemüht sowie zweitens aufgrund ihres internationalen wie<br />
nationalen Berufskodexes, der in neuerer Zeit explizit die Verpflichtung auf die Werte Freiheit und<br />
Gerechtigkeit sowie die Menschenrechte enthält (vgl. Abschnitt 1).<br />
Menschenrechtsbildung wird in diesem Zusammenhang auf ethisch-philosophische Begründungspositionen<br />
zurückgreifen müssen. Zum einen ginge es um die Kenntnis und Beurteilung verschiedener<br />
Begründungstraditionen, zum andern um die rechtsphilosophische wie fallbezogene Erhellung des<br />
Unterschiedes zwischen Legalität (positiviertes Recht) und Legitimität, zwischen Politik, die vom Staat, der<br />
Regierung und dem Politischen, das von den (Sozial)BürgerInnen ausgeht. Das heisst, dass zwischen<br />
Gesetzeskonformität als obrigkeitlicher Begründungsbasis und Legitimität als staatsunabhängige, empirische<br />
und ethische Begründungsbasis zu unterscheiden wäre. Das im ersten Abschnitt erwähnte UN-Manual Social<br />
Work and Human Rights enthält denn auch eine Passage, die festhält, dass sich die Profession Sozialer Arbeit<br />
im Zweifelsfall auf die Seite ihrer Klientel und mithin gegen die Organisation stellen muss (UNO-Manual, S. 5).<br />
Dass man sich dabei auch Ärger, Drohungen, Entlassungen und in vielen Staaten der Weltgesellschaft auch<br />
Verfolgung und Inhaftierung einhandeln kann, ist nicht von der Hand zu weisen. So gehört zur<br />
Menschenrechtsbildung auch die Frage, unter welchen Bedingungen Dissidenz und Zivilcourage möglich und<br />
gefordert sind.<br />
Menschenrechtsbildung muss auf diesem Hintergrund des weitern folgendes Veränderungs- bzw.<br />
Handlungswissen vermitteln: Zentral sind gewiss solide Rechtskenntnisse über Abkommen, Konventionen,<br />
Sanktionen und Durchsetzungsmöglichkeiten. Doch hat der vorherrschende Fokus auf den rechtlichen Aspekt<br />
der Menschenrechte sowohl das Denken wie die Praxis betreffend Menschenrechte unnötig eingeschränkt,<br />
ferner andere Professionen, AkteurInnen davon abgehalten, sich damit zu befassen und dadurch mit zur<br />
Schieflage zwischen Freiheits- und Sozialrechten beigetragen (Ife 2001, S. 31). Parallel zur Bildung über<br />
Rechtsaspekte braucht es Bildungsprogramme zur Entwicklung einer Menschenrechtskultur im Alltag, die sich<br />
an den menschlichen Bedürfnissen und einem würdevollen Leben orientiert. (Wronka 2002). Dazu gehören<br />
Methoden der Ressourcenerschliessung, Ermächtigung, Mediation und zwar unter expliziter Bezugnahme auf<br />
Menschenrechts- bzw. Gerechtigkeitskriterien, ferner der Bewustseinsbildung und Öffentlichkeitsarbeit,<br />
miteingeschlossen die Erstellung von Schatten- oder Parallelberichten zu Handen der UNO-<br />
Menschenrechtskommissionen, Monitoring, Lobbying und Programmevaluation.<br />
4. Der Masterstudiengang in Sozialer Arbeit<br />
4
Zur Konzeption eines Masterlehrgangs führte die Einsicht, dass im Hinblick auf die zunehmende<br />
Internationalisierung Sozialer Arbeit im Praxis- und Lehrbereich erhebliche Wissens-, Forschungs- und<br />
handlungstheoretische Defizite bestehen. Zudem wurde klar, dass sich "Menschenrechte" als höchst geeignetes<br />
Thema für das Erlernen und Einüben der heute allseits geforderten Transdisziplinarität und Interprofessionalität<br />
erweisen, da keine Einzeldisziplin sich hier als Leitdisziplin anbieten kann.<br />
Der Masterstudiengang verfolgt entsprechend ein kognitives Ziel der Disziplinentwicklung sowie ein<br />
praktisches Ziel der Professions- und innovativen Praxisentwicklung Sozialer Arbeit in staatlichen und privaten<br />
Organisationen sowie lebensweltlichen Kontexten.<br />
4.1 Die Lehrinhalte ergeben sich aus den obigen Ausführungen:<br />
Was die vulnerable groups und die damit verknüpften Probleme, Gesellschaftsstrukturen und<br />
Menschenrechtsverletzungen betrifft, so werden folgende Problembereiche berücksichtigt:<br />
- Armut/Erwerbslosigkeit und Reichtum<br />
- Krankheit/Behinderung<br />
- Migration, Kultur, Ethniziität<br />
- Geschlechterverhältnisse<br />
Zu den disziplinären Grundlagen gehören die Themenbereiche<br />
- Geschichte/Philosophie - Begründungen, Wirkungen, Akzeptanz und Ablehnung sowie Politik der<br />
Menschenrechte<br />
- Geschichte und Theorie der Sozialen Arbeit unter Menschenrechtsperspektive; Methoden der<br />
Menschenrechtsarbeit<br />
- Struktur und Dynamik der Weltgesellschaft als Rahmenbedingung sozialarbeiterischen Handelns und ihre<br />
Folgen für die Öffnung der Sozialen Arbeit auf die Weltgesellschaft hin<br />
- Die besondere Bedeutung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte für die Soziale Arbeit unter<br />
Berücksichtigung des komplexen Verhältnisses von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit<br />
- Allgemeine Ethik und Ethik professionellen Handelns<br />
- Das komplexe lokale, nationale und weltweite Handlungsfeld Sozialer Arbeit: Kooperation zwischen<br />
staatlichen, privaten Akteuren unter besonderer Berücksichtigung von Nichtregierungsorganisationen und<br />
sozialen Bewegungen<br />
Zu den professionsspezifischen Grundlagen gehören die Themen<br />
- Wissensorganisation unter grundlagen- und professionsspezifischen Aspekten der Menschenrechtsbildung<br />
- Projektarbeit in bestehenden und zu entwickelnden Praxisfeldern und als Innovation in der je eigenen<br />
Einrichtung<br />
4.2 Die Tätigkeitsfelder der AbsolventInnen<br />
Das Studium qualifiziert Personen mit einem ersten (Fach)Hochschulabschluss und mindestens zweijähriger<br />
Berufspraxis in Sozialer Arbeit für berufliche Tätigkeitsfelder, in denen im zweiten Studienjahr ein Projekt<br />
konzpiert und durchgeführt wird:<br />
- Soziale Arbeit in lokalen, nationalen und internationalen Organisationen, die einen Beitrag an die<br />
Verwirklichung von Menschenrechten leisten (daraus ergaben sich lokale Projekte beispielsweise zur<br />
Beschaffung von Teilzeitausbildungen für junge alleinerziehende, sozialhilfeabhängige Frauen, ferner zum<br />
Thema Sozialrechte für Behinderte im nationalen und internationalen Kontext, für die Einlösung von<br />
Kinderrechten; des weitern ein Gemeinwesenprojekt zu Minderheitenrechten in Ex-Jugoslawien als<br />
Postkonflikt-Gesellschaft);<br />
- Planung und Durchführung von Lehrveranstaltungen in der Aus- und Weiterbildung u.a. für Soziale Berufe<br />
(an drei Fachhochschulen konnte eine Sequenz über Menschenrechte konzipiert werden; an einer vierten<br />
entstand ein zweitägiges Symposium zum Thema; im Rahmen des Deutschen Institutes für Menschenrechte<br />
Berlin wurde ein Seminar für PraktikerInnen der Sozialen Arbeit durchgeführt; es entstand eine bundesweite<br />
Fachtagung zur Mädchenarbeit & -politik);<br />
- Innovationen bzw. innovative Projekte im Rahmen des aktuellen Anstellungsträgers (in einer Einrichtung wird<br />
die Qualitätssicherung unter Menschenrechtsaspekten konzipiert und erweitert);<br />
5
- Je nach erworbener Qualifikation: Forschung und Evaluation in verschiedenen Praxisfeldern (hierzu entstand<br />
ein Forschungsprojekt, das die Biographien von Mädchen und jungen Frauen türkischer Herkunft analysierte,<br />
die Aufnahme in einer Zufluchts- und Beratungsstelle fanden).<br />
Das Studium schliesst mit der Magisterarbeit ab, die als weitere Bearbeitung der Projektarbeit gedacht ist und<br />
auch zur Promotion führen kann. Der Studiengang kann im März 2004 zum dritten Mal beginnen, was unter<br />
den derzeitigen schwierigen (sozial)politischen Randbedingungen nicht selbstverständlich ist, verspricht er doch<br />
beispielsweise keine strukturierte, sichere Karriere. Die Praxisfelder müssen vielmehr mit viel Fantasie,<br />
professionellem wie freiwilligem Engagement und nicht zuletzt auch Zivilcourage entwickelt werden.<br />
(*) Für weitere Auskünfte über den Masterlehrgang gilt folgende e-mail-Adresse: zpsa@khsb-berlin.de und<br />
www.zpsa.de.<br />
Literatur<br />
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Buchgesellschaft, Darmstadt.<br />
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Eide, Asbjorn/Rosas, Allen (2001): Economic, Social and Cultural Rights as Human Rights, In: Eide, Asbjorn/Krause,<br />
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6
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Arbeit zwischen Politik und Wissenschaft, LIT, Münster:17-54.<br />
Staub-Bernasconi, Silvia (2003): Soziale Arbeit auf dem Weg zur Weltgesellschaft - Implikationen für die<br />
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