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Jack Nasher - Staatstheorie Karl Poppers

Prof. Dr. Jack Nasher ist Verhandlungsexperte und erfolgreicher Bestseller Autor. Seine Werke wurden unter anderem in den USA, Russland, Indien und China veröffentlicht. Als Gründer und Leiter des NASHER Verhandlungsinstituts schult Prof. Dr. Jack Nasher Unternehmen bei Verhandlungsfragen.

Prof. Dr. Jack Nasher ist Verhandlungsexperte und erfolgreicher Bestseller Autor. Seine Werke wurden unter anderem in den USA, Russland, Indien und China veröffentlicht. Als Gründer und Leiter des NASHER Verhandlungsinstituts schult Prof. Dr. Jack Nasher Unternehmen bei Verhandlungsfragen.

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DIE OFFENE GESELLSCHAFT UND IHRE FREUNDE

DIE STAATSTHEORIE KARL R. POPPERS

LORD JACK G.O. NASHER-AWAKEMIAN, MA (TREVERIS), MSC (OXON.)

SIR KARL R. POPPER INSTITUT, UNIVERSITÄT WIEN


DIE REZEPTION POPPERS

Sir Karl Raimund Popper gilt als einer der prägendsten politischen

Philosophen seiner Epoche. Das Time Magazin etwa zählt Die offene

Gesellschaft und ihre Feinde zu den 100 einflussreichsten Büchern, die

nach dem zweiten Weltkrieg erschienen sind, 1 ein Film über Popper

beschreibt es als „ein Buch, das wie kein anderes in unserem Jahrhundert

Staatsmänner der westlichen Welt beeinflußt hat.“ 2

In der Tat beriefen sich zahlreiche Politiker, darunter einige

Staatsoberhäupter, immer wieder auf die politischen Gedanken Poppers

und suchten ihn gar persönlich auf, so resümiert John Watkins in seinem

Nachruf auf Popper: 3 „[…] unter ihnen der damalige deutsche Präsident

(Richard von Weizsäcker 4 ), der Kaiser von Japan, der Dalai Lama,

Helmut Schmidt (der ihn einige Male besucht hat), Helmut Kohl (der ihn

öffentlich als einen Meister der offenen Gesellschaft würdigte 5 ), Mario

Soares [der Ex-Präsident Portugals und jetziges Mitglied des

Europäischen Parlaments] und – vor kurzem – Václav Havel.“ Margret

1

„TLS, The Times Literary Supplement“ vom 6. Oktober 1995, S. 39. Poppers Logik der Forschung, so ist dort zu

lesen, wäre ebenfalls in dieser Liste vertreten, wäre die deutsche Erstausgabe nicht bereits vor dem Krieg

herausgekommen.

2

Zimmermann 1989.

3

Watkins 1994, S. 645; eigene Übersetzung aus dem Englischen. Der inzwischen verstorbene John Watkins war

Poppers Nachfolger an der London School of Economics and Political Science (LSE).

4

Von Weizsäcker suchte Popper gar während eines Staatsbesuches in Großbritannien in seinem Haus in Kenley auf.

5

„Champion of the open society”. Radnitzky bemerkt, daß diese Bezeichnung Kohls „[…] fast wie ein understatement“

klingt, da Popper der nicht nur ein Verfechter, sondern der Schöpfer der Idee der offenen Gesellschaft ist (vgl.

Radnitzky 1995, S. 32).

Kohl bezieht sich in einer Schrift direkt auf den kritischen Rationalismus. Dettling bemerkt aber ganz richtig, daß sich

außer einem vagen Bekenntnis zum kritischen Rationalismus und dem Bekenntnis zu „Offenheit“ und „Rationalität“

kaum etwas von Substanz findet (S. 43; vgl. auch Spinner 1978, S. 9).

Spinner schreibt über Kohls ‚Bekenntnis’: „[…] ein großes Ja im Grundsätzlichen, Programmatischen,

Deklamatorischen und politisch weniger Verbindlichen, relativiert durch viele kleine Neins, wenn sich der kritische

Impetus des Popperschen Urchristentums in konkrete Gesellschaftskritik niederschlägt und es für den Politiker zum

Schwur kommt (insbesondere im Zusammenhang mit jenen Diagnosen und Forderungen, die sich aus dem radikalen

politischen Liberalismus Poppers ergeben)“ (A.a.O., S. 10).

2


Thatcher bezeichnete Popper als ihren „Guru“ 6 , auch Spaniens König

Juan Carlos lud ihn zu einer Audienz. 7

Der deutsche Bankier Alfred Herrhausen glorifizierte die Gedanken

Poppers, 8 der ehemalige Vorstandsvorsitzende von Daimler-Benz,

Edzard Reuter, gab an, seinen Konzern gemäß Popper’schen Grundsätzen

geleitet zu haben 9 .

Der Maori-Häuptling Te Maire Tau reformierte

seinen Stamm nach Poppers Ideen, 10 der Multimilliardär und Philanthrop

George Soros entwickelte seine Börsentheorie aus der

Wissenschaftsphilosophie Poppers 11 und war dermaßen von dessen

Staatstheorie beeindruckt, 12 daß er eine der mittlerweile weltgrößten

privaten Stiftungen gründete, mit dem Ziel, die Ideen seines geistigen

Mentors zu fördern – sie trägt den Namen Open Society Institute. Davon

inspiriert, gründete der russische Oligarch Michail Khodorkovsky die

Open Russia Foundation.

In zahlreichen ehemals totalitär regierten Ländern, von Spanien, über

Portugal bis hin zu Osteuropa, der Sowjetunion und China kursierten

Poppers Gedanken im Untergrund und festigten den Widerstand

intellektuell. 13 Kaum ein Philosoph dieses Zeitalters wurde derart mit

6

Sie bekennt sie sich als Schülerin Poppers und Friedrich von Hayeks (Schulz 2002).

7

Popper sagte die Audienz gar ab, so der noch immer enttäuschte Gérard Radnitzky (er sollte nämlich ursprünglich

dabei sein) in einem persönlichen Gespräch, weil der Wahlengländer Popper wegen Britisch-Spanischen Streitigkeiten

um Gibraltar ein Zeichen setzen wollte.

8

Edzard Reuter, ein Freund Herrhausens, schreibt dazu: „Die Philosophie Karl Poppers war das Elixier, dem er

manches Mal mit einer Einseitigkeit huldigte, die dich wundern machte, ob er ihre unverzichtbare Kehrseite, die

Bereitschaft, ständig neu in Frage zu stellen, was gestern als endgültig erwiesen schien, mit gleicher Intensität begriffen

hatte.“ (Reuter 1998, S. 313).

9

Vgl. a.a.O., S. 318 f..

10

Vgl. Tau 2001, S. 131-152; vgl. zu dieser Diskussion auch Gellner 1964, S. 84 f..

11

Diese Theorie erklärt Soros unter anderem in seinem Werk mit dem bezeichnenden Titel: Open Society. Reforming

Global Capitalism (2000); S. 58-91.

12

Soros studierte zwei Jahre an der LSE; er hatte allerdings nur zwei Zusammenkünfte mit Popper, sieht sein Denken

dennoch als stark von ihm beeinflusst: die Lektüre der Offenen Gesellschaft, so sagt er, habe ihn „[…] mit der Kraft der

Offenbarung“ getroffen. (Soros 1995, S. 33; eigene Übersetzung aus dem Englischen).

13

Vgl. Jarvie und Pralong 1999, S. 8.

3


Ehrungen ausgezeichnet: 14 Popper ist Träger des Sonning Preises 1973,

de Tocqueville Preises 1984, Catalunya Preises 1989, Kyoto Preises

1992, der Goethe-Medaille 1992 und der Otto Hahn Friedensmedaille

1993.

Im Jahr 1965 wurde er von der britischen Königin in den Adelsstand

erhoben, 1982 zum Companion of Honour 15 ernannt. Wie kaum jemand

zuvor, war Popper zugleich Fellow des Royal Institute und der British

Academy. Zudem bekam er ein Dutzend Ehrendoktorate verliehen, unter

anderem von den Universitäten Oxford, Cambridge und Wien. Seine

Arbeit wurde in mehr als vierzig Sprachen übersetzt, darunter ins

Mongolische.

Es ist insofern nicht verwunderlich, wenn Edmonds und Eidinow

schreiben, daß „Popper die praktische Welt […]“ beeinflusst hat. 16 Es

überrascht mithin ebenso wenig, wenn Popper als „Hofphilosoph der

westlichen Demokratie“ bezeichnet wird. 17 Poppers Wirkung auf die

akademische Philosophie ist ebenfalls beträchtlich. Eine statistische

Studie über die Erwähnung Poppers in den Werken anderer Philosophen

brachte hervor, daß auf ihn in thematisch entsprechenden Werken öfter

als auf jeden anderen Philosophen, einschließlich Ludwig Wittgenstein

und Thomas Kuhn, Bezug genommen wird. 18

In der vorliegenden Arbeit ist Poppers politische Philosophie Gegenstand

der Betrachtung; es sei aber erwähnt, daß seine Wissenschaftstheorie von

14

Wie es die Financial Times vom 26. November ausdrückt: „allerorts gefeiert“ (Radnitzky a.a.O., S. 21).

15

Von allen Ehrungen schätzte Popper diese am höchsten (vgl. a.a.O., S. 31).

16

Edmonds und Eidinow a.a.O., S. 193.

17

Brummer 1998, S. 21.

18

Hedström et al. (1998) untersuchten dazu die fünf führenden Soziologiezeitschriften in den USA, Großbritannien,

Frankreich, Italien und Deutschland.

4


mindestens der gleichen Bedeutung ist, 19 zahlreiche Nobelpreisträger

zählten sich zu seinen Anhängern: von Konrad Lorenz (Ethnologie) über

Sir John Eccles (Neurologie), Friedrich von Hayek (Ökonomie), Erwin

Schrödinger (Physik), Jacques Monod (Biochemie) bishin zu Sir Peter

Medawar (Immunologie), der Popper als den „größten

Wissenschaftstheoretiker“ bezeichnete, „der je gelebt hat.“ 20

ZIEL

Diese Publikation soll die positive Staatstheorie Poppers lückenlos

darstellen. In jedem Kapitel werden zwei Themengebiete betrachtet, mit

denen sich die Politiker auseinandergesetzt haben. Es handelt sich dabei

um die vier großen Themen der politischen Philosophie Poppers: der

Stückwerk-Sozialtechnik, dem Demokratieverständnis, der Kritik am

Utopismus und der Kritik am Tribalismus.

Diese Wiedergaben, insgesamt vier an der Zahl, erheben den Anspruch,

einen umfassenden Überblick über die entsprechenden Themen von

Poppers Staatstheorie zu geben. Damit wird dem Umstand Rechnung

getragen, daß Popper selbst auf eine solche Veranschaulichung verzichtet

hat, in seinem gesamten Werk sucht man eine zusammenhängende und

klare Darstellung seiner politischen Philosophie vergeblich. Um den

19

Radnitzky, Mitherausgeber des Handlexikons zur Wissenschaftstheorie, hält Poppers Wissenschaftstheorie gar für

weitaus bedeutender als seine politische Philosophie: „Meine eigene Stellungnahme ist die, daß Popper der größte

Wissenschaftstheoretiker des Jahrhunderts ist, vermutlich der größte bisher überhaupt […]. Das ist meines Erachtens

sein großer Beitrag zur Entwicklung unseres Wissens.“ (Radnitzky a.a.O, S. 32).

20

Zitiert nach Edmonds und Eidinow a.a.O., S. 193; vgl. auch Radnitzky a.a.O, S. 30. Bryan Magee, Politiker und

Philosoph, stimmt explizit mit Medawar überein (vgl. Magee 1998, S. 243).

5


‚wahren’ Popper möglichst unverfälscht darzustellen, werden Poppers

eigene Worte verwendet, soweit es geht. 21

POPPERS STÜCKWERK-SOZIALTECHNIK

Im Folgenden soll – wie in der Einleitung angekündigt – eine

übersichtliche und genaue Darstellung Poppers Theorie der Stückwerk-

Sozialtechnik erfolgen, wie sie in keinem seiner Werke zu finden ist.

aa) Einführung

Bei der Stückwerk-Sozialtechnik 22 , im Englischen piecemeal social

engineering, handelt es sich um die wohl wichtigste Theorie in Poppers

politischer Philosophie. Bezeichnenderweise handelt es sich gerade bei

diesen Gedanken um die Übertragung von Kernpunkten Poppers

Wissenschaftstheorie auf die Sozialwissenschaften. Es ist wohl zu einem

großen Teil ebendiese verblüffende Stringenz und ihr weitgespannter

Anwendungsbereich, die die Lehre des kritischen Rationalismus zu einer

universellen Methodik gemacht haben.

21

Auf den Konjunktiv wird bei der Darstellung der Theorien aus Gründen der besseren Lesbarkeit verzichtet.

22

Diese Wortschöpfung ist nicht von Karl Popper. Er selbst ging einige Jahrzehnte lang davon aus, daß der Terminus

‚Sozialtechnik’ (social engineering) zuerst von Roscoe Pound in seinem Werk Introduction to the Philosophy of Law

[1922] gebraucht wurde. Bryan Magee hat darauf hingewiesen, daß Beatrice und Sidney Webb den Ausdruck wohl

schon vor 1922 verwendeten (vgl. OG I, S. 254).

6


bb) Sozialtechnik – die Einheit der Methode

Ausgangspunkt für Poppers Entwicklung der Stückwerk-Sozialtechnik ist

die Betrachtung der Sozialwissenschaften als eine Technologie. Diese

Sprache wählt Popper, um „[…] bei der Diskussion der Methodenfragen

den Nachdruck hauptsächlich auf das Gewinnen praktischer,

institutioneller Erfahrung […]“ zu legen. 23

Poppers Vorbild für eine fruchtbare Methodik in den

Sozialwissenschaften sind die Naturwissenschaften. Er plädiert dafür,

ihre Methoden auf die Sozialwissenschaften zu übertragen, weil er die

gewaltigen naturwissenschaftlichen Fortschritte in ihrer Methodik

begründet sieht. Die Naturwissenschaftler interessieren sich kaum für

Fragen wie „Was ist das Licht?“ oder „Was ist das Leben?“. 24 Es war laut

Popper Aristoteles, der jene Lehre begründete, nach der „[ …] die

wissenschaftliche Forschung zum Wesen der Dinge vordringen muss, um

sie zu erklären […]. Was ist der Staat? Was ist ein Bürger? (Dieses

Problem betrachtet Aristoteles in seiner Politik als grundlegend).“ 25

Dieser von Aristoteles etablierte und von Popper benannte Essentialismus

ist noch immer vorherrschend in den Sozialwissenschaften, was Popper

als Grund für seine relative Rückständigkeit sieht. Derlei Fragestellungen

sind für ihn fruchtlos, der Sozialwissenschaftler soll sich daher am

Nominalismus des Naturwissenschaftlers orientieren. Der Nominalismus

setzt sich nicht mit dem Ursprung der Dinge, sondern mit ihrem

Verhalten auseinander. 26

23

OG I, S. 254.

24

Vgl. Elend, S. 23.

25

A.a.O., S. 24; Hervorhebung im Original.

26

A.a.O., S. 23.

7


Daß die beiden Disziplinen so unterschiedlich arbeiten, ist laut Popper

unbegründet, da die Naturwissenschaften „[…] den Sozialwissenschaften

weitaus ähnlicher sind, als allgemein angenommen wird.“ 27 Popper geht

nicht davon aus, daß wir in den Sozialwissenschaften zu Sicherheiten

gelangen können, wie wir sie angeblich in den Naturwissenschaften

erreicht haben. Tatsächlich, wie die Beschäftigung mit seiner

Epistemologie gezeigt hat, ist unser Wissen niemals sicher – in keiner der

beiden Disziplinen. Hier liegt die fundamentale Ähnlichkeit aller

Wissenschaften, nämlich daß wir lediglich über Vermutungswissen

verfügen. 28 Mithin spricht Popper auch vom Szientismus, der Einheit der

Methode. 29

Wie die Methodik der Naturwissenschaften auf die Sozialwissenschaften

übertragen werden kann, beschreibt Popper anhand seiner

Sozialtechnologie. Der Sozialtechniker, also der laut Popper effektive

Sozialwissenschaftler, ist „[…] am Ursprung der Institutionen, an den

ursprünglichen Absichten ihrer Gründer kaum interessiert […].“ 30 Er

fragt also nicht „Wozu sind Institutionen ursprünglich geplant?“, oder,

„Was ist eine Institution eigentlich?“. Dies sind für Popper Exempel von

Fragestellungen irregeführter Philosophen und Sozialwissenschaftler im

Allgemeinen. 31 Der Sozialtechniker beschäftigt sich nicht mit solch

27

OG I, S. 364.

28

Vgl. Elend, S. 102 ff..

29

So schreibt Popper: „Wenn wir aber unter ‚Szientismus’ die Ansicht verstehen sollen, daß die Methoden der

Sozialwissenschaften in beträchtlichem Ausmaß dieselben sind wie die der Naturwissenschaften, dann müsste ich mich

wohl der Anhängerschaft des ‚Szientismus’ schuldig bekennen.“ (OG I, S. 364). An anderer Stelle bemerkt er, daß es

eine „[…] fundamentale Ähnlichkeit zwischen den Naturwissenschaften und den Sozialwissenschaften […]“ gibt.

(A.a.O., S. 50).

30

OG I, S. 30.

31

Sintemal solche Fragen oft nicht nur ins Leere laufen, sondern von der falschen Annahme ausgehen, daß jede

Institution einen eigentlichen Sinn hat: „Der Spezialist der Stückwerk-Technologie und Stückwerk-Technik weiß, daß

nur eine Minderheit sozialer Institutionen bewusst geplant wird, während die große Mehrzahl als ungeplantes Ergebnis

menschlichen Handelns einfach ‚gewachsen’ ist.“ (Elend, S. 52; Hervorhebung im Original).

8


vergeblichen Fragen, sondern: „Sein Problem ist vielmehr dieses:

Angenommen, unsere Ziele sind so und so beschaffen; ist dann diese

Institution wohl geplant und organisiert, um ihnen zu dienen? […]

Allgemeiner können wir sagen, daß der Ingenieur oder der Techniker

Institutionen in rationaler Weise als Mittel betrachtet, die bestimmten

Zwecken dienen, und daß er sie als Techniker völlig gemäß ihrer

Eignung, Wirksamkeit, Einfachheit usf. beurteilt.“ 32

Popper spricht sich also dafür aus, Fragen nach dem Wesen

gesellschaftlicher Begriffe außer Acht zu lassen und sich auf ihre

Anwendungen zu konzentrieren, ganz im Geiste der

Naturwissenschaften: „So wie die Hauptaufgabe des naturbearbeitenden

Ingenieurs darin besteht, daß er Maschinen konstruiert, umbaut und in

Gang hält, so ist es die Aufgabe des Sozialingenieurs, der die Stückwerk-

Technik beherrscht, soziale Institutionen zu entwerfen, umzugestalten

und die schon bestehenden in Funktion zu erhalten.“ 33

cc) Stückwerk

Poppers Sozialtechnologie ist demnach geprägt von einem Streben nach

Bewegung und ständiger Veränderung. Es bleibt offen, wie dieser

Aktionismus vonstatten gehen soll. Popper fügt daher dem Terminus

‚Sozialtechnologie’ die methodologische Präzisierung stückweise

beziehungsweise Stückwerk hinzu. Auch sie ist im Wesentlichen Poppers

32

OG I, S. 30 f..

33

Elend a.a.O..

9


Theorie der Naturwissenschaften entlehnt: „Die Naturwissenschaften

sowie die Sozialwissenschaften gehen immer von Problemen aus; davon,

daß etwas unsere Verwunderung erregt, wie die griechischen Philosophen

sagten. Zur Lösung dieser Probleme verwenden die Wissenschaften

grundsätzlich dieselbe Methode, die der gesunde Menschenverstand

verwendet: die Methode von Versuch und Irrtum. Genauer ausgedrückt:

Es ist die Methode, versuchsweise Lösungen unseres Problems

aufzustellen und dann die falschen Lösungen als irrtümlich zu

eliminieren. Diese Methode setzt voraus, daß wir mit einer Vielzahl von

versuchsweisen Lösungen arbeiten. Eine Lösung nach der anderen wird

ausprobiert und eliminiert.“ 34

Hierbei handelt es sich freilich um den Nukleus der Popper’schen

Philosophie, um die deduktive Methode. Diesen Ansatz, von Popper

zuerst entwickelt in seiner Logik der Forschung, bezieht er nun explizit

auf die Sozialwissenschaften: „Der einzige Weg, der den

Sozialwissenschaften offen steht, besteht darin, alles verbale Feuerwerk

zu vergessen und die praktischen Probleme unserer Zeit mit Hilfe jener

theoretischen Methoden zu behandeln, die im Grunde allen

Wissenschaften gemeinsam sind: mit Hilfe der Methode von Versuch

und Irrtum, der Methode des Auffindens von Hypothesen, die sich

praktisch überprüfen lassen, und mit Hilfe ihrer praktischen Überprüfung.

Eine Sozialtechnik ist vonnöten, deren Resultate durch schrittweise

Lösungsversuche überprüft werden können.“ 35 Popper ist davon

34

Alles Leben, S. 15; Hervorhebung im Original.

35

OG II, S. 259; Hervorhebung im Original.

10


überzeugt, daß wir nur auf diese Weise „mit dem Aufbau einer

empirischen Sozialwissenschaft beginnen können.“ 36

Dadurch, daß der Sozialtechnologe nur in kleinen Schritten vorgeht, ist

stetige Verbesserung überhaupt erst möglich. Denn er weiß, daß es bei

jedem Eingriff zu „unweigerlich auftretenden unerwünschten

Nebenwirkungen“ 37 kommt. Aus diesem Grunde wird er „[…] sich auch

davor hüten, Reformen von solcher Komplexität und Tragweite zu

unternehmen, daß es ihm unmöglich wird, Ursachen und Wirkungen zu

entwirren und zu wissen, was er eigentlich tut.“ 38 Stets muss er die

Möglichkeit haben, Veränderungen, die sich als falsch herausgestellt

haben, zu verbessern oder rückgängig zu machen. Bei weitreichenden

Reformen ist es nicht möglich, die Ursachen für die Konsequenzen zu

entwirren, bei schrittweiser Veränderung schon, denn „nur so können wir

Fehler machen und aus unseren Fehlern lernen, ohne Rückschläge von

einer Schwere zu riskieren, die den Willen zu zukünftigen Reformen

gefährden muß.“ 39

dd) Kleine Schritte, große Wirkung

Popper ist sich bewusst, daß die Forderung nach kleinen Schritten Vielen

als zu bescheiden gilt: „Ein solches ‚Herumbasteln’ entspricht nicht dem

politischen Temperament vieler ‚Aktivisten’.“ 40

36

OG I, S. 372.

37

Elend, S. 54..

38

Ebd..

39

OG I, S. 194.

40

Elend a.a.O..

11


Es wäre aber verfehlt anzunehmen, daß die Stückwerk-Sozialtechnik zu

einer konservativen oder gar reaktionären Politik führt. Der Stückwerk-

Sozialtechnologe darf gewiss große Pläne haben, nur muss er sich im

Klaren darüber sein, daß solch grandiose Ziele nicht unmittelbar zu

verwirklichen sind: „[…] er mag hoffen, daß die Menschheit eines Tages

einen idealen Staat verwirklichen und Glück und Vollkommenheit auf

Erden erreichen wird. Aber er wird auf jeden Fall einsehen, daß sich die

Vollkommenheit, wenn sie sich überhaupt erreichen lässt, in weiter Ferne

befindet […].“ 41 Popper geht davon aus, daß die Stückwerk-

Sozialtechnik sogar so weit reichende Reformen durchführen kann, wie

etwa die Änderung der ‚Klassenstruktur der Gesellschaft’. 42

Der Stückwerk-Sozialtechnologe wird vielleicht ein großartiges Ziel

haben, „[…] aber er ist nicht dafür, daß die Gesellschaft als Ganzes neu

geplant wird. Was immer seine Ziele sein mögen, er sucht sie

schrittweise durch kleine Eingriffe zu erreichen, die sich dauernd

verbessern lassen.“ 43 Sicherlich sollten wir auch stets versuchen, „die

Folgen unserer Handlungen vorauszusehen.“ 44 Allerdings müssen wir

dabei immer überprüfen, „ob die Handlungen nicht Folgen haben, die

ganz gegen unsere Intentionen gehen.“ 45

Popper ist überzeugt davon, daß „[…] Methoden, die sich bewusst als

‚Stückwerk’ und ‚Herumbasteln’ verstehen, in Verbindung mit kritischer

41

OG I, S. 188.

42

Vgl. Elend, S. 55.

43

A.a.O., S. 53.

44

Popper in: Zimmermann a.a.O..

45

Ebd..

12


Analyse das beste Mittel zur Erlangung praktischer Resultate in den

Sozial- wie in den Naturwissenschaften sind.“ 46

Dennoch besteht ein sehr großer Unterschied zur utopischen

Sozialtechnik, auch wenn das Ziel dasselbe sein kann. Der utopische

Sozialtechnologe verlangt, daß das Ziel seiner politischen Handlungen

„[…] zumindest in rohen Umrissen bestimmt ist, wenn wir einen Bauplan

der von uns angestrebten Gesellschaftsordnung besitzen, nur dann

können wir beginnen, uns die besten Mittel und Wege zu ihrer

Verwirklichung zu überlegen und einen Plan für praktisches Handeln

aufzustellen. […].“ 47 Die Techniker der kleinen Schritte allerdings „[…]

planen nicht für die gesamte Gesellschaft, und sie können auch nicht

wissen, ob man ihre Pläne jemals verwirklichen wird; und es ist wirklich

so, daß Pläne nur höchst selten ohne große Modifikationen verwirklicht

werden, und dies teils, weil unsere Erfahrung während der Zeit der

Konstruktion zunimmt, und teils, weil es notwendig ist, Kompromisse zu

schließen.“ 48

Der Unterschied zwischen der utopischen und der stückweisen

Sozialtechnik liegt in der Methodik. Auch wenn beide möglicherweise

das gleiche Ziel verfolgen – die Wege unterscheiden sich voneinander

fundamental. Daher ist die Unterscheidung zwischen diesen beiden

Sozialtechniken „[…] weit davon entfernt, bloß verbal zu sein: sie ist in

der Tat von größter Bedeutung. Es ist der Unterschied zwischen einer

vernünftigen Methode zur Verbesserung des Geschicks der Menschen

46

Elend, S. 47.

47

OG I, S. 188.

48

OG II, S. 169.

13


und einer Methode, die, wenn sie wirklich ausprobiert wird, leicht zu

einer unerträglichen Zunahme menschlichen Leidens führen kann.“ 49

ee) Schrittweise Beseitigung der Übel – Poppers negativer Utilitarismus

Mit der Reduzierung der Wichtigkeit großartiger politischer Ziele drängt

sich die Frage auf, was dann die ummittelbaren Ziele der jeweiligen

Schritte sein sollen.

Laut Popper soll der Sozialtechnologe „[…] nicht dem höchsten Gut

nachspüren und sich für seine Verwirklichung einsetzen.“ 50 Stattdessen

soll er die Übel ausfindig machen und danach streben, Schritt für Schritt

das Leid der Bürger zu mindern. Für Popper ist es ersichtlich, „ […] daß

jede Generation von Menschen, also auch die jetzt lebende, ihre

berechtigen Ansprüche hat; vielleicht nicht so sehr einen Anspruch auf

Glück – denn es gibt keine institutionellen Mittel, um einen Menschen

glücklich zu machen – aber doch einen Anspruch, nicht unglücklich

gemacht zu werden, soweit das überhaupt vermeidbar ist.“ 51

Popper ist davon überzeugt, daß Menschen mit politischen Mitteln nicht

glücklich gemacht werden können. Derartige Ansätze führen in Richtung

Zwangsbeglückung und Utopie. 52 Ihre Vertreter plädieren nur allzu oft

für die Liebe zu allen Menschen. „Einen Menschen lieben“, so schreibt

49

OG I, S. 188 f..

50

A.a.O., S. 188.

51

Ebd..

52

So schreibt Kadlec: „[…] scheint ihm [Popper] das Prinzip der Vermehrung von Glückseligkeit die Tendenz zu

haben, zu einer sehr gefährlichen Art von wohlwollender Diktatur zu führen. Leiden und Glückseligkeit dürfen vom

moralischen Standpunkt nicht als symmetrisch behandelt werden; die Forderung nach Glückseligkeit ist auf jeden Fall

viel weniger dringlich als die Hilfe für die Leidenden und der Versuch, das Leiden zu verhindern. Die letzte Aufgabe

hat weniger mit ‚Geschmacksfragen’ zu tun, die erste viel […].“ (Kadlec 2002, S. 1 f.).

14


Popper „bedeutet, daß man ihn glücklich machen will. […] Aber von

allen politischen Idealen ist der Wunsch, die Menschen glücklich zu

machen, vielleicht der gefährlichste.“ Und ein solcher Wunsch, so fährt

Popper fort, „führt unvermeidlich zu dem Versuch, anderen Menschen

unsere Ordnung ‚höherer’ Werte aufzuzwingen, um ihnen so die Einsicht

in Dinge zu verschaffen, die uns für ihr Glück am wichtigsten zu sein

scheinen; also gleichsam zu dem Versuch, ihre Seelen zu retten.“ 53 Jeder

Mensch hat seine eigene Vorstellung vom Glück. Popper fügt hinzu, daß

es aber genau dieser Wunsch nach einer ‚allgemeinen’, für alle geltenden

Glückseligkeit ist, der zum Utopismus führt. 54 „Und zweifellos“, räumt

Popper ein, „wäre eine Welt, in der wir uns alle lieben, der Himmel auf

Erden. Aber […] der Versuch, den Himmel auf Erden einzurichten,

erzeugt stets die Hölle. Dieser Versuch führt zu Intoleranz, zu religiösen

Kriegen und zur Rettung der Seelen durch die Inquisition.“ 55

Laut Popper ist es nicht unsere sittliche Pflicht, andere glücklich zu

machen, „[…] denn dies hängt nicht von uns ab und bedeutet außerdem

nur zu oft einen Einbruch in die private Sphäre jener Menschen, gegen

die wir so freundliche Absichten hegen.“ 56 Dagegen ist es für Popper

unsere Pflicht, „denen zu helfen, die unsere Hilfe brauchen […] Die

politische Forderung nach schrittweise aufbauenden Methoden (im

Gegensatz zu utopischen) entspricht der Entscheidung, daß der Kampf

53

OG II, S. 277.

54

Bereits Hume erkannte die Asymmetrie von Glück und Elend, so schreibt er in seinen 1779 erschienen Dialogues

Concerning Natural Religion: „Alle Güter des Lebens vereint machen nicht einen gar glücklichen Mann; aber alle Übel

vereint machen wohl einen ganz elenden […]. Wenn ein Fremder plötzlich in diese Welt hinein versetzt würde, so

würde ich ihm, als ein Beispiel ihrer Übel, ein Krankenhaus voll von Kranken, ein Gefängnis gefüllt mir Verbrechern

und Schuldnern, ein Schlachtfeld übersät mit Leichnamen, eine Flotte versinkend im Ozean, ein Volk daniederliegend

unter Tyrannei, Hungersnot oder Pestilenz zeigen. Um die heitere Seite des Lebens hervorzukehren und ihm einen

Begriff von seiner Lust zu geben, wohin sollte ich ihn führen? Auf einen Ball, in eine Oper, an einen Hof? Er möchte

wohl meinen, daß ich ihm bloß eine andere Art von Elend und Sorge zeige.“ (Hume 1993, S. 83).

55

Ebd..

56

Ebd..

15


gegen das Leiden Pflicht ist, während das Recht, sich um das Glück

anderer zu sorgen, als ein Privileg betrachtet werden muß, das auf den

engen Kreis ihrer Freunde beschränkt bleibt […]. Somit können wir

sagen: Helft euren Feinden; steht denen bei, die sich in Not befinden,

auch wenn sie euch hassen; aber liebt nur eure Freunde!“ 57

Mithin lehnt Popper das Streben nach der abstrakten Idee von kollektiver

Glückseligkeit strikt ab, stattdessen plädiert er für das konkrete Pendant:

die Verminderung von Leid, also einem negativen Utilitarismus: „Den

Leidenden steht ein Recht auf alle nur erdenkliche Hilfe zu.

Dementsprechend wird sich der Anwalt der Sozialtechnik der kleinen

Schritte nach den größten und dringlichsten Übeln der Gesellschaft

umsehen, und er wird versuchen, sie zu beseitigen […].“ 58

Abgesehen von der sittlichen Pflicht, die das Vermindern von Leid

gebietet, sprechen auch praktische Gründe dafür: „Daß es soziale Übel

gibt, das heißt soziale Zustände, unter denen viele Menschen zu leiden

haben, ist etwas, was sich verhältnismäßig leicht feststellen lässt: die, die

leiden können aus eigener Erfahrung urteilen, und die andern können

kaum sagen, daß sie gerne mit jenen tauschen würden.“ 59 Dagegen, so

Popper, ist es unendlich viel schwieriger, „[…] über einen Idealstaat

vernünftig zu diskutieren […]. Das soziale Leben ist so kompliziert, daß

wahrscheinlich niemand fähig ist, den Wert eines Bauplans für soziale

Maßnahmen im großen Maßstab richtig einzusetzen; ob er praktisch ist;

ob er zu einer wirklichen Verbesserung führen kann; welche Leiden aller

Wahrscheinlichkeit nach mit ihm verbunden sein werden und welches die

57

A.a.O., S. 278.

58

OG I, S. 188.

59

A.a.O., S. 189.

16


Mittel zu seiner Verwirklichung sein könnten. Im Gegensatz dazu sind

Pläne für einen schrittweisen Umbau der Gesellschaftsordnung relativ

einfach zu beurteilen.“ 60 Denn bei diesen schrittweisen Reformen, geht es

nicht um Maßnahmen, die die ganze Gesellschaft umstrukturieren: „Es

sind dies ja Pläne für einzelne Institutionen, zum Beispiel für die

Kranken- oder Arbeitslosenversicherung, für Schiedsgerichte, für

Budgetvorschläge zur Bekämpfung vor Wirtschaftskrisen oder für

Erziehungsreform. Wenn sie fehlschlagen, dann ist der Schaden nicht

allzu groß und eine Wiederherstellung des früheren Zustandes nicht allzu

schwierig.“ 61

Dadurch, daß das schrittweise Vorgehen nachvollziehbar und eben nicht

von unüberschaubarem Ausmaße ist, könnte die Diskussion darüber

rational sein, wie in den Naturwissenschaften, in denen die Faktoren

schon lange isoliert werden. Denn ginge es nicht um ein abstraktes Gut,

sondern um kleine, übersichtliche Schritte. Popper hofft, daß „[…] uns

die Anwendung der Methode des stückweisen Umbaus über die

allergrößte Schwierigkeit jeder vernünftigen politischen Reform

hinweghelfen wird, nämlich über die Frage, wie wir es anstellen sollen,

daß bei der Durchführung des Programms die Vernunft und nicht

Leidenschaft und Gewalt zu Worte kommen.“ 62 Diskussionen über

einzelne Schritte sind demgemäß besser möglich, als solche über ferne,

kaum greifbare Ideale.

Die stückweise Sozialtechnik hat einen weiteren Vorteil: durch die

Transparenz der kleinen Schritte fällt es dem Bürger leichter, die Fehler

60

Ebd..

61

Ebd..

62

A.a.O., S. 190.

17


der Politiker zu sehen. Selbst für den Politiker darf das nicht als Nachteil

gesehen werden. Denn Fehler zu begehen, ist unvermeidbar; wichtig ist

die Konsequenz, die man aus ihnen zieht, „[…] denn das ganze

Geheimnis der wissenschaftlichen Methode liegt in der Bereitschaft, aus

begangenen Fehlern zu lernen.“ 63

Würde in der Politik nun tatsächlich die Versuch-und-Irrtum-Methode

der Wissenschaft verwendet, dann könnte sich der Zustand ändern, in

dem Fehler lediglich als Zeichen für Unfähigkeit bewertet werden. Da

die Bürger durch die Stückwerk-Sozialtechnik in vielen kleinen Schritten

Fehler entdecken werden und indem diese Fehler bei dem nächsten

Schritt berücksichtigt werden, wird sich hoffentlich auch die Einstellung

der Politiker zu ihnen verändern: „Sie kann vielleicht wirklich zu der

glücklichen Situation führen, daß die Politiker auf ihre eigenen Fehler zu

achten beginnen, statt zu versuchen, sie hinwegzuerklären oder zu

beweisen, daß sie immer recht hatten.“ 64

ff) Stückwerk-Sozialtechnik und Ästhetizismus

63

A.a.O., S. 194.

64

Ebd.. Bryan Magee, einige Jahre lang Mitglied des Britischen Parlaments, unterstreicht, daß in Poppers Theorie

intellektuelle Wahrhaftigkeit der Politiker notwendig ist. Er sieht ebenfalls das Problem, das der Selbstkritik innewohnt:

„Der Popper’sche Ansatz, der fordert, aktiv nach Fehlern und Mängeln zu suchen und etwas dagegen zu unternehmen,

verlangt einen Grad intellektueller Ehrlichkeit von Politikern, Beamten und Wissenschaftlern, der ihnen nicht leicht

fällt, er stellt eine beklemmende persönliche Herausforderung dar.“ (1999, S. 153; eigene Übersetzung aus dem

Englischen) Aber auch Magee ist – aus rationalen Gründen – zuversichtlich: „Was den Einreiz bietet, diese

Herausforderung anzunehmen, ist die höhere Erfolgsrate die daraus resultiert.” (Ebd.; eigene Übersetzung aus dem

Englischen). Zugleich ist er überzeugt, daß Politiker sich irren, wenn sie davon ausgehen, die Öffentlichkeit würde

keine Fehler verzeihen, so schreibt er: „In allen mir bekannten Demokratien, liegen die Politiker hinter der

Öffentlichkeit zurück. Sie würden beliebter, nicht weniger beliebt bei ihren Wählern sein, wenn sie eher bereit wären,

Fehler einzugestehen; und sie wären auch beliebter und nicht unbeliebter, wenn sie eher bereit wären zuzugeben, daß

ihre Gegner ziemlich häufig Recht haben.“ (a.a.O., S. 152; eigene Übersetzung aus dem Englischen; vgl. auch S. 153).

Sozialpsychologische Studien allerdings brachten zum einen hervor, daß Beliebtheit hinter dem Faktor Kompetenz

steht, wenn es um gefragte berufliche Qualifikationen geht (Argyle et al., S. 254). Zum anderen kam in Experimenten

heraus, daß tatsächlich derjenige kompetenter wirkt, der seine Fehler (bis zu einem gewissen Grenzwert) auf andere

schiebt (Schlenker und Leary, S. 89-104).

18


Poppers Ideal des politischen Vorgehens ist ein schrittweises

‚Herumprobieren‘, oder ‚Herumbasteln‘. Es kommt einer Idee Otto

Neuraths, Mitglied des Wiener Kreises und „Universalgenie“ 65 sehr nah:

Neuraths Schiff, das Schiff, unsere politische Welt, ist auf dem Ozean

und kommt nicht in die Werft – jegliche Reparaturen, Verbesserungen,

Abänderungen erfolgen auf dem Wasser. Sie können nur stückchenweise

erfolgen, eine Generalüberholung ist mithin nicht möglich. 66

Freilich: besonders ästhetisch ist diese Art der Politik nicht – es handelt

sich eben um ein ständiges Herumbasteln. So sieht Popper in

revolutionären politischen Theorien den Wunsch, „[…] eine Welt zu

bauen, die nicht nur ein wenig besser und vernünftiger ist als die unsrige,

sondern die von all ihrer Hässlichkeit frei ist: Nicht ein aus alten Flecken

zusammengesetztes Kleidungsstück, sondern ein ganz neues Gewand,

eine wirklich schöne neue Welt.“ 67 Das bescheidene Herumbasteln kann

die Welt nicht kurzerhand aus den Angeln heben. Popper kann den

Wunsch nach einer Veränderung nachvollziehen: „Dieser Ästhetizismus

ist eine sehr verständliche Haltung; in der Tat scheint fast jeder von uns

ein wenig an derartigen Vollkommenheitsträumen zu leiden […].“ 68

Der Vater dieses Ästhetizismus in der Politik ist für Popper Platon, für

ihn ist Politik „die königliche Kunst. Sie ist eine Kunst nicht in dem

65

Kampits 1984.

66

Neurath schreibt: „Es gibt keine tabula rasa. Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen,

ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können.“ (1932/33; s. dazu auch

Schleichert 1975, S. 72). Popper nimmt an entsprechender Stelle in seinem Werk keinerlei Bezug auf Neurath. Wie die

meisten Mitglieder des Wiener Kreises, unterschätzte auch Popper Neurath; er hielt ihn eher für einen Politiker als für

einen Philosophen (vgl. Stadler 1997, S. 537).

Die Äußerung Neuraths ähnelt frappierend einem Zitat des ehemaligen Kanzlers der Bundesrepublik, Kurt Georg

Kiesinger: „Ich habe manchmal das Gefühl gehabt: Ich bin eher Inhaber [!] einer Reparaturwerkstatt als der eines

Großbetriebs.“ Einsehbar auf der Internetseite: http://www.bundesregierung.de.

67

OG I, S. 196.

68

Ebd..

19


metaphorischen Sinn, in dem wir von der Kunst der

Menschenbehandlung oder von der Kunst der Erledigung gewisser Dinge

sprechen, sondern sie ist Kunst in einem weit buchstäblicheren Sinn. Sie

ist eine Kunst der Komposition wie die Musik, das Malen oder die

Architektur. Der platonische Politiker komponiert Staaten – um ihrer

Schönheit willen.“ 69 Platon vergleicht dabei den Politiker explizit mit

einem Maler, so schreibt Popper: „Über die Einzelheiten ihrer Malkunst

befragt, gibt Platons ‚Sokrates’ die folgende erstaunliche Auskunft: ‚Sie

werden als ihre Leinwand einen Staat und die Charaktere von Menschen

nehmen; und sie werden zu allererst ihre Leinwand reinwaschen – und

das ist keinesfalls eine leichte Aufgabe […] Woran Platon denkt, wenn er

vom Reinigen der Leinwand spricht, wird etwas später erklärt. ‚Wie

geschieht dies?’ fragt Glaukon. Darauf antwortet Sokrates: ‚Alle Bürger

des Staates, die das zehnte Lebensjahr überschritten haben, müssen sie

aus der Stadt vertreiben und irgendwohin aufs Land deportieren; und die

Kinder, die nunmehr vom schlechten Einfluß der Sitten und Ansichten

ihrer Eltern befreit sind, müssen sie übernehmen; die werden dann in der

Art der wahren Philosophen erzogen und in Übereinstimmung mit den

Gesetzen, die wir bereits beschrieben haben.’“ 70

Dieses ‚Reinigen der Leinwand’ ist es, daß diese ästhetische Form der

Politik von der Stückwerk-Sozialtechnik unterscheidet. Letztere baut auf

69

A.a.O., S. 197.

70

A.a.O., S. 197 f.. Es mag verwunderlich scheinen, daß Popper hier plötzlich von „Platons ‚Sokrates’“ spricht.

Schließlich sind die Werke Platons die einzigen Texte, die wir von Sokrates besitzen und so hat Popper all sein Wissen

über Sokrates von Platon. Popper lobt Sokrates bis an sein Lebensende in den höchsten Tönen. Nun begegnet er der für

ihn unakzeptablen Einstellung des Sokrates mit dem Einwurf, daß es ja nicht um Sokrates’ eigene Gedanken, sondern –

als ob es je anders wäre – nur um die Worte des Platon handle.

Poppers Vorgehen erklärt sich an anderer Stelle, an der er – entgegen der herrschenden Meinung – argumentiert, daß

Der Staat bereits das Werk eines veränderten Platon ist, in dem Sokrates nur noch seine Marionette darstellt (vgl. OG I,

S. 394 ff.; vgl. auch Hacohen a.a.O., S. 418). Popper akzeptiert lediglich den Sokrates der Apologie, so schreibt er in

Replies to my Critics: „Ich sehe mich als einen Schüler des Sokrates, das heißt, des Sprechers der Apologie, und ich

liebe diesen Mann.“ (S. 962; eigene Übersetzung aus dem Englischen).

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Bestehendem auf und versucht, auf Verbesserungen hinzuarbeiten,

während der ästhetische Politiker all dieses austilgen will: „So also hat

der künstlerische Politiker vorzugehen. Das ist es, was das ‚Reinigen der

Leinwand’ bedeutet. Er muß die bestehenden Institutionen und

Traditionen ausrotten. Er muß reinigen, austreiben, deportieren und

töten.“ 71

Popper bemerkt: „So sympathisch mir der ästhetische Trieb auch ist, ich

bin dafür, daß sich der Künstler zum Ausdruck seiner Ideen ein anderes

Material wählt.“ 72 Denn so verständlich es auch sein mag, daß man etwas

neues, schönes bar jeglicher Fehler produziert; für Popper führt der

Ästhetizismus zu den dargestellten, gefährlichen Konsequenzen: „Die

Ansicht, daß die Gesellschaft, der Staat, ebenso schön sein solle wie ein

Kunstwerk, führt nur zu leicht zu gewaltsamen Maßnahmen.“ 73

71

OG I, S. 198.

72

A.a.O., S. 197.

73

A.a.O., S. 198. Bemerkenswerterweise gibt es – möglicherweise von Platon beeinflußt – einen „Europa-Preis für

Staatskunst“. Einer der Rezipienten war übrigens Helmut Schmidt (am 22. Mai 1979 in Straßburg).

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