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Rote Fabrik<br />

Limmat Verlag<br />

Zürich


Bewegung<br />

tut gut


Die Geschichte der Roten Fabrik zwischen zwei Buchdeckel zu packen<br />

war an sich eine naheliegende und verführerische Idee. Ein Rückblick<br />

zum 40-Jahre-Jubiläum der 80er-Jugendunruhen, die damals<br />

bekanntlich zum überstürzten Start des Versuchsbetriebs am 25.<br />

Oktober 1980 führten. Dennoch erwies sich die Buchidee als weitaus<br />

ambitiöser und verwegener als anfänglich erwartet. Und sicher<br />

waren alle Beteiligten naiv, in einem Anfall von Frivolität zu etwas Ja<br />

zu sagen, ohne die Konsequenzen gross abzuwägen. Was eigentlich<br />

recht gut zum Denken derjenigen Generation passt, die Anfang<br />

der Achtzigerjahre das «Packeis» in Zürich aufbrechen wollte und<br />

«Nieder mit den Alpen, freie Sicht aufs Mittelmeer» forderte.<br />

Im Fall des vorliegenden Buchs sollte es aber einige Zeit dauern, bis<br />

die Mühlen der Bürokratie und die Finanzierungshürden überwunden<br />

waren. So viel vorweg: Auch vierzig Jahre nach der Eröffnung<br />

des Kulturbetriebs in den alten Backsteingemäuern in Wollishofen<br />

am See kommt ein solches Projekt nicht automatisch zum Fliegen.<br />

Und das hatte nicht nur mit der Corona-Pandemie zu tun, die im<br />

Jubiläumsjahr 2020 so ziemlich allen Kulturanlässen und Projekten<br />

einen Strich durch die Rechnung machte. Ein Fundraising in Kulturkreisen<br />

brachte glücklicherweise die ersehnte Restfinanzierung,<br />

wofür wir uns nochmals herzlich bei allen bedanken.<br />

So brauchte dieses «Kind» wegen der Pandemie und anderer Hürden<br />

mehr Pflege und Aufmerksamkeit als ursprünglich geplant. Ganz zu<br />

schweigen von den vielen Schätzen, die in Schuhschachtelarchiven<br />

vor sich hin schlummerten und darauf warteten, entdeckt, gehoben<br />

und sortiert zu werden. Denn noch immer ist erst ein kleiner Teil<br />

der Geschichte der Roten Fabrik elektronisch archiviert. So gestaltete<br />

sich etwa die Suche nach dem Originalzitat von Ex-Stadtpräsident<br />

Sigi Widmer – «Ob Rockmusik Kultur ist, wage ich zu bezweifeln»<br />

– zur aufwendigen Recherche, ohne dass es am Ende genau<br />

lokalisiert werden konnte (unsere Nachforschungen lassen vermuten,<br />

dass es von 1979 stammt). Paradoxerweise klaffen in der vielbeschriebenen<br />

Geschichte der Achtzigerjahre Löcher, durch die sich<br />

solch polarisierende Aussagen schwerlich genau lokalisieren lassen.<br />

Seis drum: Dieses Buch will hiermit auch Abhilfe schaffen. So ist<br />

aus dem ursprünglich geplanten «schmalen Bändchen» ein ziemlicher<br />

Ziegelstein geworden. Derart viel musste und wollte erzählt und<br />

abgebildet werden! Im Redaktionsteam war man sich denn auch nicht<br />

immer einig, wie viel vom reichlich vorhandenen Stoff wirklich<br />

essenziell sei. Am Schluss entschieden wir uns im Sinne der «Oral<br />

History» für eine grosszügige Handhabung und griffen wenig in die<br />

Texte ein. Auch wurde im Laufe der Recherchen immer klarer, dass<br />

zur Geschichte des Kulturzentrums auch die Siebzigerjahre gehören.<br />

So förderte unser Grafikteam in diversen Archiven viel zum damaligen<br />

Zeitgeist zutage.<br />

Erst mit den Bildern der braven Siebzigerjahre ist der kulturelle Aufbruch<br />

spürbar, für den das Kulturzentrum seit vierzig Jahren steht:<br />

der Furor, das Anarchische der ersten Jahre, die legendären Konzerte


und Festivals in der Aktionshalle, der Aufbruch der freien Theaterszene<br />

und das zeitgleich startende Theaterspektakel in unmittelbarer<br />

Nachbarschaft. Man begreift, warum gerade in den ersten Jahren<br />

so viel möglich war – dies auch dank der Naivität der Fabrik-<br />

Macher*innen, die anpackten, ohne die Konsequenzen abzuwägen,<br />

und dabei auch prekäre Arbeitsbedingungen in Kauf nahmen. Ganz<br />

nach dem Motto «Keine Atempause, Geschichte wird gemacht», wie<br />

die Kultband Fehlfarben 1982 skandierte.<br />

Neben dem Glanz der Bühnenscheinwerfer und dem Aufbruch in<br />

kulturelles Neuland gab es aber auch die Grabenkämpfe, die innerhalb<br />

der Interessengemeinschaft Rote Fabrik immer wieder ausgefochten<br />

wurden. Gerade in den oft gewalttätigen ersten «Blut- und<br />

Scherbenjahren» bis zur Abstimmung 1987 glichen die Mitgliederversammlungen<br />

oft selber Theateraufführungen der speziellen Art, wo<br />

alte Vorstände abgewählt und neue in den Sattel gehievt wurden. Die<br />

ach so befreite Zürcher Jugend der Achtzigerjahre war dabei sehr<br />

oft auch das genaue Abbild ihrer zwinglianischen Eltern, die sie so<br />

vehement bekämpfte. Viel Kleingeist also auch in den alten Gemäuern,<br />

die man eigentlich mit einem neuen Kultur- und Gesellschaftsverständnis<br />

füllen wollte. Auch davon handelt dieses Buch.<br />

Waren die ersten Jahre turbulent, so festigte sich in den darauffolgenden<br />

Jahrzehnten das Kulturverständnis der «Fäbe» als ein Ort,<br />

wo viele Künstler*innen erste Bühnenerfahrung sammeln konnten.<br />

So spielte die damals noch nahezu unbekannte Band Nirvana Ende<br />

der 1980er-Jahre im kleinen Theatersaal, um nur ein Beispiel zu nennen.<br />

Ohne Rote Fabrik gäbe es auch weder Festivals wie Taktlos,<br />

Lethargy oder Rhizom noch das ausgezeichnete Intakt-Label. Aber<br />

wir wollen nicht nur zurückschauen, auch die junge Generation<br />

kommt zu Wort. Es ist spannend zu lesen, welchen Stellenwert sie<br />

einem Ort wie der Roten Fabrik heute beimisst.<br />

Nicht zuletzt: Was wäre dieser Ort ohne Ziegel oh Lac? Der «Ziegel»<br />

bleibt bis heute die gute Stube, das Gesicht des Kulturzentrums am<br />

See. Das Buch ist deshalb auch eine Hommage an die vielen guten<br />

Geister, die jahrein, jahraus am See für das leibliche Wohl sorgten<br />

und noch immer sorgen. Liebe geht durch den Magen, oder wie Bertolt<br />

Brecht sagte: «Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.»<br />

Oder die Kultur. Damit wollen wir auf viele weitere, lustvolle Fabrikjahre<br />

anstossen.<br />

Philipp Anz, Jaska Glowacz, Sara Arzu Hardegger, Gregor Huber,<br />

Markus Kenner, Pete Mijnssen, Susan A. Peter, Ivan Sterzinger


Vorgeschichte<br />

47 Leben in die tote Fabrik<br />

Philipp Anz & Pete Mijnssen<br />

71 Die Etablierung des Unetablierten<br />

Nadine Zberg<br />

91 Hubert Münch: «Ich wollte nicht zur<br />

Bundeswehr und kam so zur STR»<br />

Philipp Anz<br />

97 Freie Sicht auf die Rote Fabrik<br />

Daniel Hitzig<br />

Kulturbetrieb<br />

141 Shedhalle und Ateliers: Zürichs<br />

Kunstwelt wird durchgeschüttelt<br />

Michael Hiltbrunner<br />

153 Konzept: «Andere Baracke!»<br />

Christoph Müller<br />

167 Literatur: Wassergläser,<br />

Explosionen und Kunstharzfarbe<br />

Viola Rohner


205 Musik: Tausende Konzerte<br />

und noch mehr Erinnerungen<br />

Philipp Anz<br />

225 Fabriktheater: Vom Lagerraum<br />

zum Möglichkeitsraum<br />

Katja Baigger & Stefan Busz<br />

233 Ziegel oh Lac: Das Restaurant<br />

am Ende der Stadt<br />

Esther Banz<br />

249 Chindsgi: Summerhill<br />

am Zürichsee<br />

Pablo Rohner<br />

Subkultur<br />

289 «Widerstand kostet, leider»<br />

Aktivist*innen 2020<br />

297 Subkultur gestern,<br />

heute – und morgen auch?<br />

Rachel Mader<br />

303 Oasen in der Wüste<br />

Nora Strassmann


Räume und Visionen<br />

345 Der König der Zuckertütchen<br />

Michelle Steinbeck<br />

349 Wie immer<br />

Stephan Pörtner<br />

357 Die Bedrohung durch die Stadt<br />

Philipp Klaus<br />

367 «Es ist Zeit, sich neu zu erfinden»<br />

Geneva Moser<br />

Visuelle Sprache<br />

405 Radikaler Subjektivismus<br />

Zur Grafikgeschichte der Roten Fabrik<br />

Tan Wälchli<br />

Anhang<br />

425 Chronologie Rote Fabrik<br />

437 Impressum


Hochgeklappte<br />

Bürgersteige<br />

John Travolta<br />

und Kulturleichen


Nashörner in<br />

Grönland


«Bündelitag», der schulfreie Samstag vor den Sommerferien, im Zürcher Hauptbahnhof, 9. Juli 1977. Foto: Photo Comet AG


Links: Zeitungsinserat des Rotapfel-Verlags, Neue Zürcher Zeitung, 1980.<br />

Rechts: Graffito «Unsere Solidarität» im Rondell am Zürcher Bellevue, 26. September 1981. Foto: Christoph Egle/Keystone


Links: Zeitungsinserat der Versicherung Von Gunten & Suter, Neue Zürcher Zeitung, 1980.<br />

Rechts: Billettentwerter «Selbstkontrolle» am Zürcher Hauptbahnhof, ca. 1975. Foto: Comet Photo AG


Links: Ankunft des Orientexpress 1977 am Zürcher Hauptbahnhof. Foto: Josef Schmid/Comet Photo AG<br />

Rechts: Konzert-Werbetafel mit Graffito «mached mir», Bahnhofstrasse Zürich, Juni 1980. Foto: Gertrud Vogler


Links: Werbeplakat der Neuen Zürcher Zeitung, ca. 1980. Foto: Klaus Rózsa<br />

Rechts: Graffito «Alle Macht den Hexen», Talacker 41, 1. Mai 1977. Foto: Stadtpolizei Zürich


Graffito «Züri brännt jetzt», 22. Juni 1980. Foto: Gertrud Vogler


Links: Die Spielplastik «Lozziwurm» des Schweizer Künstlers Ivan Pestalozzi aus dem Jahr 1972 ist ein Kind der Schweizer Schulreform der 1960er-Jahre. Foto: Heidi Gantner<br />

Rechts: Zeitungsinserat des Suhrkamp-Verlags, Neue Zürcher Zeitung, 1980.

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