ML_06_2021 Das «andere» Österreich
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12. St. Galler Kirchenmusikwoche<br />
<strong>Das</strong> <strong>«andere»</strong> <strong>Österreich</strong><br />
Disentis Mariastein St. Gallen<br />
12. St.Galler Kirchenmusikwoche <strong>2021</strong><br />
Die diesjährige St. Galler Kirchenmusikwoche<br />
begab sich auf Entdeckungstour<br />
ins <strong>«andere»</strong> <strong>Österreich</strong>:<br />
In jenes abseits von Haydn, Mozart<br />
und Schubert … (ca)<br />
Von Bettina Kugler<br />
«Sei Du mein Atem, Heiliger Geist!»:<br />
<strong>Das</strong> Motto der diesjährigen 12. St. Galler<br />
Kirchenmusikwoche vom 19. bis 23. Oktober<br />
stammt aus einem Gebet des Heiligen<br />
Augustinus. Es erklang in einer Vertonung<br />
des <strong>Österreich</strong>ers Josef Kronsteiner (1910–<br />
1988) als Danklied im Schlussgottesdienst<br />
in der Kathedrale, vierstimmig gesungen<br />
von den rund einhundert Teilnehmerinnen<br />
und Teilnehmern aus der gesamten<br />
deutschsprachigen Schweiz. Ein Ausruf,<br />
der in den vergangenen zwei Jahren eine<br />
besondere Tiefe und Dringlichkeit erhalten<br />
hat nach den Erfahrungen mit der Pandemie.<br />
Am schlimmsten waren diese sicher<br />
für direkt von Covid-19 Betroffene und deren<br />
Familien, aber ebenso schmerzlich und<br />
herausfordernd für die vielen, die in dieser<br />
Zeit nicht Lebensatem schöpfen konnten<br />
beim gemeinsamen Singen, im Austausch<br />
und durch Begegnungen mit Freunden und<br />
Gleichgesinnten. Ein mehr als passendes<br />
Gebet und Motto also für fünf intensive<br />
Tage mit Kirchenmusik. Ausgewählt hatte<br />
es Josef Habringer, Domkapellmeister in<br />
Linz und bereits früher mehrfach im Rahmen<br />
der St. Galler Kirchenmusikwoche<br />
tätig. Auch diesen Herbst übernahm er,<br />
unterstützt von Domkapellmeister Andreas<br />
Gut die täglichen Proben des Gesamtchors<br />
für das Hauptwerk der Musikwoche: Ernst<br />
Tittels «Kleine Festmesse» in der Fassung<br />
für Gemischten Chor und Orgel – ergänzt<br />
durch Bläser und Pauke, um der liturgischen<br />
Abschlussfeier noch mehr Glanz zu<br />
verleihen.<br />
Ernst Tittel?<br />
Für viele Sängerinnen und Sänger wird<br />
sein Name ebenso wie jener Josef Kronsteiners<br />
bis dahin unbekannt gewesen<br />
sein. In <strong>Österreich</strong> hingegen wird Ernst<br />
Tittel (1910–1969) von Kirchenmusikern<br />
geschätzt als ein Praktiker, der mit<br />
Rücksicht auf die Bedürfnisse und Fähigkeiten<br />
von Laienchören komponiert<br />
hat. Viele österreichische Kirchenchöre<br />
pflegen seine «Kleine Festmesse» als Repertoirestück:<br />
Sie ist im klassischen Stil<br />
gehalten, melodisch eingängig und nicht<br />
allzu schwierig. Die Umsetzung des Messetextes<br />
ist musikalisch gut durchdacht<br />
und interpretiert. «Man hat sofort einen<br />
emotionalen Zugang zu dieser Messe»,<br />
sagt Josef Habringer, der in den Gesamtchorproben<br />
zügig daran arbeiten konnte.<br />
So blieb am Ende genügend Zeit für den<br />
Feinschliff, ausserdem für Gedanken und<br />
Impulse während den Proben – Nebenbemerkungen,<br />
die weit über die korrekte<br />
Umsetzung des Notentextes hinausgingen.<br />
Singen mit Herz und Verstand ist<br />
Josef Habringer besonders wichtig: Aus<br />
Tonhöhen und -längen, Rhythmus, Dynamik<br />
allein wird nicht Musik: «Die Seele<br />
muss mitschwingen.»<br />
In den sechs Ateliers …,<br />
… der zusätzlich angebotenen Einzelstimmbildung<br />
sowie den täglichen Morgenbetrachtungen<br />
und liturgischen Feiern<br />
mit Seelsorgerin Ramona Casanova kam<br />
diese Haltung ebenfalls zum Tragen: dass<br />
Kirchenmusik lebt und atmet, wenn der<br />
Geist mitmischt, wenn das Sehnen ein Ziel<br />
hat, wie es bei Augustinus heisst. Zu entdecken<br />
war auch hier Literatur von weniger<br />
bekannten Komponisten, nicht nur<br />
aus <strong>Österreich</strong>: seien es der Barockmeister<br />
Johann J. Fux und der lettische Komponist<br />
Ēriks Ešenvalds (*1977) im Atelier Ensemblesingen<br />
(Leitung: Katharina Jud), seien<br />
es Werke von Johann Nepomuk David,<br />
Franz Schreker, Arvo Pärt oder der Haydn-<br />
Schülerin Maria-Anna Martines im Atelier<br />
Frauenensemble (Leitung: Dela Hüttner).<br />
Für das Atelier Orgel konnte Andreas Jost<br />
als Leiter gewonnen werden; der Hauptorganist<br />
am Grossmünster Zürich spielte am<br />
Mittwochabend zudem ein öffentliches<br />
Konzertprogramm mit Werken von Bach,<br />
Debussy und den <strong>Österreich</strong>ern Augustinus<br />
Franz Kropfreiter, Kurt Estermann<br />
und Hans Haselböck, der an ebendiesem<br />
Tag verstarb († 20.10.<strong>2021</strong>, vgl. Seite 45).<br />
Erstmals angeboten wurde das Atelier<br />
Popularmusik unter der Leitung von Andreas<br />
Hausammann, dem Beauftragten für<br />
populäre Kirchenmusik der evangelischreformierten<br />
Kirche im Kanton St. Gallen.<br />
Er brachte seine «Pop-Liturgie» (2017)<br />
mit als Übungsfeld für Groove-orientiertes,<br />
improvisatorisches Zusammenspiel in<br />
einer Band, für elementare Gehörbildung<br />
und körperliches Rhythmusverständnis.<br />
Eng verzahnt mit diesem Atelier arbeiteten<br />
Esther Wild Bislin und ihre rund<br />
dreissigköpfige Vokalgruppe an klangvoller<br />
neuer Chorliteratur, unter anderem<br />
an «Leben, Liebe, Licht» von Roman<br />
Bislin-Wild.
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Impressionen<br />
aus der<br />
12. St. Galler<br />
Kirchenmusikwoche<br />
Fotos: Ueli Steingruber<br />
St. Galler Kantorenbuch<br />
«Singt Gott neue Melodien»: Diese<br />
Ermunterung könnte auch über dem<br />
Gross projekt des neuen St. Galler Kantorenbuchs<br />
stehen, dessen erster Teil rechtzeitig<br />
zum Beginn des neuen Lese jahres<br />
C im Verlag im Klosterhof erschienen<br />
ist. Mitherausgeber Michael Wersin bot<br />
dazu ein eigenes Atelier an; hier konnten<br />
die neuen Antwortpsalmen für alle<br />
Sonn- und Feiertage des Kirchenjahres<br />
erstmals entdeckt, gesungen und im Detail<br />
studiert werden. Mit dem 500 Seiten<br />
starken Kantorenbuch, das in den<br />
kommenden Jahren um die entsprechenden<br />
Ausgaben zu den Lesejahren A und<br />
B ergänzt werden wird, liegt nun eine<br />
vollständige, praxistaugliche Sammlung<br />
von orgelbegleiteten Antwortpsalmen<br />
und Rufen zum Evangelium vor, die mit<br />
dem Schweizerischen Kirchengesangbuch<br />
kompatibel ist. Erfahrene, aber auch junge<br />
Kirchenmusiker aus der Ostschweiz und<br />
darüber hinaus haben Kompositionen beigesteuert;<br />
ein breites stilistisches Spektrum<br />
war erwünscht, ebenso eine gewisse<br />
Spannweite hinsichtlich des Schwierigkeitsgrades.<br />
<strong>Das</strong> Kantorenbuch und seine<br />
beiden Folgebände sollen künftig die<br />
Liturgie bereichern – gerade in Zeiten, da<br />
nicht mehr jede Gemeinde einen Chor<br />
oder ein Vokalensemble zur Mitgestaltung<br />
der Liturgie und im Wechsel mit der<br />
singenden Gemeinde zur Verfügung hat.<br />
Lebensatem Singen<br />
Wie gross die Freude am gemein samen<br />
Singen, am Lebensatem, der auch in<br />
schwierigen Zeiten die Seele stärkt und<br />
mit Freude erfüllt, nach der langen<br />
Zwangspause gegenwärtig ist, war täglich<br />
zu spüren. Knapp einhundert Anmeldungen<br />
waren im Frühjahr eingegangen in der<br />
Hoffnung, die Kirchenmusik woche könnte<br />
im Oktober möglichst ohne Einschränkungen<br />
durchgeführt werden. Es gab sogar<br />
eine Warteliste. Nach Einführung der<br />
Zertifikationspflicht nahmen schliesslich<br />
dennoch fast alle Angemeldeten teil. Für<br />
die Proben wurde der Gesamtchor anfänglich<br />
in zwei Gruppen aufgeteilt: Singen mit<br />
angemessenem Abstand ist in den vergangenen<br />
Monaten zur Gewohnheit geworden.<br />
«Die Menschen sind ausgehungert»,<br />
sagt Josef Habringer. «Wir haben nicht<br />
nur eine entsetzliche Krankheit erlebt,<br />
die unzählig vielen buchstäblich die Luft<br />
zum Atmen genommen hat. Sondern auch<br />
einen Seelennotstand. Davon war in den<br />
Diskussionen über die Schutzmassnahmen<br />
und ihre Folgen für den einzelnen und die<br />
Gesellschaft praktisch nie die Rede.» Ein<br />
Chorsterben befürchtet er nicht: «Es hat<br />
so viel gefehlt, dass die Sängerinnen und<br />
Sänger nun wieder umso lieber kommen.»<br />
Sei es zu Proben und Einsätzen mit ihren<br />
Chören und Ensembles vor Ort, sei es zur<br />
nächsten Kirchenmusikwoche, die vom<br />
17. bis 21. Oktober 2023 stattfindet.