Noch lange nicht kunstmüde Gerald Kurdoğlu Nitsche aus Landeck kann zu seinem 80er viel erzählen Dass der gebürtige Wiener irgendwann in Landeck seine Heimat finden würde, gleicht einem reinen Zufall. Nichts ist im Leben des heuer 80 gewordenen Künstlers nämlich so beständig wie der Wandel. Gerade deshalb solidarisiert sich Gerald K. Nitsche mit denen, die auf der Suche nach Heimat sind oder diese in einem anderen Land gefunden haben. Seine Überzeugung: Jeder ist Ausländer – fast überall. Die meisten kennen Gerald wahrscheinlich als Künstler, der mit seiner Arbeit gerne Kritik an Politik und Gesellschaft übt. Doch nicht nur über seine Kunst hat er viel zu erzählen, Geschichten aus seiner turbulenten Kindheit und Jugend verdienen es mindestens genau so, gehört zu werden. „Meine ersten vier Lebensjahre habe ich mit meiner Mutter in Wien verbracht“, erzählt Gerald. „Papa war an der Front.“ Es folgte der erste Umzug ins kärntnerische Steinfeld. „1947 verstarb meine Mutter an Kinderlähmung, mein Vater ein Jahr später an einer Lungenembolie“, erklärt sich der 80-Jährige. Gerald wurde mit nur sieben Jahren zum Vollwaise. Mal da, mal dort Es folgten Aufenthalte bei unterschiedlichen Pflegefamilien in Österreich, sowie eine kurze Phase in Holland, wo Gerald auf eine Adoption hoffte. Als diese wider Erwarten nicht zustande kam, führten ihn seine Wege nach St. Johann in Tirol, wo er fast die gesamte Hauptschulzeit über blieb. Kurz vor Ende der vierten Klasse passierte ein Wunder, wie es der Künstler heute bezeichnet: „Gottfried und Anni Schöpf nahmen mich in Landeck als sechstes Kind in ihrer Familie auf“, erinnert er sich strahlend. Kaum im Oberland eingelebt, ging es für Gerald ins Paulinum nach Schwaz. Er verrät: „Ich war nie ein besonders guter Schüler.“ Mehr interessiert als das stupide Auswendiglernen habe ihn damals schon die Malerei. Wilfried Kirschl, Geralds damaliger Zeichenlehrer, hat bereits früh sein 56 21. Dezember <strong>2021</strong> Zu seinem runden Geburtstag erzählt Gerald Kurdoğlu Nitsche über seine ereignisreiche Kindheit und Jugend, Aufenthalte in anderen Ländern, Rassismus und sein Lieblingsthema: die Kunst. Fotos: Nitsche Talent erkannt und ihn durch gemeinsame Mal-Sonntage gefördert. „Daran denke ich gern zurück“, so der Landecker. Lernen und lehren Nach der Matura schnupperte Gerald in Innsbruck in verschiedene Universitätsstudien hinein: Archäologie, Germanistik, Kunstgeschichte. Bald lockte aber doch die Akademie der Bildenden Künste in Wien, wo er sich unter anderem beim Künstler Sergius Pauser entfalten konnte. Nach einem Auslandssemester in Den Haag schloss der junge Kunstbegeisterte sein Germanistik- und Kunstgeschichtestudium mit Lehrberechtigung ab. „Ich begann im Gymnasium Landeck und Imst zu unterrichten“, erzählt Gerald. Lehrer zu werden sei die beste Entscheidung, die Zeit an der Schule die beste Zeit seines Lebens gewesen. Da er selbst nie ein Einserschüler war, Skulpturen, Abstraktes oder Porträtgemälde: die Galerie im Prutzer Winkl zeigt rund 70 Exponate des Oberländer Künstlers. habe er immer besonders viel Verständnis für seine Schüler gehabt. Wieder unterwegs „Anfang der Neunziger war ich für zwei Jahre als Lehrer an einer deutschsprachigen Schule in Istanbul“, blickt der Künstler, der sich damals auch die türkische Sprache aneignete, zurück. Weil es ihm die Stadt dermaßen angetan hatte, kehrte er mit seiner Frau Brigitte und den beiden Kindern Veronika und Christof für einige Jahre dorthin zurück und beteiligte sich an der Gestaltung des „Dankbaren Weges“ auf einer Insel im Marmarameer. Aus Protest gegen Fremdenfeindlichkeit, die Gerald während dieser Zeit anfing besonders aufzufallen, nahm er 1997 den Zweitnamen Kurdoğlu, eine ans Türkische angelehnte Version seines ursprünglichen zweiten Vornamens Kurt, an. „Rassismus kann ich einfach nicht nachvollziehen“, betont er. Basis Landeck Um die Jahrtausendwende kehrte die Familie Nitsche der Türkei den Rücken und kam zurück nach Landeck. „2002 habe ich mein Atelier im Karrnerwaldele eröffnet“, fügt er hinzu. Seit damals, insbesondere seit seiner Pensionierung, genießt es Gerald, sich künstlerisch austoben zu können. Anlässlich des runden Geburtstages zeigt die Gym-Galerie Landeck, übrigens von ihm selbst gegründet, 50 Exponate des Künstlers. Im Winkl in Prutz können ebenfalls Bilder, Skulpturen und Grafiken bestaunt und ausnahmsweise sogar erstanden werden. Seine Tage beginnt Gerald heute meist in seinem Atelier, wo er noch immer ständig Neues ausprobiert. „Aus Altglas lassen sich aufregende Skulpturen herstellen und außerdem macht sich Honig überraschend gut auf Papier“, erzählt er schmunzelnd. Seine Nachmittage verbringt der 80-Jährige oft auf der Trams, einem Naherholungsgebiet in Landeck. „Dort bekomme ich neue Inspiration“, freut sich Gerald. Denn kunstmüde ist er noch lange nicht. (nisch)
21. Dezember <strong>2021</strong> 57