eTOPICOS - Ausgabe 4-2021 - 61. Jahrgang
TÓPICOS mit seinen Beiträgen zu Brasiliens Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur ist die größte Publikation dieser Art für eine deutsch-brasilianische Zielgruppe und wird von der Deutsch-Brasilianischen Gesellschaft e.V. (DBG) www.topicos.de herausgegeben. Revista da Sociedade Brasil-Alemanha
TÓPICOS mit seinen Beiträgen zu Brasiliens Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur ist die größte Publikation dieser Art für eine deutsch-brasilianische Zielgruppe und wird von der Deutsch-Brasilianischen Gesellschaft e.V. (DBG) www.topicos.de herausgegeben.
Revista da Sociedade Brasil-Alemanha
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um Marisa Monte zu interviewen, die gerade auf<br />
ihrer „Barulhinho Bom“-Tour durch Europa war,<br />
die sie auch nach Berlin führen sollte. Die sehr<br />
gut englisch sprechende Sängerin merkte im<br />
Gespräch, dass ich für einen Deutschen recht gut<br />
über die MPB Bescheid weiß und wollte wissen,<br />
wie oft ich denn schon in Brasilien war. Auf meine<br />
Antwort „Noch nie“ reagierte sie fast entsetzt und<br />
ermunterte mich mit vielen Tipps, das unbedingt<br />
und baldmöglichst nachzuholen.<br />
NACHRUF<br />
Zum Tod des<br />
Pianisten<br />
Nelson Freire<br />
So enthusiastisch ermuntert, gab es kein Zögern<br />
mehr. Ich buchte einen Flug und landete ein<br />
paar Wochen später endlich das erste Mal in<br />
Brasilien. Und dann immer wieder, fast jedes<br />
Jahr kam ich für ein paar Wochen oder gar<br />
Monate. Ich erkundete Rio, São Paulo, Minas<br />
Gerais und vor allem den mich besonders<br />
faszinierenden Nordosten, lernte die guten und<br />
die schlechten Seiten dieses riesigen Landes<br />
zwischen Freudenhimmel und Armutshölle<br />
kennen. Allzu hautnah bisweilen, denn natürlich<br />
wurde ich mehrfach ausgeraubt, aber erlebte<br />
auch große Gastfreundschaft, hatte inspirierende<br />
Begegnungen, gewann tiefe Freundschaften und<br />
verliebte mich unweigerlich in die Kultur dieses<br />
großen Landes.<br />
Und in eine Brasilianerin. Ich heirate als wohl<br />
erster Gringo im Standesamt eines kleinen<br />
Dorfes in Alagoas, wo den Richter einzig meine<br />
mit Steuermarken verzierte Geburtsurkunde<br />
interessierte, alle anderen sorgfältig übersetzten<br />
und beglaubigten Dokumente würdigte er keines<br />
Blickes. Nun habe ich einen halbbrasilianischen<br />
Sohn.<br />
Als Journalist schreibe ich weiterhin oft über<br />
brasilianische Kultur, längst nicht nur zur MPB,<br />
und über die künstlerischen Aktivitäten von in<br />
Deutschland lebenden Kulturschaffenden aus<br />
Brasilien. Ich schrieb Liner notes für Alben<br />
brasilianischer Künstler in Berlin wie Anastácia<br />
Azevedo, Monica Besser oder Dudu Tucci.<br />
Und mehrmals durfte ich im Auftrag der<br />
brasilianischen Botschaft Podiumsdiskussionen<br />
zur Berlinale mit den jeweils eingeladenen<br />
Filmschaffenden moderieren, sogar auf<br />
Portugiesisch, das ich einigermaßen fließend<br />
spreche und dessen Sprachmelodie ich liebe.<br />
So veränderte Brasilien mein Leben nachhaltig.<br />
Und ich weiß, dass Caetano Veloso – mit dessen<br />
Songs meine Leidenschaft vor über 30 Jahren in<br />
einem Berliner Plattengeschäft begann – recht<br />
hat, wenn er sagt: „In Brasilien ist nicht jedes Ding<br />
an seinem richtigen Platz. Es ist ein konfuses<br />
Land. Das hat aber auch Vorteile.“ Pois é.<br />
Grafik von Vecteezy.com<br />
Presse / Mat Hennek<br />
Nelson Freire wurde am 18. Oktober<br />
1944 in Boa Esperança<br />
(Minas Gerais) geboren. Im<br />
Alter von 12 Jahren belegte er 1957<br />
den neunten Platz beim Internationalen<br />
Klavierwettbewerb von Rio de Janeiro<br />
mit einer Interpretation des ersten Satzes<br />
von Ludwig van Beethovens Klavierkonzert<br />
No. 5. Von der Regierung Juscelino<br />
Kubitschek erhielt er daraufhin ein<br />
Stipendium für ein Studium in Wien bei<br />
Bruno Seidlhofer.Im Alter von 15 Jahren<br />
gab Freire bereits seine ersten Konzerte,<br />
mit 19 gewann er den ersten Platz<br />
beim Internationalen Wettbewerb Vianna<br />
da Motta in Lissabon. Fünf Jahre später<br />
trat er mit dem New York Philharmonic<br />
Orchestra auf. Früh wurde er berühmt für<br />
sein Einfühlungsvermögen, seine Sensibilität,<br />
seine Fingertechnik.<br />
Er gilt als einer der talentiertesten<br />
Pianisten des 20. Jahrhunderts und<br />
gewann im Laufe seiner Karriere mehrere<br />
wichtige Auszeichnungen, u.a. die<br />
Classic FM Gramophone Awards 2007,<br />
die als „Oscar“ der klassischen Musik<br />
gelten, und zuletzt den International<br />
Classical Music Award im Jahr 2019.<br />
Er arbeitete und mit einigen der<br />
wichtigsten Dirigenten unserer Zeit zusammen,<br />
u.a. mit Pierre Boulez, Eugen<br />
Jochum, Lorin Maazel, Charles Dutoit,<br />
Kurt Masur, Valery Gergiev, Seiji Ozawa<br />
und Riccardo Chailly.<br />
INGRID STARKE<br />
Freire trat häufig mit der argentinischen<br />
Pianistin Martha Argerich, mit<br />
der ihn eine lange Freundschaft verband<br />
als Klavierduo auf und unternahm<br />
mit ihr gemeinsam Tourneen. Im Jahr<br />
2006 spielten sie beim Klavier-Festival-<br />
Ruhr. 2009 erschien bei der Deutschen<br />
Grammophon ihr gemeinsames Album<br />
Salzburg, eine Liveaufnahme von den<br />
Salzburger Festspielen, die 2010 auf<br />
der Bestenliste des renommierten Preises<br />
der deutschen Schallplattenkritik<br />
stand. João Moreira Salles einer der<br />
besten brasilianischen Dokumentarfilmer,<br />
produzierte 2003 einen Film über<br />
ihn, an dem auch Martha Argerich teilnahm.<br />
Der sehr empfehlenswerte Film<br />
zeigt sowohl den Alltag des Pianisten,<br />
begleitet ihn aber auch bei Auftritten<br />
in Rio, São Paulo, Frankreich, Belgien,<br />
Russland mit aufschlussreichen Blicken<br />
hinter die Kulissen.<br />
Nelson Freires letzter Auftritt in<br />
Deutschland fand im Kammermusiksaal<br />
der Berliner Philharmonie im April<br />
2016 statt.Mit 75 Jahre veröffentlichte<br />
er sein letztes Album „Encores“. Beim<br />
Sturz auf der Strandpromenade in Rio<br />
de Janeiro erlitt er einen Armbruch und<br />
gab danach – auch wegen der Covid-<br />
Pandemie – keine Konzerte mehr. Der<br />
große brasil ianische Pianist Nelson<br />
Freire verstarb am 1. November im Alter<br />
von 77 Jahren. •<br />
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