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Der Internationale Kongress der Konstruktivisten und Dadaisten in ...

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Gerda Wen<strong>der</strong>mann<br />

<strong>Der</strong> <strong>Internationale</strong> <strong>Kongress</strong> <strong>der</strong> <strong>Konstruktivisten</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>Dadaisten</strong> <strong>in</strong> Weimar im September 1922<br />

Versuch e<strong>in</strong>er Chronologie <strong>der</strong> Ereignisse*<br />

Vom 25. bis 26. September 1922 fand <strong>in</strong> Weimar <strong>der</strong> heute legendäre <strong>Internationale</strong><br />

<strong>Kongress</strong> <strong>der</strong> <strong>Konstruktivisten</strong> <strong>und</strong> <strong>Dadaisten</strong> statt, <strong>der</strong> für e<strong>in</strong>ige Tage<br />

die Speerspitze <strong>der</strong> zeitgenössischen Avantgarde <strong>in</strong> die Klassikerstadt lockte.<br />

Das bemerkenswerte Zusammentreffen <strong>der</strong> beiden konkurrierenden Künstlergruppen<br />

ist auf e<strong>in</strong>igen Fotografien festgehalten. Das berühmteste Foto zeigt<br />

die Teilnehmer auf den Stufen <strong>der</strong> Freitreppe des Weimarer Landesmuseums<br />

(Abb. 1). Im Zentrum des Bildes bef<strong>in</strong>det sich <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>län<strong>der</strong> Theo van Doesburg<br />

mit se<strong>in</strong>er Frau Nelly, umgeben von den <strong>Dadaisten</strong> Tristan Tzara, Hans<br />

Arp <strong>und</strong> Hans Richter, den <strong>Konstruktivisten</strong> El Lissitzky, László Moholy-Nagy<br />

<strong>und</strong> dessen Frau Lucia, Alfréd Kemény, Max <strong>und</strong> Lotte Burchartz, dem De<br />

Stijl-Architekten Cornelis van Eesteren sowie den Bauhaus-Schülern Karl Peter<br />

<strong>und</strong> Alexa Röhl sowie Werner Graeff. Dieses Foto, von dem auch e<strong>in</strong>e Variante<br />

existiert, erlebte <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nachkriegszeit e<strong>in</strong>e überraschende Karriere, da es sich<br />

<strong>in</strong> fast je<strong>der</strong> Publikation über die Kunst <strong>der</strong> 1920er Jahre f<strong>in</strong>det. Es fehlt auch<br />

<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em Katalog <strong>der</strong> beteiligten Künstler, ebenso wenig wie <strong>der</strong> H<strong>in</strong>weis auf<br />

die Teilnahme am besagten <strong>Kongress</strong>. Bei näherer Prüfung <strong>der</strong> Fakten ist die<br />

Erkenntnis umso erstaunlicher, wie wenig tatsächlich bekannt ist über die<br />

H<strong>in</strong>ter gründe <strong>und</strong> Ergebnisse dieses Treffens. Warum wurden <strong>Konstruktivisten</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Dadaisten</strong> e<strong>in</strong>geladen, die offenk<strong>und</strong>ig extrem unterschiedliche Kunstauffassun<br />

gen vertraten? Und warum wurde Weimar zum <strong>Kongress</strong>ort gewählt <strong>und</strong><br />

nicht etwa Berl<strong>in</strong>, wo e<strong>in</strong> Großteil <strong>der</strong> Teilnehmer lebte?<br />

Die Quellen sprechen dafür, dass Theo van Doesburg, <strong>der</strong> sich zwischen<br />

1921 <strong>und</strong> 1923 längere Zeit Weimar <strong>in</strong> aufhielt, <strong>der</strong> Initiator des Treffens<br />

war. Als treibende Kraft <strong>der</strong> holländischen Avantgarde war van Doesburg e<strong>in</strong><br />

Wegbereiter <strong>der</strong> abstrakten Kunst, angetrieben von e<strong>in</strong>em unerschütterlichen<br />

Glauben an den Fortschritt. Se<strong>in</strong>e Rolle <strong>und</strong> se<strong>in</strong> E<strong>in</strong>fluss auf das Weimarer<br />

Bauhaus ist bis heute umstritten, obwohl die Konfrontation mit dem leidenschaftlich<br />

engagierten De Stijl-Mitbegrün<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e entscheidende Herausfor<strong>der</strong>ung<br />

darstellte, die wesentlich zum <strong>in</strong>neren Wandel des Bauhauses <strong>in</strong> Richtung<br />

* <strong>Der</strong> vorliegende Text ist die überarbeitete Fassung e<strong>in</strong>es Vortrages, den ich am 29. Juli<br />

2007 im Rahmen des <strong>in</strong>ternationalen Symposions »Kurt Schwitters <strong>und</strong> die Avantgarde«<br />

im Sprengel Museum Hannover gehalten habe.


376<br />

gerda wen<strong>der</strong>mann<br />

e<strong>in</strong>er stärkeren Betonung von Funktionalismus <strong>und</strong> Technologie beitrug. 1 Dieser<br />

Wan del führte 1922 schließlich dazu, dass Walter Gropius gegen <strong>in</strong>nere<br />

Wi<strong>der</strong>stände überraschend die neue Parole des Bauhauses verkündete: »Kunst<br />

<strong>und</strong> Technik – e<strong>in</strong>e neue E<strong>in</strong>heit«. 2<br />

Als verantwortlicher Herausgeber <strong>der</strong> 1917 <strong>in</strong> Leiden gegründeten Zeitschrift<br />

De Stijl hatte van Doesburg von Beg<strong>in</strong>n an e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>ternationale Zusammenarbeit<br />

gleichges<strong>in</strong>nter Künstler angestrebt. Auf ausgedehnten Reisen suchte er<br />

durch persönliche Kontakte, Ausstellungsbeteiligungen <strong>und</strong> Vorträge die neuen<br />

Gestaltungsgr<strong>und</strong>lagen des Stijl <strong>in</strong> Europa zu verbreiten. Im Dezember 1920<br />

war er erstmals nach Berl<strong>in</strong> gefahren, wo er auf E<strong>in</strong>ladung von Adolf Behne im<br />

Hause des Architekten Bruno Taut Walter Gropius <strong>und</strong> Adolf Meyer kennenlernte.<br />

Nur wenige Tage später erfolgte se<strong>in</strong> erster Besuch <strong>in</strong> Weimar, <strong>der</strong> ihm<br />

Gelegenheit zu Gesprächen mit den Bauhausmeistern Johannes Itten, Lyonel<br />

Fe<strong>in</strong><strong>in</strong>ger <strong>und</strong> Georg Muche bot. Nach se<strong>in</strong>er Rückkehr <strong>in</strong> die Nie<strong>der</strong>lande<br />

äußerte er sich enthusiastisch gegenüber se<strong>in</strong>em Fre<strong>und</strong> Antony Kok, dass er<br />

»alles radikal auf den Kopf gestellt« hätte an dieser »berühmtesten Akademie,<br />

die nun mo<strong>der</strong>nste Lehrer hat«. 3 Bereits kurze Zeit später kündigte er Fe<strong>in</strong><strong>in</strong>ger<br />

se<strong>in</strong>e Absicht an, sich <strong>in</strong> Weimar nie<strong>der</strong>zulassen. Anfangs wohl <strong>in</strong> <strong>der</strong> Erwartung<br />

e<strong>in</strong>er Anstellung als Bauhausmeister, blieb van Doesburg von April 1921<br />

bis zu se<strong>in</strong>em def<strong>in</strong>itiven Umzug nach Paris im Mai 1923 zusammen mit se<strong>in</strong>er<br />

zweiten Frau Nelly, e<strong>in</strong>er ausgebildeten Pianist<strong>in</strong>, <strong>in</strong> Weimar. Se<strong>in</strong> Aufenthalt<br />

war jedoch von zahlreichen Reisen unterbrochen. Wie er an Antony Kok auf<br />

e<strong>in</strong>er Postkarte schrieb, »bombardierte« er fortan das Bauhaus mit »Stijlgeschossen«<br />

(Abb. 2), das heißt er hielt dem Bauhausunterricht eigene Kurse<br />

<strong>und</strong> Vorträge entgegen <strong>und</strong> verlegte schließlich das De Stijl-Redaktionsbüro<br />

1 Vgl. hierzu Stephan von Wiese: »Laßt alle Hoffnung fahren!« Bauhaus <strong>und</strong> De Stijl<br />

im Wi<strong>der</strong>streit. In: Sammlungskatalog Bauhaus-Archiv. Berl<strong>in</strong> 1981, S. 265-270;<br />

Wulf Herzogenrath: E<strong>in</strong> unterschiedlich bewerteter E<strong>in</strong>fluss: Theo van Doesburg <strong>in</strong><br />

Weimar 1920-1922. In: <strong>Der</strong>s. (Hrsg.): Bauhaus-Utopien. Arbeiten auf Papier. Ausstellungskatalog.<br />

Nationalgalerie Budapest u. a. O. Stuttgart 1988, S. 61-63; <strong>Der</strong>s.:<br />

Theo van Doesburg <strong>und</strong> das Bauhaus. In: Das frühe Bauhaus <strong>und</strong> Johannes Itten.<br />

Ausstellungskatalog. Kunstsammlungen zu Weimar u. a. O. Stuttgart 1994, S. 107-<br />

116; Magdalene Droste: Bauhaus 1919-1933. Köln 1990, S. 54-58; Sjarel Ex: Theo<br />

van Doesburg <strong>und</strong> das Weimarer Bauhaus. In: Theo van Doesburg. Maler <strong>und</strong> Architekt.<br />

Hrsg. von Jo-Anne Birnie Danzker. München, London, New York. S. 21-41.<br />

2 Vgl. Walter Gropius: Erklärung wegen Me<strong>in</strong>ungsverschiedenheiten am Bauhaus.<br />

3. Fe bruar 1922. ThHStAW, Bauhaus 1.3, Bl. 18 f. Siehe auch: Die Meisterratsprotokolle<br />

des Staatlichen Bauhauses Weimar 1919-1925. Hrsg. von Volker Wahl, bearb.<br />

von Ute Ackermann. Weimar 2001, S. 453, Anm. 156,17.<br />

3 Brief Theo van Doesburgs an Antony Kok, Leiden, 7. Januar 1921. Van Doesburg-<br />

Archief, Schenk<strong>in</strong>g van Moorsel, Rijksbureau voor Kunsthistorische Documentatie,<br />

Den Haag. Hier zit. nach dem nie<strong>der</strong>ländischen Orig<strong>in</strong>altext <strong>in</strong>: Theo van Doesburg<br />

1883-1931. Een documentaire op basis van materiaal uit de schenk<strong>in</strong>g van Moorsel,<br />

samengesteld door Evert van Straaten, Den Haag, 1983, S. 99 (Übersetzung d. Verf.).


konstruktivisten <strong>und</strong> dadaisten <strong>in</strong> weimar<br />

377<br />

Abbildung 1<br />

Die Teilnehmer des <strong>Kongress</strong>es am 25./26. September 1922 auf <strong>der</strong> Freitreppe des<br />

Landes museums <strong>in</strong> Weimar (v.l.n.r.), obere Reihe: Max <strong>und</strong> Lotte Burchartz, Karl Peter<br />

Röhl, Hans Vogel, Lucia <strong>und</strong> László Moholy-Nagy, Alfréd Kemény; mittlere Reihe:<br />

Alexa Röhl, El Lissitzky, Nelly <strong>und</strong> Theo van Doesburg, Bernhard Sturtzkopf; untere<br />

Reihe: Werner Graeff, N<strong>in</strong>i Smith, Harry Scheibe, Cornelis van Eesteren, Hans Richter,<br />

Tristan Tzara, Hans Arp<br />

nach Weimar. 4 Se<strong>in</strong> überzeugendes, kosmopolitisches Auftreten <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e rigorose<br />

Kritik an <strong>der</strong> expressionistisch-handwerklichen Ausrichtung des frühen<br />

Bauhauses unter dem E<strong>in</strong>fluss von Johannes Itten brachte ihm Bewun<strong>der</strong>ung<br />

wie Ablehnung e<strong>in</strong>. Noch bevor er von März bis Juli 1922 se<strong>in</strong>en ersten offiziellen<br />

De Stijl-Kursus abhielt, hatte er bereits Befürworter <strong>in</strong>nerhalb <strong>und</strong> außerhalb<br />

des Bauhauses gef<strong>und</strong>en, darunter Walter Dexel, den engagierten <strong>und</strong> e<strong>in</strong>flussreichen<br />

Leiter des Kunstvere<strong>in</strong>s <strong>in</strong> Jena, den Maler Max Burchartz <strong>und</strong> den<br />

4 Vgl. Kai-Uwe Hemken: <strong>Der</strong> ›De Stijl‹-Kurs von Theo van Doesburg <strong>in</strong> Weimar (1922).<br />

In: Bernd F<strong>in</strong>keldey, Kai-Uwe Hemken u. a. (Hrsg.): Konstruktivistische <strong>Internationale</strong><br />

Schöpferische Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft 1922-1927. Utopien für e<strong>in</strong>e europäische<br />

Kultur. Ausstellungskatalog. Kunstsammlung Nordrhe<strong>in</strong>-Westfalen, Düsseldorf 1992/<br />

Staatliche Galerie Moritzburg, Halle 1992. Ostfil<strong>der</strong>n-Ruit 1992, S. 169-177.


378<br />

gerda wen<strong>der</strong>mann<br />

Abbildung 2<br />

Ansichtskarte des Weimarer Bauhauses von Theo van Doesburg an Antony Kok,<br />

12. Sep tember 1921: »Voor de <strong>in</strong>eenstort<strong>in</strong>g wordt gebombardeerd door N´dimensionaal<br />

Stijlgeschut.«<br />

Bauhausschüler Karl Peter Röhl, <strong>in</strong> dessen Atelier <strong>der</strong> Kursus jeden Mittwochabend<br />

stattfand. 5 Es bildet sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folge e<strong>in</strong>e eigene »Stijl-Gruppe Weimar«,<br />

die unter diesem Namen auch öffentlich auftrat. Unter den Kursteilnehmern<br />

befanden sich mit Andor We<strong>in</strong><strong>in</strong>ger, Farkas Molnár <strong>und</strong> Fréd Forbát auch Anhänger<br />

<strong>der</strong> konstruktivistischen Bewegung, die <strong>in</strong> Opposition zu Itten geme<strong>in</strong>sam<br />

mit Kurt Schmidt <strong>und</strong> Peter Keler die KURI-Gruppe (Konstruktiv Utilitär<br />

Rational International) gründeten. 6 Das von Molnár verfasste KURI-Manifest<br />

weist deutliche E<strong>in</strong>flüsse des russischen Konstruktivismus <strong>und</strong> <strong>der</strong> Stijl-Bewegung<br />

auf, zumal auch Kontakt zu <strong>der</strong> von Lajos Kassák <strong>in</strong> Wien herausgegebenen<br />

ungarischen Exilzeitschrift MA bestand, dem wichtigsten publizistischen<br />

Organ <strong>der</strong> ungarischen <strong>Konstruktivisten</strong>. Wie <strong>in</strong>tensiv über Län<strong>der</strong>grenzen h<strong>in</strong>weg<br />

<strong>der</strong> künstlerische Diskurs gepflegt wurde, zeigt z. B. auch das De Stijl-Heft<br />

7 von 1922, das van Doesburg dem ungarischen Konstruktivismus widmete<br />

5 Siehe hierzu Gerda Wen<strong>der</strong>mann: Karl Peter Röhl <strong>und</strong> De Stijl <strong>in</strong> Weimar. In: Michael<br />

Siebenbrodt, Constanze Hofstaetter (Hrsg.): Karl Peter Röhl <strong>in</strong> Weimar 1912-1926.<br />

Ausstellungskatalog. Karl Peter Röhl Stiftung Weimar. Weimar 1997, S. 57-73.<br />

6 Vgl. Eva Baikay-Rosch: Die KURI-Gruppe. In: Hubertus Gaßner (Hrsg.): Wechselwirkungen.<br />

Ungarische Avantgarde <strong>in</strong> <strong>der</strong> Weimarer Republik. Ausstellungskatalog.<br />

Neue Galerie Kassel u. a. O. Marburg 1986, S. 56-74.


konstruktivisten <strong>und</strong> dadaisten <strong>in</strong> weimar<br />

379<br />

<strong>und</strong> <strong>in</strong> dem e<strong>in</strong>e Arbeit des <strong>in</strong> Deutschland zu diesem Zeitpunkt noch wenig<br />

bekannten László Moholy-Nagy abgebildet ist. Dass für van Doesburg hier<br />

durchaus Chancen bestanden, als Bauhausmeister berufen zu werden, wird aus<br />

e<strong>in</strong>em Brief Fe<strong>in</strong><strong>in</strong>gers vom 7. September 1922 deutlich:<br />

Für die meisten ist <strong>der</strong> unsentimentale, wenn auch völlig ungeniale Doesburg,<br />

so etwas wie e<strong>in</strong>e Stütze, unter all den unruhigen <strong>und</strong> wi<strong>der</strong>strebenden<br />

E<strong>in</strong>zelansichten; […] Wenn Doesburg Meister am Bauhaus würde, wäre er<br />

dem ganzen nicht schädlich, son<strong>der</strong>n eher nützlich, weil er e<strong>in</strong> Gegenpol zu<br />

mancher verstiegenen Romantik, die bei uns spukt, bedeutet. Vermutlich<br />

wäre er aber nicht fähig, sich <strong>in</strong>nerhalb se<strong>in</strong>er Grenzen e<strong>in</strong>zuschränken, son<strong>der</strong>n<br />

würde, wie Itten se<strong>in</strong>erzeit, bald das Ganze kommandieren wollen. 7<br />

Gerade die frühen 1920er Jahre zeichneten sich durch e<strong>in</strong>e Vielzahl von wi<strong>der</strong>streitenden<br />

künstlerischen Ideen aus, zu <strong>der</strong>en Propagierung wechselnde Allianzen<br />

gebildet wurden, die nach dem Vorbild <strong>der</strong> italienischen Futuristen mit<br />

kämpferischen Manifesten <strong>und</strong> Aktionen an die Öffentlichkeit traten. Auch<br />

van Doesburg suchte den Zusammenschluss mit an<strong>der</strong>en Gruppen, die wie er<br />

e<strong>in</strong>e anti-expressionistische Haltung vertraten. Bereits bei se<strong>in</strong>em ersten Berl<strong>in</strong>-<br />

Besuch Ende 1920 hatte er daher auch den Kontakt zu Hans Richter aufgenommen,<br />

<strong>in</strong> dessen Atelier sich kurze Zeit später e<strong>in</strong>e offene <strong>Konstruktivisten</strong>-<br />

Gruppe bildete, <strong>der</strong> Hans Arp, Willi Baumeister, Werner Graeff, Ludwig Mies<br />

van <strong>der</strong> Rohe, Moholy-Nagy <strong>und</strong> <strong>der</strong> russische Konstruktivist El Lissitzky beitraten,<br />

<strong>der</strong> gerade erst kurz zuvor nach Berl<strong>in</strong> gekommen war. Van Doesburgs<br />

vielfältige Aktivitäten ergaben sich auch aus se<strong>in</strong>er Doppelexistenz als Dadaist.<br />

Schon 1921 hatte er unter dem Pseudonym I. K. Bonset begonnen, regelmäßig<br />

<strong>in</strong> De Stijl Klang- <strong>und</strong> Lautgedichte sowie absurde Manifeste zu veröffentlichen.<br />

8 Er g<strong>in</strong>g sogar so weit, dass Bonset als Mitherausgeber <strong>der</strong> Dada-Zeitschrift<br />

Mécano auftrat, die ab Februar 1922 <strong>in</strong> Weimar erschien. Obwohl van<br />

Doesburg e<strong>in</strong> fanatischer Verfechter <strong>der</strong> geometrisch-abstrakten Kunst war,<br />

fügte sich <strong>der</strong> Dadaismus sehr gut <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Vision e<strong>in</strong>, denn er war davon überzeugt,<br />

dass se<strong>in</strong>e Irrationalität zur Aufweichung <strong>der</strong> alten, verkrusteten bürgerlichen<br />

Kultur beitragen <strong>und</strong> damit <strong>der</strong> künstlerischen Erneuerung den Weg bereiten<br />

könne. Zudem genoss es van Doesburg, sich frei zwischen den extremen<br />

Polen <strong>der</strong> strengen Pr<strong>in</strong>zipien De Stijls <strong>und</strong> des absurden Wi<strong>der</strong>s<strong>in</strong>ns von Dada<br />

zu bewegen, wie auch se<strong>in</strong> Fre<strong>und</strong> Kurt Schwitters betonte:<br />

<strong>Der</strong> dadaistische Künstler weist <strong>der</strong> Zeit den Weg <strong>in</strong> die Zukunft. Er vere<strong>in</strong>igt<br />

<strong>in</strong> sich die Kontraste: Dada <strong>und</strong> Konstruktion. Nur konsequente<br />

Strenge ist das Mittel, um uns aus dem Chaos zu befreien. […] Er ist durch<br />

7 Brief Lyonel Fe<strong>in</strong><strong>in</strong>gers an Julia Fe<strong>in</strong><strong>in</strong>ger. Weimar, 7. September 1922. Houghton<br />

Library, Harvard University, Cambridge, Mass.<br />

8 Siehe Theo van Doesburg: Das An<strong>der</strong>e Gesicht. Gedichte, Prosa, Manifeste, Romane<br />

1013-1928. Übers. <strong>und</strong> hrsg. von Hansjürgen Bulkowski. München 1983.


380<br />

gerda wen<strong>der</strong>mann<br />

<strong>in</strong>nere Konsequenz erhaben über den kompromittierenden Uns<strong>in</strong>n, den er<br />

erkennbar macht. […] Dada ist <strong>der</strong> Übergang. Wollen wir an <strong>der</strong> Konstruktion<br />

e<strong>in</strong>er neuen Zeit teilnehmen, s<strong>in</strong>d wir verpflichtet, mit den e<strong>in</strong>fachsten<br />

Mitteln anzufangen. 9<br />

<strong>Der</strong> Dadaismus war 1916, mitten <strong>in</strong> den Wirren des Ersten Weltkrieges <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

neutralen Schweiz, <strong>in</strong> Zürich, entstanden, wo e<strong>in</strong>e Gruppe von pazifistisch e<strong>in</strong>gestellten<br />

Emigranten, zu <strong>der</strong> Hugo Ball, Hans Arp, Tristan Tzara, Hans Richter<br />

u. a. gehörten, das legendäre »Cabaret Voltaire« gründeten. Kurz nach <strong>der</strong><br />

Eröffnung notierte Hugo Ball <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Tagebuch:<br />

Was wir Dada nennen, ist e<strong>in</strong> Narrenspiel aus dem Nichts, <strong>in</strong> das alle höheren<br />

Fragen verwickelt s<strong>in</strong>d; e<strong>in</strong>e Gladiatorengeste; e<strong>in</strong> Spiel mit den schäbigen<br />

Überbleibseln; e<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>richtung <strong>der</strong> posierten Moralität […]. <strong>Der</strong> Dadaist<br />

liebt das Außergewöhnliche ja, das Absurde. […] Jede Art Maske ist ihm<br />

darum willkommen. Jedes Versteckspiel, dem e<strong>in</strong>e düpierende Kraft <strong>in</strong>newohnt.<br />

Das Direkte <strong>und</strong> Primitive ersche<strong>in</strong>t ihm <strong>in</strong>mitten enormer Unnatur<br />

als das Unglaubliche selbst. 10<br />

In e<strong>in</strong>er Zeit, <strong>in</strong> <strong>der</strong> nach e<strong>in</strong>em bösen Wort von George Grosz, <strong>der</strong> zu <strong>der</strong><br />

politisch aggressiveren Berl<strong>in</strong>er Dada-Gruppe um Raoul Hausmann, Richard<br />

Hülsenbeck <strong>und</strong> Johannes Baa<strong>der</strong> gehörte, »die Feldherren mit Blut malten«,<br />

for<strong>der</strong>ten die <strong>Dadaisten</strong> e<strong>in</strong>e Erneuerung <strong>der</strong> Ausdrucksmittel <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Weise,<br />

die mit dem Bildungsideal des ordnungsliebenden Bürgers nichts mehr geme<strong>in</strong><br />

haben sollte. Dada <strong>und</strong> Merz, Kurt Schwitters’ eigene Dada-Version, propagierten<br />

das Spiel mit dem Absurden <strong>und</strong> den Willen zur Form – letzteres verband<br />

sie durchaus mit den <strong>Konstruktivisten</strong>. 11 An die Stelle des isoliert arbeitenden<br />

Künstlers <strong>und</strong> des damit verb<strong>und</strong>enen Geniekults setzten sie das Ideal<br />

<strong>der</strong> Künstlergeme<strong>in</strong>schaft <strong>und</strong> die geme<strong>in</strong>same Suche nach e<strong>in</strong>er elementaren<br />

ungegenständlichen Kunst. Gr<strong>und</strong>sätzlich g<strong>in</strong>g es sowohl den <strong>Dadaisten</strong> als<br />

auch den <strong>Konstruktivisten</strong> um die Rolle des Künstlers als Pionier e<strong>in</strong>er neuen<br />

Seh- <strong>und</strong> Bildkultur. Sie unterschieden sich allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> <strong>der</strong> Form <strong>der</strong> aktiven<br />

Mitgestaltung <strong>der</strong> neuen demokratischen Gesellschaft.<br />

So hatte Theo van Doesburg bereits im Oktober 1921 <strong>in</strong> De Stijl e<strong>in</strong>en »Aufruf<br />

zur elementaren Kunst« veröffentlicht, <strong>der</strong> neben den <strong>Dadaisten</strong> Raoul<br />

9 Kurt Schwitters: De zelfoverw<strong>in</strong>n<strong>in</strong>g van Dada. In: Haagsche Post, 20. Januar 1923.<br />

Hier zit. nach <strong>der</strong> dt. Übersetzung <strong>in</strong>: Die Selbstüberw<strong>in</strong>dung Dadas. In: Doesburg /<br />

Schwitters. Holland ist Dada. E<strong>in</strong> Feldzug. Hrsg. von Hubert van den Berg. Hamburg<br />

1992, S. 39-43, hier S. 42.<br />

10 Hugo Ball: Die Flucht aus <strong>der</strong> Zeit. Luzern 1946, S. 91 f.<br />

11 Vgl. Gerda Wen<strong>der</strong>mann: Merz im Quadrat. Kurt Schwitters zwischen Dadaismus<br />

<strong>und</strong> Konstruktivismus. In: Kar<strong>in</strong> Orchard, Isabel Schulz (Hrsg.): Merzgebiete. Kurt<br />

Schwitters <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Fre<strong>und</strong>e. Ausstellungskatalog. Sprengel Museum Hannover.<br />

Köln 2007, S. 98-121.


konstruktivisten <strong>und</strong> dadaisten <strong>in</strong> weimar<br />

381<br />

Hausmann <strong>und</strong> Hans Arp auch von den beiden ungarischen <strong>und</strong> russischen<br />

<strong>Konstruktivisten</strong> Moholy-Nagy <strong>und</strong> Iwan Puni unterzeichnet worden war. 12<br />

<strong>Der</strong> Aufruf, <strong>in</strong> dem van Doesburgs E<strong>in</strong>fluss ebenso deutlich ablesbar ist wie <strong>der</strong><br />

des russischen Suprematismus, verlangte nach e<strong>in</strong>er neuen, nicht-philosophischen<br />

<strong>und</strong> anti-<strong>in</strong>dividualistischen Kunst, die »ausschließlich aus ihren eigenen<br />

Elementen« aufgebaut ist.<br />

In Weimar verfolgte Theo van Doesburg dieses Ziel sowohl durch öffentliche<br />

Auftritte als auch durch gezielte Kontaktaufnahme zu den osteuropäischen<br />

<strong>Konstruktivisten</strong>. So hielt er aufgr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>ladung von Walter Dexel am<br />

29. März 1922 im Jenaer Kunstvere<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Vortrag mit dem Titel »<strong>Der</strong> Wille<br />

zum Stil«, den er nur wenige Tage später am 3. April <strong>in</strong> Weimar wie<strong>der</strong>holte –<br />

hier vor e<strong>in</strong>em »leidlich gefüllten Saal«, wie es <strong>in</strong> <strong>der</strong> Presse hieß, dessen Publikum<br />

hauptsächlich aus Bauhäuslern bestand. 13 Insbeson<strong>der</strong>e die persönliche<br />

Begegnung mit El Lissitzky im April 1922, d. h. noch vor <strong>der</strong> Ersten Russischen<br />

Kunstausstellung, die erst im Oktober <strong>in</strong> <strong>der</strong> Galerie van Diemen <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> zu<br />

sehen war, führte zu e<strong>in</strong>er kurzen, aber <strong>in</strong>tensiven Zusammenarbeit. In <strong>der</strong>en<br />

Folge erschien nicht nur Lissitzkys e<strong>in</strong>flussreiches K<strong>in</strong><strong>der</strong>buch Von zwei Quadraten<br />

als Son<strong>der</strong>druck <strong>der</strong> Zeitschrift De Stijl, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Russe konnte auch<br />

für die Berl<strong>in</strong>er Gruppe um Hans Richter gewonnen werden. Aus ihr rekrutierte<br />

sich später die »<strong>Internationale</strong> Fraktion <strong>der</strong> <strong>Konstruktivisten</strong>« – gebildet<br />

aus van Doesburg, Lissitzky <strong>und</strong> Richter –, die nach e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>samen Lagebesprechung<br />

<strong>in</strong> Weimar im Mai 1922 den ersten <strong>Kongress</strong> <strong>der</strong> »Union <strong>Internationale</strong>r<br />

Fortschrittlicher Künstler« <strong>in</strong> Düsseldorf sprengte.<br />

Zu diesem <strong>Kongress</strong>, <strong>der</strong> Auslöser für den späteren Weimarer <strong>Kongress</strong><br />

wurde, hatte die Künstlervere<strong>in</strong>igung Junges Rhe<strong>in</strong>land e<strong>in</strong>geladen. 14 Er fand<br />

Ende Mai 1922 parallel zur Eröffnung <strong>der</strong> Ersten <strong>Internationale</strong>n Kunstausstellung<br />

statt, die den russischen <strong>und</strong> ungarischen Künstlern erstmalig e<strong>in</strong>e<br />

wichtige Plattform <strong>in</strong> Deutschland bot. Auch Moholy-Nagy war hier mit Werken<br />

vertreten, obwohl er selbst, wie an<strong>der</strong>e ungarische Exilkünstler auch, aus<br />

f<strong>in</strong>anziellen Gründen nicht am <strong>Kongress</strong> teilnehmen konnte. Ziel des <strong>Kongress</strong>es<br />

war es, mit verschiedenen deutschen Künstlervere<strong>in</strong>igungen wie <strong>der</strong> Berl<strong>in</strong>er<br />

12 De Stijl, 4 (1921) H. 8, S. 156. Siehe auch Bernd F<strong>in</strong>keldey: Elementarismus. Gr<strong>und</strong>lagenforschung<br />

für e<strong>in</strong>e neue Gestaltung. In: Bernd F<strong>in</strong>keldey, Kai-Uwe Hemken:<br />

Konstruktivistische Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft (Anm. 4), S. 107-110.<br />

13 Vgl. Mathilde Frei<strong>in</strong> von Freytag-Lor<strong>in</strong>ghoven: Kunstgeschichtliche Vorträge. Theo<br />

van Doesburg: <strong>Der</strong> Wille zum Stil. In: Allgeme<strong>in</strong>e Thür<strong>in</strong>gische Landeszeitung<br />

Deutschland, 4. April 1922. Siehe auch: Anonym: Die kunstgeschicht lichen Abende.<br />

In: Weimarische Zeitung (Landeszeitung für Thür<strong>in</strong>gen), 5. April 1922.<br />

14 Vgl. Maria Müller: <strong>Der</strong> Kongreß <strong>der</strong> ›Union <strong>Internationale</strong>r Fortschrittlicher Künstler‹<br />

<strong>in</strong> Düsseldorf. In: Bernd F<strong>in</strong>keldey, Kai-Uwe Hemken: Konstruktivistische Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft<br />

(Anm. 4), S. 17-22; Kai-Uwe Hemken: »Muß die neue Kunst den<br />

Massen dienen?« Zur Utopie <strong>und</strong> Wirklichkeit <strong>der</strong> ›Konstruktivistischen <strong>Internationale</strong>‹.<br />

In: Ebd., S. 57-67.


382<br />

gerda wen<strong>der</strong>mann<br />

Novembergruppe, <strong>der</strong> Darmstädter <strong>und</strong> <strong>der</strong> Dresdner Sezession, <strong>der</strong> Halleschen<br />

Künstlergruppe, dem Deutschen Werkb<strong>und</strong> u. a. e<strong>in</strong>e Art Union zu bilden zur<br />

Durchsetzung geme<strong>in</strong>samer Interessen. E<strong>in</strong>geladen waren außerdem die Vertreter<br />

<strong>der</strong> führenden Avantgardezeitschriften Europas, wie etwa Herwarth Walden<br />

für den Sturm, Enrico Prampol<strong>in</strong>i für die italienischen Futuristen, Lissitzky<br />

<strong>und</strong> Puni für die russischen <strong>Konstruktivisten</strong>. Die ungarischen Künstler waren<br />

wohl nur durch László Peri vertreten. <strong>Der</strong> ereignisreiche Verlauf des <strong>Kongress</strong>es<br />

ist durch e<strong>in</strong>ige Augenzeugenberichte überliefert. So verließen bereits am zweiten<br />

Tag van Doesburg, Lissitzky <strong>und</strong> Hans Richter, aber auch Raoul Hausmann<br />

<strong>und</strong> Prampol<strong>in</strong>i unter Protest den Versammlungssaal. Auslöser war ihre Kritik<br />

an e<strong>in</strong>em vorbereiteten Gründungsmanifest, das nach ihrer Ansicht zu e<strong>in</strong>seitig<br />

wirtschaftliche <strong>und</strong> ausstellungsorganisatorische Interessen <strong>der</strong> Künstler <strong>in</strong> den<br />

Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong> stellte. Stattdessen for<strong>der</strong>ten sie <strong>in</strong> ihren Deklarationen e<strong>in</strong>e entschiedene<br />

Absage an das Individualistische <strong>und</strong> Subjektivistische <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kunst.<br />

Künstler dürften nicht mehr zur Befriedigung <strong>der</strong> ästhetischen Bedürfnisse weniger<br />

Personen arbeiten, son<strong>der</strong>n müssten, wie Lissitzky <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Manifest<br />

betonte, geme<strong>in</strong>sam mit dem Wissenschaftler, dem Ingenieur <strong>und</strong> dem Arbeiter<br />

dem Aufbau e<strong>in</strong>er neuen Kultur dienen. Im Blickpunkt stand aber nicht nur die<br />

Übernahme von Verantwortung für e<strong>in</strong>e neue Gesellschaft, son<strong>der</strong>n vor allem<br />

auch <strong>der</strong> Wunsch, e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same <strong>in</strong>ternationale künstlerische Sprache zu<br />

entwickeln. Am selben Tag unterzeichneten van Doesburg, Lissitzky <strong>und</strong> Richter<br />

e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Erklärung <strong>der</strong> »Fraktion <strong>der</strong> <strong>Konstruktivisten</strong>«, mit <strong>der</strong> sie<br />

versuchten, die Konsequenzen aus dem Scheitern des Düsseldorfer <strong>Kongress</strong>es<br />

zu ziehen: »Wir def<strong>in</strong>ieren den fortschrittlichen Künstler als e<strong>in</strong>en solchen, <strong>der</strong><br />

die Vorherrschaft des Subjektiven <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kunst verne<strong>in</strong>t <strong>und</strong> bekämpft <strong>und</strong><br />

se<strong>in</strong>e Werke nicht auf lyrischer Willkür aufbaut, son<strong>der</strong>n auf dem Pr<strong>in</strong>zip des<br />

neuen Gestaltens durch systematische Organisation <strong>der</strong> Mittel zu e<strong>in</strong>em allgeme<strong>in</strong>-verständlichen<br />

Ausdruck.« 15 Basis sollte also e<strong>in</strong>e Kunst se<strong>in</strong>, die sich<br />

vergleichbar <strong>der</strong> Wissenschaft <strong>und</strong> <strong>der</strong> Technik als »Organisationsmethode«<br />

des allgeme<strong>in</strong>en Lebens versteht <strong>und</strong> die als »Werkzeug des allgeme<strong>in</strong>en Arbeitsprozesses«<br />

dem Fortschritt <strong>der</strong> Menschheit dient.<br />

Theo van Doesburg berichtete voller Genugtuung nach <strong>der</strong> Rückkehr se<strong>in</strong>em<br />

Fre<strong>und</strong> Antony Kok:<br />

Ich hab’ De Stijl mit Kraft verteidigt. Die Leute brüllten: ›Akademie!‹ ›Wir<br />

wollen ke<strong>in</strong>e Diktatur‹ usw. […] Das Ende war natürlich, daß wir unter heftigem<br />

Protest den Saal verlassen mußten, […]. Auf jeden Fall wissen wir<br />

jetzt, mit wem wir für den nächsten Kongreß rechnen können. Die Futuristen,<br />

<strong>Dadaisten</strong> <strong>und</strong> noch an<strong>der</strong>e haben das Gebäude mit uns verlassen […].<br />

Das zweite Mal werden wir es besser tun. Von den Russen haben wir enorme<br />

15 Hier zit. nach dem Abdruck des Textes <strong>in</strong>: Bernd F<strong>in</strong>keldey, Kai-Uwe Hemken<br />

(Hrsg.): Konstruktivistische Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft (Anm. 4), S. 304.


konstruktivisten <strong>und</strong> dadaisten <strong>in</strong> weimar<br />

383<br />

Unterstützung! […] Wir arbeiten jetzt hart für die <strong>Internationale</strong>, die noch<br />

vor dem W<strong>in</strong>ter zustandekommen muß. 16<br />

Tatsächlich plante van Doesburg bereits Anfang Juni 1922 e<strong>in</strong>en <strong>Kongress</strong> <strong>der</strong><br />

»Neuesten« – allerd<strong>in</strong>gs zu diesem Zeitpunkt noch <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, wie aus e<strong>in</strong>em<br />

Brief an Tristan Tzara, <strong>der</strong> 1920 von Zürich nach Paris gewechselt war <strong>und</strong><br />

dort e<strong>in</strong>e neue Dada-Gruppe gebildet hatte, hervorgeht: »Ich war <strong>in</strong> Düsseldorf<br />

auf e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>ternationalen Kongreß <strong>der</strong> avantgardistischen Künstler. […] Es<br />

war e<strong>in</strong> vollkommen idiotisches Milieu! Und reaktionär! Wir bereiten e<strong>in</strong>en<br />

an<strong>der</strong>en Kongreß <strong>der</strong> Neuesten <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> vor. Ich werde Sie mit Man Ray, Ribemont-Dessaignes<br />

etc. e<strong>in</strong>laden!« 17<br />

Gleichwohl vermitteln die erhaltenen diversen Briefwechsel nicht den E<strong>in</strong>druck<br />

e<strong>in</strong>er von Beg<strong>in</strong>n an zielgerichteten Organisation e<strong>in</strong>es geme<strong>in</strong>samen<br />

<strong>Kongress</strong>es von <strong>Dadaisten</strong> <strong>und</strong> <strong>Konstruktivisten</strong>, son<strong>der</strong>n es kursierten zunächst<br />

viele E<strong>in</strong>zelpläne. <strong>Der</strong> Zufall sche<strong>in</strong>t auch hier e<strong>in</strong>e Rolle gespielt zu haben. So<br />

lässt sich e<strong>in</strong>em Schreiben Raoul Hausmanns an van Doesburg im Juli entnehmen,<br />

dass für den Herbst e<strong>in</strong> Auftritt des Berl<strong>in</strong>er <strong>Dadaisten</strong> als Tänzer <strong>in</strong> Weimar<br />

geplant war, dem sich e<strong>in</strong>e Tournee anschließen sollte. 18 Das Scheitern<br />

dieser Pläne führte wohl zu e<strong>in</strong>em Zerwürfnis zwischen beiden Künstlern <strong>und</strong><br />

würde das Fehlen Hausmanns auf dem Weimarer <strong>Kongress</strong> erklären. Parallel<br />

beschäftigte van Doesburg sich im Sommer 1922 außerdem <strong>in</strong>tensiv mit <strong>der</strong><br />

Herausgabe se<strong>in</strong>er experimentell gestalteten dadaistischen Zeitschrift Mécano.<br />

Er warb hierfür <strong>in</strong>tensiv um die Mitarbeit von gleichges<strong>in</strong>nten Künstlern im<br />

In- <strong>und</strong> Ausland, zu denen vor allem Kurt Schwitters, Hans Arp <strong>und</strong> Tristan<br />

Tzara zählten. Gegenüber letzterem beklagte er, dass <strong>der</strong> deutsche Dadaismus<br />

viel zu politisch sei, sicherlich e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> Hauptgründe, warum die Berl<strong>in</strong>er <strong>Dadaisten</strong><br />

nicht nach Weimar e<strong>in</strong>geladen wurden. 19<br />

Erst ab Mitte Juli nahm <strong>der</strong> geplante <strong>Kongress</strong> konkretere Gestalt an. Tzara<br />

kündigte van Doesburg se<strong>in</strong>en Besuch <strong>in</strong> Weimar für Mitte September an. Dieser<br />

bot ihm daraufh<strong>in</strong> an, e<strong>in</strong>e Soirée <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Atelier zu organisieren, wo<br />

16 Brief van Doesburgs an Antony Kok, 6. Juni 1922. Van Doesburg-Archief, Schenk<strong>in</strong>g<br />

van Moorsel, Rijksbureau voor Kunsthistorische Documentatie, Den Haag.<br />

Hier zit. nach: Bernd F<strong>in</strong>keldey, Kai-Uwe Hemken: Konstruktivistische Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft<br />

(Anm. 4), S. 313.<br />

17 Brief van Doesburgs an Tristan Tzara, 4. Juni 1922. Hier zit. nach Raoul Schrott:<br />

Dada 15/25. Innsbruck 1992, S. 300.<br />

18 Undatierter Brief Raoul Hausmanns an van Doesburg, Juli 1922, Prerow. Van Doesburg-Archief,<br />

Schenk<strong>in</strong>g van Moorsel, Rijksbureau voor Kunsthistorische Documentatie,<br />

Den Haag. Siehe auch: Eva Züchner (Hrsg.): Scharfrichter <strong>der</strong> bürgerlichen<br />

Seele. Raoul Hausmann <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> 1900-1933. Unveröffentlichte Briefe, Texte,<br />

Dokumente aus den Künstler-Archiven <strong>der</strong> Berl<strong>in</strong>ischen Galerie. Ostfil<strong>der</strong>n 1998,<br />

S. 153, Anm. 4.<br />

19 Vgl. <strong>und</strong>atierten Brief van Doesburgs an Tristan Tzara, Juli 1921. Hier zit. nach<br />

Raoul Schrott: Dada 15/25 (Anm.17), S. 282.


384<br />

gerda wen<strong>der</strong>mann<br />

Tzara e<strong>in</strong>en Vortrag über Dada halten könnte: »Das wäre sehr lustig <strong>in</strong> Weimar.<br />

Gegen Goethes Gebe<strong>in</strong>e <strong>und</strong> die pittoreske Atmosphäre mit den Sirenen<br />

<strong>und</strong> Faunen, die viel zu schwere Füße haben.« 20 Van Doesburg erwähnte als<br />

Alternative, dass es eventuell auch möglich sei, diese Soirée <strong>in</strong> <strong>der</strong> Villa Dürckheim<br />

stattf<strong>in</strong>den zu lassen. Er selbst hatte im Mai <strong>in</strong> <strong>der</strong> durch Henry van de<br />

Velde errichteten großbürgerlichen Villa e<strong>in</strong>en Vortrag gehalten. Nach eigener<br />

Aussage hatte die Gräf<strong>in</strong> Dürckheim 21 ihm ihren Salon angeboten, um dort<br />

Vorträge <strong>und</strong> Konferenzen zu veranstalten. E<strong>in</strong>e Woche später, am 8. August,<br />

kündigte Tzara an, se<strong>in</strong>en Vortrag am Freitag, den 22. September, halten zu<br />

wollen. Er selbst träfe <strong>in</strong> Begleitung von Hans Arp bereits am 19. September<br />

e<strong>in</strong>. Wie<strong>der</strong>um zwei Wochen später schlug Tzara vor, dass auch Arp e<strong>in</strong>ige se<strong>in</strong>er<br />

Gedichte vortragen könnte, aber erst am 7. September opponierte er gegen<br />

van Doesburgs bisherige Pläne von e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en <strong>in</strong>timen Veranstaltung: »E<strong>in</strong><br />

nicht zu großer <strong>und</strong> auch nicht zu kle<strong>in</strong>er Saal wäre vorzuziehen; auch müssten<br />

Anzeigen <strong>in</strong> den Zeitungen gemacht werden (selbst <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>) <strong>und</strong> spezielle E<strong>in</strong>ladungen,<br />

als von Mécano organisierte Konferenz.« 22<br />

Zu diesem Zeitpunkt entwickelte van Doesburg auch erste Pläne zu e<strong>in</strong>er<br />

geme<strong>in</strong>samen Dada-Tournee durch die Nie<strong>der</strong>lande, die noch im Oktober o<strong>der</strong><br />

November desselben Jahres stattf<strong>in</strong>den sollte, <strong>und</strong> versuchte hierfür neben<br />

Schwitters <strong>und</strong> Hausmann auch Tzara, Arp <strong>und</strong> an<strong>der</strong>e Pariser <strong>Dadaisten</strong> zu<br />

gew<strong>in</strong>nen. 23 Auf e<strong>in</strong>e diesbezügliche Anfrage antwortete Schwitters mit e<strong>in</strong>er<br />

enthusiastischen Zusage, <strong>in</strong> <strong>der</strong> er e<strong>in</strong>en geme<strong>in</strong>samen Sketch <strong>in</strong> fünf Sprachen<br />

vorschlug. Geme<strong>in</strong>sam mit Hausmann könne er auch e<strong>in</strong>en Vortrag ab strakter<br />

Poesie <strong>und</strong> e<strong>in</strong>en Tanz mit Klopfbegleitung anbieten. Aus diesem Brief vom<br />

13. September lässt sich schließen, dass Schwitters erst zu diesem späten Zeitpunkt<br />

zu dem anstehenden Weimarer <strong>Kongress</strong> e<strong>in</strong>geladen wurde: »Nach Weimar<br />

wollte ich das ganze Jahr schon kommen, aber me<strong>in</strong>e Reise hat sich <strong>in</strong>folge<br />

von Krankheit <strong>und</strong> Arbeit <strong>und</strong> an<strong>der</strong>en Reisen stets verschoben.« 24 In <strong>der</strong> Tat<br />

suchte Schwitters, <strong>der</strong> schon 1921 im Jenaer Kunstvere<strong>in</strong> mit se<strong>in</strong>en Lautgedichten<br />

aufgetreten war, seit Anfang des Jahres e<strong>in</strong>e Möglichkeit <strong>in</strong> Weimar<br />

auszustellen <strong>und</strong> bat Walter Dexel um Vermittlung. Anfang September hatte er<br />

20 Brief van Doesburgs an Tristan Tzara, 23. Juli 1933. Hier zit. nach: Ebd. S. 303.<br />

21 Charlotte von Kusserow (1869-1959)<br />

22 Brief Tzaras an van Doesburg, 7. September 1922. Hier zit. nach Raoul Schrott:<br />

Dada 15/25 (Anm. 17), S. 307.<br />

23 Vgl. zur Dada-Tournee durch die Nie<strong>der</strong>lande Karl Schippers: Holland Dada. Amsterdam<br />

1974, S. 54-91; Hubert van den Berg: Holland ist Dada (Anm. 9); Meta Knoll:<br />

Kurt Schwitters <strong>in</strong> Ne<strong>der</strong>land. In: Kurt Schwitters <strong>in</strong> Ne<strong>der</strong>land. Merz, De Stijl &<br />

Holland Dada. Ausstellungskatalog. Stadsgalerij Heerlen 1997. Zwolle 1997,<br />

S. 19-24.<br />

24 Brief Kurt Schwitters’ an van Doesburg, 13. September 1922. Hier zit. nach Kurt<br />

Schwit ters: Wir spielen, bis uns <strong>der</strong> Tod abholt. Briefe aus fünf Jahrzehnten, gesammelt,<br />

ausgewählt u. kommentiert von Ernst Nündel, Frankfurt/M., Berl<strong>in</strong> 1994, S. 71.


konstruktivisten <strong>und</strong> dadaisten <strong>in</strong> weimar<br />

385<br />

schließlich selbst Kontakt mit Wilhelm Köhler, dem Direktor <strong>der</strong> Staatlichen<br />

Kunstsammlungen zu Weimar, aufgenommen. 25 Köhler zeigte sich jedoch ke<strong>in</strong>eswegs<br />

begeistert von Schwitters’ Angebot, wie er Dexel schrieb. Obwohl<br />

Köhler auf sehr mutige Weise das Weimarer Landesmuseum für die aktuelle<br />

zeitgenössische Kunst öffnete <strong>und</strong> hier als e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> ersten Museumsdirektoren<br />

<strong>in</strong> Deutschland kon struktivistische Kunst zeigte, fehlte ihm doch das Verständnis<br />

für Schwitters’ eigens<strong>in</strong>nige Collagenkunst. 26<br />

Während Schwitters noch am 19. September, also knapp e<strong>in</strong>e Woche vor<br />

dem <strong>Kongress</strong>, an Dexel vage schrieb, er käme im Oktober nach Weimar <strong>und</strong><br />

Jena, stand <strong>der</strong> genaue Term<strong>in</strong> für László Moholy-Nagy <strong>und</strong> damit für den<br />

Berl<strong>in</strong>er <strong>Konstruktivisten</strong>-Kreis m<strong>in</strong>destens seit Anfang September fest. Dass<br />

auch Moholy-Nagy am Zustandekommen dieses Treffens beteiligt war, zeigt<br />

e<strong>in</strong>e Postkarte vom 7. September an Walter Dexel, <strong>der</strong> von Jena aus die zunehmende<br />

Konkretisierung <strong>der</strong> <strong>Kongress</strong>pläne verfolgte:<br />

Ich freue mich sehr über Ihre Karte <strong>und</strong> teile mit, dass wir (wenn ich <strong>in</strong>zwischen<br />

Sie nicht an<strong>der</strong>s verständige) am 25. IX. <strong>in</strong> Weimar se<strong>in</strong> werden,<br />

wo – wie ich Richter gebeten habe <strong>und</strong> wie ich hoffe – wir alle noch e<strong>in</strong>mal<br />

die Möglichkeiten <strong>der</strong> Konstruktivistischen <strong>Internationale</strong> durchsprechen<br />

sollten. Es wäre sehr gut, wenn Sie auch kämen. Ich versuche auch noch<br />

an<strong>der</strong>e Fre<strong>und</strong>e zu dieser Reise aufzufor<strong>der</strong>n. 27<br />

Welche Zielsetzung Moholy-Nagys verfolgte, geht aus se<strong>in</strong>er Bitte hervor:<br />

»Wenn Sie jemanden (nicht Künstler), <strong>der</strong> wirklich e<strong>in</strong> heutiger Mensch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Art ist (Technik, Erf<strong>in</strong>den, Wissenschaft usw.) kennen, br<strong>in</strong>gen Sie ihn auch<br />

mit.« Hieraus wird deutlich, dass Moholy-Nagy den Weimarer <strong>Kongress</strong> e<strong>in</strong>deutig<br />

als Treffen <strong>der</strong> »Konstruktivistischen <strong>Internationale</strong>« ansah, auf dem die<br />

gesellschaftliche Rolle <strong>der</strong> Kunst diskutiert werden sollte. In diesem S<strong>in</strong>ne hatten<br />

die <strong>in</strong> Wien <strong>und</strong> Berl<strong>in</strong> im Exil lebenden ungarischen <strong>Konstruktivisten</strong> Lajos<br />

Kassák, Ernst Kállai <strong>und</strong> Moholy-Nagy kurz nach dem Scheitern des Düsseldorfer<br />

<strong>Kongress</strong>es e<strong>in</strong> eigenes radikales Manifest formuliert, das auch von Theo<br />

van Doesburg <strong>in</strong> De Stijl publiziert worden war <strong>und</strong> mit dem sie im Vorfeld <strong>der</strong><br />

Weimarer Tagung ihre Position <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen Künstlerszene<br />

festigten. 28 Zudem löste das Ersche<strong>in</strong>en des von Kassák <strong>und</strong> Moholy-Nagy ge-<br />

25 Vgl. Postkarte von Kurt Schwitters an Wilhelm Köhler, 1. September 1922. Archiv<br />

<strong>der</strong> Kunstsammlungen zu Weimar, Akte KUSA 1/18.<br />

26 Vgl. Gerda Wen<strong>der</strong>mann: Fre<strong>und</strong> <strong>und</strong> För<strong>der</strong>er <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Kunst: Wilhelm Köhler<br />

als Direktor <strong>der</strong> Staatlichen Kunstsammlungen zu Weimar. In: Rolf Bothe, Thomas<br />

Föhl (Hrsg.): Aufstieg <strong>und</strong> Fall <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. Ausstellungskatalog. Kunstsammlungen<br />

zu Weimar 1999. Ostfil<strong>der</strong>n-Ruit 1999, S. 308-324, hier S. 312 f.<br />

27 Postkarte László Moholy-Nagys an Walter Dexel, 7. September 1922. Hier zit.<br />

nach Maria Schmid (Hrsg.): Dexel <strong>in</strong> Jena. Jena 2002, S. 76.<br />

28 Abgedruckt <strong>in</strong> Bernd F<strong>in</strong>keldey, Kai-Uwe Hemken: Konstruktivistische Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft<br />

(Anm. 4), S. 305-307.


386<br />

gerda wen<strong>der</strong>mann<br />

me<strong>in</strong>sam herausgegebenen Buch[s] neuer Künstler im September unterschiedliche<br />

Spannungen zwischen Moholy-Nagy <strong>und</strong> Lissitzky auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite <strong>und</strong><br />

zwischen Moholy-Nagy <strong>und</strong> van Doesburg auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite aus. Tatsächlich<br />

sollte <strong>der</strong> anstehende <strong>Kongress</strong> ursprünglich die Führungsrolle des Nie<strong>der</strong>län<strong>der</strong>s<br />

unterstreichen, doch das Kräftemessen zwischen van Doesburg <strong>und</strong><br />

Moholy-Nagy verlief nur wenige Monate vor <strong>der</strong> Berufung des Ungarn an das<br />

Weimarer Bauhaus an<strong>der</strong>s als geplant.<br />

Noch kurz vor dem <strong>Kongress</strong> g<strong>in</strong>g van Doesburg <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Brief an Antony<br />

Kok vom 18. September auf diese Spannungen e<strong>in</strong>:<br />

Ich hatte Dir schon viel früher schreiben wollen, aber ich war wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong><br />

für die Konstruktivistische <strong>Internationale</strong>. Wie Du weißt, habe ich mich<br />

auf <strong>der</strong> letzten Zusammenkunft bei Moholy-Nagy zurückgezogen, da ich<br />

sah, daß die Zeit für e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>sames künstlerisches Streben noch nicht reif<br />

war. Jetzt habe ich alles […] überlegt, <strong>und</strong> […] b<strong>in</strong> zu <strong>der</strong> E<strong>in</strong>sicht gelangt,<br />

daß e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>ternationale Solidarität notwendig ist. 29<br />

Allerd<strong>in</strong>gs erkannte er bei den Ungarn die Gefahren <strong>der</strong> Ideologie für die Freiheit<br />

<strong>der</strong> Kunst: »Vergiß nicht, daß diese Leute die Sache ganz an<strong>der</strong>s sehen,<br />

nämlich <strong>der</strong> Kommunismus als ideales Pr<strong>in</strong>zip, während die Frage für uns re<strong>in</strong><br />

taktisch ist. Bei denen g<strong>in</strong>g es darum, die Kunst dem Kommunismus unterzuordnen,<br />

bei uns, die Konsequenzen <strong>der</strong> neuen Kunst durchzusetzen <strong>und</strong> dafür<br />

e<strong>in</strong>e feste Unterstützung von <strong>der</strong> Masse zu bekommen.« 30 Weiter führte van<br />

Doesburg e<strong>in</strong>e Woche vor Beg<strong>in</strong>n des <strong>Kongress</strong>es aus:<br />

Wir haben all diese Punkte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Proklamation festgelegt. Die <strong>Internationale</strong><br />

<strong>der</strong> Schöpferischen ist nur möglich: 1. als Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft; 2. als<br />

sozialpaedagogische Körperschaft. Wir müssen die Masse h<strong>in</strong>ter uns haben.<br />

[…] Wir s<strong>in</strong>d jetzt so weit, daß es am 25. September <strong>in</strong> Weimar e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en<br />

Künstlerkongreß geben wird; 2. daß die Gr<strong>und</strong>lage festgelegt worden ist;<br />

3. daß Papier gekauft worden ist für das Organ: Konstruktion. Nur fehlen<br />

noch 15.000 Mark fürs Drucken, aber die wird Richter versuchen <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong><br />

zusammenzukriegen.<br />

Die hier erwähnte Zeitschrift wurde von Hans Richter erst 1923 unter dem<br />

neuen Titel G – Material zur elementaren Gestaltung gegründet, an <strong>der</strong> sich auch<br />

e<strong>in</strong> Großteil <strong>der</strong> Teilnehmer des Weimarer <strong>Kongress</strong>es mit Beiträgen beteiligte. 31<br />

29 Brief van Doesburgs an Antony Kok, 18. September 1922. Van Doesburg-Archief,<br />

Schenk<strong>in</strong>g van Moorsel, Rijksbureau voor Kunsthistorische Documentatie, Den<br />

Haag. Hier zit. nach Bernd F<strong>in</strong>keldey, Kai-Uwe Hemken: Konstruktivistische Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft<br />

(Anm. 4), S. 314 f.<br />

30 Ebd.<br />

31 Vgl. den Repr<strong>in</strong>t <strong>der</strong> Zeitschrift G – Material zur elementaren Gestaltung. Hrsg.<br />

von Marion von Hofacker. München 1986.


konstruktivisten <strong>und</strong> dadaisten <strong>in</strong> weimar<br />

387<br />

In Weimar kam es zu dem von van Doesburg erwarteten Konflikt zwischen<br />

se<strong>in</strong>en Dada-Fre<strong>und</strong>en <strong>und</strong> den <strong>Konstruktivisten</strong>, denn am Dienstag, den<br />

19. Sep tember, trafen zuerst Tristan Tzara <strong>und</strong> Hans Arp e<strong>in</strong>, am Sonnabend,<br />

den 23. Sep tember, Kurt Schwitters. H<strong>in</strong>gegen waren Moholy-Nagy <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e<br />

Landsleute bei ihrer Ankunft völlig unvorbereitet, wie dieser sich später er<strong>in</strong>nerte:<br />

Als wir dort ankamen, fanden wir zu unserer großen Überraschung die <strong>Dadaisten</strong><br />

Hans Arp <strong>und</strong> Tristan Tzara vor. Dies löste e<strong>in</strong>e Rebellion gegen den<br />

Gastgeber Theo van Doesburg aus, da wir zu diesem Zeitpunkt den Dadaismus<br />

im Verhältnis zu <strong>der</strong> neuen Weltanschauung <strong>der</strong> <strong>Konstruktivisten</strong> als<br />

e<strong>in</strong>e destruktive <strong>und</strong> überholte Bewegung bewerteten. Van Doesburg, e<strong>in</strong>e<br />

starke Persönlichkeit, beruhigte den Sturm, <strong>und</strong> die Gäste wurden zur Bestürzung<br />

<strong>der</strong> jungen, puristischen Teilnehmer akzeptiert, die sich langsam<br />

zurückzogen <strong>und</strong> es zuließen, daß sich <strong>der</strong> Kongreß <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e dadaistische Veranstaltung<br />

verwandelte. 32<br />

Offensichtlich war Moholy-Nagy vor dem <strong>Kongress</strong> nicht bekannt, dass <strong>der</strong><br />

Nie<strong>der</strong>län<strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Person Konstruktivist <strong>und</strong> Dadaist war. Da van Doesburg<br />

die Gefahr e<strong>in</strong>er Politisierung <strong>der</strong> »<strong>Internationale</strong>n« sah, die se<strong>in</strong>es Erachtens<br />

zu e<strong>in</strong>em Instrument ideologisch-parteipolitischer Interessen zu verkommen<br />

drohte, musste <strong>der</strong> Kongreß gestört werden. <strong>Der</strong> geplante Auftritt <strong>der</strong> <strong>Dadaisten</strong><br />

schien ihm e<strong>in</strong>e wirkungsvolle Abwehr gegen jeden Mißbrauch <strong>der</strong> Kunst.<br />

Er versicherte sich hierbei auch <strong>der</strong> Unterstützung von Hans Richter, <strong>der</strong> ihm<br />

schrieb: »Daß Du die Intern. wie<strong>der</strong> aufwärmst, schön, wir brauchen sie: nicht<br />

nur als Kampfmittel gegen die Reaktion, nicht nur als Organisation <strong>und</strong> Marktmittel<br />

unsere Arbeiten auszuführen, son<strong>der</strong>n für beides […]. Mit dem Zusammengehen<br />

mit den <strong>Dadaisten</strong> b<strong>in</strong> ich vollkommen e<strong>in</strong>verstanden. Ich f<strong>in</strong>de, daß<br />

Tzara <strong>und</strong> Arp die Welt <strong>und</strong> die Kunst 1000-mal klarer begreifen, als selbst die<br />

Mehrheit unseres kle<strong>in</strong>en Kreises.« 33<br />

Über den turbulenten Ablauf <strong>der</strong> eigentlichen Ereignisse <strong>in</strong> Weimar veröffentlichte<br />

van Doesburg im Heft 3 von Mécano e<strong>in</strong>e furiose, im knappen Telegrammstil<br />

verfasste <strong>und</strong> zwischen drei Sprachen wechselnde Chronik (Abb. 3),<br />

die die Gr<strong>und</strong>lage für die folgende, kommentierte Rekonstruktion <strong>der</strong> Chronologie<br />

bildet. Hiernach trafen am Dienstag, den 19. September, Tzara <strong>und</strong> Arp<br />

bei mildem Wetter <strong>in</strong> Weimar e<strong>in</strong>, das Arp sehr vertraut war, da er hier von<br />

1905 bis 1908 an <strong>der</strong> Großherzoglich Sächsischen Kunstschule, <strong>der</strong> Vorläufer<strong>in</strong><br />

des Bauhauses, studiert hatte. Am folgenden Tag sche<strong>in</strong>t zunächst wenig pas-<br />

32 Sybil Moholy-Nagy (Hrsg.): László Moholy Nagy. Vision <strong>in</strong> Motion. Chicago 1947,<br />

S. 315. Hier zit. nach <strong>der</strong> deutschen Übersetzung <strong>in</strong>: Kai-Uwe Hemken: »Muß die<br />

neue Kunst …« (Anm. 14), S. 40.<br />

33 Brief Hans Richters an van Doesburg, <strong>und</strong>atiert. Van Doesburg-Archief, Schenk<strong>in</strong>g<br />

van Moorsel, Rijksbureau voor Kunsthistorische Documentatie, Den Haag.


388<br />

gerda wen<strong>der</strong>mann<br />

Abbildung 3<br />

Theo van Doesburg, Chronik, Mécano, Heft 3, 1922


konstruktivisten <strong>und</strong> dadaisten <strong>in</strong> weimar<br />

389<br />

siert zu se<strong>in</strong>, denn van Doesburg notierte nur die Versendung von 28 Telegrammen.<br />

Am Donnerstag, den 21. September, besuchte Tzara das Bauhaus, e<strong>in</strong><br />

Besuch, <strong>der</strong> van Doesburg Anlass zu e<strong>in</strong>em bissigen Kommentar über das Bauhaus<br />

gibt, das er als e<strong>in</strong> von Mazdaznan <strong>und</strong> Expressionismus verseuchtes<br />

Künstler-Krankenhaus beschreibt. Von e<strong>in</strong>er absoluten Impotenz <strong>der</strong> Meister<br />

ist hier satirisch die Rede. E<strong>in</strong>e Ausnahme bilde lediglich <strong>der</strong> Direktor, Walter<br />

Gropius. Die Schüler seien begabter als ihre Meister. Über Freitag, den 22. September,<br />

heißt es <strong>in</strong> <strong>der</strong> Chronik lakonisch: »Tr<strong>in</strong>ken – tr<strong>in</strong>ken – tr<strong>in</strong>ken – betrunken.«<br />

Offenbar zog die Gruppe, <strong>der</strong> sich <strong>in</strong>zwischen <strong>der</strong> holländische Architekt<br />

Cornelis van Eesteren, Max Burchartz sowie die Bauhaus-Schüler Karl<br />

Peter Röhl <strong>und</strong> Werner Graeff angeschlossen hatten, feuchtfröhlich durch die<br />

gastronomischen Etablissements <strong>der</strong> Klassikerstadt. E<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>sam entworfene<br />

Postkarte gibt etwas von <strong>der</strong> ausgelassenen Atmosphäre wie<strong>der</strong>: »24 St<strong>und</strong>en<br />

betrunken ist Does. Rette was Du retten kannst: Wir haben soeben das<br />

Bauhaus verlassen.« 34 Als Treffpunkt dienten das Atelier von van Doesburg<br />

(Abb. 4), <strong>der</strong> <strong>in</strong> den Sommermonaten das Atelier des Weimarer Schlachtenmalers<br />

Baron von Eschwege an <strong>der</strong> Falkenburg 35 angemietet hatte, sowie die<br />

Ateliers von Max Burchartz <strong>und</strong> Karl Peter Röhl <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kunstschulstraße, heute<br />

Geschwister Scholl-Straße. Beliebt waren auch die Indische Teestube <strong>in</strong> <strong>der</strong> Marienstraße<br />

<strong>und</strong> das heute noch existierende Residenz-Café (Abb. 5). Im Weimarer<br />

K<strong>in</strong>o von Louis Held lief <strong>in</strong> jener Woche <strong>der</strong> Film <strong>Der</strong> brennende Acker von<br />

Friedrich Wilhelm Murnau mit Werner Kraus <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hauptrolle.<br />

Am 23. September traf Schwitters <strong>in</strong> Begleitung se<strong>in</strong>er Frau Helma e<strong>in</strong>. Sie<br />

besuchten ebenfalls das Bauhaus. Vermutlich begegnete er hier Oskar Schlemmer,<br />

<strong>der</strong> ihn zuvor im März <strong>in</strong> Hannover aufgesucht hatte. Hans Richter er<strong>in</strong>nerte<br />

sich später an die Ankunft des hochgewachsenen Merz-Künstlers:<br />

Schon e<strong>in</strong>en Tag vorher [vor dem <strong>Kongress</strong>] saßen wir, um ›Pläne zu schmieden‹,<br />

was immer Doesburg im S<strong>in</strong>ne haben mochte, <strong>in</strong> Peter Röhls kle<strong>in</strong>em<br />

Atelier […], als sich die Tür öffnete <strong>und</strong> e<strong>in</strong> großer, wohlgenährter Mann <strong>in</strong>s<br />

Zimmer trat, <strong>der</strong> e<strong>in</strong> wenig wie e<strong>in</strong> Postbote aussah. Se<strong>in</strong>e Vor<strong>der</strong>seite <strong>und</strong><br />

se<strong>in</strong>e Rückseite verschwanden h<strong>in</strong>ter zwei enormen, […] großen Mappen,<br />

die über den Schultern mit gewöhnlichen B<strong>in</strong>dfaden befestigt waren. […]<br />

Ohne auch nur e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges Wort zu sprechen, zog er aus <strong>der</strong> Vor<strong>der</strong>mappe<br />

e<strong>in</strong>en […] Karton hervor, auf den <strong>der</strong> Buchstabe W gemalt war. Er hielt ihn<br />

sich vor die Brust <strong>und</strong> begann mit gewaltiger Stimme zu deklamieren, zu<br />

schreien, zu zischen <strong>und</strong> zu brüllen: e<strong>in</strong> Gedicht, das nur aus den vokalen<br />

Variationen dieses e<strong>in</strong>en Buchstabens bestand. E<strong>in</strong>e Symphonie von Tönen,<br />

die uns für die nächsten fünf bis sechs M<strong>in</strong>uten den Atem verschlug <strong>und</strong><br />

34 Vgl. Abbildung <strong>der</strong> fiktiven Postkarte <strong>in</strong>: Theo van Doesburg 1883-1931 (Anm. 3),<br />

S. 111.<br />

35 Zuletzt war es das Atelier des Weimarer Malers Otto Paetz, <strong>der</strong> 2006 verstarb.


390<br />

gerda wen<strong>der</strong>mann<br />

Abbildung 4<br />

Atelier van Doesburgs <strong>in</strong> Weimar, 1922<br />

unseren eigenen Ohren nicht trauen ließ. Nachdem er beschlossen hatte, das<br />

Gedicht sei zu Ende, tat er ganz sachlich den Karton <strong>in</strong> die Mappe zurück<br />

<strong>und</strong> trat mit e<strong>in</strong>er kurzen, korrekten Verbeugung vor jeden von uns, mit Ausnahme<br />

<strong>der</strong>jenigen, die ihn schon kannten, <strong>und</strong> betonte auf streng hannoveranisch:<br />

Kurt Schwitters. 36<br />

Anschließend versammelte sich die Gruppe erneut im Residenz-Café. Hier – im<br />

gegenüberliegenden Torbogen <strong>der</strong> Bastille des Residenzschlosses – könnten<br />

zwei <strong>der</strong> überlieferten Fotos entstanden se<strong>in</strong>, die die Gruppe mit e<strong>in</strong>er Dada-<br />

Mülltonne zeigen (Abb. 6). <strong>Der</strong> Abend endete im Atelier van Doesburgs.<br />

Am Sonntag, den 24. September, fuhr die Gruppe nach Jena, wo sie von<br />

Walter Dexel empfangen wurde. Inzwischen waren auch László Moholy-Nagy<br />

<strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Frau Lucia dazu gestoßen <strong>und</strong> geme<strong>in</strong>sam zogen sie durch die Stadt. 37<br />

Im Gästebuch Dexels trugen sich abends e<strong>in</strong>: Tzara, beide Moholys, Schwitters,<br />

36 Hans Richter: Dada-Profile. Zürich 1961, S. 97.<br />

37 Vgl. zur Rolle Dexels <strong>in</strong> Bezug zu Bauhaus <strong>und</strong> van Doesburg Walter Vitt: Walter<br />

Dexel im Spannungsfeld <strong>der</strong> europäischen Avantgarde. In: Maria Schmid (Hrsg.):<br />

Dexel <strong>in</strong> Jena (Anm. 27), S. 59-98, hier S. 66-74.


konstruktivisten <strong>und</strong> dadaisten <strong>in</strong> weimar<br />

Abbildung 5<br />

Residenz-Café Weimar, um 1925<br />

391


392<br />

gerda wen<strong>der</strong>mann<br />

Arp, beide Doesburgs, Burchartz, Graeff <strong>und</strong> van Eesteren. Hier wurde die für<br />

den 26. September geplante Dada-Veranstaltung im Jenaer Kunstvere<strong>in</strong> besprochen,<br />

denn Schwitters schrieb im Laufe des Abends an Herbert von Garvens,<br />

dass Arp, Tzara, beide Doesburgs, Raoul Hausmann <strong>und</strong> er selber e<strong>in</strong>en<br />

Dada-Abend <strong>in</strong> <strong>der</strong> Galerie Garvens am 29. September geben wollten. 38 Als<br />

Gäste bei diesem Hannoveraner Auftritt kündigte er Lissitzky, Röhl, Graeff,<br />

beide Dexels, Burchartz <strong>und</strong> beide Moholy-Nagys an.<br />

In <strong>der</strong> Chronik wird h<strong>in</strong>gegen nicht erwähnt, dass am 24. September 1922<br />

auch die feierliche E<strong>in</strong>weihung des neuen Stadttheaters <strong>in</strong> Jena stattfand – e<strong>in</strong><br />

Projekt von Walter Gropius <strong>und</strong> Adolf Meyer, das als e<strong>in</strong> wichtiges Beispiel<br />

des neuen Bauens galt <strong>und</strong> mit großer öffentlicher Aufmerksamkeit wahrgenommen<br />

wurde. 39 Zu den bemerkenswerten Begleitumständen gehört <strong>der</strong> Konflikt<br />

zwischen Gropius <strong>und</strong> Oskar Schlemmer über die farbige Innengestaltung<br />

des Theaters, <strong>der</strong> damit endete, dass die bereits ausgeführte figurative Wand-<br />

<strong>und</strong> Deckengestaltung des Bauhauskünstlers e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>farbigen Anstrich weichen<br />

musste. Dass hierbei auch die vehemente Kritik von Theo van Doesburg<br />

e<strong>in</strong>e Rolle gespielt haben könnte, ist nach e<strong>in</strong>em Augenzeugenbericht Walter<br />

Dexels durchaus wahrsche<strong>in</strong>lich. 40 Daher wird <strong>der</strong> nie<strong>der</strong>ländische Künstler<br />

auch sicher die Gelegenheit ergriffen haben, se<strong>in</strong>en Mitstreitern das Ergebnis<br />

dieses Konfliktes zu zeigen. Immerh<strong>in</strong> führte er wenig später <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zeitungsartikel<br />

das Theaterhaus Jena als e<strong>in</strong>es <strong>der</strong> frühesten Beispiele für den E<strong>in</strong>fluß<br />

<strong>der</strong> De Stijl-Farbraumvorstellungen an. 41<br />

Am Montag, den 25. September, erfolgte die Rückfahrt nach Weimar, wo<br />

<strong>der</strong> eigentliche <strong>Kongress</strong> beg<strong>in</strong>nen sollte. In satirischer Form gibt van Doesburg<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Chronik die offenbar heftigen Diskussionen über die anwesenden<br />

Dada isten wie<strong>der</strong>: »Bortnyik hat <strong>in</strong> Ungarn das Dadaismus bekämpft. Lissitzky<br />

– Moskwa sagt den Dadaismus: Du hast von <strong>in</strong>nen aufgeschnitten das<br />

Bauchgehirn <strong>der</strong> Bourgeoisie« <strong>und</strong> spielt damit auf die berühmte Collage von<br />

Hannah Höch Schnitt mit dem Küchenmesser Dada durch die letzte Weimarer<br />

Bierbauch-Kulturepoche Deutschlands aus dem Jahre 1919 an. <strong>Der</strong> Höhepunkt<br />

<strong>der</strong> Veranstaltung fand am Abend mit <strong>der</strong> Dada-Soirée im Hotel Fürstenhof,<br />

dem heutigen Russischen Hof, statt. Van Doesburg entwarf hierfür e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>ladungskarte<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> typischen Dada-Typografie mit Versatzstücken aus <strong>der</strong><br />

Werbesprache (Abb. 7). Das Programm umfasste, wie geplant, e<strong>in</strong>en Vortrag<br />

38 Vgl. Nündel: Kurt Schwitters (Anm. 24), S. 72 f.<br />

39 Siehe hierzu Annemarie Jaeggi: Adolf Meyer – <strong>der</strong> zweite Mann. E<strong>in</strong> Architekt im<br />

Schatten von Walter Gropius. Ausstellungskatalog. Bauhaus-Archiv Berl<strong>in</strong> 1994.<br />

Berl<strong>in</strong> 1994. Volker Wahl: Jena als Kunststadt. Begegnungen mit <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />

Kunst <strong>in</strong> <strong>der</strong> thür<strong>in</strong>gischen Universitätsstadt zwischen 1900 <strong>und</strong> 1933. Leipzig<br />

1988, S. 225-237.<br />

40 Volker Wahl: Jena als Kunststadt (Anm. 39), S. 236 f.<br />

41 Vgl. Theo van Doesburg: De <strong>in</strong>vloed van de Stijlbeweg<strong>in</strong>g <strong>in</strong> Duitschland. In: Bouwk<strong>und</strong>ig<br />

Weekblad 44 (1923), S. 80-84.


konstruktivisten <strong>und</strong> dadaisten <strong>in</strong> weimar<br />

Abbildung 6<br />

Die <strong>Kongress</strong>teilnehmer vor <strong>der</strong> Bastille des Weimarer Residenzschlosses;<br />

Fotografie mit handschriftlicher Benennung durch Kurt Schwitters<br />

393<br />

von Tristan Tzara über die Dada-Bewegung <strong>in</strong> Paris, dem Hans Arp mit se<strong>in</strong>en<br />

Gedichten aus dem Band Die Wolkenpumpe folgte, während Nelly van Doesburg<br />

rhythmisch betonte Stücke des jungen italienischen Komponisten Vittorio<br />

Rieti spielte, den sie im Hause Alma Mahlers <strong>in</strong> Wien 1921 kennengelernt hatte.<br />

42 Die Stücke trugen absurde Titel wie Marcia nuziale per un coccodrillo<br />

(Hochzeitsmarsch für e<strong>in</strong> Krokodil) o<strong>der</strong> Marcia funebre per un uccell<strong>in</strong>o<br />

(Trauermarsch für e<strong>in</strong> Vögelchen). Da üblicherweise am Sonntagnachmittag<br />

im Fürstenhof sogenannte Künstlerkonzerte stattfanden, wie aus zeitgenössischen<br />

Anzeigen ersichtlich ist, war es für van Doesburg vermutlich nicht so<br />

schwierig gewesen, hier e<strong>in</strong>en Saal zu mieten. Trotzdem wird man davon ausgehen<br />

müssen, dass das Publikum größtenteils aus Bauhäuslern bestand. 43 <strong>Der</strong><br />

Abend endete, wie van Doesburg meldet, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Sektregen im Chat-Noir.<br />

42 Vgl. Wies van Moorsel: »Durchschnitt reicht nicht!« Nelly van Doesburg 1899-<br />

1975. Zürich 2003. S. 70-78.<br />

43 Lei<strong>der</strong> fanden sich we<strong>der</strong> diesbezügliche Anzeigen noch Rezensionen <strong>der</strong> Veran staltung<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> regionalen Presse.


394<br />

gerda wen<strong>der</strong>mann<br />

Tatsächlich gab es die Kabarett-Bar »Schwarzer Kater«, das Vergnügungslokal<br />

Weimars, das sich im Residenz-Theater im e<strong>in</strong>stigen Rotlichtmilieu Weimars<br />

am Brühl befand, das 1945 zerstört wurde. Sowohl die Bar als auch <strong>der</strong> Zuschauerraum<br />

des Theaters waren im August 1921 durch Karl Peter Röhl ausgemalt<br />

<strong>und</strong> unmittelbar von van Doesburg zur ersten wichtigen De Stijl-Manifestation<br />

<strong>in</strong> Deutschland erklärt worden. Auch Röhl selbst <strong>in</strong>terpretierte die<br />

Ausmalung als e<strong>in</strong> Bekenntnis für »unser Streben zur elementaren Kunst«. 44<br />

Bedauerlicherweise s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e Innenaufnahmen des Theaters bekannt, dessen<br />

Programm vor allem leichte Operetten <strong>und</strong> spektakuläre Auftritte von Nackttänzer<strong>in</strong>nen<br />

bot. Die Allgeme<strong>in</strong>e Thür<strong>in</strong>gische Landeszeitung vermerkte das<br />

»orig<strong>in</strong>elle Gepräge« <strong>der</strong> »Farbenpracht« <strong>und</strong> konstatierte: »<strong>Der</strong> Theatersaal<br />

wirkt eigenartig: hat man das Auge erst e<strong>in</strong>mal an dieses seltsame Farbenspiel<br />

gewöhnt, dann ist es nicht ohne Reiz.« 45 Nach e<strong>in</strong>er Schil<strong>der</strong>ung des Hallenser<br />

Malers Charles Crodel, <strong>in</strong> <strong>der</strong> von den Farben Orange, Gelb, Mo<strong>der</strong>rot, Violett<br />

<strong>und</strong> Grün die Rede ist, steht allerd<strong>in</strong>gs zu vermuten, dass die Farbgestaltung<br />

des Residenz-Theaters eher im stilistischen Zusammenhang mit Röhls etwa<br />

zeitgleicher Ausmalung e<strong>in</strong>es Raumes <strong>der</strong> Wohnung von Walter Gropius steht,<br />

die nach Augenzeugenberichten expressionistisch düster wirkte.<br />

Über Dienstag, den 26. September, berichtet van Doesburg voller Spott, dass<br />

nach vielem Drücken <strong>der</strong> »<strong>Internationale</strong> Hahn« das erste konstruktivistische<br />

Ei gelegt habe: »Das dynamische Ei von Moholy ist zugleich e<strong>in</strong> Küken.« Hiermit<br />

kann nicht das sogenannte Manifest <strong>der</strong> Konstruktivistischen <strong>Internationale</strong>n<br />

Schöpferischen Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft geme<strong>in</strong>t se<strong>in</strong>, das <strong>in</strong> De Stijl, Heft 8,<br />

1922 abgedruckt wurde <strong>und</strong> nur die Unterschriften von van Doesburg, Lissitzky,<br />

Hans Richter, Max Burchartz sowie dem belgischen Künstler Karel Maes<br />

trägt <strong>und</strong> das vermutlich bereits vor dem Weimarer <strong>Kongress</strong> formuliert wurde,<br />

wie van Doesburg <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em schon zitierten Brief vom 18. September erwähnt.<br />

Als Zentralstelle wird hier Richters Berl<strong>in</strong>er Adresse angegeben. <strong>Der</strong> Vermerk<br />

über das dynamische Ei könnte stattdessen auf e<strong>in</strong>en von Alfréd Kemény <strong>und</strong><br />

Moholy-Nagy geme<strong>in</strong>sam verfassten Text über das »Dynamisch-konstruktive<br />

Kraftsystem« verweisen, <strong>der</strong> 1922 <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeitschrift <strong>Der</strong> Sturm erschien. 46 In<br />

Opposition zum politischen Standpunkt <strong>der</strong> ungarischen Künstler veröffentlichen<br />

Theo van Doesburg <strong>und</strong> Kurt Schwitters im März 1923 e<strong>in</strong> weiteres<br />

Manifest <strong>in</strong> Merz 2, das von <strong>der</strong> dadaistischen Fraktion <strong>der</strong> <strong>Kongress</strong>-Teilnehmer<br />

unterschrieben wurde. Unter dem polemischen Titel »Proletkunst« richtete<br />

es sich ausdrücklich gegen alle Bestrebungen, die Kunst <strong>in</strong> den Dienst gesellschaftspolitischer<br />

Kräfte zu stellen: »Die Kunst, wie wir sie wollen, die Kunst<br />

44 Vgl. hierzu Gerda Wen<strong>der</strong>mann: Merz im Quadrat (Anm. 11), S. 58.<br />

45 Eröffnung <strong>der</strong> Volksbühne im Residenz-Theater. In: Allgeme<strong>in</strong>e Thür<strong>in</strong>gische Landeszeitung<br />

Deutschland, 6. September 1921.<br />

46 László Moholy-Nagy, Alfréd Kemény: Dynamisch-konstruktives Kraftsystem. In:<br />

<strong>Der</strong> Sturm 12 (1922) Dezember 1922.


konstruktivisten <strong>und</strong> dadaisten <strong>in</strong> weimar<br />

Abbildung 7<br />

Theo van Doesburg, E<strong>in</strong>ladung zum Dada-Abend im Hotel Fürstenhof <strong>in</strong> Weimar,<br />

25. September 1922<br />

395<br />

ist we<strong>der</strong> proletarisch noch bürgerlich, denn sie entwickelt Kräfte, die stark<br />

genug s<strong>in</strong>d, die ganze Kultur zu bee<strong>in</strong>flussen, statt durch soziale Verhältnisse<br />

sich bee<strong>in</strong>flussen zu lassen. […] Das, was wir h<strong>in</strong>gegen vorbereiten, ist das Gesamtkunstwerk,<br />

welches erhaben ist über alle Plakate, ob sie für Sekt, Dada<br />

o<strong>der</strong> Kommunistische Diktatur gemacht s<strong>in</strong>d.« 47<br />

Laut van Doesburgs Chronik wurde am folgenden Mittwoch, dem 27. September,<br />

Petró van Doesburg zum »unentbehrlichen dadaistischen Musik<strong>in</strong>strument<br />

Europas« ausgerufen, nachdem Rietis Marcia nuziale per un cocodrillo<br />

vor dem Landesmuseum <strong>in</strong> Weimar erklang. Damit wurde ihr unermüdlicher<br />

E<strong>in</strong>satz für die junge musikalische Avantgarde gewürdigt, die sie e<strong>in</strong>em größeren<br />

Publikum mit aktuellen, vom amerikanischen Jazz bee<strong>in</strong>flussten Stücken<br />

<strong>der</strong> Pariser »Groupe des Six« um Darius Milhaud, Zwölfton-Stücken des Österreichers<br />

Josef Hauer <strong>und</strong> Kompositionen des Ungarn Zoltán Kodály bekannt<br />

gemacht hatte. Bei dieser Gelegenheit könnten auch die beiden existierenden,<br />

leicht unterschiedlichen Gruppenfotos <strong>der</strong> <strong>Kongress</strong>teilnehmer auf <strong>der</strong> Freitreppe<br />

des Weimarer Landesmuseums entstanden se<strong>in</strong>. Das Fehlen von Kurt Schwit-<br />

47 Manifest Proletkunst. In: Merz 2 (1923) S. 205, 478. Hier zit. nach: Kurt Schwitters.<br />

Merzhefte. Mit e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>leitung von Friedhelm Lach. Bern, Frankfurt/M. 1975,<br />

S. 24 f. Das Manifest trägt die Unterschriften von van Doesburg, Kurt Schwitters,<br />

Hans Arp, Tristan Tzara <strong>und</strong> Christof Spengemann.


396<br />

gerda wen<strong>der</strong>mann<br />

ters könnte allerd<strong>in</strong>gs auch auf e<strong>in</strong>en früheren Zeitpunkt h<strong>in</strong>deuten. Auffällig<br />

ist <strong>in</strong> beiden Fotos die reservierte Distanz <strong>der</strong> ungarischen Fraktion um Moholy-Nagy<br />

zu den theatralisch posierenden <strong>Dadaisten</strong> um den Rumänen Tzara.<br />

Das Landesmuseum war für die <strong>Kongress</strong>teilnehmer <strong>in</strong> zweierlei H<strong>in</strong>sicht<br />

<strong>in</strong> teressant. Zum e<strong>in</strong>en konnte hier noch – wie die beiden Plakate <strong>in</strong> den E<strong>in</strong>gangstüren<br />

des Museums zeigen – die Erste Thür<strong>in</strong>gische Kunstausstellung besichtigt<br />

werden, an <strong>der</strong>en Juryauswahl sich auch die Bauhausmeister Lyonel<br />

Fe<strong>in</strong><strong>in</strong>ger <strong>und</strong> Paul Klee beteiligt hatten. 48 Dass diese Gelegenheit zu e<strong>in</strong>er ersten<br />

öffentlichen Selbstdarstellung des Bauhauses sehr ernst genommen wurde,<br />

zeigt <strong>der</strong> Umstand, dass auch <strong>der</strong> erst im Juni 1922 neu berufene Kand<strong>in</strong>sky zur<br />

Teilnahme aufgefor<strong>der</strong>t worden war. Wie den Meisterratsprotokollen zu entnehmen<br />

ist, bestand <strong>der</strong> Plan, die hier gezeigten Werke <strong>der</strong> Bauhausmeister<br />

anschließend <strong>in</strong> <strong>der</strong> renommierten Kestner-Gesellschaft <strong>in</strong> Hannover vorzustellen.<br />

Zwei Monate zuvor war im Obergeschoss des Landesmuseums außerdem<br />

die erste umfangreiche Werkschau Walter Dexels zu sehen gewesen. Mit Dexels<br />

jüngsten Arbeiten, die planimetrische Kompositionen darstellten, war erstmals<br />

die konstruktivistische Kunst <strong>in</strong> das Landesmuseum e<strong>in</strong>gezogen. 49 Zum an<strong>der</strong>en<br />

war das Landesmuseum für die <strong>Kongress</strong>teilnehmer auch noch aus e<strong>in</strong>em<br />

weiteren Gr<strong>und</strong> <strong>in</strong>teressant, da hier gerade die Arbeiten an <strong>der</strong> neuen farbigen,<br />

durch den Bauhausgesellen H<strong>in</strong>nerk Scheper entworfenen Wandgestaltung im<br />

Erdgeschoss des Museums begonnen hatten – e<strong>in</strong> mutiges Experiment <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Behandlung von Ausstellungsräumen, das van Doesburg ähnlich wie das Theater<br />

<strong>in</strong> Jena als e<strong>in</strong>en wichtigen Beweis für den wachsenden E<strong>in</strong>fluß <strong>der</strong> De Stijl-<br />

Bewegung <strong>in</strong> Deutschland betrachtete. 50 In se<strong>in</strong>em noch im Dezember 1922<br />

geschriebenen Artikel für das Bouwk<strong>und</strong>ig Weekblad veröffentlichte er daher<br />

nicht nur e<strong>in</strong> Innenraumfoto, son<strong>der</strong>n g<strong>in</strong>g konkret auf die Farbgestaltung<br />

Schepers e<strong>in</strong>. 51<br />

In se<strong>in</strong>er Bildunterschrift wies er darauf h<strong>in</strong>, dass die Wände <strong>in</strong> Primärfarbflächen<br />

unterteilt seien, die e<strong>in</strong>e Komplementärfarbe zum jeweiligen Lokalton<br />

<strong>der</strong> Gemälde bildeten. Zu erkennen s<strong>in</strong>d hier Gemälde von Hans Olde <strong>und</strong><br />

48 Vgl. hierzu Protokoll <strong>der</strong> Sitzung des Meisterrats vom 26. Juni 1922 (Bl. 144). In:<br />

Die Meisterratsprotokolle (Anm. 3), S. 205 <strong>und</strong> 478, Anm. 205,7.<br />

49 Vgl. Gerda Wen<strong>der</strong>mann: Das Landesmuseum <strong>in</strong> Weimar – e<strong>in</strong> umstrittener Ort <strong>der</strong><br />

Avantgarde 1919-1933. In: Rolf Bothe (Hrsg.): Neues Museum Weimar. Geschichte<br />

<strong>und</strong> Ausblick. München 1997, S. 62-80, hier S. 71.<br />

50 Vgl. Gerda Wen<strong>der</strong>mann: Das Großherzogliche Museum <strong>in</strong> Weimar <strong>und</strong> die Kunstdebatten<br />

<strong>der</strong> Zeit. In: Gerd Zimmermann, Jörg Bruns (Hrsg.): KulturStadtBauen.<br />

E<strong>in</strong>e architektonische Wan<strong>der</strong>ung durch Weimar, Kulturstadt Europas 1999. Ausstellungskatalog.<br />

Deutsches Architektur-Museum Frankfurt/M., Bauhaus-Universität<br />

Weimar. Weimar 1997, S. 42-48, hier S. 44 f. Siehe auch: Renate Scheper (Hrsg.):<br />

Farbenfroh! Die Werkstatt für Wandmalerei am Bauhaus. Ausstellungskatalog.<br />

Bauhaus-Archiv Berl<strong>in</strong>. Berl<strong>in</strong> 2005, S. 52 f.<br />

51 Theo van Doesburg: De <strong>in</strong>vloed van de Stijlbeweg<strong>in</strong>g (Anm. 41), S. 83.


konstruktivisten <strong>und</strong> dadaisten <strong>in</strong> weimar<br />

Abbildung 8<br />

Nie<strong>der</strong>ländische Karikatur des Auftritts von Nelly <strong>und</strong> Theo van Doesburg<br />

bei e<strong>in</strong>em Dada-Abend <strong>in</strong> Amsterdam, Januar 1923<br />

397<br />

Max Liebermann, die heute im Weimarer Schlossmuseum hängen. Man kann<br />

davon ausgehen, dass die <strong>Kongress</strong>teilnehmer auch kritisch die Ausstellungsräume<br />

<strong>der</strong> sogenannten »Kunst <strong>der</strong> Lebenden« im zweiten Stock des Weimarer<br />

Schlossmuseums begutachtet hätten, doch lei<strong>der</strong> wurde diese Abteilung von<br />

Wilhelm Köhler erst im Oktober des darauffolgenden Jahres eröffnet. Die beiden<br />

erhaltenen Gruppenfotos, die vor dem Tor <strong>der</strong> Bastille entstanden, stehen<br />

also nicht <strong>in</strong> diesem Zusammenhang, wie zu vermuten wäre.<br />

Am Abend dieses 27. September reisten die Delegierten abermals nach Jena,<br />

um dort den angekündigten »DadaRevon«-Abend zu veranstalten. Die Akteure<br />

waren hier Schwitters, Arp, Tzara <strong>und</strong> die beiden van Doesburgs (Abb. 8). In<br />

<strong>der</strong> Chronik heißt es knapp hierzu: »Jena-Hygiena-Hyäna-Dada. Zerstörung<br />

Jenas durch den Schal von Kuwitter.« Die tatsächlichen Ereignisse an diesem<br />

legendären Abend hielt <strong>der</strong> junge Werner Graeff <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er lebendigen Schil<strong>der</strong>ung<br />

fest:<br />

Also versammelten sich <strong>in</strong> Doesburgs Weimarer Atelier die Akteure dieses<br />

Abends <strong>und</strong> e<strong>in</strong>ige Fre<strong>und</strong>e. Petro (Nelly) van Doesburg übte auf dem Flügel<br />

<strong>in</strong> ihrer unglaublich präzisen, rhythmisch-kräftigen Art den ›Elefantenmarsch‹<br />

von Rieti <strong>und</strong> e<strong>in</strong>iges von Straw<strong>in</strong>ski. Does ordnete se<strong>in</strong>e Lichtbil<strong>der</strong> für den<br />

E<strong>in</strong>führungsvortrag über abstrakte Kunst. Hans Arp <strong>und</strong> Kurt Schwitters<br />

wa ren über die Manuskripte ihrer Gedichte gebeugt […]. Dann war es Zeit<br />

zur Bahn zu gehen. […] Im Kunstvere<strong>in</strong> war <strong>der</strong> Saal mit e<strong>in</strong>er äusserst<br />

misstrau isch <strong>und</strong> fe<strong>in</strong>dlich blickenden Zuschauerschar gefüllt, als Doesburg<br />

mit schwarzem Hemd <strong>und</strong> weißer Krawatte, bleich, aber gefasst, zum Rednerpult<br />

schritt. Schwitters sah e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Katastrophe voraus <strong>und</strong> kam se<strong>in</strong>em


398<br />

gerda wen<strong>der</strong>mann<br />

Fre<strong>und</strong> vorbeugend zu Hilfe. Er trat unversehens vor <strong>und</strong> erklärte mit e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glicher<br />

Stimme: ›Jena ist die e<strong>in</strong>zige Stadt <strong>in</strong> Europa, <strong>in</strong> <strong>der</strong> es vorgekommen<br />

ist, dass jemand es wagte, bei e<strong>in</strong>em Vortrage van Doesburgs zu pfeifen.<br />

Dass <strong>der</strong>gleichen nicht wie<strong>der</strong> passiert! Bleiben Sie ge fälligst ganz still <strong>und</strong><br />

hören Sie schön zu!‹ […] Und so unglaublich das ist: <strong>der</strong> Bann hielt wirklich<br />

über den Vortrag Doesburgs an, <strong>der</strong> ohne Zweifel gut war, aber extrem <strong>und</strong><br />

aggressiv, wie es <strong>in</strong> Doesburgs Art lag, wenn er sich Gegnern gegenübersah.<br />

Und dann schritt Nelly zum Flügel <strong>und</strong> ließ den ›Elefantenmarsch‹ los. Da<br />

gab es dann bald ke<strong>in</strong> Halten mehr. Man zischte <strong>und</strong> pfiff, während Nelly<br />

unbeirrt weiterspielte […]. Bei Schwitters’ Gedichten herrschte dann wie<strong>der</strong><br />

e<strong>in</strong>ige Ruhe, da <strong>der</strong> alte Magier die Leute <strong>in</strong> Bann schlug. Dafür brach bei<br />

Hans Arps Vorlesung plötzlich e<strong>in</strong> Höllenlärm los. Das Publikum fühlte sich<br />

verspottet […] <strong>und</strong> begab sich, erregt diskutierend, nach Hause. 52<br />

Offensichtlich blieb trotz vieler Differenzen <strong>der</strong> Ton zwischen <strong>Dadaisten</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>Konstruktivisten</strong> fre<strong>und</strong>schaftlich, denn im Anschluss an diesen ersten großen<br />

Dada-Abend <strong>in</strong> Jena reisten neben den Akteuren – Schwitters, Arp, Tzara, Theo<br />

<strong>und</strong> Nelly van Doesburg – auch Walter <strong>und</strong> Grete Dexel, Burchartz. Lissitzky,<br />

Röhl sowie László <strong>und</strong> Lucia Moholy-Nagy nach Hannover weiter, wo am<br />

30. September <strong>in</strong> <strong>der</strong> Galerie Garvens e<strong>in</strong> zweiter »DadaRevon«-Abend stattfand.<br />

Hier feierten sie e<strong>in</strong> letztes absurdes Spektakel, bevor sie sich wie<strong>der</strong> <strong>in</strong><br />

alle Himmelsrichtungen verteilten. Drei Jahre später ließ Kurt Schwitters e<strong>in</strong>ige<br />

<strong>der</strong> Weimarer Protagonisten <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er im Sturm erschienenen Groteske Merfüsermär<br />

dadaistisch verfremdet noch e<strong>in</strong>mal auferstehen. 53<br />

Während László Moholy-Nagy letztlich <strong>der</strong>jenige war, <strong>der</strong> im April 1923 als<br />

Ingenieur-Künstler an das Bauhaus berufen wurde, wo er e<strong>in</strong>e dynamisch-konstruktive<br />

Kunst unter E<strong>in</strong>satz neuer Medien propagierte, zog sich Theo van<br />

Doesburg Anfang 1923 desillusioniert aus Deutschland zurück <strong>und</strong> konzentrierte<br />

sich zunächst auf den geme<strong>in</strong>sam mit Schwitters geplanten Dada-Feldzug<br />

durch die Nie<strong>der</strong>lande, bevor er zusammen mit Nelly nach Paris aufbrach. Die<br />

Gründung e<strong>in</strong>er »Konstruktivistischen <strong>Internationale</strong>n« blieb letztlich re<strong>in</strong>e<br />

Utopie. Trotzdem resümierte van Doesburg Ende 1922 versöhnlich über se<strong>in</strong>e<br />

Zeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> kle<strong>in</strong>en thür<strong>in</strong>gischen Prov<strong>in</strong>zstadt: »So wurde Weimar e<strong>in</strong>erseits<br />

<strong>der</strong> Kampfplatz gegen den Expressionismus, an<strong>der</strong>erseits <strong>der</strong> fruchtbare Boden<br />

für e<strong>in</strong>e neue Gestaltung <strong>in</strong> Deutschland.« 54<br />

52 Werner Graeff: ohne Titel, Typoskript; Van Doesburg-Archief, Schenk<strong>in</strong>g van<br />

Moorsel, Rijksbureau voor Kunsthistorische Documentatie, Den Haag. Hier zit.<br />

nach Karl Schippers: Holland Dada (Anm. 23), S. 44-46.<br />

53 Kurt Schwitters: Merfüsermär. In: <strong>Der</strong> Sturm 16 (1925), H. 11/12, November/Dezember<br />

1925, S. 169-172. Wie<strong>der</strong>abgedruckt <strong>in</strong>: Kurt Schwitters. Das literarische<br />

Werk. Hrsg. von Friedhelm Lach. Bd. 2: Prosa 1918-1930. Köln 1974, S. 140-146.<br />

54 Theo van Doesburg: De <strong>in</strong>vloed van de Stijlbeweg<strong>in</strong>g (Anm. 41), S. 83 (Übers. d.<br />

Verf.).


Bildnachweis<br />

Britisches Museum, London: S. 219 (Tafel 5)<br />

Design Museum Gent: S. 363, 364, 365, 368, 373<br />

Foto Günther Beyer: S. 391<br />

Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg: S. 220 (Tafel 6)<br />

Karl Peter Röhl Stiftung, Weimar: S. 377, 395<br />

Klassik Stiftung Weimar: Frontispiz, S. 16, 24, 31, 37, 42, 52, 57, 59, 61, 62, 65,<br />

67, 69, 71, 75, 95, 154, 155, 165, 188, 189, 191, 192, 193, 194, 195, 196, 197,<br />

217, 218, 219 (Tafel 7), 220 (Tafel 8), 221, 222, 223, 300, 307, 309, 311, 313,<br />

329, 330, 331, 332, 333, 334, 335, 336, 351, 359, 424<br />

Kurt <strong>und</strong> Ernst Schwitters Stiftung, Hannover: S. 393<br />

Staatliche Museen zu Berl<strong>in</strong>, Preußischer Kulturbesitz: S. 187, 190<br />

Staatsarchiv Coburg: S. 113, 115, 117, 123, 125<br />

Theo van Doesburg Archiv, Den Haag: S. 378, 388, 390, 397<br />

Privatsammlung Ulko Sybesma, Slew Sleeuwijk (Nie<strong>der</strong>lande): S. 401, 407, 408


Erstpublikation<br />

Gerda Wen<strong>der</strong>mann: <strong>Der</strong> <strong>Internationale</strong> <strong>Kongress</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Konstruktivisten</strong> <strong>und</strong> <strong>Dadaisten</strong> <strong>in</strong> Weimar im September 1922<br />

Versuch e<strong>in</strong>er Chronologie <strong>der</strong> Ereignisse.<br />

In: Hellmut Th. Seemann (Hrsg.): Europa <strong>in</strong> Weimar. Visionen<br />

e<strong>in</strong>es Kont<strong>in</strong>ents. Jahrbuch <strong>der</strong> Klassik Stiftung Weimar 2008.<br />

Gött<strong>in</strong>gen: Wallste<strong>in</strong> Verlag 2008, S. 375–398.

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