ARD-Jahrbuch
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ARD-Jahrbuch
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_ <strong>ARD</strong>-<strong>Jahrbuch</strong> 09<br />
41. Jahrgang<br />
Herausgegeben von der<br />
Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen<br />
Rundfunkanstalten der Bundesrepublik<br />
Deutschland (<strong>ARD</strong>)<br />
unter Mitwirkung der<br />
<strong>ARD</strong>-Werbung<br />
Verantwortlich für den Herausgeber<br />
Peter Boudgoust,<br />
Intendant des Südwestrundfunks
_ redaktion<br />
Horst O. Halefeldt (hhalefeldt@hr-online.de),<br />
Gudrun Augustin (gaugustin@hr-online.de),<br />
Susanne Hennings (shennings@hr-online.de),<br />
Doris Rehme-Lauer (drehme@hr-online.de),<br />
Jutta Weismüller (jweismueller@hr-online.de),<br />
Deutsches Rundfunkarchiv (DRA).<br />
_ produktion und vertrieb<br />
Jutta Weismüller (jweismueller@hr-online.de),<br />
Cornelia Springer (cspringer@hr-online.de),<br />
Deutsches Rundfunkarchiv (DRA).<br />
_ geschäftsführung<br />
Hans-Gerhard Stülb, Deutsches Rundfunkarchiv (DRA).<br />
_ anschrift von redaktion und geschäftsführung<br />
Bertramstr. 8, 60320 Frankfurt am Main,<br />
Telefon (0 69) 15 68 72 11, Fax (0 69) 15 68 71 00<br />
E-Mail: ardjahrbuch@hr-online.de<br />
_ umschlag<br />
Marie Neuhaus, Stefanie Preisendanz-Weisz, Julia Weißbrod<br />
und Ralf Ziegler, Stuttgart. _ layout, typografie und grafik-design<br />
Peter Wolf KommunikationsDesign, Hainburg.<br />
_ reproduktionen<br />
_ gesetzt<br />
_ druck<br />
Dinges & Frick GmbH, Wiesbaden.<br />
in BSK Garamond und Thesis.<br />
Wilhelm & Adam Werbe- und Verlagsdruck GmbH,<br />
Heusenstamm.<br />
_ verlag<br />
_ auslieferung<br />
Hans-Bredow-Institut, Hamburg 2009.<br />
Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden.<br />
_ alle rechte vorbehalten.<br />
Nachdruck nur mit Genehmigung des Herausgebers.<br />
_ isbn 978-3-8329-5165-8<br />
_ Der Umschlag des <strong>ARD</strong>-<strong>Jahrbuch</strong>s ist aus einem Wettbewerb<br />
hervorgegangen, den die <strong>ARD</strong> an der Hochschule der<br />
Medien (HdM) Stuttgart unter fachlicher Betreuung von Prof.<br />
Gabriele Kille und Prof. Stephan Ferdinand veranstaltet hat.<br />
_ Im Sinne einer besseren Lesbarkeit hat sich die<br />
Redaktion entschieden, Begriffe wie Hörer, Zuschauer,<br />
Redakteur geschlechtsneutral zu verwenden.<br />
Selbstverständlich sind immer Hörer und Hörerinnen,<br />
Zuschauer und Zuschauerinnen, Redakteure und<br />
Redakteurinnen gemeint.
_ Artikel<br />
Qualität für alle<br />
Von der Kunst, den vielfältigen Interessen gerecht<br />
zu werden<br />
Von Peter Boudgoust _ 13<br />
Die Vermessung des Gemeinwohls?<br />
Der 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag und der<br />
Dreistufentest aus Sicht der Rundfunkanstalten<br />
Von Verena Wiedemann _ 15<br />
Die Erstbesteigung der drei Stufen<br />
Die Aufsichtsgremien der <strong>ARD</strong> und der Dreistufentest<br />
Von Harald Augter und Susanne Pfab _ 21<br />
Qualität trotz Quotendruck<br />
25 Jahre duales System – öffentlich-rechtliche<br />
Qualitätsangebote unter Konkurrenzdruck<br />
Von Volker Herres _ 27<br />
Jung – multimedial – digital<br />
Wege zu den jungen Zielgruppen<br />
Von Bernhard Hermann und Wolfgang<br />
Gushurst _ 34<br />
Von Panzern und Paschtunen<br />
Eindrücke aus einem unsicheren Land<br />
Von Florian Meesmann _ 41<br />
Der Zar reitet<br />
. . . mitunter auch die Korrespondenten<br />
Von Ina Ruck _ 46<br />
Los Angeles – mehr als nur Traumfabrik<br />
Berichterstattung aus einem der größten<br />
Ballungsräume der Welt<br />
Von Jan Tussing _ 51<br />
Modern und grenzüberschreitend<br />
Das Haff-Müritz-Studio berichtet aus der deutschpolnischen<br />
Grenzregion<br />
Von Michael Elgass und Steffen Münch _ 57<br />
2009 – ein Jahr voller Erinnerungen<br />
Deutsche Zeitgeschichte im Fernsehen<br />
Von Johannes Unger _ 60<br />
Wissen in der <strong>ARD</strong><br />
PISA und die Folgen<br />
Von Maria Dickmeis _ 67<br />
Was darf Satire?<br />
Versuch einer Definition und Abgrenzung<br />
Von Jesko Friedrich _ 76<br />
Alleine sind wir stark, gemeinsam sind wir stärker<br />
Gemeinsame Initiativen im Hörfunk<br />
Von Wolfgang Schmitz _ 82<br />
Medien und Integration<br />
Der <strong>ARD</strong>-Weg: Vom »Gastarbeiter«-Programm<br />
zur Querschnittsaufgabe<br />
Von Gualtiero Zambonini _ 87<br />
Eine Brücke über den digitalen Graben<br />
Eine »digitale Kluft« spaltet Deutschland. Die<br />
»Digitale Dividende« soll diesen Graben zuschütten<br />
Von Bertram Bittel _ 95<br />
Noch schärfer sehen<br />
Der HDTV-Showcase zu den Leichtathletik-<br />
Weltmeisterschaften 2009 in Berlin<br />
Von Nawid Goudarzi _ 99<br />
Fußball-Bundesliga weiter in der <strong>ARD</strong><br />
Von Axel Balkausky _ 106<br />
Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst<br />
25 Jahre 3sat<br />
Von Peter Boudgoust _ 108<br />
Mitten im politischen Geschehen<br />
Das Berliner Hauptstadtstudio der <strong>ARD</strong> ist<br />
zehn Jahre alt<br />
Von Ulrich Deppendorf _ 113<br />
Reihe Medienmenschen<br />
»Ich will Bilder machen«<br />
Kameramann Mathias Brüninghaus _ 118<br />
Die Welt von Lansing<br />
Heike Holder-Niedermeier konzipiert das Set von<br />
»Dahoam is Dahoam« _ 121<br />
Die Expertin für Schärfe<br />
Mediengestalterin Lena Crecelius _ 125<br />
Von Susanne Hennings<br />
_ Chronik und Berichte<br />
Chronik 2008 _ 131<br />
<strong>ARD</strong> und Rundfunkanstalten _ 131<br />
Wettbewerbe und Veranstaltungen _ 153<br />
Inhalt A R D - J A H R B U C H 0 9 5
6<br />
Rundfunkpolitik 2008 _ 170<br />
Von Verena Wiedemann _ 170<br />
Von der Brüsseler Beihilfeentscheidung zum 12.<br />
Rundfunkänderungsstaatsvertrag _ 170 I Gremien in<br />
gesteigerter Verantwortung _ 172 I Überarbeitung<br />
der Beihilfemitteilung _ 173 I Digitale Dividende:<br />
Rundfunkfrequenzen für Breitbandversorgung _ 173 I<br />
Digitaler Hörfunk: Vorbereitungen für Neustart _<br />
175 I Rundfunkfinanzierung: Hilfe für den RBB _ 175 I<br />
Reform der Rundfunkfinanzierung _ 176 I Werbung<br />
und Sponsoring: Schieflage im dualen System? _ 176 I<br />
Chancen der Wissensgesellschaft nicht mehr im<br />
Blick? _ 177<br />
Rundfunkfinanzen 2008 _ 178<br />
Gesamtergebnis: Finanzlage angespannt, Rundfunkanstalten<br />
mit Jahresfehlbeträgen _ 179 I Ertragslage:<br />
Gebührenaufkommen erstmals rückläufig _ 179 I<br />
Aufwandsentwicklung: Sparanstrengungen fortgesetzt,<br />
Mehraufwendungen für Olympia und<br />
Fußball-EM, erhöhte Rückstellungsbildungen, weniger<br />
Aufwendungen für den Gebühreneinzug _ 182 I<br />
Finanzierungsstruktur: Eigenkapitalquote aufgrund<br />
des Jahresfehlbetrags geringer als im Vorjahr _ 183 I<br />
Aktiva _ 184 I Passiva _ 184<br />
Produktion und Technik 2008 _ 185<br />
Sender, Leitungsverbindungen und Studios 2008 _ 186 I<br />
<strong>ARD</strong>-Qualitätsoffensive erfolgreich _ 187 I DVB-T treibt<br />
Digitalisierung voran _ 188 I Umstellung auf DVB-T<br />
erfolgreich abgeschlossen _ 188 I Eine »Roadmap« für<br />
HDTV _ 190 I Digitaler Hörfunk: Neue Programme,<br />
Projekte und Pläne _ 191 I Programmverbreitung via<br />
Kabel und Satellit _ 192 I Optimierung der UKW-Versorgung<br />
_ 192 I Ausbau der Filetransfer-Systeme _ 192 I<br />
Erneuerung von Büros und Studios _ 193 I Spitzentechnik<br />
in der Kölner »Rechtschule« _ 193 I Hörfunkproduktion<br />
und -sendung im Zeichen der Digitalisierung<br />
_ 193 I Fernsehproduktion und -sendung: Auf<br />
dem Weg zu HDTV _ 194 I Großereignisse: Fußball,<br />
Olympia und Obama _ 195 I IRT: Beraten und gestalten<br />
auf allen Ebenen _ 196 I RBT: Ingenieurbüro von <strong>ARD</strong><br />
und ZDF _ 197<br />
Gemeinschaftseinrichtungen 2008 _ 198<br />
Degeto Film GmbH: Erfolgreiche Auftragsproduktionen<br />
für die <strong>ARD</strong> und mehr als 31 Prozent des Programms<br />
für Das Erste _ 198 I Deutsches Rundfunkarchiv:<br />
Modernisierung der Datenbanken mit ersten Produktivphasen<br />
_ 199 I Gebühreneinzugszentrale: Erstmals<br />
Rückgang der Gesamterträge _ 200 I <strong>ARD</strong>.ZDF medienakademie:<br />
Konsolidierung und Aufbruch _ 201<br />
Inhalt A R D - J A H R B U C H 0 9<br />
Medienforschung 2008 _ 202<br />
Sehdauer um eine Minute zurückgegangen _ 203 I Das<br />
Erste auch 2008 Marktführer _ 203 I Hohe Sende- und<br />
Sehdauer von Sportberichten _ 204 I »Tagesschau«<br />
weiter Marktführer, »Tagesthemen« mit Gewinnen _<br />
204 I »2008 – Das Quiz« Zuschauerhit des Jahres _ 205 I<br />
Die Fußball-EM 2008 in Fernsehen und Radio _ 206 I<br />
Sport: Millionenpublikum auch am Vor- und Nachmittag<br />
_ 208 I Image: Wertschätzung auf konstant hohem<br />
Niveau _ 208 I Dritte Programme: Zusammen auf<br />
Platz zwei _ 209 I Dritte Programme: Innovationen<br />
zahlten sich aus _ 209 I Dritte Programme: Aktuelle<br />
Information weiterhin erfolgreich _ 209 I Dritte Programme:<br />
Ratgeber und Service nach wie vor beliebt _<br />
211 I Dritte Programme: Erfolg mit Natur, Tier- und<br />
Zoogeschichten _ 211 I Dritte Programme: Kultur<br />
und Unterhaltung aus den Regionen _ 212 I Dritte<br />
Programme: Gute Unterhaltung garantiert hohe<br />
Quoten _ 212 I <strong>ARD</strong>/ZDF-Online-Studie 2008: Fast 43<br />
Millionen Online-Nutzer _ 213 I Media Analyse 2009<br />
Radio I: Radionutzung blieb mehr oder weniger stabil<br />
_ 214 I Radiomarkt: <strong>ARD</strong>-Programme behaupten<br />
ihre Spitzenstellung _ 214 I Radiomarkt: Kultur- und<br />
Infoprogramme weiter erfolgreich _ 214 I Radiomarkt:<br />
Unterschiede von Region zu Region _ 215 I DW-Radio<br />
und DW-TV: Angebote erreichen weltweit 86 Millionen<br />
Menchen _ 217<br />
<strong>ARD</strong>-Themenwoche 2008 _ 218<br />
»Mehr Zeit zu leben – Chancen einer alternden<br />
Gesellschaft« _ 218<br />
Hörfunk 2008 _ 220<br />
Mehr Talk, mehr Kultur, mehr Wissen: neue Angebote<br />
in Bayern 2 _ 221 I Neue Phase des BR-Jugendprojekts:<br />
on3-radio auf Sendung _ 221 I Die Hörfunkprogramme<br />
der <strong>ARD</strong> 2008 _ 222 I Schärferes Profil für WDR 3 und<br />
WDR 5 _ 222 I Bayern plus: Volksmusik und mehr _ 223 I<br />
Neues vom SR-Radio: SR 3 Saarlandwelle und antenne<br />
saar _ 224 I Änderungen bei den NDR 1-Landesprogrammen<br />
_ 224 I Noch näher am Publikum: Bayern 3,<br />
WDR 2 und YOU FM (HR) _ 225 I Neue Akzente im<br />
Kulturradio: MDR FIGARO, SWR2 und Kulturradio<br />
(RBB) _ 225 I Programmwochen und Schwerpunktprogramme<br />
_ 226 I Mehr Wissen mit dem NDR-Radio<br />
und weitere Neuerungen bei NDR 2 _ 227 I Neue Sendungen:<br />
»Lauter Lyrik – Der Hör-Conrady« – ein einzigartiges<br />
<strong>ARD</strong>-Kulturprojekt _ 228 I Aktuelles und thematische<br />
Schwerpunkte: Bankenkrise und kein Ende:<br />
Das <strong>ARD</strong>-Radio berichtet umfassend über Ursachen<br />
und Folgen _ 230 I Akzente und Jahrestage: »Das war<br />
68«: Deutschland zwischen Reform und Rebellion _
232 I Hörspiel und Medienkunst: »<strong>ARD</strong> Radio Tatort«:<br />
Original-Kriminal-Hörspiele aus neun Regionen _ 235 I<br />
Auslandsprogramme 2008: »Learning by Ear« – eine<br />
Bildungsoffensive für Afrika _ 238<br />
Fernsehen 2008 _ 239<br />
Das Erste _ 239<br />
Die Fernsehprogramme der <strong>ARD</strong> 2008 _ 240 I Politik,<br />
Gesellschaft, Kultur: Kultur und Krisen _ 241 I Sport:<br />
Fantastische Momente: Olympia in Peking und die<br />
EURO 2008 _ 242 I Fernsehfilm: »12 heißt: Ich liebe<br />
dich« _ 242 I Spielfilm: Vom »Traumhotel« bis »Mogadischu«:<br />
Unterhaltung auf höchstem Niveau _ 244 I<br />
Unterhaltung: »Wie deutsch bist du wirklich?« _ 245 I<br />
Kirche: Gottesdienst live aus Afrika _ 246 I Familie:<br />
Märchenhafte Weihnachtszeit _ 246 I Ausland: Der<br />
Papst auf Reisen _ 248 I Vorabend: »Wissen vor 8« _<br />
248<br />
Die Dritten Programme<br />
Bayerisches Fernsehen: Bogner: Irgendwie und sowieso<br />
Kult _ 249 I hr-fernsehen: Mehr Heimat _ 249 I MDR<br />
FERNSEHEN: International trifft auf Regional _ 250 I<br />
NDR Fernsehen in Zusammenarbeit mit Radio Bremen:<br />
Populär, kantig, norddeutsch _ 251 I rbb Fernsehen:<br />
Abschied von Tempelhof _ 251 I SWR Fernsehen und<br />
SR Fernsehen: Zehn Jahre SWR _ 252 I WDR Fernsehen:<br />
»Plasberg persönlich« neu am Freitagabend _ 253<br />
Satelliten-, Digital- und Auslandsprogramme<br />
3sat: Profil als Kultur- und Wissens-Sender gestärkt _<br />
254 I ARTE: »Europas Erbe« _ 254 I PHOENIX: »Das<br />
ganze Bild« in neuem Rahmen _ 255 I KI.KA: 2008 beschert<br />
höchste Anerkennung _ 256 I BR-alpha: Zehnter<br />
Geburtstag _ 256 I <strong>ARD</strong> Digital: Die Qualitätsoffensive _<br />
257 I EinsExtra: Mehr Nachrichten – Mehr Information _<br />
257 I EinsFestival: »EINSWEITER« _ 257 I EinsPlus: Start<br />
der »Programmwerkstatt« _ 258 I DW-TV: Ausweitung<br />
des Auslandsfernsehens _ 258<br />
Online 2008 _ 259<br />
Zwei Drittel aller Deutschen im Internet _ 259 I<br />
Multimedialität: <strong>ARD</strong> Mediathek und Das Erste<br />
Mediathek gestartet _ 260 I Medienpolitik: Vor den<br />
Dreistufentests _ 260 I Politik: Landtagswahlen und<br />
US-Präsidentschaftswahlkampf _ 261 I Zeitgeschichte:<br />
Von der Luftbrücke bis zur »Landshut« _ 261 I Sport:<br />
Olympische Sommerspiele und Fußball-Europa-<br />
meisterschaft _ 262 I Wissensangebote: Bündelung der<br />
Inhalte _ 263 I <strong>ARD</strong> Hörspieltage _ 263 I Verbesserte<br />
Angebote und neue Formate _ 264 I Neue Portale<br />
weitgehend barrierefrei _ 264 I DW-WORLD.DE: Aufbau<br />
multimedialer Redaktionen _ 264<br />
WDR RadioRecorder _ 265<br />
Zeitsouverän Hören mit dem WDR RadioRecorder _ 265<br />
_ Organisation und Personalien<br />
Stand 1. August 2009<br />
Personalien von A bis Z _ 268<br />
<strong>ARD</strong> _ 269<br />
Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen<br />
Rundfunkanstalten der Bundesrepublik<br />
Deutschland _ 269<br />
<strong>ARD</strong>-Einrichtungen _ 270<br />
Degeto _ 270 I <strong>ARD</strong>.ZDF medienakademie _ 270 I<br />
Deutsches Rundfunkarchiv _ 270 I Gebühreneinzugszentrale<br />
_ 270 I Institut für Rund funktechnik _ 271 I<br />
Rundfunk-Betriebstechnik _ 271 I SportA Sport rechte-<br />
und Marketing-Agentur GmbH _ 271<br />
Gemeinsame Programme _ 272<br />
<strong>ARD</strong>-Gemeinschaftsprogramm Das Erste _ 272 I <strong>ARD</strong><br />
Digital _ 272 I EinsExtra _ 272 I Einsfestival _ 272 I<br />
EinsPlus _ 273 I KI.KA – Der Kinderkanal von <strong>ARD</strong><br />
und ZDF _ 273 I PHOENIX. Der Ereignis- und<br />
Dokumentationskanal von <strong>ARD</strong> und ZDF _ 273 I 3sat –<br />
Satellitenfernsehen des deutschen Sprachraums _ 273<br />
Auslandskorrespondenten _ 274<br />
Karte _ 274 I Liste _ 276<br />
<strong>ARD</strong>-Rundfunkanstalten _ 278<br />
Karte: Sendegebiete, Funkhäuser, Studios und<br />
Büros _ 278 I Bayerischer Rundfunk _ 279 I Hessischer<br />
Rundfunk _ 283 I Mitteldeutscher Rundfunk _ 285 I<br />
Norddeutscher Rundfunk _ 288 I Radio Bremen _ 292 I<br />
Rundfunk Berlin-Brandenburg _ 294 I Saarländischer<br />
Rundfunk _ 297 I Südwestrundfunk _ 299 I Westdeutscher<br />
Rundfunk _ 303 I Deutsche Welle _ 306<br />
<strong>ARD</strong>-Beteiligungen _ 308<br />
Deutschlandradio _ 308 I ARTE Deutschland und ARTE<br />
G.E.I.E. _ 310<br />
<strong>ARD</strong>-Werbung und Werbegesellschaften _ 311<br />
Arbeitsgemeinschaft der <strong>ARD</strong>-Werbegesellschaften _<br />
311 I Bayerische Rundfunkwerbung _ 311 I hr werbung<br />
_ 311 I MDR-Werbung _ 312 I NDR Media _ 312 I<br />
Radio Bremen Media _ 312 I RBB Media _ 312 I SWR<br />
Media Services _ 313 I Werbefunk Saar _ 313 I WDR<br />
media group _ 313<br />
Inhalt A R D - J A H R B U C H 0 9 7
8<br />
_ Statistik 2008<br />
Finanzstatistik 2008 _ 317<br />
Landesrundfunkanstalten<br />
Vermögensrechnung: Statistische Zusammenfassung<br />
_ 318 I Landesrundfunkanstalten einzeln _ 320<br />
Ertrags- und Aufwandsrechnung/Finanzrechnung:<br />
Statistische Zusammenfassung _ 322 I Bayerischer<br />
Rundfunk _ 324 I Hessischer Rundfunk _ 326 I Mitteldeutscher<br />
Rundfunk _ 328 I Norddeutscher Rundfunk<br />
_ 330 I Radio Bremen _ 332 I Rundfunk Berlin-<br />
Brandenburg _ 334 I Saarländischer Rundfunk _ 336 I<br />
Südwestrundfunk _ 338 I Westdeutscher Rundfunk _<br />
340 I Grafik: Erträge und Aufwendungen 2008 _ 343<br />
Gesamtübersichten: Erträge aus Teilnehmergebühren<br />
_ 344 I Empfangsgeräte nach Einzugsgebieten _<br />
345 I Aufwendungen für die GEZ _ 346 I Aufwendun -<br />
gen für Befreiungsbearbeitung und Beauftragtendienst<br />
_ 346 I Anteil der Verwaltungskosten an den<br />
Gesamtkosten _ 346 I Ausstrahlungskosten _ 347 I<br />
Investitionen _ 347 I Besetzte Planstellen _ 348 I<br />
Finanzausgleich der <strong>ARD</strong> _ 348<br />
Deutsche Welle<br />
Ertrags- und Aufwandsrechnung _ 349 I<br />
Vermögensrechnung _ 350 I Investitionen _ 352<br />
Deutschlandradio<br />
Ertrags- und Aufwandsrechnung _ 353 I<br />
Vermögensrechnung _ 354 I Investitionen _ 356<br />
Werbestatistik 2008 _ 357<br />
Umsätze Werbefunk _ 358 I Umsätze Werbefernsehen<br />
_ 358 I Grafik: Programmanteile Werbefunk und<br />
Werbefernsehen 1999 – 2008 _ 360<br />
Hörfunkstatistik 2008 _ 361<br />
Landesrundfunkanstalten<br />
Bayerischer Rundfunk _ 362 I Hessischer Rundfunk _<br />
362 I Mitteldeutscher Rundfunk _ 364 I Norddeutscher<br />
Rundfunk _ 364 I Radio Bremen _ 366 I Rundfunk<br />
Berlin-Brandenburg _ 366 I Saarländischer Rundfunk _<br />
367 I Südwestrundfunk _ 368 I Westdeutscher Rundfunk<br />
_ 368 I Gesamtübersicht _ 370<br />
Deutschlandradio<br />
Deutschlandradio Kultur und Deutschlandfunk _ 370<br />
Deutsche Welle<br />
Deutsches und Fremdsprachenprogramm _ 371<br />
Fernsehstatistik 2008 _ 372<br />
Erstes Deutsches Fernsehen<br />
Gesamtprogramm nach Erstsendungen und Wiederholungen<br />
_ 375 I Programmzulieferungen von <strong>ARD</strong>aktuell<br />
_ 375 I Gesamtprogramm nach Programm-<br />
Inhalt A R D - J A H R B U C H 0 9<br />
entstehung _ 376 I Grafik: Erstes Fernsehprogramm<br />
nach Erstsendungen, Wiederholungen und Programment<br />
stehung _ 376 I Grafik: Informationsanteil im Ersten<br />
und in den Dritten Programmen der <strong>ARD</strong> _ 377<br />
Dritte Fernsehprogramme<br />
Gesamtprogramme nach Ressorts _ 378 I Gesamtprogramme<br />
nach Programmentstehung _ 378 I Grafik:<br />
Dritte Fernsehprogramme nach Programmentste-<br />
hung _ 380<br />
Satellitenprogramm PHOENIX<br />
<strong>ARD</strong>-Anteil _ 378<br />
Satellitenprogramm KI.KA<br />
<strong>ARD</strong>-Anteil _ 379<br />
Satellitenprogramm 3sat<br />
<strong>ARD</strong>-Anteil nach Ressorts _ 380<br />
Europäischer Kulturkanal ARTE<br />
<strong>ARD</strong>-Anteil nach Ressorts _ 381<br />
Bayerischer Rundfunk<br />
BR-alpha nach Ressorts und nach Erstsendungen/<br />
Wiederholungen _ 381<br />
Deutsche Welle<br />
DW-TV nach Sprachen _ 382 I DW-TV nach Inhalten _<br />
382 I DW-TV nach Programmentstehung _ 382<br />
Medienforschungsdaten 2008 _ 383<br />
Hörfunknutzung 2008<br />
Bundesweit _ 384 I BR-Sendegebiet _ 386 I HR-<br />
Sendegebiet _ 386 I MDR-Sendegebiet _ 387 I NDR-<br />
Sendegebiet _ 387 I Radio-Bremen-Sendegebiet _ 388 I<br />
RBB-Sendegebiet _ 388 I SR-Sendegebiet _ 389 I SWR-<br />
Sendegebiet _ 389 I WDR-Sendegebiet _ 390<br />
Fernsehen 2008<br />
Empfangspotenziale der Fernsehprogramme bundesweit<br />
2004 – 2008 _ 391 I Ebenen des Fernsehempfangs<br />
und Anzahl empfangbarer Programme 2004 – 2008 _<br />
391 I Nutzung bundesweit, BRD West, BRD Ost,<br />
2005 – 2008 _ 392 I Nutzung einzelner Programme<br />
in einzelnen Zeitabschnitten _ 393 I Grafik:<br />
Marktanteile einzelner Programme in der Prime<br />
Time _ 393 I Nutzung einzelner Programme in einzelnen<br />
Altersgruppen _ 394 I Marktanteile der Dritten<br />
Programme in den einzelnen Sendegebieten _ 394<br />
_ Dokumente<br />
Staatsvertrag über den Rundfunk im<br />
vereinten Deutschland vom 31. August 1991<br />
in der Fassung des 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrags<br />
vom 18. Dezember 2008 (Auszug) _ 399<br />
Art. 1: Rundfunkstaatsvertrag _ 399<br />
Art. 6: Rundfunkfinanzierungsstaatsvertrag _ 427
Ein schwieriges Jahr<br />
Die <strong>ARD</strong> bekennt sich zur Filmförderung<br />
Von Udo Reiter _ 431<br />
9. Film-/Fernsehabkommen<br />
vom 13./20. Mai 2009 _ 432<br />
<strong>ARD</strong>-Beschlüsse zu den Themenkreisen<br />
Fernsehvertragsschlüssel und Finanzausgleich<br />
sowie zum so genannten Leistungs- und<br />
Gegenleistungsaustausch<br />
vom 15. April 2008 _ 435<br />
_ Register<br />
Personen _ 439 I Sachen _ 450 I Titel _ 459 I<br />
Abkürzungen _ 467 I Bildnachweis _ 470<br />
Inhalt A R D - J A H R B U C H 0 9 9
Artikel
Qualität für alle<br />
Von der Kunst, den vielfältigen Interessen gerecht zu werden<br />
Von Peter Boudgoust<br />
M<br />
it dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk<br />
ist es manchmal wie mit dem<br />
Fußball: Es gibt nicht nur viele<br />
Anhänger, sondern genauso viele<br />
Experten und Kritiker. Auf dem Platz sind es<br />
die Leistungen der Spieler oder des Schiedsrichters,<br />
die munter diskutiert werden; im Fernsehen,<br />
Radio oder Netz sind es Moderatoren,<br />
Sendungen und Blogeinträge, die mal mehr,<br />
mal weniger gut ankommen. Das Publikum<br />
weiß sehr genau, was ihm gefällt und was nicht.<br />
Und so mancher wäre vermutlich selbst gern<br />
mal Trainer, Chefredakteur oder Intendant.<br />
Zu unseren Programmen und Angeboten<br />
hat fast jeder eine Meinung. Und für viele<br />
TV-Kritiker und Medienjournalisten wäre das<br />
Leben ohne uns nur halb so schön. Das ist gut<br />
so, zeigt es doch, dass die <strong>ARD</strong> wahrgenommen<br />
wird und im täglichen Leben eine Rolle spielt.<br />
Uns ist es natürlich wichtig zu erfahren, was<br />
diejenigen, für die wir Programm machen, davon<br />
halten. Die Auseinandersetzung mit Lob<br />
und Kritik gibt uns die Chance, noch besser zu<br />
werden. Eine Erwartung, die dabei immer wieder<br />
– und das zu Recht – an uns gestellt wird,<br />
ist Qualität.<br />
Dabei ist es schwer, Qualität überhaupt zu<br />
definieren. Relevanz, Unabhängigkeit, Verlässlichkeit<br />
sind wichtige Kriterien – und Vielfalt.<br />
Für den Informationshungrigen zeigt sich Qualität<br />
in Nachrichtensendungen und Politik-Magazinen,<br />
für den Kulturinteressierten ist es die<br />
Opernübertragung, für den Sport-Begeisterten<br />
das große internationale Turnier. Wieder andere<br />
wollen Filme mit Tiefgang, anspruchsvolle<br />
Dokumentationen oder auch gepflegte Unterhaltung<br />
(vgl. Volker Herres: Qualität trotz Quotendruck).<br />
Bei so unterschiedlichen Interessen ist klar:<br />
Wir können nicht zu jeder Zeit alle glücklich<br />
machen, aber wir können darauf achten, dass<br />
das Gesamtpaket stimmt. Deshalb bin ich skeptisch,<br />
wenn uns wohlmeinend empfohlen wird,<br />
einfach nur Kultur- und Bildungsprogramme zu<br />
senden, frei nach dem Motto: Immer rauf mit<br />
dem Niveau. Diese Strategie birgt die Gefahr,<br />
dass am Ende keiner mehr nachkommt. Ein<br />
Rundfunk, der von allen über Gebühren finanziert<br />
wird, muss auch den Anspruch haben, alle<br />
Menschen zu erreichen.<br />
Die viel gescholtene Quote steht deswegen<br />
auch für uns nicht im Widerspruch zur Qualität.<br />
Quote steht für Menschen, für Hörer und<br />
Zuschauer. Quote bedeutet Akzeptanz. Und da<br />
ist es bei uns wieder ähnlich wie beim Fußball:<br />
Das Stadion ist dann voll besetzt, wenn Angebot<br />
und Leistung stimmen.<br />
»Qualität für alle« heißt aber auch: Jeder<br />
hat freien Zugang zu unseren Angeboten auf<br />
allen wichtigen Verbreitungswegen. Wer den<br />
Fernseher einschaltet, der hat im <strong>ARD</strong>-Angebot<br />
die Wahl zwischen dem Ersten, den Dritten<br />
Programmen, PHOENIX, 3sat, ARTE, KI.KA<br />
und den Digitalkanälen. Die Radiowellen reichen<br />
von Jugend- und Pop- über Inforadios bis<br />
zu Kulturprogrammen. Und wer im Internet<br />
auf unsere Seiten klickt, der kann sicher sein,<br />
alle notwendigen Informationen dort zu finden<br />
– heute und in Zukunft. Ich betone das vor<br />
dem Hintergrund, dass wir vom Gesetzgeber<br />
verpflichtet wurden, unsere Internetangebote<br />
Editorial A R D - J A H R B U C H 0 9 13
genehmigen zu lassen (vgl. Verena Wiedemann:<br />
Die Vermessung des Gemeinwohls; vgl. Harald<br />
Augter / Susanne Pfab: Die Erstbesteigung der drei<br />
Stufen). Das haben wir natürlich akzeptiert. Unseren<br />
journalistischen Auftrag tangiert das aber<br />
nicht. Wir informieren, bilden und unterhalten.<br />
Diesen Auftrag werden wir auch künftig erfüllen<br />
– nicht nur in den alten, auch in den neuen<br />
Medien.<br />
Mit unseren Internetangeboten geht es uns<br />
nicht darum, kommerziellen Mitbewerbern Betätigungsfelder<br />
und Einnahmequellen streitig<br />
zu machen – es gilt, auch denen unsere Inhalte<br />
anzubieten, die sich orts- und zeitunabhängig<br />
informieren wollen. Die jüngste <strong>ARD</strong>/ZDF-<br />
Onlinestudie spricht von rund 67 Prozent, die<br />
das Netz nutzen. Und bei den ganz Jungen<br />
zwischen 14 und 29 ist fast jeder »mindestens regelmäßig«<br />
drin im Netz. Die junge Generation<br />
wird nicht ohne Grund neudeutsch als »Digital<br />
Natives« bezeichnet. Sie ist in die digitale Welt<br />
hineingeboren, informiert sich und kommuniziert<br />
ganz selbstverständlich online. Und die<br />
anderen, die »Digital Immigrants«, auch die finden<br />
sich mit der Zeit immer besser zurecht in<br />
der neuen Medienwelt. Das Internet hat sich zu<br />
einem Massenmedium entwickelt. Und deshalb<br />
ist es richtig und wichtig, dass das Bundesverfassungsgericht<br />
und der Gesetzgeber ausdrücklich<br />
einen originären Auftrag des öffentlich-rechtlichen<br />
Rundfunks auch für die so genannten<br />
Telemedien anerkennen. Die Idee des öffentlichrechtlichen<br />
Rundfunks als öffentliches Gut, als<br />
Infrastrukturleistung wie Straßen oder Schulen,<br />
ist unabhängig von einem technischen Standard<br />
oder Verbreitungsweg.<br />
Die Qualität unserer Programme ist nicht zu<br />
trennen von der Qualität unserer Technik. Der<br />
Nachrichtensprecher ist nichts ohne den richtigen<br />
Ton, das Studio braucht gute Scheinwerfer<br />
und die Live-Übertragung lebt von scharfen Bildern.<br />
Im Interesse unseres Publikums befördern<br />
wir deshalb auch technische Innovationen.<br />
Die Zukunft ist digital – und wir sind dabei.<br />
Zu den Olympischen Winterspielen 2010 in<br />
Vancouver starten wir im Ersten den HDTV-<br />
Regelbetrieb. Unser Motto »Gutes noch besser<br />
sehen« meint, dass die Sendungen in einer<br />
hervorragend hochauflösenden Bild- und einer<br />
deutlich verbesserten Tonqualität erlebt werden<br />
können (vgl. Nawid Goudarzi: Noch schärfer sehen).<br />
Und das Radio der Zukunft ist mehr als<br />
guter Klang – es ist multimedial. Es geht um<br />
nutzerfreundliche Lösungen wie personalisierte<br />
Musik- und Informationsauswahl oder Audios<br />
on Demand, die völlig unabhängig von Ort<br />
und Zeit zur Verfügung stehen.<br />
Unser Unternehmensziel ist das Programm,<br />
nicht Profit. Dafür bekommen wir Rundfunkgebühren,<br />
um die wir – gerade in Zeiten von<br />
Finanz- und Wirtschaftsturbulenzen – von der<br />
Konkurrenz beneidet werden. Dabei ist auch<br />
diese finanzielle Grundlage nicht in Stein gemeißelt.<br />
Die Anpassung der Gebühren liegt seit<br />
Jahren unterhalb der Inflationsrate. Die demografische<br />
Entwicklung und die steigende Zahl<br />
von Befreiungen aus sozialen Gründen führen<br />
letztlich dazu, dass die Gebühreneinnahmen<br />
deutlich zurückgehen. 2008 hatten wir erstmals<br />
weniger Gebühreneinnahmen als im Jahr zuvor.<br />
Und bis zum Ende der laufenden Gebührenperiode<br />
2012 rechnen wir mit Gebührenausfällen<br />
von mindestens 200 Millionen Euro. Dieser<br />
Trend wird sich fortsetzen. Nun können wir<br />
darüber klagen oder aber wir überlegen, wie wir<br />
so sparen können, dass es das Programm nicht<br />
schwächt. Kooperationen werden daher ein<br />
Kernthema der nächsten Jahre sein. Vereinfacht<br />
formuliert: Nicht jeder produziert alles, aber<br />
alle profitieren. Das ist vor allem sinnvoll und<br />
machbar bei Programmen, in denen die Regionalität<br />
nicht unbedingt im Vordergrund steht.<br />
Ein Beispiel sind die musikalischen Jubiläen<br />
von Chopin, Schumann und Mahler im kommenden<br />
Jahr. Die werden bei uns natürlich einen<br />
großen Raum einnehmen, vor allem in den<br />
Kulturprogrammen. Aber es wird nicht neun<br />
Dokumentationen von neun verschiedenen Autoren<br />
geben. Die Kreativität unserer Mitarbeiter<br />
kommt dem Programm dann an anderer Stelle<br />
zugute. Stärker kooperieren heißt nicht zwangsläufig,<br />
Vielfalt und Eigenständigkeit aufgeben.<br />
Gerade die jüngsten Erfolge des »<strong>ARD</strong> Radio<br />
Tatorts« oder der »<strong>ARD</strong>-Radionacht für Kinder«<br />
zeigen, dass es gelingen kann, gemeinsame<br />
Marken zu etablieren, ohne die eigene Identität<br />
zu verlieren. So schaffen wir finanzielle wie<br />
personelle Freiräume und bewahren uns die<br />
Möglichkeit, ein relevantes Programm gestalten<br />
zu können (vgl. Wolfgang Schmitz: Alleine sind wir<br />
stark, gemeinsam sind wir stärker).<br />
Ein Fußballspiel ist auch nur dann sehenswert<br />
und unterhaltsam, wenn kreativ nach<br />
vorne gespielt wird. Dafür braucht es nicht<br />
unbedingt herausragende Einzelkämpfer, sondern<br />
eine gut eingespielte Mannschaft, in der<br />
sich der eine auf den anderen verlassen kann.<br />
Die <strong>ARD</strong> hat auch 2009 bewiesen, wozu sie als<br />
Team fähig ist.<br />
14 Artikel A R D - J A H R B U C H 0 9
Zwei neue Begriffe haben die medienpolitische Diskus-<br />
sion in Deutschland während der letzten zwei Jahre<br />
geprägt: Telemedien und Dreistufentest. Als Telemedien<br />
gelten – vereinfacht formuliert – Medien, die publizis-<br />
tische Inhalte zum Abruf bereitstellen, also nicht wie<br />
Hörfunk und Fernsehen »linear« Sendungen an eine<br />
Vielzahl von Hörern und Zuschauern ausstrahlen. Dazu<br />
zählen längst etablierte Angebote wie der Teletext, aber<br />
auch die Onlineseiten der Sender, einschließlich der<br />
Mediatheken, über die Audios und Videos vom Nutzer<br />
orts- und zeitsouverän abgerufen werden können.<br />
Die Länder haben im aktuellen Rundfunkstaatsvertrag<br />
ausdrücklich bestätigt, dass Telemedienangebote inte-<br />
graler Bestandteil des öffentlich-rechtlichen Funktions-<br />
auftrags sind. Der Staatsvertrag regelt aber auch,<br />
dass seit Juni 2009 alle bestehenden sowie geplante<br />
neue Telemedienangebote durch die Rundfunkgremien<br />
in einem Dreistufentest geprüft werden müssen.<br />
Die Vermessung des Gemeinwohls?<br />
Der 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag und<br />
der Dreistufentest aus Sicht der Rundfunkanstalten<br />
Von Verena Wiedemann<br />
M<br />
it der Unterschrift der Ministerpräsidenten<br />
unter den Text des 12.<br />
Rundfunkänderungsstaatsvertrags<br />
(RÄStV) am 18. 12. 2008 fand eine<br />
der heftigsten medienpolitischen Auseinandersetzungen<br />
der letzten Jahre zumindest ein<br />
vorläufiges Ende. Der Gesetzgeber beantwortete<br />
die Frage, ob sich der Funktionsauftrag des<br />
öffentlich-rechtlichen Rundfunks neben linear<br />
ausgestrahltem Hörfunk und Fernsehen auch<br />
auf Abrufangebote bezieht, eindeutig mit Ja<br />
und erklärte erstmals, dass Telemedienangebote<br />
als selbständiger und gleichberechtigter Teil<br />
des Auftrags zu verstehen sind. Jenseits dieses<br />
klaren Bekenntnisses zu einem technologieneutralen<br />
und entwicklungsoffenen Auftrag des öffentlich-rechtlichen<br />
Rundfunks fiel die Antwort<br />
der Länder auf die medienpolitischen Auseinandersetzungen<br />
im Hinblick auf die öffentlichrechtlichen<br />
Telemedienangebote restriktiv aus.<br />
In einer so genannten Negativliste wird eine<br />
Reihe von Telemedien gesetzlich untersagt. Mit<br />
Ausnahme der direkt im Gesetz beauftragten<br />
Angebote – im Wesentlichen sendungsbezogene<br />
Angebote für bis zu sieben Tage –, kann<br />
der öffentlich-rechtliche Rundfunk künftig alle<br />
weiteren Telemedien nur noch dann anbieten,<br />
wenn diese einen Dreistufentest bestehen.<br />
Zugleich muss die freie Zugänglichkeit dieser<br />
Telemedien mit Ausnahme von kultur- und<br />
zeitgeschichtlichen Inhalten grundsätzlich zeitlich<br />
begrenzt werden. Das Gesetz folgt damit<br />
im Hinblick auf die Verweildauer öffentlichrechtlicher<br />
Telemedien im Internet im Grundsatz<br />
dem Motto: sieben Tage sowieso – mehr<br />
als sieben Tage nur, wenn die Hürde des Drei-<br />
Die Vermessung des Gemeinwohls A R D - J A H R B U C H 0 9 15
stufentests mit dem entsprechenden Prüfaufwand<br />
genommen wird – und auch dann nur<br />
befristet. Noch weiter eingeschränkt werden<br />
Berichte von Sportgroßereignissen, einschließlich<br />
der Fußball-Bundesliga, die in jedem Fall<br />
nur bis zu 24 Stunden im Internet zum freien<br />
Abruf vorgehalten werden dürfen. Angekaufte<br />
Spielfilme und Serien dürfen generell nicht ins<br />
Netz gestellt werden. Ferner gilt ein Verbot von<br />
presseähnlichen Angeboten für den Fall, dass<br />
öffentlich-rechtliche Internetangebote ohne<br />
Bezug zu einer ausgestrahlten Sendung in Hörfunk<br />
oder Fernsehen erstellt werden.<br />
_ Der Dreistufentest als Herzstück<br />
Im Mittelpunkt der Neuerungen des 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrags<br />
steht damit der<br />
Dreistufentest. Der Test hat seinen Namen nach<br />
den drei Prüfstufen, die von den Rundfunkan-<br />
stalten in Bezug auf ihre Telemedienangebote<br />
darzulegen und von den Aufsichtsgremien zu<br />
absolvieren sind. Geprüft wird<br />
1. ob das Telemedienangebot den demokratischen,<br />
sozialen und kulturellen Bedürfnissen<br />
der Gesellschaft entspricht,<br />
2. ob es in qualitativer Hinsicht zum publizistischen<br />
Wettbewerb beiträgt und<br />
3. welcher finanzielle Aufwand für die Erbringung<br />
des Angebots vorgesehen ist.<br />
Beim Dreistufentest handelt es sich funktional<br />
gesehen um ein Mittel, den gesetzlich<br />
abstrakter formulierten Auftrag des öffentlichrechtlichen<br />
Rundfunks für den Telemedienbereich<br />
weiter zu konkretisieren – eine zentrale<br />
Forderung der Europäischen Kommission aus<br />
der Beihilfeentscheidung zu <strong>ARD</strong> und ZDF<br />
vom April 2007. Die wichtigste Rolle kommt<br />
dabei den pluralistisch besetzten Aufsichtsgremien<br />
der Rundfunkanstalten zu, den Rundfunkräten.<br />
Diese haben künftig die vom Intendanten<br />
zu erarbeitenden Telemedienkonzepte<br />
zu prüfen und zu genehmigen. Sie entscheiden<br />
damit letztendlich darüber, auf welche Weise<br />
der öffentlich-rechtliche Rundfunk seinen<br />
Auftrag im Internet wahrnehmen kann. Die<br />
Programmverantwortung bleibt dabei weiterhin<br />
ausschließlich beim Intendanten. Denn die Telemedienkonzepte<br />
werden in dessen alleiniger<br />
Verantwortung erstellt und können ohne dessen<br />
Zustimmung von den Gremien im Rahmen des<br />
Dreistufentests nicht abgeändert werden.<br />
_ Entscheidend ist das Gemeinwohlinteresse<br />
Nach dem deutschen verfassungsrechtlichen<br />
Verständnis ist die Rundfunkfreiheit eine dienende<br />
Freiheit. Der Gesetzgeber ist danach<br />
verpflichtet, die Vielfalt der veröffentlichten<br />
Meinungen, also die publizistische Vielfalt zu<br />
sichern. Aus dem Umstand, dass im Rundfunkstaatsvertrag<br />
der Telemedienauftrag erstmals<br />
als selbständiger Teil des öffentlich-rechtlichen<br />
Funktionsauftrags ausgestaltet wurde, ergibt<br />
sich bereits, dass der Gesetzgeber die gleichen<br />
Erwartungen an die Funktion der Telemedienangebote<br />
von <strong>ARD</strong> und ZDF stellt, wie an deren<br />
Hörfunk- und Fernsehprogramme.<br />
Das heißt insbesondere, dass die Inhalte eine<br />
solche Breite und Vielfalt haben müssen, dass<br />
sie für die Menschen aller Altersschichten und<br />
sozialen Gruppen relevant sind und auch im<br />
Internet nachhaltig meinungsbildend wirken<br />
können. Zugleich stellt der Gesetzgeber noch<br />
zusätzliche Erwartungen an die öffentlich-rechtlichen<br />
Telemedienangebote. So heißt es in § 11 d<br />
Abs. 3 Rundfunkstaatsvertrag, dass die Telemedien<br />
des öffentlich-rechtlichen Rundfunks die<br />
Teilhabe aller an der Informationsgesellschaft<br />
sichern, Orientierungshilfe bieten sowie die<br />
technische und inhaltliche Medienkompetenz<br />
aller Generationen und von Minderheiten fördern<br />
sollen. Es sind diese Anliegen des Gemeinwohls,<br />
die die Gremien durch ihre Entscheidung<br />
zum Dreistufentest wahren sollen.<br />
Zugleich sollen sie durch die Berücksichtigung<br />
möglicher negativer Marktauswirkungen<br />
sicherstellen, dass öffentlich-rechtliche Tele-<br />
16 Artikel A R D - J A H R B U C H 0 9
medien das Verlangen des Gesetzgebers nach<br />
publizistischer Vielfalt nicht etwa konterkarieren.<br />
Angesichts der Dynamik des Internets<br />
und der im Vergleich zu den kommerziellen<br />
Medienhäusern bescheidenen Investitionen des<br />
öffentlich-rechtlichen Rundfunks ins Internet<br />
wird dies aber nur in Ausnahmesituationen angenommen<br />
werden können. So sieht es auch<br />
das europäische Wettbewerbsrecht, das Dienstleistungen<br />
der Daseinsvorsorge gegenüber den<br />
im Übrigen strengen Wettbewerbsregeln grundsätzlich<br />
privilegiert.<br />
Derartige Dienstleistungen, zu denen auch<br />
der öffentlich-rechtliche Rundfunk gehört, sind<br />
im Wettbewerb mit kommerziellen Anbietern<br />
grundsätzlich zulässig. Dabei werden negative<br />
Auswirkungen auf einzelne Marktteilnehmer<br />
durch Dienstleistungen der Daseinsvorsorge aufgrund<br />
ihrer Finanzierung über Beihilfen von<br />
vornherein als systemimmanent vorausgesetzt.<br />
Nur im Ausnahmefall, dem eine Prüfung des<br />
Einzelfalls vorausgehen muss, kann eine Dienst -<br />
leistung der Daseinsvorsorge einmal wettbewerbsrechtlich<br />
unzulässig sein. Dies würde rele vant,<br />
wenn durch das öffentlich-rechtliche Angebot<br />
der Markt nachhaltig verstopft würde und ein<br />
Wettbewerb insgesamt nicht mehr stattfinden<br />
könnte. Die Gewinnchancen einzelner Wettbewerber<br />
schützt das Beihilferecht hingegen ausdrücklich<br />
nicht. So stehen in Deutschland also<br />
auch nicht etwa die Marktauswirkun gen im Vordergrund<br />
der rundfunkrechtlichen Prüfung im<br />
Rahmen des Dreistufentests, sondern das Allgemeininteresse<br />
am freien Zugang zu qualitativ<br />
hochwertigen, glaubwürdigen Inhalten.<br />
_ Hoher Umsetzungsaufwand<br />
Unabhängig von der Bewertung seiner Rege lun -<br />
gen im Einzelnen kommt mit dem 12. Rund funkänderungsstaatsvertrag<br />
ein erheblicher Umsetzungsaufwand<br />
sowohl auf die Aufsichtsgremien<br />
(vgl. Harald Augter/Susanne Pfab: Die Erstbesteigung<br />
der drei Stufen) als auch auf die Operative<br />
der Rundfunkanstalten zu. Die einheitlichen<br />
Verfahrensregeln, die die Rundfunkanstalten<br />
gemeinsam mit den Gremien der <strong>ARD</strong> ausgearbeitet<br />
haben, stellen sicher, dass bei den<br />
<strong>ARD</strong>-Gemeinschaftsangeboten alle Aufsichtsorgane<br />
der Landesrundfunkanstalten und alle<br />
Gemeinschaftsorgane gehört werden und deren<br />
Stellungnahmen in die Entscheidung des jeweils<br />
federführenden Rundfunkrats Eingang finden.<br />
Diese der föderalen Struktur der <strong>ARD</strong> geschuldete<br />
Regelung bedeutet aber zugleich, dass<br />
ein einziges Telemedienangebot der <strong>ARD</strong> nicht<br />
nur von dem federführenden Rundfunkrat –<br />
beispielsweise dem NDR-Rundfunkrat im Fall<br />
von tagesschau.de –, sondern auch von acht<br />
weiteren Rundfunkräten der Landesrundfunkanstalten,<br />
koordiniert über die Gremienvorsitzendenkonferenz,<br />
und vom <strong>ARD</strong>-Programmbeirat<br />
beraten wird.<br />
Diese Motive stammen von den<br />
Zwischenblättern der Telemedienkonzepte der<br />
gemeinschaftlichen Angebote der <strong>ARD</strong>.<br />
Nachdem der Gesetzgeber in letzter Minute<br />
vor der abschließenden Formulierung<br />
des 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrags im<br />
Herbst 2008 noch verfügt hatte, dass auch der<br />
gesamte Bestand der Telemedienangebote von<br />
<strong>ARD</strong> und ZDF den Dreistufentest durchlaufen<br />
muss, ohne dass Brüssel dies von den Ländern<br />
verlangt hatte, waren alle betroffenen Redaktionen<br />
in den Landesrundfunkanstalten und<br />
in den Gemeinschaftseinrichtungen gefordert,<br />
für sämtliche schon bestehenden Telemedienangebote<br />
detaillierte Telemedienkonzepte zu<br />
verfassen.<br />
Die Bestandsüberführung muss laut den<br />
staatsvertraglichen Vorgaben bis zum 31. 8. 2010<br />
abgeschlossen sein. Dies ist nicht viel Zeit,<br />
wenn man bedenkt, dass sämtliche gemeinschaftlichen<br />
<strong>ARD</strong>-Angebote wie auch die Telemedienangebote<br />
aller Landesrundfunkanstalten<br />
Die Vermessung des Gemeinwohls A R D - J A H R B U C H 0 9 17
von den Aufsichtsgremien gleichzeitig geprüft<br />
werden müssen. Insgesamt handelt es sich dabei<br />
um mehr als 30 Verfahren, ein erheblicher Aufwand<br />
auch für die Gremien. Sie fassten deshalb<br />
den Beschluss, mit den Dreistufentests unmittelbar<br />
nach Inkrafttreten des 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrags<br />
am 1. 6. 2009 zu beginnen.<br />
Der neue Staatsvertragstext enthielt viele<br />
auslegungsbedürftige Klauseln. Diese waren<br />
zudem ausschließlich im Hinblick auf neue<br />
Telemedienangebote des öffentlich-rechtlichen<br />
Rundfunks formuliert worden und fanden erst<br />
durch eine kurzfristig eingefügte Übergangsbestimmung<br />
pauschal auf die Bestandsüberführung<br />
Anwendung. In dieser Situation erwies es<br />
sich als hilfreich, dass bereits vor Inkrafttreten<br />
des 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrags erste<br />
Erfahrungen mit dem Dreistufentest bei freiwillig<br />
durchgeführten Verfahren für neue Angebote<br />
bei NDR und MDR gesammelt werden konnten.<br />
Denn bereits nach der Entscheidung der<br />
Europäischen Kommission im Beihilfeverfahren<br />
zur Finanzierung des öffentlich-rechtlichen<br />
Rundfunks in Deutschland im April 2007<br />
hatten die Länder und Brüssel die klare Erwartung<br />
geäußert, dass neue Angebote, die vor<br />
Inkrafttreten des neuen Staatsvertrags gestartet<br />
würden, bereits von den Aufsichtsgremien nach<br />
den neuen gesetzlichen Vorgaben geprüft werden<br />
müssten.<br />
Als der 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag<br />
in seinen wesentlichen Eckpunkten feststand,<br />
begannen daher für die die NDR Mediathek<br />
und für die Angebote KI.KAplus und www.<br />
kikaninchen.de am 1. 12. 2008 freiwillige Dreistufentests.<br />
Auf die im Rahmen dieser Verfahren<br />
gesammelten Erfahrungen konnten Operative<br />
und Gremien bei den zahlreichen Verfahren zur<br />
Bestandsüberführung in der Folgezeit zurückgreifen.<br />
_ Die Telemedienkonzepte<br />
Bei der Beschreibung des Telemedienbestandes<br />
geht es nach dem Willen des Gesetzgebers nicht<br />
um die Erläuterung jeder einzelnen Internetseite.<br />
Vielmehr sollen die Gremien in die Lage<br />
versetzt werden, auf Grundlage der Konzepte<br />
die wesentlichen Eckpunkte der Telemedienangebote<br />
zu prüfen. Entsprechend sind die<br />
Konzepte auf einem »mittleren Abstraktionsniveau«<br />
verfasst. Wie in der Begründung zum 12.<br />
Rundfunkänderungsstaatsvertrag vorgesehen,<br />
beschreiben sie den genretypischen, charakteristischen<br />
Kern eines Angebots einschließlich<br />
der intendierten Zielgruppe. Die inhaltliche<br />
Ausgestaltung dieser zu genehmigenden Eckpunkte<br />
obliegt hingegen den Redaktionen der<br />
Rundfunkanstalten im Rahmen ihrer täglichen<br />
journalistischen Praxis und ihrer Programmautonomie.<br />
_ Wandel des Mediennutzungsverhaltens<br />
schreitet voran<br />
Wie wichtig die Telemedienangebote für den<br />
öffentlich-rechtlichen Rundfunk sind, wenn er<br />
auch in Zukunft seinen Funktionsauftrag erfüllen<br />
können soll, ergab sich aus der im Mai<br />
2009 veröffentlichten aktuellen <strong>ARD</strong>/ZDF-<br />
Onlinestudie. Sie stellte erneut einen Anstieg<br />
der Internetnutzung in Deutschland fest. Fast<br />
alle 14- bis 19-Jährigen nutzen danach regelmäßig<br />
das Internet. Aber auch bei den über<br />
50-Jährigen liegt der Anteil der Internetnutzung<br />
bereits bei rund 40 Prozent, mit steigender<br />
Tendenz. Weit mehr als die Hälfte aller »Onliner«<br />
(62 Prozent) ruft nach der Studie bereits<br />
Videos ab, zum Beispiel über Videoportale oder<br />
Mediatheken, und schaut live oder zeitversetzt<br />
Fernsehsendungen im Internet. Im Jahr davor<br />
waren es erst 55 Prozent. Auch die vielbeschworene<br />
Konvergenz der Medien ist mittlerweile<br />
sichtbar in den Wohnzimmern der Bürger angekommen:<br />
Bereits heute sind TV-Geräte auf dem<br />
Markt, die Abrufangebote aus dem Internet so<br />
18 Artikel A R D - J A H R B U C H 0 9
präsentieren, dass aus Sicht des Zuschauers kein<br />
Unterschied mehr zwischen Fernsehen und Internet<br />
erkennbar ist.<br />
_ Das Nutzerinteresse als Maßstab<br />
Ziel der für die Dreistufentests benötigten Telemedienkonzepte<br />
der <strong>ARD</strong> war es daher, den<br />
durch den 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag<br />
festgelegten regulatorischen Rahmen so umzusetzen,<br />
dass diesem gewandelten Nutzungsverhalten<br />
und dem Interesse der Bürgerinnen und<br />
Bürger bestmöglich Rechnung getragen werden<br />
kann. Aus der Verpflichtung, ihren gesamten<br />
Bestand in Telemedienkonzepten zu beschreiben,<br />
ergab sich für die Rundfunkanstalten auch<br />
die Chance, noch einmal kritisch selbst das<br />
eigene Angebot zu prüfen und sich der eigenen<br />
Standards und Ansprüche zu versichern.<br />
Entscheidend für die Verantwortlichen waren<br />
dabei neben den berechtigten Erwartungen und<br />
Anliegen der Nutzer insbesondere redaktionelle<br />
Kriterien der Relevanz und der Beitrag der<br />
Angebote zur Erfüllung der demokratischen,<br />
sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Gesellschaft.<br />
In einigen Fällen mussten jedoch auch<br />
Angebote entfernt werden, für die ein lebhaftes<br />
Nutzerinteresse bekannt war, nämlich dann,<br />
wenn die Angebote nicht vereinbar waren mit<br />
der sogenannten Negativliste und weiteren neu<br />
eingeführten gesetzlichen Verboten. Davon<br />
betroffen war zum Beispiel die vielfach nachgefragte<br />
Möglichkeit, persönliche Glückwünsche<br />
über den Teletext der <strong>ARD</strong> zu verbreiten.<br />
_ Verweildauerkonzepte<br />
Auch bei der nunmehr mit den Telemedienkonzepten<br />
beantragten Verweildauer versucht<br />
die <strong>ARD</strong>, dem Nutzerinteresse bestmöglich<br />
Rechnung zu tragen. Nach den gesetzlichen<br />
Vorgaben muss aus den Telemedienkonzepten<br />
in jedem Fall deutlich werden, welche maximale<br />
Verweildauer für ein Angebot vorgesehen ist.<br />
Demnach will die <strong>ARD</strong> etwa Magazine, Do-<br />
kumentationen und Reportagen grundsätzlich<br />
bis zu zwölf Monate vorhalten können. Denn<br />
die publizistische Relevanz dieser Inhalte geht<br />
regelmäßig weit über die Tagesaktualität hinaus,<br />
so dass die Informationen und Analysen auch<br />
noch Monate später wertvolle Beiträge zum<br />
gesellschaftlichen und politischen Dialog zu leisten<br />
vermögen.<br />
Ein weiteres Beispiel sind Bildungsinhalte,<br />
die nachhaltig zur Wissensvermittlung, zur<br />
Fort- und Weiterbildung und zum lebenslangen<br />
Lernen beitragen und daher bis zu fünf Jahre<br />
vorgehalten werden sollen.<br />
Zeit- und kulturgeschichtliche Inhalte, die<br />
von besonderer gesellschaftlicher Relevanz<br />
sind, und die der Gesetzgeber von der grundsätzlichen<br />
Bestimmung der Verweildauer ausgenommen<br />
hat, sollen darüber hinaus nach<br />
den beantragten Konzepten unbefristet ange-<br />
boten werden können. Derartig privilegierte<br />
Archivinhalte können über die Mediatheken<br />
zugänglich sein, aber beispielsweise auch in<br />
Specials und Dossiers auf bestimmten Portalen<br />
im Internet zusammengefasst werden, wie etwa<br />
ein Telemedien-Schwerpunkt zum Schillerjahr.<br />
Das Internet bietet die Chance, dass auch Archivinhalte<br />
mit einer eher engen inhaltlichen<br />
Ausrichtung im Laufe ihrer Verweildauer ein<br />
beachtliches Publikum sammeln können. Dadurch<br />
können auch öffentlich-rechtliche Inhalte<br />
eine viel nachhaltigere Wirkung entfalten<br />
als allein durch einmalige lineare Ausstrahlung.<br />
Mit dem gebündelten Zugang zu den verschiedenen<br />
Telemedien über die Mediatheken kann<br />
gewährleistet werden, dass die Informationen<br />
auch tatsächlich auffindbar sind.<br />
Die im Wege des Dreistufentests nachgesuchte<br />
Ermächtigung für die maximale Verweildauer<br />
der verschiedenen Kategorien von Telemedienangeboten<br />
bedeutet jedoch nicht, dass<br />
die <strong>ARD</strong> jeden einzelnen dieser Inhalte auch<br />
tatsächlich für diesen maximalen Zeitraum zum<br />
Die Vermessung des Gemeinwohls A R D - J A H R B U C H 0 9 19
Abruf wird bereitstellen können. Denn neben<br />
der journalistisch-redaktionellen Relevanz spielen<br />
im Einzelfall auch der Schutz von Persönlichkeitsrechten,<br />
das Urheber- und Leistungsschutzrecht,<br />
die Kosten zur Abgeltung solcher<br />
Rechte sowie die Server- und Verbreitungskosten<br />
für die Entscheidung der Redaktion, wie<br />
lange einzelne Inhalte tatsächlich im Netz verbleiben,<br />
eine wichtige Rolle. So wird die <strong>ARD</strong><br />
auch nach Genehmigung der Telemedienkonzepte<br />
die dann theoretisch mögliche maximale<br />
Verweildauer vieler Inhalte in der Praxis häufig<br />
deutlich unterschreiten und bestimmte Inhalte<br />
auch gar nicht zum Abruf anbieten können.<br />
_ Weiteres Verfahren<br />
Ende Mai 2009 haben die Landesrundfunkanstalten<br />
die Telemedienkonzepte zu den gemeinschaftlichen<br />
Angeboten der <strong>ARD</strong> ihren<br />
Aufsichtsgremien zur Prüfung übergeben. Acht<br />
Wochen lang hatten Dritte die Gelegenheit, zu<br />
den im Internet veröffentlichten Konzepten<br />
Stellung zu nehmen. Ferner werden von den<br />
Gremien beauftragte unabhängige Gutachter<br />
die marktlichen Auswirkungen öffentlich-rechtlicher<br />
Telemedienangebote beurteilen. Nach<br />
Eingang aller Stellungnahmen und Gutachten,<br />
kann der jeweils federführende Intendant noch<br />
einmal selbst Stellung nehmen, bevor dann<br />
die Rundfunkräte in die abschließenden Beratungen<br />
eintreten und ihre Entscheidungen<br />
fällen. Nach Abschluss des Verfahrens wird die<br />
Entscheidung der Rechtsaufsicht übermittelt<br />
und nach deren Prüfung in den Amtsblättern<br />
der Länder veröffentlicht.<br />
_ Gemeinwohl ja – aber keine marktliche Vermessung<br />
Die medienpolitischen Auseinandersetzungen<br />
rund um den 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag<br />
haben gezeigt, dass öffentlich-rechtliche<br />
Telemedienangebote besonders im Hinblick auf<br />
ihre marktökonomischen Auswirkungen kritisiert<br />
werden und entsprechend eingeschränkt<br />
werden sollen. Diese Zielrichtung, die sowohl<br />
der Verband Privater Rundfunk und Telekommunikation<br />
(VPRT) als auch die Verlage in<br />
Deutschland immer wieder betonen und mit<br />
Gutachten zu untermauern versuchen, prägt<br />
die öffentliche Diskussion jedoch zu Unrecht.<br />
Denn in den Dreistufentests geht es gerade<br />
nicht um eine an ökonomischen Interessen<br />
der Wettbewerber ausgerichtete »Vermessung<br />
des Gemeinwohls« durch Marktgutachter. Die<br />
Gremien dürfen und sollen im gesellschaftlichen<br />
Gesamtinteresse urteilen und eine<br />
wertende Entscheidung treffen. Aufgrund der<br />
Zusammensetzung der Gremien mit Vertretern<br />
gesellschaftlich relevanter Gruppen bietet der<br />
Dreistufentest die Chance, dass der Funktionsauftrag<br />
des öffentlich-rechtlichen Rundfunks<br />
im Telemedienbereich so ausgestaltet wird, dass<br />
das übergeordnete gesellschaftliche Interesse<br />
an einem vielfältigen publizistischen Wettbewerb<br />
unabhängig von den Unwägbarkeiten der<br />
Markt entwicklungen gewahrt bleibt.<br />
Dr. Verena Wiedemann,<br />
Generalsekretärin der <strong>ARD</strong><br />
20 Artikel A R D - J A H R B U C H 0 9
In einem Kompromiss zwischen den Forderungen<br />
der EU-Kommission und den deutschen verfassungs-<br />
rechtlichen Vorgaben haben die Bundesländer zum<br />
1. 6. 2009 die Behandlung von Telemedienangeboten des<br />
öffentlich-rechtlichen Rundfunks per Staatsvertrag<br />
neu geregelt. Danach sind <strong>ARD</strong>, ZDF und Deutschland-<br />
radio bestimmte Online-Angebote verboten und<br />
viele andere, auch die bereits bestehenden, nur erlaubt,<br />
wenn sie vorher bzw. bis zum 31. 8. 2010 einen so<br />
genannten Dreistufentest der Aufsichtsgremien beste-<br />
hen. Geprüft wird dabei<br />
1. inwieweit das Angebot den demokratischen, sozia len<br />
und kulturellen Bedürfnissen der Gesellschaft ent spricht,<br />
2. in welchem Umfang durch das Angebot in qualitativer<br />
Hinsicht zum publizistischen Wettbewerb beigetragen<br />
wird und<br />
3. welcher finanzielle Aufwand für das Angebot<br />
erforderlich ist.<br />
Die Erstbesteigung der drei Stufen<br />
Die Aufsichtsgremien der <strong>ARD</strong> und der Dreistufentest<br />
Von Harald Augter und Susanne Pfab<br />
D<br />
ie Aufsichtsgremien der <strong>ARD</strong> befassen<br />
sich nun seit mehr als zwei Jahren mit<br />
den Konsequenzen aus der Entscheidung<br />
der EU-Kommission im so genannten<br />
VPRT-Verfahren. Inzwischen befinden<br />
wir uns mitten in den konkreten Prüfverfahren<br />
zum Telemedienbestand der <strong>ARD</strong>. An dieser<br />
Stelle ist Zeit und Raum für einen ersten Zwischenstandsbericht<br />
aus Sicht der Gremien zum<br />
Verfahrensneuling »Dreistufentest«.<br />
In der <strong>ARD</strong> ist unmittelbar nach Veröffentlichung<br />
der Kommissionsentscheidung am<br />
24. 4. 2007 mit den Überlegungen zur Umsetzung<br />
und zur Ausgestaltung der Dreistufentest-<br />
Verfahren begonnen worden, häufig kontrovers<br />
zwischen den Gremien und Anstalten. Es<br />
hat viele Anläufe gebraucht, um zu dem jetzt<br />
gültigen Staatsvertragstext und den diversen<br />
Ausführungsregelungen auf Ebene der <strong>ARD</strong><br />
und der Landesrundfunkanstalten zu gelangen.<br />
Vieles hat der Rundfunkstaatsvertrag dann am<br />
1. 6. 2009 klargestellt, vieles hat er offen gelassen.<br />
Offen gelassen hat er nicht, dass die Verfahrenshoheit<br />
allein bei den Gremien liegt. Dies hat<br />
die Gremien gestärkt und ihre Rolle im Kompetenzgefüge<br />
der Anstalten verändert. Diese Veränderung<br />
ist geprägt von mehr Verantwortung,<br />
mehr Gestaltungskraft, mehr Unabhängigkeit<br />
und nicht zuletzt: mehr Arbeit.<br />
Das Dreistufentest-Verfahren in § 11 f Rundfunkstaatsvertrag<br />
ist nicht nur ein neues<br />
Prüf- oder Genehmigungsverfahren, sondern<br />
ihm wird gesetzesersetzende Funktion zur ordnungspolitischen<br />
Grenzziehung zwischen den<br />
kommerziellen Anbietern und dem öffentlichrechtlichen<br />
Rundfunk im Online-Bereich<br />
Aufsichtsgremien und Dreistufentest A R D - J A H R B U C H 0 9 21
nachgesagt. Die Rundfunkräte sollen quasi<br />
behördengleich als neutrale Instanz zwischen<br />
den widerstreitenden Interessen eine verhältnismäßige<br />
Regelung finden. Mit dem Test soll der<br />
»Public Value« eines öffentlich-rechtlichen Telemedienangebots<br />
vermessbar werden. Das Verfahren<br />
wird insofern als wichtige Legitimationssäule<br />
für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk<br />
gesehen. Auch gilt der Test als Bewährungsprobe<br />
für die binnenplurale Gremienkontrolle<br />
an sich. Darüber, wann diese bestanden ist, gibt<br />
es naturgemäß und interessenspezifisch unterschiedlichste<br />
Ansichten. Wir haben es also mit<br />
einem Verfahren zu tun, welches mit vielen<br />
Erwartungen aufgeladen ist und über dem nicht<br />
wenige Damoklesschwerter hängen.<br />
Um diesen Anforderungen und Ansprüchen<br />
zu genügen, haben die Gremien schon viele<br />
Schritte unternommen: u. a. Bildung von Ausschüssen,<br />
Vervielfachung der Sitzungsanzahl,<br />
Die Mitglieder der Gremienvorsitzendenkonferenz<br />
mit ihrem Vorsitzenden Harald<br />
Augter (v. M.) und der GVKGeschäftsführerin<br />
Susanne Pfab (v. r.) am 30. 3. 2009<br />
Aufstockung des eigenen Personals, regelmäßige<br />
Beratungs- und Abstimmungsrunden zwischen<br />
den Gremien und deren Arbeitsebenen, Schaffung<br />
von Informations- und Fortbildungsangeboten<br />
für die Gremien, Vergabe von Gutachten<br />
zu diversen Themen – nicht nur zu den marktlichen<br />
Auswirkungen. Am Ende werden es<br />
unzählige Schritte gewesen sein, die notwendig<br />
waren, um die »Drei Stufen« erstmals zu erklimmen.<br />
Denn die Schwierigkeit liegt darin, dass<br />
die Gremien von <strong>ARD</strong>, ZDF und Deutschlandradio<br />
quasi als Erstanwender Pionierarbeit zu<br />
leisten haben bei der Auslegung des noch jungen<br />
12. Rundfunkänderungsstaatsvertrags und<br />
– bevor auch nur an eine inhaltliche Prüfung zu<br />
denken ist – unterschiedlichste Verfahrensfragen<br />
zu beantworten und zu entscheiden sind. Die<br />
Lösung dieser Fragen wird in Bezug auf die laufenden<br />
Verfahren noch dadurch erschwert, dass<br />
es sich um die Prüfung des Online-Bestands<br />
handelt und damit um einen Gegenstand, für<br />
den der Test als Ex-Ante-Prüfung neuer Angebote<br />
nicht »gestrickt« ist.<br />
Die Verfahrenshoheit der Gremien ist zwar<br />
inzwischen unstrittig – wie sie jedoch im Einzelnen<br />
wahrzunehmen ist, wird intern wie<br />
extern fleißig kommentiert. Nicht nur die Gremien,<br />
sondern auch Dritte wie der Verband<br />
Privater Rundfunk und Telekommunikation<br />
(VPRT) und die Landesmedienanstalten haben<br />
verfahrensbezogene Gutachten angefertigt oder<br />
anfertigen lassen. Den Gremien der <strong>ARD</strong> ist es<br />
wichtig, dass sie in wohlverstandener Föderalität<br />
eine einheitliche Linie bei der Anwendung und<br />
Ausfüllung der staatsvertraglichen Regelungen<br />
verfolgen, nicht zuletzt um größtmögliche Verfahrenssicherheit<br />
auch gegenüber Dritten zu<br />
gewährleisten. Die entsprechende Diskussion,<br />
der Meinungs- und Erfahrungsaustausch sowie<br />
die ggf. notwendige Abstimmung erfolgen über<br />
die Gremienvorsitzendenkonferenz (GVK),<br />
in der bei Dreistufentest-Fragen nicht nur die<br />
Rundfunk- und Verwaltungsräte zusammenkommen,<br />
sondern auch die Vorsitzenden der<br />
von den Rundfunkräten gebildeten Dreistufentest-Ausschüsse.<br />
Auf der Arbeitsebene ist eine<br />
entsprechende Arbeitsgruppe der Referenten<br />
gebildet worden, die zeitnah den Austausch<br />
zwischen den »Zuarbeitern« sicherstellt und für<br />
die Gremien Lösungs- und Vorgehensvorschläge<br />
erarbeitet.<br />
Den Gremien ist es wichtig, in allen Dreistufentest-Fragen<br />
ihre Position – ggf. unter<br />
Zuhilfenahme externer Expertisen – selbst zu<br />
entwickeln und entsprechend nach außen zu<br />
vertreten (siehe hierzu beispielsweise die Pressemitteilungen<br />
der GVK auf www.ard.de/gvk).<br />
Ob wir immer die richtigen Antworten auf die<br />
Auslegungsfragen gefunden haben, wird sich<br />
erst am Ende der jetzigen Verfahren erweisen,<br />
entweder dadurch, dass die Entscheidungen vor<br />
den diversen Instanzen wie Rechtsaufsicht und<br />
EU-Kommission Bestand haben, oder dadurch<br />
dass sie gerichtlich überprüft werden. Ob,<br />
durch wen und inwieweit die Dreistufentest-<br />
Verfahren justiziabel sind, ist ebenfalls eine viel<br />
22 Artikel A R D - J A H R B U C H 0 9
diskutierte Frage. Für die Beantwortung dieser<br />
wie für die vieler anderer Verfahrensfragen sind<br />
die Natur des Dreistufentests, sein Kontext und<br />
vor allem sein Sinn und Zweck entscheidend.<br />
_ Die Natur des Dreistufentests<br />
Das Verfahren ist entstanden aus der Suche<br />
nach einem Kompromiss zwischen den europarechtlichen<br />
Forderungen und den verfassungsrechtlichen<br />
Grenzen für die Festlegung des<br />
Telemedien-Funktionsauftrags des öffentlichrechtlichen<br />
Rundfunks. Die EU-Kommission<br />
hätte sich eine staatliche Detailregelung gewünscht,<br />
was aber aufgrund der verfassungsrechtlich<br />
verbürgten Staatsferne des öffentlichrechtlichen<br />
Rundfunks in Deutschland nicht<br />
möglich ist. An die Stelle des Staates traten<br />
dann sozusagen die Gremien, die in einem sehr<br />
komplexen und komplizierten Verfahren zu<br />
ermitteln haben, ob das konkrete Telemedienangebot<br />
Teil des öffentlich-rechtlichen Auftrags<br />
ist. Insofern scheint das Verfahren parlamentarische<br />
Züge aufzuweisen. Andererseits erinnert<br />
es in einigen Elementen schon fast an ein Planfeststellungsverfahren<br />
oder andere Verwaltungsverfahren.<br />
Letztlich ist es wohl ein völlig neues,<br />
noch nie dagewesenes Verfahren »sui generis«,<br />
wie die Juristen sagen.<br />
Eines ist aber bei aller »Neuheit« nicht zu<br />
vergessen: Im Vordergrund steht der publizistische<br />
Kontext, denn geregelt ist der Dreistufentest<br />
auf nationaler Ebene nicht etwa im Wettbewerbsgesetz,<br />
sondern im Rundfunkstaatsvertrag.<br />
Im Rundfunkrecht geht es in erster Linie um<br />
den Beitrag der Medien, im Besonderen des<br />
öffentlich-rechtlichen Rundfunks, zur Meinungsbildung,<br />
um die Festlegung des Funktionsauftrags.<br />
In diesem Zusammenhang wird<br />
häufig von einer Vereinbarung zwischen der Gesellschaft<br />
und dem Rundfunk gesprochen. Dieser<br />
Begriff passt auf den Dreistufentest in ganz<br />
besonderer Weise, weil die Gremien als Vertreter<br />
der Gesellschaft die Aufgabe erhalten haben,<br />
den gesetzlich abstrakt erteilten Telemedienauftrag<br />
zu konkretisieren. »Private« Dritte wie zum<br />
Beispiel Wettbewerber haben hier grundsätzlich<br />
keine eigenständige Position. Dementsprechend<br />
dienen die Stellungnahmen Dritter – wie die<br />
Begründung zum 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag<br />
explizit betont – ausschließlich der<br />
Information der Rundfunkräte, ebenso wie die<br />
obligatorischen Marktgutachten oder sonstige<br />
fakultative Expertenbefragungen beispielsweise<br />
in Form von Sachverständigenanhörungen. Der<br />
jeweilige Rundfunkrat ist frei und gleichzeitig<br />
aufgefordert, sich alle Informationen, Materialien,<br />
Auskünfte und Unterlagen zu verschaffen,<br />
die er benötigt, um den publizistischen<br />
Beitrag des zu prüfenden Angebots umfassend<br />
beurteilen zu können. Die Auswirkungen des<br />
öffentlich-rechtlichen Angebots auf den Markt<br />
sind hierbei ein Abwägungsbestandteil, wenn<br />
auch ein gesetzlich vorgegebener. Entsprechend<br />
ist es nicht etwa die Marktsituation der Konkurrenten,<br />
die den Ausschlag gibt, sondern es<br />
ist die Werthaltigkeit des öffentlich-rechtlichen<br />
Angebots im Hinblick auf die Befriedigung<br />
demokratischer, kultureller und sozialer Bedürfnisse<br />
der Gesellschaft. Es geht also wie bisher<br />
um die Frage, welchen gesellschaftlichen Wert –<br />
gerne auch bezeichnet als »Public Value« – der<br />
öffentlich-rechtliche Rundfunk zu erbringen<br />
hat. Die Entscheidung trifft der Rundfunkrat<br />
gegenüber dem Intendanten, der ihm das An-<br />
Sitzung der Gremienvorsitzendenkonferenz<br />
am 30. 3. 2009<br />
gebot zur Prüfung vorgelegt hat. Eine regelnde<br />
Außenwirkung – wie es Voraussetzung für die<br />
Annahme eines Verwaltungsakts ist – geht von<br />
der Entscheidung des Rundfunkrats nicht aus.<br />
_ Formelle Verfahrenserfordernisse<br />
Die Verfahrensfragen, mit denen sich die Gremien<br />
bisher auseinandergesetzt haben, sind<br />
zahlreich und vielfältig. In der Praxis der Verfahrensdurchführung<br />
tauchen nahezu täglich<br />
weitere auf. Die Antworten müssen in der Regel<br />
schnell und pragmatisch gefunden werden.<br />
Einige der Verfahrensfragen beantwortet<br />
der Staatsvertrag selbst. Spätestens aber dessen<br />
amtliche Begründung und der Sinn und Zweck<br />
der Dreistufentest-Verfahren geben eindeutigen<br />
Aufschluss darüber, wie bestimmte Fragen zu<br />
beantworten sind:<br />
Aufsichtsgremien und Dreistufentest A R D - J A H R B U C H 0 9 23
_ Die Sechs-Wochen-Stellungnahmefrist ist<br />
die staatsvertragliche Mindestfrist, die der<br />
Rundfunkrat verlängern kann, wenn er es für<br />
angemessen hält, aber kein Verfahrensbeteiligter<br />
oder -betroffener hat einen Anspruch auf Verlängerung.<br />
(Die Gremien haben übrigens in allen<br />
laufenden Bestandsverfahren die Fristen um<br />
zwei bis sechs Wochen verlängert.)<br />
_ Die gesetzliche Frist ist zwar keine materielle<br />
Ausschlussfrist, in dem Sinne, dass Äußerungen<br />
in der Sache nicht mehr berücksichtigt werden<br />
dürften, stellt aber jedenfalls eine formelle Voraussetzung<br />
dafür dar, dass die Stellungnahme<br />
vom Rundfunkrat bei seiner Entscheidung<br />
berücksichtigt werden muss. Der Rundfunkrat<br />
kann sich – soweit nach dem Verfahrensstand<br />
überhaupt noch möglich – auch mit verspätet<br />
eingegangenen Stellungnahmen befassen (insbesondere<br />
wenn er einen entsprechenden Informationsbedarf<br />
hat), ein Anspruch darauf, dass<br />
die Stellungnahme dann ebenso behandelt wird<br />
wie eine fristgemäß eingegangene, besteht aber<br />
nicht.<br />
_ Die marktlichen Gutachten sind nach der<br />
Entscheidung des Rundfunkrats zu veröffentlichen,<br />
also grundsätzlich nicht etwa während<br />
des laufenden Verfahrens. Diese klare Aussage<br />
im Staatsvertragstext korreliert auch mit der<br />
Vertraulichkeitsverpflichtung, der alle Gremienmitglieder<br />
in den Dreistufentest-Verfahren unterliegen.<br />
_ Anhörungen von Sachverständigen und<br />
Dritten sind kein vorgeschriebener Verfahrensbestandteil,<br />
sondern es liegt in der Verfahrenshoheit<br />
des Rundfunkrats, ggf. auf diesem Weg<br />
weiteren Informationsbedarf zu decken.<br />
Für die Gremien sind immer die gesetzlichen<br />
Vorgaben relevant und bindend. Dort, wo der<br />
Staatsvertrag Raum für Verfahrensausgestaltung<br />
gibt, werden sie nach Bedarf und einzelfallbezogen<br />
von ihren Gestaltungsmöglichkeiten Gebrauch<br />
machen. Zu einer grundlegenden Modifikation<br />
des Dreistufentest-Verfahrens kann<br />
es dadurch aber nicht kommen – auch wenn<br />
einige Dritte, die ihre Position im Staatsvertrag<br />
als unzureichend empfinden, auf eine »Nachbesserung«<br />
durch die Gremien drängen.<br />
_ Marktliche Auswirkungen<br />
Um den Gremien die Beurteilung der marktlichen<br />
Auswirkungen zu erleichtern, sieht der<br />
Staatsvertrag die Einholung von externen Gutachten<br />
hierzu vor. Dies erfordert, Gutachter<br />
auszuwählen und zu beauftragen. Die Gremien<br />
haben hierfür zunächst mittels Interessenbekundungsverfahren<br />
eruiert, welche Institute,<br />
Institutionen oder Unternehmen sich selbst zur<br />
Erstellung solcher medienökonomischen Gutachten<br />
in der Lage sehen. Der Kreis derer, die<br />
die erforderlichen Kenntnisse und Erfahrungen<br />
besitzen, ist (noch) überschaubar. Auch dies<br />
liegt nicht zuletzt daran, dass es sich bei den<br />
Dreistufentests um ein neues Verfahren handelt.<br />
Wie spezifisch dieses Verfahren ist, hat die<br />
Diskussion um die bei den Gutachten anzuwendende<br />
Methodik gezeigt. Zwar geben insbesondere<br />
die wettbewerbsrechtlichen EU-Verfahren<br />
einen gewissen Aufschluss, wie Märkte abzugrenzen<br />
sind, aber dies betraf bisher nie Telemedienmärkte.<br />
Für den so genannten Amsterdam Test, mit<br />
dem der Dreistufentest europaweiter Standard<br />
für die Einführung neuer Telemedienangebote<br />
wird, verlangt die neue Rundfunkmitteilung<br />
der Generaldirektion Wettbewerb eine Marktsimulation,<br />
d. h eine Betrachtung des Markts mit<br />
dem zu prüfenden Angebot und ohne dieses.<br />
Mit welchen Instrumenten diese Simulation<br />
vorzunehmen ist, lässt die Mitteilung allerdings<br />
offen. Auch der Blick auf den Public-Value-Test<br />
der BBC mag hilfreich sein; die Prüfmethodik<br />
der britischen Aufsichtsbehörde Ofcom ist aber<br />
wegen der Unterschiedlichkeit der Verfahren<br />
nicht ohne Weiteres übernehmbar. Außerdem<br />
ist auch diese noch nicht auf »Europafestigkeit«<br />
geprüft worden.<br />
Die Dreistufentest-Verfahren befördern<br />
insofern eine wissenschaftliche Auseinandersetzung<br />
im Bereich der Medienökonomie, wie<br />
sich auch daran zeigt, dass es bereits – wie zu<br />
erwarten war – Gutachten zu den Gutachten<br />
gibt. Im Übrigen wurde bei den Gesprächen<br />
mit den Gutachtern sehr deutlich, dass bei den<br />
Rundfunkräten nicht nur der entsprechende<br />
ökonomische Sachverstand vorhanden ist, um<br />
die marktökonomischen Ergebnisse einschätzen<br />
zu können, sondern dass auch eine große Bereitschaft<br />
besteht, sich in bisher eher rundfunkfremde<br />
Gebiete einzuarbeiten.<br />
Zur Frage, ob bei der Prüfung des publizistischen<br />
und ökonomischen Wettbewerbs auch<br />
Pay-Angebote zu berücksichtigen sind, haben<br />
die Gremienvorsitzenden bereits bei den Dreistufentest-Verfahren<br />
zu KI.KAplus und kikaninchen.de<br />
folgende Position entwickelt: Die GVK<br />
ist nach dem Stand der bisherigen Diskussion<br />
der Ansicht, dass nach textlicher, systematischer<br />
24 Artikel A R D - J A H R B U C H 0 9
Übersicht über das Dreistufentest-Verfahren der <strong>ARD</strong> bei Gemeinschaftsangeboten<br />
Intendant<br />
Angebotsbeschreibung<br />
(Genehmigungsvorlage)<br />
Kommentierung der<br />
Stellungnahme Dritter und<br />
des Gutachtens<br />
Übersendung der Angebotsbeschreibung<br />
an Rechtsaufsicht<br />
Federführender<br />
Rundfunkrat<br />
Entscheidung über Einleitung<br />
des Verfahrens*<br />
Veröffentlichung der Angebotsbeschreibung<br />
im Internet,<br />
Gewährung der Möglichkeit<br />
zur Stelltungnahme<br />
Beauftragung des Gutachters<br />
Unverzügliche Weiterleitung<br />
aller Unterlagen an GVK und<br />
Programmbeirat<br />
Beratung und Erstellung<br />
Beratungsvorlage für übrige<br />
Gremien<br />
Schlussberatung und<br />
begründete Entscheidung<br />
* entfällt bei Online-Bestandsüberführung<br />
Möglichkeit zur<br />
Kenntnisnahme über<br />
GVK-Sharepoint<br />
und teleologischer Auslegung des Staatsvertragstextes<br />
davon auszugehen ist, dass der Gesetzgeber<br />
durch das Merkmal »frei zugänglich« eine<br />
Eingrenzung des publizistischen Wettbewerbs<br />
auf kostenfreie Angebote beabsichtigt hat. Bei<br />
der Prüfung der Auswirkungen auf den ökonomischen<br />
Wettbewerb sind hingegen sämtliche<br />
Medienangebote unabhängig von ihrer Finanzierung<br />
in die Betrachtung einzubeziehen. Die<br />
GVK empfiehlt, im Zweifel auch vergleichbare<br />
entgeltfinanzierte Angebote in die Abwägung<br />
einzubeziehen. Eine gesetzliche Pflicht hierzu<br />
besteht aber nur insofern, als das öffentlichrechtliche<br />
Angebot Auswirkungen auf den Pay-<br />
Markt als solchen nach sich zieht, da hierdurch<br />
die publizistische Vielfalt verkürzt werden<br />
könnte.<br />
_ Zulässigkeit von »Teilgenehmigungen«<br />
Die Frage nach den Entscheidungsmöglichkeiten<br />
des Rundfunkrats betrifft ein sehr grundsätzliches<br />
Thema, nämlich ob das Gremium<br />
über die Dreistufentest-Prüfaufgabe auch programmgestalterische<br />
Kompetenzen bekommen<br />
Übrige Gremien Gutachter Dritte<br />
Beratung in der GVK<br />
und im Programmbeirat<br />
Beratung in LRA Gremien<br />
(und ggf. Fernsehrat ZDF)<br />
Stellungnahme<br />
Programmbeirat<br />
Beschlussempfehlung<br />
der GVK<br />
Erstellung von Gutachten<br />
Stellungnahmen Dritter<br />
hat. Zunächst ist hier aber nochmals zu betonen,<br />
dass der Rundfunkrat keine »Genehmigung«<br />
erteilt, sondern laut Rundfunkstaatsvertrag<br />
zu prüfen hat, ob das Telemedienangebot<br />
vom öffentlich-rechtlichen Auftrag umfasst ist.<br />
Dies heißt auch, dass er – wenn er eine Änderung<br />
des Angebots für geboten hält – nicht etwa<br />
unter Bedingungen oder Auflagen genehmigt,<br />
sondern lediglich feststellt, dass das Angebot –<br />
seiner Ansicht nach – nur unter bestimmten Voraussetzungen<br />
den gesetzlichen Anforderungen<br />
entspricht. Eine solche Bandbreite im Prüfergebnis<br />
gegenüber der reinen Ja- oder Nein-<br />
Antwort ist schon in der Struktur der zweiten<br />
Prüfstufe angelegt, die vom Rundfunkrat eine<br />
umfassende Abwägung zwischen den marktlichen<br />
Auswirkungen und dem publizistischen<br />
Beitrag des Angebots fordert.<br />
Wenn es sich gegenüber dem Antrag um ein<br />
(quantitatives) »Minus« handelt, kann wohl regelmäßig<br />
davon ausgegangen werden, dass der<br />
Antrag des Intendanten dieses Weniger umfasst<br />
(z. B. eine punktuelle Verkürzung der Verweildauer).<br />
Sofern aber die Angebotsstruktur und<br />
Aufsichtsgremien und Dreistufentest A R D - J A H R B U C H 0 9 25
oder -konzeption durch die vom Rundfunkrat<br />
als notwendig erachtete Modifikation verändert<br />
würde, ist davon auszugehen, dass es sich<br />
um ein anderes Angebot handelt (»Aliud«). In<br />
der Konsequenz wäre ein neues Dreistufentest-<br />
Verfahren zu durchlaufen, wenn der Intendant<br />
einen entsprechend abgeänderten Antrag stellte.<br />
In allen Fällen sollten dem Intendanten die<br />
Bedenken des Rundfunkrats vorab mitgeteilt<br />
werden und ihm sollte die Möglichkeit zur<br />
Äußerung und ggf. Abänderung bzw. Zurücknahme<br />
des Antrags gegeben werden. Auch muss<br />
dem Programmverantwortlichen die Beurteilung<br />
überlassen bleiben, ob in den vom Rundfunkrat<br />
vorgeschlagenen Modifikationen ein<br />
»Minus« oder ein »Aliud« zu sehen ist.<br />
_ Der Wert des Dreistufentest-Verfahrens<br />
Das Dreistufentest-Verfahren hat die Funktion,<br />
die Vereinbarkeit des konkreten Telemedienangebots<br />
mit dem öffentlich-rechtlichen Auftrag<br />
festzustellen. Darüber hinaus hat der Dreistufentest<br />
einige sehr wertvolle »Nebeneffekte«.<br />
Gremienfachtagung »Qualität – machen,<br />
messen, managen« Anfang 2009 in Hamburg<br />
Der Diskurs mit der Gesellschaft über Auftrag<br />
und Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks<br />
ist neu angefacht worden; die Stellungnahmen<br />
der Dritten zeigen hier die ganze Meinungsbandbreite<br />
auf, die von der Forderung nach<br />
zeitlich wie inhaltlich unbegrenzter Online-<br />
Präsenz bis zur Ansicht reichen, der öffentlichrechtliche<br />
Rundfunk habe sich auf kommerziell<br />
nicht lukrative Nischen zu beschränken. Dieser<br />
nachhaltig und fortgesetzt zu führende Diskurs<br />
ist auch in den <strong>ARD</strong>-Anstalten intensiviert worden,<br />
zwischen den Programmverantwortlichen<br />
und Programmmachern, aber ebenso mit den<br />
Gremien – und zwar auch unabhängig von den<br />
konkreten Dreistufentest-Verfahren bzw. über<br />
diese hinaus. Die Qualitätsdebatte, die wahrscheinlich<br />
so alt ist wie der gebührenfinanzierte<br />
Rundfunk, jedenfalls aber mindestens so alt wie<br />
der kommerzielle Rundfunk, wird dank des aktuellen<br />
Impulses mit dem Ziel konkreter, zeitnaher<br />
und operabler Ergebnisse geführt.<br />
Die GVK hatte bereits Anfang 2009 eine<br />
Gremienfachtagung mit dem Titel »Qualität –<br />
machen, messen, managen« veranstaltet und<br />
ein Thesenpapier zur Bewertung von Qualität<br />
erarbeitet. Die Erkenntnisse, die aus den Dreistufentest-Verfahren<br />
in Bezug auf die Prüfung<br />
der Qualität von Telemedienangeboten gewonnen<br />
werden, werden auch auf Fernsehen und<br />
Hörfunk »durchschlagen«. In den Häusern gibt<br />
es zwar bereits diverse Qualitätsmanagementsysteme,<br />
diese dienen aber vor allem der internen<br />
Evaluation. Qualität von Medienangeboten<br />
bestimmbarer und nach außen nachweisbarer<br />
bzw. argumentativ fassbarer zu machen, ist einer<br />
der wichtigsten Bausteine für die Legitimation<br />
des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.<br />
Die Legitimationsdebatte wird derzeit vor<br />
allem anhand der laufenden Dreistufentest-<br />
Verfahren geführt, sie wird es aber – wie vorher<br />
– auch nachher oder nebenher noch geben, insbesondere<br />
mit Blick auf die Rechtfertigung der<br />
Gebührenfinanzierung. Und hier ist die Qualität<br />
der Inhalte der Schlüssel oder Leitfaden.<br />
Die Beantwortung der Auslegungsfragen, denen<br />
die Gremien bei der Prüfung der zweiten Stufe<br />
(»publizistischer Beitrag in qualitativer Hinsicht«)<br />
begegnen, lohnt sich also noch weit über<br />
den Dreistufentest hinaus.<br />
Ein weiterer gewichtiger – vom Gesetzgeber<br />
beabsichtigter – »Nebeneffekt« ist noch zu nennen:<br />
die Stärkung der Gremien. Dieser Effekt<br />
ist bereits eingetreten, und zwar – wie wohl alle<br />
aktiven Gremienmitglieder zustimmen würden<br />
– unumkehrbar.<br />
26 Artikel A R D - J A H R B U C H 0 9<br />
Dr. Harald Augter,<br />
Vorsitzender der Gremienvorsitzendenkonferenz<br />
der <strong>ARD</strong> und des SWR-Rundfunkrats<br />
Dr. Susanne Pfab,<br />
Geschäftsführerin der<br />
Gremienvorsitzendenkonferenz der <strong>ARD</strong>
Die Debatte um Qualität im Fernsehen ist fast so alt wie<br />
das Fernsehen selbst. Besonders heftig wird sie<br />
geführt, seit es die Konkurrenz der kommerziellen Ver-<br />
anstalter gibt. Dabei sollte Qualitätsfernsehen nicht<br />
definiert werden als distinguiertes Hochkultur-Pro-<br />
gramm, Qualität im Fernsehen entsteht vielmehr durch<br />
die Summe ihrer Einzelteile, Sternstunden wie der<br />
Dokumentation »Das Schweigen der Quandts«, den<br />
Filmen »Mogadischu« und »Das Leben der Anderen«<br />
dürfen durchaus leichtere Produktionen gegenüber-<br />
stehen, die dem Bedürfnis der Zuschauer nach<br />
Unterhaltung und Entspannung entsprechen. Für ein<br />
gutes Programm aber unverzichtbar: ein breit<br />
gefächertes Informationsangebot, von den vielen<br />
täglichen »Tagesschau«-Ausgaben bis zu Magazinen zur<br />
Innen- und Außenpolitik, zu Europathemen, Wirtschaft<br />
und Kultur.<br />
Qualität trotz Quotendruck<br />
25 Jahre duales System – öffentlich-rechtliche Qualitätsangebote<br />
unter Konkurrenzdruck<br />
Von Volker Herres<br />
25<br />
Jahre duales System – ein Vierteljahrhundert<br />
der Koexistenz von<br />
<strong>ARD</strong> und ZDF auf der einen und<br />
den kommerziellen Sendern auf<br />
der anderen Seite: Grund zum Feiern haben<br />
alle Beteiligten, wie ich finde. Konkurrenz belebt<br />
bekanntermaßen das Geschäft – so auch<br />
unseres. In 25 Jahren haben wir wechselseitig<br />
voneinander gelernt und profitiert. Unsere privatwirtschaftlichen<br />
Wettbewerber setzen nicht<br />
mehr ausschließlich auf Sex and Crime, und<br />
wir sind stringenter, zuschauernäher und auch<br />
mutiger geworden. Unentbehrlich für den Zuschauer<br />
sind wir geblieben. Erfolgreich allemal.<br />
Wer hätte das damals gedacht?<br />
Mit der Einführung des dualen Systems in<br />
Deutschland wurde das öffentlich-rechtliche<br />
Fernsehen auf die Probe, ja infrage gestellt.<br />
Außer Acht gelassen wurde und wird zuweilen<br />
auch heute noch, dass das Bundesverfassungsgericht<br />
mit seinem dritten und vierten Rundfunkurteil<br />
1981 bzw. 1986 dezidiert öffentlichrechtliches<br />
Fernsehen als Voraussetzung und<br />
Bedingung für kommerzielle Angebote festgeschrieben<br />
und bestätigt hat – nur zusammen<br />
mit <strong>ARD</strong> und ZDF kann es also privaten Hörfunk<br />
und privates Fernsehen in Deutschland<br />
geben. Trotzdem wurde mitunter vehement<br />
über die Berechtigung des öffentlich-rechtlichen<br />
Programms diskutiert. Säbelrasselnd unsere<br />
kommerziellen Konkurrenten: Überholt, verschnarcht<br />
und am Publikumsgeschmack vorbei<br />
seien unsere Programme. Von einigen wurde<br />
Das Erste gar grundsätzlich infrage gestellt: Re-<br />
Qualität trotz Quotendruck A R D - J A H R B U C H 0 9 27
gionale Angebote, mit den dritten Programmen<br />
der <strong>ARD</strong>, und ein nationales Vollprogramm,<br />
das ZDF, würden dem deutschen Publikum<br />
vollauf genügen.<br />
Auch wenn die Systemfrage heute nicht<br />
mehr (oder kaum noch) gestellt wird, Konvergenz,<br />
das Stich- und Zauberwort, mit dem<br />
öffentlich-rechtliche Sender gern verbal in die<br />
kommerzielle Nähe gerückt werden, bleibt in<br />
Mode. Da reicht ein internes Thesenpapier mit<br />
Anregungen zur Optimierung dramaturgischer<br />
Elemente oder ein Kulturpapst, dem bei einer<br />
Preisverleihung der Kragen platzt – schon<br />
entflammt ein Flächenbrand, bei dem von der<br />
Programmqualität des öffentlich-rechtlichen<br />
Fernsehens allenfalls kleine Nischen zu nachtschlafender<br />
Zeit unberührt bleiben. Der große<br />
Rest, ein Machwerk der öffentlich-rechtlichen<br />
Quotenidioten!<br />
_ Qualität gleich Hochkultur?<br />
Warum diese Vehemenz beim Debattieren um<br />
Qualität im öffentlich-rechtlichen Fernsehen?<br />
Qualität ist ein normativer, an Werten orientierter<br />
Begriff. In Deutschland wird Kultur meist<br />
mit Hochkultur gleichgesetzt, werden Qualität<br />
und Anspruch oft und gerne synonym verwendet.<br />
Der Schluss daraus ist einfach: Das Anspruchsniveau<br />
einer Sendung kann nicht hoch<br />
genug sein – je anspruchsvoller, desto mehr<br />
Qualität. Brecht und Shakespeare, Oper und<br />
Konzert . . . um es einmal polemisch zu verschlagworten.<br />
Man mag es als ungerecht empfinden – Tatsache<br />
aber ist, dass bei den Privaten Trash Teil<br />
Der ideale Audience Flow im Ersten:<br />
von der Krankenhausserie »In aller Freundschaft«<br />
. . .<br />
eines anerkannten Geschäftsprinzips bleibt. Zuweilen<br />
ironisch bis zynisch kommentiert, aber<br />
im Grundsatz für den Erfolg des privaten Fernsehens<br />
unverzichtbar.<br />
Dass öffentlich-rechtliches Fernsehen nicht<br />
der Ausschließlichkeitshort der Hochkultur<br />
sein kann, dass wir weder die Volkshochschule<br />
ersetzen noch das Opernhaus der Nation sein<br />
können, ist dagegen keine Selbstverständlichkeit.<br />
Aber wir machen Fernsehen für ganz normale<br />
Menschen, mit allen ihren Bedürfnissen<br />
und Wünschen. Wenn beispielsweise Musik<br />
zur Kultur gehört, warum – um meinen Amtsvorgänger<br />
Günter Struve zu zitieren – gilt dann<br />
Stockhausen als Hochkultur, während mancher<br />
sich graust vor sechs Millionen Menschen, die<br />
regelmäßig ihre helle Freude am »Musikantenstadl«<br />
haben? Als nationales Vollprogramm wollen<br />
und müssen wir alle Zielgruppen, alle Menschen<br />
erreichen. Dazu sind wir auch schon per<br />
gesetzlich definiertem Auftrag verpflichtet, und<br />
schließlich zahlen ja auch alle Gebühren dafür.<br />
Unser Publikum gibt uns – in Gestalt der<br />
Quote – jeden Tag Auskunft darüber, wie<br />
unser Programm ankommt. Quoten, dahinter<br />
verbergen sich Menschen, die sich für ein<br />
bestimmtes Programm entschieden haben. Und<br />
deswegen haben Quoten einen hohen Stellenwert<br />
für uns. Für mich ist die Zahl der Menschen<br />
in Deutsch land, die eine bestimmte Sendung<br />
einschal teten, nicht das alleinige, aber<br />
eines der uner läss lichen Kriterien auch für die<br />
qualitative Bewertung einer Sendung oder eines<br />
Sendeplatzes. Wer solche von der Gesellschaft<br />
für Konsum-, Markt und Absatzforschung e.V.<br />
. . . zum Wirtschaftsmagazin »Plusminus«<br />
mit Clemens Bratzler . . .<br />
28 Artikel A R D - J A H R B U C H 0 9
(GfK) täglich repräsentativ und verlässlich erhobenen<br />
Zahlen ignorieren würde und ein Programm<br />
frei von jeder Akzeptanzbewertung, nur<br />
im Vertrauen auf sein eigenes Gespür oder seinen<br />
persönlichen Geschmack zusammenstellen<br />
würde, den müsste man der Selbstüberschätzung<br />
und groben Fahrlässigkeit bezichtigen.<br />
Denn Das Erste ist nun einmal ein massenmediales<br />
Angebot, und deshalb hat eine entsprechende<br />
substanzielle Reichweite in der Bevölkerung<br />
ihre Berechtigung. Das Erste muss Quote<br />
machen. Wir wollen ankommen – daran ist<br />
nichts verwerflich. Aber wir wollen das nicht<br />
um jeden Preis – das unterscheidet uns von anderen,<br />
kommerziellen Anbietern.<br />
_ Qualitätskriterium Vielfalt<br />
Als Öffentlich-Rechtliche sind wir nicht dem<br />
Diktat der Gewinnmaximierung unterworfen;<br />
das macht uns frei. Frei für was? Wie sieht<br />
ein verantwortungsvolles Programm aus? Ein<br />
entscheidendes Kriterium ist die Verteidigung<br />
und Wahrung der Vielfalt, was Angebote, Meinungen,<br />
Themen und Genres anbelangt. Eine<br />
solche Vielfalt, wie sie sich im Programm des<br />
Ersten widerspiegelt, sichert die Pluralität unserer<br />
Gesellschaft. Sie bedeutet keinesfalls Beliebigkeit.<br />
Im Gegenteil: Das Erste ist in hohem<br />
Maße wiedererkennbar. Das liegt nicht nur an<br />
einem klaren Programmschema mit verlässlichen<br />
Sendeplätzen und -zeiten, an denen die<br />
Zuschauer »ihr« Programm finden können. Es<br />
liegt vor allem an der durchdachten, an den<br />
Bedürfnissen der Zuschauer orientierten Programmkomposition.<br />
Ein solch stringentes Mischkonzept, wie<br />
wir es täglich realisieren, bedeutet einen Public<br />
Value, den kein kommerzieller Sender in<br />
dieser Form bieten kann. Dabei geht es nicht<br />
darum, es jedem recht zu machen; es geht<br />
vielmehr darum, jeden zu interessieren: Wo<br />
außer im Ersten gelingt ein Audience Flow, der<br />
die Zuschauer einer Krankenhausserie für ein<br />
Wirtschaftsmagazin im Anschluss zu gewinnen<br />
vermag, der den passionierten Krimigucker in<br />
eine politische Talkshow mitnimmt, der nach<br />
einer unterhaltenden Serie oder einem Tierfilm<br />
für eine Dokumentation mit anspruchsvollem<br />
Thema begeistern kann?<br />
_ Gewolltes Handicap<br />
Wir könnten uns das Leben einfacher machen,<br />
indem wir ganze Sendestrecken mit ähnlichen<br />
Genres tapezieren würden. Aber ein solches<br />
lineares Denken wäre für Das Erste der falsche<br />
Ansatz. Denn wir haben das große Glück, dem<br />
zielgruppenorientierten Geschmacksdiktat der<br />
werbetreibenden Industrie nicht unterworfen<br />
zu sein. Wir müssen nicht permanent eine<br />
vermeintlich konsumfreudige Gruppe umwerben.<br />
Unser Programm ist darauf angelegt, eine<br />
integrative, nicht-manipulative Plattform gesellschaftlicher<br />
Diskurse, ein gemeinschaftsbildendes<br />
Medium zu sein. Demgemäß ist unser<br />
Menschenbild nach wie vor an dem Ideal des<br />
mündigen Bürgers orientiert. Solche Mündigkeit<br />
setzt Urteilskraft voraus. Diese wird dem<br />
Zuschauer in unserem Programm nicht abgenommen,<br />
sondern bewusst abverlangt. Auch<br />
wenn wir damit nicht immer an vorderster<br />
. . . zu den »Tagesthemen« mit Tom Buhrow . . . . . . zum Dokumentarfilm »Frohe Zukunft –<br />
Leben nach der Wende« von Bianca Bodau<br />
und Claudia Mützelfeld<br />
Qualität trotz Quotendruck A R D - J A H R B U C H 0 9 29
Front dabei sind, wenn es darum geht, besonders<br />
»hip«, »trendy« und nach der neuesten<br />
Mode zu sein. Tonangebend in den tatsächlich<br />
relevanten Dingen sind wir allemal, vor allem<br />
dann, wenn sich die Zuschauer im buchstäblichen<br />
Sinne »ein Bild machen« wollen, kurz:<br />
Wenn es um Information geht. Hierzu haben<br />
wir neben den Nachrichtensendungen eine<br />
große Palette an Magazinen zur Innen- und<br />
Außenpolitik, zu Europathemen, Wirtschaft<br />
und Kultur, Service und Beratung. Ein solches<br />
Angebot, das kann man ohne Übertreibung<br />
sagen, sucht seinesgleichen in der Fernsehlandschaft.<br />
Mehr als 40 Prozent der gesamten<br />
Sendezeit entfallen im Ersten auf den Bereich<br />
Information – kein kommerzieller Sender kann<br />
da mithalten.<br />
_ Informationskompetenz durch Nachrichten<br />
fast rund um die Uhr<br />
Bei einem Vergleich der Auslandskorrespondenten<br />
zeigt sich ein ähnliches Bild: Mit 41<br />
Berichterstattern nur für das Fernsehen in 25<br />
Auslandsstudios haben wir eines der größten<br />
Netze der Welt (vgl. Florian Meesmann: Von Panzern<br />
und Paschtunen und folgende Artikel). Nur die<br />
BBC und CNN haben Vergleichbares. In jeder<br />
»Tagesschau«, in allen »Tagesthemen« zeigen wir<br />
Berichte aus dem Ausland. Und im »Weltspiegel«,<br />
zur besten Sendezeit – sonntags um 19.20<br />
Uhr –, stehen Woche für Woche Hintergrundberichte<br />
aus aller Welt auf dem Programm.<br />
Was die Nachrichtensendungen anbelangt,<br />
ist allein schon die Angebotsfülle ein Nachweis<br />
von Qualität. Aber nicht allein die Masse<br />
macht’s, sondern vor allem die Klasse. Und gerade<br />
hier, was Inhalt, Gewichtung, Ausrichtung<br />
und Präsentation betrifft, liegt die besondere<br />
Stärke des Ersten. Das lässt sich im Übrigen<br />
auch wissenschaftlich nachweisen. Analysiert<br />
man die Hauptausgaben der Nachrichten von<br />
<strong>ARD</strong>, ZDF, RTL und Sat.1 auf deren Themenprofile<br />
hin, so zeigt sich im Ergebnis, dass die<br />
»Tagesschau« dem politischen Geschehen mit<br />
Abstand die größte Bedeutung zumisst: Rund<br />
die Hälfte der Sendezeit ist der Politik gewidmet,<br />
während bei RTL und Sat.1 darauf nur<br />
ein Fünftel der Sendezeit entfällt. Der überwiegende<br />
Teil der Nachrichten wird hier mit Boulevardthemen<br />
gefüllt. Die wiederum spielen in<br />
der »Tagesschau« nur eine ganz untergeordnete<br />
Rolle. Den Zuschauern sind die Vorzüge einer<br />
solchen wirklich informativen Nachrichtensendung<br />
wohl bewusst; sie wünschen und schätzen<br />
die Vorzüge der Verlässlichkeit, Aktualität,<br />
solider Recherche und journalistisch präziser<br />
und differenzierter Auswahl, Aufbereitung und<br />
Gewichtung der Fakten. Nach der Unverzichtbarkeit<br />
der Programme befragt, sprachen sich<br />
im jüngsten »<strong>ARD</strong>-Trend«, einer jährlich durchgeführten<br />
repräsentativen Großerhebung, 57<br />
Prozent für das <strong>ARD</strong>-Gemeinschaftsprogramm<br />
aus. RTL kommt dabei nur auf 25 Prozent.<br />
30 Artikel A R D - J A H R B U C H 0 9<br />
Aktuelle Berichterstattung im Ersten:<br />
Jörg Schönenborn und Andreas<br />
Cichowicz berichten über die Präsidentenwahl<br />
in den USA.
»Auf der Sonnenseite«, ein preisgekrönter<br />
»Tatort« vom NDR mit Kommissar Cenk Batu<br />
(Mehmet Kurtulus, r.)<br />
_ »In aller Freundschaft« gegen »Dr. House«<br />
Auch im Fiktionalen ist die Genre-Mischung<br />
bei uns und dem ZDF am ausgewogensten. Die<br />
eigenproduzierten Serien am Dienstagabend<br />
im Ersten sind – auch wenn unermüdlich das<br />
Hohe Lied auf »Dr. House« und Konsorten gesungen<br />
wird – die erfolgreichsten im deutschen<br />
Fernsehen. Und Woche für Woche zeigen wir<br />
in unserem »FilmMittwoch« um 20.15 Uhr anspruchsvolle<br />
und mit Preisen bedachte Fernsehfilme.<br />
Filme, die aktuelle Themen aufgreifen,<br />
zu Diskussionen anregen und auch noch ein<br />
großes Publikum bestens unterhalten. Filme,<br />
über die lange – vor und während der Produktion<br />
– nachgedacht, diskutiert und mitunter<br />
auch gestritten wurde. Immer in dem Bestreben,<br />
den Zuschauer mit dem bestmöglichen<br />
Produkt zu erreichen. Im letzten Jahr liefen<br />
auf diesem Sendeplatz beispielsweise »Sophie<br />
Scholl – Die letzten Tage«, »Teufelsbraten«,<br />
»12 heißt: Ich liebe dich«, »Mein Mann, der<br />
Trinker«, »Sommer vorm Balkon«, »Das Feuerschiff«<br />
und auf Sonderterminen die Literaturverfilmung<br />
»Der Besuch der alten Dame«, »Mogadischu«<br />
und der Oscar-prämierte Film »Das<br />
Leben der Anderen«.<br />
Für den diesjährigen Grimme-Preis wurden<br />
von den insgesamt 695 Einreichungen 60 Produktionen<br />
ausgewählt – 54 davon sind Sendungen<br />
der Öffentlich-Rechtlichen. Einen deutlicheren<br />
Nachweis für den hohen Qualitätsstandard unserer<br />
Produktionen gibt es aktuell wohl nicht.<br />
2009 für den Oscar nominiert:<br />
»Der Baader Meinhof Komplex«, mit Moritz<br />
Bleibtreu als Andreas Baader<br />
und Johanna Wokalek als Gudrun Ensslin<br />
_ Großgeschrieben: Filmförderung<br />
Ein Großteil aller deutschen Filme, die auf nationalen<br />
und internationalen Festivals hervortreten<br />
oder ausgezeichnet werden, ensteht als<br />
<strong>ARD</strong>-Koproduktion. Die <strong>ARD</strong> setzt sich für<br />
den Fortbestand und die Konkurrenzfähigkeit<br />
deutscher Kinoproduktionen im internationalen<br />
Vergleich vehement ein: Rund 30 Mio Euro<br />
zahlen die Landesrundfunkanstalten der <strong>ARD</strong><br />
jährlich an die Länderfilmförderung und wenden<br />
kumuliert rund 190 Mio für Filmneuproduktionen<br />
auf. Mit diesen Mitteln entstanden<br />
zum Beispiel der »Der Baader Meinhof Komplex«<br />
und die »Buddenbrooks«, die in diesem<br />
Jahr als Fernsehpremieren im Ersten laufen.<br />
Und: Wer auch immer im deutschen Kino in<br />
den letzten Jahren groß geworden ist, hat dies<br />
meist mit Hilfe der <strong>ARD</strong> geschafft. Ob etwa<br />
Florian Henckel von Donnersmarck oder Hans<br />
Weingartner, ob Marcus H. Rosenmüller oder<br />
Hans Steinbichler, Andreas Dresen oder Fatih<br />
Akin – alle haben oft ihre bekanntesten Filme<br />
als Koproduktionen mit der <strong>ARD</strong> realisiert.<br />
Nachwuchsförderung wird mit den Debüt-Reihen<br />
in den Dritten Programmen und im Ersten<br />
großgeschrieben.<br />
Sogar für den Sport lässt sich bei der <strong>ARD</strong><br />
die größte Vielfalt feststellen: Während RTL<br />
und Sat.1 in der Regel über massenattraktive<br />
Events nicht hinauskommen, deckt unsere<br />
Sportberichterstattung im Verlauf eines Jahres<br />
über 30 verschiedene Sportarten ab – auch in<br />
nicht-olympischen Jahren.<br />
Qualität trotz Quotendruck A R D - J A H R B U C H 0 9 31
Der Dokumentarfilm »Meine Mütter«,<br />
Rosa von Praunheims ebenso<br />
spannende wie anrührende Suche nach<br />
seinen Wurzeln, lief am 4. 8. 2009<br />
im Ersten.<br />
Einmal pro Jahr fragen wir auch ganz direkt:<br />
»Welcher Sender bietet Ihrer Meinung nach<br />
insgesamt die qualitativ besten Programme an?«<br />
Auch hier erhält Das Erste – seit Jahren – das<br />
positivste Gesamturteil, gefolgt von ZDF und<br />
RTL. Und bei der berühmten »Inselfrage«,<br />
»Welches Programm würden Sie wählen, wenn<br />
Sie nur eines sehen könnten?«, gewinnt Das<br />
Erste immer.<br />
Genau dieses Konzert aus eigener Anschauung,<br />
internen Debatten, GfK-Daten (also Quoten),<br />
Inhaltsanalysen sowie pauschalen und<br />
detaillierten Zuschauerbefragungen macht das<br />
Qualitätsurteil komplett. Und außerdem gibt<br />
es mir Anlass zu einem selbstbewussten Urteil<br />
über das <strong>ARD</strong>-Gemeinschaftsprogramm.<br />
_ Täglich neue Herausforderungen<br />
Diese Haltung darf aber nicht mit Selbstzufriedenheit<br />
verwechselt werden. In jedem Programm<br />
gibt es Sendeflächen oder Formate,<br />
die verbessert werden können und müssen.<br />
Fernsehen ist etwas sehr Lebendiges, das sich<br />
täglich neuen Themen, neuen Realitäten oder<br />
auch sich verändernden Geschmacksfragen und<br />
Gewohnheiten stellen muss. Wir gehen diese<br />
Herausforderungen an, nicht blind und opportunistisch<br />
und auf gar keinen Fall um jeden<br />
Preis: Im Ersten, in der <strong>ARD</strong> wird es nie eine<br />
Gerichtsshow geben, die hemmungslos und<br />
zynisch mit den Schwächen ihrer Protagonisten<br />
agiert, und auch kein »Dschungelcamp«.<br />
2009 wurde die politische Berichterstattung<br />
im Ersten durch die Landtagswahlen, die Europa-<br />
und Bundestagswahl geprägt. Den Staatsgründungen<br />
von Bundesrepublik und DDR vor<br />
60 Jahren widmeten wir zahlreiche Dokumentationen<br />
und Reportagen, 20 Jahre Mauerfall<br />
würdigten wir im fiktionalen wie im dokumentarischen<br />
Bereich (vgl. Johannes Unger: 2009 – ein<br />
Jahr voller Erinnerungen). Und die »<strong>ARD</strong> Themenwoche«,<br />
die gesellschaftlich relevante Themen<br />
unseres Alltags umfassend darstellt, bleibt<br />
integraler Bestandteil unseres Programms.<br />
32 Artikel A R D - J A H R B U C H 0 9<br />
Als Koproduktion der Filmakademie Baden-<br />
Württemberg mit dem HR lief am 17. 8. 2009 in<br />
der Reihe »Debüt im Ersten« »Höhere Gewalt«<br />
von Lars Henning Jung, Foto: Vinzenz Kiefer<br />
und Alice Dwyer.<br />
Die preisgekrönte Vorabendserie »Türkisch<br />
für Anfänger«, Foto: Pegah Ferydoni,<br />
Anna Stieblich und Josefine Preuß (v. l.)
_ Die Erreichbarkeit des jungen Publikums<br />
Auf einzelnen Sendeplätzen haben wir ein<br />
Akzeptanzproblem: Am Vorabend wollen wir<br />
ein größeres und jüngeres Publikum erreichen.<br />
»Türkisch für Anfänger« lief hier – preisgekrönt,<br />
aber zu unserem großen Bedauern nicht mit<br />
dem Zuspruch, den wir uns für diese tolle Serie<br />
gewünscht haben.<br />
Behutsames Justieren, vorhandene Formate<br />
mit kleinen dramaturgischen Veränderungen aktualisieren<br />
und modernisieren, ist für mich das<br />
Mittel der Wahl. Schließlich wollen wir unser<br />
Stammpublikum nicht vergraulen und gleichzeitig<br />
jüngere Zuschauer hinzugewinnen. Dass<br />
das nicht einfach ist, erleben wir täglich, aber<br />
es ist auch nicht die Quadratur des Kreises: Gelungene<br />
Beispiele dafür sind die »Lindenstraße«<br />
oder der »Tatort« – seit Jahrzehnten im Ersten<br />
und von ungebrochener Attraktivität. Jüngere<br />
Publika erreichen wir mit Sportübertragungen<br />
und auch mit der »Tagesschau«.<br />
Unsere Dokumentationen am Montag um<br />
21.00 Uhr finden oft nicht den erwünschten<br />
Zuspruch. Hier denken wir über Veränderungen<br />
nach, aber nicht um den Preis, das Programm<br />
an anderen Tagen zu beschädigen. Fernsehen ist<br />
eben ein Gesamtkunstwerk, mit einzelnen Bestandteilen,<br />
die auf das Große und Ganze hin<br />
abgestimmt werden müssen.<br />
Dieses Gesamtkunstwerk ist nicht zur Erbauung<br />
für Eliten geschaffen, es soll alle ansprechen,<br />
auch unterhalten. Menschen schalten ja<br />
auch ein, um abzuschalten, um zu entspannen<br />
– ein Grundbedürfnis der Menschheit, auch<br />
wenn Fernseh- und Kulturkritik hier zuweilen<br />
ein anderes Verständnis zeigen. »Feel good<br />
Movies« haben in einem Vollprogramm wie<br />
dem Ersten ihre Berechtigung, ebenso wie anspruchsvolle<br />
Dokumentationen oder Literaturverfilmungen.<br />
_ Qualität ist genrespezifisch<br />
Bei einem Massenmedium plädiere ich dafür,<br />
die Debatte über Qualität anders zu führen:<br />
Gutes und gut gemachtes Fernsehen gibt es in<br />
allen Genres, die Kriterien dafür mögen jeweils<br />
anders aussehen. Auch ein noch so anspruchsvoller<br />
Fernsehfilm muss unterhalten, eine<br />
politische Hintergrundberichterstattung muss<br />
verständlich sein, eine Boulevard- oder Satire-<br />
Sendung muss auch »über die Stränge« schlagen<br />
dürfen (vgl. Jesko Friedrich: Was darf Satire?). Die<br />
Grenzen mögen zuweilen fließend sein, und<br />
über Geschmack lässt sich ohnehin trefflich<br />
streiten, aber: Es muss nicht alles allen gefallen.<br />
Toleranz beginnt bekanntlich dann, wenn man<br />
akzeptiert, was einem selbst nicht gefällt. Qualität<br />
beginnt nicht erst, wenn klassische Musik<br />
geboten wird. Sie beginnt mit Meinungspluralismus,<br />
wenn sich Fiktion mit gesellschaftlich<br />
relevanten Themen auseinandersetzt, und mit<br />
Unterhaltungsshows, die den Zuschauern Spaß<br />
machen.<br />
Auch für uns gilt das klassische Motto:<br />
»Prodesse et delectare«. Im intellektuellen<br />
»Doppelbeschluss« des Horaz (»Nützen und<br />
Erfreuen«) erkannte bereits die Literatur des 18.<br />
Jahrhunderts ihre eigentliche Funktion: Nutzen<br />
und Vergnügen eindrucksvoll verbinden. Denn<br />
auch Aufklärung muss effektiv an das Publikum<br />
herangetragen werden, weil die Art und die<br />
Gestalt der Angebote über die Intensität ihrer<br />
Rezeption entscheidet. Goethe – er sei zitiert,<br />
um den gebildeten Ständen doch noch gerecht<br />
zu werden – war es, der zu seinem Eckermann<br />
sagte: »Wer nicht eine Million Leser erwartet,<br />
der sollte keine Zeile schreiben.« Und er hat im<br />
»Vorspiel auf dem Theater« zum »Faust« eigentlich<br />
alles zum Thema gesagt: »Die Masse könnt<br />
ihr nur durch Masse zwingen, ein jeder sucht<br />
sich endlich selbst was aus. Wer vieles bringt,<br />
wird manchem etwas bringen; und jeder geht<br />
zufrieden aus dem Haus.« Oder in der zeitgemäßen<br />
Übersetzung durch die BBC – in ihrem<br />
Unternehmens-Leitspruch: »To make the good<br />
popular and the popular good!«<br />
Volker Herres, Programmdirektor<br />
des Ersten Deutschen Fernsehens<br />
Qualität trotz Quotendruck A R D - J A H R B U C H 0 9 33
Jung – multimedial – digital<br />
Wege zu den jungen Zielgruppen<br />
Von Bernhard Hermann und Wolfgang Gushurst<br />
In den vergangenen zwei Jahren widmete sich die <strong>ARD</strong><br />
verstärkt der Aufgabe, die nachwachsende Genera-<br />
tion wieder enger an die öffentlich-rechtlichen Pro-<br />
gramme zu binden. Im Juni 2007 wurde eine <strong>ARD</strong>-Strate-<br />
giegruppe »Zur Ansprache junger Publikumsgruppen«<br />
gegründet, die seither an einer Erfolg versprechenden<br />
Gesamtstrategie arbeitet. Das Thema griff auch die<br />
Gremienvorsitzendenkonferenz mit einer Tagung im<br />
vergangenen Jahr auf. Inzwischen kamen viele Projekte<br />
in Gang, neue Konzepte wurden entwickelt und die<br />
Zusammenarbeit intensiviert. Die <strong>ARD</strong> ist heute mehr<br />
denn je in dem medialen Umfeld präsent, in dem sich<br />
viele Jugendliche bewegen. Nicht zuletzt seit März mit<br />
einem eigenen Kanal bei YouTube, der Clips aus den<br />
Bereichen Wissen, Information und Unterhaltung bereit-<br />
stellt.<br />
N<br />
ach dem Aufstehen über Twitter kurz<br />
eine aktuelle Statusmeldung in meiner<br />
Social Community abgesetzt. Vormittags<br />
auf meiner Ausbildungsstelle<br />
nebenher per Messenger mit Andi und Mike<br />
über den Wahnsinns-Clueso-Gig vom Wochenende<br />
gechattet. Die neuesten MP3s von Selig<br />
und Papa Roach runtergeladen. Mittags dann<br />
von Benni einen coolen Link zu einem neu entwickelten<br />
Tool für meine Lieblingskonsole Wii<br />
geschickt bekommen. Am Nachmittag zeigt mir<br />
Tine auf YouTube den krassen Auftritt von Linkin<br />
Park bei Jimmy Kimmel. Abends gechillt<br />
und mir im Internet zwei Folgen von ›CSI Miami‹,<br />
meiner absoluten Lieblingsserie, reingezogen<br />
. . .« (Digital Native, 17 Jahre).<br />
_ . . . und der öffentlich-rechtliche Rundfunk?<br />
Das Medienbudget, also die Zeit, die junge<br />
Menschen für Medien aufwenden, ist höher<br />
denn je. Der Anteil, der für öffentlich-rechtliche<br />
Angebote genutzt wird, ist dagegen rückläufig.<br />
Die medienbiografische Prägung hat sich<br />
verändert. Die Ausdifferenzierung der Angebote<br />
nach Zielgruppen und Sparten führt zu einer<br />
Segmentierung des Zuschauer-, Hörer- und<br />
Nutzermarktes. Begünstigt wird dies durch neue<br />
Verbreitungswege und schnelles Internet. Eine<br />
größere Konkurrenzsituation entsteht durch<br />
eine Vielzahl von Freizeitangeboten vom Sport<br />
bis hin zu Computerspielen.<br />
34 Artikel A R D - J A H R B U C H 0 9
Hinzu kommt eine geringer werdende Akzeptanz<br />
für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk<br />
in der Gesellschaft, besonders bei der<br />
jüngeren Generation. Mit der nachlassenden<br />
Bereitschaft, für ein öffentlich-rechtliches Programmangebot<br />
Gebühren zu zahlen, gerät das<br />
duale System als Ganzes unter Druck.<br />
_ Die Zukunft ist jung<br />
Die Aufgabe, jüngere Zielgruppen – zu denen<br />
auch die Entscheider von morgen zählen – mit<br />
attraktiven Programmen zu erreichen, ist eine<br />
der wichtigsten Aufgaben, um die Zukunftsfähigkeit<br />
des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu<br />
sichern. Dazu müssen die Rundfunkanstalten<br />
eine Anpassung bzw. Neuorientierung einzelner<br />
Programme vornehmen.<br />
Die Programmangebote im Fernsehen finden<br />
nur mit bestimmten Sendungen noch in<br />
nennenswertem Maß ein jüngeres Publikum.<br />
Neben der »Tagesschau«, Sportübertragungen,<br />
der »Sportschau« oder Großereignissen wie<br />
Fußball-EM oder -WM sind allenfalls fiktionale<br />
Inhalte wie der »Tatort« in dieser Altersgruppe<br />
noch gefragt.<br />
Das Team von »Südwild« in BR-alpha,Teil des<br />
trimedialen BR-Jugendangebots »on3«: Marcel<br />
Wagner, Andreas Poll, Nadia Kailouli,<br />
Sebastian Winkler und Rosmarie Bundz (v. l.)<br />
Viele junge Zuschauer geben sich mit dem<br />
Angebot der privaten Sender zufrieden. Das<br />
Erste und die Dritten Programme werden nur<br />
noch punktuell von jungen Menschen wahrgenommen.<br />
Zwar wenden sich die Zuschauer<br />
noch, wenn sie älter werden, etwas stärker den<br />
öffentlich-rechtlichen Programmen zu, aller-<br />
dings kann dieser Zuwachs nicht die grundsätzlich<br />
geringere Nutzung bei der nachwach senden<br />
Generation kompensieren. Die medienbiografische<br />
Prägung entscheidet: Wer in seiner<br />
Jugend wenig Kontakt zu den öffentlichrechtlichen<br />
Programmen hatte, wird diese Programme<br />
nicht häufiger einschalten, wenn er<br />
älter ist.<br />
Im Internet ist die Situation noch schwieriger.<br />
Öffentlich-rechtliche Inhalte konkurrieren hier<br />
mit den Angeboten weltweit agierender Unternehmen.<br />
Attraktivster Bewegtbildanbieter ist<br />
YouTube. Social Communities wie Facebook<br />
oder StudiVZ erreichen die meisten jungen<br />
Menschen in Deutschland und die Bedeutung<br />
des Internets wächst von Jahr zu Jahr. Bei den<br />
14- bis 19-Jährigen ist das Internet bereits jetzt<br />
das nutzungsstärkste Medium (120 Minuten pro<br />
Tag).<br />
Allein mit den linearen Hörfunkangeboten<br />
erreicht der öffentlich-rechtliche Rundfunk<br />
»DASDING.TV«, samstags um 10.45 Uhr<br />
im SWR Fernsehen.<br />
Im Bild: Moderator Rainer Jilg<br />
noch größere Teile der jungen Generation. Die<br />
einzelnen Landesrundfunkanstalten konnten<br />
seit den 90er Jahren erfolgreiche Marken im<br />
Hörfunkmarkt etablieren, die mit öffentlichrechtlichen<br />
Inhalten das junge Publikum begeistern.<br />
Für Radioprogramme spielt natürlich<br />
Musik die wichtigste Rolle. Aber auch angesagte<br />
Themen wie Liebe, Freundschaft, Beziehung,<br />
Computerspiele, neue technische Entwick-<br />
Jung – multimedial – digital A R D - J A H R B U C H 0 9 35
lungen oder soziale Themen wie ehrenamtliches<br />
Engagement, Service- und Infobeiträge zu Ausbildung<br />
und Beruf gehören dazu.<br />
_ Neue TV-Formate entwickeln<br />
Die Konferenz der Gremienvorsitzenden<br />
(GVK) hat 2008 eine Tagung zum Thema »Erreichbarkeit<br />
der Jugend« veranstaltet. Viele der<br />
Probleme wurden hier benannt. Gleichzeitig<br />
ging auch die GVK davon aus, dass es in der<br />
<strong>ARD</strong> bereits zahlreiche gute Formate, innovative<br />
Konzepte und kreative Projekte gibt, die<br />
es jedoch zusammenzuführen gelte. Zu prüfen<br />
sei auch, ob ein bestehendes Programm zu<br />
einem Angebot für Jüngere weiterentwickelt<br />
werden könnte. Die unter Leitung des damaligen<br />
<strong>ARD</strong>-Vorsitzenden Fritz Raff eingesetzte<br />
<strong>ARD</strong>-Strategiegruppe »Zur Ansprache junger<br />
Publikumsgruppen«, die Anfang 2009 von<br />
WDR-Intendantin Monika Piel übernommen<br />
wurde, stellte fest, dass es nicht allein genüge,<br />
bestehende Inhalte über das Internet verfügbar<br />
zu machen. Vielmehr müssten Inhalte produziert<br />
werden, die die Interessen dieser Altersgruppe<br />
treffen, und über neue Verbreitungswege<br />
angeboten werden.<br />
Die strategischen Überlegungen sind weitreichend.<br />
Jugendorientierte Sendungen innerhalb<br />
von Vollprogrammen – so genannte Insellösungen<br />
– allein sind nicht sehr Erfolg versprechend,<br />
um das Programm insgesamt attraktiver<br />
für ein junges Publikum zu machen. Sie können<br />
jedoch Teil einer Strategie sein. Ein eigener<br />
TV-Jugendkanal ist im medienpolitischen<br />
Umfeld schwer durchsetzbar, obwohl man ein<br />
Marktversagen der privat-rechtlichen Jugendkanäle<br />
feststellen kann. MTV oder VIVA haben<br />
sich nahezu komplett aus der Produktion eigener<br />
Inhalte verabschiedet und senden – neben<br />
Musik-Clips und Videos – überwiegend internationale<br />
Serien. Außerdem müsste eine entsprechende<br />
finanzielle Grundausstattung bereitgestellt<br />
werden, was ohne größere Einschnitte<br />
in bestehenden Bereichen nicht machbar wäre.<br />
Eine Verbindung von jugendaffinen Angeboten<br />
in einem reichweitenstarken Programm, möglichst<br />
dem Ersten, dazu Spartenangebote und<br />
eine entsprechende Online-Begleitung sind erste<br />
Schritte, um eine größere Akzeptanz bei der<br />
jungen Generation zu erzielen.<br />
_ Ausrichtung der <strong>ARD</strong>-Digitalkanäle<br />
Die Programmkonzeption der drei Digitalen<br />
Fernsehprogramme der <strong>ARD</strong> wird in der Anlage<br />
zum 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag,<br />
der zum 1. 6. 2009 in Kraft trat, beschrieben.<br />
Demnach erreichen EinsExtra, EinsPlus und<br />
Einsfestival mit einem entsprechend profilierten<br />
Programm auch jüngere Zuschauer. Insbesondere<br />
Einsfestival richtet sich derzeit – gemäß<br />
der Vorgabe in den <strong>ARD</strong>-Programmleitlinien<br />
2007/2008 – an ein jüngeres Publikum. Als<br />
innovatives Angebot, das sich strukturell und<br />
inhaltlich an der Alltagskultur junger Menschen<br />
orientiert, stehen die Programmgenres Film,<br />
Musik, Sport, Wissen, Medien und Kommunikation<br />
im Fokus. Mit »EINSWEITER« ging in<br />
Einsfestival bereits die erste eigene Produktion<br />
auf Sendung, die regelmäßig viermal wöchentlich<br />
über Trends, Events und deren Macher<br />
berichtet.<br />
Ob diese Maßnahmen reichen oder ob<br />
noch weiter reichende Schritte notwendig<br />
sind, beispielsweise die Entwicklung eines<br />
gänzlich neuen multimedialen Angebots für<br />
die Zielgruppe, muss geprüft werden. Als digitale<br />
Zusatzprogramme mit auf absehbare Zeit<br />
begrenzter Reichweite sind die <strong>ARD</strong>-Spartenkanäle<br />
allein nicht in der Lage, die junge Zielgruppe<br />
umfassend zu erreichen, sondern sie<br />
können ebenfalls nur Teil einer Strategie sein.<br />
Eine Herausforderung ist es, Marken zu etablieren<br />
und durch systematische Nachwuchsförderung<br />
als Markenzeichen aufzubauen.<br />
Einsfestival sowie 1LIVE on air und online<br />
berichteten täglich über »Stadlober<br />
und Freunde unterwegs«, die im Herbst<br />
2008 skatend und filmend durch<br />
Osteuropa reisten.<br />
36 Artikel A R D - J A H R B U C H 0 9
Die Musik steht ganz oben in der Gunst der<br />
Jugendlichen: Nachwuchsförderung mit dem<br />
RadioAward für neue Musik, gestiftet von<br />
MDR SPUTNIK, YOU FM (HR) und Fritz (RBB).<br />
Die crossmediale Zusammenarbeit und<br />
Cross-Promotion im <strong>ARD</strong>-Senderverbund soll<br />
gerade bei Programminhalten für junge Zielgruppen<br />
deutlich verstärkt werden. Die einschlägigen<br />
Marken werden umfassend online<br />
begleitet und mit gezielten Marketingaktivitäten<br />
gestützt. Die jungen Radios können diese Sendungen<br />
dann ebenfalls mit ihren Programmen<br />
bekannt machen. Ein erfolgreiches Beispiel für<br />
diese Strategie waren die Aktivitäten zur Verleihung<br />
des »Echo«. Auf die Ausstrahlung des<br />
deutschen Musikpreises im Februar 2009 im<br />
Ersten war zuvor in den verschiedenen <strong>ARD</strong>-<br />
Hörfunkprogrammen und den dazugehörenden<br />
Internetauftritten ausführlich hingewiesen<br />
worden. 2010 werden Das Erste, ProSieben und<br />
die Popwellen der <strong>ARD</strong> für den Eurovision<br />
Song Contest in gemeinsamen Aktionen einen<br />
Interpreten auswählen.<br />
_ Jung, erfolgreich, multimedial – die jungen<br />
Radios<br />
Im Mai 2009 hat die Hörfunkkommission<br />
einen Informationstag mit Vertretern der jungen<br />
Radios veranstaltet. Gemeinsam wurde<br />
über die zukünftigen Anforderungen an den<br />
öffentlich-rechtlichen Rundfunk diskutiert. Die<br />
Redakteure präsentierten dabei zukunftsweisende<br />
multimediale Entwicklungen aus ihren<br />
Häusern.<br />
Ziel war es, Strategien der jungen Hörfunkprogramme<br />
zu bündeln und in einen intensiveren<br />
Austausch einzusteigen. Die Teilnehmer<br />
haben sich darauf verständigt, zukünftig bei<br />
innovativen Konzepten enger zusammenzuarbeiten,<br />
sich auszutauschen und – wenn es sich<br />
»Fritz Nacht der Talente«: Nachwuchstalente<br />
aus Berlin und Brandenburg stehen<br />
einmal jährlich im Frühling im Berliner Admiralspalast<br />
auf der Bühne.<br />
anbietet – Projekte gemeinsam umzusetzen.<br />
Dies bezieht sich sowohl auf technische Innovationen<br />
als auch auf rechtliche Standards, die<br />
gemeinsam geklärt werden können.<br />
Der inhaltliche Austausch zwischen den Vertretern<br />
der jungen Radios soll in thematischen<br />
Workshops mit der Entwicklung trimedialer<br />
Programmprojekte – etwa zum Thema Computerspiele<br />
– fortgesetzt werden.<br />
Bei allen Landesrundfunkanstalten sind<br />
Vernetzungsprozesse im Gange. Der SWR hat<br />
mit DASDING bereits 1997 ein multimediales<br />
Angebot geschaffen, das in einer trimedialen<br />
Redaktion Inhalte für Radio, Fernsehen und<br />
Internet produziert. Der SR startete zwei Jahre<br />
später 103.7 UnserDing, ein Jugendkanal, der<br />
sich stark am SWR-Angebot orientiert und eng<br />
mit diesem kooperiert.<br />
Mittlerweile sind für alle jungen Radios –<br />
neben einem Internetauftritt – die Ergänzung<br />
der Inhalte durch Bewegtbilder und die Ausspielung<br />
auch auf mobile Endgeräte wichtige<br />
Themen. So hält beispielsweise MDR SPUT-<br />
NIK einzelne Inhalte als Video auf seiner Internetplattform<br />
bereit und stellt Angebote über<br />
Applikationen auch für mobile Endgeräte zur<br />
Verfügung. Der BR vernetzte die vorhandenen<br />
jungen Angebote Südwild (BR-alpha) und on3<br />
(ehemals Bavarian Open Radio, BR Hörfunk)<br />
im Internet. Die »on3-startrampe«, eine Nachwuchsplattform,<br />
ist ebenfalls dort zu finden.<br />
Ein vernetzter Internetauftritt soll so entsprechende<br />
Inhalte des BR bündeln und für eine<br />
junge Zielgruppe leicht auffindbar machen.<br />
Jung – multimedial – digital A R D - J A H R B U C H 0 9 37
_ Bewegtbildangebote ausbauen<br />
Zunehmend wichtiger werden für die Internetangebote<br />
der jungen Wellen neben Audios oder<br />
längeren Texten die Bewegtbildinhalte. Die<br />
meisten der <strong>ARD</strong>-Hörfunkwellen bieten deshalb<br />
Videos auf ihren Internetseiten an. Bei<br />
1LIVE ist dies beispielsweise der 1LIVE FERN-<br />
SEHER mit eigenproduzierten Inhalten, wie<br />
den 1LIVE-Radiokonzerten, selbst produzierten<br />
Videos und passenden Beiträgen aus dem WDR<br />
Fernsehen. MDR SPUTNIK produziert Rubriken<br />
zu Lifestyle-Themen in Videoform und<br />
DASDING eine eigene Magazinsendung für das<br />
SWR Fernsehen.<br />
Die Beiträge sind auf den jeweiligen Internetseiten<br />
zu finden. Das bewegte Bild ist im<br />
Internet wichtig, da es konkret und unmittelbar<br />
sofort die Zielgruppe anspricht und emotionalisiert.<br />
Bewegtbild kann als Inhaltevermittler, als<br />
Imageträger und als Medium für eine videoaffine<br />
Zielgruppe eingesetzt werden. Sendekonzepte<br />
im Radio werden durch Videoangebote<br />
ergänzt oder funktionieren sogar erst zusammen<br />
mit dem Video. Eine Herausforderung<br />
besteht darin, in einen regelmäßigen Austausch<br />
einzusteigen. Nicht-regionale Inhalte wie Konzertmitschnitte<br />
von internationalen Bands sind<br />
für alle interessant. Aus Kostengründen gilt es<br />
hier, die Ressourcen zu bündeln.<br />
Um ein Missverständnis auszuschließen:<br />
Ein Programm für junge Menschen ist nicht<br />
automatisch ein billig gemachtes Programm mit<br />
Wackelkamera o. ä. Ausschließlich durch mit einer<br />
Billigkamera produzierte Bewegtbilder kann<br />
man junge Menschen nicht erreichen. Die Zielgruppe<br />
ist von DVDs über Kinofilme bis hin<br />
zu erfolgreichen jungen, internationalen TV-<br />
Sendungen aufwändige Bildqualität gewohnt.<br />
Entsprechendes Bildmaterial wird also vorausgesetzt.<br />
Allein bei einzigartigem oder sehr originellem<br />
Bildmaterial wird auch eine schlechtere<br />
Qualität akzeptiert (Handyfilme auf YouTube).<br />
_ YouTube, Facebook, MySpace und mehr<br />
Da junge Menschen im Internet verschiedenste<br />
Plattformen nutzen, müssen Strategien entwickelt<br />
werden, wie öffentlich-rechtliche Inhalte<br />
auf diese Plattformen exportiert werden<br />
können. Marken, die derzeit aus dem Alltag<br />
von jungen Menschen nicht wegzudenken<br />
sind, sind YouTube, Facebook, StudiVZ oder<br />
MySpace.<br />
103.7 UnserDing (SR) bei Facebook<br />
Es muss selbstverständlich sein, mit den<br />
öffent lich-rechtlichen Inhalten aus den Bereichen<br />
Bildung, Information, Kultur und<br />
Unterhaltung auch dort präsent zu sein. Junge<br />
Leute studieren keine Programmzeitschriften<br />
mehr, um bestimmte Inhalte zu finden. Sie<br />
verlassen sich auf Empfehlungen von Gleich-<br />
N-JOY (NDR) is using Twitter.<br />
altrigen. Was nicht in dieser Kommunikationskette<br />
und auf den entsprechenden Plattformen<br />
stattfindet, exis tiert nicht. Wenn der öffentlichrechtliche<br />
Rundfunk es nicht schafft, in diese<br />
Kommunikationskette und auf die neuen Plattformen<br />
zu kommen, wird es sehr schwierig werden,<br />
mit eigenen Inhalten überhaupt noch die<br />
Zielgruppe zu erreichen.<br />
Erste Kooperationen gibt es bereits: N-JOY<br />
sucht zusammen mit MySpace in dem »NDR<br />
Comedy Contest« neue Comedy-Talente. Hörer,<br />
Zuschauer und Nutzer können ihren Bei-<br />
38 Artikel A R D - J A H R B U C H 0 9
trag hochladen, die besten Beiträge werden im<br />
NDR Fernsehen präsentiert. DASDING stellt<br />
seine Inhalte nicht nur auf die eigene Internetseite,<br />
sondern ist auch mit einem eigenen<br />
Kanal auf YouTube vertreten, hat einen Facebook-<br />
und einen MySpace-Auftritt und verbreitet<br />
ständig Informationen zum Programm<br />
über einen eigenen Twitter-Account. Auf diesen<br />
Plattformen stehen dann Sendungshinweise,<br />
Links auf Interviews oder Beiträge bereit. Da<br />
Informationen sehr oft fragmentiert vorliegen<br />
– etwa bei einer Suche über Google –, müssen<br />
junge Menschen nicht zwingend mit Programmen<br />
ausschließlich für ihre Altersgruppe angesprochen<br />
werden. Es gibt auch bei Angeboten<br />
für ältere Zielgruppen interessante Inhalte –<br />
beispielsweise Wissensinhalte aus Kultur- oder<br />
Infowellen oder aus Fernsehprogrammen –, die<br />
allerdings für ein junges Publikum aufbereitet<br />
werden müssen. Dann können sie selektiv verfügbar<br />
gemacht werden.<br />
Rechtliche Fragen sowie Fragen, welche Kooperationen<br />
mit welchen Partnern Sinn ergeben,<br />
werden ständig diskutiert. Genauso schnell wie<br />
sich die multimediale Welt weiterentwickelt,<br />
müssen Strategien und mögliche Probleme in<br />
unseren Häusern geklärt werden. Geschwindigkeit<br />
ist nicht alles. Aber Experimente und Innovationen<br />
müssen in größerem Maße zugelassen<br />
werden.<br />
_ Zeit- und ortssouveräne Nutzung,<br />
vertiefende Informationen, Interaktivität<br />
Inhalte müssen auf allen Abspielwegen bereitstehen.<br />
Dazu gehört auch die optimierte<br />
Nutzung von Inhalten für mobile Endgeräte<br />
und von interaktiven Elementen. Fritz (RBB)<br />
plant auf seiner Internetseite ein Radio zum<br />
Vor- und Zurückspulen. Die Navigation erfolgt<br />
über einen Zeitstrahl. Zu aktuell im Programm<br />
laufender Musik sind jederzeit Zusatzinformationen<br />
zu den Künstlern abrufbar.<br />
YOU FM vom HR hat einen YOU FM Radiorekorder<br />
mit »Lieblingssongalarm« programmiert,<br />
der wie ein Desktop-Widget auf dem<br />
Computer funktioniert und automatisch Sendungen<br />
mitschneiden kann, um diese jederzeit<br />
nachzuhören. Mit Musikspezialsendungen im<br />
Streamingformat zum zeitsouveränen Nachhören<br />
kann man Inhalte dem veränderten Mediennutzungsverhalten<br />
angepasst anbieten. Viele<br />
weitere Beiträge können ebenfalls jederzeit über<br />
das Internetportal abgerufen werden. Zu bestimmten<br />
Themen gibt es vertiefende Informationen,<br />
die junge Menschen weniger auf dem<br />
linearen Abspielweg erwarten als vielmehr im<br />
Internet. Ebenfalls sehr wichtig ist die Möglichkeit<br />
zur Interaktivität.<br />
Die Rezeptionserwartungen haben sich in<br />
den vergangenen Jahren verändert. Junge Menschen<br />
möchten nicht nur passiv konsumieren,<br />
sondern direkt angesprochen und einbezogen<br />
werden. Sie wollen sich beteiligen und die<br />
Möglichkeit haben, ihre Meinung kundzutun.<br />
Wird über ein Thema in einer Sendung geredet,<br />
kann dieses Thema zeitgleich beispielsweise in<br />
einem Chat oder in Foren kommentiert und<br />
diskutiert werden. Über eigene Communities<br />
erfolgt eine Hörer-/Userbindung, und es besteht<br />
die Möglichkeit, sich noch intensiver in<br />
ein Programm einzubringen und sich mit anderen<br />
Hörern zu einem bestimmten Thema zu<br />
vernetzen.<br />
Website der Fritz Community (RBB), eines der<br />
attraktiven Angebote der jungen <strong>ARD</strong>-Wellen<br />
Jung – multimedial – digital A R D - J A H R B U C H 0 9 39
Video zum Radio bei MDR SPUTNIK<br />
_ Authentische Inhalte<br />
Zu einer erfolgreichen Strategie gehört auch,<br />
sich bewusst zu machen, dass wir in einer Zeit<br />
des Kulturumbruchs leben. Ältere Generationen<br />
können nur schwer die Faszination von<br />
Computerspielen verstehen. Dabei setzt die<br />
Spieleindustrie schon jetzt mehr Geld um als<br />
die Film- oder Musikindustrie. Es darf also gar<br />
nicht mehr um die Frage gehen, ob bestimmte<br />
Inhalte gemacht werden sollen, sondern wie<br />
wir uns mit ihnen auseinandersetzen. Inhalte<br />
müssen einen Bezug zur Lebensrealität von<br />
jungen Menschen haben – ohne sich anzubiedern.<br />
Die Überlegungen reichen dabei<br />
von Inhalt, Präsentation (Moderation), Verpackungselementen<br />
bis hin zu ästhetischen<br />
Fragestellungen (etwa dynamische Schnitte bei<br />
Bewegtbildbeiträgen). Auch wenn diese Art der<br />
Umsetzung mancher »gelernten« Konvention<br />
widerspricht.<br />
Die Zielgruppe der zehn- bis 29-Jährigen ist<br />
sehr differenziert mit vielgestaltigen Interessen,<br />
Neigungen, Bildungsgraden, Entwicklungsstadien.<br />
Die jungen Menschen müssen dort<br />
abgeholt werden, wo sie gerade sind! Um authentisch<br />
und aktuell zu sein, müssen aber auch<br />
die Kollegen in den Redaktionen in den jungen<br />
Milieus zu Hause sein. Wir müssen den Mut<br />
haben, auch jüngeren Menschen in den Programmen<br />
Verantwortung zu übergeben.<br />
_ Das Entscheidende ist loszulaufen!<br />
Es gibt nicht den einen Weg, um junge Zielgruppen<br />
zu erreichen. Die Mediennutzung<br />
erfolgt auf vielen verschiedenen Wegen. Wir<br />
müssen uns mit allen Wegen auseinander-<br />
setzen und prüfen, wie wir am besten unsere<br />
Inhalte zur jungen Zielgruppe bringen. Nicht<br />
jeder Zugang wird massentauglich sein. Der<br />
Erfolg muss in der Kombination gemessen<br />
werden, Aufwand und Ertrag müssen ständig<br />
überprüft werden.<br />
Das Image vieler unserer Programmangebote<br />
ist nicht gut (»alt«, »langweilig«). Mit attraktiven<br />
Inhalten lässt sich dies wieder ändern. Die<br />
Markenbildung ist in der digitalen Medienwelt<br />
sehr bedeutsam. Die linearen Abspielwege sind<br />
besonders wichtig für eine programmliche Gesamtstrategie.<br />
Vor allem da bislang eine Markenbildung<br />
im Internet für Medienangebote in<br />
Deutschland nahezu ausschließlich über etablierte<br />
Marken der linearen Abspielwege erfolgt.<br />
Es muss zügig weiter an einer Verbreitungs- und<br />
Contentstrategie gearbeitet werden.<br />
Grundsätzlich: Wir müssen mehr Mut beweisen<br />
und noch schneller mit Ideen auf den<br />
Markt kommen. Das Entscheidende ist loszulaufen!<br />
40 Artikel A R D - J A H R B U C H 0 9<br />
DASDING (SWR) auf internetfähigen Handys<br />
Bernhard Hermann,<br />
Hörfunkdirektor beim SWR und<br />
Vorsitzender der <strong>ARD</strong>-Hörfunk-Kommission<br />
Dr. Wolfgang Gushurst,<br />
Wellenchef von DASDING (SWR)
Das <strong>ARD</strong>-Studio Südasien betreut unter Federführung<br />
des MDR aus Neu Delhi das bevölkerungsreichste<br />
Berichtsgebiet innerhalb des Korrespondentennetzes<br />
der <strong>ARD</strong>. Florian Meesmann (Studioleiter, MDR) und<br />
Markus Gürne (Senior Correspondent, HR) bereisen<br />
regelmäßig Indien, Afghanistan, Pakistan, Nepal,<br />
Bhutan, Sri Lanka, Bangladesch und die Malediven. Acht<br />
Länder, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Von<br />
den Gipfeln des Himalaya bis zu den Koralleninseln der<br />
Malediven, vom Brahmaputra-Delta in Bangladesch bis<br />
zur alten Königsstadt Herat kurz vor der iranisch-<br />
afghanischen Grenze reicht das Gebiet, aus dem es jeden<br />
Tag etwas zu berichten gibt.<br />
Von Panzern und Paschtunen<br />
Eindrücke aus einem unsicheren Land<br />
Von Florian Meesmann<br />
J<br />
edes Mal, wenn wir nach einem knapp<br />
zweistündigen Flug von Neu Delhi nach<br />
Kabul zur Landung ansetzen, hat sich<br />
Afghanistan wieder verändert. Vieles<br />
lässt uns hoffen, der neue Terminal am Flughafen,<br />
der jetzt schon fast ein halbes Jahr steht,<br />
ohne dass er weggesprengt worden wäre, die<br />
Passabfertigung, die – verglichen mit den Verhältnissen<br />
kurz nach dem Amtsantritt Hamid<br />
Karzais 2001 – geradezu geordnet verläuft.<br />
Doch oft müssen wir den Kopf nur ein<br />
bisschen weiter drehen, und jedes Wohlgefühl<br />
ist sofort dahin. Die Flaggen auf Halbmast am<br />
mili tärischen Teil des Flughafens zeigen, dass<br />
auch an diesem Tag wieder ein Soldat gefallen<br />
ist, die Verbarrikadierung der halben Innenstadt<br />
mit meterhohen Betonwällen soll die Menschen<br />
dahinter vor Bomben schützen.<br />
_ Eine gefährliche Reise zum Schaltpunkt<br />
Jede Ankunft in Kabul ist ein getreuer Spiegel<br />
der Lage im Land. An diesem eisig kalten Februartag<br />
zeigt sich die afghanische Hauptstadt<br />
von ihrer düsteren Seite. Am Vormittag haben<br />
die Taliban wieder zugeschlagen, drei Gruppen<br />
von Angreifern haben nahezu gleichzeitig Regierungsgebäude<br />
angegriffen. Erst haben sich<br />
die Selbstmordattentäter mit Maschinengewehren<br />
den Weg frei geschossen, dann haben sie<br />
ihre Sprengstoffwesten gezündet, kurz vor unse <br />
rer Landung. Die Fahrt vom Flughafen zu<br />
unserem Schaltpunkt dauert ewig, dort betreibt<br />
eine türkische Fernsehfirma eine Satellitensendeanlage<br />
(Satellite News Gathering, SNG) für<br />
LiveSchalten und Überspielungen. Die halbe<br />
Von Panzern und Paschtunen A R D - J A H R B U C H 0 9 41
Korrespondentenalltag in Asien kann so<br />
oder so aussehen . . . : Dreharbeiten<br />
auf den Malediven (l.) und beim Kamel-<br />
regiment der Indischen Grenztruppen<br />
in der Wüste Rajasthans<br />
Stadt scheint gesperrt, Sirenen heulen, an den<br />
Straßensperren fuchteln Polizisten und Soldaten<br />
aufgeregt mit ihren Kalaschnikows umher.<br />
Masood, unser Fahrer, ein Tadschike aus dem<br />
PandschirTal, bleibt trotzdem ganz gelassen.<br />
Wir arbeiten seit Jahren mit ihm zusammen, er<br />
hat uns schon oft aus brenzligen Situationen<br />
gerettet. An jeder Straßensperre weiß er, wann<br />
es Zeit ist zu palavern, und wann es Zeit ist,<br />
einfach davonzubrausen. Wie immer fahren<br />
wir in einem älteren, kleinen Auto, das dient<br />
unserem Schutz. »Low profile« nennen das die<br />
Experten, so unaufällig wie möglich bleiben,<br />
heißt die Maxime.<br />
Wir sind froh, als wir den Schaltpunkt erreicht<br />
haben. Der wird zwar nicht gesondert<br />
bewacht, doch Abdulrashid und die anderen<br />
Kollegen der Betreiberfirma kennen wir schon<br />
lange, die meisten kommen aus Afghanistan<br />
oder den angrenzenden zentralasiatischen Republiken,<br />
hier fühlen wir uns sicher.<br />
_ Mit schusssicheren Westen vor der Kamera<br />
Wir nehmen Kontakt auf mit der »Tagesschau«<br />
Redaktion in Hamburg. Die Kollegen bitten<br />
uns um eine LiveSchalte für die Sendungen um<br />
14.oo und um 15.oo Uhr. Richard Holbrooke,<br />
der neue Sondergesandte der Regierung Obama<br />
für die Region, soll morgen kommen, und mit<br />
ihren Anschlägen haben die Taliban die ganze<br />
Schwäche der Regierung Karzai vorgeführt:<br />
Nicht einmal in der Hauptstadt können die<br />
Sicherheitskräfte solche Anschläge verhindern,<br />
das muss unseren Zuschauern erklärt werden.<br />
Für die Schalte ziehen wir unsere schusssicheren<br />
Westen an – unter die Jacke. Die Zuschauer<br />
sollen nichts davon sehen, es würde nur<br />
vom Inhalt ablenken, doch unsere Schaltposition<br />
ist an einer zentralen Kreuzung so exponiert<br />
gelegen, dass – wenn es an diesem Tag weitere<br />
Unruhen geben sollte – die Sache brenzlig<br />
werden könnte.<br />
Unser lokaler Mitarbeiter hat Bilder von den<br />
Anschlagsorten drehen können, doch die werden<br />
wir nur als kurze NiF (Nachricht im Film)<br />
zeigen, denn die Zahl der Opfer liegt deutlich<br />
unter 50, der Nachrichtenwert ist nicht hoch genug,<br />
schließlich gibt es jede Woche Anschläge<br />
mit mehreren Toten.<br />
Am Abend nehmen wir Quartier in einem<br />
kleinen unscheinbaren Guesthouse, wir bewegen<br />
uns in der Stadt so wenig wie möglich, vor<br />
allem nicht morgens zwischen 7.30 und 11.30<br />
Uhr, denn dann werden hier die meisten Anschläge<br />
verübt.<br />
Am nächsten Tag ein Besuch beim stellvertretenden<br />
Botschafter der Bundesrepublik<br />
Deutschland. Die Fensterhöhlen seines Büros<br />
sind mit Holz und Stahl vernagelt, so wie alle<br />
anderen Angestellten der Botschaft arbeitet<br />
42 Artikel A R D - J A H R B U C H 0 9
auch er bei Neonlicht, seit im Januar nahe der<br />
Botschaft eine Autobombe an einem Tankwagen<br />
explodierte. Das Ziel war wohl das gegenüberliegende<br />
amerikanische Camp, an einem<br />
Samstag, die Botschaftsmitarbeiter hatten<br />
Glück. Noch im vergangenen Sommer konnte<br />
man sich einfach am Eingangstor der Botschaft<br />
melden, jetzt umgeben deutlich höhere<br />
Schutzwälle das Gebäude, schwer bewaffnete<br />
Afghanen draußen, deutsche Polizeibeamte mit<br />
Maschinengewehren drinnen, sie schützen die<br />
Botschaft wie eine Festung.<br />
_ Von Kabul nach Kundus<br />
Zwei Tage später verlassen wir Kabul in Richtung<br />
Norden, wir wollen das Feldlager der Bundeswehr<br />
in Kundus besuchen. Noch 2003 haben<br />
wir die gut 250 km lange Strecke mit dem Auto<br />
auf der Straße über den SalangPass zurückgelegt,<br />
heute wäre diese Reise viel zu gefährlich,<br />
die Strecke nördlich des Passes gilt als stark<br />
anschlagsgefährdet, und im Winter wird die<br />
Straße oft gesperrt.<br />
Also reisen wir mit einer Transall, einem<br />
Transportflugzeug der Bundeswehr, nach<br />
MazariSharif, von dort geht es am nächsten<br />
Tag mit einer Zwischenlandung auf dem »Umsteigeflughafen«<br />
der Deutschen in Termez (Usbekistan)<br />
weiter nach Kundus. Die ehemalige<br />
PaschtunenHochburg im usbekischtadschikisch<br />
geprägten Norden Afghanistans hat sich<br />
zu einem Zentrum des Widerstands gegen die<br />
internationale Afghanistanschutztruppe (ISAF)<br />
Ein Flugzeugwrack als Ortsschild:<br />
der Flughafen in Kundus<br />
entwickelt. Seit Oktober 2003 ist die Bundeswehr<br />
dort präsent. Damals konnte man mit<br />
einem Auto am kleinen deutschen Feldlager<br />
vorfahren und wurde in die nur mäßig bewachte<br />
Liegenschaft eingelassen.<br />
Gut 170 Soldaten verfolgten das Konzept<br />
des zivilmilitärischen Wiederaufbaus in einem<br />
so genannten regionalen Wiederaufbauteam<br />
(Provincial Reconstruction Team, PRT): die Region<br />
so sicher machen, dass zivile Helfer den<br />
Wiederaufbau vorantreiben können und die<br />
Ergebnisse dieses Wiederaufbaus schützen. So<br />
will man den Aufständischen die Unterstützung<br />
entziehen und die Region auf Dauer befrieden.<br />
Diese Philosophie des Bundeswehreinsatzes gilt<br />
im Prinzip bis in die Gegenwart, doch die Sicherheitslage<br />
hat sich in den vergangenen sechs<br />
Jahren stark verschlechtert.<br />
Heute legen wir die wenige Hundert Meter<br />
lange Strecke vom Flughafen ins Feldlager in<br />
rasender Fahrt im Bundeswehrkonvoi zurück<br />
und müssen Splitterschutzwesten tragen. Das<br />
Feldlager ist schwer gesichert, häufiger Raketenbeschuss<br />
und Anschläge fordern ihren Tribut.<br />
Inzwischen drängen sich etwa 900 Soldaten in<br />
dem Lager. Immer weniger Wiederaufbauexperten,<br />
immer mehr kampffähige Einheiten, Fallschirmjäger,<br />
auch die Männer des Kommandos<br />
Spezialkräfte (KSK) sind präsent.<br />
_ Von der Schutztruppe zur Kampfeinheit<br />
Ihr Einsatz hat sich immer mehr zur so genannten<br />
Aufstandsbekämpfung entwickelt. Es ist<br />
noch nicht lange her, da wurden Journalisten<br />
vorzugsweise zu Brunnen, Mädchenschulen<br />
oder – zur Not – auch in die Reparaturwerk<br />
Von Panzern und Paschtunen A R D - J A H R B U C H 0 9 43
stätten der Instandsetzungskompanie geführt.<br />
Damals war man bemüht, das Bild eines Wiederaufbaueinsatzes<br />
mit dem »Aufbauhelfer in<br />
Uniform« zu vermitteln.<br />
Nun, im Februar 2009, spüren wir, wieder<br />
einmal, wie sehr sich die Stimmung im Feldlager<br />
Kundus verändert hat. Raketenangriffe gehören<br />
zum Alltag, regelmäßig werden Patrouillen<br />
angegriffen, von Selbstmordattentätern ins<br />
Visier genommen. Ein Großteil der Soldaten<br />
muss regelmäßig aus dem Feldlager heraus auf<br />
Patrouille, die Männer und Frauen kennen die<br />
Gefahr, das erfahren wir in vielen Gesprächen.<br />
In langen Reihen stehen die nur schwach<br />
gepanzerten »Wolf«Jeeps herum, sie werden<br />
kaum noch eingesetzt. Wenn Patrouillen das<br />
Lager verlassen, dann nutzen sie jetzt den<br />
Schützenpanzer »Fuchs« oder den stark gepanzerten<br />
»Dingo«. Vom »Wave and Smile«Konzept<br />
(»Winken und Lächeln«) ist nicht mehr<br />
viel geblieben, es geht jetzt darum, das Leben<br />
der Soldaten zu schützen. Und das wird uns<br />
nun – endlich – auch gezeigt.<br />
_ Mitten im Einsatz<br />
Am Abend des zweiten Tages begleiten wir einen<br />
Spähtrupp der Fallschirmjäger zu einem nächtlichen<br />
Einsatz. Unser Kameramann, Holger<br />
Ackermann, und ich sitzen auf, im Transportpanzer<br />
Fuchs. Um uns herum blicken wir in<br />
Jungengesichter, viele der Fallschirmjäger sind<br />
um die 20, sie sind bewaffnet mit dem G 36<br />
Sturmgewehr, tragen Nachtsichtgeräte. Es ist<br />
ziemlich still während der etwa 30minütigen<br />
Fahrt durch die Dunkelheit, die Anspannung<br />
der jungen Männer ist zu spüren. Sie wissen,<br />
wenn sie das Lager verlassen haben, müssen sie<br />
jederzeit mit einem Angriff rechnen. Am Ufer<br />
des Kundus River sitzen die Männer ab, die<br />
Patrouillenpanzer bilden eine Art provisorische<br />
Wagenburg, in vollkommener Dunkelheit verschwindet<br />
die Kolonne der Fallschirmjäger in<br />
der Nacht. Sie sollen ein verdächtiges Gebäude,<br />
in dem Raketen vermutet werden, »aufklären«,<br />
wie es im Bundeswehrdeutsch heißt, dazu müssen<br />
sie sich an den Rand eines Aufstän dischen<br />
Dorfes pirschen. Ein gefährlicher Einsatz, bei<br />
dem jederzeit geschossen werden kann. Wir<br />
würden die Soldaten im Späheinsatz zusätzlich<br />
in Gefahr bringen, wir bleiben zurück am Fluss.<br />
Die nächste Stunde starren auch wir mit<br />
den Nachtsichtgeräten in die Dunkelheit, hö<br />
Aufnahmen bei Landarbeitern in Indien (o.),<br />
bei einem Vorposten der Bundeswehr<br />
nahe der tadschikisch-afghanischen Grenze<br />
(M.), Interview mit einem Bundeswehr-<br />
Kommandanten in Mazar-i-Sharif<br />
44 Artikel A R D - J A H R B U C H 0 9
en auf jedes Geräusch. Es ist kalt am Kundus<br />
River, und oft ist minutenlang nichts anderes<br />
zu hören als der krächzende Funkverkehr der<br />
Patrouille im Flüsterton. Wir haben unsere<br />
Kamera irgendwie mit dem Nachtsichtgerät<br />
verbunden und können so in der Dunkelheit<br />
drehen, sogar Interviews führen.<br />
Gut zwei Stunden später kehren die Männer<br />
zurück, keine besonderen Vorkommnisse,<br />
kein Beschuss. Vor der Kamera reden sie offen<br />
über ihre Angst beim Einsatz, sie wissen, wenn<br />
sie – wieder einmal – beschossen werden, dann<br />
schießen sie zurück. Feuergefechte gibt es jetzt<br />
immer öfter, die Bundeswehr war nie so nahe<br />
am Kampfeinsatz wie hier in Kundus im Norden<br />
Afghanistans. Weit nach Mitternacht sind<br />
wir zurück, auch wir sind erleichtert, als wir im<br />
Feldlager absitzen können.<br />
_ Verlässliche Partner und korrupte Strukturen<br />
Am nächsten Morgen besuchen wir den Polizeigeneral<br />
von Kundus gemeinsam mit einem<br />
deutschen Polizeibeamten der europäischen Polizeimission<br />
EUPOL, eine Fahrt im gepanzerten<br />
Jeep in die Innenstadt von Kundus.<br />
Stolz präsentiert der General uns und den<br />
lokalen Medien einen frisch Verhafteten, eine<br />
Unterweltgröße der Region. Er soll mit Drogen<br />
und Waffen handeln, aber auch über Verbindungen<br />
zu den Taliban verfügen, dieser Mix gilt<br />
als typisch für diese Gegend. Der Polizeigeneral<br />
lobt sich im Interview für seinen Fahndungserfolg,<br />
General Razaq ist erst wenige Monate im<br />
Amt, die Deutschen sehen in ihm einen verlässlichen<br />
Partner.<br />
Das gilt längst nicht für alle Funktionsträger<br />
in der Region. Viele, so erklären deutsche<br />
Helfer vor Ort immer wieder, suchen die Vorteile<br />
der Anwesenheit der Deutschen, neue<br />
Straßen, neue Brunnen, mit den traditionellen<br />
Geschäftsmodellen, Waffenschmuggel und<br />
Drogenhandel, zu verbinden. Auch der Gouverneur<br />
der Provinz, so sagen die Afghanen,<br />
soll im Zwielicht stehen. Taliban, Drogenmafia<br />
und lokale Kriminelle bilden ein machtvolles,<br />
undurchdringliches Geflecht mit vielen Verbindungen<br />
über die Grenzen hinweg, auch nach<br />
Pakistan und in die angrenzenden zentralasiatischen<br />
Republiken. Und die grassierende Korruption<br />
gefährdet in Kundus wie auch in vielen<br />
anderen Landesteilen Afghanistans den Wiederaufbau<br />
zusätzlich.<br />
Dreharbeiten im indischen<br />
Bundesstaat Orissa<br />
_ Berichte über ereignisreiche Tage<br />
Am Abend sitzen wir in unserer »Stube« im<br />
Feldlager zu dritt, wir haben Glück und müssen<br />
nicht im Zelt schlafen. Hier leben, schlafen<br />
und arbeiten wir in einem DreimannTeam,<br />
hier produzieren wir unsere Stücke für »Tagesschau«<br />
und »Tagesthemen«, das »Morgen« und<br />
das »Mittagsmagazin«. Mangels Alternativen<br />
setzen wir im Norden Afghanistans auf eine<br />
neuartige Übertragungseinheit, das so genannte<br />
BGAN (Broadband Global Area Network, vgl.<br />
Produktion und Technik 2008). Diese Verbindung<br />
eines Laptops mit Schnittprogramm mit<br />
einem leistungsstarken Satellitentelefon macht<br />
es möglich, von überall her Stücke abzusetzen<br />
und auch live zu schalten – solange es Strom<br />
gibt, die Sicherheitslage es erlaubt und die Wolkendecke<br />
einen »Uplink« zum Satelliten nicht<br />
verhindert. Am nächsten Morgen gelingt es<br />
uns, aus Kundus live ins »Morgenmagazin« zu<br />
schalten, nach den Erlebnissen der vergangenen<br />
Tage gibt es in der ausführlichen Schalte viel zu<br />
berichten.<br />
Einen Tag später beginnt die Rückreise ins<br />
über 1 500 km entfernte Neu Delhi, über Termez<br />
(Usbekistan) und MazariSharif reisen wir<br />
zurück nach Kabul, dort übernachten wir noch<br />
einmal, am nächsten Tag fliegen wir zurück<br />
nach Indien, mit dem FLUG IC 844, mit einem<br />
gut 15 Jahre alten Airbus, der jeden Tag einmal<br />
zwischen Kabul und Neu Delhi hin und herpendelt.<br />
In Delhi hat der Frühling schon begonnen.<br />
Florian Meesmann, Auslandskorrespondent<br />
und Leiter des <strong>ARD</strong>-Studios Neu Delhi<br />
Von Panzern und Paschtunen A R D - J A H R B U C H 0 9 45
Der Zar reitet<br />
. . . mitunter auch die Korrespondenten<br />
Von Ina Ruck<br />
Gerd Ruge war 1956 der erste <strong>ARD</strong>-Korrespondent,<br />
der aus Moskau über die Sowjetunion berichtete.<br />
Erst 1967 gelang es der <strong>ARD</strong>, einen zweiten Korrespon-<br />
denten, speziell für das Fernsehen, zu akkreditieren.<br />
Heute betreibt die <strong>ARD</strong> ein Hörfunk- und ein Fernseh-<br />
studio mit jeweils drei Korrespondenten und insge-<br />
samt 40 Mitarbeitern, die über Russland und die Nach-<br />
folgestaaten der UdSSR (außer den baltischen) berichten<br />
– das Gebiet reicht vom Polarkreis im Norden bis<br />
nach Mittelasien im Süden. Ob Tschetschenienkrieg,<br />
die Rolle Putins im globalen Machtgefüge oder die<br />
energiepolitische Entwicklung in der russischen Födera-<br />
tion – die Zuschauer des Ersten werden aktuell und<br />
kompetent informiert, in rund 2 000 Sendeminuten<br />
jährlich.<br />
V<br />
iermal täglich kann man aus den Fenstern<br />
unseres Moskauer Studios ein<br />
Spektakel beobachten. Immer dann,<br />
wenn es plötzlich still wird auf dem<br />
Kutusowskij Prospekt. So still, dass wir die<br />
Fenster öffnen können und dennoch das eigene<br />
Wort noch verstehen. Viermal am Tag nämlich<br />
wird der Kutu gesperrt.<br />
Zweimal morgens, zweimal abends leistet<br />
sich Moskau die Vollsperrung einer sechsspurigen<br />
Ausfallstraße, minutenlang. Aus unseren<br />
Fenstern im 12. Stock blickt man dann nicht in<br />
den üblichen Stau – sondern weit über die<br />
sechsspurige Leere, die sich bis über die Moskva<br />
Brücke hin zum Weißen Haus, dem Sitz der<br />
Regierung, erstreckt. Ganz hinten sieht man die<br />
Kuppel der Erlöserkathedrale, und es ist eine<br />
beinahe himmlische Ruhe.<br />
Irgendwann hört man von Ferne die ersten<br />
Martinshörner, Minuten später rast das erste Polizeiauto<br />
unter unseren Fenstern vorbei. Dann<br />
noch eins, dann noch eins, meist laut hupend.<br />
Dann wieder gar nichts – und schließlich eine<br />
Kolonne schwarzer Wagen, rasend schnell, in<br />
der Mitte hinter versetzt fahrenden Bodyguard<br />
Geländewagen eine lang gestreckte Limousine.<br />
Hat die seitlich vorne eine Standarte aufgesteckt,<br />
sitzt der Präsident im Fond – fehlt die<br />
Fahne, ist es der Premier. Manche sagen, man<br />
erkenne Putin auch daran, dass seine Kolonne<br />
noch schneller fahre als die Medwedews – bis<br />
zu 120 Stundenkilometer.<br />
Gesperrt wird immer dann, wenn Präsident<br />
und Premier zur Arbeit fahren – oder wieder<br />
zurück. Denn der Kutusowskij führt vom Stadt<br />
46 Artikel A R D - J A H R B U C H 0 9
zentrum an unserem Studio vorbei in die vornehmen<br />
Vorstadtsiedlungen im Westen, wo tief<br />
im Wald die so genannten Regierungsdatschen<br />
stehen. Die Herren fahren unregelmäßig, und<br />
sie fahren niemals zusammen. In den verzweigten<br />
Seitenstraßen der Innenstadt staut sich<br />
derweil alles – manchmal dauert es bis zu einer<br />
Stunde, bis sich die Verkehrsknäuel wieder aufgelöst<br />
haben: »Wenn der Zar reitet, wartet das<br />
Volk«, hat mir mal einer gesagt.<br />
Proteste gibt es nicht, nur manchmal schimpfen<br />
sie ein wenig in den voll besetzten Trolleybussen,<br />
die wie gestrandete Frachter am Straßenrand<br />
warten. Ein einziges Mal hörten wir<br />
oben an unseren Fenstern, wie sie unten hupten<br />
– in der kleinen Seitenstraße gegenüber hatte<br />
einer angefangen, immer mehr machten mit.<br />
Aber an den schusssicheren Fenstern der Limousinen<br />
prallen solche Töne ab.<br />
Es gibt vieles, an das man sich gewöhnen<br />
muss hier in Moskau, vieles, das aus westeuropäischer<br />
Perspektive völlig unmöglich wirkt.<br />
Die tägliche Machtdemonstration zur Rush<br />
Hour gehört dazu. Bei uns würde schlicht abgewählt,<br />
wer sich Ähnliches erlaubte. Aber wer<br />
»bei uns«Vergleiche anstellt, hat in Moskau<br />
schon verloren. Also planen wir Dreharbeiten<br />
in der Stadt zeitlich sehr grosszügig – man weiss<br />
ja nie, ob man in einen PräsidentenStau oder<br />
dessen Nachwirkungen kommt. Überhaupt –<br />
Tonmann Sascha Soldatov, Kameramann<br />
Sergej Sergejew und Ina Ruck (v. l.) auf großer<br />
Fahrt mit dem russischen Segelschulschiff<br />
»Krusenstern«<br />
die Jahre des Aufschwungs haben Moskau<br />
so viele Autos beschert, dass die Straßen sie<br />
kaum fassen. Da helfen auch kreativer Umgang<br />
mit Verkehrsregeln oder Abkürzungen durch<br />
Hinterhöfe nichts – wir haben schon mal eine<br />
»Tagesschau«Sendung verpasst, weil Kamerateam<br />
und Drehmaterial am anderen Ende der<br />
Stadt hoffnungslos verkeilt im Stau steckten,<br />
fernab von jeder UBahnStation.<br />
_ Russland rast<br />
Ich kenne Moskau seit den Achtzigern, habe<br />
noch zu Sowjetzeiten hier studiert und damals<br />
als freie Mitarbeiterin im <strong>ARD</strong>Studio gearbeitet.<br />
Später war ich mehrfach als Korrespondentin<br />
ins Studio entsandt – von 1995 bis 2000 und<br />
von 2005 bis 2007. Seit Ende 2008 bin ich zum<br />
dritten Mal hier – in einer Stadt, die sich, so<br />
scheint es, beinahe täglich verändert.<br />
Rasend schnell haben sich Stadt und Land<br />
seit Ende der Achtziger entwickelt – aus den<br />
Ruinen der alten Sowjetunion wuchsen neue<br />
Staaten, jeder mit seinem eigenen schwierigen<br />
Weg vom kommunistischen Kommandostaat<br />
zur wie auch immer gelingenden Demokratie.<br />
Der neue russische Staat ist nicht mal zwanzig<br />
Jahre alt, doch seine Bürger haben in dieser<br />
kurzen Zeit ein Stück Geschichte erlebt, das<br />
anderswo für ein ganzes Jahrhundert reichen<br />
würde. Einen Putsch haben sie abgewehrt, eine<br />
wirtschaftliche »Schocktherapie« durchlitten,<br />
an deren Ende eine umso krassere Spaltung der<br />
Gesellschaft in Reich und Arm stand. Haben<br />
»Russische Mafia«, »Neue Russen«, »Oligarchen«<br />
wachsen und gedeihen sehen, haben zwei<br />
Der Zar reitet A R D - J A H R B U C H 0 9 47
Tschetschenienkriege ertragen, blutige Kriege<br />
gegen die eigenen Mitbürger. Denn Russland<br />
ist längst nicht nur der Staat der Russen. Hier<br />
leben Baschkiren, Tschetschenen, Inguschen,<br />
Dagestaner, Ewenken, Kalmücken und viele<br />
mehr, hier leben Christen, Moslems, Juden,<br />
Buddhisten.<br />
_ Russland reist<br />
Die Bürger der russischen Föderation haben<br />
unter ihrem ersten Präsidenten Jelzin aber auch<br />
eine nie gekannte Pressefreiheit erlebt. Und<br />
mussten dann erfahren, wie diese Freiheit unter<br />
ihrem zweiten Präsidenten Putin wieder eingeschränkt<br />
wurde. Ebenso wie andere demokratische<br />
Institutionen, deren Einrichtung man für<br />
unumkehrbar gehalten hatte: Viele der regionalen<br />
Wahlen sind wieder abgeschafft, die wichtigen<br />
Machtpositionen werden längst wieder<br />
direkt aus dem Kreml besetzt. Der allmächtige<br />
Geheimdienst, den Jelzin zerschlagen hatte, ist<br />
längst wieder die wichtigste Machtstruktur des<br />
Landes, die alte Sowjethymne, von Jelzin durch<br />
eine andere ersetzt, ist wieder eingeführt, und es<br />
gibt wieder eine Partei, deren Mitgliedsausweis<br />
braucht, wer weiterkommen will.<br />
Dennoch – ein Zurück zur Sowjetunion wird<br />
es nicht geben. Dazu ist es längst zu spät. Denn<br />
eine Errungenschaft lassen sich die Bürger Russlands<br />
nicht mehr nehmen: Seit den Neunzigern<br />
können sie ins Ausland reisen, und sie tun das<br />
mit einem regelrechten Hunger auf die Welt.<br />
Ja, wir spotten über sich danebenbenehmende<br />
Russen in türkischen oder ägyptischen Hotels<br />
– ebenso wie man in den Sechzigern über die<br />
Alpenpanorama in Georgien: Ushguli,<br />
Europas höchstes Dorf<br />
Deutschen in Rimini lachte. Aber die Russen<br />
sind längst nicht nur an der türkischen Adria.<br />
Sie studieren im Ausland, machen Sprach und<br />
Bildungsreisen, Städtetrips und TrekkingTouren,<br />
gehen als Aupair oder Austauschschüler<br />
nach Berlin, South Dakota, Marseille. Diese<br />
Erfahrung kann ihnen niemand nehmen, diese<br />
Erfahrung wird das Land auf Dauer nachhaltig<br />
verändern – mehr als die neuen patriotischen<br />
Jugendverbände, die man nach dem Vorbild des<br />
Komsomol wieder eingerichtet hat.<br />
_ Die <strong>ARD</strong> berichtet – mit Tradition<br />
<strong>ARD</strong> und WDR haben in Moskau eine lange<br />
Tradition – der erste ausländische Korrespondent,<br />
der überhaupt hier akkreditiert wurde, war<br />
Gerd Ruge; unser Studio ist das älteste ausländische<br />
Korrespondentenstudio in der Stadt und<br />
bis heute auch das größte. Die Beziehungen zu<br />
den Deutschen waren den Russen traditionell<br />
wichtig, dies ist bis heute so geblieben, obwohl<br />
auch wir keine Extrawürste gebraten bekommen,<br />
wenn es um den Zugang zu Kreml oder<br />
Weißem Haus geht – oder überhaupt um den<br />
Zugang zu verwertbaren Informationen. Der ist<br />
noch immer extrem schwierig, auch wenn sich<br />
vieles gebessert hat.<br />
Wer westliche Pressearbeit mit Pressesprecher,<br />
Öffentlichkeitsarbeit, regelmäßigen Briefings<br />
oder gar Hintergrundgesprächen gewohnt<br />
ist, war hier jahrelang aufgeschmissen. Informationen<br />
gab es sporadisch, man fand sie zwischen<br />
den Zeilen oder bekam sie bei gutem Betragen<br />
als Belohnung serviert. Vor allem in den<br />
PutinJahren übten sich Korrespondenten, ähn<br />
Tonmann Wenjamin Sacharow auf den<br />
Ölfeldern im russischen Norden<br />
48 Artikel A R D - J A H R B U C H 0 9
Rückflug aus dem sibirischen Tschita: Die<br />
Fluglinie heißt »Russischer Himmel«, und<br />
wer zuerst kommt, hat den besten Platz<br />
lich wie zu Sowjetzeiten, in »KremlAstrologie«,<br />
weil sie kaum über zuverlässige Informationen<br />
verfügten.<br />
_ Pressearbeit aus dem Westen<br />
Erst seit ein paar Jahren ändert sich das – Präsident<br />
und Premier haben westliche PRFirmen<br />
engagiert, die einen Teil der Öffentlichkeitsarbeit<br />
übernehmen. Und so bekommt man neuerdings<br />
Anrufe von einer Brüsseler Agentur, die<br />
einen zur Telefonkonferenz mit Putins Pressesprecher<br />
weiterschaltet. Ab und an organisieren<br />
die smarten europäischen UniAbsolventen, die<br />
für die Agentur arbeiten, in Moskauer Restaurants<br />
Hintergrundgespräche mit Entscheidungsträgern.<br />
Auch wenn die dann kaum Hintergründiges<br />
erzählen: Noch vor ein paar Jahren wäre<br />
so etwas undenkbar gewesen. PRAgenturen<br />
leisten sich übrigens auch andere postsowjetische<br />
Staaten – sichtbar im Georgienkrieg, als<br />
beide Seiten ihre Öffentlichkeitsarbeit von<br />
westlichen Agenturen abwickeln ließen.<br />
Die <strong>ARD</strong> betreibt in Moskau ein Hörfunk<br />
und ein Fernsehstudio mit jeweils drei Korrespondenten.<br />
Insgesamt 40 Russen und Deutsche<br />
arbeiten im Studio am Kutuzowskij Prospekt,<br />
die meisten sind mehr oder weniger zweisprachig,<br />
unsere Arbeitssprache ist ein fröhliches<br />
Kauderwelsch aus Russisch und Deutsch. Das<br />
Studio liegt in einer »Ausländerwohnanlage« –<br />
zu Sowjetzeiten mussten Ausländer in einer der<br />
extra für diesen Zweck errichteten Siedlungen<br />
in der Stadt wohnen. Ob die Abhöranlagen aus<br />
der damaligen Zeit noch genutzt werden, wissen<br />
wir nicht – die Kabel und Mikrofone sind<br />
jedenfalls alle noch an Ort und Stelle. Längst<br />
kann man auch frei in der Stadt Büroräume<br />
oder Wohnungen mieten. Wir haben diesen<br />
Schritt bisher gescheut – vor allem, weil ein<br />
Umzug unserer kompletten Sendetechnik sehr<br />
aufwändig wäre.<br />
Zum Berichtsgebiet des Studios zählt nicht<br />
nur Russland, sondern wir berichten über fast<br />
alle Nachfolgestaaten der Sowjetunion – mit<br />
Ausnahme der baltischen, die wurden bei der<br />
»Zerteilung des Fells« der alten Sowjetunion<br />
dem SkandinavienStudio des NDR zugeschlagen.<br />
_ Die Korrespondenten reiten . . .<br />
Wir müssen uns also in all diesen Staaten irgendwie<br />
auskennen, müssen irgendwie überall<br />
mal gewesen sein, irgendwie den Ereignissen<br />
dort folgen. In den wichtigsten Staaten und<br />
russischen Regionen haben wir freie Mitarbeiter<br />
oder Informanten, so genannte Stringer, die<br />
Reisen unter erschwerten Bedingungen:<br />
Auf einer Zugfahrt des <strong>ARD</strong>-Teams in Sibirien<br />
kontrollieren die Schaffnerinnen jedes<br />
Gepäckstück.<br />
Der Zar reitet A R D - J A H R B U C H 0 9 49
Interview mit russischen Touristen an der<br />
türkischen Küste, im Hintergrund ein dem<br />
Kreml nachempfundenes Hotel<br />
uns auf dem Laufenden halten oder bei Bedarf<br />
mit Informationen versorgen. Und wir verbringen<br />
viel Zeit auf Reisen – die manchmal sehr<br />
aufwändig sind. An die russische Pazifikküste<br />
fliegt man zehn Stunden, um den Aralsee in<br />
Kasachstan zu erreichen, braucht man zwei<br />
Tage, in georgische Bergdörfer ist man noch<br />
länger unterwegs. Man fliegt bisweilen mit wenig<br />
vertrauenerweckenden Airlines – obwohl<br />
die schlimmsten Zeiten der so genannten Babyflots<br />
vorbei sind. Damals war die staatliche<br />
Aeroflot in noch mehr Teile zerfallen als die<br />
Sowjetunion selbst, und findige Geschäftsleute<br />
machten aus jeder Tupolew eine neue Fluggesellschaft.<br />
Man fährt mit Nachtzügen, man<br />
chartert Militärhubschrauber, man reitet auf<br />
Pferden, die nur auf Befehle ihrer kirgisischen<br />
oder georgischen oder kasachischen Besitzer<br />
reagieren. Das alles ist anstrengend, manchmal<br />
nicht ungefährlich – aber es macht auch einen<br />
Riesenspaß.<br />
Kirgisistan, Moldawien, Armenien gehören<br />
zu unserem Beritt, aber auch so wichtige Staaten<br />
wie die Ukraine oder Aserbaidschan. Einer<br />
der Korrespondenten ist meistens unterwegs,<br />
und dennoch schaffen wir es nicht, alle Staaten<br />
regelmäßig zu besuchen. Dabei wird die postsowjetische<br />
Landschaft interessanter und differenzierter,<br />
je mehr Zeit vergeht. In manchen<br />
Gegenden Mittelasiens verstehen nur noch die<br />
Alten Russisch, in vielen Staaten ist das kyrillische<br />
Alphabet abgeschafft, manche beziehen<br />
sich auf ihre vorkommunistischen Traditionen.<br />
Was in den seltensten Fällen positiv ist – im<br />
ländlichen Tadschikistan etwa besuchen immer<br />
weniger Mädchen die Schule, in manchen Gegenden<br />
des Kaukasus werden archaische Sitten<br />
wie Blutrache und Brautraub wieder praktiziert.<br />
Wir sind eine eingeschworene Gemeinschaft<br />
in unserem Studio – das bleibt nicht aus, wenn<br />
man auf Dienstreisen gemeinsam in schäbigen<br />
Unterkünften übernachtet oder tagelang auf Polarstationen<br />
in arktischer Dunkelheit verbringt.<br />
Ob Kameramann, Korrespondentin, Producerin,<br />
Techniker oder Cutter – der Job hier ist<br />
anstrengend. Aber es ist auch einer der interessantesten<br />
und schönsten Jobs, den die <strong>ARD</strong> zu<br />
vergeben hat.<br />
50 Artikel A R D - J A H R B U C H 0 9<br />
Ina Ruck, Auslandskorrespondentin<br />
und Leiterin des <strong>ARD</strong>-Studios Moskau
1998 eröffnete die <strong>ARD</strong> – nach Washington und New<br />
York – einen weiteren Korrespondentenplatz in den USA.<br />
Das <strong>ARD</strong>-Studio Los Angeles liefert seither – unter<br />
Federführung des HR – Informationen von der Westküste<br />
der USA, vor allem aus Kalifornien und Hollywood, für<br />
den <strong>ARD</strong>-Hörfunk und das Deutschlandradio.<br />
Los Angeles, nach New York die zweitgrößte Stadt der<br />
USA, ist Wirtschafts-, Geschäfts- und Kulturzentrum<br />
Kaliforniens und weltgrößter Standort für die Flugzeug-<br />
und Raumfahrtindustrie. Die Berichterstattung aus<br />
Hollywood ist für ein breites Publikum besonders attrak-<br />
tiv – der Stadtteil von Los Angeles gilt nach wie vor<br />
als Synonym für die US-amerikanische Filmindustrie.<br />
Das Themenspektrum des <strong>ARD</strong>-Studios aber reicht<br />
von der fortschrittlichen kalifornischen Umweltpolitik<br />
über die neuesten Entwicklungen aus Silicon Valley<br />
bis hin zu den Storys aus der Traumfabrik.<br />
Los Angeles – mehr als nur Traumfabrik<br />
Berichterstattung aus einem der größten Ballungsräume der Welt<br />
Von Jan Tussing<br />
E<br />
s stimmt. Wer morgens in Kalifornien<br />
den Tag beginnt, der kann sich ein<br />
Lächeln nicht verkneifen. Die Surfer<br />
überqueren mit dem Sonnenaufgang<br />
barfuß die noch ruhigen Straßen von Santa<br />
Monica – ihre Surfbretter unterm Arm –, das<br />
Blau am Himmel verspricht einen warmen Tag.<br />
Der Tag für den Korrespondenten verspricht indessen<br />
vor allem arbeitsreich zu werden. Auch<br />
wenn das <strong>ARD</strong>-Studio im malerischen Santa<br />
Monica liegt, von dem Treiben am Strand oder<br />
in den Straßencafés bekommt der Korrespondent<br />
nicht viel mit. Es ist 6.30 Uhr, wenn der<br />
Computer hochfährt und die in der Nacht eingelaufenen<br />
Mails abgerufen werden.<br />
Der Zeitunterschied von neun Stunden bedeutet<br />
ein chronisches und chronologisches<br />
Hinterherlaufen. Die Redaktionen in Deutschland<br />
bereiten sich auf den Abend vor, in Kalifornien<br />
dagegen müssen die Nachrichten erst<br />
noch geschrieben werden. Vor 9.00 Uhr früh<br />
passiert in der Acht-Millionen-Metropole aber<br />
in der Regel gar nichts. Die fünfspurigen Stadtautobahnen<br />
sind noch voll von den genervten<br />
Pendlern, die nach Downtown fahren müssen,<br />
wo die Bürohochhäuser stehen.<br />
_ Das Studio Los Angeles:<br />
einer der gefragtesten Korrespondentenplätze<br />
Obwohl das Studio Los Angeles innerhalb der<br />
<strong>ARD</strong> noch relativ jung ist – es wurde erst vor<br />
zehn Jahren gegründet –, ist es doch inzwischen<br />
ein fester und stark nachgefragter Bestandteil<br />
Mehr als nur Traumfabrik A R D - J A H R B U C H 0 9 51
der Radio-Berichterstattung geworden. Das liegt<br />
nicht zuletzt an der überaus reichen Themenvielfalt<br />
und dem großen Berichtsgebiet. Alles,<br />
was an der Westküste der USA geschieht, behält<br />
der Korrespondent im Auge. Umweltschutz<br />
und Klimawandel in Alaska, die Video-Spiele-<br />
Industrie in Washingtons Hauptstadt Seattle,<br />
die Investitionen in erneuerbare Energien in<br />
Oregon und selbstverständlich Kalifornien.<br />
Die Geschehnisse in dem US-Bundesstaat von<br />
Gouverneur Arnold Schwarzenegger sind sehr<br />
vielfältig.<br />
In Abgrenzung zu den Gruppenstudios in<br />
Washington konzentriert sich das Studio Los<br />
Angeles mehr auf die Unterhaltungs- und Wirtschaftsthemen.<br />
Es ist wohl der einzige Platz innerhalb<br />
des <strong>ARD</strong>-Korrespondentennetzes, der<br />
weniger mit außenpolitischen Themen zu tun<br />
hat, dafür aber alles abdecken kann und muss,<br />
was unter die Rubrik »Unterhaltung« fällt. Die<br />
Hollywood- und Unterhaltungsberichterstat-<br />
51. Grammy-Verleihung in Los Angeles am<br />
8. 2. 2009, eines der vielen großen Events der<br />
US-amerikanischen Unterhaltungsindustrie.<br />
Im Bild: Alison Krauss und Robert Plant<br />
tung machen etwa ein Drittel des gesamten<br />
Outputs des Studios aus. Los Angeles versucht<br />
sich als Schnittstelle zwischen den Magazinredaktionen<br />
in Deutschland und der Kino-,<br />
Film- und Medienbranche von Los Angeles zu<br />
positionieren.<br />
Hörfunkwellen wie 1LIVE (WDR), N-JOY<br />
(NDR), Bremen Vier, MDR SPUTNIK und<br />
WDR 2 sind die größten Nachfrager nach Themen<br />
rund um Hollywood: Chris Brown vor<br />
Gericht, die Geburt von Achtlingen oder Lindsey<br />
Lohans Liebesleben lassen den einen oder<br />
anderen Redakteur sofort zum Hörer greifen,<br />
um ein Live-Gespräch anzufragen. Als Britney<br />
Spears nachts von Paparazzi ins Krankenhaus<br />
begleitet wird, klingelt um 1.00 Uhr nachts das<br />
Handy Sturm. Der Korrespondent wird sofort<br />
in die Sendung geschaltet. Überhaupt finden<br />
viele Live-Gespräche abends statt, denn aufgrund<br />
der Zeitverschiebung wollen die Hörfunkwellen<br />
meistens eine Berichterstattung in<br />
ihren Frühsendungen.<br />
Auch viele andere Redaktionen und Wellen<br />
der <strong>ARD</strong> sind dankbare Abnehmer für bunte<br />
Themen – ob Musikevents wie das Coachella<br />
Festival, Technikmessen wie die CES in Las<br />
Vegas oder Filmfestivals wie das Sundance Film<br />
Festival in Park City, Utah. Der <strong>ARD</strong>-Platz Los<br />
Angeles ist neben London und New York die<br />
wohl wichtigste Kunst- und Kino-, aber auch<br />
Wirtschaftsmetropole der Welt.<br />
Das zeigt sich jedes Jahr besonders deutlich,<br />
wenn die Filmsaison beginnt und die Preise<br />
verliehen werden. Im Januar und Februar fiebern<br />
alle Kinofans auf die Emmys, Grammys,<br />
Golden Globes und Oscars hin. Während dieser<br />
Zeit bleibt kaum Gelegenheit für andere<br />
Themen. An den Tagen der Verleihung – in der<br />
52 Artikel A R D - J A H R B U C H 0 9<br />
Der frühe Tod Michael Jacksons am 25. 6. 2009:<br />
Informationen und Hintergrundberichte<br />
aus der Welt der Stars sind nicht zuletzt bei<br />
Pop- und Jugendwellen sehr gefragt.
Jan Tussing und seine Mitarbeiterin Christine<br />
Schacht im <strong>ARD</strong>-Studio Los Angeles<br />
Regel immer am Wochenende – wird eine Dauerleitung<br />
zwischen dem Studio in Los Angeles<br />
und den Wellen in Deutschland eingerichtet.<br />
Eine besondere Schwierigkeit ist hier, dass die<br />
glamourösen Events zwar in Los Angeles am<br />
Nachmittag stattfinden, aber nicht zeitgleich an<br />
der Westküste übertragen werden. Um die Werbeeinnahmen<br />
zu maximieren, strahlen die Fernsehsender<br />
die Verleihung der Golden Globes<br />
und der Emmys zuerst an der Ostküste in New<br />
York aus und erst rund drei Stunden später<br />
dann in Kalifornien. Für die Berichterstattung<br />
bedeutet das Atemlosigkeit. Die Redaktionen in<br />
Deutschland sehen das Ereignis früher als der<br />
Korrespondent vor Ort. Wegen der neunstündigen<br />
Zeitdifferenz hinkt das Studio Los Angeles<br />
wieder einmal hinterher. Eine schwierige<br />
Situation, die sich nur durch intensive Bemühungen<br />
und mit großem Stress meistern lässt.<br />
_ Los Angeles – die Heimat vieler kreativer Köpfe<br />
Film, Kino, Fernsehen und sonstige Medien<br />
sind für das Studio Los Angeles sehr bedeutsam.<br />
Neue Sendungen und Formate werden in<br />
der Regel in Hollywood geschaffen. Hier sitzen<br />
die kreativen Köpfe der USA, die mit ihren<br />
Ideen bestimmen, welche neuen Sendungen die<br />
Amerikaner – und schließlich der Rest der Welt<br />
– zu sehen bekommen. Hier werden Trends gesetzt,<br />
und die virtuelle Welt der Medien ist für<br />
die meisten Kalifornier die Realität des Alltags.<br />
Zu den wesentlichen Aufgaben des Korrespondenten<br />
gehört daher Fernsehengucken und ins<br />
Kino Gehen.<br />
Ein Durchschnittsamerikaner ist an der Karriere<br />
und dem Privatleben von Filmstars viel<br />
mehr interessiert als ein Durchschnittsdeutscher.<br />
Reality-TV ist ein fester Bestandteil des<br />
Alltags in den USA, und es erstaunt so manchen<br />
Menschen, dass die Sendung »American<br />
Idol« (das amerikanische Pendant zu »Deutschland<br />
sucht den Superstar«) im Durchschnitt von<br />
30 Millionen Menschen geschaut wird. Fernsehserien<br />
wie »Californication«, »Beverly Hills,<br />
90210«, »Real Housewives« und »True Blood«<br />
waren in den USA bereits ein großer Hit, bevor<br />
sie schließlich nach Deutschland kamen. Das<br />
Studio Los Angeles ist daher stetig bemüht, sich<br />
so viel Wissen über die Filmbranche anzueignen<br />
wie möglich.<br />
_ . . . – das wirtschaftliche Powerhouse der USA<br />
Los Angeles und Kalifornien sind aber auch in<br />
wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht<br />
das Powerhouse der USA. Facebook, Google<br />
und Twitter schreiben Medien- und Wirtschaftsgeschichte.<br />
Microsoft, Apple, Intel und Oracle<br />
sorgen für handfeste Schlagzeilen – und nicht<br />
zu vergessen die Videospiele-Industrie von<br />
Seattle, die Biotech-Szene von San Diego und<br />
die Start-Up-Unternehmen im Silicon Valley.<br />
Hier haben unzählige Global Player der<br />
Weltwirtschaft ihren Firmensitz. Gouverneur<br />
Arnold Schwarzenegger würde auf jeden G8-<br />
Dr. Gerard Fryer (l.) informiert über das Pacific<br />
Tsunami Warning Center (PTWC) in Ewa<br />
Beach auf Hawaii, das für die internationale<br />
Tsunami-Vorhersage und die Warnung der Bevölkerung<br />
im Pazifikraum zuständig ist.<br />
Mehr als nur Traumfabrik A R D - J A H R B U C H 0 9 53
Auch im Frühsommer 2009 wüteten wieder<br />
heftige Waldbrände in Kalifornien.<br />
Korrespondent Jan Tussing (M.) interviewte<br />
Brandopfer in San Diego.<br />
Gipfel eingeladen werden, wäre Kalifornien ein<br />
eigenständiger Staat. Auf der CeBIT in Hannover<br />
hat er das Gastland Kalifornien schließlich<br />
vertreten.<br />
Dementsprechend groß ist das Interesse<br />
der deutschen Radiowellen an ausführlicher<br />
Wirtschaftsberichterstattung. Auch hier gilt: Es<br />
ist fast unmöglich, allen Entwicklungen und<br />
Ereignissen in der Region gerecht zu werden.<br />
Gerichtsurteile gegen YouTube, Streitereien<br />
zwischen SAP und Oracle, neue Internetdienste<br />
von Twitter und MySpace, neue Anwendungen<br />
von Apple und Google, Aktionärsstreitigkeiten<br />
und Fusionsgerüchte, bahnbrechende Studien<br />
in der Stammzellforschung und Erfolge beim<br />
Klonen von Tieren. Die Bandbreite der Themen<br />
spiegelt den reichen Industriestaat Kalifornien<br />
wider.<br />
_ . . . – das Paradies der Deutschen<br />
Überhaupt ist Kalifornien eine den Deutschen<br />
sehr vertraute Region. Das liegt daran, dass<br />
hier sehr viele Deutsche leben und täglich<br />
mehr dazukommen. Aber es liegt auch an<br />
der Geschichte der Stadt Los Angeles, die mit<br />
Deutschland seit mehr als einem Jahrhundert<br />
sehr eng verbunden ist. In den 1930er Jahren<br />
trafen sich Thomas Mann, Lion Feuchtwanger,<br />
Bertolt Brecht und andere vor den Nazis<br />
emigrierte Intellektuelle in Pacific Palisades<br />
zum Stammtisch. Roland Emmerich, Werner<br />
Herzog, Bernd Eichinger und viele andere<br />
Deutsche drücken Hollywood heute ihren<br />
Stempel auf. Thomas Gottschalk, Elke Sommer<br />
und Cornelia Funke ziehen sich in die Berge<br />
von Los Angeles zur Erholung zurück. Ist es<br />
übertrieben zu behaupten, dass Kalifornien die<br />
beliebteste Region der Deutschen außerhalb<br />
Europas ist?<br />
Durch Urlaube, Arbeitsaufenthalte und das<br />
deutsche Fernsehen – fast jeder Deutsche hat<br />
ein Bild von Kalifornien. Wohl kein Land,<br />
keine Shows, keine Musiker, keine Schauspieler<br />
und Künstler interessieren die Deutschen so<br />
sehr, wie wenn sie aus Kalifornien kommen.<br />
Dieser Bundesstaat ist nach der Schweiz und<br />
Österreich das Land, in das die meisten Deutschen<br />
auswandern.<br />
Kein Wunder, dass die deutschen Redaktionen<br />
Themen von der amerikanischen Westküste<br />
denen aus anderen Regionen vorziehen. Hinzu<br />
kommt: Hörfunkwellen haben eigene Ideen<br />
und Wünsche an den Korrespondenten. Jeden<br />
Morgen sind in der Mailbox des Studios etliche<br />
Rückrufwünsche und Themenanregun gen. Das<br />
Schöne daran ist, dass sich der Korrespondent<br />
schnell in die wildesten Geschichten einarbeiten<br />
darf. Er lernt über die Weinarchitektur kalifornischer<br />
Weingüter genauso viel wie über die<br />
alternden Groupies ehemals berühmter Rockbands<br />
oder das 25-jährige Jubiläum der TV-Serie<br />
»Dallas«. Der Nachteil hingegen: Die Arbeitszeit<br />
des Korrespondenten lässt sich kaum begrenzen.<br />
Die Redakteure wenden sich mit Ideen<br />
54 Artikel A R D - J A H R B U C H 0 9<br />
Blick auf Los Angeles an der Bucht von Santa<br />
Monica des Pazifischen Ozeans. Der Großraum<br />
Los Angeles gehört zu den Gebieten mit<br />
der höchsten Luftverschmutzung in den USA.
Jan Tussing auf dem Mauna Kea, dem<br />
heiligen Berg der Hawaiianer. Der 4 200 m<br />
hohe Vulkan beherbergt eines der bedeutendsten<br />
astronomischen Observatorien<br />
der Welt, dessen Teleskope von Institutionen<br />
und Universitäten aus elf Nationen<br />
betrieben werden.<br />
und Themenvorschlägen nahezu rund um die<br />
Uhr an das Studio, das – anders als fast<br />
alle anderen <strong>ARD</strong>-Plätze – mit nur einem<br />
Korrespondenten besetzt ist. Die Folge: Der<br />
Korres pondentenalltag mutiert zum Fabrikdasein.<br />
Der Korrespondent arbeitet wie am<br />
Fließband, und hätte er nicht eine Assistentin,<br />
die im Grunde viele Aufgaben einer Producerin<br />
wahrnimmt, wäre die tägliche Flut der Anfragen<br />
kaum zu stemmen.<br />
_ Wie heißt der Plural von Spagat<br />
oder was »muss« und was »kann«?<br />
Weil auch in den Redaktionen in Deutschland<br />
die finanziellen und personellen Mittel knapp<br />
sind, werden die Auslandsstudios gerne zum<br />
verlängerten Arm der Redaktionen daheim um-<br />
funktioniert. Sehr oft kommen Anfragen auf<br />
das Studio Los Angeles zu, die nicht wirklich<br />
dringend sind: Jahrestage, Geburtstage, Todestage<br />
und Jubiläen: Zehn Jahre Umweltkatastrophe<br />
in Alaska, ausgelöst durch den Öltanker<br />
»Exxon Valdez«, der 50. Geburtstag von Madonna,<br />
Prince und Michael Jackson, der 87. Geburtstag<br />
von Doris Day etc.<br />
Weil die Nachfrage der Redaktionen die Kapazität<br />
des Korrespondenten um ein Vielfaches<br />
übersteigt, gehört der Spagat zu den täglichen<br />
Übungen des Studios Los Angeles. Der Spagat<br />
zwischen den angefragten »Kann«-Themen und<br />
den »Muss«-Themen und natürlich auch der<br />
Spagat zwischen der benötigten Recherche und<br />
der Anzahl der machbaren Stücke. Viele der<br />
Themen erfordern einen Mindestaufwand an<br />
qualitätsvoller Recherche. Und viele Themen<br />
sind sehr komplex. Neue Erfolge bei der Krebstherapie,<br />
das Klonen von Tieren oder die Folgen<br />
der Wasserknappheit in Kalifornien – solche<br />
Recherchen brauchen viel Zeit. Wenn die<br />
Zeit hinzugezählt wird, die eine Fahrt zum Gesprächspartner<br />
dauert (und das bei der Verkehrsdichte<br />
der Metropole Los Angeles), so kommt<br />
nicht selten ein Hauch von Atemlosigkeit in die<br />
Berichterstattung.<br />
_ Infotainment – in Kalifornien wird es gelebt<br />
Anders als in deutschen Redaktionen liegen im<br />
Studio Los Angeles morgens nicht zehn lokale<br />
und überregionale Tageszeitungen auf dem<br />
Redaktionstisch. Sondern es kommen täglich<br />
nur zwei: die »LA Times« und die »New York<br />
Times«. Bei beiden Zeitungen ist die Berichterstattung<br />
über Kalifornien eher flach, und überregionale<br />
Themen sind selten. Anregungen und<br />
Ideen zu Geschichten kommen daher weniger<br />
aus der amerikanischen als vielmehr aus der<br />
deutschen Presse. Das klingt überraschend, aber<br />
»Spiegel online«, die »Süddeutsche Zeitung«,<br />
Mehr als nur Traumfabrik A R D - J A H R B U C H 0 9 55
das »Handelsblatt« und die »Neue Zürcher Zeitung«<br />
sind oft besser und schneller informiert<br />
als die amerikanischen Medien.<br />
Das Sterben der amerikanischen Tageszeitungen<br />
spiegelt den Zustand des amerikanischen<br />
Journalismus in der Krise wider. Amerikaner<br />
lesen immer seltener eine Zeitung. Der<br />
Print-Journalismus stirbt langsam aus. Auch<br />
gibt es keine Nachrichtensendungen im Fernse-<br />
Auf der Landstraße von Honolulu in den Norden<br />
demonstrierten Hawaiianer für mehr<br />
Selbstbestimmung und die Rückkehr zum<br />
früheren Königreich Hawaii.<br />
hen, die kompakt wie die »Tagesschau« im Ersten<br />
einen Überblick bieten. Das lokale Begleitprogramm<br />
des regionalen Fernsehens KTLA<br />
zum Beispiel wird von drei sich amüsierenden<br />
Moderatoren im Plauderton bestritten und<br />
besteht aus drei festen Blöcken: den Verkehrsnachrichten<br />
aus dem Helikopter, den Unterhaltungsnachrichten<br />
aus Hollywood und natürlich<br />
der Werbung. Harte Fakten sind Mangelware.<br />
_ Gute Zusammenarbeit mit den Pressestellen<br />
Zum Glück gibt es in den USA aber eine Vielzahl<br />
von anderen Quellen: die Pressestellen<br />
von Unternehmen, Universitäten und anderen<br />
Institutionen. In kürzester Zeit werden geeignete<br />
Gesprächspartner mobilisiert, die sich zu<br />
den unterschiedlichsten Themen äußern. Pro-<br />
fessoren an den Universitäten sind kurzfristig<br />
zu einem Interview bereit. Der renommierte<br />
Thinktank – das Milken Institute – ist nur<br />
einen Steinwurf vom Studio entfernt, und die<br />
Bandbreite der in Los Angeles ansässigen Institutionen<br />
ist so groß, dass es kein Problem<br />
bereitet, Stimmen zu wirklich jedem Thema<br />
einzufangen.<br />
Allein die Promis von Hollywood scheuen<br />
sich vor Interviews, und es dauert oft sehr lang,<br />
bis das Studio Los Angeles einen Star zu sehen<br />
bekommt. Jeder Schauspieler der Stadt hat<br />
nämlich einen Agenten, und dessen Aufgabe<br />
ist es, Journalisten abzuwehren. Zum Ärger des<br />
Korrespondenten. Denn der bei den deutschen<br />
Hörern beliebte Klatsch und Tratsch kommt<br />
nur aus den Hunderten US-amerikanischer<br />
Entertainment-Sendungen.<br />
Die Vorstellungen vieler Kollegen aus den<br />
Redaktionen, das Studio Los Angeles habe<br />
direkten Zugang zu den Stars, ist leider falsch.<br />
Das heißt nicht, dass man die Stars nicht dennoch<br />
sieht. Allein – man muss sie erkennen.<br />
Emile Hirsch aus dem Film »Into the Wild«<br />
sitzt mit seinem Fitnesstrainer beim Mittagessen<br />
in Santa Monica auf der Straße, Robert Downey<br />
Junior geht im Stadtteil Venice abends mit<br />
seiner Freundin zu einer Vernissage. Und Meg<br />
Ryan sitzt in einer stillen Ecke im Urth Caffé<br />
vor ihrer Tasse Tee. Die Promis, sie sind alle hier.<br />
Die Kunst des Studios Los Angeles ist es dagegen,<br />
sich zu ihnen Zugang zu verschaffen.<br />
Aber wenn sich der Arbeitstag dem Ende zuneigt,<br />
dann sind die Stars alle schon längst wieder<br />
daheim in ihren Villen in Hollywood Hills.<br />
Oder bei den Partys in Beverly Hills (auf deren<br />
Gästeliste das Studio Los Angeles leider nicht<br />
steht). Aber die Nacht für den Korrespondenten<br />
ist sowieso kurz, denn die deutschen Redaktionen<br />
sind bereits erwacht, und die E-Mails laufen<br />
ein. Das Studio Los Angeles ist schließlich<br />
einer der gefragtesten Plätze in der <strong>ARD</strong>.<br />
Jan Tussing,<br />
<strong>ARD</strong>-Hörfunk-Korrespondent<br />
im Studio Los Angeles<br />
56 Artikel A R D - J A H R B U C H 0 9
Neubrandenburg am nordöstlichen Rand der Republik,<br />
das ist eigentlich ganz weit weg. Kaum Industrie,<br />
die Region hat die höchste Arbeitslosigkeit in Deutsch-<br />
land, vor allem junge Leute wandern ab aus dem<br />
Gebiet im Nordosten, nahe der polnischen Grenze.<br />
Vorurteile gibt es viele. Die Mitarbeiter des<br />
Haff-Müritz-Studios des NDR in Neubrandenburg kennen<br />
sie nur zu gut – und wissen sie zu entkräften.<br />
Modern und grenzüberschreitend<br />
Das Haff-Müritz-Studio berichtet aus der deutsch-polnischen Grenzregion<br />
Von Michael Elgaß und Steffen Münch<br />
N<br />
DR-Haff-Müritz-Studio Neubrandenburg,<br />
guten Tag« – wenn Mitarbeiter<br />
mit dieser Begrüßung ein Landesfunkhaus<br />
oder Studio im weiten<br />
<strong>ARD</strong>-Verbund anrufen, erhalten sie nicht selten<br />
die freundliche, aber verwirrte Nachfrage:<br />
»NDR-Studio Neu-was?« Brandenburg kennen<br />
die meisten, zumindest als Bundesland, Neubrandenburg<br />
aber ist vielen nicht geläufig.<br />
Die Themen zu Land und Leuten sind eben so<br />
vielfältig wie in den anderen Studios des NDR<br />
bzw. der <strong>ARD</strong>. Immerhin liegt das Zentrum<br />
der Region, die Stadt Neubrandenburg, nur 120<br />
Kilometer nördlich von Berlin. In der backsteinernen<br />
Konzertkirche der so genannten Vier-<br />
Tore-Stadt gastieren Weltstars und spielen CDs<br />
ein – nicht täglich, aber regelmäßig.<br />
Und zur Region gehört natürlich die Müritz,<br />
der zweitgrößte Binnensee Deutschlands.<br />
Tausende Urlauber zieht es Jahr für Jahr zur<br />
Mecklenburgischen Seenplatte zum Radfahren,<br />
Paddeln oder Wandern. Das Wildtierland Klepelshagen<br />
am Rand der Uckermark ist eines der<br />
größten Schutzgebiete für den Hirsch. In der<br />
Feldberger Seenlandschaft lebte unter anderem<br />
der Schriftsteller Hans Fallada.<br />
In der Haff-Müritz-Region werden hochmoderne<br />
Fahrzeugheizsysteme und Nahrungsgütermaschinen<br />
entwickelt und gebaut, die Eisengießerei<br />
in Torgelow hat durch die Qualität<br />
ihrer Produkte in den letzten Jahren im In- und<br />
Ausland Auftraggeber gewinnen können.<br />
All das sind Themen, die sich in der Berichterstattung<br />
widerspiegeln. Radio- und Fernsehbeiträge<br />
werden täglich für die Programme des<br />
Modern und grenzüberschreitend A R D - J A H R B U C H 0 9 57
58<br />
NDR produziert und bei Bedarf allen anderen<br />
Sendeanstalten der <strong>ARD</strong> im Programmaustausch<br />
angeboten.<br />
_ Vorreiter in der bimedialen Arbeitsweise<br />
Das Studio Neubrandenburg war eines der<br />
ers ten im NDR, in denen Kollegen bimedial<br />
gearbeitet haben. Gemeinsam planen Hörfunk<br />
und Fernsehen die Beiträge. Je nach Anforderung<br />
recherchiert ein Kollege ein Thema und<br />
bearbeitet es im Idealfall für beide Medien. Dadurch<br />
kann die Berichterstattung intensiver und<br />
hintergründiger gestaltet werden.<br />
Natürlich war der Übergang zur bimedialen<br />
Berichterstattung Mitte der 1990er Jahre ein<br />
großer Sprung. Erfahrungen gab es in der <strong>ARD</strong><br />
kaum. Bedenken dagegen schon mehr.<br />
Die Idee dafür wurde im Studio selbst geboren,<br />
und zwar zu einem Zeitpunkt, als offizielle<br />
Überlegungen zu bimedialen Strukturen noch<br />
Zukunftsmusik waren. Zum einen waren nach<br />
Hörfunk und Fernsehen getrennte Programmplanungen<br />
in einem kleinen Studio zu aufwändig.<br />
Zum anderen gab es den Vorteil gut ausge-<br />
Michael Elgaß während einer Live-Schalte<br />
aus dem kleinen Fernsehstudio,<br />
hinten Kameramann Kai Lewering<br />
bildeter Mitarbeiter, die sich in beiden Medien<br />
»zu Hause« fühlten.<br />
Das Neubrandenburger Beispiel hat Schule<br />
gemacht: Inzwischen arbeiten viele Regionalstudios<br />
des NDR bimedial. Für die Partner außerhalb<br />
des NDR hat das den Vorteil, im Idealfall<br />
jeweils nur einen Ansprechpartner zu haben.<br />
Die Bimedialität macht das Studio auch als<br />
Ausbildungsstation für Volontäre interessant.<br />
Die angehenden Journalisten lernen dank überschaubarer<br />
Studio-Strukturen meist sehr schnell<br />
den fließenden Übergang von der Theorie der<br />
Seminarsituation zur Praxis des Hörfunk- und<br />
Fernsehalltags. Vom ersten Tag an sind sie in<br />
das Redaktionsgefüge des Studios integriert und<br />
produzieren ihre eigenen Beiträge.<br />
Natürlich sind bei größeren Ereignissen auch<br />
mehrere Kollegen im Einsatz, zum Beispiel als<br />
die Soldaten der Bundeswehr in Eggesin zum<br />
Einsatz in den Kosovo verabschiedet wurden.<br />
Um schnell zu sein, steht dem Studio ein Reportagewagen<br />
zur Verfügung, mit dem per<br />
Satellit Hörfunkbeiträge live gesendet werden<br />
können. Das Studio selbst, untergebracht in einer<br />
vom NDR sanierten Jugendstilvilla, ist seit<br />
1995 digitalisiert und war eines der ersten der<br />
<strong>ARD</strong>, das diese Technik einsetzte.<br />
_ Berichterstattung über Grenzen hinaus<br />
Das Berichtsgebiet des Haff-Müritz-Studios<br />
liegt an der polnischen Grenze, und so ist der<br />
Blick über die Grenze nach Westpommern und<br />
in die Metropole Stettin inzwischen selbstverständlich<br />
– durch die neugebaute Ostsee-<br />
Autobahn A 20 ist eine schnelle Anreise möglich.<br />
Von Neubrandenburg fahren aber auch<br />
regelmäßig Züge nach Stettin. Mittlerweile<br />
pendelt zudem rund ein Dutzend Buslinien aus<br />
Ostmeck lenburg, Vorpommern und der Uckermark<br />
nach Westpommern.<br />
Fast eine halbe Million Polen lebt im Großraum<br />
Stettin, die Region ist eine aufstrebende<br />
und boomende Wirtschaftszone in der Mitte<br />
Europas. Stettin ist das Zentrum der polnischen<br />
Hafenwirtschaft. Dort gibt es 19 Universitäten<br />
und Hochschulen. Deutsche und polnische<br />
Kommunen und Unternehmen arbeiten in der<br />
Kommunalgemeinschaft Pomerania zusammen.<br />
Seit 2004 ist Polen Mitglied der EU und seit<br />
2007 des Schengener Abkommens. Die Grenze<br />
zwischen Deutschland und Polen verschwindet<br />
immer mehr aus dem täglichen Leben und,<br />
wenn auch langsamer, aus den Köpfen der<br />
Artikel A R D - J A H R B U C H 0 9<br />
Hörfunk-Reporterin Birgit Steinfeldt mit dem<br />
Hörfunk-Satcar vor einem der Neubrandenburger<br />
Stadttore
Menschen. Und so gewinnen Themen aus der<br />
Grenzregion immer größere Bedeutung in den<br />
Berichten der Neubrandenburger Reporter.<br />
_ Mit »Radio Pomerania« für mehr deutschpolnischen<br />
Austausch<br />
Hörfunkredakteur Steffen Münch ist mehrfach<br />
im Monat in Polen unterwegs, um zu recherchieren<br />
und zu berichten – für die Programme<br />
des NDR sowie der anderen <strong>ARD</strong>-Anstalten<br />
und für »Radio Pomerania«. Das ist eine Magazinsendung<br />
aus dem Haff-Müritz-Studio Neubrandenburg,<br />
die in NDR 1 Radio MV einmal<br />
im Monat ausgestrahlt wird. »Radio Pomerania«<br />
arbeitet regelmäßig mit dem »Ostseemagazin«<br />
der NDR 1 Welle Nord in Schleswig-Holstein<br />
zusammen.<br />
Die Themen sind vielfältig: Es geht zum<br />
Beispiel um die Kooperation deutscher und<br />
polnischer Landwirte im Ökolandbau, um neue<br />
Straßenverbindungen im Grenzland, Polnisch-<br />
Hörfunk-Redakteur Steffen Münch<br />
beim Interview im polnischen Kolberg<br />
unterricht in deutschen Kindergärten oder den<br />
Tourismus im Grenzgebiet. Immer mehr Deutsche<br />
zieht es im Urlaub oder zur Kur an die<br />
polnische Ostseeküste.<br />
Eine große Herausforderung sind Berichte,<br />
die sich mit der Geschichte des Grenzlandes<br />
befassen. Bis 1945 war Stettin die Hauptstadt<br />
von Pommern, dann wurde es zu einem Verwaltungszentrum<br />
der Wojewodschaft Westpommern.<br />
Als Folge der Grenzziehung an der Oder<br />
nach dem Zweiten Weltkrieg verlor die Stadt<br />
einen Teil ihrer Geschichte und ihr Hinterland.<br />
Viele Jahrzehnte war die deutsche Vergangenheit<br />
Stettins ein Tabu-Thema. Erst nach den<br />
politischen Veränderungen rückte dieser Teil der<br />
Geschichte mehr in den Blickpunkt.<br />
NDR 1 Radio MV hat diesen Prozess begleitet<br />
– in Berichten über die Aussiedlung der<br />
deutschen Bewohner aus Stettin oder das Leid<br />
von Deutschen, Polen und Ukrainern, die eine<br />
neue Heimat suchen und finden mussten. Damit<br />
wurden natürlich alte, bislang kaum vernarbte<br />
Wunden aufgerissen. Inzwischen ist die<br />
Aufgeregtheit einer Sachlichkeit gewichen, wie<br />
Steffen Münch nach seinen regelmäßigen Recherchereisen<br />
zu berichten weiß. Das Verhältnis<br />
ist entspannt, auch Journalisten aus Deutschland<br />
werden die Amtstüren in Westpommern<br />
immer häufiger freundlich geöffnet, Pressekonferenzen<br />
sogar zweisprachig gehalten.<br />
Schwieriger scheint die Situation in Deutschland.<br />
So ist es für viele deutsche Kommunen<br />
emotional offenbar schwierig, sich als »Hinterland«<br />
der Großstadt Stettin zu begreifen. Aber<br />
auch mittelständische Wirtschaftsunternehmen<br />
scheuen sich vor dem polnischen Markt.<br />
Sprachprobleme, unterschiedliche gesetzliche<br />
Regelungen und verschiedene Währungen behindern<br />
die Wirtschaftsentwicklung.<br />
Auch kulturell engagiert sich der NDR in<br />
Polen, so machte zum Beispiel die Ausstellung<br />
»Weite und Licht« aus der Kunstsammlung des<br />
NDR Station im Schloss der pommerschen<br />
Herzöge in Stettin. Die erfolgreiche Ausstellung<br />
schaffte es, Brücken zu bauen. Die meisten<br />
Bilder zeigten nämlich Landschaftsmotive, die<br />
nicht an Grenzen haltmachen. So stand die<br />
Ausstellung auch für gemeinsame Geschichte<br />
und den gemeinsamen Raum, in dem man sich<br />
bewegt und der miteinander verbindet.<br />
In Zeiten des Auf- und Umbruchs ist ein<br />
modernes, grenzüberschreitendes Heimatverständnis<br />
in Europa gefragt. Und auch dazu<br />
wollen die Kollegen im Haff-Müritz-Studio<br />
Neubrandenburg mit ihrer Arbeit einen kleinen<br />
Beitrag leisten.<br />
An spannenden neuen und weiterführenden<br />
Themen für die Berichterstattung herrscht also<br />
kein Mangel. Und ganz nebenbei bleibt meist<br />
auch noch Zeit für ein wenig geografischen<br />
Nachhilfeunterricht am Telefon, wenn mal wieder<br />
ein nachfragendes »NDR-Studio Neu-was?«<br />
am anderen Ende der Leitung zu hören ist.<br />
Michael Elgaß,<br />
Leiter des Haff-Müritz-Studios<br />
in Neubrandenburg<br />
Steffen Münch,<br />
Hörfunk-Redakteur des NDR<br />
Modern und grenzüberschreitend A R D - J A H R B U C H 0 9 59