202_StadtBILD_Mai_2020
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Heckert Glas 1866-1923, Ausstellung bis 2. August <strong>202</strong>0 im Schlesischen Museum, Foto: René E. Pech, © SMG
Liebe Leserinnen, liebe Leser,<br />
Vorwort<br />
die letzten Wochen waren für uns alle sehr<br />
dramatisch und brachten auch uns in eine<br />
äußerst schwierige Lage.<br />
Unser Kulturmagazin „kulturrosso“ mußten<br />
wir leider vorübergehend einstellen und die<br />
Mitarbeiter auf Kurzarbeitergeld setzen. Das<br />
lang ersehnte großte Kneipenfestival „Görlitz<br />
Rockt“, dass eigentlich am 18. April stattfinden<br />
sollte, mußten wir leider auch auf den<br />
3. Oktober <strong>202</strong>0 verlegen. Es trieb einem<br />
schon die Tränen in die Augen, da der 18.<br />
April bei schönstem Sonnenschein und völlig<br />
trocken, nun bei geschlossen Restaurants<br />
und Gaststätten verging. Aber ans Aufgeben<br />
wurde auch bei uns in keiner Sekunde gedacht,<br />
trotz der vielen Unwegbarkeiten und<br />
Probleme, die innerhalb von wenigen Tagen<br />
auf uns hereingebrochen waren.<br />
Da gab uns ein Leserbrief von Helmut Wilhelm<br />
aus Berlin und viele weitere Anrufe<br />
den Mut, zumindestens das <strong>StadtBILD</strong> weiterleben<br />
zu lassen: „Und wieder ganz besonderen<br />
Dank für die <strong>StadtBILD</strong>-Hefte und<br />
zur 200. Ausgabe kann man der Redaktion<br />
nur gratulieren. Ich füge meinem Schreiben<br />
50 EURO bei, als kleine Zuwendung für die<br />
unermüdliche Arbeit der Redaktion. Es sind<br />
nicht nur die Beiträge aus der Gegenwart,<br />
sondern immer auch hochinteressante Artikel<br />
aus der Vergangenheit... aus solchen<br />
<strong>StadtBILD</strong>ern kann man immer lernen und<br />
lesen, was man sonst in solchen kleinen<br />
Zeitschriften nicht liest. Deshalb ist es der<br />
Redaktion zu danken, daß sie immer eine so<br />
prachtvolle Zusammenstellung ihren Lesern<br />
bietet. Doch am interessantesten waren für<br />
mich die Beiträge der letzten Ausgabe über<br />
die Ankunft der Griechen in Görlitz... und<br />
natürlich ganz aktuell über Corona. Daß wir<br />
die griechischen Soldaten in Görlitz aufgenommen<br />
haben, war mir auch unbekannt.<br />
Und von der Spanischen Grippe hatte ich<br />
nur schwach einmal gehört. Das Thema geht<br />
heute JEDEN an und ich habe gleich meinen<br />
Freunden berichten können.“<br />
Vielen Dank lieber Leser Helmut Wilhelm für<br />
die anerkennenden Worte und die kleine finanzielle<br />
Zuwendung.<br />
Wenn Sie liebe Leser uns auch mit kleinen<br />
Zuwendungen unterstützen möchten, können<br />
Sie es gern mit einer Überweisung an<br />
das <strong>StadtBILD</strong>-Konto:<br />
IBAN DE21 8504 0000 0302 1979 00<br />
tun, um uns in diesen schwierigen Zeiten<br />
zu helfen. Dies können Sie natürlich auch<br />
gern mit dem Kauf einer Günter Hain Nasen-<br />
Mundschutzmaske in unserem Shop www.<br />
<strong>StadtBILD</strong>-Verlag.de ermöglichen. Sie finden<br />
hier drei wundervolle Aquarell-Motive des<br />
Görlitzer Ehrenbürgers. Die Maskenmotive<br />
werden in Görlitz gedruckt und auch in Görlitz<br />
bei der Firma Betten Rieger genäht, quasi<br />
„aus der Heimat - für die Heimat“.<br />
Bleiben Sie gesund - Ihr Redaktionsteam!<br />
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Einleitung<br />
3
Heckert Glas 1866-1923<br />
Glas<br />
Sobald das Schlesische Museum<br />
zu Görlitz nach der<br />
Pandemie-bedingten Schließung<br />
seine Tore wieder für<br />
die Besucher öffnen kann,<br />
wird eine neue Sonderausstellung<br />
zu besichtigen<br />
sein. Eine Schau mit etwa<br />
200 gläsernen Exponaten<br />
bietet einen Überblick über<br />
die Produktion der Firma<br />
Heckert, die bis 1923 zu den<br />
führenden deutschen Herstellern<br />
von Kunst- und Zierglas<br />
zählte und international<br />
erfolgreich war.<br />
Zwei Vasen aus irisierendem blauen Glas („Cypern-Dekor“),<br />
um 1885.<br />
Im Jahre 1866 gründete der<br />
aus Halle an der Saale stammende<br />
Kaufmann Friedrich<br />
Wilhelm Heckert (1837-1887)<br />
im schlesischen Petersdorf/<br />
Piechowice eine „Glasraffinerie“.<br />
Das neue Unternehmen<br />
bezog Gläser von der<br />
nahe gelegenen Josephinenhütte<br />
in Schreiberhau/<br />
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4<br />
Ausstellung
Ausstellung bis 2. August <strong>202</strong>0 im Schlesischen Museum<br />
Heckert Glas<br />
Szklarska Poręba und veredelte<br />
die Ware mit aufwändigen<br />
Dekoren. Schon bald<br />
hatte die Fa. Heckert großen<br />
Erfolg. Besonders Gläser im<br />
Stil des Historismus waren<br />
im Deutschland der Gründerzeit,<br />
aber auch international<br />
gefragt.<br />
Zwei Römer aus honigfarbenem Glas mit Darstellung eines<br />
trinkenden Paares, um 1890.<br />
Ab 1889 stellte die Firma<br />
das Glas in einer neu erbauten<br />
Hütte selbst her. Zu dem<br />
breiten Sortiment gehörten<br />
farbenfrohe, orientalisch<br />
geprägte Gläser, irisierende<br />
Gläser oder Überfang-Gläser.<br />
Dann nahm die Produktion<br />
mit Jugendstil-Glas nochmals<br />
Aufschwung. Man hatte<br />
Mut zu unkonventionellen<br />
Formen und Farbgestaltungen.<br />
1923 schloss sich die<br />
Fa. Heckert mit der Josephinenhütte<br />
zu einer Aktiengesellschaft<br />
zusammen.<br />
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Ausstellung<br />
5
Heckert Glas 1866-1923<br />
Glas<br />
Zweihenklige Vasen mit verschiedenen Dekoren, um 1900.<br />
Zu den bedeutenden Designern gehörten<br />
Max Rade (1840-1917) in Dresden oder<br />
Ludwig Sütterlin (1865-1917). Letzterer<br />
ist vor allem durch die Entwicklung der<br />
nach ihm benannten „Sütterlin-Schrift“<br />
bekannt. Weniger bekannt aber ist, dass<br />
Sütterlin auch als Grafiker und Entwerfer<br />
unter anderem für die Glas-Industrie<br />
arbeitete und sehr erfolgreich war.<br />
Von 1900 bis 1906 gestaltete er für die<br />
Fa. Heckert außergewöhnliche Jugendstilgläser,<br />
die schon kurz nach ihrem<br />
Erscheinen auf dem Markt die Aufmerksamkeit<br />
der zeitgenössischen Kundschaft<br />
und der Kunstkritiker erregten.<br />
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6<br />
Ausstellung
Ausstellung bis 2. August <strong>202</strong>0 im Schlesischen Museum<br />
Heckert Glas<br />
Gläser nach Entwürfen von Ludwig Sütterlin, um 1903-05.<br />
Einer der besten Kenner der aktuellen<br />
Glasszene um 1900, Gustav Pazaurek,<br />
schrieb 1901 in seinem Buch „Moderne<br />
Gläser“: „Zu den eigenartigsten und interessantesten<br />
gemalten Heckertgläsern<br />
zählen jene nach den Entwürfen von<br />
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Ausstellung<br />
7
Heckert Glas 1866-1923<br />
Glas<br />
Ludwig Sütterlin in Berlin<br />
(…). Er (…) wählt die<br />
schlichtesten Linienführungen<br />
mit floralen Anklängen,<br />
denen Grazie und Anmut<br />
eigen sind. Bei einer derartigen<br />
Fülle neuer Ziergedanken<br />
und bei einer so<br />
sorgfältig ausgebildeten<br />
Maltechnik lässt sich von<br />
F. Heckert in Petersdorf noch<br />
viel Gutes erwarten.“ Andere<br />
Kritiker äußerten sich<br />
ähnlich begeistert und „Sütterlin-Gläser“<br />
wurde rasch<br />
zu einem Qualitätsbegriff.<br />
Vase mit altägyptischem Dekor (Kairo II), ab 1898.<br />
Eine Auswahl dieser Gläser<br />
ist in der neuen Sonderausstellung<br />
zu sehen. Daneben<br />
werden zahlreiche andere<br />
Kunstgläser in den verschiedensten<br />
Stilen vom Historismus<br />
bis zum Jugendstil<br />
präsentiert. So dürfte für jeden<br />
Geschmack etwas dabei<br />
sein.<br />
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8<br />
Ausstellung
Ausstellung bis 2. August <strong>202</strong>0 im Schlesischen Museum<br />
Heckert Glas<br />
Die Exponate stammen hauptsächlich<br />
aus der Privatsammlung<br />
von Eike Gelfort in Köln.<br />
Sie wird mit zahlreichen Leihgaben<br />
aus dem Muzeum Karkonoskie<br />
w Jeleniej Górze/Riesengebirgsmuseum<br />
in Hirschberg<br />
ergänzt. Ein weiterer Partner<br />
ist die Glasfabrik „Huta Julia“<br />
in Piechowice, die heute am<br />
alten Standort der Fa. Heckert<br />
produziert. Zur Ausstellung<br />
erscheint ein reich bebilderter<br />
Katalog (ca. 160 Seiten, dt./<br />
pl., Preis 13 Euro), der die faszinierenden<br />
Glaskunstwerke in<br />
Szene setzt.<br />
Fotos in diesem Beitrag:<br />
René E. Pech, (c) SMG<br />
Brautbecher nach einem Vorbild der Renaissance mit<br />
orientalischem Jodpur-Dekor, um 1900.<br />
Schlesisches Museum zu Görlitz<br />
Schönhof, Brüderstraße 8<br />
02826 Görlitz<br />
www.schlesisches-museum.de<br />
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Ausstellung<br />
9
Das alte Görlitzer Rathaus am Untermarkt<br />
950 Jahre Görlitz<br />
Aus dem Markthause entwickelte sich in<br />
vielen anderen Kolonialstädten das Rathaus.<br />
Auch in Görlitz ist wohl, wie in Zittau,<br />
das Markthaus in den ersten Zeiten<br />
hölzern gewesen, und man konnte es<br />
kaum ein Rathaus nennen, denn 1298<br />
verwahrte man eine höchst wichtige Urkunde<br />
nicht etwa im Rathause, sondern<br />
in einem Schranke der Peterskirche. 1314<br />
weilte Heinrich von Camenz, der landesherrliche<br />
Befugnisse hatte, bei einer Beurkundung<br />
nicht im Rathause, sondern im<br />
Hause des Bürgers Heinrich von Scharfenberg.<br />
1343 wurde eine Ratsrechnungslegung<br />
in dem Hause des Bürgermeisters<br />
Nicolaus von Hayn vorgenommen. Daraus<br />
geht doch hervor, daß man bis 1343 noch<br />
kein eigentliches Verwaltungshaus hatte.<br />
Um nun der Raumnot abzuhelfen und um<br />
ein festes und baulich größeres öffentliches<br />
Gebäude zu erhalten, war man um<br />
1350 dazu übergegangen, ein ehemaliges<br />
Privathaus zu erwerben, um dort ein Prätorium,<br />
d.h. eine Gerichtsstelle, und ein<br />
Verwaltungsgebäude oder Rathaus (curia)<br />
einzurichten. Seit dieser Zeit, also seit<br />
etwa 670 Jahren, steht das Rathaus oder<br />
genauer der Teil mit dem Turme und dem<br />
Zimmer des Oberbürgermeisters nebst<br />
dem Flügel an der Brüdergasse an der jetzigen<br />
Stelle. Zum ersten Male wird dieses<br />
Rathaus 1369 erwähnt. Es hatte damals<br />
Giebel, sechs Erker und ein Türmchen.<br />
1380 zu Pfingsten tanzte man dort in einem<br />
Tanzhaus über den Kaufkammern,<br />
welches aber komplett aus Holz war und<br />
reichlich Nahrung für Feuersbrünste bot,<br />
erfuhren wir aus alten Aufzeichnungen.<br />
Deshalb erlaubte der Herzog Hans es abzubrechen<br />
und das alte Rathaus zu bauen.<br />
Das Tanzhaus wird an der Brüdergasse gelegen<br />
haben. Der heutige Seitenflügel an<br />
der Brüdergasse mag in seinen ältesten<br />
Beständen aus der damaligen Zeit stammen.<br />
Im Sommer 1409 und 1410 fanden<br />
erhebliche Erneuerungsbauten statt: man<br />
baute am Turme und am Giebel über der<br />
Treppe und setzte einen Knopf auf und<br />
brach die alte Ratsstube ab.<br />
Eine wesentliche Erweiterung erfuhr das<br />
Rathaus gegen 1450. Man hatte, um<br />
dem Platzmangel abzuhelfen und um<br />
eine neue Münze einzurichten, das nörd-<br />
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10<br />
Geschichte
1071 950 Jahre Görlitz <strong>202</strong>1<br />
950 Jahre Pilzläuben und Rathaus um 1895<br />
lich anstoßende Haus (jetzt<br />
Untermarkt 7) gekauft, d.h.<br />
das Haus, in dem der südliche<br />
Rathauskeller und die<br />
Dienststuben darüber sich<br />
befanden. Noch jetzt hat<br />
dieser Teil ein besonderes<br />
und niedrigeres Dach als<br />
die alte Curia und eine besondere<br />
Nummer 7. Damals<br />
ist auch das Hinterhaus des<br />
neuerworbenen Hauses benutzt<br />
worden, um den alten<br />
Ratssaal nach Norden zu erweitern.<br />
Die nördliche Hofseite<br />
in ihren älteren Teilen<br />
hat damals ihre noch jetzt<br />
vorhandene gotische Gestaltung<br />
bekommen. Bereits<br />
aber schon nach 80 Jahren<br />
ging die Erweiterung bereits<br />
weiter. Es wurde das<br />
Haus Untermakrt 8 an der<br />
Ecke zur anstoßenden Langengasse<br />
erworben. Dieses<br />
Haus blieb zunächst nur bis<br />
1548 im städtischen Besitz.<br />
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Geschichte<br />
11
Das alte Görlitzer Rathaus am Untermarkt<br />
950 Jahre Görlitz<br />
Blick auf die Rathaustreppe und die Brüdergasse um 1900<br />
Die Finanznot, die der<br />
Pönfall 1547 herbeiführte,<br />
zwang den Rat zur Veräußerung.<br />
Doch schon nach<br />
sieben Jahrzehnten, im Jahre<br />
1621, erwarb dasselbe<br />
Haus die Stadt wiederum<br />
zum Zwecke einer Münze.<br />
Da man aber mit der Geldprägung<br />
bald aufhörte, verkaufte<br />
es die Stadt abermals<br />
1634 und es kam in Privatbesitz<br />
und wurde bis 1847<br />
als Bierhof genutzt.<br />
Danach erwarb die Stadt<br />
das Haus auf´s Neue um<br />
den Stadtverordnetensaal<br />
zu bauen.<br />
Bei der Erweiterung des Rathauses<br />
über die Pilzläuben<br />
hin bis in die Jüdengasse hinein<br />
ist dieses Eckgebäude<br />
in seinem Innern neuzeitlich<br />
gebaut worden, die alte,<br />
schöne Fassade aus dem<br />
Jahre 1556 hatte man aber<br />
geschickt wieder benutzt.<br />
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12<br />
Geschichte
1071 950 Jahre Görlitz <strong>202</strong>1<br />
950 Jahre Es ist nicht unmöglich, daß auch die ganze<br />
Rathausseite am Untermarkt in den ältesten<br />
Zeiten mit Lauben versehen gewesen<br />
ist. Der schöne Winkel an der Freitreppe<br />
weist vielleicht jetzt noch darauf hin, daß<br />
in seiner nördlichen Fortsetzung, bis zu<br />
den Pilzläuben, sich Laubenbogen befunden<br />
haben könnten. Aber auch die Nordseite<br />
des Untermarktes scheint solche<br />
gehabt zu haben. Belegen würde dies,<br />
dass bei Straßengrabungen Fundamente<br />
gefunden wurden.<br />
Der Rathausturm ist bereits 1378 als<br />
ein Türmchen erwähnt worden. Dieses<br />
Türmchen wurde von 1511 bis 1516 auf<br />
etwa 60 Meter erhöht, und zwar durch<br />
den Steinmetz Albrecht Stieglitzer und<br />
den Zimmermeister Jobst, damit man die<br />
Stadt und alle Straßen bewachen konnte.<br />
Die Gestalt des Turmes war spätgotisch<br />
und die unteren Teile stammten noch aus<br />
älterer Zeit. Man zog sich damals als Sachverständige<br />
Werkmeister Herzog Georg<br />
von Sachsen und Meister Peter von Pirna<br />
zu Rate, weil sich Risse am Turm zeigten.<br />
In eine neue Barockform wurde der<br />
obere Turm gebracht, als am 9. Juli 1742<br />
durch einen Blitzschlag der obere Teil mit<br />
der Seigerglocke vernichtet wurde. An<br />
Stelle der alten Seigerglocke kamen nun<br />
zwei vom Sorauer Glockengießmeister<br />
Friedrich Körner. Diese fielen 1917 dem<br />
Weltkriege zum Opfer. Die größere mit einem<br />
Durchmesser von 1,84 Meter und 32<br />
Zentner wog, wurde in Gips nachgebildet<br />
und im Gerichtserker des Rathauses aufgestellt.<br />
Sie hatte neben dem Görlitzer Wappen<br />
folgende Beschriftung:<br />
„Fulmine quae tacta turri confusa peribat<br />
1742 | Grandior haec iterum nona refusa<br />
nitet 1743 | Det deus, ut nunquam rapidi<br />
nisi tempore index | Vel bis eheu! vel ter<br />
pulsa quaterve sonet.“<br />
Der Neubau geschah, durch den Maurermeister<br />
Samuel Suckert. Die Wetterfahne<br />
trägt noch heute die Jahreszahl 1743.<br />
Den Turm schmücken jetzt noch an der<br />
Marktseite zwei Zifferblätter: Das untere,<br />
das jetzt noch die Zeit anzeigt, hat in<br />
der Mitte einen Judenkopf, der bei dem<br />
Stundenschlag die Zunge herausstreckte<br />
und die Augen beim Pendelschlag<br />
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Geschichte 13
Das alte Görlitzer Rathaus am Untermarkt<br />
950 Jahre Görlitz<br />
verdrehte. Dieses Zifferblatt ist laut<br />
Beschriftung 1524 hergestellt worden,<br />
mußte aber, da die 12-teilige Uhr erst<br />
1584 eingeführt wurde, in den Ziffern<br />
verändert worden sein. Das obere Ziffernblatt<br />
war 24-teilig. In einem Fenster<br />
über dem oberen Zifferblatte lag<br />
ein Löwe, der, wenn Neumond eintrat,<br />
schrecklich brüllte, weshalb die Schwangeren<br />
Weiber darüber erschraken und<br />
darufhin das Gebrüll ein Ende erhielt.<br />
Bei Stadtführungen kann man heute<br />
noch selbst den Löwen zum Brummen<br />
bringen. Dazu heißt es zunächst, hoch<br />
hinaus auf den Rathausturm steigen.<br />
191 Stufen geht es nach oben, dann am<br />
Löwen vorbei, wo sich der Schalter zum<br />
Brüllen befindet. Was früher mit einem<br />
handbetriebenen Blasebalg geschah,<br />
macht heute ein Luftdruckmotor. Der<br />
treibt einen Blasebalg in einem Kasten<br />
an, der wiederum das Geräusch mit Hilfe<br />
von Orgelpfeifen erzeugt. Dieser Kasten,<br />
den man auch sieht, stammt von einer<br />
Zittauer Firma aus dem Jahre 1951.<br />
Die hoch am Turme angebrachten vier<br />
Stundenweiser stammen aus dem Jahre<br />
1743, vorher gab es dort nur zwei. Der<br />
Uhrmacher hieß 1743 Christian Friedrich<br />
Schmidt, der auch damals die unteren<br />
Zifferblätter erneuerte. Das schmiedeeiserne<br />
Gitter am Umgange oben fertigte<br />
der Görlitzer Schlossermeister Hempel.<br />
Die berühmte Rathaustreppe an der<br />
Ecke der Brüdergasse wurde 1537/38<br />
gebaut, wie sich aus der Beschriftung<br />
und dem Steinmetzzeichen Wendel<br />
Roßkopfs, das neuerlich in der Fortsetzung<br />
der Treppe innerhalb des Rathauses<br />
gefunden wurde, ergibt. Dieser<br />
hochberühmte Meister, der den Stil der<br />
Renaissance in Görlitz und Schlesien<br />
einführte, war der Erbauer. Die Säule<br />
mit der Justitia ist erst 1591 eingesetzt<br />
worden. Das Wappen an der Turmseite<br />
ist das Wappen des Landesherrn, des<br />
ungarischen Königs Matthias Corvinus,<br />
und wurde bereits 1488 angebracht.<br />
Hinter der Treppe nach Westen folgten<br />
im Erdgeschoß die Wachstube und<br />
Läden und an der Ecke der Apothekergasse<br />
die Apotheke, die seit mindestens<br />
1476 dort lag. Am Gebäude waren Bildnisse<br />
berühmter Ärzte und Inschriften<br />
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14<br />
Geschichte
1071 950 Jahre Görlitz <strong>202</strong>1<br />
950 Jahre Blick über den Untermarkt nach der Peterskirche<br />
angebracht. Im November<br />
1771 verlegte sie Benjamin<br />
August Struve an die jetzige<br />
Stelle, an die Ecke des<br />
Untermarktes und der Petersgasse.<br />
Der erste Stock<br />
des Rathauses an der Brüdergassenseite<br />
enthielt einen<br />
großen Gerichts- und<br />
Repräsentationssaal.<br />
In diesem größten Saal der<br />
Stadt tanzten die vornehmen<br />
Geschlechter und fanden<br />
größere Festlichkeiten<br />
statt.<br />
In diesem Saal wurde am 8.<br />
Oktober 1637 dem neuen<br />
Landesherrn, Johann Georg<br />
I. von der Gesamtoberlausitz<br />
gehuldigt.<br />
Nach Westen hin, an der<br />
Apothekergasse, lag die<br />
Handelsstube oder auch<br />
Prätorium genannt, in der<br />
hauptsächlich Eintragungen<br />
in die alten Stadtbücher<br />
gemacht wurden.<br />
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Geschichte<br />
15
Das alte Görlitzer Rathaus am Untermarkt<br />
950 Jahre Görlitz<br />
Gerichtserker<br />
Das Zimmer, das noch jetzt<br />
die schöne Renaissancedecke<br />
aus dem Jahre 1566<br />
von Meister Marquirt trägt,<br />
ist 1807 ziemlich umgestaltet<br />
worden.<br />
Damals wurde ein alter Erker,<br />
ein Werk des jüngeren<br />
Wendel Roßkopf, der in die<br />
Apothekergasse ragte, wegen<br />
der Belastung des Gebäudes<br />
abgenommen.<br />
Vor allem wurde auch die<br />
schöne Renaissancedecke<br />
durch eine Gipsdecke unterzogen.<br />
Erst nach 66 Jahren (1872)<br />
wurde die alte Decke, die<br />
in Vergessenheit geraten<br />
war, wieder freigelegt und<br />
erneuert. Ferner wurde<br />
1807 der alte Ausgang nach<br />
Nordost vermauert und dieses<br />
gotische Portal als Ausgangspforte<br />
aus dem Saal<br />
in die nördlichen Räumen<br />
benutzt.<br />
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16<br />
Geschichte
Das alte Görlitzer Rathaus am Untermarkt<br />
950 Jahre Görlitz<br />
Die Tür, die aus dem Prätorium nach Norden<br />
führte direkt in den Archivvorraum,<br />
dessen westlicher Teil die „fürstliche Küche“<br />
hieß.<br />
Durch eine eindrucksvolle Renaissancetür<br />
gelangte man dann in den großen Archivraum.<br />
Dieser wurde 1534 erbaut und bot<br />
mit seiner Frontseite zum Ratsinnenhof<br />
und seinen wirkungsvollen zwei Läubenbogen<br />
sowie durch seine neun Fenster in<br />
Verbindung mit ionischen Säulen einen<br />
herrlichen Schmuck. Früher fanden sich<br />
in ihm in abgeteilten Räumen die Kanzlei<br />
und die Kasse. Nach Norden schloßen sich<br />
im Westen das dunkle eigentliche Archiv<br />
und dann das Depositengewölbe an und<br />
der Sitz des Ratsarchivars an. Diese letztgenannten<br />
Räume standen in Verbindung<br />
mit dem Ratssitzungssaal. Im Gewölbe<br />
des Ratsarchivars fanden bei der Ratskür<br />
die geheimsten Besprechungen statt. Im<br />
Vorraum, nördlich und nordöstlich vom<br />
Gerichtssaal, waren zwei Eingangspforten<br />
aus gotischer Zeit bemerkenswert.<br />
In der „Dienerstube“ hing ein schönes Bild<br />
des Görlitzer Wappens aus dem 16. Jahrhundert<br />
und man sah einen alten Kronleuchter,<br />
wohl noch aus dem 14. Jahrhundert.<br />
Über der westlichen Eingangstür<br />
zum Ratssitzungssaal befand sich eine<br />
Bildtafel aus dem Jahre 1591 mit der Beschriftung:<br />
„Gleich und Recht thut mit menniglich<br />
Und nicht mit Gunst das Urteil bieg,<br />
Den Armen vor sein Nottürft betracht,<br />
So wirst du von Gott und der Welt<br />
geacht.<br />
Denn wo du hältst unrecht Gericht,<br />
Wird‘s dir Gott wiederumb schenken<br />
nicht.“<br />
Im Innern des Ratssitzungszimmers hing<br />
oben inmitten der Bogen der gotischen<br />
östlichen Eingangstür, die nebst einem<br />
Christuskopfe oben noch sechs Engelsgestalten<br />
und eine Heilige trug, eine Schrifttafel<br />
aus der Renaissancezeit mit der Inschrift:<br />
„Quisquis senator officii | causa curiam<br />
ingrederis | ante hoc ostium privatos |<br />
affectus abiicito | iram, vim, odium, amicitiam<br />
| adulationem etc. Nam | ut<br />
aliis aequus aut iniquus | judex fueris, ita<br />
quoque | judicium dei expectabis<br />
| et sustinebis.“<br />
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18<br />
Geschichte
1071 950 Jahre Görlitz <strong>202</strong>1<br />
950 Jahre Östliches Portal im Ratszimmer um 1900<br />
(Wenn du als Ratsherr um<br />
deines Amtes willen das<br />
Rathaus betrittst, so laß vor<br />
dieser Tür alle persönlichen<br />
Stimmungen beiseite: Zorn,<br />
Gewalt, Haß, Freundschaft,<br />
Schmeichelei u. dgl. Denn<br />
ebenso wie du über andere<br />
ein billiger oder unbilliger<br />
Richter sein wirst, so mußt<br />
du das Gericht Gottes erwarten<br />
und über dich ergehen<br />
lassen.)<br />
Die Fenster stammen aus<br />
der Zeit um 1450. An der<br />
Westseite war ein reich angelegtes,<br />
bis zur Decke reichendes<br />
Portal angebracht,<br />
gestützt von je drei dorischen<br />
Säulen und flankiert<br />
von zwei korinthischen Säulen,<br />
die oben zwei Figuren<br />
trugen. In dem oberen Teile<br />
fand sich die Beschriftung<br />
F(ranz) M(arquirt) 1566. Der<br />
untere Teil war mit einer Tür<br />
mit prächtigen Intarsien ver-<br />
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Geschichte<br />
19
Das alte Görlitzer Rathaus am Untermarkt<br />
950 Jahre Görlitz<br />
Westliches Portal im Ratszimmer um 1900<br />
sehen worden. Das Ganze<br />
war von vortrefflicher Wirkung.<br />
Im Zusammenhang<br />
mit einer Täfelung, die den<br />
ganzen Raum umzog, ist<br />
auch eine Kassettendecke<br />
von Tischler Paul Riese 1564<br />
hergestellt worden. Die älteren<br />
Formen des ganzen<br />
Saales weisen auf die Zeit<br />
um 1450, die jüngeren auf<br />
die Jahre gegen 1570 hin.<br />
Vom südlichen Hofe führte<br />
eine malerische Treppe<br />
nach dem Gerichtssaal. Die<br />
Chroniken erzählen, daß<br />
1586 während der Pestzeit<br />
von diesem „Trepplein, das<br />
vom Tanzboden herabgeht“,<br />
über eine Kindesmörderin<br />
ein hochnotpeinliches Gericht<br />
abgehalten worden<br />
sei. Auf einer halben Treppe,<br />
die sich als Fortsetzung<br />
der äußeren Rathaustreppe<br />
gibt, gelangte man durch<br />
ein Turmzimmer in das Ar-<br />
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20<br />
Geschichte
1071 950 Jahre Görlitz <strong>202</strong>1<br />
950 Jahre beitszimmer des Oberbürgermeisters, die<br />
Königsstube genannt, weil hier öfter die<br />
Landesherren ihre Wohnung aufgeschlagen<br />
hatten. Die Fenster stammten aus der<br />
Renaissancezeit und die gewölbte Decke<br />
zeigte eine Stichkappentonne und trägt<br />
Barockstukkaturen etwa aus der Zeit von<br />
1670.<br />
Im Stile des 16. Jahrhunderts waren die<br />
zwei Türen nebst den hölzernen Umrahmungen<br />
gehalten. Später hingen in dem<br />
Zimmer ein schönes, holzgeschnitztes<br />
Wappen des Hauses Österreich aus dem<br />
16. Jahrhundert und Bilder des sächsischen<br />
Kurfürsten Friedrich August III.<br />
1733-1763 und Friedrich Augusts des Gerechten<br />
1765-1827, sowie eine Tafel, aufzählend<br />
die Landesherren, die in diesem<br />
Zimmer „tafelten“. Nach einer Abbildung<br />
des Rathauses von 1792 hatten auch in<br />
alten Zeiten die Fenster der Königsstube<br />
und der darüberliegenden Räume gotische<br />
Prägung. Die Marktseite hatte vor<br />
dem Eingang in den Rathauskeller um<br />
1560 einen schöngebauten Vorbau, der<br />
in einfacherer Form noch 1790 stand und<br />
1842 entfernt wurde. Links (südlich) daneben<br />
hingen noch 1790 über einer Bank<br />
Halseisen und Zangen für den Pranger, die<br />
aber dann 1832 entfernt wurden.<br />
Anfang des 20. Jahrhunderts hatte der<br />
Rathausausbau seinen Abschluss gefunden.<br />
Der Architekt Jürgen Kröger stellte<br />
den Bau im Stil der Neorenaissance<br />
1903 fertig. Am Rathaus, in Richtung<br />
Untermarkt angebracht, befinden sich<br />
die Wappen des Oberlausitzer Sechsstädtebundes.<br />
Jedes von ihnen wird von einem<br />
Krieger präsentiert, welcher die Last<br />
der auf ihm befindlichen Säulen hält. Der<br />
Haupteingang befindet sich seit 1902 am<br />
Säulenportal des Untermarkt 8. Ein Portal<br />
mit Treppenaufgang führt in das erste<br />
Geschoss. Besonders auffällig sind die<br />
vielen Höhenversprünge im Inneren, die<br />
die Bauübergänge besonders bemerkbar<br />
machen. Ein 1977 installierter Paternosteraufzug<br />
verbindet fünf Geschosse. 2010<br />
wurde er nach einer Haverie stillgelegt.<br />
Die Wartebänke in den Gängen stammen<br />
noch teilweise aus der Jugendstilzeit.<br />
Andreas Ch. de Morales Roque<br />
Quelle: Topographie der Stadt Görlitz<br />
von Dr. Richard Jecht<br />
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Geschichte<br />
21
Die Pest in Görlitz –<br />
Pest in Görlitz<br />
Bis zu Anfang des 18. Jahrhunderts gibt<br />
es kein größeres Schrecknis für die Städte<br />
als die Seuchen. Auch unser Görlitz<br />
mußte diese Not zur Genüge durchkosten.<br />
Die engen Straßen und ihre große<br />
Unreinlichkeit, die kleinen Wohnräume,<br />
die für Licht und Luft wenig Raum gaben<br />
und eine Absonderung für die Angesteckten<br />
nicht zuließen, die unvollkommenen<br />
Verhältnisse der Abführung<br />
von menschlichen und tierischen Auswürfen,<br />
die Abgeschlossenheit hinter<br />
hohen Mauern, innerhalb deren sich<br />
eine verhältnismäßig große Bewohnerschaft<br />
zusammenpferchte, waren ein<br />
verhängnisvoller Nährboden für die<br />
Ansteckungsstoffe. Die ärztliche Kunst<br />
versagte durchweg. Die einzige Rettung<br />
bestand in Flucht; aber die benachbarten<br />
Dörfer und Städte sperrten vielfach<br />
den Zugang von pestverdächtigen Leuten,<br />
und die große Masse der Bewohner<br />
konnte wegen der wenigen Mittel<br />
nicht an Fortzug denken. Von Pestzeiten<br />
in Görlitz gerade die Jahrzehnte 1364,<br />
1425, 1431, 1454, 1464, 1484 vor der<br />
Reformation zeigen eine Häufung der<br />
Seuche. Die Chroniken berichten von<br />
einer schier unglaublichen Menge der<br />
Opfer an Menschen. Wenn man aber die<br />
bestimmten Zahlen aus späteren Zeiten,<br />
die uns durch genaue statistische<br />
Nachrichten bezeugt sind, betrachtet,<br />
so kommt man zu dem Schlusse, daß<br />
die Zahl der an Pest Gestorbenen keineswegs<br />
übertrieben ist. „1496 hat von<br />
der Sommerzeit bis zu Weihnachten die<br />
Pestis heftig im Markgrafentum Lausitz<br />
regieret, daß sonderlich zu Görlitz über<br />
die 4000 daran gestorben. Und sind<br />
auch die Fließwasser wegen großen Regens<br />
und Tauwetters heftig gewachsen,<br />
welche dann sehr zur Sterbensgefahr<br />
gedienet.“ Am 13. Dezember 1496<br />
schrieb der Ratmann Michael Schwarz<br />
an die gewichenen Ratspersonen: „Mit<br />
dem Sterben ist es noch gar wandelbar.<br />
Gestern sind ihrer 12 Tote gewesen. Es<br />
ist in vielen Häusern wiederkommen,<br />
da es eine Weile friedsam ist gewesen.“<br />
Im November mußte man eine Tagung<br />
einstellen, weil die Görlitzer wegen der<br />
Gefahr der Pest nicht kommen konnten.<br />
Ferner wird von verheerenden Seuchen<br />
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22<br />
Geschichte
Geißel der Menschheit<br />
Die Pest in Görlitz<br />
Görlitz um 1650 als Kupferstich von Matthäus Merian<br />
aus den Jahren 1498 und 1504 erzählt.<br />
Eine weitere Pest von 1508 raffte von<br />
<strong>Mai</strong> bis Weihnachten 3300 Personen<br />
hinweg. Von den Begüterten flohen da-<br />
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Geschichte<br />
23
Die Pest in Görlitz –<br />
Pest in Görlitz<br />
mals eingerechnet ihrer Dienerschaft<br />
etwa 200; die Landleute brachten keinerlei<br />
Feldfrüchte und Holz herein, so<br />
daß große Not entstand. Weil nun in der<br />
Zeit des 1. September dieses Jahres die<br />
meisten Ratleute geflohen waren, wurde<br />
die Ratskür auf den 11. Dezember verschoben.<br />
Ueber die Höhe der Todesfälle<br />
in diesem Schreckensjahre geben allein<br />
schon die Listen in den Kürbüchern,<br />
die doch nur eine ganz kleine Anzahl in<br />
besseren Verhältnissen lebender Bürger<br />
enthalten, Auskunft: Von den Ratsmitgliedern<br />
und Aeltesten starben 4, von<br />
den Innungsvorständen 5, von den 34<br />
Gassenmeistern 12; wahrscheinlich ist<br />
deren Zahl so hoch, weil die Gassenmeister<br />
in ihren Bezirken überall auf<br />
den Straßen und in den Häusern zum<br />
Rechten sehen mußten. Die schreckliche<br />
Krankheit pflegte sich von Land<br />
zu Lande, von Stadt zu Stadt und von<br />
Dorf zu Dorf zu verbreiten, um, wenn<br />
sie sich an einem Orte ausgetobt hatte,<br />
einen anderen zu erfassen. So war<br />
zu Ostern 1520 die Pest in Prag ausgebrochen<br />
und hatte dort Tausende von<br />
Menschen hingerafft. Und als sie dort<br />
aufhörte, suchte sie ganz Böhmen heim<br />
und kam über die Grenze. In Zittau trat<br />
sie seit dem Fronleichnamtag (30. <strong>Mai</strong>),<br />
in Görlitz seit dem 22. Juli 1521 auf und<br />
dauerte bis Weihnachten. 1700, nach<br />
einer anderen Nachricht 2600 Menschen<br />
erlagen ihr in der Neißestadt. Schüler<br />
hatten sie eingeschleppt; in der engen<br />
finsteren Krebsgasse fand sie zunächst<br />
einen nahrhaften Boden und verbreitete<br />
sich durch die ganze Stadt und Vorstadt.<br />
In einem Hause in der Lunitz, wo<br />
in zwei Stuben 52 Menschen wohnhaft<br />
gewesen, starben davon 36. Was flüchten<br />
konnte, flüchtete: Bürgermeister,<br />
Ratmannen und wohlhabende Bürger.<br />
Der regierende Bürgermeister Matthias<br />
Rosenberg reiste um Mitte August nach<br />
dem Ratsdorfe Hähnichen, wurde aber<br />
dort um Michaelis von der Seuche erfasst,<br />
und da noch ein Schlaganfall eintrat,<br />
kam er mit seinem Arzte zurück,<br />
um die Arzeneien zur Hand zu haben.<br />
Er starb dann bald am 21. Oktober. Die<br />
Ratskür fiel 1521 überhaupt aus, und es<br />
blieben die früheren Mitglieder in ihrem<br />
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24<br />
Geschichte
Geißel der Menschheit<br />
Die Pest in Görlitz<br />
Amte. Diese traurigen gesundheitlichen<br />
Verhältnisse hatten schon früh den Rat<br />
veranlaßt, einen Stadtphysikus anzustellen,<br />
so den Doktor Andreas Jöppener,<br />
der 1507 eine sehr beschränkte Wohnung<br />
an dem Vogtshofe hatte und die<br />
Erlaubnis erhielt, ein halbes Haus in der<br />
Krebsgasse, das dem ehrbaren Heinz<br />
Eschenloher gehört hatte, geschoß- und<br />
aller Beschwerungen frei zu kaufen, damit<br />
er dort bei der drohenden Pestilenz<br />
seinen ärztlichen Beruf besser ausführen<br />
könne. Später wirkten als Stadtphysiker<br />
Johann Tröger (gest. 1550), Johann Sigmund<br />
(gest. 1566) und Thomas Fritsche<br />
(gest. 1601), die auch als gelehrte Humanisten<br />
und Dichter hervortraten.<br />
Quelle:<br />
Geschichte der Stadt Görlitz<br />
von Dr. Richard Jecht<br />
Der Nikolaifriedhof von Görlitz<br />
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Geschichte<br />
25
Als Emil die Zapfsäule auf dem Demianiplatz in Görlitz bediente<br />
Leserbrief<br />
heute als „Ristorante da Vinci“ bekannt.<br />
Am Park neben der Rückseite des Theaters<br />
befindet sich das Denkmal des Görlitzer<br />
Bürgermeisters „Gottlob Ludwig<br />
Demiani“. Den Platz begrenzen der Kaisertrutz<br />
und eine ausgedehnte Rasenfläche.<br />
Inmitten dieses Areals befand<br />
Eine Tankstelle der Firma Olex, 1930er Jahre<br />
Bereits seit dem 17. Jahrhundert handelt<br />
es sich beim Demianiplatz, ehemals<br />
„Rademarkt“ in Görlitz, um einen Knotenpunkt<br />
des innerstädtischen Verkehrs.<br />
Vornehmlich diente er als Parkplatz für<br />
Dorschkutschen und Pferdestraßenbahnen.<br />
Dieser Tradition folgend steht<br />
dieser Bereich aktuell als Reisebushaltestelle<br />
zur Verfügung. An der Westseite<br />
befand sich mit dem Gasthof „Zur Goldenen<br />
Sonne“ eine der vornehmsten<br />
Gasthöfe für Fuhrleute und Viehhändler,<br />
Tank-Kiosk mit „Seltenheitswert“ 1923<br />
sich eine Benzinzapfsäule, an welche<br />
sich noch manch Görlitzer Einwohner<br />
erinnern kann. Bis Ende der sechziger<br />
Jahre wurde sie durch einen Tankwart<br />
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26<br />
Leserbrief
Als Emil die Zapfsäule auf dem Demianiplatz in Görlitz bediente<br />
Leserbrief<br />
Selbstbedienung an den Tankstellen, 1973<br />
bedient, welcher im Volksmund liebevoll<br />
„Emil“ genannt wurde. Im Jahre 1930<br />
waren in Deutschland bereits 50 000<br />
Tankstellen registriert. Eine der ersten<br />
Tankstellen soll im Jahre 1925 in Kamenz<br />
eröffnet worden sein. Nicht zufällig<br />
befindet sich daher in dieser Stadt<br />
das Deutsche Tankstellen-Museum. Als<br />
älteste Tankstelle in Deutschland gilt<br />
die im Jahre 1924 in einem Essener<br />
Hinterhof eröffnete Anlage, welche bis<br />
2019, nach fast 100 Jahren von einem<br />
Tankwart betrieben wurde. Bald entstehen<br />
ganze Tankstellen-Shops, angeschlossene<br />
Parkflächen für PKW, LKW,<br />
Raststätten, Toiletten-Anlagen und Ruheplätze.<br />
Tankstellendichte, Betreiber<br />
und Angebote haben sich in den letzten<br />
Jahrzehnten auch in Görlitz und Umgebung<br />
grundlegend verändert. Im Stadtgebiet<br />
befanden sich ehemals Tankstellen<br />
in Weinhübel, am Postplatz, auf der<br />
Rauschwalder und Bahnhofsstraße und<br />
wurden von Tankstellen-Pächtern betreiben.<br />
Gegenwärtig befinden sich in<br />
der Stadt Tankstellen auf der „Bahnhofsstraße“<br />
nahe dem Parkhaus, auf der „Alten<br />
Nieskyer Straße“, am „Neiße-Park“,<br />
sowie an der „Reichenbacher Straße“.<br />
Das Tanken ehemals an der Rauschwalder<br />
Straße ist mit unangenehmen Erinnerungen<br />
verbunden, denkt man an die<br />
Auto-Warteschlangen, welche sich am<br />
Freitag Abend bis zur Bahn-Unterführung<br />
hinzogen. Oftmals musste auch erst auf<br />
das Tankfahrzeug gewartet werden. Bei<br />
Wochenend-, besonders Urlaubsfahrten<br />
war vorzusorgen, indem man einen 20-<br />
oder 10 Liter-Blechkanister, falls ein sol-<br />
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28<br />
Leserbrief
Eine kleine Tankstellengeschichte<br />
Leserbrief<br />
Älteste Tankstelle Deutschlands (eröffnet 1924)<br />
cher überhaupt zur Verfügung stand, im<br />
Kofferraum mitführte. Einem Ritual gleichend<br />
komme ich noch immer bis zum<br />
heutigen Tage nicht davon los, wenigstens<br />
für den „Notfall“ auch einen Kanister<br />
in der Garage zu parken. Antriebsarten<br />
und Kraftstoffe für Fahrzeuge haben<br />
in ihrer Verwendung in kurzer Zeit nahezu<br />
revolutionären Charakter erfahren.<br />
Zu meinen Kindheitserinnerungen<br />
gehört in diesem Zusammenhang ein<br />
Gemüsetransport-LKW, der den gegenüberliegenden<br />
Konsum-Laden belieferte.<br />
Zwischen Ladeflächen und Fahrerhaus<br />
befand sich ein großer Heizkessel,<br />
der mit Holzscheiten vollgepackt wurde<br />
und nach entsprechendem Zeitraum<br />
konnte die Fahrt beginnen. Vorrangig<br />
werden heute Kraftstoffe wie Benzin,<br />
Diesel, auch synthetischer Diesel, Erdgas<br />
und Wasserstoff-Gas verwendet.<br />
Für das Jahr 2019 bestand das Ziel, 100<br />
öffentliche Wasserstoff-Tankstellen für<br />
PKW auszurüsten. Emil von der Benzinzapfstelle<br />
am Demiani-Platz würde heute<br />
wohl aus dem Staunen nicht mehr<br />
herauskommen: „Job los“, autonomes<br />
Fahren von Autos, Computer gesteuerte<br />
Bedienung, Luxusausstattung von Fahrzeug<br />
und Motorädern u.a. Lassen wir<br />
ihm seine wohlverdiente Ruhe, zwinkern<br />
Emil beim Überqueren des Demianiplatzes<br />
in dankbarer Erinnerung an<br />
ein „Görlitzer Original“ einfach zu.<br />
Dr. Bernhard Wolf<br />
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Leserbrief<br />
29
Große Geschichte ganz kurz –<br />
Erfolgsgeschichte<br />
Feuer für Olympia -<br />
Das Ereignis - 1. Akt<br />
26. August 1972. Die Welt blickt<br />
nach München. Im neu erbauten<br />
Stadion mit seiner kühnen Zeltarchitektur<br />
läuft der deutsche Juniorenmeister<br />
über 1.500 Meter - Günter<br />
Zahn - ein, umrundet das Grün,<br />
sprintet behände die Stufen hinauf<br />
und entzündet hoch oben das<br />
olympische Feuer. Nahezu 6.000<br />
Kilometer ist die Flamme gereist,<br />
wurde von Olympia in Griechenland<br />
ausgehend 6.000 Mal von Läufer zu<br />
Läufer weitergereicht, bis sie nach<br />
München gelangte.<br />
So alt wie die olympische Tradition,<br />
so neu ist die Technik, mit der gezündet<br />
wird. Und sie ist ein Symbol<br />
für einen unternehmerischen Lauf,<br />
der vor rund 100 Jahren begann<br />
und bis heute nicht beendet ist.<br />
Josef Tyczka<br />
Denn die olympische Fackel für<br />
die Sommerspiele des Jahres 1972<br />
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30<br />
Geschichte
Der Beginn einer Erfolgsgeschichte im Unternehmen Tyczka<br />
Tyczka<br />
Georg Tyczka<br />
wurde im eher unscheinbaren oberbayerischen<br />
Geretsried entwickelt.<br />
In einem mittelständischen Unternehmen,<br />
dessen Inhaber und Mitarbeiter<br />
Dr. Hans-Wolfgang Tyczka<br />
seit Beginn des 20. Jahrhunderts Pioniergeist,<br />
Engagement und die Bereitschaft<br />
stehen, sich ändernden Verhältnissen<br />
nicht nur anzupassen, sondern ihnen<br />
möglichst vorauszueilen.<br />
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Geschichte<br />
31
Große Geschichte ganz kurz –<br />
Erfolgsgeschichte<br />
Der Auftakt zur XX. Olympiade in München: Der 18-jährige Günter Zahn aus Passau, deutscher<br />
Juniorenmeister über 1.500 m entzündet das olympische Feuer. Es wird 17 Tage brennen.<br />
Josef Tyczka, Georg Tyczka, Dr. Hans-<br />
Wolfgang Tyczka repräsentieren drei Generationen<br />
Unternehmertum und eine Erfolgsgeschichte,-<br />
deren Beständigkeit im<br />
Wandel und dem Bewahren alter Werte<br />
liegt. Dabei kann sie durchaus auch als<br />
Beispiel für die Geschichte unseres Landes<br />
im vergangenen Jahrhundert gelten,<br />
liest sich tragisch, komisch, spannend<br />
wie ein Kriminalroman und dann wieder<br />
politisch, aber immer interessant.<br />
Ein 100 Jahre dauernder Einsatz rund<br />
um Energie, mit bahnbrechenden Innovationen<br />
und vielen Hürden, die es zu<br />
überwinden galt. Das hat sich bis heute<br />
nicht geändert.<br />
Doch begeben wir uns zunächst nach<br />
Oberschlesien, nach Tarnowitz, in das<br />
beginnende 20. Jahrhundert.<br />
Die Wurzeln<br />
Das neue Jahrhundert verspricht spannend<br />
zu werden. Und zwar in allen Bereichen.<br />
Die Industrialisierung schreitet<br />
voran. Das Automobil wird immer alltagstauglicher.<br />
Maler verunsichern die<br />
Gesellschaft mit vollig neuen Stilrichtungen.<br />
Der erste motorisierte Flug gelingt<br />
- wenn auch nur mit 12 Sekunden Dauer<br />
und einer Reichweite von 70 Metern.<br />
Kurzum, die richtige Zeit für mutige und<br />
kreative Köpfe.<br />
32<br />
Geschichte
Der Beginn einer Erfolgsgeschichte im Unternehmen Tyczka<br />
Tyczka<br />
Etwas von diesem Pioniergeist war<br />
bis nach Oberschlesien geschwappt,<br />
nach Tarnowitz. Dort gab Josef Tyczka<br />
(16.9.1862-5.8.1939) Anfang des 20.<br />
Jahrhunderts einen sicheren Posten als<br />
Volksschullehrer auf.<br />
Rund 40 Jahre alt war er da, seit zehn<br />
Jahren verheiratet mit Ottilie, geborene<br />
Frank (6.5.1874-26.11.1962). Seine Frau<br />
kam aus angesehenem Hause: lhr Vater,<br />
der Berginspektor Theodor Frank, war<br />
Stadtrat und wurde mit dem Titel „Stadtältester“<br />
geehrt, eine Straße und ein<br />
Teich in dem schönen großen Stadtpark<br />
des Ortes wurden nach ihm benannt. Für<br />
die Anlage des Parks war Theodor Frank<br />
verantwortlich und zuständig.<br />
Josef Tyczka war das zweite der zehn<br />
Kinder von Adam und Paulina Tyczka, die<br />
ein großes, alteingesessenes Gasthaus<br />
mit Saal, Garten, Gästezimmern und<br />
Landwirtschaft in Kozlowa-Gora bei Neudeck<br />
in Oberschlesien betrieben. Wahrscheinlich,<br />
dass es dort für den Nachwuchs<br />
zu jeder Zeit Arbeit gab. lm Alter<br />
von 23 Jahren wechselte Josef Tyczka<br />
ins nahe Tarnowitz, wurde Lehrer an der<br />
Volksschule der Stadt. Doch offensichtlich<br />
war seine Berufswahl langfristig nicht<br />
die richtige. Er litt permanent unter heftigen<br />
Kopfschmerzen und reichte schließlich<br />
einige Jahre nach der Geburt seiner<br />
Tochter Elisabeth (10.2.1901-14.3.1998)<br />
die Pensionierung ein. Der erste Sohn<br />
Georg war am 14.6.1896 in Tarnnowitz<br />
geboren worden.<br />
Allerdings hatte sich Josef Tyczka nicht<br />
vom Schuldienst befreien lassen, um<br />
ein geruhsames Leben zu beginnen. lm<br />
Gegenteil: Er legte jetzt erst richtig los.<br />
Zunächst übernahm er die Vertretung<br />
einer Kohlenniederlage in Tarnowitz von<br />
der Gräflichen Verwaltung Henckel von<br />
Donnersmarck. Dann kaufte er 1904 eine<br />
Dampfziegelei. Dass der ehemalige Beamte<br />
in größeren Dimensionen dachte,<br />
zeigte er sogleich. Noch im Spätherbst<br />
ließ er die ersten Trockenschuppen errichten,<br />
damit mit dem Lufttrocknen<br />
der Ziegel sobald als möglich begonnen<br />
werden konnte. Die Rechnung ging nicht<br />
auf. Ein heftiger Sturm hob eines Nachts<br />
<br />
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<br />
<br />
<br />
Geschichte 33
Große Geschichte ganz kurz –<br />
Erfolgsgeschichte<br />
Otillie und Josef Tyczka<br />
die Dächer von den Pfeilern. Sie konnten<br />
erst im darauffolgenden Frühjahr wieder<br />
befestigt werden.<br />
Doch dann lief die Ziegelei gut und sorgte<br />
nicht nur für das tägliche Brot, sondern<br />
auch für Delikatessen auf dem Tisch der<br />
Familie in der Paulstraße 7. Ottilie Tyczka<br />
legte auf dem Gelände der Ziegelei ein<br />
Spargelfeld an, das dank des sandigen<br />
Bodens üppigen Ertrag brachte. 22 Pferde<br />
transportierten unter der Woche die<br />
Ziegel, am Wochenende freute sich die Familie<br />
über ein Gespann, in dem Kutscher<br />
Adam sie in fescher Livree stolz ausfuhr.<br />
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34<br />
Geschichte
Der Beginn einer Erfolgsgeschichte im Unternehmen Tyczka<br />
Tyczka<br />
Tarnowitz, Paulstr. 7, Georg, Elisabeth und Leonhard, am Fenster Josef und Ottilie Tyczka<br />
In dieser Atmosphäre wuchs Georg Tyczka<br />
auf. Der älteste Sohn erlebte den Wechsel<br />
des Vaters vom Lehrer zum Unternehmer<br />
bewusst mit. Angesichts der Tüchtigkeit<br />
der Eltern ist zu vermuten, dass auch er<br />
früh begann, in der Ziegelei und vor allem<br />
beim Gemüseanbau mitzuarbeiten.<br />
Doch die Idylle war da schon im Wanken.<br />
Den Ausbruch des ersten Weltkrieges<br />
Anfang August 1914 erlebte Ottilie Tyczka<br />
mit ihren Kindern Elisabeth, genannt<br />
Elly, und Leonard, genannt Leo, mit ihrer<br />
Schwester Elly Hentke und deren Familie<br />
im Ostseebad Zoppot. Überall am Strand<br />
hingen Telegramme mit den neuesten<br />
Nachrichten, berichtete sie später in ihren<br />
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Geschichte<br />
35
Große Geschichte ganz kurz –<br />
Erfolgsgeschichte<br />
Lebenserinnerungen, eine neue Meldung<br />
nach der anderen ging ein. So packte sie<br />
schließlich die Koffer und fuhr mit ihren<br />
Kindern im völlig überfüllten Zug zurück<br />
und kaum waren sie in Tarnowitz angekommen,<br />
verkündeten schon die Sirenen<br />
den Kriegsausbruch.<br />
Georg Tyczka hatte zu diesem Zeitpunkt<br />
die Schule mit dem so genannten Einjährigen<br />
abgeschlossen und eine Landwirtschaftslehre<br />
begonnen. Nur durch gutes<br />
Zureden seiner Eltern blieb er noch während<br />
der Ernte bei seinem Lehrbetrieb.<br />
Doch im September 1914 gab es kein<br />
Halten mehr.<br />
Er wollte nicht als „Drückeberger“ gelten<br />
sagte er seiner Mutter, und meldete sich<br />
am 21. September 1914 als Freiwilliger<br />
für das 11. Jägerregiment zu Pferde in<br />
Tarnowitz. Dann ging es nach Osten.<br />
Einen Teil seines Soldatenlebens hat er<br />
nach den Erinnerungen seiner Mutter<br />
unter anderem auf landwirtschaftlichen<br />
Betrieben in der Ukraine verbracht. Aus<br />
dem Krieg brachte er nicht nur Fronterfahrungen<br />
in Frankreich und dem Kurland<br />
sowie für seine mutigen Einsätze als<br />
Vizewachtmeister und Offiziersaspirant<br />
des 7. Husarenregiments das Eiserne<br />
Kreuz 2. Klasse und das später verliehene<br />
Frontkämpfer-Ehrenkreuz mit. Irgendwo<br />
in der feuchten Kälte des Ostens zog sich<br />
Georg Tyczka schon in jungen Jahren ein<br />
rheumatisches Leiden zu, das ihn sein<br />
ganzes späteres Leben quälen sollte.<br />
Die in der Landwirtschaft erworbenen<br />
Kenntnisse hingegen waren ihm von<br />
nachhaltigem Nutzen. In Ost- und Westpreußen<br />
arbeitete er auf großen Gütern,<br />
leitete als Inspektor von 1919 bis 1922<br />
das 900 Hektar große Gut Dobrin, dessen<br />
Eigentümer noch minderjährig war.<br />
Ein Zeugnis lobt ihn als eifrigen, sehr fähigen<br />
Beamten.<br />
Der erste Weltkrieg hatte nicht nur Europa,<br />
sondern auch die kleine Welt<br />
Oberschlesiens verändert. Im Hause<br />
Tyczka wechselte zunächst nur das Arbeitsgebiet.<br />
Josef Tyczka konnte seine<br />
Ziegelei gut verkaufen und eine Sandgrube<br />
von der gräflichen Henckel von<br />
Donnersmarck‘schen Verwaltung pachten.<br />
Ein halbes Hundert Mitarbeiter<br />
schaufelten den Sand direkt in die Wag-<br />
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36<br />
Geschichte
Der Beginn einer Erfolgsgeschichte im Unternehmen Tyczka<br />
Tyczka<br />
gons einer Kleinbahn, die ihn unverzüglich<br />
zu den Bedarfsstellen der Hüttenindustrie<br />
brachte. 60 bis 80 Waggons<br />
täglich verließen die Sandgrube. Auch<br />
andere Unternehmen liefen prächtig.<br />
Vater Tyczka hielt eine Beteiligung am<br />
Verlag des Tarnowitzer Kurier und hatte<br />
zudem einen Direktorenposten bei<br />
der örtlichen Volksbank. Wie später sein<br />
Sohn seine unternehmerischen Aktivitäten<br />
auf mehrere Arbeitsgebiete, war in<br />
jeder dieser Firma auch selbst aktiv.<br />
Da gab es natürlich manch unvorhergesehenes<br />
zu bewältigen. In der Sandgrube<br />
kam es vor, erinnerte sich Enkel Dr.<br />
Hans-Wolfgang Tyczka, dass nachts alle<br />
Schaufeln gestohlen wurden. So war das<br />
Durcheinander am nächsten Tag vorprogrammiert,<br />
bis wieder ausreichend Arbeitsgeräte<br />
beschafft waren.<br />
Dennoch war der Unternehmeralltag<br />
zu jener Zeit geruhsamer als im dritten<br />
Jahrtausend, denkt der Enkel. „Es war<br />
behäbiger, nicht so hektisch.“ Der Großvater<br />
nahm sich durchaus Zeit für den<br />
Nachwuchs.<br />
Resolut, sesshaft, konservativ und auf<br />
seinen guten Ruf bedacht - so sehr, dass<br />
er sogar mehr Gewinn als notwendig<br />
auswies und dadurch höhere Steuern<br />
zahlen musste. Ein guter Steuerzahler<br />
durfte sich in jener Zeit einer besonderen<br />
Reputation erfreuen.<br />
Diese zu bewahren war als Deutscher<br />
nach dem verlorenen ersten Weltkrieg<br />
kein einfaches Unterfangen. Zur Erinnerung:<br />
Sämtliche Proteste der Besiegten<br />
gegen die von den alliierten Siegern<br />
beschlossenen Friedensbedingungen<br />
verhallten ungehört. Die Siegermächte<br />
drohten mit einer Wiederaufnahme des<br />
Krieges, falls die Deutschen nicht einwilligten.<br />
Im Vertrag war die alleinige<br />
Kriegsschuld Deutschlands und damit<br />
die Verantwortung für alle Kriegsschäden<br />
festgeschrieben.<br />
Schließlich unterzeichnete die deutsche<br />
Delegation am 28. Juni 1919 um 15.12<br />
Uhr den von den Siegermächten diktierten<br />
Friedensvertrag im Spiegelsaal des<br />
Versiller Schlosses.<br />
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Geschichte 37
Große Geschichte ganz kurz –<br />
Erfolgsgeschichte<br />
Sandgrube von Josef Tyczka in Georgenberg<br />
Zu den Reparationsleistungen zählten<br />
unter anderem der Verlust aller Kolonien<br />
und die Abtretung von Gebieten innerhalb<br />
des Landes wie etwa Westpreußen<br />
und das Memelland, die Abgabe von 75<br />
Prozent der jährlichen Zink- und Eisenförderung<br />
und einem Fünfteln der Kartoffel-<br />
und Getreideernte.<br />
Schlesien und Teile Ostpreußens sollten<br />
zunächst beim Reich bleiben, das Volk<br />
durch Abstimmung über das weitere<br />
Schicksal seiner Heimat entscheiden. Die<br />
Gebiete wurden erst einmal einer alliierten<br />
Kommission unterstellt. Das betraf<br />
auch Tarnowitz. Das Gebiet verwaltete<br />
der französische General LaRond, der<br />
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38<br />
Geschichte
Der Beginn einer Erfolgsgeschichte im Unternehmen Tyczka<br />
Tyczka<br />
offen mit der polnischen Bevölkerung<br />
sympathisierte.<br />
Im März 1921 hatten die Oberschlesier<br />
zu entscheiden, ob ihr Gebiet künftig<br />
zu Polen gehören oder beim Reich<br />
verbleiben sollte. Die Entscheidung über<br />
das wertvolle Industriegebiet wurde im<br />
ganzen Reich Spannung beobachtet, das<br />
Abstimmungsergebnis in Deutschland<br />
euphorisch gefeiert.<br />
Dabei war es nicht wirklich eindeutig:<br />
597 Gemeinden stimmten für Polen, 664<br />
für Deutschland. Es war die Zeit blutiger<br />
Auseinandersetzungen zwischen den<br />
Befürwortern beider Interessengruppen.<br />
Die Kämpfe um den Annaberg in<br />
der Nähe von Oppeln legen ein beredtes<br />
Zeugnis ab. Auch die Familie Tyczka bekam<br />
das zu spüren.<br />
Georg Tyczka<br />
„Nach dem Aufstand am 3. <strong>Mai</strong> drangen<br />
16 Insurgenten (Aufständische) in unser<br />
Haus, die nach Waffen suchten wie bei<br />
allen Deutschen. Leo, als angebliches<br />
Mitglied des deutschen Selbstschutzes,<br />
wollte sie abführen. Als sie ihn mittels eines<br />
Revolvers bedrohten, ihn zu erschießen,<br />
stellte ich mich vor sie hin und sagte:<br />
„Erschießt mich, meinem Kinder dürft<br />
Ihr nichts tun“, berichtet Ottilie Tyczka.<br />
Dazu kam es nicht.<br />
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Geschichte<br />
39
Große Geschichte ganz kurz –<br />
Erfolgsgeschichte<br />
Dr. Leonhard Tyczka<br />
Josef Tyczka, der Nachbarn bei einem<br />
Überfall hilfreich unterstützt hatte, kehrte<br />
zurück und beruhigte die Bande mit<br />
Zigaretten und Alkohol, bis sie abzog.<br />
Am 20. Oktober 1921 bestimmten<br />
schließlich die Alliierten – nicht zur Freude<br />
der Deutschen. Der einträglichste Teil<br />
des oberschlesischen Industriegebietes<br />
mit den meisten Kohlebergwerken, den<br />
größten Bodenschätzen und der ertragreichen<br />
Stahlindustrie wurde Polen zugesprochen,<br />
ein herber Verlust für die<br />
durch die hohen Reparationszahlungen<br />
ohnehin gebeutelte deutsche Wirtschaft.<br />
Tarnowitz und seine Umgebung wurden<br />
polnisch, das eine halbe Stunde entfernte<br />
Beuthen blieb deutsch. Ab sofort waren<br />
beim Transport von Waren über die<br />
Grenze Zolle zu zahlen.<br />
Durch diese Ereignisse war der Handlungsspielraum<br />
für junge Deutsche in<br />
den nun polnischen Gebieten eng geworden.<br />
Viele Menschen waren schon<br />
vor der Abstimmung am 20. März aus<br />
Oberschlesien geflüchtet. Der polnische<br />
Korridor im ehemaligen Westpreußen<br />
erschwerte die Situation zusätzlich. Nun<br />
überlegte auch Josef Tyczka, wie und wo<br />
er seinem Sohn Georg bei der erfolgreichen<br />
Gestaltung der Zukunft außerhalb<br />
Oberschlesiens helfen könnte.<br />
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40<br />
Geschichte
Der Beginn einer Erfolgsgeschichte im Unternehmen Tyczka<br />
Tyczka<br />
Was für ihn selbst undenkbar schien, die<br />
Heimat zu verlassen, das gestattete er<br />
seinem Erstgeborenen. Der zweite Sohn<br />
Leonhard (17.4.1905-18.10.1969) studierte<br />
in Breslau Jura.<br />
Aufbruch und Neubeginn<br />
Georg Tyczka verließ Tarnowitz im Jahr<br />
1922. Er zog nach Görlitz an der Neiße,<br />
in das nahe, damals noch selbstständige<br />
Dorf Posottendorf-Leschwitz heute<br />
Görlitz-Weinhübel. Es muss wohl das<br />
günstige Angebot einer ehemaligen Hartsteinfabrik<br />
mit Sandgrube gewesen sein,<br />
das Josef Tyczka und seinen Sohn Georg<br />
mit den befreundeten Brüdern und Vater<br />
Gluch bewogen hat, im August 1922 die<br />
Leschwitzer Teigwarenfabrik zu gründen.<br />
Nach dem Gesellschaftsprotokoll vom<br />
9. August 1922 wurde eine Produktionsgesellschaft<br />
mit einem Stammkapital von<br />
100.000 Mark gegründet, einen Tag spä-<br />
Geschichte<br />
41
Große Geschichte ganz kurz –<br />
Erfolgsgeschichte<br />
ter wurde der Ankauf der Hartsteinfabrik<br />
beschlossen. Am 25.10.1922 trat Josef<br />
Tyczka seinen Kapitalanteil an die anderen<br />
Gesellschafter ab und schied aus der<br />
Firma aus. Der Grundstein war gelegt für<br />
die berufliche Karriere des Sohnes Georg<br />
und für ein Unternehmen, das bis heute<br />
erfolgreich am Markt ist.<br />
Es ist keine einfache Zeit, in der der junge<br />
Tyczka sein Leben als Geschäftsmann<br />
beginnt. Weltweite Wirtschaftskrisen<br />
erschweren eine rentable Produktion,<br />
die Inflation steigt ins Unermessliche,<br />
ebenso die Arbeitslosenzahlen. Stand<br />
der Dollar im November 1922 noch bei<br />
4.450 Mark, so erreicht er ein Jahr später<br />
4.180.500.000 Mark.<br />
Die Preise wechseln nahezu stündlich,<br />
am 1. November 1923 kostet ein Pfund<br />
Brot 260 Milliarden Mark. Am 15. November<br />
1923 wird die Rentenmark als<br />
neues Zahlungsmittel ausgegeben, fünf<br />
Tage später der Dollarkurs bei 4,2 Billionen<br />
Papiermark festgeschrieben. Auf<br />
dem Schwarzmarkt steigt er noch bis zu<br />
einem Kurs von 12 Billionen.<br />
Zum Ende der Inflation wird der Kurs eine<br />
Billion Papiermark gegen eine Gold- oder<br />
Rentenmark fixiert. Wer da Ware hatte,<br />
war gut dran. Und die besaß Georg Tyczka:<br />
Über die Inflation gerettete Mengen<br />
an Mehl bildeten das Startkapital für die<br />
Zeit nach dem November 1923.<br />
Der 4. Juli 1924 ist ein wichtiges Datum<br />
in der Firmengeschichte. Georg Tyczka<br />
übernahm alle Kapitalanteile der Leschwitzer<br />
Teigwarenfabrik GmbH. Vier<br />
Monate später, am 1. November 1924<br />
beschloss er als nun mehr alleiniger<br />
Gesellschafter und Geschäftsführer, die<br />
Teigwarenproduktion mit sofortiger Wirkung<br />
einzustellen.<br />
Dass die Nudeltrockenanlage nicht richtig<br />
funktionierte, dürfte ihn in diesem<br />
Entschluss bestärkt haben. Noch mehr<br />
jedoch, dass er eine interessante Alternative<br />
sah.<br />
Ab sofort verlegte sich Georg Tyczka<br />
auf die Erzeugung von gasförmigem<br />
Sauerstoff. Zu diesem Zweck erwarb er<br />
von der Zeidler AG in Liegnitz eine Sauerstofferzeugungsanlage<br />
und ließ auf<br />
dem Grundstück der Teigwarenfabrik<br />
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42<br />
Geschichte
Der Beginn einer Erfolgsgeschichte im Unternehmen Tyczka<br />
Tyczka<br />
Bilanz der Leschwitzer Teigwarenfabrik 31.12.1923<br />
das benötigte Fabrikgebäude errichten.<br />
Ein Verkaufsabkommen über die gesamte<br />
Produktion wurde mit der Griesheim<br />
Autogen-Verkaufs GmbH in Frankfurt am<br />
<strong>Mai</strong>n abgeschlossen und der Firmenname<br />
geändert.<br />
„Georg Tyczka GmbH Sauerstoffwerk,<br />
Leschwitz bei Görlitz“, unter diesem<br />
Namen trat das Unternehmen für die<br />
kommenden Jahrzehnte an die Öffentlichkeit.<br />
Der besseren Verständlichkeit<br />
halber wird hier von nun an jedoch von<br />
(Görlitz) Weinhübel, wie der Ort später<br />
umbenannt wurde, die Rede sein.<br />
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Geschichte<br />
43
Große Geschichte ganz kurz –<br />
Erfolgsgeschichte<br />
28 Jahre alt war Georg Tyczka, als er diesen<br />
Entschluss fasste. Und die ldee mit<br />
dem Sauerstoff kam nicht von ungefähr.<br />
Er folgte den Hinweisen eines Kriegskameraden,<br />
Herbert Patzig, der ebenfalls<br />
im September 1914 als Kriegsfreiwilliger<br />
zum 11. Jägerregiment zu Pferde in Tarnowitz<br />
eingerückt war und mit dem er<br />
bis 1917, zum Zeitpunkt seiner Versetzung<br />
nach Bonn, gemeinsam im Osten<br />
Kriegsdienst leistete. 1923 trafen sich die<br />
beiden „Veteranen“ zufällig in Görlitz auf<br />
der Straße. Patzig, der über eine neue<br />
Entwicklung auf dem Metallbausektor<br />
bestens informiert war, begeisterte seinen<br />
Freund dafür.<br />
Bis Anfang der zwanziger Jahre wurden<br />
nämlich Brücken, Schiffe und andere<br />
Metallkonstruktionen meist umständlich<br />
mit Nieten zusammengefügt. Doch Patzigs<br />
Vater Max hatte eine neue Technik<br />
kennen gelernt. Der ehemalige Obersteiger<br />
eines Königshütter Bergwerkes hatte<br />
nach seiner frühen Pensionierung eine<br />
neue Betätigung gesucht und dabei das<br />
Schweißen mit Acetylen und Sauerstoff<br />
kennen gelernt.<br />
Für die schon erwähnte Frankfurter Firma<br />
Griesheim verkaufte er nun Karbidentwickler<br />
(zur Herstellung von Acetylen)<br />
und Schweiß- und Schneidbrenner an<br />
Schmiede, Schlosser und andere metallverarbeitende<br />
Betriebe der Umgebung.<br />
Zum Schweißen wird Sauerstoff benötigt<br />
und da war die Versorgungslage äußerst<br />
dünn. Wochenlang mussten die schlesischen<br />
Betriebe manchmal warten, bis<br />
das nächstgelegene Sauerstoffwerk in<br />
Dresden liefern konnte.<br />
So entwickelte sich, sicherlich aufgrund<br />
der Erfahrungen von Senior Max Patzig,<br />
die ldee, Sauerstoff zu erzeugen und<br />
zu vertreiben. Eine äußerst weitsichtige<br />
Entscheidung. Bis heute stehen Gase im<br />
Mittelpunkt der Tyczka Unternehmensgruppe.<br />
Mit dem Kauf einer Luftzerlegungsanlage<br />
war es allerdings nicht getan. Neue Märkte<br />
mussten erschlossen werden. Landauf,<br />
landab bot Georg Tyczka Schweißlehrgänge<br />
für Schmiede und Schlosser an,<br />
bei denen sie lernten, mithilfe von Sauerstoff<br />
und Acetylen Metallverbindungen<br />
herzustellen.<br />
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44<br />
Geschichte
Der Beginn einer Erfolgsgeschichte im Unternehmen Tyczka<br />
Tyczka<br />
Mehrere Monate im Jahr waren die mobilen<br />
Lehnwerkstätten unterwegs, einige<br />
tausend Handwerker wurden im Laufe<br />
der Zeit so ausgebildet.<br />
Doch zunächst war der Start für das junge<br />
Unternehmen nicht einfach. Bereits<br />
zu Jahresbeginn 1925 musste sich der<br />
Inhaber mit Finanzschwierigkeiten befassen.<br />
Die Banken, um Kredite befragt,<br />
winkten ab.<br />
Und so kam der Vater in die Firma zurück.<br />
Josef Tyczka gab Kapital und Kredite<br />
und bekam als Sicherheit 50 Prozent<br />
der Geschäftsanteile abgetreten.<br />
Auch im Folgejahr 1926 lief das Geschäft<br />
nur mager, die allgemeine schlechte<br />
Wirtschaftslage trug ebenfalls nicht zum<br />
Aufschwung bei. Georg Tyczka ließ sich<br />
davon nicht beirren. Er nutzte die Zeit,<br />
um Lieferstellen bzw. Auslieferungslager<br />
für technische Gase (Sauerstoff, Acetylen<br />
und Karbid sowie Stickstoff) einzurichten.<br />
Der Maschinenpark wurde ausgebaut,<br />
am 15. November 1928 mit Kurt Fischer<br />
erstmals ein Ingenieur eingestellt.<br />
Zug um Zug wurden in Weinhübel die<br />
Produktionsanlagen ausgebaut, im Jahr<br />
1928 eine topmoderne Heylandt-Luftzerlegungsanlage<br />
mit einer Leistung von<br />
60 Kubikmeter/Stunde in Berlin sowie<br />
Sauerstoff-Kompressoren der Wurzener<br />
Firma Schütz bestellt und ein LKW-Fuhrpark<br />
angeschafft.<br />
Große Teile Schlesiens und Ostsachsens<br />
konnten schließlich mit Tyczka-Sauerstoff<br />
beliefert werden. Schon zu dieser Zeit<br />
zeigte sich, dass der junge Unternehmer<br />
durchaus über den Tellerrand blickte und<br />
sich auch außerhalb des eigenen Unternehmens<br />
für den Anfang des zwanzigsten<br />
Jahrhunderts entstandenen Verband<br />
für autogene Metallbearbeitung (VAM),<br />
den Vorläufer des späteren Deutschen<br />
Verbandes für Schweißtechnik (DVS) engagierte.<br />
(Fortsetzung folgt)<br />
Quelle: Die Familie Tyczka<br />
Hundert Jahre Pioniergeist mit Energie<br />
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Andreas Ch. de Morales Roque<br />
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15. <strong>Mai</strong> <strong>202</strong>0<br />
Redaktionsschluss: 20. <strong>Mai</strong> <strong>202</strong>0<br />
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Geschichte 45
Lohnerhöhung oder Gehaltsumwandlung<br />
ETL-Steuerberatung<br />
Nur echte Zusatzleistungen des Arbeitgebers<br />
sind steuerlich begünstigt<br />
Während Barlohn stets lohnsteuer- und sozialabgabepflichtig<br />
ist, kann der Arbeitgeber andere<br />
Lohnbestandteile zum Teil steuerfrei gewähren<br />
oder pauschal besteuern. Dabei sparen Arbeitnehmer<br />
und Arbeitgeber in der Regel auch noch<br />
Sozialversicherungsbeiträge.<br />
Sachbezüge müssen zusätzlich gewährt<br />
werden<br />
Steuerbegünstigte Lohnbestandteile, wie steuerfreie<br />
Jobtickets oder Kindergartenzuschüsse,<br />
steuerfrei überlassene Dienstfahrräder und pauschalbesteuerte<br />
Zuschüsse für Fahrten zwischen<br />
Wohnung und erster Tätigkeitsstätte müssen zusätzlich<br />
zum ohnehin geschuldeten Lohn gewährt<br />
werden. Doch oftmals möchten Arbeitnehmer<br />
und Arbeitgeber für steuerbegünstigte Sachbezüge<br />
oder Zuschüsse eine Gehaltsumwandlung mit<br />
Barlohnverzicht vereinbaren, z. B. für die private<br />
Nutzung eines Dienstfahrrades.<br />
Für die Finanzverwaltung schließen sich Gehaltsumwandlungen<br />
und zusätzlich zum ohnehin<br />
geschuldeten Lohn gewährte Lohnbestandteile<br />
gegenseitig aus. Die Richter des Bundesfinanzhofes<br />
(BFH) sehen das anders. Nach ihrer Meinung<br />
wird nur der Arbeitslohn ohnehin geschuldet,<br />
den der Arbeitnehmer verwendungsfrei und<br />
ohne eine bestimmte Zweckbindung (ohnehin)<br />
erhält. Das bedeute im Umkehrschluss: Jeder<br />
hinzutretende verwendungs- bzw. zweckgebundene<br />
(zusätzliche) Lohn kann steuerbegünstigt<br />
gewährt werden. Voraussetzung ist lediglich,<br />
dass die Zweckbindung eingehalten wird und<br />
es keine Vereinbarung gibt, wonach bei Wegfall<br />
des zweckgebundenen Lohnbestandteils wieder<br />
(verpflichtend) auf den alten Barlohn aufgestockt<br />
wird.<br />
Nur echte Zusatzleistungen sollen begünstigt<br />
werden<br />
Doch dies ist nicht im Sinne des Gesetzgebers<br />
und der Finanzverwaltung. Sie planen daher eine<br />
gesetzliche Konkretisierung. Es sollen nur echte<br />
Zusatzleistungen des Arbeitgebers steuerlich begünstigt<br />
sein, wenn das Einkommensteuergesetz<br />
fordert, dass der Vorteil zusätzlich zum ohnehin<br />
geschuldeten Arbeitslohn gewährt werden muss.<br />
Zusätzlich zum ohnehin geschuldeten Arbeitslohn<br />
gewährt werden danach nur Leistungen (Sachbezüge<br />
und Zuschüsse) des Arbeitgebers, wenn<br />
• die Leistung nicht auf den Lohnanspruch<br />
des Arbeitnehmers angerechnet wird,<br />
• der Anspruch des Arbeitnehmers auf<br />
Arbeitslohn nicht zugunsten dieser Leistung<br />
herabgesetzt wird,<br />
• die verwendungs- oder zweckgebundene<br />
Leistung nicht anstelle einer bereits vereinbarten<br />
künftigen Lohnerhöhung gewährt<br />
wird und<br />
• der Arbeitslohn bei Wegfall der Leistung<br />
nicht erhöht wird.<br />
Auch wenn die gesetzliche Definition noch nicht<br />
in Kraft getreten ist, sollten sich Arbeitgeber daran<br />
halten, denn die Finanzverwaltung hat zu den<br />
Urteilen des Bundesfinanzhofes einen Nichtanwendungserlass<br />
veröffentlicht, welcher die gesetzliche<br />
Regelung vorwegnimmt.<br />
Tipp<br />
Prüfen Sie, ob Zuschüsse und Sachbezüge, die<br />
Sie Ihren Arbeitnehmern steuerbegünstigt gewährten,<br />
das Zusätzlichkeitserfordernis nach<br />
neuer Definition erfüllen würden. Für notwendig<br />
werdende vertragliche Anpassungen vermitteln<br />
wir Ihnen gern den Kontakt zu einem auf Arbeitsrecht<br />
spezialisierten ETL-Rechtsanwalt.<br />
46<br />
Autor: Ulf Hannemann, Freund & Partner GmbH (Stand: 20.04.<strong>202</strong>0)<br />
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