209_StadtBILD_Dezember_2020
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Liebe Leserinnen, liebe Leser,<br />
Vorwort<br />
Weihnachtsmärkte mit Lichterketten und geschmückten<br />
Bäumen, der Geruch von Bratäpfeln,<br />
Zimt und Glühwein, dazu strahlende<br />
Kinderaugen - das erwarten wir jedes Jahr in<br />
der Adventszeit. Doch in diesem denkwürdigen<br />
Jahr ist durch den Covid 19 Virus alles<br />
anders, dennoch Gesundheit steht an erster<br />
Stelle, wenn wir auch die Weihnachtsmärkte<br />
in der Region vermissen werden, die Hoffnung<br />
stirbt zuletzt. Besonders traurig stimmt<br />
es uns, die Gaststätten und die Hotels der<br />
Region in der Weihnachtszeit geschlossen<br />
zusehen. Gerade deshalb ist es wichtig in<br />
der Weihnachtszeit nach vorn zu sehen und<br />
sich der Traditionen und der Geschichte zu<br />
besinnen.<br />
Hierbei wird Ihnen die vorliegende Ausgabe<br />
eine kleine Unterstützung geben. Statt des<br />
zu Weihnachten obligatorischen Tierparkbesuches,<br />
laden wir Sie zu einem virtuellen<br />
Besuch des Görlitzer Zoos ein. Unvergessen<br />
bleiben uns die vielen Betriebsweihnachtsfeiern,<br />
besonders in der heimischen Textilindustrie,<br />
über deren Blüte und Niedergang<br />
wir berichten. Durch die Pandemie werden<br />
unsere sozialen Beziehungen, besonders innerhalb<br />
der Familien, auf eine harte Probe<br />
gestellt. Die wichtigsten Lehren aus der heutigen<br />
Pandemie sind die Einhaltung von Hygiene<br />
und Sauberkeit. Doch auch in früheren<br />
Zeiten wurde der Hygiene große Bedeutung<br />
beigemessen, wie das Dorfmuseum derzeit<br />
in einer reichhaltigen Ausstellung aufzeigt.<br />
Wir blicken nun auf ein sehr denkwürdiges<br />
Jahr <strong>2020</strong> zurück. Unser beliebtes Kulturmagazin<br />
„kulturrosso“ und auch die Traumhochzeit<br />
in Ostsachsen mußten wir vorerst<br />
einstellen. Nur durch die Treue unserer Leser<br />
und insbesondere der Inserenten konnte es<br />
mit dem <strong>StadtBILD</strong> weitergehen. An dieser<br />
Stelle bedanken wir uns auch an die vielen<br />
Zuwendungen die uns im Frühjahr als Unterstützung<br />
erreichten und von denen wir widerum<br />
die Gastronomie unterstützten. Und<br />
nun befinden wir uns erneut in einer ähnlichen<br />
Situation.<br />
Wenn Sie liebe Leser uns unterstützen<br />
möchten, können Sie das gern tun, mit dem<br />
Verwendungszweck Unterstützung auf das<br />
Konto: IBAN DE21 8504 0000 0302 1979 00<br />
An dieser Stelle sei aber auch ein großer<br />
Dank an unsere Autoren auszusprechen,<br />
ohne die es noch schwerer geworden wäre,<br />
auch inhaltlich immer wieder auf´s Neue<br />
interessante Artikel im <strong>StadtBILD</strong> zu veröffentlichen.<br />
Zu guter Letzt noch ein kleiner Tipp in eigener<br />
Sache, wir haben unsere Mund-Nasen-<br />
Masken um zwei Görlitzer Wintermotive im<br />
Shop unter www.<strong>StadtBILD</strong>-Verlag.de<br />
erweitert. Außerdem finden Sie hier viele<br />
weitere Produkte, wie unsere beliebten Jahreskalender,<br />
unsere Romantrilogie und viele<br />
Bücher, die Ihre Lieben erfreuen dürften.<br />
Frohe und besonders gesunde Weihnachten<br />
wünscht Ihre <strong>StadtBILD</strong>-Redaktion.<br />
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Einleitung<br />
3
Der Naturschutz-Tierpark Görlitz-Zgorzelec<br />
Von Isa Plath und Dr. Sven Hammer<br />
„Görlitzer Tierpark macht dicht“. Selten<br />
hat eine Schlagzeile über den Naturschutz-Tierpark<br />
Görlitz-Zgorzelec derart<br />
mit Doppeldeutigkeit kokettiert und die<br />
Gemüter erhitzt. Wie kam es dazu?<br />
Nach 3,5 Jahren Bauzeit und Kosten von<br />
rund 380.000 € konnte die Sanierung<br />
des 1000 m langen Tierpark-Außenzauns<br />
endlich abgeschlossen werden. Jahrzehntelange<br />
Witterungseinflüsse und<br />
unzählige Einbrüche hatten ihre Spuren<br />
hinterlassen, Wildtiere wie Füchse gingen<br />
regelmäßig ein und aus, und auch<br />
einige Tierparkbewohner nutzten ihre<br />
Chance für nächtliche Ausflüge ins glänzende<br />
Görliwood. „Bolek“ ist hier dem<br />
ein oder anderen Tierparkfreund sicher<br />
ein Begriff, vermutlich ist er mittlerweile<br />
das Stachelschwein mit den meisten Polizeikontakten<br />
weltweit.<br />
Dank Förderungen aus dem Mauerfonds,<br />
dem Kulturraum Oberlausitz-Niederschlesien<br />
und der Stadt Görlitz sind nun<br />
alle Zoo-Tiere endlich wieder sicher verwahrt<br />
und müssen keine Bedrohung von<br />
außen mehr fürchten, egal ob durch Tiere<br />
oder Menschen. Eigentlich ein Grund<br />
zur Freude. Und doch wird das Thema<br />
„Schließung“ in diesem Jahr auf bislang<br />
ungeahnte Weise überschattet. Was im<br />
Januar noch undenkbar war – massive<br />
Einschnitte in das öffentliche Leben und<br />
damit auch den Tierparkbetrieb – hat<br />
das Damoklesschwert namens „Corona“<br />
unweigerlich mit sich gebracht. Vom 20.<br />
März bis zum 3. Mai musste der Tierpark<br />
seine Tore für Besucher schließen. Die<br />
beliebteste Besuchszeit über Ostern,<br />
all die Jungtiere, eine erblühende und<br />
ergrünende Parkanlage – plötzlich nur<br />
noch das „Privatvergnügen“ der rund 40<br />
Mitarbeiter.<br />
Doch was macht man im Naturschutz-<br />
Tierpark Görlitz-Zgorzelec, dem Zoo in<br />
Deutschland, in dem die Sonne zuerst<br />
aufgeht? Den Kopf nicht in den Sand<br />
stecken und lange geplante Projekte<br />
finalisieren! So wurde die Zeit der<br />
Schließung genutzt, um im Park selbst<br />
einige Umbauten und Sanierungen wie<br />
die Anlage für Grünflügelaras und Meerkatzen<br />
zu bewältigen. Und da die Be-<br />
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4<br />
Ausblick
in turbulenten Zeiten<br />
Tierpark Görlitz<br />
lang ersehnter Web-Shop ging online<br />
und bietet nun weltweit die Möglichkeit,<br />
sich Merchandising-Produkte und<br />
Gutscheine aus dem Tierpark bequem<br />
nach Hause liefern zu lassen. Und zur<br />
Vorbereitung auf die Wiedereröffnung<br />
wurde mal eben innerhalb weniger Tage<br />
ein Online-Ticket-Verkauf nebst Zoo-App<br />
realisiert.<br />
Exklusive Mangusten-Begegnung<br />
sucher nicht in den Zoo kommen konnten,<br />
wurde an zahlreichen Möglichkeiten<br />
gearbeitet, den Zoo zu den Besuchern<br />
zu bringen. Das Tierpark-TV sendete<br />
live aus der tibetischen Gemeinschaftsanlage,<br />
dem Ferkelparadies oder dem<br />
Mangusten-Garten. Die Zooschule legte<br />
zur Entlastung aller Eltern, die sich<br />
plötzlich in der Lehrerrolle wiederfinden<br />
mussten, mit Kids4Wildlife #wirbleibenzuhause<br />
Internet-Zooschulstunden<br />
auf, zu der allerlei Spannendes aus der<br />
Welt der Natur zu entdecken war. Ein<br />
Tierbeschäftigung durch Besucher<br />
Und wie sehr hatte man die Wiedereröffnung<br />
herbeigesehnt. Endlich wieder<br />
Menschen und Tiere zusammenbringen,<br />
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Ausblick<br />
5
Der Naturschutz-Tierpark Görlitz-Zgorzelec<br />
Exklusive Panda-Begegnung<br />
einer der zentralen Kernpunkte einer<br />
zoologischen Einrichtung! Und nicht<br />
nur den Besuchern hatte der Zoo gefehlt,<br />
nein, auch die Tiere schienen die<br />
Abwechslung durch Besucherfütterung<br />
und Bürstenmassage, vorbeilaufende<br />
Vierbeiner und streichelnde Hände vermisst<br />
zu haben.<br />
Tiere hautnah, das ist schließlich das<br />
Motto, welches im Naturschutz-Tierpark<br />
Görlitz-Zgorzelec gelebt wird! In dessen<br />
logischer Konsequenz gibt es seit diesem<br />
Jahr ein weiteres Angebotsformat:<br />
exklusive Tierbegegnungen. Bei einem<br />
tierischen Rendez-Vous mit den Roten<br />
Pandas, Östlichen Grauen Riesenkängurus,<br />
Trampeltieren oder Zebramangusten<br />
kann man den Exoten in Begleitung<br />
eines Tierpflegers einmal ganz nahekommen.<br />
Und mit ein wenig Glück ein<br />
warmes, weiches Fell oder eine glatte<br />
Nase spüren. Die Tierbegegnungen sind<br />
mit maximal zwei Personen und ab acht<br />
Jahren möglich und damit sicherlich<br />
auch ein unvergessliches Geschenk für<br />
Partner, Kinder, Eltern oder Freunde.<br />
Aber zurück zur Wiedereröffnung: auch<br />
aus finanzieller Sicht kam diese für den<br />
Tierpark keinen Tag zu früh. Denn während<br />
andere Einrichtungen ihren Betrieb<br />
reduzieren konnten, mussten die<br />
Zootiere weiter versorgt, ihr Futter und<br />
die Mitarbeiter bezahlt werden. Und<br />
während in anderen Bundesländern<br />
Hilfsfonds für Zoos aufgesetzt wurden,<br />
bleibt der Görlitzer Tierpark bis heute<br />
ohne Unterstützung öffentlicher Gelder<br />
auf seinem Frühjahrs-Verlust sitzen.<br />
Gleichzeitig schlug den Mitarbeitern eine<br />
Welle der Empathie entgegen, mit der<br />
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6<br />
Ausblick
Der Naturschutz-Tierpark Görlitz-Zgorzelec<br />
Mangustengarten<br />
sie nicht gerechnet hatten. Eindrucksvoll<br />
zeigte sich, welch riesigen Rückhalt<br />
der Naturschutz-Tierpark in der Bevölkerung<br />
hat! Mit z.T. sehr kreativen<br />
Spendenaktionen traten Unternehmen,<br />
Privatpersonen und andere Vereine an<br />
den Tierpark heran, um ihn in dieser<br />
herausfordernden Zeit zu unterstützen.<br />
So wurden Toilettenpapier-Kekse gebacken,<br />
Pfandbons gespendet oder Erlöse<br />
aus Masken- und Speisenverkauf<br />
gesammelt. Am Ende kamen 90.000 €<br />
an Spendengeldern zusammen, die wesentlich<br />
dazu beitrugen, den Betrieb<br />
wie gewohnt fortführen zu können. An<br />
dieser Stelle ein riesiges Dankeschön an<br />
jeden Einzelnen, der den Tierpark auf<br />
diese Weise unterstützt hat!<br />
Mit dem Sommer kehrte wieder Stück für<br />
Stück mehr Normalität in das Zooleben<br />
ein. Kultureller Höhepunkt war sicherlich<br />
das Tierpark-Fest im September. Mit<br />
über 2400 Besuchern, welche zum absoluten<br />
Großteil gezeigt haben, wie sensibel<br />
auf die Corona-Schutzmaßnahmen<br />
geachtet wird, strahlendem Sonnenschein<br />
und vielen originellen Programm-<br />
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8<br />
Ausblick
in turbulenten Zeiten<br />
Tierpark Görlitz<br />
Kamelfohlen Deleg<br />
punkten wurde der Tag zu einem echten<br />
Highlight für alle Beteiligten.<br />
Doch auch, wenn die Tage wieder kürzer<br />
und das Wetter etwas ungemütlicher<br />
wird, ist der Tierpark einfach immer einen<br />
Besuch wert. Gerade in der Nebensaison<br />
lassen sich viele Tiere noch besser<br />
beobachten. Für manche, wie die<br />
Roten Pandas oder Yaks, ist der Winter<br />
gar die liebste Jahreszeit. Sie sind durch<br />
ihr dickes Fell bestens an eisige Temperaturen<br />
angepasst und lieben es, durch<br />
den Schnee zu tollen. Für die kälteempfindlicheren<br />
Arten ist selbstverständlich<br />
ebenso gesorgt: bei den Zebramangusten<br />
sorgen Heizplatten für mollige Temperaturen<br />
und auch im beheizten Känguruhaus<br />
kuscheln sich die Beuteltiere<br />
genüsslich aneinander. Eine Anlage, für<br />
die der Tierpark zuletzt sogar mit dem<br />
Innovationspreis Tourismus ausgezeichnet<br />
wurde.<br />
Haben Sie sich eigentlich jemals die<br />
Frage gestellt, was der Unterhalt eines<br />
Tierparks so kostet? Wie teuer Heizkosten<br />
oder Strom für Kühlzellen zur<br />
Futteraufbewahrung sind, mit welchen<br />
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Ausblick<br />
9
Der Naturschutz-Tierpark Görlitz-Zgorzelec<br />
Innovationspreis Tourismus<br />
Beträgen UV-Lampen und tierärztliche<br />
Versorgung zu Buche schlagen? Welche<br />
Kosten durch Futter für Fischotter oder<br />
Schneeeulen entstehen? An diesem Blick<br />
hinter die Kulissen möchte der Tierpark<br />
seine Fans in Zukunft noch stärker teilhaben<br />
lassen und arbeitet gerade an<br />
einem neuen Patenschaftsformat, welches<br />
genau auf die laufenden Kosten<br />
abzielt. Pünktlich zu Weihnachten wird<br />
man dann z.B. „Einheizer-Patenschaften“<br />
oder „Lichterglanz-Patenschaften“<br />
verschenken können.<br />
Abschluss der Zaunsanierung<br />
Bei all der Vorfreude auf Weihnachten<br />
und einen Winterspaziergang im Park -<br />
seit dem 2. November ist der Tierpark<br />
nun vorerst wieder einmal geschlossen.<br />
Voraussichtlich bis zum 30. November,<br />
danach wird neu verhandelt. Dabei<br />
zeigt gerade Corona, wie wichtig Zoos<br />
mit ihrem Artenschutz-Auftrag für die<br />
gesamte Gesellschaft sind. Denn zwischen<br />
dem Verlust von Ökosystemen<br />
und Artenvielfalt und dem Auftreten<br />
von Pandemien bestehen nachgewie-<br />
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10<br />
Ausblick
in turbulenten Zeiten<br />
Tierpark Görlitz<br />
Zoopädagogik in Aktion (Polarfuchsfell)<br />
senermaßen direkte Zusammenhänge.<br />
Wildtiermärkte z.B. sind als Hotspots<br />
für neue Erreger entlarvt. Zum einen<br />
ist das Immunsystem der gehandelten<br />
Tiere durch den Stress bereits erheblich<br />
geschwächt. Zum anderen kommen<br />
hier viele Tiere, die sich in freier Natur<br />
nie begegnen würden, und Menschen<br />
auf engstem Raum unter schlechtesten<br />
hygienischen Bedingungen zusammen.<br />
So können sich neue Krankheitserreger<br />
entwickeln, optimal ausbreiten und vom<br />
Tier auf den Menschen übergehen, so<br />
Zoopädagogisch Spielen<br />
wie es vermutlich bei SARS-CoV-2 geschah.<br />
Damit ist Corona wahrscheinlich<br />
derzeit das für uns einschneidendste<br />
Resultat unseres sorglosen Umgangs<br />
mit der Natur.<br />
Denn mit dem durch uns Menschen<br />
verursachten rasanten Verlust der Biodiversität<br />
schwindet auch das Potential<br />
der Natur, die Entstehung von Pandemien<br />
selbst zu regulieren. Der natürliche<br />
Hygienefilter wird zunehmend brüchiger<br />
und führt zur rapiden flächenhaften<br />
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Ausblick<br />
11
Der Naturschutz-Tierpark Görlitz-Zgorzelec<br />
in welcher Welt wir leben wollen – mit<br />
brennenden Regenwäldern, Plastik-Meeren<br />
und stillen Wiesen, wo früher einmal<br />
unüberhörbares Summen und Zwitschern<br />
die Luft erfüllte. Oder in einer Welt, die<br />
sich als globale Gemeinschaft versteht und<br />
in welcher ein Schmetterling mehr wert<br />
ist als das günstigste, aber mit Pestiziden<br />
behandelte Gemüse im Supermarkt.<br />
Erhaltungszucht Kropfgazelle<br />
Ausbreitung einzelner hochgefährlicher<br />
Krankheitserreger in der „Monokultur“<br />
Mensch. Ein Grund, warum wir dringend<br />
Natur- und Artenschutz nicht nur mit<br />
Worten, sondern mit umfangreichen Taten<br />
umsetzten müssen.<br />
Es ist für uns alle an der Zeit, uns auf unsere<br />
wichtigsten Güter zu besinnen – unsere<br />
Gesundheit, unsere sozialen Bande,<br />
den Erhalt unserer Biodiversität. Und uns<br />
einmal mehr bewusst zu machen, dass all<br />
dies keine Selbstverständlichkeit darstellt.<br />
Wir alle treffen täglich die Entscheidung,<br />
Nistkastenprojekt Wiedehopf<br />
Bleiben Sie gesund. Wir freuen uns, Sie<br />
bald wieder bei uns begrüßen zu dürfen!<br />
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12<br />
Ausblick
Höhen und Tiefen der Tuchindustrie in Görlitz<br />
Historischer Hintergrund<br />
In Görlitz etabliert sich etwa ab dem<br />
13. Jahrhundert hauptsächlich das<br />
Tuchmacherhandwerk, d.h. die Herstellung<br />
von hochwertigen Geweben aus<br />
Schafwolle.<br />
Im Gegensatz zu anderen Städten der<br />
Region erlangt Görlitz eine relative Monopolstellung<br />
durch den hohen Qualitätsstandard,<br />
den die Tuchmacherzunft<br />
ständig kontrolliert, aber auch durch Zugeständnisse<br />
von Privilegien durch den<br />
Landesherren, wie das Waidstapelrecht<br />
(Waid ist das wichtigste Färbemittel zu<br />
dieser Zeit).<br />
Die vorteilhafte Lage an den großen<br />
Handelsstraßen wie der Via Regia befördert<br />
den Fernhandel in viele Länder, in<br />
denen sich die Stadt durch die besonders<br />
feine Qualität der Tuche einen Namen<br />
macht. Um 1800 leben in der Stadt<br />
etwa 10 000 Menschen.<br />
Görlitz wird preußisch<br />
Als Kriegsfolge fällt die östliche Oberlausitz<br />
1815 an Preußen. Görlitz wird der<br />
Provinz Schlesien zugeordnet und verliert<br />
seine alten Handelsverbindungen<br />
nach Sachsen und Böhmen. Die Tuchkaufleute<br />
knüpfen neue Verbindungen<br />
bis in den Balkan, nach China und den<br />
Orient. Das Geschäft lohnt sich aber nur,<br />
wenn ausreichende Mengen Tuche mit<br />
niedrigen Herstellungskosten verkauft<br />
werden können. Erfindungen zur Mechanisierung<br />
der Appretur, des Tuchscherens,<br />
Walkens und Wollspinnens<br />
leiten große Veränderungen ein. So<br />
entstehen mehrere Tuchfabriken an den<br />
Ufern der Neiße meist in Gebäuden ehemaliger<br />
Mühlen, wo die mechanischen<br />
Vorrichtungen mit Wasserkraft betrieben<br />
werden, wie die durch den Kaufmann<br />
Maurer in und neben der Dreiradenmühle<br />
am Ostufer der Neiße 1816 eingerichtete<br />
Wollspinnerei.Durch den vor<br />
allem durch die englische, französische<br />
und belgische Konkurrenz notwendigen<br />
Übergang von der handwerklichen zur<br />
maschinellen Produktion verlieren die<br />
alten „Berufsgruppen“ ihre Selbständigkeit<br />
und sind nun gezwungen, sich ihren<br />
Lebensunterhalt in Lohnarbeit an den<br />
neuen Maschinen zu verdienen.<br />
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14<br />
Geschichte
Die industrielle Revolution<br />
Tuchindustrie<br />
Textilfarbiken am Neißeufer<br />
Wachstum durch die industrielle<br />
Revolution<br />
Die Brüder Bergmann und Krause kaufen<br />
an der Schanze und der Lunitz 1832<br />
die alte Pulvermühle, in der sie eine Fabrik<br />
mit Spinnmaschinen, Walke und Appretur<br />
einrichten und den Grund legen<br />
für die spätere Tuchfabrik von Krause<br />
und Söhne. Es folgen die Fabriken der<br />
Gebrüder Geißler an der Uferstraße und<br />
Hotherstraße. 1833 gibt es bereits vier<br />
mechanische Spinnereien, vier Walken,<br />
drei Färbereien und zwei Appreturanstalten.<br />
Nur die Qualität der hausgewerblichen<br />
Tuchweberei kann bis Mitte<br />
des 19. Jh. durch Mechanisierung noch<br />
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Geschichte<br />
15
Höhen und Tiefen der Tuchindustrie in Görlitz<br />
Tuchfabrik von Ernst Friedrich Geißler nach dem Umbau ca. 1891, im Vordergrund die Tuchwalke<br />
nicht erreicht werden, so dass die Wollweber<br />
unter großen Anstrengungen mit<br />
den bereits mechanisierten Arbeitsgängen<br />
mithalten müssen (Erst 1875 verschwindet<br />
der letzte Handwebstuhl).<br />
Sieben alteingesessene Tuchmachermeister<br />
bilden 1835 eine „Vereinigung<br />
zur Gründung gemeinsamer Unternehmungen<br />
mit Hilfe der Wasserkraft der<br />
Neiße“ und können dadurch dem Kon-<br />
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16<br />
Geschichte
Die industrielle Revolution<br />
Tuchindustrie<br />
Alter Bahnhof, um 1907<br />
kurrenzdruck standhalten. Nach dem<br />
Fall der Zollschranken 1834 wird die<br />
Durchsetzung der neuen Produktionsweise<br />
zur existenziellen Notwendigkeit,<br />
da das sächsische Textilgewerbe nun<br />
direkt mit den schlesischen Standorten<br />
konkurriert. 1836 geht die erste Dampfmaschine<br />
in der Fabrik der Brüder Bergmann<br />
und Krause in Betrieb. Görlitzer<br />
Tuche erhalten 1835 in Dresden und<br />
1844 in Berlin Preise für ihre hervorragende<br />
Qualität.<br />
Mit dem Anschluss an das preußische<br />
und sächsische Eisenbahnnetz im Jahre<br />
1847 eröffnen sich für die Textilwirtschaft<br />
noch größere Möglichkeiten.<br />
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Geschichte<br />
17
Höhen und Tiefen der Tuchindustrie in Görlitz<br />
Abteilung Strick- und Wollwaren in der Straßburg-Passage<br />
Gründerzeit<br />
Die Jahre zwischen 1860 und 1890 bringen<br />
der Stadt die größte Entwicklung.<br />
Die Einwohnerzahl steigt bis 1910 rasant<br />
auf etwa 86 000 Einwohner. Eine Tuchfabrik<br />
nach der anderen entsteht. Überall<br />
werden hohe Schornsteine errrichtet<br />
und Dampfmaschinen eingesetzt. Später<br />
wird die durch das 1895 errichtete<br />
Elektrizitätswerk am Ostufer der Neiße<br />
erzeugte Elektroenergie genutzt.<br />
Produziert werden feine und feinste<br />
reinwollene Herren-und Damentuche,<br />
Kammgarndrapes, Uniformtuche, Be-<br />
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18<br />
Geschichte
Von der Gründerzeit bis zum 1. Weltkrieg<br />
Tuchindustrie<br />
Kleiderstoffabteilung in der Straßburg-Passage<br />
satztuche, Paletots u.a. Durch die Abkehr<br />
der Abnehmer von einfarbigen<br />
Tuchen hin zu gemusterter Ware und<br />
die Verschlechterung der Exportverhältnisse<br />
gerät die hiesige Tuchfabrikation<br />
ab etwa 1890 in große Schwierigkeiten,<br />
die erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts<br />
einigermaßen überwunden sind.<br />
Die Zeit des ersten Weltkrieges<br />
1914-1918 und der Inflation<br />
Der Ausbruch des ersten Weltkrieges vernichtet<br />
alle Hoffnung auf Besserung der<br />
Situation. Zwar können in der ersten<br />
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Geschichte<br />
19
Höhen und Tiefen der Tuchindustrie in Görlitz<br />
Käuferschlange vor dem Milchwarengeschäft<br />
Nonnenstraße. Amateurfoto, 1917<br />
Zeit die meisten Betriebe für Heereslieferungen<br />
beschäftigt werden, aber die Abschnürung<br />
vom Weltverkehr und damit<br />
die Unterbindung der Zufuhr sämtlicher<br />
textiler Rohstoffe bringen die Görlitzer<br />
Betriebe fast ganz zum Erliegen.<br />
Teils werden Stoffe sogar aus Papiergarnen<br />
für die Armee und Hospitäler gewebt.<br />
Nach dem Krieg kämpft die Textilindustrie<br />
um den Wiederaufbau, was ihr mit<br />
dem Anknüpfen an alte Verbindungen<br />
im In- und Ausland zunächst gelingt und<br />
die Weiterführung ihrer Betriebe ermöglicht.<br />
Viel Betriebskapital und Nervenkraft gehen<br />
in der anschließenden Inflationszeit<br />
1923 verloren. Mit der Wiedereinführung<br />
längerer Arbeitszeit und rationellerer<br />
Arbeitsmethoden beginnt mit dem<br />
Jahr 1924 neue Hoffnung einzuziehen.<br />
Die auf etwa 1000 gesunkene Arbeiterzahl<br />
wird binnen kurzer Zeit wieder verdreifacht.<br />
Die Einwohnerzahl steigt bis<br />
1930 auf etwa 95000.<br />
20<br />
Geschichte
Vom 2. Weltkrieg und der Politischen Wende<br />
Tuchindustrie<br />
Der zweite Weltkrieg 1939-1945<br />
Die Textilbetriebe arbeiten weitestgehend<br />
durch Aufträge für die Wehrmacht.<br />
Am Kriegsende leben in der Stadt nur<br />
noch 31 000 Menschen.<br />
Als Folge der Vertreibungen im Osten<br />
hat die Stadt im Jahre 1947 über 100<br />
000 Einwohner zu versorgen. Die meisten<br />
der Tuchfabrikanten werden enteignet<br />
und die Betriebe in einem „Volkseigenen<br />
Betrieb“, dem VEB „Oberlausitzer<br />
Volltuchfabrik“ zusammengefasst bzw.<br />
umgenutzt wie der Betrieb der Gebrüder<br />
Hoffmann, in dem ein Transformatorenwerk<br />
eingerichtet wird. Die hergestellten<br />
Tuche bleiben sowohl im Osten, als<br />
auch im Westen eine begehrte Ware.<br />
Die politische Wende 1989<br />
Das plötzliche Wegbrechen des Ostmarktes<br />
und die Umorientierung der<br />
bisherigen Kunden aus dem Westen<br />
(z.B. Neckermann) auf den noch billigeren<br />
Ostasiatischen Markt führen auch<br />
in Görlitz zum Zusammenbruch der Textilindustrie<br />
viele Betriebe werden geschlossen.<br />
Die sechs Betriebsteile der<br />
VEB „Oberlausitzer Volltuchfabrik“ arbeiten<br />
noch bis zu Liquidierung im November<br />
1993 als „Görlitz Tuche GmbH“.<br />
Tausende ausgebildete Textil-Fachleute,<br />
hauptsächlich Frauen, werden nicht<br />
mehr gebraucht. Staatliche Fördermittel,<br />
die „freigesetzten“ gut ausgebildeten<br />
Textil-Fachleute und das niedrige<br />
Lohnniveau überzeugen einen Investor<br />
aus Amerika, hier seinen einzigen<br />
Zweigbetrieb zu gründen, um näher<br />
am europäischen Markt zu produzieren.<br />
So kommt es 1995 zur Neuansiedlung<br />
eines modernen Textilbetriebes im Gewerbegebiet<br />
„Ebersbach“ vor den Toren<br />
der Stadt. Die „Görlitz Fleece GmbH“ als<br />
Tochterfirma der amerikanischen Firma<br />
„Malden Mills“ produziert 10 Jahre lang<br />
mit etwa 300 Mitarbeitern erfolgreich<br />
Stoffe der weltweit begehrten Marke „Polartec“<br />
bis zur Insolvenz 2004. Im Jahre<br />
2005 kommt es nach gescheitertem Verkauf<br />
zur Schließung des hochmodernen<br />
Werkes. Damit ist die Jahrhunderte alte<br />
Tradition des Textilhandwerks in Görlitz<br />
vorerst beendet.<br />
Gudrun Schellin<br />
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Geschichte<br />
21
Von Leuchttürmen und Schattenseiten<br />
Textilindustrie<br />
von Julia Schmidt (Text aktualisiert)<br />
Einst brachte die Textilindustrie der<br />
Oberlausitz ihren Reichtum. Heute hat<br />
die Branche in der Region stark zu kämpfen.<br />
Selten zuvor erregte Görlitz soviel Aufmerksamkeit<br />
wie derzeit. Filmemacher<br />
nutzen die Stadt als Kulisse und immer<br />
mehr Menschen folgen ihnen, um das<br />
historische Zentrum zu besichtigen. Das<br />
Antlitz der Stadt wird insbesondere durch<br />
die Hallenhäuser geprägt.<br />
Diese zwischen 1480 und 1560 entstandenen<br />
Bauten dienten als Wohnhäuser,<br />
Lager und Handelsplätze. Die Eingangshallen<br />
boten ganzen Pferdefuhrwerken<br />
Platz und die Zentralhallen waren ideale<br />
Räume, um die Waren, in erster Linie Tuche,<br />
wirkungsvoll zur Schau zu stellen.<br />
Es war das Textilgewerbe, das der Stadt<br />
ihren Reichtum eingebracht hat. Architekten<br />
entwarfen die Handelshöfe mit nutzungsspezifischen<br />
Bau- und Raumformen<br />
sowie den wirkungsvollen Verzierungen,<br />
die heute in neuem Glanz erstrahlen. Nur<br />
von der Textilindustrie selbst ist im Zentrum<br />
Görlitz’ nichts mehr übrig. Damit ist<br />
Görlitz, als größte Stadt der Oberlausitz,<br />
nicht repräsentativ für die Lage des Textilgewerbes<br />
in der Region. Denn trotz des<br />
stetigen Rückgangs an Aufträgen, der<br />
seit einem Vierteljahrhundert anhält, gibt<br />
es einige Betriebe, die erfolgreich um ihr<br />
Überleben kämpfen.<br />
Den Anfang in der Geschichte der Oberlausitzer<br />
Textilindustrie machten die Leinenweber,<br />
die im Heimgewerbe ihren<br />
kargen Lebensunterhalt sicherten. Die<br />
ersten dampfbetriebenen Webstühle<br />
machten einige Orte später zu Industriedörfern,<br />
die sich über mehrere Jahrhunderte<br />
entwickelten und in ihrer Blütezeit<br />
zehntausenden Menschen Arbeit<br />
boten. Großschönau, Seifhennersdorf<br />
und Herrnhut gehören zu den einstigen<br />
Textilhochburgen der Oberlausitz.<br />
So blickt Großschönau auf über 350 Jahre<br />
Damast- und über 160 Jahre Frottierweberei<br />
zurück. Die Damastweberei wurde<br />
1666 und die Frottierweberei 1856 in<br />
Großschönau eingeführt. 1743 gab es<br />
dort die erste „Zunftgesetzgebung bey<br />
der Damastmanufaktur“ und im Jahr<br />
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22<br />
Geschichte
Die Geschichte der Oberlausitzer Textilindustrie<br />
Textilindustrie<br />
Damastweber um 1910<br />
1856 wurde auf dem ersten Frottierwebstuhl<br />
Deutschlands Plüsch – heute unter<br />
dem Namen Frottier bekannt – gewebt.<br />
Die Frottana entstand 1945 aus der enteigneten<br />
Traditionsfirma Lieske und Haebler<br />
Großschönau als VEB Frottier- und<br />
Taschentuchweberei. Durch die Verstaatlichung<br />
der Betriebe zu DDR-Zeiten kamen<br />
weitere Textilfirmen (nicht nur aus<br />
Großschönau) hinzu. Z.b. Dressler und<br />
Marx, C.G. Hänsch, Arthur Rückert. E.J.<br />
Eichler…. So bestand die Frottana um<br />
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Geschichte<br />
23
Von Leuchttürmen und Schattenseiten<br />
Textilindustrie<br />
Handweber Karl August Lieske um 1925<br />
1989 aus 32 verschiedenen Betriebsteilen<br />
/ ehemaligen Firmen. Die Produktion<br />
erreichte 1988 mit 1,8 Millionen Bademänteln<br />
und etwa 30 Millionen Frottiertüchern<br />
ihren Höhepunkt.<br />
In Seifhennersdorf kann man die Produktion<br />
technischer Textilien bis ins Jahr<br />
1842 zurückverfolgen. Damals wurden<br />
die „Technischen Werke H.R. Marx“ gegründet.<br />
1862 wurden in diesem Betrieb<br />
die ersten mechanischen Webstühle aufgestellt.<br />
Das Nachfolgeunternehmen, die<br />
„Textilwerke S. Henning“, produzierte von<br />
1938 bis 1945 mit mehr als 2.000 Mitarbeitern<br />
Fallschirme. Im Jahr 1948 wurde<br />
aus der Firma die „VEB Bekleidungswerke<br />
Seifhennersdorf“. Bis zur Wiedervereinigung<br />
stellten dort noch etwa 700 Mitarbeiter<br />
zivile und militärische Fallschirme<br />
sowie Kleidung her.<br />
Herrnhut kennt man vor allem von den<br />
gleichnamigen Weihnachtssternen.<br />
Doch war der Ort ebenfalls stets wichtiger<br />
Standort der Textilindustrie. Die<br />
Gründung der Firma „Abraham Dürninger<br />
& Co.“ begann 1747 mit dem Leinwandhandel<br />
und 1750 mit dem Bedrucken von<br />
Leinwänden mit Zitzdruck, der heute unter<br />
dem Namen „Blaudruck“ bekannt ist.<br />
Dies war einmalig in Europa, und schnell<br />
stellte sich Erfolg ein. Bereits 1751 exportierte<br />
die Firma nach Nordamerika. Der<br />
wirtschaftliche Erfolg erlaubte Abraham<br />
Dürninger 1762, dem sächsischen König<br />
einen Kredit von 17.000 Talern für dessen<br />
Reisekasse zu gewähren. Bis 1800<br />
entwickelte sich die Firma zum größten<br />
sächsischen Unternehmen: 1812 waren<br />
12.000 Spinner und rund 2.000 Weber<br />
für Dürninger tätig. In den 80er Jahren<br />
24<br />
Geschichte
Von Leuchttürmen und Schattenseiten<br />
Textilindustrie<br />
Die Mannschaft der „Mangelei“ der Herrnhuter Bleichanstalt. Foto: © Dürninger-Textildruckerei<br />
des 19. Jahrhunderts erbaute die Firma<br />
„Abraham Dürninger & Co.“ für die gesamte<br />
Region die modernste Bleicherei.<br />
Im zweiten Weltkrieg am 8.5.1945 wurde<br />
das Firmengelände zerstört. Erst zehn<br />
Jahre später konnte die Produktion wieder<br />
aufgenommen werden. Jahre später,<br />
1962, begann der Betrieb mit dem Textildruck<br />
mittels Siebdruckverfahren.<br />
Nach 1990 wurde wieder eine florierende<br />
Lohnweberei mit 35 Webstühlen aufgebaut.<br />
Der westdeutsche Partner hatte<br />
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26<br />
Geschichte
Die Geschichte der Oberlausitzer Textilindustrie<br />
Textilindustrie<br />
Schärerei in den 1960er Jahre. Foto: © Dürninger-Textildruckerei<br />
aber leider eine andere Vorstellung von<br />
Zusammenarbeit, sodass 2012 die Weberei<br />
geschlossen werden mußte. Erst<br />
seitdem ist „Abraham Dürninger & Co.“<br />
eine reine und eine der leistungsstärksten<br />
Textildruckereien in Deutschland.<br />
2022 feiert die Firma 275 jähriges Firmenjubiläum.<br />
Die politische Wende war wie in vielen<br />
Branchen eine tiefe Zäsur für die Textilund<br />
Bekleidungsindustrie Ostdeutschlands<br />
und der Oberlausitz. Nach Angaben<br />
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Geschichte<br />
27
Von Leuchttürmen und Schattenseiten<br />
Textilindustrie<br />
Die größten Textildrucktische, 1970er Jahre. Foto: © Dürninger-Textildruckerei<br />
des Verbandes der Nord-Ostdeutschen<br />
Textil- und Bekleidungsindustrie (VTI)<br />
verringerte sich die Zahl der Mitarbeiter<br />
der Branche von 320.000 im Jahr 1989<br />
in der ehemaligen DDR auf den heutigen<br />
Stand von 15.500. Davon befinden sich<br />
immerhin 12.000 in West- und Mittelsachsen<br />
sowie der Oberlausitz.<br />
In Großschönau haben von den ehemals<br />
3.800 Mitarbeitern des „VEB Frottana“<br />
etwa 220 Mitarbeiter (+20 Auszubildene)<br />
auch heute einen Arbeitsplatz. Mit<br />
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28<br />
Geschichte
29
Von Leuchttürmen und Schattenseiten<br />
Textilindustrie<br />
Möve-Bademäntel, Ausstattung der deutschen Olympiamannschaft zu den Sommerspielen 1952 in Helsinki<br />
der Privatisierung durch die Vossen-Frottiergruppe<br />
aus Gütersloh erhielten 240<br />
Arbeitskräfte sogar einen Arbeitsvertrag<br />
in ihrem alten Betrieb. Heute fertigt die<br />
Firma unter dem Lifestyle-Label „Möve“<br />
und „frottana“ modische Frottiererzeugnisse<br />
für Bad und Wellness.<br />
Die „Damino GmbH“ beschäftigt in Großschönau<br />
weitere 140 Mitarbeiter. Mit<br />
modernster Computertechnik wird dort<br />
Tisch- und Bettwäsche gewebt, veredelt<br />
und konfektioniert. Auch die Jacquard-<br />
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30<br />
Geschichte
Die Geschichte der Oberlausitzer Textilindustrie<br />
Textilindustrie<br />
Kalandern, mit Hilfe von Walzen werden Textilien verdichtet und geglättet, 1928. Foto: © Damino<br />
technik setzt die Firma aus Großschönau<br />
fort. Ihre Wurzeln gehen bis ins Jahr<br />
1666 zurück. Die Damastweberei hatten<br />
die Brüder Friedrich und Christoph Lange<br />
in den Niederlanden erlernt, bevor sie die<br />
Kunst 1666 nach Großschönau brachten.<br />
Hier wurde erstmals in Deutschland Damast<br />
gewebt, und schon wenige Jahrzehnte<br />
später war Großschönauer Tafelwäsche<br />
aus Leinendamast weltbekannt.<br />
Mit der Privatisierung wurde aus den „VEB<br />
Bekleidungswerken Seifhennersdorf“ im<br />
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Geschichte<br />
31
Von Leuchttürmen und Schattenseiten<br />
Textilindustrie<br />
Warenpresse und Legerei um 1928. Foto: © Damino<br />
Jahr 1990 die „Spekon Sächsische Spezialkonfektion<br />
GmbH“. Die Tradition des<br />
Fallschirmbaus wird hier seither fortgesetzt.<br />
Weniger gut erging es Abraham Dürninger.<br />
Die Firma, die seit Kriegsjahren<br />
ohnehin mit Problemen zu kämpfen hatte,<br />
hatte 1990 noch 75 Mitarbeiter. Kurz<br />
nach der Wende konnten zwar neuere<br />
Webstühle in Betrieb genommen werden,<br />
doch entwickelte sich die Auftragslage<br />
der Weberei nicht entsprechend<br />
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32<br />
Geschichte
Die Geschichte der Oberlausitzer Textilindustrie<br />
Textilindustrie<br />
ihren Produktionskapazitäten. Heute ist<br />
die Abraham Dürninger & Co. GmbH eine<br />
reine Textildruckerei.<br />
Zurzeit gibt es in der Region der Lausitz<br />
zirka 80 Textil- und Bekleidungsunternehmen<br />
mit insgesamt etwa 2.000 Mitarbeitern.<br />
Nach Angaben des VTI sind<br />
davon zirka 15 Prozent der Mitarbeiter in<br />
der Bekleidungsindustrie beschäftigt, 25<br />
Prozent im Bereich Heim- und Haustextilien<br />
sowie etwa 50 bis 60 Prozent im<br />
Bereich der technischen Textilien. Am<br />
zukunftsträchtigsten erweisen sich demnach<br />
die Entwicklung und Verarbeitung<br />
technischer Textilien.<br />
Fragt man nach regionalen Leuchttürmen<br />
der Branche fallen vor allem die Namen<br />
von „frottana“ und „Damino“ in Großschönau<br />
und von der Seifhennersdorfer<br />
„Spekon“. Gute Zukunftsaussichten haben<br />
– so ergab es eine Umfrage unter<br />
Textilunternehmern – auch der Textilveredler<br />
„Ploucquet Textiles“ aus Zittau und<br />
der Hersteller von technischen Textilien<br />
„C.F. Weber“ in Spitzcunnersdorf.<br />
Produktionstechnisch und strukturell ist<br />
die Textilindustrie in der Oberlausitz auf<br />
einem guten Stand – die Situation ist natürlich<br />
nicht mehr zu vergleichen mit jener<br />
im Herbst 1989. Einige Unternehmen<br />
haben sich auf den Märkten behauptet –<br />
durch innovative Produkte und betriebsgerechte<br />
Marketing-Strategien. Probleme<br />
sehen die Unternehmer vor allem in<br />
der ungünstigen Bevölkerungsprognose<br />
der Region: Noch ist das traditionelle,<br />
branchenspezifische Wissen ein echtes<br />
Pfund, mit dem die Unternehmen der<br />
Region wuchern können. Doch zeichnet<br />
sich ein Fachkräftemangel ab, und das<br />
Wissen, mit dem sich den Herausforderungen<br />
der Globalisierung begegnen ließe,<br />
verschwindet.<br />
Traditionsbewusstsein und Innovation<br />
sind die Schlagworte, mit denen die<br />
Oberlausitzer Textilindustrie auf die Abwanderung<br />
von Arbeitsplätzen nach Asien<br />
reagieren kann. Der VTI hat die Notwendigkeit<br />
erkannt und unter der Schirmherrschaft<br />
des Bundesministeriums für<br />
Bildung und Forschung die Kampagne<br />
„Go Textile!“ initiiert, um die Ausbildung<br />
in der Textil- und Bekleidungsindustrie zu<br />
fördern.<br />
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Geschichte 33
Soziale Beziehungen in einer mittelalterlichen Stadt –<br />
Sozialtopographie<br />
von Mattis Lehmann<br />
Um das Jahr 1500 entwickelte sich Görlitz<br />
zur größten Stadt zwischen Erfurt und<br />
Breslau. Die größten Wirtschaftszweige<br />
waren dabei das Görlitzer Brauwesen und<br />
die Tuchproduktion bzw. der Fernhandel.<br />
Für die Verhältnisse in der Stadt Görlitz<br />
folgte, dass einer relativ kleinen Oberschicht,<br />
die allerdings 1528 schon mehr als<br />
die Hälfte des Görlitzer Gesamtvermögens<br />
kontrollierte, eine relativ ausgeprägte Mittelschicht<br />
und ein überproportional großer<br />
Anteil der Stadtarmut gegenüber standen.<br />
Das Vermögen der Reichen entstammte<br />
dabei aus dem Handel, Brauwesen und<br />
der Nutznießung feudaler Rechte. Die mittel-<br />
und kleinbürgerlichen Schichten waren<br />
häufig weniger vermögende Kaufleute und<br />
kleine Warenproduzenten. Im Unterschied<br />
zu der Stadtarmut besaßen sie aber immerhin<br />
noch Produktionsmittel. Die Ärmsten<br />
der Stadt waren Lohnarbeiter, Bettler,<br />
Tagelöhner, Hausgesinde etc.; 1528 waren<br />
es 40,5% aller steuerpflichtigen Bürger in<br />
Görlitz, die der Stadtarmut angehörten.<br />
Um 1500 wurden die Armen immer mehr<br />
aus der Stadt hinaus in die Vorstädte gedrängt,<br />
wo sie dann meistens als Mieter<br />
wohnten.<br />
Das mittelalterliche Görlitz teilte sich innerhalb<br />
der Stadt in vier Viertel, die nach<br />
den Toren der Stadt benannt waren: Das<br />
Nicolaiviertel, das Reichenbacherviertel,<br />
das Frauen- und das Neißeviertel. Den<br />
einzelnen Vierteln konnte Jecht nach den<br />
Geschossbüchern auch die einzelnen Straßen<br />
zuordnen. Allgemein fanden sich das<br />
Großbürgertum und die Brauhöfe konzentriert<br />
am Untermarkt, in Neiße-, Peters-,<br />
Brüder-, Nicolai- und Jüdengasse, sowie<br />
an Obermarkt und Peterskirche, vereinzelt<br />
auch in Langen- und Webergasse<br />
und am Fischmarkt und Handwerk. Die<br />
hochwertigen Brauhöfe waren speziell am<br />
Untermarkt und in der Petersgasse angesiedelt,<br />
wodurch die beiden Machtzentren<br />
der Stadt verbunden wurden, die Peterskirche<br />
und das Rathaus. Vereinzelt fanden<br />
sich Brauhöfe auch in der Neißegasse.<br />
Die niedrigwertigeren Brauhöfe standen<br />
am nordwestlichen Obermarkt und in der<br />
Langen- und der Nonnengasse, vereinzelt<br />
auch am Untermarkt. Daraus ergab sich<br />
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34<br />
Geschichte
Sozialtopographie von Görlitz<br />
ein Sozialgefälle bei der Anordnung der<br />
Brauhöfe vom Zentrum zum Stadtrand.<br />
Da das mittlere Bürgertum auf den ersten<br />
Blick verstreut über die Stadt wohnte,<br />
lohnt sich eine genauere Unterteilung. Die<br />
an die Oberschicht angrenzenden Bürger<br />
wohnten zumeist in Brüder-, Peters-, Nicolaigasse<br />
und Obermarkt. Daraus lässt sich<br />
eine enge Verzahnung mit den Wohnsitzen<br />
der reichen Familien erkennen. Ihnen<br />
folgten die Bürger der Mittelschicht. Sie<br />
wohnten am Obermarkt, in Neiße-, Nicolai-,<br />
Brüder-, Stein-, Langen-, Weber- und<br />
Kränzelgasse, sowie an Obermarkt, Untermarkt<br />
und Handwerk. Der weniger vermögende<br />
Anteil des Bürgertums lebte in<br />
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Geschichte<br />
35
Soziale Beziehungen in einer mittelalterlichen Stadt –<br />
Sozialtopographie<br />
den Seitengassen. In Langen-, Fleischer-,<br />
Breiten-, Krischelund Jüdengasse, an<br />
Fischmarkt und im Handwerk. Das Kleinbürgertum<br />
wohnte zumeist am Rande der<br />
Stadt: Fischmarkt, Jüdenring und in den<br />
Seitengassen.<br />
Es ist davon auszugehen, dass die Görlitzer<br />
Bürger sich über ihren eigenen sozialen<br />
Status im Klaren waren. Die Einschätzung<br />
des sozialen Standes einer Person stand in<br />
einer Wechselwirkung mit der sozialen Einschätzung<br />
des Wohnviertels. Desweiteren<br />
bestand aller Wahrscheinlichkeit nach auch<br />
eine persönliche Bindung an die Nachbarschaft.<br />
Betrachtet man die Verteilung des<br />
Vermögens und der Häuserwerte, so sollte<br />
man allerdings bedenken, dass auch innerhalb<br />
eines Hauses ein soziales Gefälle<br />
bestand. Mieter und Hausgesinde standen<br />
in der sozialen Hierarchie wahrscheinlich<br />
auf niedrigerer Stufe als der Hausbesitzer.<br />
Bei den Geschossbüchern handelt es sich<br />
um Steuerbücher der Stadt Görlitz. Ab dem<br />
Jahr 1426 bis zu den Jahren preußischer<br />
Herrschaft wurden pro Jahr mindestens<br />
zwei Geschossbücher, ein Sommer- und<br />
ein Wintergeschoss, für jeweils Stadt und<br />
Vorstadt angelegt.<br />
Besteuert wurden „mobilia“ (fahrende<br />
Habe) und „immobilia“ (Unfahrende<br />
Habe), wobei die „mobilia“ ein Eidgeschoss<br />
war, bei dem der Besitzer unter Eid alle zu<br />
besteuernden Dinge angab. Daraus resultiert,<br />
dass bei der Beurteilung der „mobilia“<br />
immer eine gewisse Unsicherheit besteht.<br />
Bei den „Immobilien“ wurde bei der Besteuerung<br />
immer der letzte Verkaufspreis<br />
des Objektes (Acker, Haus etc.) zugrunde<br />
gelegt.<br />
Die „Liber Resignationum“ bilden die Ausdifferenzierung<br />
des ältesten Stadtbuches<br />
von Görlitz von 1305. Die Reihe beginnt<br />
1432 und endet 1580. Sie umfasst 11 Bände.<br />
Der Großteil der Görlitzer Testamente<br />
findet sich in den „Libri Resignationum“.<br />
Zwar existieren auch Testamente in den<br />
„Libri Actorum“, ihr Umfang ist jedoch verschwindend<br />
gering.<br />
Bei den „Libri Resignationum“ handelt es<br />
sich um Stadtbücher, in denen Auflassungen<br />
verzeichnet wurden. „Die Auflassung<br />
erfolgte vor den Schöppen und wurde in<br />
bestimmte Bücher eingetragen, um die<br />
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36<br />
Geschichte
Sozialtopographie von Görlitz<br />
Rechtsgültigkeit herzustellen“. Im Jahr<br />
1500 hatte sich die die Testierpraxis und<br />
die Form der Testamente soweit gefestigt,<br />
dass sie sich relativ leicht erkennen lassen.<br />
Bis dahin war eine einheitliche Form nur<br />
schwer festzustellen.<br />
Die Görlitzer Testamente aus dem Jahr<br />
1500 sind allesamt in deutscher Sprache<br />
geschrieben. Häufig finden sich wiederkehrende<br />
Formeln, so zum Beispiel:<br />
„[…]so als [N.N.] mit Schwachheit befallen,<br />
hat er bey guter vernunft sein Testament<br />
und letzten willen, bestalt und<br />
gemacht, und begeret das[…]“. Diese<br />
Formel findet sich zu Beginn eines Testamentes,<br />
ebenso wie die Namen der Testatoren<br />
und eventueller Vormünder. Danach<br />
folgt der Hauptteil, in dem die Legate und<br />
das Seelgerät vergeben werden. Dieser<br />
Teil variiert jedoch stark von Testament zu<br />
Testament und folgt keiner einheitlichen<br />
Form. Am Ende der Testamente finden<br />
sich zumeist die Erwähnung der Zeugen<br />
und des Jahres.<br />
Insgesamt liegen für das Jahr 1500 15<br />
Testamente vor.<br />
Neben den Testamenten finden sich auch<br />
noch andere Texte in den „Libri Resignationum“.<br />
Es gibt keine Einzelurkunden zu<br />
letztwilligen Verfügungen, was im Zusammenhang<br />
mit dem Magdeburger Stadtrecht<br />
steht, zu dem Görlitz zugehörig war.<br />
Rechtsgültigkeit erlangte ein Testament<br />
erst durch den Eintrag ins Stadtbuch.<br />
Verwandtschaftsgrade werden häufig<br />
in den Testamenten erwähnt. Für Jorge<br />
Richter sind Stieftochter, Bruder und Frau<br />
bekannt, Georg Emerichs Frau und Kinder<br />
werden erwähnt, ebenso wie die von Mathias<br />
Engelhart, Jorge Richter dem Gertener,<br />
Nickel Beyr, und Merten Tschassel.68<br />
Margarethe Jacoff Weyderyns Kinder werden<br />
auch erwähnt, lassen sich jedoch nicht<br />
zuordnen. Des Weiteren sind Geschwister<br />
von Jorge Richter, Merten Tschassel, Mathias<br />
Engelhart, Ursula Canyn, Anna Reßerynn<br />
und Nickel Beyrs bekannt. Weitere<br />
Verwandtschaftsgrade werden erwähnt bei<br />
Barbara Casper Langenickel, Anna Reßerynn,<br />
Ursula Canyn, Magdalena Hanschen<br />
Schmydyn und Jorge Richter. In einigen<br />
Fällen bleibt das Verhältnis von Testatoren,<br />
Vormündern und Legatempfängern<br />
jedoch ungeklärt.<br />
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Geschichte<br />
37
Die Märklin-Eisenbahn und das Paradies<br />
Weihnachtlich<br />
Eine Märklin-Eisenbahn, das war nicht<br />
nur ein Kindertraum im vormaligen<br />
Westen. Auch im Osten schwärmten<br />
tausende Kinder davon, eine eigene<br />
Märklin-Anlage zu besitzen. Auch ich als<br />
DDR-Kind war bereits mit fünf Jahren<br />
vernarrt in die äußere Schönheit wie in<br />
die zuverlässige Technik der Modellbahnen<br />
von Märklin. Märklin, das war für<br />
mich der Inbegriff des vermeintlich goldenen<br />
Westens. Meine Familie – der Vater,<br />
die Mutter, zwei Söhne, eine Tochter<br />
– wohnte damals in Görlitz, im fernöstlichen<br />
Zipfel der Deutschen Demokratischen<br />
Republik. Vom Bruder meiner<br />
Mutter bekam ich ein paar Märklin-<br />
Schienen – Vorkriegsware mit durchgehendem<br />
Mittelleiter –, eine kleine Lokomotive,<br />
zwei Personenwagen, ein Signal<br />
und einen Trafo. Westverwandtschaft<br />
hatten wir so gut wie keine. Aber ein<br />
lieber Patenonkel in West-Berlin sorgte<br />
dafür, daß aus dem schlichten Kreis<br />
mit Abstellgleis ganz allmählich – immer<br />
zu Weihnachten und zum Geburtstag –<br />
eine bescheidene Anlage wurde.<br />
Hatte meine Mutter die „Landschaft“ zunächst<br />
mit grünem Pinsel auf braunes<br />
Packpapier gemalt und bestanden die<br />
Häuser zunächst aus den Holzbausteinen<br />
des kleinen Bruders, so konnte ich<br />
später einiges Zubehör im passenden<br />
Maßstab 1:87 auch in der DDR erwerben.<br />
Aber natürlich waren meine Wünsche<br />
immer viel größer als der Geldbeutel<br />
der Eltern – nur der Vater arbeitete,<br />
und der verdiente bei der Kirche extrem<br />
schlecht – und auch viel größer als die<br />
Spendenwilligkeit des Patenonkels. Und<br />
außerdem herrschte in unserer Görlitzer<br />
Altbauwohnung extreme Enge: Für uns<br />
fünf Personen standen nur 60 Quadratmeter<br />
zur Verfügung.<br />
Aus all diesen Gründen mußte ich mich<br />
wohl oder übel damit abfinden, daß die<br />
Anlage bis zuletzt ziemlich klein blieb<br />
(die größte Platte maß 180 cm x 95<br />
cm) und daß sie immer nur von Heiligabend<br />
bis Dreikönige aufgebaut war.<br />
Mit ihr war nämlich das häusliche Sofa<br />
überbaut, das eigentlich von der Familie<br />
dringend gebraucht wurde. Nach Dreikönige<br />
verschwand die Märklin-Herrlichkeit<br />
zu meinem Bedauern wieder in<br />
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38<br />
Erinnerungen
Unvergessene Weihnachten<br />
Weihnachtlich<br />
Nur zu Weihnachten – wie hier 1964 – durfte ich mit meiner Märklin-Eisenbahn im Wohnzimmer spielen.<br />
(Foto: Familienarchiv)<br />
vielen kleinen Kartons und landete samt<br />
sorgsam verpackter Platte für fast 50<br />
Wochen auf dem Boden. Natürlich bastelten,<br />
sangen, spielten und musizierten<br />
wir zu Weihnachten mehr als zu jeder<br />
anderen Jahreszeit. Aber die Modelleisenbahn<br />
setzte der Weihnachtszeit jedesmal<br />
die Krone auf.<br />
Nun aber zum Eigentlichen meiner Geschichte.<br />
Als getauftes Kind eines Diakons<br />
und einer christlichen Kindergärtnerin<br />
interessierte ich mich natürlich<br />
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Erinnerungen<br />
39
Die Märklin-Eisenbahn und das Paradies<br />
Weihnachtlich<br />
nicht nur für elektrische Eisenbahnen,<br />
sondern auch für „höhere“ Dinge. Beim<br />
Lesen biblischer Geschichten und beim<br />
Nachdenken über Glaubensthemen in<br />
der Jungschar tauchte bei mir mit etwa<br />
sieben Jahren die Frage auf, die wohl jeder<br />
Christ sich irgendwann einmal stellt,<br />
die Frage nämlich: Wie wird es bei Gott<br />
im Paradies sein?<br />
Meine Mutter – bald darf sie das 86.<br />
Lebensjahr vollenden! – überlegte eine<br />
Weile und antwortete dann mit einem<br />
gewagten Vergleich, der dem fragenden<br />
Kind die Augen für das Paradies öffnete<br />
und den der gnädige Gott ihr sicherlich<br />
verzeihen wird. Seit diesem Moment, in<br />
dem meine Mutter zu sprechen anhub,<br />
freue ich mich unbändig auf das Paradies<br />
und die ungetrübte Gemeinschaft<br />
mit Gott. Ja wirklich, die Freude von<br />
damals hält bis in mein derzeitiges 58.<br />
Lebensjahr an. Ich weiß und glaube felsenfest,<br />
daß Gott für mich im Paradies<br />
Wunderbares bereithalten wird. Meine<br />
Mutter erzählte damals wie folgt:<br />
„Weißt du, mein Junge, das Paradies,<br />
das ist die ewige Glückseligkeit. Da wird<br />
es nicht den geringsten Kummer, nicht<br />
das geringste Leid mehr geben. Da wird<br />
Gott ganz spürbar für dich da sein. Da<br />
werden bei dir keine Wünsche mehr offenbleiben.<br />
Da wird Gott dich zu einem<br />
langen Schuppen mit vielen Türen und<br />
dahinter mit vielen Kammern führen.<br />
Und in jeder Kammer steht eine große<br />
Märklin-Eisenbahn-Anlage. Eine herrlicher<br />
als die andere. Und dann wird Gott<br />
zu dir sagen: ,Such dir eine aus. Was du<br />
auswählst, gehört dir. Du kannst damit<br />
spielen, nicht nur von Weihnachten bis<br />
Dreikönige, sondern so lange du willst,<br />
eine ganze Ewigkeit lang.’“<br />
Ich bin ja so gespannt auf das Paradies<br />
… Vielleicht läßt Gott mich wenigstens<br />
fünf Minuten spielen …<br />
Unvergessene Weihnachten. Band 10<br />
36 besinnliche und heitere<br />
Zeitzeugen-Erinnerungen.<br />
192 Seiten, viele Abbildungen, Ortsregister.<br />
Zeitgut Verlag, Berlin. www.zeitgut.com<br />
Taschenbuch-Ausgabe<br />
ISBN: 978-3-86614-244-2, 8,90 €<br />
Gebundene Ausgabe<br />
ISBN: 978-3-86614-243-5, 11,90 €<br />
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40<br />
Erinnerungen
Vom Dritten Reich zur Nachkriegszeit<br />
Ingrid Volkmann bei einem Ausflug an die Regnitz zu Pfingsten 1949 (Foto: Familienarchiv)<br />
Schlesien wird polnisch<br />
Wie viele Tage wir für die Strecke von<br />
etwa 200 Kilometer – mit den Umwegen<br />
waren es sicher viel mehr – benötigten,<br />
kann ich nicht mehr rekonstruieren. Eines<br />
Tages hielt der Zug auf einem größeren<br />
Bahnhof. Es gab einen längeren<br />
Aufenthalt und ein aufgeregter Wortwechsel<br />
war unter den Menschen auf<br />
dem Bahnsteig zu hören. Meine Mutter<br />
kurbelte neugierig das Fenster he-<br />
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Erinnerungen<br />
41
Vom Dritten Reich zur Nachkriegszeit<br />
runter: „Wir sind ja in Kohlfurt (heute<br />
Węgliniec)! Hier ist ja dein Vati geboren!<br />
Und deine Großeltern besaßen früher<br />
hier ihre Fleischerei!“ Wahrscheinlich<br />
hatte der Zug die Neiße auf einer<br />
notdürftig reparierten Brücke überquert<br />
und wir waren schon in Schlesien östlich<br />
von Görlitz.<br />
Da ein längerer Halt zu erwarten war,<br />
stiegen wir aus, um vielleicht Informationen<br />
zu erhalten. Dabei erfuhr Mutter<br />
von dem Gerücht: Schlesien wird bis an<br />
die Neiße polnisch. Nun war guter Rat<br />
teuer. Sollte man dem unglaublichen Gerede<br />
trauen? Unsere Mitreisenden aus<br />
Jauer und die meisten anderen Flüchtlinge<br />
wollten trotz der Vorstellung, unter<br />
polnischem Regiment leben zu müssen,<br />
unbedingt in ihre Heimat zurückkehren<br />
– in dem Glauben, die meist versprengten<br />
Familienangehörigen anzutreffen.<br />
Mutti schlug vor, zunächst, wie schon im<br />
Februar, bei den Großeltern in Görlitz-<br />
Moys ein Unterkommen zu suchen – in<br />
der Hoffnung, dass sie das Kriegsende<br />
heil überstanden hatten. Nur zwanzig<br />
Kilometer trennten uns von ihnen.<br />
….. „Also bewahrheitet sich doch das<br />
hartnäckige Gerücht: Polen besetzt<br />
die rechte Neißeseite“, schreibt der<br />
katholische Pfarrer Franz Scholz am<br />
25.5.1945.<br />
Dieses Datum könnte nach unserer<br />
Odyssee vom Sudetengau auch der Tag<br />
der Ankunft in Kohlfurt gewesen sein,<br />
an dem wir mit diesem Gerücht konfrontiert<br />
wurden und den Beschluss zur<br />
Umkehr nach Görlitz fassten. Mutti erkundigte<br />
sich, wie wir dorthin gelangen<br />
könnten. Da hieß es, dass der gerade<br />
einlaufende Zug nach Görlitz weiterführe,<br />
aber leider schon mit Polen besetzt<br />
sei.<br />
Der lange Güterzug kam mit quietschenden<br />
Bremsen zum Stehen. Nach<br />
und nach wurden die großen, schweren<br />
Türen der Waggons entriegelt. Müde<br />
und ausgemergelte Menschen stiegen<br />
vorsichtig aus oder setzten sich mit<br />
baumelnden Beinen an den Ausgang,<br />
um frische Luft zu schnappen. Ich<br />
sehe mich noch weinend den Zug entlanglaufen<br />
und bei jedem Waggon die<br />
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42<br />
Erinnerungen
Kindheit und Jugend im Schatten des Reichsarbeitsdienstes<br />
Nachkriegszeit<br />
Menschen fragen: „Ist bei euch noch<br />
Platz für zwei Frauen und zwei Kinder?“<br />
Die Polen schauten meist verständnislos,<br />
und falls sie begriffen, worum es<br />
ging, konnten sie ja nur bedauernd mit<br />
den Schultern zucken, denn es war ja<br />
wirklich kein Platz vorhanden. Die Güterwaggons<br />
waren mit Hausrat und<br />
Menschen bis in den hintersten Winkel<br />
vollgepfercht. Mutti und Oma schoben<br />
die beiden Kinderwagen den Bahnsteig<br />
entlang. Schließlich erreichten wir die<br />
Lokomotive. Und welch ein Glück: Lokomotivführer<br />
und Heizer waren Deutsche,<br />
zumindest verstanden und sprachen<br />
sie Deutsch. Sie hatten Mitleid mit<br />
uns und boten uns den Platz auf dem<br />
Kohlentender der Lokomotive an.<br />
Ein breites Brett wurde organisiert und<br />
quer über die Kohleladung gelegt. Beide<br />
Kinderwagen, den einen mit meinem<br />
kleinen Bruder und den zweiten mit den<br />
Koffern, hievten die Männer beherzt hinauf.<br />
Mutti saß auf der einen Seite des<br />
Brettes und umklammerte den Wagen<br />
mit dem Säugling, Oma auf der anderen<br />
Seite sorgte dafür, dass der zweite<br />
Wagen mit dem Gepäck nicht abstürzte.<br />
Denn jedes Mal, wenn der Heizer<br />
Kohle schaufelte, rutschte etwas Kohle<br />
nach und das Brett geriet gefährlich ins<br />
Wanken. Ich hockte mich zu Heizer und<br />
Lokomotivführer in den Führerstand,<br />
denn dort herrschte in der kühlen Frühlingsnacht<br />
eine angenehme Wärme. Für<br />
mich war es ein echtes Abenteuer! Ich<br />
erinnerte mich an die Winterferien in<br />
Tarnopol im Jahr zuvor, als ich oft auf<br />
der Drehscheibe vor der Lokomotivhalle<br />
fahren durfte. Jetzt aber erlebte<br />
ich unmittelbar, wie das fauchende und<br />
qualmende Ungetüm in Gang gesetzt<br />
wurde. Wenn der Heizer die Klappe<br />
zum Heizkessel öffnete, konnte ich in<br />
den glühenden Feuerrachen schauen.<br />
Dabei fiel mir die Hexe aus dem Märchen<br />
von Hänsel und Gretel ein, die in<br />
einen brennenden Feuerofen gestoßen<br />
wurde. Ich durfte sogar selbst ein paar<br />
Kohlen in das glühende Loch hineinschaufeln,<br />
aber das war für ein kleines<br />
Mädchen doch recht beschwerlich.<br />
Es dauerte nicht lange, da hatten sich<br />
rings um den Tender in ihrer Not noch<br />
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Erinnerungen 43
Vom Dritten Reich zur Nachkriegszeit<br />
andere Menschen geklammert,<br />
die Richtung Westen wollten,<br />
vor allem einige Männer, die<br />
der Gefangennahme entgehen<br />
wollten. Und obwohl Kohlfurt<br />
und Görlitz nur 20 Kilometer<br />
voneinander entfernt waren,<br />
stand uns wieder eine stundenlange<br />
Irrfahrt durch die Nacht<br />
bevor. Die schöne Brücke an<br />
der direkten Verbindung, der<br />
Viadukt über die Neiße, war ja<br />
gesprengt, und der Lokführer<br />
steuerte sicher auf den Übergang<br />
zu, den wir am selben Tag<br />
schon einmal überquert hatten.<br />
Später erfuhr ich auch, dass aller<br />
Güter- und Personenverkehr<br />
weiter nördlich bei Forst über<br />
eine erhalten gebliebene Eisenbahnbrücke<br />
rollen musste.<br />
Der Zug war fast die halbe<br />
Nacht unterwegs, hielt wieder<br />
des Öfteren und erreichte den<br />
Hauptbahnhof Görlitz erst im<br />
Morgengrauen, noch zur von<br />
der Besatzungsmacht verord-<br />
Ingrid Volkmann an ihrem Konfirmationstag im Jahre 1950<br />
(Foto: Familienarchiv)<br />
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44<br />
Erinnerungen
Kindheit und Jugend im Schatten des Reichsarbeitsdienstes<br />
Nachkriegszeit<br />
neten Sperrstunde. Alle Mitfahrer hatten<br />
schreckliche Angst vor den Polen,<br />
deren Zugfahrt ebenfalls hier endete.<br />
So riet der Lokführer, uns zunächst auf<br />
dem Bahnsteig im Wartehäuschen zu<br />
verschanzen. Dort verbarrikadierten<br />
wir mit dem Gepäck von innen Türen<br />
und Fenster und harrten aus, bis es<br />
hell wurde und die Sperrstunde aufgehoben<br />
war. Langsam trauten sich<br />
einige Personen der deutschen Gruppe<br />
nach draußen. Meine Mutter fasste<br />
schließlich auch Mut und ging los, um<br />
meinen Großvater zu suchen, von dem<br />
sie wusste, dass er vor unserer Evakuierung<br />
in der Fleischerei Haupt in der<br />
Landskronstraße in der Nähe des Bahnhofs<br />
gearbeitet hatte. Und tatsächlich:<br />
Nach kurzer Wartezeit tauchte sie mit<br />
ihm auf. Das war ein freudiges Wiedersehen!<br />
Dann hieß es, den Weg durch<br />
die Stadt zu Fuß zurückzulegen, mit<br />
dem Säugling und dem Gepäck in den<br />
beiden Kinderwagen, um eine passierbare<br />
Brücke zu erreichen. In Höhe der<br />
Reichenbacher Brücke hatten die sowjetischen<br />
Soldaten eine Pontonbrücke<br />
errichtet. Über dieses wackelige Nadelöhr<br />
drängten sich mit uns Menschen,<br />
die von Ost nach West oder von West<br />
nach Ost wanderten. Viele Flüchtlinge<br />
aus Schlesien wollten zurück in ihre<br />
Heimat, denn sie hatten noch nichts<br />
von dem Unheil gehört, das sich über<br />
ihren Köpfen zusammenbraute. Wir<br />
gelangten mit unserem Passierschein<br />
an vielen Militärposten vorbei bis Moys<br />
und konnten meine andere Großmutter<br />
wohlbehalten umarmen.<br />
Ingrid Volkmann<br />
Vom Dritten Reich zur Nachkriegszeit<br />
Kindheit und Jugend im Schatten des<br />
Reichsarbeitsdienstes 1935-1955.<br />
426 Seiten mit Fotos und Dokumenten.<br />
Sammlung der Zeitzeugen (85).<br />
Zeitgut Verlag, Berlin.<br />
Klappenbroschur<br />
ISBN: 978-3-86614-271-8, 16,90 €<br />
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Erinnerungen 45
Eine Fahrt ins Böhmerland<br />
Im Jahr 1886 unternahm der Dresdener<br />
Redakteur und Schriftsteller Max Dittrich<br />
(1844-1917) gemeinsam mit einem<br />
Freund eine Reise nach Böhmen. Von<br />
Dresden aus ging es durch die Sächsische<br />
Schweiz in das Nachbarland hinüber. Über<br />
Tetschen-Bodenbach und Aussig führte<br />
die Reise zunächst nach Prag. Von dort<br />
aus reiste man weiter nach Königgrätz<br />
um sich die Schlachtfelder und Denkmale<br />
von 1866 anzusehen. Die Heimreise führte<br />
dann über Reichenberg, Zittau und<br />
Görlitz wieder nach Dresden zurück. Die<br />
gesamte Reise wurde mit der Bahn unternommen<br />
und war fast durchgehend von<br />
heftigem Regenwetter geprägt. Trotzdem<br />
erlebten die Beiden auf ihrer Reise durch<br />
das Böhmerland allerhand. Max Dittrich<br />
machte hinterher daraus ein kleines<br />
Büchlein, welches auch heute noch amüsant<br />
zu lesen ist. Wir möchten uns hier<br />
und heute auf den Bericht über den Besuches<br />
in Zittau und Görlitz beschränken.<br />
Der Text wird ungekürzt wiedergegeben,<br />
der Schreibstil und die Rechtschreibung<br />
von vor über 135 Jahren wurden dabei<br />
unverändert beibehalten.<br />
Ein Besuch in Zittau anno 1886<br />
Der Zug, den wir von Reichenberg zur<br />
Weiterfahrt benutzten, verließ die Stadt<br />
8 Uhr 25 Minuten. Pünktlich hatte uns<br />
der Omnibus nach dem Bahnhofe gebracht<br />
und wenige Minuten darauf ging<br />
es durch anmuthige Landschaften wieder<br />
nach Sachsen.<br />
Gegen 9¼ Uhr lief der Train im Bahnhofe<br />
zu Zittau ein. Hier stiegen wir aus, um<br />
uns die reichste Stadt des Königreichs<br />
Sachsen flüchtig anzusehen, berühmt<br />
durch ihre wechselvolle Geschichte, ihre<br />
Siege über die Hussiten, ihre Leiden im<br />
dreißigjährigen, siebenjährigen und den<br />
Franzosenkriegen wie im Jahre 1866,<br />
berühmt aber auch durch ihre schneidigen,<br />
zungenfertigen Bewohner und<br />
ihren hochverdienten, als Präsident der<br />
zweiten Kammer der sächsischen Ständeversammlung<br />
im ganzen Lande bekannten<br />
und beliebten Bürgermeister Dr.<br />
Haberkorn, berühmt endlich durch ihre<br />
reizende Umgebung und ihre „schienen<br />
schienen Barge“, deren Kronjuwel der romantisch<br />
gelegene Oybin ist.<br />
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46<br />
Geschichte
Eine Fahrt ins Böhmerland<br />
Wir schlenderten langsam die<br />
schöne breite Bahnhofstraße hinein<br />
nach der schmucken Stadt. Dieselbe<br />
ist sehr reich an hervorragenden<br />
Bauwerken, welche alle der Neuzeit<br />
ihre Entstehung verdanken: Johanneum,<br />
in dem sich Gymnasium und<br />
Realschule befinden, die Bürgerschule,<br />
die Baugewerkenschule, die<br />
Turnhalle, die neue Post und das<br />
Stadtbad mit großartigem Säulenvorbau,<br />
enthaltend Schwimmbassins<br />
für Männer und Frauen, russische<br />
und irisch-römische, sowie<br />
Moor-, Douche- und medicinische<br />
Bäder. Neben dem Johanneum ist<br />
eine stattliche Gedenksäule aufgerichtet<br />
zur Erinnerung an die Verleihung<br />
einer Verfassung an das<br />
sächsische Volk.<br />
Durch die belebte Bautznerstraße<br />
mit der doppelthürmigen Johanniskirche,<br />
Zittaus Hauptgotteshaus,<br />
wanderten wir nun nach dem Markt<br />
Rathaus in Zittau um 1885<br />
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48<br />
Geschichte
Eine Fahrt ins Böhmerland<br />
mit hübschem Brunnen, ein weiter Platz<br />
von stattlichen Gebäuden mit Verkaufsläden<br />
aller Art umsäumt und abgeschlossen<br />
durch das prächtige Rathaus um Burgstyle<br />
des Mittelalters, 1840-1845 nach den<br />
Plänen des Professors Schramm mit einem<br />
Kostenaufwand von 500.000 Mark<br />
erbaut.<br />
Nicht weit vom Rathause in einer Seitengasse<br />
lasen wir auf einem Restaurationsschild<br />
„Volksküche“. Wir traten ein,<br />
wurden von dem Wirthe, einem behäbigen<br />
Fleischermeister, sehr gut bedient<br />
und erhielten auch auf unsern Wunsch<br />
jede Auskunft über die Volksküche, ein<br />
Privat-Unternehmen und -Institut, wo der<br />
Unbemittelte für billiges Geld eine gute,<br />
nahr- und schmackhafte Kost erhalten<br />
kann. Die Restaurationsräume liegen im<br />
Erdgeschoß, im ersten Stock dagegen, zu<br />
welchem aus den Parterrelocalitäten eine<br />
eiserne Wendeltreppe emporführt befinden<br />
sich einige hübsche Vereinszimmer.<br />
Der Besitzer zeigte uns sein ganzes Reich<br />
mit großer Bereitwilligkeit.<br />
Von hier gingen wir nach dem Marktplatze<br />
zurück, nahmen eine Droschke<br />
und fuhren hinaus nach der Weinau,<br />
ein prachtvoller Park mit guter Restauration.<br />
Wir kutschierten längere Zeit in<br />
den herrlichen Anlagen umher, probirten<br />
auch pflichtgemäß das dort verschänkte<br />
gute Bier, nachher ging’s zurück, an dem<br />
neuen stattlichen Krankenhause vorbei,<br />
durch die Stadtpromenaden nach dem<br />
Bahnhofe. Dort wurde noch eine Postkarte<br />
an die im Café Seltmann zu Prag<br />
hausenden lieben Leute mit einem poetischen<br />
Dank vollgeschrieben und in den<br />
Kasten geworfen, dann dampften wir –<br />
es war 11 Uhr 49 Minuten – weiter gen<br />
Görlitz zu.<br />
Wir warfen unterwegs manchen Blick<br />
auf das wunderschöne Stück Gotteserde,<br />
welches zu beiden Seiten des Bahnkörpers<br />
vorüberflog. „Wer es doch einmal à<br />
la Hans Ohnesorge mit dem Ränzel auf<br />
dem Rücken durchwandern und durchstreifen<br />
könnte!“ so dachten und sagte<br />
ich wie mein Gefährte, hörten dabei aber<br />
schon, Einer wie der Andere, die Kette im<br />
Geiste rasseln, welche Jedem am Beine<br />
klirrt, der im Kampfe des Erwerbslebens<br />
seinen Mann stehen muß, Tag für Tag!<br />
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Geschichte 49
Eine Fahrt ins Böhmerland<br />
Zeichnung alter Bahnhof Görlitz um 1866<br />
Ein Besuch in Görlitz anno 1886<br />
In Görlitz, wo wir wenige Minuten vor<br />
2 Uhr angelangten, wurde abermals Station<br />
gemacht.<br />
Es blieb uns über eine Stunde Zeit, bevor<br />
der Schnellzug abging, dessen Benutzung<br />
den Schluß unserer Reise bilden sollte.<br />
Während mein Genoß in einer comfortablen<br />
Weinstube auf der Bahnhofstraße<br />
vor Anker ging, schlenderte ich zunächst<br />
nach der Post, wo ich Briefe von lieber<br />
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50<br />
Geschichte
Eine Fahrt ins Böhmerland<br />
Hand erwartete und vorfand, dann nach<br />
dem Kriegerdenkmal – dem ersten anno<br />
1870 bei Weißenburg vom 1. schlesischen<br />
Jäger-Bataillon Nr. 5 eroberten und von<br />
einem Fries aus gebranntem Thon umgebenen<br />
französischen Geschütz – und<br />
dem Kaisertrutz, jetzt Hauptwache und<br />
Arsenal.<br />
Die Straßen der von 1635 bis 1815 sächsisch<br />
gewesenen Stadt, welche den<br />
Hussiten erfolgreich widerstand und sie<br />
blutig auf’s Haupt schlug, im dreißig- und<br />
siebenjährigen Kriege viel Drangsale zu<br />
erdulden hatte, haben durchaus großstädtisches<br />
Gepräge, dasselbe gilt von<br />
den Gebäuden und Verkaufsgewölben,<br />
sowie dem Leben und Treiben.<br />
Görlitz, welches auch reich ist an mancherlei<br />
Reminiscenzen aus längst verrauschten<br />
Zeiten, gehört zu den wohlhabenderen<br />
Städten der preußischen<br />
Monarchie, um ihre Hebung machte sich<br />
namentlich der Bürgermeister Gottlieb<br />
Ludwig Demiani verdient, dem auch 1862<br />
ein Denkmal errichtet worden ist.<br />
Ein Besuch der Stadt und ihrer vielfachen<br />
Sehenswürdigkeiten, darunter die Heilige-Grab-Kirche,<br />
errichtet in der zweiten<br />
Hälfte des XV. Jahrhunderts durch den<br />
Görlitzer Bürgermeister Georg Emmerich,<br />
der ein Görlitzer Bürgermädchen verführt<br />
hatte und dies Vergehen sühnen wollte,<br />
ist lohnend und die vor Kurzem dort<br />
stattgefundene Gewerbe-Ausstellung bot<br />
dazu passende und auch vielfach stark<br />
benutzte Gelegenheit.<br />
Ich mußte mich mit einem Bummelgang<br />
durch die frequentesten Straßen begnügen<br />
und dann meinen Gefährten in dem<br />
Weinlocal auf der Bahnhofstraße abholen,<br />
damit wir den Abgang unseres Courierzuges<br />
nicht versäumten.<br />
Punkt 1 Uhr 56 Minuten dampften wir<br />
ab.<br />
aus: Max Dittrich.<br />
Eine Fahrt ins Böhmerland:<br />
Reiseskizzen. Meißen 1886, S. 99-102<br />
Mitgeteilt von Uwe Kahl, Zittau.<br />
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Geschichte 51
Weihnachtskrippen aus Grulich<br />
Grulicher Krippen<br />
Wenn das Schlesische Museum zu Görlitz<br />
im <strong>Dezember</strong> wieder öffnen kann,<br />
wird eine großflächige Krippenlandschaft<br />
aufgebaut sein und auf das<br />
Weihnachtsfest einstimmen. Bereits vor<br />
einigen Jahren bekam das Museum von<br />
den Sammlern Marita und Manfred Ihle<br />
in Spremberg drei Weihnachtskrippen<br />
mit Grulicher Holzfiguren geschenkt,<br />
die nun erstmals präsentiert werden.<br />
Grulich/Králíky liegt in Tschechien zwischen<br />
dem Glatzer Schneegebirge und<br />
dem Hannsdorfer Bergland dicht an der<br />
Grenze zu Schlesien. Im 19. Jahrhundert<br />
entwickelte sich hier die Schnitzerei<br />
von Krippenfiguren zu einem blühenden<br />
Gewerbe. In Grulich und in ca. 30<br />
umliegenden Dörfern waren zeitweise<br />
mehrere hundert Familien mit der Krippenschnitzerei<br />
beschäftigt. In halbindustriellen<br />
Familienbetrieben schnitzten<br />
Männer die „Grulicher Manndln“<br />
aus gekochter Fichte und Frauen und<br />
Kinder bemalten die Figuren mit Leimfarbe.<br />
Trotz dieser massenhaften Produktion<br />
weisen die Figuren eine große<br />
Vielfalt auf, wurden doch nicht nur die<br />
Heilige Familie, die Hirten mit ihren Tieren,<br />
die Engel und die Hl. Drei Könige<br />
hergestellt, sondern auch andere Ensembles<br />
wie Bauernhöfe, Werkstätten<br />
von Handwerkern, Marktszenen oder<br />
der Bergbau. Die Krippen wurden bis<br />
nach Amerika vertrieben und waren<br />
auch in Schlesien sehr beliebt und weit<br />
verbreitet.<br />
Marita und Manfred Ihle gelang es im<br />
Laufe vieler Jahre, drei große Krippen<br />
zusammenzustellen. Die größte Krippe<br />
ist 2,6 m breit und umfasst neben dem<br />
Stall von Bethlehem und dem Tempelberg<br />
in Jerusalem eine ausgedehnte<br />
Landschaft mit über 130 Grulicher Krippenfiguren.<br />
Sie zeigt zahlreiche Szenerien<br />
aus dem täglichen Leben und es<br />
gibt viele liebevoll ausgeführte Details<br />
zu entdecken.<br />
Das Museum freut sich, diesen Schatz<br />
nun öffentlich präsentieren zu können -<br />
wenn nicht durch Corona-Schutzmaßnahmen<br />
das Vorhaben wieder abgesagt<br />
werden muss. Die kleine Ausstellung<br />
soll ergänzt werden durch Hinterglas-<br />
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52<br />
Ausstellung
im Schlesischen Museum zu Görlitz<br />
Grulicher Krippen<br />
Grulicher Krippenfiguren: Anbetung des Jesuskindes durch die Hirten. Foto: SMG<br />
bilder aus der Grafschaft Glatz, die<br />
aus der Sammlung Heidi und Fritz Helle<br />
stammen. Die Präsentation soll bis<br />
Maria Lichtmess am 7. Februar 2021 im<br />
Lichthof des Museums zu sehen sein.<br />
Schlesisches Museum zu Görlitz<br />
Schönhof, Brüderstraße 8, 02828 Görlitz<br />
www.schlesisches-museum.de<br />
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Ausstellung<br />
53
Reinlichkeit ist eine Zier<br />
Sonderausstellung<br />
„Die unendliche Frische“ mit einer sogenannten „Wellenbad-Schaukel“, die das Meer in das heimische<br />
Badezimmer bringen sollte. Foto: © Anja Köhler<br />
Von Anja Köhler<br />
Elektrische Zahnbürste, Lockenstab und<br />
elektrischer Rasierapparat – sie alle gehören<br />
zu unserem Alltag und machen ihn<br />
angenehmer. Das Angebot an Hautpflegemitteln,<br />
Zahnpasta und Haar-Styling-<br />
Produkten ist schier endlos. Jährlich gibt<br />
es neue Trends in Sachen Haarmode und<br />
Barttracht. Keine Haarfarbe scheint zu<br />
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54<br />
Ausstellung
Sonderausstellung im Dorfmuseum Markersdorf<br />
(01.März <strong>2020</strong> bis 01. August 2021)<br />
Vor allem ehemaligen DDR-Bürgern sicherlich noch bekannt, verschiedene Seifen des Seifenwerks Riesa<br />
und des VEB Florena, 1950 – 1990. Foto: © Anja Köhler<br />
verrückt, kein Bart zu ausgefallen. In Zeiten<br />
von Desinfektionsmitteln im Handtaschenformat<br />
und Feuchttüchern für jede<br />
Lebenslage scheinen der Hygiene keine<br />
Grenzen gesetzt zu sein. Tägliche Hygiene<br />
ist fester Bestandteil unseres Lebens.<br />
Wasserklosetts und weibliche Hygieneartikel<br />
möchten wir nicht mehr missen. Dabei<br />
vergessen wir oft, dass die Menschheit<br />
den Großteil ihres Daseins ohne all<br />
diese Hilfsmittel verbrachte. Die Sonderausstellung<br />
„Reinlichkeit ist eine Zier“ gibt<br />
einen kleinen Einblick in die Welt der persönlichen<br />
Hygiene des 19. und 20. Jahrhunderts.<br />
Begeben Sie sich mit uns auf<br />
eine teilweise zum Schmunzeln einladen-<br />
anzeige<br />
Ausstellung<br />
55
Reinlichkeit ist eine Zier<br />
Sonderausstellung<br />
de Reise in die Welt von Seife, Zahnpasta<br />
und Co.<br />
Die unendliche Frische<br />
Die Körperpflege diente und dient in erster<br />
Linie der Reinigung des Körpers und<br />
der Vermeidung von Krankheiten. Je nach<br />
Kulturkreis kommt eine weitere Aufgabe<br />
hinzu: die Vermeidung von unangemessenen<br />
Körpergerüchen. In Griechenland<br />
und Rom wurde vorwiegend warm gebadet,<br />
um den Körper zu reinigen, jedoch<br />
verlor sich diese Tradition in Europa nach<br />
dem Untergang des Römischen Reiches<br />
und endete schließlich im 17. und 18.<br />
Jahrhundert gar in einer regelrechten<br />
„Wasserscheu“. Dies änderte sich erst im<br />
Laufe des 19. Jahrhunderts, als wissenschaftliche<br />
Erkenntnisse zu einer Rückbesinnung<br />
auf das Waschen mit Wasser<br />
führten. Die industrielle Herstellung von<br />
Seife sowie weitere Entwicklungen sorgten<br />
schließlich dafür, dass unsere heutige<br />
tägliche Hygiene von Flüssigseife, Deoroller<br />
und Desinfektionsmitteln gekennzeichnet<br />
ist.<br />
„Die kritischen Tage“<br />
Die Hygiene der Frau hat schon immer<br />
besondere Ansprüche gestellt. Bis in das<br />
19. Jahrhundert hinein, fertigten Frauen<br />
ihre Hygieneprodukte selbst an. Diese<br />
bestanden aus Altkleidern, Moos, Wolle,<br />
Leinen oder ähnlichem und wurden<br />
größtenteils gewaschen und wiederverwendet.<br />
Erst Ende des 19. Jahrhunderts,<br />
mit der zunehmenden gesundheitlichen<br />
Aufklärung und damit einhergehenden<br />
Verbreitung von Hygienevorschriften,<br />
begann die industrielle Herstellung von<br />
Damenhygieneartikeln, die oft jedoch<br />
sehr teuer waren. Der 1. Weltkrieg stellte<br />
einen Meilenstein für die Entwicklung<br />
preiswerterer Erzeugnisse dar, die zu den<br />
uns heute bekannten Hygieneprodukten<br />
führte.<br />
Im Reich der weißen Zwerge<br />
Bereits in der Steinzeit säuberten sich die<br />
Menschen ihre Zähne mit Weidenstöckchen.<br />
Die Römer vertrauten zur Desinfektion<br />
des Mundraumes gar auf ein<br />
kostenloses „Mundwasser“: Urin. Erste<br />
Zahnbürsten kamen um 1500 in China<br />
auf und waren pinselförmig. Kaufleute<br />
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56<br />
Ausstellung
Sonderausstellung im Dorfmuseum Markersdorf<br />
(01.März <strong>2020</strong> bis 01. August 2021)<br />
Set „Putzi“ mit Zahnputzbecher, Zahnbürste, Zahncreme und Mundwasser des VEB Florena, 1980er Jahre.<br />
Foto: © Anja Köhler<br />
brachten die Zahnpinsel mit nach Europa,<br />
wo die Reinigung der Zähne mit Hilfe<br />
von Schwämmen oder Tüchern verbreitet<br />
war. 1780 entstand in England die erste<br />
Zahnbürstenfabrik. Bereits Ende des 19.<br />
Jahrhunderts wurde auch die elektrische<br />
Zahnbürste erfunden, allerdings war ihre<br />
Herstellung viel zu kostspielig.<br />
Die weltweit erste Zahnpasta wurde 1850<br />
in den USA hergestellt, führend auf dem<br />
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Ausstellung<br />
57
Reinlichkeit ist eine Zier<br />
Sonderausstellung<br />
europäischen Markt wurde allerdings<br />
eine Marke aus Dresden: Chlorodont.<br />
Und eine weitere bekannte Marke kommt<br />
aus Dresden: Odol. Karl August Lingner<br />
bekam 1892 ein neues Antiseptikum zur<br />
Vermarktung angeboten. Er stand vor<br />
der Wahl daraus eine antibakterielle Seife<br />
oder ein Gesundheits-Haarwasser zu<br />
machen, entschied sich dann aber für ein<br />
Mundwasser. Diese Entscheidung machte<br />
ihn schließlich zu einem der reisten Männer<br />
des Kaiserreichs. Chlorodont und Odol<br />
hatten etwas gemeinsam: Beide wurden<br />
durch ausgeklügelte Marketingkampagnen<br />
bekannt gemacht, die auch Künstler<br />
wie Giaccomo Puccini einbezogen, der<br />
extra eine „Ode an Odol“ komponierte.<br />
Der Zopf ist ab<br />
Bereits im Alten Ägypten und bei den<br />
Griechen und Römern wurde viel Zeit<br />
und Geld für die Gestaltung und Pflege<br />
des Haupthaares aufgewendet. Im Laufe<br />
der Jahrhunderte gab es eine Vielzahl<br />
verschiedener Haarmoden, die mal kürzere,<br />
mal längere Haare verlangten. Dabei<br />
wurde das Haar gewöhnlich nur mit<br />
Wasser und Seife oder seifenähnlichen<br />
Substanzen gewaschen. Duftöle parfümierten<br />
die Frisur und Schmuck wie<br />
Kämme oder Nadeln waren Ausdruck von<br />
Reichtum. Erste Haarwaschmittel im heutigen<br />
Sinne wurden im 19. Jahrhundert<br />
in England hergestellt. Diese reinigten<br />
und parfümierten das Haar gleichzeitig<br />
und verliehen im Glanz. 1898 eröffnete<br />
Hans Schwarzkopf in Berlin eine Farben-,<br />
Drogen- und Parfümeriehandlung. Das<br />
„Shampoon mit dem schwarzen Kopf“<br />
wurde zum ersten Markenartikel der<br />
Branche in Deutschland.<br />
Um das Haar nach dem Waschen auch<br />
Trocknen zu können, brachte AEG Anfang<br />
des 20. Jahrhunderts einen Haartrockner<br />
auf den Markt. wie Ondulierstab, Glätteisen<br />
und Co. machten die Behandlung<br />
des Haupthaares in den folgenden Jahren<br />
grenzenlos.<br />
War bei den Griechen Körperbehaarung<br />
bei Frauen und Männern gleichermaßen<br />
unbeliebt, wandelte sich dies in den folgenden<br />
Jahrhunderten, vor allem in der<br />
Männermode. Vollbärte wechselten mit<br />
glattrasierten Gesichtern, Schnurrbärte<br />
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58<br />
Ausstellung
Sonderausstellung im Dorfmuseum Markersdorf<br />
(01.März <strong>2020</strong> bis 01. August 2021)<br />
verschiedene Frisiereisen mit Preisliste, erste Hälfte 20. Jahrhundert. Foto: © Anja Köhler<br />
verdrängten volle Koteletten. Die Nassrasur<br />
wurde traditionell beim Barbier mit<br />
dem Rasiermesser durchgeführt. Dies<br />
änderte sich erst mit der Erfindung des<br />
mechanischen Rasierapparates im Jahre<br />
1901 durch King Camp Gillette. Er wurde<br />
vor allem während des 1. Weltkrieges<br />
von amerikanischen Soldaten verwendet,<br />
um die erstmals in Gebrauch befindlichen<br />
Gasmasken luftdicht am Gesicht abschließen<br />
zu lassen.<br />
Das stille Örtchen<br />
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Ausstellung<br />
59
Reinlichkeit ist eine Zier<br />
Sonderausstellung<br />
Da die Aborte oft außerhalb des Hauses anzutreffen waren, wurde für die Nacht ein Topf unter das Bett<br />
gestellt. Dieser konnte aus Keramik, Metall oder sogar Glas sein. Foto: © Anja Köhler<br />
Donnerbalken, Lokus, Abort, heimliches<br />
Gemach, Abtritt, stilles Örtchen – viele<br />
Namen für einen elementar wichtigen<br />
Bestandteil der täglichen Hygiene: die<br />
Toilette. Der heute verwendete Name<br />
stammt aus dem Französischen und<br />
meinte ursprünglich den gesamten Vorgang<br />
des sich für den Tag Vorbereitens.<br />
Da die Damen des französischen Hofes<br />
für ihre „toilette“ spezielle Ankleidezim-<br />
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60<br />
Ausstellung
Sonderausstellung im Dorfmuseum Markersdorf<br />
(01.März <strong>2020</strong> bis 01. August 2021)<br />
mer besaßen, die auch den Leibstuhl beheimateten,<br />
ging der Begriff schließlich<br />
im 19. Jahrhundert im Deutschen allein<br />
auf das Klosett über. Bereits in Mesopotamien,<br />
Griechenland und Rom gab es<br />
öffentliche Toilettenanlagen, die sogar<br />
über Wasserspülung verfügten. Die Technologie<br />
ging allerdings mit dem Ende des<br />
Römischen Reiches verloren.<br />
Das Mittelalter kannte in Burgen und<br />
Klöstern den sogenannten Aborterker,<br />
der direkt ins Freie führte.<br />
Schlossanlagen des Barock und Rokoko<br />
verfügten eher selten über Toiletten, so<br />
dass oft Korridore, Raumecken, Hauseingänge,<br />
Durchfahrten und Gärten als Abtritt<br />
benutzt wurden.<br />
Bereits 1596 hatte Sir John Harington<br />
das Wasserklosett im Auftrag von Königin<br />
Elizabeth I. erfunden. Er erntete mit<br />
dieser Erfindung allerdings nur Unverständnis<br />
und so dauerte es noch bis 1755<br />
ehe der Schotte Alexander Cummings ein<br />
Patent auf ein Wasserklosett anmeldete.<br />
Toiletten mit Wasserspülung setzten sich<br />
in deutschen Städten erst gegen Ende<br />
des 19. Jahrhunderts durch, als es sowohl<br />
Wasseranschlüsse in den Häusern<br />
als auch eine entsprechende Kanalisation<br />
gab. Auf dem Land waren Plumpsklos bis<br />
weit in das 20. Jahrhundert verbreitet.<br />
Die Sonderausstellung „Reinlichkeit ist<br />
eine Zier“ ist in diesem Jahr besonders<br />
aktuell, spielt Hygiene derzeit doch eine<br />
zentrale Rolle in unser aller Leben. Die<br />
Ausstellung wird ergänzt durch Leihgaben<br />
aus dem Stadtmuseum Neustadt i.<br />
Sa. und dem Heimatmuseum Herrnhut.<br />
Da derzeit alle Museen geschlossen bleiben<br />
müssen, steht die Sonderausstellung<br />
allen Interessierten, die nicht warten wollen,<br />
digital unter www.vr.museum-oberlausitz.de/<br />
auf Deutsch und Polnisch zur<br />
Verfügung.<br />
Dorfmuseum Markersdorf<br />
Kirchstraße 2, 02829 Markersdorf<br />
Tel.: 035829/60329<br />
www.museum-oberlausitz.de<br />
Öffnungszeiten:<br />
Mi – Fr 10.00 – 16.00 Uhr<br />
Sa/ So/ Feiertags 13.00 – 17.00 Uhr<br />
Impressum:<br />
Herausgeber (V.i.S.d.P.):<br />
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Andreas Ch. de Morales Roque<br />
Carl-von-Ossietzky-Straße 45<br />
02826 Görlitz<br />
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Fax: (03581) 40 13 41<br />
info@stadtbild-verlag.de<br />
www.stadtbild-verlag.de<br />
Geschäftszeiten:<br />
Mo. - Fr. von 9.00 bis 17.00 Uhr<br />
Druck:<br />
Graphische Werkstätten Zittau GmbH<br />
Ausstellung<br />
Verantw. Redakteur:<br />
Andreas Ch. de Morales Roque<br />
(Mitglied im Deutschen<br />
Fachjournalistenverband)<br />
Redaktion:<br />
Andreas Ch. de Morales Roque<br />
Dr. Ernst Kretzschmar<br />
Dipl. - Ing. Eberhard Oertel<br />
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Mobil: 0174 - 31 93 525<br />
Teile der Auflage werden auch kostenlos<br />
verteilt, um eine größere Verbreitungsdichte<br />
zu gewährleisten. Für<br />
eingesandte Texte & Fotos übernimmt<br />
der Herausgeber keine Haftung. Artikel,<br />
die namentlich gekennzeichnet<br />
sind, spiegeln nicht die Auffassung<br />
des Herausgebers wider. Anzeigen<br />
und redaktionelle Texte können nur<br />
nach schriftlicher Genehmigung des<br />
Herausgebers verwendet werden.<br />
Anzeigenschluss für die Januar-Ausgabe:<br />
15. <strong>Dezember</strong> <strong>2020</strong><br />
Redaktionsschluss: 20. <strong>Dezember</strong> <strong>2020</strong><br />
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Lockdown light: Außerordentliche Wirtschaftshilfe für Unternehmen<br />
ETL-Steuerberatung<br />
Update: Vom Lockdown betroffene Unternehmen und Selbständige warten dringend auf die versprochene<br />
finanzielle Unterstützung. Deshalb haben die zuständigen Ministerien ein Verfahren der Abschlagszahlung<br />
vereinbart. Laut gemeinsamer Pressemitteilung des Bundesministeriums der Finanzen und des Bundesministeriums<br />
für Wirtschaft und Energie können Soloselbständige eine Abschlagszahlung von bis zu 5.000 Euro<br />
erhalten. Für andere Unternehmen sind Abschlagszahlungen bis 10.000 Euro vorgesehen. Die Antragstellung<br />
wird in der letzten Novemberwoche starten, d. h. voraussichtlich ab 25. November <strong>2020</strong>. Damit sollen die<br />
ersten Auszahlungen noch im November bei den Betroffenen ankommen.<br />
Die Antragstellung für die Abschlagszahlungen wird, ebenso wie die spätere reguläre Auszahlung, über die<br />
Online-Plattform www.ueberbrueckungshilfe-unternehmen.de erfolgen. Um Missbrauch vorzubeugen, sind<br />
Maßnahmen zur Sicherstellung der Identität des Antragstellers getroffen wurden.<br />
Die Bundesregierung spricht von einem besonderen November. Mit der Schließung von allen Freizeit- und<br />
Kultureinrichtungen sowie der Gastronomie und Hotellerie soll die Ausbreitung des Covid-19-Virus abgebremst<br />
werden. Damit stehen viele Unternehmen vor erheblichen wirtschaftlichen Herausforderungen. Folgerichtig<br />
gewährt die Bundesregierung den Unternehmen, Betrieben, Selbständigen, Vereinen und Einrichtungen, die<br />
aufgrund staatlicher Anordnung nicht ihren Geschäften nachgehen können, eine einmalige wirtschaftliche<br />
Unterstützung.<br />
Als außerordentliche Wirtschaftshilfe werden den direkt vom Lockdown betroffenen Unternehmen bis zu<br />
75 % des Novemberumsatzes des letzten Jahres gezahlt. Berechnungsgrundlage für die außerordentliche<br />
Wirtschaftshilfe wird der durchschnittliche wöchentliche Umsatzes des Vergleichsmonats werden. Für Restaurants<br />
wird die Berechnungsgrundlage auf die Umsätze mit dem vollen Steuersatz beschränkt. Im Gegenzug zur<br />
gekürzten Bemessungsgrundlage dürfen Gaststätten zusätzliche Umsätze mit dem Außerhausverkauf tätigen,<br />
ohne dass diese auf die Wirtschaftshilfe angerechnet wird. Bei anderen antragsberechtigten Unternehmen,<br />
die im November Umsatz generieren können, bleiben diese Umsätze ohne Anrechnung, soweit die Umsätze in<br />
Summe mit der Wirtschaftshilfe den Vorjahresumsatz nicht übersteigen. Wie bereits bei der Überbrückungshilfe<br />
I und II sollen vor allem die Fixkosten abgesichert werden, die trotz der temporären Schließung anfallen.<br />
Über das bereits bekannte Antragsportal zur Überbrückungshilfe soll in Kürze auch die Beantragung der außerordentlichen<br />
Wirtschaftshilfe möglich sein. Damit ist die Antragstellung in der Regel nur mit Unterstützung<br />
durch einen Steuerberater oder Rechtsanwalt möglich. Für Soloselbstständige, die bis zu 5.000 Euro Novemberhilfe<br />
beanspruchen können, wird eine Möglichkeit geschaffen, sich selbst auf der Online-Plattform anzumelden<br />
und den Antrag zu stellen. Grundsätzlich können alle Betriebe einen Antrag stellen, die direkt von der<br />
staatlich angeordneten Betriebsschließung betroffen sind. Betriebe, die nur mittelbar vom Lockdown betroffen<br />
sind, weil z. B. ihre Geschäftskunden schließen müssen, dann berechtigt, wenn sie regelmäßig und nachweislich<br />
80 Prozent ihrer Umsätze mit Geschäftspartnern erwirtschaften, die direkt vom Lockdown betroffen sind.<br />
Im Unterschied zur Überbrückungshilfe sind jedoch auch Unternehmen und Selbständige antragsberechtigt,<br />
die nach dem 1. November 2019 gegründet wurden oder ihre geschäftliche Tätigkeit aufgenommen haben.<br />
Hier gilt der Oktober <strong>2020</strong> als Grundlage für die außerordentliche Wirtschaftshilfe. Soloselbstständige dürfen<br />
den monatlichen Umsatzdurchschnitt des Jahres 2019 wählen, wenn sie im November 2019 keine, oder nur<br />
geringe Umsätze erzielt haben.<br />
Da auch bei der außerordentlichen Wirtschaftshilfe eine Doppelförderung oder Überkompensation ausgeschlossen<br />
werden soll, werden andere staatliche Unterstützungshilfen, die für den gleichen Zeitraum geleistet<br />
werden, angerechnet. In erster Linie sind hier das Kurzarbeitergeld für die Belegschaft, aber auch die Überbrückungshilfe<br />
II zu nennen. Inwieweit die Wirtschaftshilfe auch für außerbetriebliche Aufwendungen des<br />
Unternehmers genutzt werden kann, bleibt ebenso abzuwarten, wie der Zeitpunkt der Zahlung. Da zunächst<br />
die technischen Voraussetzungen für die Beantragung geschaffen werden müssen und auch Beantragung und<br />
Bewilligung selbst einige Zeit in Anspruch nehmen werden, ist mit einer Auszahlung der Wirtschaftshilfe voraussichtlich<br />
nicht vor Mitte <strong>Dezember</strong> <strong>2020</strong> zu rechnen. Es ist allen betroffenen Unternehmen zu wünschen,<br />
dass es schneller geht oder die Bundesregierung die Möglichkeit von Abschlagszahlungen ermöglicht.<br />
62<br />
Autor: Ulf Hannemann, Freund & Partner GmbH (Stand: 12.11.<strong>2020</strong>)<br />
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