Das Tanzen bleibt - Unterwegs mit den Ballets Jooss. Das Album der Tänzerin Bé 1924-1956
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Was die vierte Tournee außerdem von <strong>den</strong> vorhergegangenen unterscheidet,<br />
ist die ungeschriebene Regel, untereinan<strong>der</strong> nur noch Englisch<br />
zu sprechen, selbst unter <strong>den</strong> deutschen o<strong>der</strong> schwedischen<br />
<strong>Tänzerin</strong>nen und Tänzern. Viele in <strong>der</strong> Truppe sprechen ein flüssiges<br />
und »ausdrucksstarkes« Englisch, wenn auch kein beson<strong>der</strong>s<br />
gutes, Cohen spricht <strong>mit</strong> seiner Frau ausschließlich Englisch: »Unter<br />
uns – selbst zwischen Elsa und mir – ist Englisch nun zur einzigen<br />
Sprache gewor<strong>den</strong>, beruflich und privat.« 31 Zusätzlich legt Rolf Alexan<strong>der</strong><br />
Schulte, geboren 1919 in Hattingen an <strong>der</strong> Ruhr bei Essen, seinen<br />
deutschen Namen ab – es scheint wichtig, dass die Truppe in <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />
als britisch wahrgenommen wird, sie baut auf die Unterstützung<br />
<strong>der</strong> britischen Konsulate.<br />
Von Kuba bis Kanada<br />
Nach <strong>den</strong> von Stürmen und Stress geprägten 1000 Kilometern zwischen<br />
Baltimore und Atlanta, auf <strong>den</strong>en einige Mitglie<strong>der</strong> wegen<br />
Krankheit ausfallen, besteigt die Truppe am 1. Februar 1940 ein Schiff<br />
nach Kuba. Dort wird sie von <strong>der</strong> Musikgesellschaft Pro-Arte Musical<br />
im Viertel El Vedado erwartet, drei Meilen von Havannas Zentrum<br />
entfernt. Pro-Arte Musical ist zu dieser Zeit die bedeutendste künstlerische<br />
Organisation Kubas. Sie wird 1918 von <strong>der</strong> Mäzenin María<br />
Teresa García Montes de Giberga und ihren Freun<strong>den</strong> in ihrem Haus<br />
in El Vedado gegründet – <strong>mit</strong> dem Ziel, einen Kreis von Interessenten<br />
zu schaffen, die in einem Abonnementsystem Sitzplätze kaufen<br />
und da<strong>mit</strong> <strong>den</strong> finanziellen Erfolg von Produktionen sichern und <strong>den</strong><br />
auftreten<strong>den</strong> Künstlern die Blamage eines leeren Theaters ersparen.<br />
Auch will sie durch niedrige Preise für Konzerte, Mitgliedschaft und<br />
Unterrichtsklassen (Theater, Ballett und Gitarre) Kunst <strong>den</strong> ärmeren<br />
Schichten zugänglich machen.<br />
Pro-Arte wird ausschließlich von Frauen geleitet, die in <strong>der</strong> Erziehung<br />
in Kuba in <strong>der</strong> ersten Hälfte des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts allgemein eine<br />
dominierende Rolle innehaben. <strong>Das</strong> erklärt das energische Eingreifen<br />
<strong>der</strong> Pro-Arte Frauen in <strong>den</strong> Tribünen: Nachdem <strong>der</strong> polnische Pianist<br />
Ignacy Pa<strong>der</strong>ewski bei einem Auftritt von einem Papierflugzeug getroffen<br />
wird, stellen sich die Pro-Arte Frauen die Aufgabe, das Publikum zu<br />
erziehen. Während <strong>der</strong> Vorstellungen patrouillieren sie die Ränge und<br />
scheuen sich nicht, Prominente aus Politik und Wirtschaft in die Schranken<br />
zu weisen. Schwatzen und störendes Verhalten wer<strong>den</strong> streng geahndet.<br />
Auch müssen Spätkommer bis zur Pause warten, bevor sie zu<br />
ihren Sitzplätzen gehen dürfen. <strong>Das</strong> beeindruckt Cohen. In Peru wird<br />
auch er versuchen, das Publikum zu Pünktlichkeit zu »erziehen«.<br />
Der Stadtteil El Vedado, wo Pro-Arte ihren Sitz hat, besteht aus Villen.<br />
Die besten Architekten haben dort stolze Bauten im Jugendstil des<br />
frühen 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts errichtet, <strong>mit</strong> zwei Etagen, kleinen Türmchen<br />
und Gärten <strong>mit</strong> Skulpturen aus Marmor ringsherum. Dort liegt auch<br />
das Teatro Auditorium, damals wegen seiner Akustik, Ausstattung<br />
und Lage eines <strong>der</strong> besten Theaterhäuser <strong>der</strong> Stadt. Der dreistöckige<br />
Prunkbau, <strong>der</strong> für seine Fassade <strong>den</strong> ersten Preis des Rotary Club de<br />
La Habana bekommt, wird 1928 auf Wunsch von Pro-Arte gebaut und<br />
zählt insgesamt 2700 Sitzplätze. In diesem Theater erringt die »prima<br />
ballerina assoluta« Alicia Alonso am 29. Dezember 1931 <strong>mit</strong> dem Walzer<br />
in Dornröschen große Bekanntheit. Zuvor hatte sie an <strong>den</strong> Ballett-<br />
Klassen von Pro-Arte teilgenommen.<br />
Nach <strong>der</strong> Kubanischen Revolution (1953–1959) wird es 1961 vom<br />
kommunistischen Staat in Beschlag genommen und zu Ehren des<br />
kubanischen Komponisten in Teatro Amadeo Roldán umbenannt.<br />
Gleichzeitig emigrieren viele Mitglie<strong>der</strong> von Pro-Arte, die Gruppe<br />
muss ihr öffentliches Wirken fortan stark einschränken.<br />
Die <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> stehen <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Leiterin von Pro-Arte, Laura Rayneri<br />
de Alonso, in Kontakt. Doch bevor ein Auftritt im Teatro Auditorium<br />
arrangiert wer<strong>den</strong> kann, müssen einige Probleme gelöst wer<strong>den</strong>.<br />
Die New Yorker Konzertorganisation Columbia Concerts, die die<br />
<strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> engagiert haben, hat sich nicht um die Visa nach Kuba<br />
gekümmert. Deshalb schickt Cohen, als die Truppe noch in Atlanta<br />
gastiert, David Grey <strong>mit</strong> allen Pässen voraus zum kubanischen Konsulat<br />
im 1100 Kilometer entfernten Miami, auch weil dieser fließend<br />
Spanisch spricht. Grey gelingt es, die Visa zu bekommen, und erwartet<br />
die Truppe am Bahnhof, von wo aus sie <strong>mit</strong> dem Bus zum Hafen<br />
fahren. Doch dort ergeben sich weitere Probleme, bevor die <strong>Ballets</strong><br />
<strong>Jooss</strong> überhaupt die Überfahrt von Miami nach Kuba antreten können:<br />
Die Truppe sitzt im Hafen von Miami fest und hält <strong>den</strong> gesamten<br />
Betrieb ihres Schiffes auf. Der amerikanische Zoll ist von ihrem<br />
Erscheinen überrascht, Columbia Concerts hat es versäumt, die Reisen<strong>den</strong><br />
dort anzukündigen. Zudem hat <strong>der</strong> unerfahrene Vertreter von<br />
Columbia Concerts, <strong>der</strong> <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Truppe reist, nicht alle Dokumente<br />
bei sich. <strong>Das</strong> macht die Steuerbehör<strong>den</strong> misstrauisch. Cohen bietet<br />
all seine Überredungskunst auf und tritt <strong>mit</strong> Cossa hinter das Pult des<br />
Steuerbeamten, um <strong>mit</strong> diesem die Formulare auszufüllen. Zum großen<br />
Ärger <strong>der</strong> Truppe müssen alle 25 Mitglie<strong>der</strong> 10 % ihrer bis dato<br />
in <strong>den</strong> USA verdienten Gagen zahlen, um nach Kuba übersetzen zu<br />
dürfen – und das, obwohl sie schon direkt am nächsten Tag wie<strong>der</strong> in<br />
die USA zurückkehren wollen. Insgesamt belaufen sich die Kosten auf<br />
400 US-Dollar. Schließlich schaffen es die <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> aber auf das<br />
Schiff nach Kuba, das um 23 Uhr in See stechen darf.<br />
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