101 Monologe
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Herausgegeben<br />
von Eva Spambalg<br />
und Uwe Berend<br />
<strong>101</strong><br />
MONOLOGE<br />
Zum Vorsprechen, Studieren<br />
und Kennenlernen<br />
HHENSCHEL<br />
E N S C H E L
<strong>101</strong> <strong>Monologe</strong><br />
Zum Vorsprechen, Studieren und<br />
Kennenlernen<br />
Herausgegeben von<br />
Eva Spambalg und Uwe Berend<br />
HENSCHEL
5<br />
Inhalt<br />
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9<br />
<strong>Monologe</strong><br />
Aischylos<br />
Die Perser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17<br />
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© 2010, 2018 by Henschel Verlag<br />
© 2021, 2022 by Henschel Verlag<br />
in der E. A. Seemann Henschel GmbH & Co. KG, Leipzig<br />
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Lektorat: Christiane Landgrebe<br />
Umschlaggestaltung: Ingo Scheffer, Berlin<br />
Titelbild: © Iko Freese / DRAMA<br />
Satz und Gestaltung: Grafikstudio Scheffer, Berlin<br />
Printed in the EU<br />
www.henschel-verlag.de<br />
Sophokles<br />
Antigone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20<br />
Elektra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24<br />
Euripides<br />
Medea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27<br />
Iphigenie in Aulis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30<br />
Elektra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32<br />
Die Bakchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35<br />
Lope de Vega<br />
Die kluge Närrin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39<br />
William Shakespeare<br />
Hamlet, Prinz von Dänemark . . . . . . . . . . . 42<br />
König Lear . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47<br />
Romeo und Julia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49<br />
Was ihr wollt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56<br />
Der Sturm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61<br />
Der Kaufmann von Venedig . . . . . . . . . . . . 62<br />
Wie es euch gefällt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64<br />
Das Wintermärchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67<br />
Die beiden Veroneser . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69<br />
Macbeth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
6 Inhalt<br />
Inhalt<br />
7<br />
Timon von Athen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76<br />
König Richard II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78<br />
Tirso de Molina<br />
Don Juan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81<br />
Don Gil von den grünen Hosen . . . . . . . . . 85<br />
Molière<br />
Der Menschenfeind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87<br />
Tartuffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90<br />
Pierre Carlet de Chamblain de Marivaux<br />
Unbeständigkeit auf beiden Seiten . . . . . . . 93<br />
Carlo Goldoni<br />
Mirandolina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95<br />
Carlo Gozzi<br />
Turandot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97<br />
Gotthold Ephraim Lessing<br />
Emilia Galotti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103<br />
Miss Sara Sampson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105<br />
Nathan der Weise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110<br />
Johann Wolfgang von Goethe<br />
Faust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113<br />
Egmont . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118<br />
Iphigenie auf Tauris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121<br />
Stella . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126<br />
Jakob Michael Reinhold Lenz<br />
Die Buhlschwester . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130<br />
Friedrich Schiller<br />
Die Räuber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133<br />
Kabale und Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141<br />
Die Jungfrau von Orleans . . . . . . . . . . . . . . 145<br />
Maria Stuart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149<br />
Don Carlos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155<br />
Die Verschwörung des Fiesco zu Genua . . . . 164<br />
Heinrich von Kleist<br />
Der zerbrochne Krug . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166<br />
Die Familie Schroffenstein . . . . . . . . . . . . . . 175<br />
Amphitryon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177<br />
Penthesilea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180<br />
Das Käthchen von Heilbronn . . . . . . . . . . . 184<br />
Christian Dietrich Grabbe<br />
Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung 187<br />
Johann Nestroy<br />
Der Talisman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189<br />
Frühere Verhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193<br />
Nikolai Gogol<br />
Die Heirat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195<br />
Georg Büchner<br />
Dantons Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197<br />
Woyzeck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206<br />
Leonce und Lena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208<br />
Friedrich Hebbel<br />
Maria Magdalena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211<br />
Gyges und sein Ring . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214<br />
Iwan Turgenjew<br />
Ein Monat auf dem Lande . . . . . . . . . . . . . . 218<br />
Henrik Ibsen<br />
Nora oder ein Puppenheim . . . . . . . . . . . . . 220
8 Inhalt<br />
9<br />
August Strindberg<br />
Der Pelikan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224<br />
Fräulein Julie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227<br />
Oscar Wilde<br />
Salome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230<br />
Anton Tschechow<br />
Drei Schwestern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233<br />
Platonov . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235<br />
Die Möwe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238<br />
<strong>101</strong> <strong>Monologe</strong><br />
Arthur Schnitzler<br />
Fräulein Else . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241<br />
Gerhart Hauptmann<br />
Fuhrmann Henschel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245<br />
Frank Wedekind<br />
Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247<br />
Frühlings Erwachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250<br />
Der Monolog ist (heutzutage) von unseren Realisten<br />
als unwahrscheinlich verbannt worden.<br />
Aber wenn ich ihn motiviere, wird er glaubhaft,<br />
und ich kann ihn daher mit Vorteil benutzen.<br />
August Strindberg 1<br />
Hugo von Hofmannsthal<br />
Elektra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259<br />
Anhang<br />
Frauenrollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261<br />
Männerrollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265<br />
Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270<br />
1 Vorwort zu Fräulein<br />
Julie (1888).<br />
Zit. nach: Manfred<br />
Pfister, Das<br />
Drama. Fink,<br />
München 1982,<br />
S. 187.
10 Vorwort<br />
Vorwort<br />
11<br />
1 Das Wort »Figur«<br />
vermeiden wir<br />
bewusst, da es den<br />
Eindruck von etwas<br />
Vorgefertigtem,<br />
Festumrissenem<br />
erwecken und - so<br />
verstanden - die<br />
Suche nach Entwikklungen<br />
durch allzu<br />
frühe Entscheidungen<br />
des Spielers für<br />
Wirkungen verstellen<br />
könnte.<br />
Vorwort<br />
Dieses Buch ist als Handbuch für den praktischen Bedarf<br />
gedacht – für alle, die den Monolog »mit Vorteil benutzen<br />
wollen«: junge Menschen, die sich um einen Ausbildungsplatz<br />
an einer der staatlichen oder privaten Schulen bzw.<br />
Universitäten bewerben wollen; bereits in der Ausbildung<br />
befindliche oder schon ausgebildete Schauspieler, die nach<br />
Rollenmaterial zum Arbeiten, fürs Studium oder Vorsprechen<br />
suchen; Interessenten, die sich mit dem Spielen von<br />
Theatertexten beschäftigen möchten, und für alle Neugierigen,<br />
die Lust haben, Stücke über die monologischen Äußerungen<br />
ihrer Protagonisten kennen zu lernen.<br />
Es ist eine Materialsammlung, die zum Selberlesen anregen<br />
soll – das Lesen und Nachschlagen können wir niemandem<br />
ersparen. Vielmehr wollen wir Neugier wecken<br />
auf Stücke, Hilfestellung leisten beim Auswählen einer<br />
Rolle zum Studieren, zu Vergleichen ermuntern (so gibt es<br />
zum Beispiel ganz unterschiedliche »Elektras« von unterschiedlichen<br />
Autoren aus unterschiedlichen Epochen zu<br />
lesen), Phantasie in Bewegung setzen und beitragen zum<br />
Verstehen eines Textes, vielleicht sogar Ideen zur Realisierung<br />
initialisieren und – ohne den jeweiligen Interpretationsmöglichkeiten<br />
vorgreifen zu wollen – Verständnis für<br />
die emotionalen Situationen der handelnden Personen wekken.<br />
Die einleitenden Texte, die eine erste Orientierung über<br />
die jeweilige Situation der handelnden Personen ermöglichen<br />
sollen, sind deshalb nicht unter einem analytisch–kritischen<br />
Aspekt geschrieben. Eher entsprechen sie unserem<br />
Versuch, sich dieser Situation unter dem Blickwinkel der<br />
handelnden Person 1 zu nähern. Es ist uns klar, dass ein solches<br />
Unterfangen mehrere gefährliche Ecken hat; zum einen<br />
ist dieser Vorgang immer subjektiv geprägt (wir wissen,<br />
wovon wir reden – wir sind zu zweit an der Arbeit!); zum<br />
andern geraten wir bei der Darstellung leicht in die Gefahr<br />
einer latenten Naivität im Ton, wenn wir es unternehmen,<br />
die Vorgänge, die zur szenischen Situation des Monologbeginns<br />
führen, unter dem Blickwinkel der Person zu<br />
beschreiben. Beispiel: die handelnde Person oder Rolle<br />
befindet sich ja oft dem Zuschauer gegenüber im Nachteil,<br />
da ihr im Zuge der Handlung der Autor situative Informationen<br />
vorenthält, die der Zuschauer (oder Leser) längst<br />
erhalten hat. Das Wissen der Zuschauer entspricht somit<br />
häufig nicht dem Wissen der handelnden Person – wir, die<br />
Betrachter, sind also schlauer als »die Rolle« (wie übrigens<br />
der Spieler auch!). Wir bewegen uns mit unseren Einleitungen<br />
auf einer ständigen Gratwanderung zwischen Anteilnahme<br />
am Zustand der handelnden Person und Versachlichung<br />
bei der Darstellung der Vorgänge – naturgemäß gerät<br />
man dabei einmal mehr auf die eine, mal mehr auf die andere<br />
Seite.<br />
Wie weit man sich einer Rollenperspektive überhaupt<br />
annähern kann, ist von Text zu Text verschieden – nicht<br />
zuletzt aufgrund sehr unterschiedlicher Autorenabsichten<br />
in verschiedenen Epochen und aufgrund unseres unterschiedlichen<br />
Nahverhältnisses zu gedanklichen und sozialen<br />
Orten – ein Bote in der griechischen Tragödie erscheint<br />
uns zunächst weiter entfernt als etwa Schillers Ferdinand –<br />
bei längerer Betrachtung kann das Ergebnis genau umgekehrt<br />
sein. Hier wird ganz deutlich, was wir oben gemeint<br />
haben: das Nachlesen im Stück selber, das Nachschlagen in<br />
geeigneter Sekundärliteratur (beides gehört zur spielerischen<br />
Auseinandersetzung mit Texten) sowie die kritische<br />
Bewertung von einem heutigen Standpunkt aus können und<br />
wollen wir mit diesem Buch nicht ersetzen.<br />
Die vorliegende Materialsammlung umfasst eine Auswahl<br />
von Texten von der griechischen Antike bis zum Anfang des<br />
zwanzigsten Jahrhunderts. Aus Platzgründen mussten wir<br />
uns beschränken und konnten viele sehr reizvolle Rollen<br />
nur im Anhang unterbringen. Wo es notwendig war, wurden<br />
die abgedruckten Texte für die Rollenarbeit eingerichtet.<br />
Die Sammlung enthält nicht nur »reine« <strong>Monologe</strong>,
12 Vorwort<br />
Vorwort<br />
13<br />
1 Zit.n. Peter von<br />
Matt, Der Mono -<br />
log, Beiträge zur<br />
Poetik des Dramas.<br />
Darmstadt, Wissenschaftliche<br />
Buch -<br />
gesellschaft, 1976,<br />
S. 72.<br />
also Texte, in denen die handelnde Person tatsächlich allein<br />
ist und sich mit sich selbst (Hamlet) oder einem imaginärem<br />
Gegenüber (Elektra von Hofmannsthal) auseinandersetzt,<br />
sondern auch »szenische« <strong>Monologe</strong>, also jene, in denen<br />
die handelnde Person mit einem tatsächlichen Gegenüber<br />
spricht, dessen Anwesenheit der Spieler mitzudenken hat<br />
(Nora, Fräulein Julie etc.). Wir haben uns zu dieser Erweiterung<br />
entschlossen, da sonst einige Autoren, und damit<br />
auch wesentliche Spielweisen, hier nicht vertreten wären,<br />
und auch deshalb, weil diese Texte als Vorsprechrollen<br />
attraktiv und voller Spannung sind.<br />
Ob es sinnvoll und in der Ausbildung hilfreich ist, eine<br />
Szene zu erarbeiten, bei der es notwendig wird, sich an<br />
einen gedachten Partner zu wenden, ist eine immer wieder<br />
diskutierte Streitfrage; erhöhte schauspielerische Anforderungen<br />
stellen sich bei diesem Arbeitsvorgang allemal, denn<br />
die »Herstellung« eines solchen Gegenübers bedeutet während<br />
des Spielens noch einmal eine zusätzliche Form von<br />
schauspielerischer Konzentration, die nicht unbedingt<br />
etwas mit dem Inhalt der Szene oder dem Charakter der<br />
handelnden Person zu tun haben muss. Das »Wie« wird an<br />
dieser Stelle entscheidend dazu beitragen, ob eine solche<br />
Szene zur erfolgreichen Wirkung gelangen kann (siehe Versuch<br />
einer Typologie weiter unten).<br />
Auch ohne die oben beschriebene »Projektionsaufgabe«<br />
eines imaginären Partners stellt die Monologsituation – ein<br />
Mensch allein auf der Bühne – eine gehörige Anforderung<br />
an den Spieler, und damit sind wir bei der Frage der Annäherung<br />
an einen Text. Gottsched hat in seinem »Versuch<br />
einer critischen Dichtkunst« das grundsätzliche Problem<br />
des Monologs sehr treffend aufgedeckt: »Kluge Leute pflegen<br />
nicht laut zu reden, wenn sie allein sind; es wäre denn<br />
in besonderen Affekten, und das zwar mit wenig Worten ...<br />
Man hüte sich also davor, so viel man kann; welches auch<br />
mehrenteils angeht, wenn man dem Redenden nur sonst<br />
jemand zugiebt, der als ein Vertrauter, oder Bedienter, das,<br />
was er sagt, ohne Gefahr wissen und hören darf.« 1<br />
Ohne diese nicht gerade ermutigende Äußerung weiter zu<br />
erörtern, kann man doch aus ihr herauslesen, was für jede<br />
Arbeit am Monolog wesentlich ist – nämlich, zu entde cken,<br />
1 Peter v. Matt<br />
beschreibt dies als<br />
das Wesentliche<br />
jeder Monologsituation:<br />
»Hier und<br />
jetzt tritt dem Helden<br />
seine Gesellschaft<br />
als Totum<br />
gegenüber, mit<br />
einem antwortenden<br />
Gesicht«,<br />
ebenda S. 80.<br />
2 Wolfgang Clemen<br />
hat in seinem Buch<br />
über die <strong>Monologe</strong><br />
Shakespeares auf<br />
die dialogische<br />
Struktur von<br />
<strong>Monologe</strong>n hingewiesen:<br />
»Schon in<br />
der Tragödie vor<br />
Shakespeare, aber<br />
auch bereits in der<br />
antiken Tragödie,<br />
bei Seneca und in<br />
den mittelalterlichen<br />
»Mystery-<br />
Plays« war klargeworden,<br />
dass der<br />
Monolog zu seiner<br />
Verlebendigung des<br />
imaginären Partners<br />
bedarf. Es hatten<br />
sich sehr verschiedene<br />
Formen<br />
der Anrede, der<br />
Apostrophe und<br />
gelegentlich auch<br />
der fiktiven Dialogbeziehung<br />
im<br />
Monolog entwikkelt.<br />
[...] Zu den<br />
Anreden an das<br />
eigene Ich, das eigene<br />
Herz, kommen<br />
Anrufe an himmlische<br />
und irdische<br />
Gewalten, an abwesende<br />
und manchmal<br />
auch an anwesende<br />
Personen (die<br />
außer Hörweite<br />
sind) hinzu, an Personifikationen,<br />
an<br />
die Sonne, den<br />
Mond und die Sterne,<br />
an wirkliche<br />
oder imaginäre<br />
Gegenstände.«,<br />
Wolfgang Clemen,<br />
Shakespeares<br />
<strong>Monologe</strong>. Piper,<br />
München 1985,<br />
S. 186 f.<br />
warum es für die handelnde Person in diesem Moment<br />
unbedingt notwendig wird, zu reden, und an welches<br />
Gegenüber sich der Monolog richtet. Wobei mit Gegenüber<br />
auch ein Gedanke, ein Gegenstand oder eine ganze Gesellschaft<br />
von Menschen gemeint sein kann 1 .<br />
Vor dem Spielen stellen sich zunächst Fragen. Es muss<br />
verstanden und letztlich entschieden werden: Was geht im<br />
Text vor? Was will der Text? Was will demnach die handelnde<br />
Person, die ihn ja aus bestimmten Gründen äußert?<br />
Welcher Art ist überhaupt der vorliegende Monolog? Das<br />
heißt, welche Beziehungen werden im Text hergestellt?<br />
Auf diese Fragen gibt es völlig unterschiedliche Antworten,<br />
denn jeder Text bietet naturgemäß mehrere Lesarten<br />
an, die zu ganz verschiedenen Interpretationen führen können.<br />
Es gibt ja nicht »die« alleingültige Interpretation; wohl<br />
aber exemplarische Aufführungen.<br />
Wenn es also eine Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten<br />
gibt und der Monolog durch den Lesenden und Spielenden<br />
jeweils erst neu entsteht, so verlangt das vom Spieler,<br />
der den ausgewählten Text auf der Bühne umsetzen will,<br />
immer wieder Entscheidungen zu treffen: Zunächst muss er<br />
versuchen, den Text zu verstehen, und er muss sich entscheiden,<br />
wie er ihn spielen will. Um sich aber zu entscheiden,<br />
muss er nicht nur erforschen, was im Text steht und<br />
was der Text womöglich meint, sondern er hat außerdem<br />
herauszufinden, um was für eine Art von Monolog es sich<br />
überhaupt handelt. Letztlich ist die zentrale Fragestellung<br />
fürs Spielen: an wen wendet sich die handelnde Person, wer<br />
ist das »Gegenüber«?<br />
Schließlich ist jeder Monolog in Wahrheit ein Dialog 2 ,<br />
daraus erst ergibt sich die spezifische Spannung, die notwendig<br />
ist, um zu einem theatralischen Vorgang zu kommen.<br />
Diesen Grundgedanken finden wir schon in der attischen<br />
Tragödie, mit der unser abendländisches Theater den<br />
Anfang nimmt, wenn sich darin die einzelne Person dem<br />
Chorus gegenübergestellt findet.<br />
Ausgehend von dieser grundsätzlichen Frage nach dem<br />
Gegenüber wollen wir im Folgenden versuchen, ohne<br />
Anspruch auf Vollständigkeit und ganz im Hinblick auf die
14 Vorwort<br />
Vorwort<br />
15<br />
1 Unsere Einteilung<br />
geht dabei völlig<br />
von den Erfordernissen<br />
des Spielens<br />
aus, die literarische<br />
Textanalyse bedient<br />
sich anderer, funktionaler,<br />
Klassifikationen.<br />
Vgl. Volker<br />
Klotz, Geschlossenen<br />
und offene<br />
Form im Drama.<br />
München 1972,<br />
S.182 oder Manfred<br />
Pfister, Das<br />
Drama. Fink,<br />
München 1982,<br />
S. 184 ff.<br />
Anwendbarkeit für die praktische Arbeit, einen kurzen<br />
Überblick über die verschiedenen Formen monologischer<br />
Situationen zu geben. 1 Dabei ist festzuhalten, dass sich<br />
diese Monologtypen auch überlappen können, dass also für<br />
einen Monolog mehrere der unten beschriebenen Formen<br />
Gültigkeit haben und daher auch mehrere Spielmöglichkeiten<br />
und Techniken anwendbar sein können:<br />
– Monolog direkt an das Publikum: die handelnde Person<br />
wendet sich unmittelbar (also ohne aus der Rolle herauszutreten)<br />
an das Publikum, spricht unter Umständen einzelne<br />
Personen im »Parterre« an; Nestroy könnte hierfür<br />
als Beispiel gelten. Dazu gehört auch die Technik des Beiseitesprechens,<br />
des »à part«, das während einer Szene<br />
direkt ans Publikum adressiert wird.<br />
Hier gibt es auch die Möglichkeit, dass der Darsteller die<br />
Ebene der Rolle verlässt und sich zum Beispiel kommentierend<br />
an das Publikum wendet.<br />
Auch die »Verwandlung« des Publikums in einen oder<br />
mehrere Partner, die zur szenischen Situation gehören,<br />
wäre eine Variante (zum Beispiel könnte man für Ruprecht<br />
aus dem »Zerbrochenen Krug« den Dorfrichter<br />
Adam ins Publikum setzen).<br />
– Monolog indirekt mit dem Publikum: die handelnde Person<br />
wendet sich an das Publikum, ohne es persönlich<br />
anzublicken oder anzusprechen, nimmt es gewissermaßen<br />
in ihre Gedanklichkeit hinein (»Hamlet« in der<br />
Inszenierung von Peter Brook hatte unvergessliche<br />
Momente in dieser Richtung).<br />
– Gedankenmonolog: der/die Handelnde setzt sich mit<br />
bestimmten Gedanken, mit »sich selbst« als Gegenüber<br />
auseinander; oft eine spannungsgeladene Pause der<br />
Reflexion von zurückliegenden Ereignissen in Hinblick<br />
auf kommende Entscheidungen (Hamlets Monolog nach<br />
dem Auftritt der Schauspieler könnte hierfür ein Beispiel<br />
sein);<br />
– Zustandsmonolog: eigentlich ein »Gedankenmonolog«,<br />
jedoch ohne den Schritt zur Entscheidung fürs Kommende;<br />
beschreibt eine bestimmte Station, nachdem etwas<br />
Bedeutendes geschehen ist (zum Beispiel Wendla in<br />
1 »Veranschaulichung<br />
bedeutet<br />
gleichzeitig ›Vergegenwärtigung‹.<br />
Die <strong>Monologe</strong> vollziehen<br />
sich – auch<br />
dort, wo sie Rück -<br />
blick und Vorausschau<br />
einbeziehen –<br />
in einem ›Hier und<br />
Jetzt‹«, siehe<br />
Clemen, S. 186.<br />
2 Zit. n. Matt, S. 75.<br />
»Frühlings Erwachen«; sie fühlt sich völlig verändert,<br />
kann aber nicht begreifen, was mit ihr geschehen ist).<br />
– Monolog als Gespräch mit einem ersehnten Gegenüber,<br />
das nicht anwesend ist; (zum Beispiel Elektras Anrufung<br />
des Geistes ihres Vaters Agamemnon).<br />
– Monolog als mahnendes Ritual und als Provokation für<br />
die Mitwelt.<br />
– Bericht an ein tatsächliches Gegenüber: Botenbericht<br />
(zum Beispiel an Kreon); das Gegenüber ist anwesend,<br />
seine Reaktionen müssen beachtet werden.<br />
– Szenischer Monolog: Gesprächsmonolog des »Führenden«<br />
in einer Szene mit einem Partner, der ursprünglich<br />
tatsächlich anwesend ist, und dessen Text jetzt ausgelassen<br />
wird. Dabei reagiert die »führende« Person zwar auf<br />
die Einwürfe des Gegenübers, die ihre Haltungen beeinflussen<br />
oder verändern, ist jedoch unbeirrbar entschieden,<br />
zu einem bestimmten Ziel zu gelangen (siehe<br />
»Nora« von Ibsen).<br />
Eine genaue Überlegung, was für eine Art Person dieses<br />
gedachte Gegenüber sein mag, ist ebenso unerlässlich,<br />
wie die Beschaffenheit der Reaktionen, die von ihr erwartet<br />
werden müssen, will man zu den notwendigen Handlungen<br />
kommen, die zur Umsetzung des Textes führen<br />
können.<br />
Für einen solchen Monolog kann es auch besondere<br />
Lösungen geben, vorstellbar wäre zum Beispiel, dass<br />
Nora ein Gespräch einübt, das aber noch nicht wirklich<br />
stattfindet.<br />
Dieser Versuch einer Typologisierung mag einen ersten<br />
Anhalt geben, wie man an einen spezifischen Text herangehen<br />
kann. Die Gedanken, Orte, Vorstellungen, die ganze<br />
Themenwelt eines Monologs werden um so anschaulicher,<br />
je deutlicher und konkreter der Spieler sie sich gegenüberstellt<br />
1 . Dass der Schauspieler, der einen Monolog spielt, selber<br />
in ganz besonderer Weise ein Gegenüber wird – für seine<br />
Zuschauer, für seine Mitwelt – macht viel von der Faszination<br />
dieser theatralischen Form aus.<br />
»Gelungene <strong>Monologe</strong> sind allerdings Lieblinge des<br />
Publikums geworden«, schrieb Gustav Freytag 2 und mein-
Vorwort<br />
te das eigentlich als Vorwurf – wir meinen das als Ermutigung<br />
und wünschen allen, die sich mit diesen Texten befassen<br />
wollen, Neugier, Freude und Erfolg.<br />
Eva Spambalg und Uwe Berend<br />
Aischylos · Die Perser<br />
Aischylos (etwa 525 – 456 v. Chr.)<br />
Die Perser<br />
Tragödie<br />
Erste Aufführung: 472 v. Chr., Athen<br />
1 Rolle: Ein Bote, ein persischer Krieger<br />
Szene: Vers 246–427<br />
Ort: In einem Hof des Königspalasts in der persischen Hauptstadt Susa<br />
480 v. Chr.<br />
17<br />
Zur Situation: Der persische König Xerxes ist mit einem ungeheuren Aufgebot an Soldaten in die<br />
Schlacht gegen die Griechen gezogen, um die vorausgegangene Niederlage der Perser bei Marathon<br />
zu rächen. Der persische Staatsrat, ein Chor von Greisen, und Atossa, die alte Mutter des<br />
Königs, haben sich im Hof versammelt und warten in Angst und wachsender Sorge auf die Rück -<br />
kehr der Krieger. »Die Eltern, die Frau’n, Tag zählend um Tag, sehn bang, wie die Heimkehr sich<br />
hinzieht.«<br />
Endlich kommt der Bote, ein Soldat, der die verheerende Schlacht bei Salamis überlebt hat.<br />
Das persische Heer ist vollständig aufgerieben worden; dem Boten ist es als einem der wenigen<br />
gelungen, sich bis nach Susa durchzuschlagen. Er hat die Strapazen einer langen Flucht durch<br />
das Gebirge überstanden, viele andere sind vor Hunger und Durst umgekommen oder bei der<br />
Überquerung eines Flusses ertrunken. Nun muss er den Wartenden von der völligen Niederlage<br />
der Perser berichten.<br />
Anzumerken ist noch, dass in jenen Zeiten die Überbringer schlechter Nachrichten oft ihr<br />
Leben lassen mussten.<br />
BOTE. Weh euch, ihr Städte all des weiten Asiens,<br />
Weh, Perserland, weh dir, der Schätze reichem Port!<br />
Wie ist mit einem Schlage jetzt das große Glück<br />
Vernichtet, wie der Perser Blüte hingewelkt!<br />
Ach, traurig ist’s, der Trauer erster Bot’ zu sein!<br />
Und dennoch muss ich künden euch jetzt alles Leid:<br />
Vernichtet ist, ihr Perser, euer ganzes Heer!<br />
[...] Ja, weint, denn alles ist verloren dort, ist tot!<br />
Ich selbst auch hoffte nicht, der Heimkehr Tag zu schaun.<br />
[...]<br />
Anstifter allen Leides war ein Rachegeist,<br />
Ein böser Dämon, Herrin, der von irgendwo<br />
Erschien. Ein Grieche nämlich aus dem Heer Athens<br />
Kam eines Tags zu deinem Sohn und meldete:<br />
»Die Griechen werden, wenn die Finsternis der Nacht<br />
Hereinbricht, länger nicht mehr bleiben, sondern, schnell<br />
An Bord der Schiffe springend, in geheimer Flucht,<br />
Die einen hierhin und die andern dorthin, flugs
18 Aischylos · Die Perser<br />
In Sicherheit sich bringen vor der Feinde Macht.«<br />
Kaum hörte Xerxes diese Kunde – ahnte er<br />
Doch nicht die List der Griechen und der Götter Neid –‚<br />
Gebot er allen Führern seiner Flottenmacht,<br />
Sobald der Strahl der Sonne von der Erde weicht<br />
Und dunkle Nacht den weiten Himmelsraum bedeckt,<br />
Das Schiffsgeschwader in drei Treffen aufzustell’n,<br />
Zu sperren jede Ausfahrt, jeden Weg zur See;<br />
Doch andre wieder sollten Aias’ Insel rings<br />
Umstellen, und entginge seinem Schicksal dann<br />
Der Feind und fänd’ er heimlich einen Ausweg dort,<br />
So sollten alle büßen ihm mit ihrem Kopf.<br />
In stolzer Zuversicht gebot der König dies,<br />
Nicht ahnend, was die Götter über ihn verhängt.<br />
Die Männer drauf mit treuergebnem Sinn<br />
Bereiteten ihr Nachtmahl, und der Ruderknecht<br />
Band fest sein Ruder an dem starken Riemenpflock.<br />
Als dann der Sonne strahlend Licht erloschen war<br />
Und Nacht es ward, ging eines jeden Ruders Herr<br />
An Bord und jeder, welcher Wehr und Waffen trug. [...]<br />
Der Schiffe Führer ordneten die Nacht hindurch<br />
Der ganzen Flotte Durchfahrt durch den engen Sund.<br />
Vorüber ging die Nacht, doch der Hellenen Heer<br />
Versuchte nirgends im geheimen zu entfliehn.<br />
Als aber drauf des Tages Lichtgespann erschien<br />
Und sonnenhell das Land ringsum beleuchtete,<br />
Da klang von den Hellenen her das Kampfgeschrei,<br />
Laut schallend wie Gesang, und von dem Felsgestad’<br />
Der Insel scholl entgegen ihm der Widerhall.<br />
Und Furcht befiel da die Barbaren Mann für Mann,<br />
Als sie getäuscht sich sahen; denn nicht wie zur Flucht<br />
Stimmt’ an das Griechenheer den feierlichen Sang,<br />
Nein, wie zu Kampf und Sieg aufbrechend, mutbeseelt.<br />
Die Kriegstrompete schmetterte anfeuernd, laut,<br />
Und flugs im Takte schlugen sie alsdann die Flut<br />
Mit ihrer Ruder rauschendem, gleichmäß’gem Schlag.<br />
Da tauchten plötzlich alle auf vor unserm Blick.<br />
Der rechte Flügel, wohlgeordnet, fuhr voraus.<br />
Ihm schloss sich an der ganze Zug, und ringsumher<br />
Erscholl zugleich der Ruf: »Ihr Söhne Griechenlands,<br />
Aischylos · Die Perser<br />
Befreiet euer Vaterland, befreiet Weib<br />
Und Kind, befreit der Heimatgötter heil’gen Sitz,<br />
Der Ahnen Gräber! Jetzt um alles geht der Kampf!«<br />
Nun brauste auch aus unsern Reih’n der persische<br />
Schlachtruf hinüber, nicht zu zögern mehr war Zeit.<br />
Sogleich ward Schiff von Schiff mit ehernem Sporn<br />
gerammt.<br />
Ein Schiff der Griechen war es, das als erstes stieß<br />
Und einem Tyrerschiff den Schmuck des Vorderteils<br />
Herunterriss. Dann fuhr ein Schiff aufs andre los.<br />
Im Anfang hielt der Perserflotte Masse stand.<br />
Doch als der Schiffe Menge in dem engen Sund<br />
Sich drängte, konnte keins dem andern helfen mehr.<br />
Von ihrer eignen Schiffe Schnäbeln wurden sie<br />
Getroffen, brachen alles Ruderwerk sich ab,<br />
Indessen der Hellenen Schiffe wohlbedacht<br />
Im Kreise rings andrängten. Unsre Schiffe schlugen um,<br />
So dass das Meer nicht mehr zu sehen war, bedeckt<br />
Von Trümmern, Schiffsgerät und von Erschlagenen.<br />
Die Leichen türmten sich auf Klippen und am Strand,<br />
Und was an Schiffen übrig war vom Perserheer,<br />
In wilder Flucht und Eile rudert’ es davon.<br />
Die Griechen schlugen auf uns ein und spießten uns<br />
Mit Ruderstücken und mit Schiffsgebälk,<br />
Wie man den Thunfisch oder andre Fische jagt,<br />
Und Wehgeschrei und Jammern scholl hin übers Meer,<br />
Bis dem ein Ende macht’ die Finsternis der Nacht.<br />
Und wenn ich auch das viele Leid der Reihe nach<br />
Dir schildern wollt’ zehn Tage lang, zu Ende käm’<br />
Ich nicht; denn wisse wohl, noch niemals kam zuvor<br />
An einem Tag solch eine Unzahl Menschen um.<br />
19
20 Sophokles · Antigone<br />
Sophokles (um 496 – 406 v. Chr.)<br />
Antigone<br />
Tragödie<br />
2 Rolle: Wächter<br />
Erste Aufführung: Etwa 443 v. Chr., Athen<br />
Szene: Vers 223–331<br />
Ort: Vor dem Königspalast in Theben<br />
Zur Situation: In Theben hat es einen blutigen Machtkampf um die Herrschaft gegeben: Die beiden<br />
Söhne des Oedipus, Eteokles und Polyneikes, die die Stadt ursprünglich abwechselnd hätten<br />
regieren sollen, haben gegeneinander Krieg geführt und sind beide vor den Toren Thebens im<br />
Kampf gestorben. Jetzt ist Kreon, ihr Onkel, König. Er hat angeordnet, dass Eteokles, als heldenhafter<br />
Verteidiger Thebens zu gelten habe und mit allen Ehren bestattet werden solle, Polyneikes<br />
aber, als Angreifer und Staatsfeind, keinesfalls begraben werden dürfe: »Sein Leib bleibt<br />
unbestattet, eine Beute von Hund und Vögeln, schändlich anzuschauen. Das ist mein Wille.«<br />
Nach dem griechischen Glauben bedeutet dies, dass Polyneikes nicht in das Reich der Schatten<br />
eingehen kann. Um seine Anordnung durchzusetzen, lässt Kreon den Leichnam bewachen. Jetzt<br />
kommt einer der Wachmänner zu ihm und muss eine Ungeheuerlichkeit berichten: Es hat<br />
jemand den Toten mit Sand bedeckt.<br />
Der Wächter kommt nicht freiwillig – das Los hat ausgerechnet ihn getroffen. Er hat auf dem<br />
Weg gezögert, er will am liebsten gleich wieder gehen; er fürchtet Kreons Zorn und hat – aus<br />
gutem Grund – Angst um sein Leben: »Kein Mensch ja liebt den Boten böser Mär.« So wichtig,<br />
wie den Bericht loszuwerden, ist es ihm deshalb, seine Unschuld zu beteuern. Mit vorsichtigem<br />
Witz versucht er, Kreon mild zu stimmen. Dieser fragt aber ungeduldig und mit wachsendem<br />
Unmut dazwischen, bis der Wächter mit der ganzen Geschichte herausrückt. (Unser Text lässt<br />
Kreons Einwürfe weg; zum Spielen ist es sicher gut, sie mitzudenken).<br />
Es scheint, dass der Wächter es wohl eher anständig fände, Polyneikes zu beerdigen und dass<br />
er den Befehl des Königs nicht mit Überzeugung durchsetzt: »Er streute durstigen Staub auf ihn<br />
und weihte ihm, was sich gehört.«<br />
WÄCHTER. Herr, ich behaupte nicht, ich sei vor Eile<br />
In Atemnot, weil mir die Füße flogen.<br />
Nein, Sorgenaufenthalte hatt’ ich viel<br />
Und drehte oft mich schon zum Rückweg um,<br />
Weil immerfort die Seele zu mir sagte:<br />
Was rennst du, Armer, in dein Strafgericht?<br />
Was bleibst du stehn, du Tropf? Erfährt es Kreon<br />
Von einem andern, kriegst du sicher Hiebe!<br />
Derart mich windend kam ich kaum vom Fleck –<br />
So werden kurze Wege lang. Zuletzt<br />
Hat der Entschluss gesiegt, zu dir zu geh’n.<br />
Und ist es auch nichts wert, ich sag es doch,<br />
Ich klammre mich an meinen Glauben fest:<br />
Sophokles · Antigone<br />
Was ich erleide, war mir vorbestimmt. [...]<br />
Ich will zuerst von mir erzählen: Ich<br />
War’s nämlich nicht und sah nicht, wer es war.<br />
Stürz ich ins Unglück, ist es ungerecht. [...]<br />
Ich sag’s ja schon: Es war jemand beim Toten,<br />
Der ihn begrub. Er streute durstigen Staub<br />
Auf ihn und weihte ihm, was sich gehört [...]<br />
Ich weiß nicht. Da war keines Spatens Stich,<br />
Kein Auswurf einer Hacke. Fest der Boden<br />
Und hart und ungebrochen, kein Geleis<br />
Von Rädern – spurlos war der Täter fort.<br />
Wie es der erste Tagesposten uns<br />
Anzeigt, ist’s allen ein bedenklich Wunder.<br />
Unsichtbar war er, nicht begraben, dünn<br />
Lag Staub auf ihm, wie um den Fluch zu bannen.<br />
Und keine Spur von Raubtier oder Hund<br />
Zu sehn, dass einer kam und an ihm zerrte.<br />
Da brausten wüste Worte aufeinander:<br />
Der Wächter schimpfte auf den Wächter, schließlich<br />
Kam’s schier zur Schlägerei – wer sollte es<br />
Verhindern? Jeder war der Missetäter,<br />
Und keiner wirklich, jeder stritt es ab.<br />
Durchs Feuer wären wir gegangen, hätten<br />
Ein glühend Eisen in die Hand genommen<br />
Und jeden Eid geschworen, dass wir nicht<br />
Die Täter waren und auch nicht die Hehler<br />
Von dem, der’s plante oder tat. Zuletzt,<br />
Als unsre Untersuchung nichts ergab,<br />
Da kam ein Vorschlag, dass vor Angst wir alle<br />
Die Köpfe hängen ließen. Keiner konnte<br />
Dagegen sprechen, keiner wusste auch,<br />
Wie man’s mit heiler Haut zustande brächte:<br />
Es hieß, man solle dir den Vorfall melden<br />
Und nicht verheimlichen. Und das ging durch.<br />
Mich Unglücksvogel traf das schöne Los,<br />
Weiß wohl, du hörst’s so ungern, wie ich’s sage,<br />
Kein Mensch ja liebt den Boten böser Mär.<br />
Darf ich was sagen oder soll ich gehn? [...]<br />
Der Täter kränkt dein Herz, ich nur dein Ohr. [...]<br />
Ja, hätten wir ihn nur! Doch ob er nun<br />
21
22 Sophokles · Antigone<br />
Später tritt der<br />
Wächter noch einmal<br />
mit einem<br />
Bericht auf: Siehe<br />
Vers 406 ff.<br />
Erwischt wird oder nicht – vielleicht gelingt’s –‚<br />
Mich siehst du hier nicht wieder. Diesmal schon<br />
Hätt’ ich es nie gehofft und nie gedacht,<br />
Dass ich entkomme – tausend Dank, ihr Götter!<br />
(Ab.)<br />
3 Rolle: Haimon, Sohn des Königs Kreon von Theben<br />
Szene: Vers 683–765<br />
Ort: Vor dem Königspalast in Theben<br />
Zur Situation: Antigone ist aufgegriffen worden, als sie erneut versucht hat, ihren toten Bruder<br />
Polyneikes zu bestatten. Obwohl Antigone seine Nichte und zukünftige Schwiegertochter ist,<br />
will König Kreon sein Gesetz in aller Härte an ihr vollstrecken – sie soll sterben, damit seine<br />
Macht nicht angezweifelt werden kann. Ein möglicher Autoritätsverlust ist seine größte Sorge:<br />
»Wenn sie sich ungestraft das leisten darf, bin ich kein Mann mehr, dann ist sie der Mann.«<br />
Nun kommt Kreons Sohn Haimon, der Bräutigam Antigones, zu König Kreon. Dieser teilt ihm<br />
das Urteil mit und verlangt zugleich, sein Sohn solle sich der Entscheidung widerspruchslos<br />
fügen, den Tod seiner Braut hinnehmen und ihm, dem Vater, weiterhin bedingungslos vertrauen.<br />
Haimon liebt Antigone zutiefst, er hat Verständnis für ihr Handeln, und er hat ein Ohr für das,<br />
was im Volk geredet wird: Man ist mit Kreons hartem Entschluß nicht einverstanden, hinter vorgehaltener<br />
Hand wird überall Kritik laut. Nun stellt sich Haimon dem Vater gegenüber – er wahrt<br />
den üblichen Respekt des Sohns gegen den Vater, er will keinen Bruch, im Gegenteil geht es ihm<br />
darum, durch die Bezeugung seiner Loyalität und Sohnesliebe den Kontakt zu Kreon aufrecht zu<br />
erhalten und so Gehör bei ihm zu finden: »Vater! Nichts wünsche ich mir sehnlicher, als dass du<br />
glücklich bist.« In der Sache hält er sich aber nicht zurück, in der Auseinandersetzung ist er dem<br />
König zumindest ebenbürtig, seine Argumente gewinnen ihre Stärke durch das tiefe Empfinden<br />
für die Würde der Menschen und das Recht der Götter, das ihnen zugrunde liegt. Nach der hier<br />
abgedruckten eindringlich auf Überzeugung zielenden Passage kommt es zum immer hitzigeren<br />
Wortwechsel, die Begegnung endet mit dem völligen Zerwürfnis.<br />
HAIMON. Vater, die Götter pflanzen die Vernunft<br />
Dem Menschen ein als höchstes aller Güter.<br />
Ich könnte nicht behaupten, was du sagtest,<br />
Das sei nicht richtig, möcht’ es auch nicht können,<br />
Nur kommt wohl auch ein andrer auf das Rechte.<br />
Mir fällt es zu, für dich zu wachen, was man<br />
So sagt und tut und auszusetzen hat.<br />
Dir ins Gesicht wagt der gemeine Mann<br />
Nicht auszusprechen, was du nicht gern hörst.<br />
Mir aber kommt es insgeheim zu Ohren,<br />
Wie sich die Stadt um dieses Mädchen härmt:<br />
Sophokles · Antigone<br />
Sie, die unschuldigste von allen Frauen,<br />
Soll elend sterben für die schönste Tat!<br />
Den eignen Bruder, der im Kampfe fiel,<br />
Hat sie nicht ohne Grab verkommen lassen,<br />
Der wilden Hunde und der Vögel Fraß,<br />
Ist sie nicht gold’ner Ehrengabe wert?<br />
So geht’s im Dunkeln leis von Mund zu Mund.<br />
Vater! Nichts wünsche ich mir sehnlicher,<br />
Als dass du glücklich bist. Denn welches Kleinod<br />
Freut Kinder mehr als ihres Vaters Ruhm<br />
Und was den Vater mehr als Kindes Glück?<br />
Drum lass nicht nur die eine Denkart gelten,<br />
Die du für richtig hältst, und keine andre!<br />
Denn wer nur selber einsichtsvoll sich dünkt,<br />
Begabt mit Geist und Rede wie kein zweiter,<br />
Enthüllt bei Licht besehen sich als leer.<br />
Auch für den Klugen ist doch keine Schande,<br />
Statt sich zu übernehmen, viel zu lernen.<br />
Du siehst am winterlich geschwollnen Strom<br />
Den Baum, der nachgibt, seine Zweige retten,<br />
Was widersteht, reißt’s mit den Wurzeln fort.<br />
Und wenn der Steuermann das Segeltau<br />
Nur immer strafft und gar nicht lockern mag,<br />
Der kentert bald und fährt kieloben weiter,<br />
Drum beuge dich und wandle deinen Sinn!<br />
Hab ich, der Jüngre, auch ein Wort, ich meine,<br />
Weitaus der höchste Rang gebührt dem Mann,<br />
Dem von Natur der Weisheit Fülle ward.<br />
Doch in der Regel fällt es anders aus,<br />
Dann ist von Klugen lernen auch ein Lob. [...]<br />
Wärst du mein Vater nicht, spräch’ ich: Du Narr!<br />
[...] Vor meinen Augen wird sie niemals sterben,<br />
Das hoffe nicht! Mich aber wirst du nie mehr<br />
Vor deinen Augen sehen. Such dir Freunde,<br />
Die deinen Wahnsinn sich gefallen lassen!<br />
(Stürzt davon.)<br />
23
24 Sophokles · Elektra<br />
Sophokles (um 496 – 406 v. Chr.)<br />
Elektra<br />
Tragödie<br />
4 Rolle: Elektra<br />
Erste Aufführung: Etwa 413 v. Chr., Athen<br />
Szene: Vers 85–212<br />
Ort: Vor dem Königspalast in Mykene<br />
Zur Situation: Elektra ist die Tochter des früheren Königs von Mykene, Agamemnon, und seiner<br />
Frau Klytaimnestra. Bei seiner Rückkehr aus dem Trojanischen Krieg wurde Agamemnon von Klytaimnestra<br />
und ihrem Geliebten Aigisthos erschlagen. Um ihren kleinen Bruder Orestes in<br />
Sicherheit zu bringen, schickte Elektra ihn damals mit seinem Erzieher heimlich von Mykene<br />
weg.<br />
Seither lebt sie mit ihrer Schwester Chrysothemis völlig entrechtet am Königshof. Sie trauert<br />
um ihren Vater und ist voller Hass gegen ihre Mutter und Aigisthos. Sie kann das Unrecht des<br />
Mords nicht ertragen, die Niedertracht der Mutter, die Schamlosigkeit, mit der sie ihren Geliebten<br />
ins königliche Ehebett holte und seither mit ihm lebt. Elektra fühlt sich Tag für Tag aufs neue<br />
gedemütigt, der Gedanke an Rache hat sich in ihr festgefressen. Doch sie alleine ist völlig machtlos,<br />
ihre Situation am Königshof ist fast die einer Sklavin, ohne Aussicht auf Veränderung. So bleiben<br />
ihr nur der Hass und ihre einzige Hoffnung, Orestes werde eines Tages zurückkommen und<br />
den Tod des Vaters rächen.<br />
ELEKTRA. O heiliges Licht!<br />
Und an der Erde<br />
Gleichbeteiligte: Luft! wie du<br />
Mir viele Trauergesänge<br />
Und viele Hiebe gegen die Brust,<br />
Die blutende, hast vernommen,<br />
So oft die dunkle Nacht entwich!<br />
Doch meine nächtlichen Feiern erst –<br />
Da wissen die bitteren Lager<br />
In dem leidigen Haus,<br />
Wie viel um den unseligen<br />
Ich klage, meinen Vater,<br />
Den in dem Barbarenlande nicht<br />
Der blutige Ares zu Gaste zog,<br />
Die Mutter aber, die meine,<br />
Und ihr Lagergenosse Aigisthos –<br />
Wie Holzfäller den Eichbaum<br />
Spalten sie ihm<br />
Das Haupt mit dem blutigen Beile! –<br />
Sophokles · Elektra<br />
Und keine Klage darüber wird<br />
Von einer andern erhoben als mir<br />
Um dich, Vater! den derart<br />
Schmählich und erbärmlich Gestorbenen!<br />
Doch niemals, nein!<br />
Lass ich ab von Totenklagen<br />
Und bitteren Grabgesängen,<br />
Solang’ ich die schimmernden Strahlen<br />
Der Sterne sehe und diesen Tag:<br />
Dass ich nicht gleich ihr, die ihr Kind erschlug,<br />
Der Nachtigall, mit dem Weheruf<br />
Vor diesen väterlichen Türen<br />
Den Widerhall allen hinausschrei!<br />
O Haus des Hades und Persephones!<br />
O unterirdischer Hermes und<br />
Gebietende Göttin du des Fluchs!<br />
Und Erhabene ihr, der Götter Töchter,<br />
Erinnyen!<br />
Die ihr blickt auf die, denen heimlich man stahl<br />
Das Ehebett!<br />
Kommt! helfet! rächt<br />
Den Mord an unserem Vater!<br />
Und mir den meinen schickt, den Bruder!<br />
Denn allein hab ich nicht mehr die Kraft,<br />
Die Waage zu halten der Last des Wehs! [...]<br />
Ja, er, auf den ich unermüdlich wartend,<br />
Kindlos, ich Arme, und hochzeitlos<br />
Immer dahingeh’, von Tränen feucht,<br />
Und trage dieses unendliche<br />
Schicksal der Leiden!<br />
Doch der vergisst,<br />
Was man ihm angetan und was er erfuhr!<br />
Denn was an Botschaft kommt mir nicht,<br />
Das nicht als Täuschung sich erwiesen?<br />
Denn immer sehnt er, aber, sehnend,<br />
Hält er für wert nicht, zu erscheinen! [...]<br />
Jedoch mich hat das meiste Leben schon verlassen,<br />
Hoffnungslos, und ich reiche nicht mehr hin:<br />
Die ohne Eltern ich dahinschmelz,<br />
Für die kein eigener Gatte eintritt,<br />
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