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127_Ausgabe Februar 2014

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Vorwort<br />

Liebe Leserinnen, liebe Leser,<br />

die Narren sind los. Karneval im Rheinland.<br />

Wir erinnern uns an den legendären Fasching<br />

in der Stadthalle. Das waren noch Zeiten! Obwohl<br />

– Narreteien gibt es auch so. Im Übermaß<br />

sogar. Selbstgerechte Zensoren suchen<br />

argwöhnisch nach bösen Wörtern in unserem<br />

Kulturerbe. Kinderbücher werden davon<br />

gereinigt. Sogar Grimms Märchen, kürzlich<br />

durch Sondermarken und Gedenkmünze geehrt,<br />

bleiben nicht verschont. Bald werden<br />

wohl die Oper „Othello“ von Verdi oder die<br />

Operette „Der Zigeunerbaron“ von Johann<br />

Strauß von den Bühnen verschwinden, weil<br />

da schlimmer Rassismus drin sein soll. Unter<br />

den Kindern, die in guter Absicht die Heiligen<br />

drei Könige darstellen, darf sich keines mehr<br />

als „Farbiger“ schminken lassen. Das Liedchen<br />

„Zehn kleine Negerlein“ steht auf dem<br />

Index. Zänkische Zensoren unterschiedlicher<br />

politischer Färbung und journalistische Tugendwächter<br />

regeln unseren Wortschatz. Nur<br />

ja nicht Reizwörter verwenden wie Nation,<br />

Vaterland, deutschstämmig! Im Geburtenregister<br />

muß nicht mehr erscheinen, ob die<br />

Kleinen männlich oder weiblich sind. Sogar<br />

„Mutter“ und „Vater“, erhabene Urwörter in<br />

allen Sprachen, sollen von dort verschwinden.<br />

Aus Schweden kam die Neuigkeit, daß dort<br />

in den Kindergärten nicht mehr nach Jungen<br />

oder Mädchen unterschieden werden darf.<br />

Das Unterrichtsfach „Heimatkunde“ wurde<br />

abgeschafft. Fast täglich überraschen uns<br />

Fernsehen oder Zeitungen mit neuen wahnwitzigen<br />

Vorschriften aus Brüssel für das Retorten-Europa.<br />

Aber man muß gar nicht in die<br />

Ferne schweifen. Ähnliches haben wir vor der<br />

Haustür. Stadtplätze im Zentrum sollen auf<br />

Druck von Unternehmerverbänden aufgebuddelt<br />

und mit Tiefgaragen gefüllt werden, weil<br />

man Kundenströme aus Breslau, Prag, Dresden,<br />

Düsseldorf und Paris erwartet. Entvölkerte<br />

Dörfer dagegen will man „abwracken“.<br />

Bahnhöfe werden schon reihenweise geschlossen.<br />

Wird auch unsere großstädtische<br />

Bahnhofsanlage bald „vom Markt genommen“<br />

und „rückgebaut“? Geschäfte und Wohnhäuser<br />

an der Jakobstraße verfallen. Innerhalb<br />

weniger Wochen zum dritten Male wurde die<br />

Freitreppe Sattigstraße von einem Selbstverwirklicher<br />

mit wirren Schmierereien verunstaltet,<br />

während sich die Ordnungshüter mit<br />

Fahrzeugdiebstählen herumärgern mußten.<br />

Ich erinnere mich jetzt oft an das Jugendkabarett<br />

im Haus der Jugend unter Leitung von<br />

Wolfgang Schaller Ende der 1960er Jahre. (Er<br />

schreibt heute bitterböse Kommentare in der<br />

Sächsischen Zeitung.) Einige Darsteller kannte<br />

ich gut. Sie waren im Visier der Lauscher<br />

und Kulturzensoren. So ein Jugendkabarett,<br />

etwa im „Apollo“ Hospitalstraße angesiedelt,<br />

hätte heute Stoff auf Jahre hinaus und bestimmt<br />

treue junge und ältere Zuhörer. Denn<br />

wir dürfen uns nicht durch die Schnüffler und<br />

Zensoren einschüchtern lassen. Dies meint<br />

(vor 60 Jahren selbst im Studentenkabarett<br />

und im Elferrat des Hochschulfaschings als<br />

Zeremonienmeister)<br />

Ihr Ernst Kretzschmar<br />

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Einleitung<br />

3


Militärmusik<br />

Wenn die Soldaten durch die<br />

in<br />

Stadt<br />

Görlitz<br />

marschieren –<br />

Musikkorps Infanterie-Regiment Nr. 19, 1874<br />

Vor 100 Jahren und noch lange danach<br />

sang man im Familienkreis als Volksweise<br />

oder beim Militär als Marschlied: „Wenn<br />

die Soldaten durch die Stadt marschieren,<br />

öffnen die Mädchen Fenster und die<br />

Türen. Ei warum? Ei darum! Ei warum?<br />

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4<br />

Geschichte


160 Jahre Militärmusik in Görlitz<br />

in Görlitz<br />

(1830-1990)<br />

Musikkorps IR 19 vor der Jägerkaserne, um 1900<br />

Ei darum! Ei bloß weg’n dem Tschingderassa,<br />

Bumderassasa!“ Gerade in Garnisonstädten<br />

wie Görlitz konnte man sich<br />

ja tagtäglich davon überzeugen. Marschkolonnen<br />

kamen mit forsch gesungenen<br />

Liedern auf dem Rückmarsch vom<br />

Manöver durch die Straßen gezogen.<br />

Militärorchester, auch von auswärts, traf<br />

man am Wochenende bei Platz- und Gartenkonzerten<br />

oder hörte sie bei Paraden<br />

und Kundgebungen.<br />

Lange vorher schon, bei den gewaltigen<br />

und verheerenden Truppendurchzügen<br />

vom 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert,<br />

hatte man auch Militärmusiker aus<br />

vieler Herren Länder wahrgenommen,<br />

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in der Erinnerung blieben aber Massensterben<br />

und Zerstörungen, die das städtische<br />

Leben oft jahrzehntelang prägten.<br />

Erst nach dem Ende der Napoleonischen<br />

Kriege bekamen die Armeen der großen<br />

europäischen Staaten ein festeres Gefüge<br />

mit Kasernen, Wehrpflicht, moderner<br />

Ausrüstung und straffer Ausbildung.<br />

Görlitz erlebte diese Wandlungen als<br />

preußische Garnisonstadt von 1830 bis<br />

1945. Dazu gehörte auch die ständige<br />

Anwesenheit von Militärorchestern, die<br />

einen festen Platz im kulturellen Leben<br />

der Stadt bekamen. In den gedruckten<br />

Truppengeschichten aller hier stationierten<br />

Truppenteile dominieren jedoch die<br />

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Geschichte<br />

5


Militärmusik<br />

Wenn die Soldaten durch die<br />

in<br />

Stadt<br />

Görlitz<br />

marschieren –<br />

Schellenbaum IR 19, 1874 Schellenbaum mit Standarte, 1874<br />

Feldzüge in großen Kriegen, die Ausbildung<br />

und Bewaffnung, die Listen der<br />

Kommandeure, der Ordensträger und<br />

der Kriegstoten. Über die Militärmusik<br />

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6<br />

Geschichte


160 Jahre Militärmusik in Görlitz<br />

in Görlitz<br />

(1830-1990)<br />

Musikkorps IR 19 mit Schellenbaum, 1896<br />

erfährt man jedoch fast gar nichts. Dagegen<br />

findet man in Archiven eine Vielzahl<br />

von Bildzeugnissen, die das Auftreten<br />

hiesiger Militärorchester in der Stadt<br />

und auswärts anschaulich bezeugen.<br />

Erstmals wird im Zusammenhang mit<br />

dem Einmarsch der ersten Garnison<br />

(Erste Schlesische Schützenabteilung,<br />

später umbenannt in Jäger-Bataillon<br />

Nr. 5) ein Klangkörper erwähnt. 1880<br />

schrieb Eduard Berger zum 50. Garnisonjubiläum<br />

rückblickend, daß am 22.<br />

September 1830 die neue Garnison „in<br />

Stärke von 8 Offizieren, 180 Mann und<br />

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Geschichte<br />

7


Militärmusik<br />

Wenn die Soldaten durch die<br />

in<br />

Stadt<br />

Görlitz<br />

marschieren –<br />

Musikkorps IR 19, Berliner Straße, Görlitz, Juli 1914<br />

einem Musikkorps in Stärke von 18<br />

Waldhornisten und einem Kapellmeister“<br />

hier einrückte. Als diese bei der<br />

Bevölkerung beliebte Truppe 1887 nach<br />

Hirschberg verlegt wurde, entstand ein<br />

Foto, auf dem man die Jägerkapelle (die<br />

traditionell ohne Schlagzeug und Holzinstrumente<br />

spielte) bei der feierlichen<br />

Verabschiedung auf dem Obermarkt<br />

sehen kann, daneben ein Bataillon der<br />

1871 hinzugekommenen neuen Garnison<br />

(Infanterie-Regiment Nr. 19) mit<br />

einem beträchtlich größeren Orchester.<br />

Prägend für die Militärmusik in Görlitz<br />

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Geschichte


160 Jahre Militärmusik in Görlitz<br />

in Görlitz<br />

(1830-1990)<br />

Reichswehr-Musikkorps, Jägerkaserne, 1934 (ab 1935 Infanterie-Regiment 30)<br />

war damals Franz Philipp (1834-1890),<br />

neben dem „alten Goldschmidt“ in Liegnitz<br />

seinerzeit einer der bekanntesten<br />

Militärmusiker in der Provinz Schlesien.<br />

Er besaß eine solide musikalische Ausbildung<br />

und war seit 1860 Kapellmeister<br />

bei den Görlitzer Jägern, dann bei den<br />

„Neunzehnern“ in Luxemburg, Koblenz<br />

und Mainz. Mit diesem Regiment kam er<br />

1871 nach Görlitz zurück und wirkte hier<br />

ununterbrochen bis 1890. Er dirigierte<br />

die Operettenaufführungen im Stadttheater,<br />

spielte Violine bei den Schlesischen<br />

Musikfesten und wurde 1877 Königlicher<br />

Musikdirektor. Er komponierte 59 Musikstücke<br />

(Märsche, Streichquartette,<br />

Ouvertüren und Chöre). Sein Orchester<br />

beteiligte sich an fast 100 Sinfoniekonzerten<br />

der Singakademie, des Musikvereins<br />

und des Städtischen Orchesters.<br />

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Geschichte<br />

9


Militärmusik<br />

Wenn die Soldaten durch die<br />

in<br />

Stadt<br />

Görlitz<br />

marschieren –<br />

Obermusikmeister Heinrich Junghans um 1936<br />

Dies alles geschah neben der Hauptaufgabe,<br />

der Marschmusik bei Paraden,<br />

Feierlichkeiten, Ausmärschen und volkstümlichen<br />

Militärkonzerten für die Bevölkerung<br />

der Garnisonstadt. Als Stiftung<br />

aus Privathand erhielt das Ratsarchiv<br />

1942 einige kostbare Fotos, darunter<br />

eine Tafel mit den Porträts von 44 Musikern<br />

mit ihren Instrumenten und Namen<br />

vom Juli 1874. Auf einem Gruppenbild<br />

des Orchesters von 1896 sehen wir den<br />

1874 angeschafften Schellenbaum, der<br />

bis 1945 durch drei Musikkorps in Görlitz<br />

geführt wurde und seitdem verschollen<br />

ist. Die Schellenbaum-Standarte zeigte<br />

auf der Vorderseite den preußischen<br />

Adler und bis in die 1920er Jahre auf<br />

der Rückseite das Monogramm von König<br />

Friedrich Wilhelm III., unter dem<br />

1813 das Regiment entstanden war. Um<br />

1900 wurde der Klangkörper durch Otto<br />

Wachlin geleitet, der nicht nur die Paraden<br />

bei den Kaiserbesuchen und an<br />

den Kaisergeburtstagen musikalisch umrahmte,<br />

sondern auch in den beliebten<br />

Gartenlokalen und bei der großen Industrie-<br />

und Gewerbe-Ausstellung 1905 für<br />

die Bevölkerung spielte. Sein Nachfolger<br />

wurde 1909 Heinrich Junghans (1876-<br />

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10<br />

Geschichte


160 Jahre Militärmusik in Görlitz<br />

in Görlitz<br />

(1830-1990)<br />

Einschwenken vor dem Kaisertrutz zur Parade am 8.10.1940<br />

1948). Unter seiner Leitung standen das<br />

Musikkorps der Neunzehner bis 1919,<br />

dann von 1921 bis 1935 die Kapelle<br />

des III. Bataillons des 8. (preußischen)<br />

Infanterie-Regiments, aus dem 1935<br />

das neue Infanterie-Regiment 30 der<br />

Wehrmacht hervorging, dessen Musikkorps<br />

am Standort Görlitz er bis 1941 als<br />

Obermusikmeister führte. (Über seinen<br />

Lebensweg schrieb sein Enkel Hanno<br />

Vogt im StadtBILD 114 im Januar 2013<br />

einen illustrierten Beitrag). Junghans<br />

war bei der Bevölkerung sehr populär. Er<br />

spielte mit seinem Orchester bei Paraden<br />

in Görlitz, Neuhammer und Berlin,<br />

beim Großen Zapfenstreich und zur Begrüßung<br />

des Reichspräsidenten, bei Manövern<br />

und im Felde (wo seine Musiker<br />

auch als Sanitäter eingesetzt wurden).<br />

Für die Bevölkerung gab es Gartenkon-<br />

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Geschichte<br />

11


Militärmusik<br />

Wenn die Soldaten durch die<br />

in<br />

Stadt<br />

Görlitz<br />

marschieren –<br />

Platzkonzert der NVA auf dem Karl-Marx-Platz (Wilhelmsplatz) 1961 (Foto: Helmut Vogt)<br />

zerte, Konzerte vor Betriebsbelegschaften,<br />

die Teilnahme an Sinfoniekonzerten<br />

und auch Musik zum Tanz.<br />

Nach zeitgenössischen Berichten besaß<br />

auch das Freikorps Görlitz unter<br />

Oberstleutnant Wilhelm Faupel 1919 bis<br />

1920 eine eigene Kapelle, möglicherweise<br />

mit Musikern des 1919 aufgelösten<br />

Infanterie-Regiments Nr. 19. Auch die<br />

politischen Kampfbünde der großen Parteien<br />

in der Weimarer Republik besaßen<br />

eigene Kapellen für ihre Kundgebungen<br />

und Aufmärsche („Stahlhelm. Bund der<br />

Frontsoldaten“, „Reichsbanner Schwarz-<br />

Rot-Gold“, „Roter Frontkämpfer-Bund“,<br />

SA). Mit dem militärischen Zusammenbruch<br />

1945 endete zunächst auch die<br />

Militärmusik in Görlitz. Es gab keine Garnison<br />

mehr.<br />

In 41 Jahren DDR waren in Görlitz das<br />

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12<br />

Geschichte


160 Jahre Militärmusik in Görlitz<br />

in Görlitz<br />

(1830-1990)<br />

Im Stadthallengarten Görlitz<br />

Reichsbahn-Blasorchester und das Jugendblasorchester<br />

der Schule am Klosterplatz<br />

als zivile Ensembles populär und<br />

bei vielen Gelegenheiten im Einsatz. Die<br />

SED-Kampfgruppen besaßen ein eigenes<br />

Blasorchester unter seinem Leiter<br />

Bothge, einem früheren Militärmusiker.<br />

Mit der Einrichtung der NVA-Offiziershochschule<br />

der Landstreitkräfte in Löbau<br />

und Zittau wurde Görlitz zum Probenort<br />

des Musikkorps. Dessen Leiter wurde<br />

zunächst Erich Rönisch, der aus dem<br />

Orchester von Junghans hervorgegangen<br />

war. Von 1974 bis 1990 leitete dann<br />

diesen Klangkörper Fritz Golm (geboren<br />

1943, ausgebildet am Konservatorium<br />

Halle und an der Musikhochschule Leipzig<br />

als Kapellmeister). Probenort war das<br />

ehemalige Ständehaus an der Promenade.<br />

Gepflegt wurden das historische und<br />

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Geschichte<br />

13


Militärmusik<br />

Wenn die Soldaten durch die<br />

in<br />

Stadt<br />

Görlitz<br />

marschieren –<br />

Konzert im NVA-Kulturhaus, Löbau<br />

neue Marschmusikrepertoire, vor allem<br />

für Paraden und andere militärische<br />

Zeremonielle, aber auch Musik für öffentliche<br />

Feiern (1. Mai, Jugendweihen)<br />

und für Unterhaltungs-Veranstaltungen.<br />

Erinnerungen an dieses Orchester findet<br />

man nun in dem kleinen militärgeschichtlichen<br />

Museum Löbau, darunter<br />

als Leihgabe den Schellenbaum des Musikkorps<br />

der Offiziers-Hochschule.<br />

Die Militärmusik in Görlitz ist Geschichte,<br />

auch eine widersprüchliche. Man könnte<br />

auf die Fotos der Regiments-Kapelle beim<br />

Einmarsch in das Sudetenland nach der<br />

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14<br />

Geschichte


160 Jahre Militärmusik in Görlitz<br />

in Görlitz<br />

(1830-1990)<br />

Kapellmeister Major Fritz Golm<br />

Münchener Konferenz 1938, beim Appell<br />

der Wachformation am Pariser Triumphbogen<br />

im September 1940 (IR 30) oder<br />

bei der Siegesparade auf dem Obermarkt<br />

im Oktober 1940 verweisen. Mancher erinnert<br />

sich vielleicht an die Fotos von der<br />

Parade vor Mussolini und Hitler 1937 in<br />

Berlin. Aber mit dem Vorwurf „militaristischer<br />

Propaganda“ sollte man sich besser<br />

zurückhalten. Militärmusik gab und gibt<br />

es in vielen Ländern Europas und der<br />

Welt. Und sie ist beliebt geblieben. Man<br />

sieht es bei internationalen Musikparaden<br />

vor zahlreichem Publikum. Und das trotz<br />

der vielen grausamen Kriege und Bürgerkriege,<br />

die es heute noch gibt. In Görlitz<br />

haben die Militärkapellen das Auf und Ab<br />

einer wechselvollen Geschichte begleitet,<br />

fest verwurzelt in der hiesigen Bevölkerung,<br />

geliebt auch von unseren eigenen<br />

Großeltern und Urgroßeltern trotz all der<br />

Opfer, die ihnen in den großen Kriegen<br />

abverlangt wurden als Soldaten, Kriegswitwen<br />

oder Kriegskindern (wie unsereins).<br />

Als Mitgestalter des städtischen<br />

Kulturlebens sollten die Militärmusiker<br />

unvergessen bleiben, die Spielmannszüge,<br />

Musikkorps und deren Dirigenten.<br />

Forschung, Presse und Museen sollten<br />

sich auch dieser Thematik nicht länger<br />

verweigern. Selbst aus eigenem Erleben<br />

könnte man manches darüber erzählen.<br />

Dr. Ernst Kretzschmar<br />

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Geschichte<br />

15


Die beiden Jauernicker Dorfkirchen –<br />

Fährt man von Görlitz in südwestlicher<br />

Richtung am Görlitzer Hausberg, der<br />

„Landeskrone“, vorbei, über Kunnerwitz,<br />

so erreicht man das kleine, geschichtsträchtige<br />

Dorf Jauernick.<br />

Der Ort, eingebettet in die Lausitzer Hügellandschaft,<br />

liegt malerisch oberhalb<br />

vom Berzdorfer See, einer ehemaligen<br />

Braunkohlen – Tagebaustätte.<br />

Das Dorf wurde urkundlich erstmals in einer<br />

Grenzbeschreibung des Jahres 1241<br />

als „Jawornik“ (slawisch jawor = Ahorn)<br />

erwähnt. Der Ort spielte eine wichtige<br />

Rolle an der nahe gelegenen Handelsstraße<br />

„Via Regia“. Dieser bedeutende<br />

Handelsweg führte, von Schlesien kommend,<br />

über Görlitz, Markersdorf und Reichenbach<br />

unweit an Jauernick vorbei.<br />

Mit dem Aufblühen der Stadt Görlitz aber<br />

verlor Jauernick an Bedeutung.<br />

Die Christianisierung der Oberlausitz erfolgte<br />

weitgehend über das 968 errichtete<br />

Bistum Meißen.<br />

Nach der Überlieferung des Pfarrers Olerus<br />

soll bereits 967 eine in Holz erbaute<br />

Kirche in Jauernick errichtet worden<br />

sein.<br />

Der heute vorhandene Bau geht in seinen<br />

Grundmauern auf das 13. Jahrhundert<br />

zurück. Erstmals erwähnt wurde die<br />

Kirche 1242. In diesem Jahr erwarb das<br />

Zisterzienserinnenkloster St. Marienthal<br />

das Dorf und seine Kirche.<br />

In den Jahren 1427 und 1429 wurde das<br />

Gotteshaus durch die Hussiten schwer<br />

beschädigt.<br />

Am 8. Oktober 1443 konnte sie durch<br />

Johannes Erler neu geweiht werden.<br />

Erler stammte aus der Görlitzer Gegend<br />

und wurde als Minorit 1432 Weihbischof<br />

für die Bistümer Meißen, Breslau und<br />

Prag sowie Titularbischof von Gardar<br />

auf Grönland. Sein Sitz befand sich in<br />

Zittau.<br />

Ein Teil des heutigen Kirchbaus, der Altarraum<br />

und die Sakristei, dürften aus<br />

dieser Zeit stammen, das Langhaus<br />

wurde in den Jahren 1497 bis 1500 errichtet.<br />

Ein mittelalterlicher Taufstein ist<br />

aus dem Jahre 1497. Die Vorhalle ist mit<br />

zahlreichen Fresken ausgeschmückt.<br />

Dass Jauernick eine geschichtsreiche<br />

Ortschaft ist, erhielt 2011 einen erneuten<br />

Beweis.<br />

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16<br />

Geschichte


und ihre<br />

ihre<br />

Glocken<br />

Glocken<br />

Katholische Kirche St. Wenzeslaus<br />

Leipziger Sprachwissenschaftler entdeckten<br />

im Bistumsarchiv Görlitz ein<br />

Buch aus dem Pfarrarchiv Jauernick mit<br />

dem ältesten, handschriftlichen Satz in<br />

niedersorbischer Sprache. Diese Notiz<br />

ist in einem Schulbuch aus dem Jahre<br />

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Geschichte<br />

17


Die beiden Jauernicker Dorfkirchen –<br />

1510 vermerkt. Ein älterer Nachweis der<br />

sorbischen Sprache wurde bisher nicht<br />

entdeckt. In diesem Buch, der Komödie<br />

Andria (Das Mädchen von Andros), von<br />

einem der berühmtesten Komödiendichter<br />

der römischen Antike Publius Terentius<br />

Afer (auf deutsch Terenz), gibt es<br />

diesen Randvermerk, der keinen Textbezug<br />

hat, sondern eher als Kommentar<br />

zu werten ist. Diese handschriftliche<br />

Notiz stammt offenbar von einem Dominikanermönch,<br />

der dieses Buch für den<br />

Unterricht benutzte und diesen Vermerk<br />

vornahm. Die Übersetzung lautet: Ach<br />

meine liebe Liebste, sei fröhlich, du bist<br />

mir lieb.<br />

Handschriftliches Schulbuch, die Komödie<br />

Älteste niedersorbische Handschrift um 1510<br />

Aber auch die Glockengeschichte der beiden<br />

Kirchen ist bemerkenswert. Glocken<br />

läuteten bereits 1438 über dem Ort. Die<br />

erste große Glocke trug die lateinische<br />

Inschrift: Da vivis gratiam, Defunctis requiem,<br />

Ecclesiae pacem, Peccatoribus<br />

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18<br />

Geschichte


und ihre<br />

ihre<br />

Glocken<br />

Glocken<br />

veniam, Omnibus vitam<br />

aeternam – verbum caro<br />

factum est.<br />

Dazu gab es auf dem<br />

schlanken Turm noch<br />

zwei kleinere Glocken<br />

mit der Inschrift: O Rex<br />

Gloriae, Veni cum pace.<br />

Lucas M(attheus). Nach<br />

ihrer Form und anderen<br />

Merkmalen wurden<br />

diese drei Glocken<br />

wahrscheinlich von dem<br />

Meister gegossen, der<br />

auch um diese Zeit die<br />

drei Glocken zu Bernstadt<br />

goss. 1615 zersprang<br />

die Mittlere, wurde<br />

in Zittau neu gegossen und ein Jahr<br />

später, am Neujahrstag 1616, wieder auf<br />

den Turm gebracht.<br />

Verziert waren sie mit Reliefbildnissen<br />

von Johannes und Maria neben einem<br />

Kruzifix, dem Wappen des Klosters Marienthal<br />

sowie dem Wappen des Klostervogtes<br />

Nikol von Salza auf Linda und<br />

Heidersdorf. Neben der Inschrift „Ps.<br />

Inventarium von 1542<br />

150: Laudate Dominum in Cymbalis<br />

bene sonantibus. Laudate eum im ymbalis<br />

jubilationis“ waren auch die Namen<br />

der Äbtissin Ursula Queitsch, des Sekretärs<br />

Georg Wagner, der Kirchväter und<br />

des Richters zu lesen.<br />

Aus einem Inventarium der Pfarrkirche<br />

von 1542 kann man einige der Daten<br />

entnehmen.<br />

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Geschichte<br />

19


Die beiden Jauernicker Dorfkirchen –<br />

1867 wurden diese drei Glocken von der<br />

Firma Gruhl in Kleinwelka umgegossen.<br />

Die drei Neuen mit einem Gewicht von<br />

651 kg, 351 kg und 183 kg hatten die<br />

Stimmung fis - a - cis. Die große Glocke<br />

trug den Namen der Äbtissin Gabriela<br />

Marschner. Über den Verbleib dieses<br />

Geläutes gibt es keinen Nachweis. Es<br />

ist aber anzunehmen, dass sie dem I.<br />

Weltkrieg zum Opfer fielen und der Rüstungsindustrie<br />

zugeführt wurden. 1931<br />

erhielt die Gemeinde neue Glocken der<br />

Firma Petit & Edelbrock aus Gescher /<br />

Westfalen. In diesem Unternehmen werden<br />

auch heute noch Bronzeglocken gefertigt.<br />

1942 musste eine Glocke wiederum vom<br />

Turm genommen und abgeliefert werden.<br />

Nur eine 210 kg schwere Glocke<br />

mit dem Durchmesser von 700 mm ist<br />

heute noch erhalten.<br />

Der in der Holzkonstruktion des Dachreiters<br />

hängende Klangkörper mit dem Nominal<br />

cis² ist geweiht auf den Heiligen<br />

Josef und trägt die Inschrift: Sancte Joseph<br />

Patrone morientum, ora pro nobis.<br />

Weitere Verzierungen sind ein Medaillon<br />

Glocke der katholischen Kirche<br />

des Hl. Josef mit Beil und Lilienzweig,<br />

gotische Friese, Blattornamente und das<br />

Gießerzeichen mit der Jahreszahl 1931.<br />

Diese Glocke ist eine der Wenigen in der<br />

Region, die noch von Hand geläutet werden.<br />

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20<br />

Geschichte


und ihre<br />

ihre<br />

Glocken<br />

Glocken<br />

Evangelische Kapelle<br />

Nicht weit entfernt, etwas oberhalb der<br />

katholischen Kirche, steht die evangelische<br />

Kapelle.<br />

Der geistliche Mittelpunkt der evangelischen<br />

Gemeinde Mitte des 19. Jahrhunderts<br />

lag in Kunnerwitz. Der Stammsitz<br />

der 3-Dörfer-Parochie (Amtsbezirk eines<br />

Pfarrers) blieb aber der besonderen<br />

Seelsorge befohlen. Deshalb ließ der<br />

Bauerngutbesitzer auf dem Hügel diese<br />

evangelische Kapelle errichten. Eine<br />

Schenkungsurkunde über den Grund und<br />

Boden ist datiert vom 3. Januar 1863.<br />

Eine Tafel über dem Eingang nennt als<br />

Erbauer J.G. Domsch und M.E. Domsch.<br />

Nachdem in dieser Kapelle zunächst nur<br />

Beerdigungen stattfanden, wurde das<br />

Gotteshaus bald ein Zentrum der Gemeinde.<br />

Die innere Ausgestaltung übernahmen<br />

die Gemeindemitglieder von<br />

Jauernick und Niecha. Sie hatten sich<br />

auch verpflichtet, die Bau- und Erhaltungskosten<br />

selbst zu tragen.<br />

1892 schenkte Prinz Heinrich zu Schönaich-Carolath<br />

der Kirche eine Orgel.<br />

Nach dem 2. Weltkrieg wurden die Schäden,<br />

immer entsprechend den finanziellen<br />

Verhältnissen, von der Gemeinde beseitigt<br />

und an der Kapelle gebaut.<br />

Bedeutsam wurde das Jahr 1953, man<br />

errichtete den Turmanbau. Dieser Turm<br />

sollte natürlich eine Glocke bekommen.<br />

Die Glockengießerei Franz Schilling &<br />

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Geschichte<br />

21


Die beiden Jauernicker Dorfkirchen<br />

Glocke der evangelischen Kapelle<br />

Söhne in Apolda hielt ihre Zusagen nicht<br />

ein, eine Glocke zu gießen und zu liefern.<br />

Aber eine Glocke, die vom Hamburger<br />

Glockenfriedhof nach Apolda gelangt<br />

war, nahm ihren Weg nach Jauernick.<br />

Im feierlichen Zug wurde der Klangkörper<br />

durch das Dorf geführt.<br />

Die Kosten beliefen sich auf 300 Deutsche<br />

Mark der DDR. Durch Konzerte des<br />

Kirchenchores, des Posaunenchores und<br />

Spenden aus allen Kirchdörfern konnte<br />

mehr als diese Summe aufgebracht werden.<br />

Der Glockenweih-Festgottesdienst fand<br />

am Erntedankfest, dem 4. Oktober 1953,<br />

statt.<br />

Die von einem unbekannten Gießer<br />

1523 mit dem Nominal cis² gegossene<br />

Bronzeglocke wiegt ca. 240 kg und trägt<br />

am Hals die Inschrift:<br />

AD HONOREM ET LAUDEM BEATI IO-<br />

HANNIS BAPTISTE.<br />

Diese Glocke, die wahrscheinlich zwischen<br />

1523 und 1942 in einer schlesischen<br />

Gemeinde ihren Dienst verrichtete,<br />

trägt heute mit ihrem Klang das Mahnen<br />

Johannes des Täufers in die Herzen und<br />

den Verstand der Menschen.<br />

Dipl.-Ing.(FH) Michael Gürlach<br />

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22<br />

Geschichte


Nachruf<br />

Abschied von Günter W. Müller<br />

Günter W. Müller<br />

Die Redaktion erhielt die traurige Nachricht,<br />

dass Günter W. Müller unerwartet<br />

im Alter von 84 Jahren verstorben ist.<br />

Er wurde am 17. April 1929 in Görlitz<br />

geboren, wuchs in Biesnitz auf und ist<br />

sicher einigen unserer älteren Leser<br />

noch aus seiner Tätigkeit als Lehrer bekannt.<br />

Im Juli 2009 besuchte Günter W. Müller,<br />

der inzwischen als Schriftsteller Bekanntheit<br />

erlangt hatte, seine Geburtsstadt.<br />

StadtBILD organisierte eine Lesung in<br />

der Comenius-Buchhandlung aus seinem<br />

Buch „Im Schatten der Landeskrone“.<br />

In diesem Roman, der in Görlitz<br />

und den umliegenden Dörfern spielt,<br />

werden die schweren Nachkriegsjahre<br />

in teilweise autobiografischen Szenen<br />

lebendig.<br />

In den folgenden Jahren erschienen in<br />

StadtBILD einige seiner Erinnerungen<br />

an Erlebnisse in der Jugendzeit .<br />

Wir haben Günter W. Müller, der zuletzt<br />

in Bad Zwischenahn ansässig war, als<br />

einen liebenswürdigen, bis ins Alter mit<br />

Görlitz verbundenen Menschen kennen<br />

gelernt. Mit seiner schriftstellerischen<br />

Tätigkeit hat er ein Stück Geschichte<br />

seiner Vaterstadt lebendig erhalten.<br />

Redaktion StadtBILD<br />

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Nachruf<br />

23


Görlitzer Industriegeschichte 1955 –<br />

Kulturhaus mit Speise- und Veranstaltungssaal, 1954 (Werkfoto)<br />

Not macht bekanntlich erfinderisch.<br />

Erfinderisch musste man in der DDR<br />

schon sein, wenn es hinten und vorne<br />

an Vielem fehlte – wie nachfolgendes<br />

Beispiel erzählt: ein besonderes Kapitel<br />

der DDR-Industriegeschichte:<br />

Im Herbst 1952 begann ich im VEB Görlitzer<br />

Maschinenbau meine Lehre als Industriekaufmann,<br />

die im Sommer 1955<br />

zu Ende ging. Generell mussten sich<br />

Lehrlinge keine Gedanken über die weitere<br />

Beschäftigung nach der Lehre als<br />

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24<br />

Geschichte


Industriegeschichte<br />

Planerfüllung trotz Materialmangel<br />

Turbinenbau für den Export, 1957 (Zentralbild)<br />

junger Facharbeiter machen. So wurde<br />

ich zunächst als Disponent in der Abteilung<br />

Materialbeschaffung eingesetzt.<br />

Auf dieser Position war ich verantwortlich<br />

(mit 17 ½ Jahren!) für die ordnungsgemäße<br />

Freigabe von Schwarz- und<br />

Buntmetallen zur Fertigung der einzelnen<br />

Projekte – Turbinen, Dieselmotoren<br />

und Dampfmaschinen. Die zur Produktion<br />

benötigten Formstähle und Bleche,<br />

DIN- und Normteile usw. durften erst<br />

dann in die Verarbeitung gehen, wenn<br />

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Geschichte<br />

25


Görlitzer Industriegeschichte 1955 –<br />

das technologisch für das anstehende<br />

Produkt notwendig war. So sollte ausgeschlossen<br />

werden, dass das Material<br />

anderweitig verwendet wird.<br />

Doch vielfach konnte der ordnungsgemäße<br />

Materialfluss in der Mitte der 50er<br />

Jahre nicht immer garantiert werden<br />

– es fehlte oft an bestimmten Stählen,<br />

Blechen, DIN- und Normteilen, weil<br />

Zulieferbetriebe selbst in Produktionsschwierigkeiten<br />

geraten waren. Somit<br />

ergaben sich Lücken in der Fertigung der<br />

verarbeitenden Industrie. Die Planerfüllung<br />

war dann in Gefahr für Projekte im<br />

Inland, z.B. Turbinen für die Kraftwerke<br />

Plessa und Bleicherode oder Dieselmotoren<br />

für die Werften an der Ostsee. Viel<br />

bedrückender drohten Lieferschwierigkeiten<br />

für den Export zu werden; damals<br />

z.B. in die Türkei nach Kayseri.<br />

Dann griffen die Technologen zur Methode<br />

„selbst anfertigen“ der fehlenden<br />

Teile. War für ein bestimmtes Bauteil, zu<br />

dem man z.B. 20er Rundstahl benötigte,<br />

nicht am Lager und auch kurzfristig<br />

nicht zu beschaffen, wurde das nächst<br />

stärkere zur Verfügung stehende Material<br />

verwendet und auf die entsprechende<br />

Stärke reduziert. Das war nicht rationell,<br />

aber kostspielig im Interesse der Planerfüllung<br />

und Exportverpflichtungen.<br />

Es musste also ein Ausweg gefunden<br />

werden. Und der hieß Tauschgeschäft:<br />

Ware gegen Ware.<br />

Die Einkäufer der verschiedenen Sachgebiete<br />

stellten regelmäßig Mängellisten<br />

zusammen, die fehlende Schwarzund<br />

Buntmetall-Erzeugnisse, DIN- und<br />

Normteile enthielten. Aber auch Listen<br />

über Materialien, die abgegeben werden<br />

konnten und mussten. Überzählige<br />

Rohstoffe – so genannte Überplanbestände<br />

– durften nicht lange gelagert<br />

werden, sonst drohten Strafen durch<br />

die vorgesetzten staatlichen Leitbetriebe<br />

und Ministerien. Mit diesen Listen<br />

ausgerüstet wurden Mitarbeiter auf Reisen<br />

ins Land geschickt mit der Weisung,<br />

so viel wie möglich Grundmaterialien in<br />

artverwandten Betrieben gegen eigene<br />

Überplanbestände einzutauschen, Rechnung<br />

gegen Rechnung. Auch ich erhielt<br />

eines Tages den Auftrag, eine Dienstreise<br />

dieser Art anzutreten mit Listen feh-<br />

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26<br />

Geschichte


Industriegeschichte<br />

Planerfüllung trotz Materialmangel<br />

Turbinenbau für Bitterfeld, 1970 (Werkfoto)<br />

lender Rund-, Flach- und Profilstähle in<br />

der Qualitätsstufe St. 37.11 oder der etwas<br />

wertvolleren Art St. 47.11, Blechen,<br />

DIN- und Normteilen. Der Weg führte<br />

mich zunächst nach Berlin ins EAW<br />

Treptow, dann in den Schwesterbetrieb<br />

des Görlitzer Maschinenbau, zum VEB<br />

Bergmann-Borsig, in die Werkzeugfabrik<br />

Weißensee und danach nach Hennigsdorf<br />

ins LEW. Meine Bittstellerei war<br />

erfolgreich; ich kam mit umfangreichen<br />

Listen zurück und hatte Abnehmer von<br />

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Geschichte<br />

27


Görlitzer Industriegeschichte 1955 –<br />

Lehrlingsausbildung Former, 1972 (Foto: R. Kitte)<br />

überzähligem Material gefunden. Da war<br />

ich gerade mal etwas über 18 Jahre alt<br />

– da galt schon damals im Görlitzer Maschinenbau<br />

die später herausgegebene<br />

SED-Losung: Der Jugend Vertrauen und<br />

Verantwortung.<br />

Diese erste „Dienstreise“ blieb nicht die<br />

einzige. Da lernte ich viele Gegenden<br />

der DDR kennen, und man hatte auch<br />

schöne und weniger schöne Erlebnisse.<br />

Magdeburg mit seiner Schwerindustrie<br />

war einige Wochen später auch ein An-<br />

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28<br />

Geschichte


Industriegeschichte<br />

Planerfüllung trotz Materialmangel<br />

Turbinenfertigung, 1976 (Werkfoto: Werner Hahn)<br />

laufpunkt in Sachen Materialtausch. Von<br />

dort ging es nach Nordhausen in das<br />

Traktorenwerk. Ich nahm den Eisenbahnweg<br />

über den Harz, ein unvergessliches<br />

Erlebnis zur damaligen Zeit mit<br />

der Harz-Querbahn von Wernigerode<br />

zur anderen Seite des Bergmassivs. Andererseits<br />

musste ich einmal eine Nacht<br />

im Wartesaal von Aue verbringen, weil<br />

kein Hotelzimmer zu bekommen war.<br />

Auch unter den Görlitzer Betrieben wurden<br />

Materialbeschaffungen dieser Art<br />

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Geschichte<br />

29


Görlitzer Industriegeschichte 1955<br />

gepflegt; meist in kleinerem Rahmen.<br />

Wenig erfolgreich war es, fehlendes Material<br />

für die Turbinenschaufel-Fertigung<br />

aufzutreiben. Nur wenige Betriebe der<br />

DDR verarbeiteten Chrom-Nickel-Vanadium-Stähle<br />

aus dem Edelstahlwerk<br />

Freital.<br />

Durch diesen Materialaustausch gelang<br />

es fast meist, Lücken zu stopfen und<br />

die vorgegeben Pläne in den 50er Jahren<br />

mit Müh und Not zu erfüllen – zumindest<br />

für die Berichterstattung nach<br />

oben. Die Betriebsleitungen kannten<br />

die Kniffe und Tricks, auch im Görlitzer<br />

Maschinenbau. Ob später diese Methode<br />

weiter gepflegt und vervollkommnet<br />

wurde, entzieht sich meiner Kenntnis.<br />

Da hatte ich meinen Beruf gewechselt,<br />

aber nicht wegen der Materialmisere.<br />

Wolfhard Besser,<br />

Berlin<br />

Qualitätskontrolle 1976 (Werkfoto/Werner Hahn)<br />

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30<br />

Impressum:<br />

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15. <strong>Februar</strong> <strong>2014</strong><br />

Redaktionsschluss: 20. <strong>Februar</strong> <strong>2014</strong><br />

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