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235 StadtBILD_Februar 2023

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Demianiplatz im Winter, um 1930, vermutlich Dora Kolisch (1887-1962), zu sehen im Kaisertrutz, Foto: Görlitzer Sammlungen


Liebe Leserinnen, liebe Leser,<br />

Vorwort<br />

plötzlich war die Person weg – verschwunden im<br />

Spalt zwischen der Bahn und dem Bahnsteig im<br />

Görlitzer Bahnhof. Ein Rettungswagen musste gerufen<br />

werden. Das passierte erst im letzten Jahr.<br />

Auch heute ist wieder eine ältere Frau beim Aussteigen<br />

gestürzt. Sie kam ohne fremde Hilfe nicht<br />

mehr hoch. Es gibt an einigen Türen einen sehr<br />

großen Spalt zwischen dem Fahrzeug und dem<br />

Bahnsteig. Groß genug, um eine erwachsene Person,<br />

die beim Ein- oder Aussteigen einen falschen<br />

Schritt macht, aufzunehmen. Warnschilder gibt<br />

es nicht. Die Lücke ist so groß, dass immer wieder<br />

neue Unfallgefahren entstehen. Hier wird älteren<br />

Menschen oft akrobatisches Geschick abverlangt,<br />

um in den Zug und wieder heraus zu kommen. Ich<br />

bin täglich mit der Bahn unterwegs und beobachte<br />

sehr oft, dass viele Rentner, sobald sie in den<br />

Zug steigen müssen, sich von anderen jüngeren<br />

Reisenden unter Druck gesetzt fühlen. Sie müssen<br />

schnell sein, dabei fällt vielen das Ein- und Aussteigen<br />

schwer. Obwohl sie noch körperlich und geistig<br />

fit sind, haben viele Rentner Angst vor der Zugreise.<br />

Sie haben das Gefühl, sie seien nicht mehr in<br />

der Lage, kleinste Dinge zu meistern.<br />

An etwa 1350 Bahnhöfen in Deutschland fehlt es<br />

an Aufzügen und Rolltreppen. Um zu ihrem Bahnsteig<br />

zu gelangen, müssen Senioren stattdessen<br />

steile Treppen nehmen. Doch viele haben Gehschwierigkeiten<br />

und brauchen einen Rollator. Für<br />

die Nutzer sind Treppen, Stufen und Kanten ein<br />

Ärgernis.<br />

Doch selbst diejenigen, die mit fremder Hilfe an<br />

den Bahnsteig gelangen, schaffen es oft nicht<br />

zum Zug. Senioren beklagen auch im Fernverkehr,<br />

dass die Bahn besonders oft die Reihenfolge ihrer<br />

Wagons ändert. Senioren, die einen Sitzplatz<br />

reserviert haben, müssen oft in kürzester Zeit<br />

von einem Ende des Bahnsteigs zum nächsten<br />

laufen. Viele schaffen das nicht. Für sie fährt der<br />

Zug ab, bevor sie überhaupt einsteigen können.<br />

Eine Bahnreise bedeutet für ältere Menschen eher<br />

Stress als Entspannung.<br />

Auch das Tarifsystem der europäischen Bahnen<br />

empfinden viele Senioren als undurchsichtig, hinzu<br />

kommt das Sprachproblem bei internationalen<br />

Zügen.<br />

Darüber hinaus zu unpünktlich, zu überfüllt und<br />

zu lärmbelästigend. Gerade im Sommer 2022, und<br />

in diesem Zusammenhang mit dem 9-Euro-Ticket,<br />

zeigt sich, dass Bahnreisen auch zum Horror werden<br />

können. Und wer schon einmal den Zug vor<br />

oder nach einem Fußball-Bundesliga-Spiel erwischt<br />

hat, weiß, was Lärmbelästigung wirklich<br />

bedeutet.<br />

Klar kann es bei der Bahn auch zu Verspätungen<br />

kommen, so wie Sie bei der Autofahrt auch in einen<br />

Stau geraten können. Gerade, wenn man umsteigen<br />

muss, kann dies zu Problemen führen. Die<br />

vorgegebene Taktung ist bei der Bahn minimal<br />

eingestellt. Manchmal liegen zwischen zwei Zügen<br />

nur zehn Minuten, um vom einen zum nächsten<br />

Zug umzusteigen. Für ältere Menschen ist das<br />

meist nicht zu bewältigen.<br />

Bahnreisende sollten keine Scheu haben, mal einen<br />

Mitreisenden anzufragen und zu bitten, ob<br />

er nicht bei den Koffern behilflich sein könnte. In<br />

der Regel ist jeder Mensch, gerade bei Senioren,<br />

behilflich mit dem Gepäck oder dem Finden des<br />

Sitzplatzes.<br />

Kathrin Drochmann<br />

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Einleitung<br />

3


Inflation – Lehren aus der Geschichte<br />

Inflationen kommen anfangs schleichend<br />

daher. Fast unmerklich steigen die Preise<br />

für Waren, welche man nicht täglich benötigt,<br />

danach langsam aber stetig auch<br />

die Preise für Grundnahrungsmittel und<br />

Dienstleistungen. Um die Bevölkerung<br />

nicht zu beunruhigen, werden offiziell einfache<br />

Begründungen wie Missernten, gestörte<br />

Lieferketten, lokale Kriege und Unruhen<br />

genannt. Die Ursachen liegen aber<br />

zumeist tiefer. 1923 ächzte Deutschland<br />

unter der Last des Versailler Vertrages, der<br />

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4<br />

Geschichte


Inflation – Lehren aus der Geschichte<br />

Deutschland zum alleinigen Kriegsschuldigen<br />

erklärte und das Deutsche Reich zu<br />

völlig überzogenen Reparationsleistungen<br />

an die Siegermächte verurteilte. Die vorhandene<br />

Geldmenge reichte nicht mehr<br />

aus, um die Wirtschaft am Laufen zu halten<br />

und die Siegermächte zu befriedigen.<br />

Außerdem musste die nach 1918 wieder<br />

auf eine zivile „Friedensproduktion“ umgestellt<br />

werden, Millionen von Kriegsversehrten<br />

und Hinterbliebenen wurden zusätzlich<br />

durch die Rentenkassen versorgt.<br />

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Geschichte<br />

5


Inflation – Lehren aus der Geschichte<br />

Zur Finanzierung behalf sich die Regierung<br />

mit einer zunehmenden Betätigung der<br />

Notenpresse – und nährte damit kräftig<br />

die bereits zu Kriegszeiten begonnene Inflation.<br />

Ab Juni 1923 wurde aus der bereits<br />

galoppierenden Inflation eine Hyperinflation.<br />

Das umlaufende Bargeld stieg auf<br />

die astronomisch anmutende Summe von<br />

500 Trillionen Mark (zum Vergleich: eine<br />

Trillion ist eine 1 mit 18 Nullen, also hier<br />

500.000.000.000.000.000.000 Mark). Hinzu<br />

kamen weitere 200 Trillionen Mark „Notgeld“,<br />

das von Gemeinden und Betrieben<br />

ausgegeben wurde.<br />

Rund 300 Papierfabriken und 150 Druckereien<br />

waren mit der Herstellung von<br />

Banknoten in Deutschland beschäftigt. In<br />

Görlitz gab der Magistrat der Stadt Görlitz<br />

bereits ab 1918 eigenes Notgeld heraus.<br />

Die größeren Betriebe, Hotels und Gaststätten<br />

folgten ab 1923 und gaben für ihre<br />

Belegschaft und Kunden jeweils eigenes<br />

Notgeld heraus. Dieses Notgeld wurde in<br />

der eigenen Firma und in der Regel in ganz<br />

Görlitz akzeptiert.<br />

Und während die Beträge auf den Geldscheinen<br />

immer größer wurden, sank die<br />

Kaufkraft der Währung ins Bodenlose. Vormals<br />

monatlich gezahlte Gehälter wurden<br />

bald wöchentlich und dann auch täglich<br />

ausbezahlt. Meine Oma musste damals<br />

als Kriegerwitwe noch in einer Weberei<br />

arbeiten, und ihr ältester Sohn, mein Onkel<br />

Horst, musste die Schule schwänzen,<br />

um vor dem Werktor auf den täglich ausgezahlten<br />

Lohn meiner Oma zu warten,<br />

mit dem Geld schnell zum Bäcker und<br />

zum Lebensmittelladen zu laufen, damit<br />

er das Nötigste einkaufen konnte. Denn<br />

wer das Geld nicht gleich ausgab, musste<br />

damit rechnen, dass es wenige Stunden<br />

später nur noch einen Bruchteil wert war.<br />

Das schiere Ausmaß des Geldverfalls zeigte<br />

sich im Alltag unter anderem bei den<br />

Preisen für die Lebensmittel, alltägliche<br />

Bedarfsartikel und Dienstleistungen, wie<br />

sie der Görlitzer Notar und Dichter Paul<br />

Mühsam in seinem Tagebuch penibel im<br />

Herbst 1923 festhielt. Danach kosteten:<br />

„Ein Liter Vollmilch 150 Milliarden Mark, ein<br />

Brötchen 30 Milliarden Mark, eine Zeitung<br />

100 Milliarden Mark, 1 kg Roggenmehl 5<br />

200 000 000 Mark, 1 kg Speck 56 000 000<br />

000 000 Mark, 1 kg Roggenmehl 5 200 000<br />

000 Mark, ein Pfund Butter 1 Billion und<br />

320 Milliarden Mark, ein Pfund Fleisch 1<br />

Billion und 200 Milliarden, ein Brot 360 Milliarden<br />

Mark, 1 kg Kartoffeln 600 000 000<br />

Mark, ein Telefongespräch 60 Milliarden,<br />

6<br />

Geschichte


7


Inflation – Lehren aus der Geschichte<br />

ein Paar Stiefel 7 ½ Billionen Mark, eine<br />

Rasur beim Friseur 120 Milliarden Mark,<br />

1 Paar Damen-Strümpfe 47 125 000 000<br />

Mark, 1 Herren-Anzug 15 000 000 000 000<br />

Mark“.<br />

Die Leitwährung war schon damals der<br />

amerikanische Dollar. Während zu Beginn<br />

des Weltkrieges der Dollarkurs bei<br />

4,20 Mark lag, stieg er nach Kriegsende<br />

auf 11,72 Mark für einen Dollar. Bereits<br />

1922 stieg der Kurs innerhalb des Jahres<br />

von 199,50 auf 1740 Mark für einen Dollar.<br />

Da die deutsche Wirtschaft bis dahin<br />

weitgehend autark war und die nötigsten<br />

Rohstoffe (Kohle und Eisenerz) sowie die<br />

Nahrungsmittel im Reich produziert wurden<br />

und die deutsche Wirtschaft fast alle<br />

Industrieprodukte selbst herstellte und<br />

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8<br />

Geschichte


Inflation – Lehren aus der Geschichte<br />

deswegen nur geringfügig von Importen<br />

abhängig war, wurde der Wertverlust der<br />

Mark im Inland noch nicht so drastisch<br />

empfunden. Doch 1923 änderte sich das<br />

Bild schlagartig. Der Dollarkurs stieg täglich<br />

von anfangs 7.580 Reichsmark auf 4,2<br />

Billionen für einen Dollar.<br />

Damit brachen Handel und Versorgung<br />

ein, die Insolvenzen und Konkurse waren<br />

kaum noch zu erfassen. Wer ein paar Dollar<br />

sein eigen nannte, konnte mit wenigen<br />

Dollars Ländereien, Immobilien und Fabriken<br />

für ein Trinkgeld erwerben. Während<br />

einheimische Mittelständler oft nicht mehr<br />

in der Lage waren, Löhne und benötigte<br />

Dienstleistungen korrekt zu bezahlen. Ich<br />

wunderte mich nach der Wende, als ich für<br />

eine Firma Immobilien in Berlin besorgen<br />

sollte, dass im Jahr 1923 fast alle großen<br />

Immobilien im Stadtzentrum an jüdische<br />

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Geschichte<br />

9


Inflation – Lehren aus der Geschichte<br />

Eigentümer gingen. Herr Salomon, ein<br />

schon hoch betagter Immobilienbesitzer<br />

aus New York, der seine dank der Restitution<br />

zurück erlangten Häuser in Berlin<br />

verkaufen wollte, erklärte mir seine Geschichte.<br />

Er war 1923 ein kleiner Schneider<br />

in Galizien und fast am Verhungern. Deshalb<br />

schrieb er an etliche Anverwandte<br />

in Amerika Bettelbriefe um ein paar Dollar.<br />

Ein Cousin aus Detroit antworte und<br />

übersandt ihm in einem Brief 10 Dollar. Mit<br />

diesem Vermögen fuhr er nach Berlin und<br />

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10<br />

Geschichte


Inflation – Lehren aus der Geschichte<br />

kaufte mehrere große Mietshäuser in Mitte<br />

und Prenzlauer Berg. Diese Umschichtungen<br />

des Vermögens im Jahre 1923 und in<br />

der späteren Weltwirtschaftskrise 1929 sowie<br />

die Not der Massen führten zum Hass<br />

auf die neureichen „Spekulanten“ und<br />

auch zum rasanten Aufstieg der NSDAP<br />

mit all den furchtbaren Folgen. Dieser Aspekt<br />

wird heute leider in der Geschichtsschreibung<br />

zu wenig beachtet. In der<br />

Reichshauptstadt Berlin spielten sich weithin<br />

beachtete Unruhen und Tragödien,<br />

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Geschichte<br />

11


Inflation – Lehren aus der Geschichte<br />

wie unzählige Selbstmorde ab. Aber auch<br />

in der Provinz, wie in Schlesien und besonders<br />

in Görlitz verarmten plötzlich viele,<br />

bis dahin Wohlhabende, und die einfachen<br />

Menschen kämpften gegen Hunger<br />

und Armut. Die damaligen Ratsherren versuchten<br />

die Not der Menschen zu lindern<br />

und die Wirtschaft in Görlitz am Laufen zu<br />

halten. Die Stadt Görlitz verfügte bis 1945<br />

rechts der Neiße über riesige Wald- und<br />

landwirtschaftlich genutzte Flächen. Mittendrin<br />

lag der wichtige Eisenbahnknotenpunkt<br />

Kohlfurt (heute polnisch Węgliniec)<br />

Hier kreuzten sich die wichtigen Linien<br />

nach Berlin, Posen und Görlitz, aber vor allem<br />

nach Breslau und ins oberschlesische<br />

Bergbaurevier, wo Kohle und wichtige Erze<br />

abgebaut und verarbeitet wurden.<br />

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12<br />

Geschichte


Inflation – Lehren aus der Geschichte<br />

Eine aus der Not geborene Finanzinnovation<br />

waren zu dieser Zeit „wertbeständige<br />

Anleihen“. Die Stadt Görlitz brachte 1923<br />

mit einer Kohlenwertanleihe wertbeständige<br />

Schuldverschreibungen in den Umlauf.<br />

Zum Ausbau der städtischen Überlandzentrale<br />

in Kohlfurt emittierte die<br />

Stadt Görlitz im September 1923 in drei Serien<br />

als wertbeständige Steinkohlenwertanleihe<br />

5%ige Schuldverschreibungen<br />

im Gesamtwert von 37.670 Tonnen ungesiebte<br />

Förderkohle ab Zeche Waldenburg<br />

(heute polnisch Wałbrzych). Diese Anleihe<br />

half der Stadt Görlitz, ihre wichtigsten Verpflichtungen,<br />

wie Unterhalt der Schulen,<br />

Gehälter für städtische Bedienstete usw. zu<br />

erfüllen. Übrigens wurde die Anleihe am<br />

15. April 1941 samt Zinsen korrekt durch<br />

die Stadt Görlitz zurück gezahlt.<br />

Im November 1923 wurde der Hyperinflation<br />

durch die Währungsreform mit der<br />

Einführung der Rentenmark endlich ein<br />

Ende gesetzt. Damit war die größte Währungskrise<br />

der deutschen Geschichte beendet<br />

und die Wirtschaft erholte sich in<br />

den folgenden 20er Jahren kräftig.<br />

Bertram Oertel<br />

Quelle: Görlitzer Papier-Notgeld<br />

von Heinz Schnabel<br />

(<strong>StadtBILD</strong>-Verlag, Görlitz 2006)<br />

Geschichte<br />

13


Deutungsstreit in Görlitz beendet:<br />

Jasper von Richthofen<br />

Die Häuser Nikolaistraße 5 und 6. (Foto: Frank Vater)<br />

Seit 1955 führte der Zirkel Görlitzer Heimatforscher<br />

als „Kulturgruppe des VEB<br />

Waggonbau Görlitz“ mit großem Engagement<br />

Untersuchungen zur Görlitzer Stadtgeschichte<br />

durch. Die Mitglieder erkundeten<br />

in der Altstadt Kellergewölbe und<br />

mittelalterliche Schwemmkanalisationen<br />

– sogenannte Ayzuchten. Es wurde gesammelt,<br />

vermessen, skizziert, fotografiert<br />

und Modelle wurden angefertigt.<br />

Beobachtungen in einem Gewölbekeller<br />

in der Nikolaistraße führten seit 1976 zu<br />

einem bis in die Gegenwart schwelenden<br />

Deutungsstreit. Die bislang unbeantwortete<br />

Frage war, ob in Görlitz die in<br />

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14<br />

Geschichte


Wasserbecken ist keine mittelalterliche Mikwe!<br />

Jasper von Richthofen<br />

Schriftquellen erwähnte Mikwe, ein jüdisches<br />

Ritualbad, tatsächlich immer noch<br />

als Baudenkmal im Keller des Hauses Nikolaistraße<br />

6 erhalten geblieben ist. Der<br />

Lehrer Wilfried Flaschel (1905-1985), bis<br />

1971 Leiter des Zirkels, veröffentlichte in<br />

der in Westdeutschland herausgegebenen<br />

Oberlausitzer Rundschau seinen Aufsatz<br />

„Das Judenbad in Görlitz“. Eine Erwiderung<br />

verfasste 1984 der Grabungstechniker<br />

bei den Städtischen Kunstsammlungen,<br />

Hans-Heinrich Mitschke (1948-2020), die<br />

allerdings nur als unveröffentlichtes Manuskript<br />

in den archäologischen Ortsakten<br />

vorliegt. Anlass für die erneute Beschäftigung<br />

war damals die Sanierung des Gebäudes<br />

in den Jahren 1982-1986.<br />

Um welche Art Baustrukturen handelt es<br />

sich und wie sind diese wirklich zu deuten?<br />

Befund<br />

Bei der Aufnahme des Kellers entdeckten<br />

die Heimatforscher im westlichen Gewölberaum<br />

ein etwa trapezförmiges Becken<br />

aus Granitplatten mit einer Sohle aus flach<br />

Das Becken im Keller Nikolaistraße 6, Blick auf die<br />

westliche Schildmauer. (Foto: Frank Vater 2015)<br />

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Geschichte<br />

15


Deutungsstreit in Görlitz beendet:<br />

Jasper von Richthofen<br />

Plan der Kelleranlage unter den Häusern Nikolaistraße 5 und 6. (Umzeichnung: Ole Harck)<br />

verlegten Ziegelsteinen. Das Bassin hat ein<br />

Außenmaß von 2,20-2,25 m auf 1,30-1,32<br />

m und eine Tiefe von 0,95-1,05 m. Es besitzt<br />

eine schmalere, ebenfalls rechteckige<br />

westliche Fortsetzung, die durch Ziegelsteine<br />

eingefasst ist. Weder wurde eine Einstiegstreppe,<br />

noch ein Abfluss beobachtet.<br />

Das bis heute wasserführende Becken wird<br />

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16<br />

Geschichte


Wasserbecken ist keine mittelalterliche Mikwe!<br />

Jasper von Richthofen<br />

durch einen flachen offenen Zulauf aus<br />

umgedrehten, ineinandergelegten Dachfirststeinen<br />

gespeist. Dieser Zulauf führt<br />

Wasser aus einem gemauerten Sammelbecken<br />

im räumlich verbundenen Keller des<br />

benachbarten Hauses Nikolaistraße 5 heran.<br />

In den Sammelschacht entwässert entlang<br />

der Wände des südlichen Kellerraums<br />

im Haus Nikolaistraße 5 eine Ringdrainage,<br />

die das auf dem anstehenden Felsen fließende<br />

Grundwasser aufnimmt. Mitschke<br />

datierte diese Drainage frühestens ins 18.<br />

Jahrhundert. Über den ehemaligen Fußbodenaufbau<br />

des Gewölbekellers fehlen<br />

weitere Angaben, sodass von einem gestampften<br />

Lehmfußboden auszugehen ist.<br />

Bauliche Veränderungen 1982-1986<br />

Anlässlich eines durch Regenwasser bedingten<br />

Teileinsturzes der westlichen<br />

Kellerschildwand erfolgte im Zeitraum<br />

1982-1986 zeitgleich mit der Sanierung<br />

des Hauses die Instandsetzung der Kelleranlage.<br />

Die Gewölbekeller, die Fußbodengestaltung<br />

sowie die Be- und Entwässerung<br />

des Beckens wurden durch die<br />

Das erneuerte Sandsteingerinne mit Wasserbecken<br />

im Keller Nikolaistraße 6, Blick auf die westliche<br />

Schildmauer. (Foto: Frank Vater 2015)<br />

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Geschichte<br />

17


Deutungsstreit in Görlitz beendet:<br />

Jasper von Richthofen<br />

Sanierungsarbeiten grundlegend umgestaltet.<br />

Originale Bausubstanz dürfte infolgedessen<br />

kaum mehr vorhanden sein.<br />

Die aus Dachfirststeinen gesetzte Zulaufrinne<br />

zum Becken ersetzte man durch ein<br />

offenes Sandsteingerinne und verlegte<br />

dieses bündig mit einem neuen Ziegelpflaster.<br />

Um das überschüssige Wasser aus<br />

dem Becken in den südlich angrenzenden<br />

Raum abzuführen und dort abzupumpen,<br />

verlegte man eine neue Grundleitung. Nur<br />

das eigentliche Becken mit Granitplatten<br />

und gepflasterter Sohle blieb weitgehend<br />

unverändert.<br />

Mikwen-Forschung<br />

Im Jahr 2005 untersuchte der Kieler Spezialist<br />

für jüdische Monumente und Prähistoriker<br />

Ole Harck die vermeintliche<br />

Görlitzer Mikwe. Religiöse Bestimmungen<br />

sehen vor, dass Mikwen von Frauen sieben<br />

Tage nach der Menstruation und vor<br />

der Hochzeit sowie nach einer Entbindung<br />

aufzusuchen sind. Männer und Frauen<br />

werden etwa durch die Berührung eines<br />

Leichnams „unrein“ und sollen das Bad zur<br />

rituellen Waschung besuchen. Ferner ist<br />

rituell verunreinigtes oder bei Nicht-Juden<br />

gekauftes Geschirr vor dem Gebrauch in<br />

der Mikwe zu säubern.<br />

Hinsichtlich der Art und Weise der Wasserzufuhr<br />

werden verschiedene Typen<br />

von Mikwen unterschieden. Die meisten<br />

bekannten mittelalterlichen Ritualbäder<br />

wurden wie auch das Görlitzer Bassin aus<br />

Grundwasser gespeist. Das Becken soll<br />

mindestens 250-800 Liter Wasser aufnehmen<br />

können und eine Tiefe von 1,20 m haben,<br />

damit eine Person durch das Beugen<br />

der Knie vollständig untertauchen könne.<br />

Die Tiefe des Görlitzer Beckens mit nur 1 m<br />

wäre nach Harck knapp ausreichend. Durch<br />

die Gemeinde genutzte Mikwen in eigens<br />

dafür errichteten Gebäuden, sogenannte<br />

„Monumental-Mikwen“ wie beispielsweise<br />

in Worms, Speyer, Andernach oder Köln, lagen<br />

im Mittelalter zumeist in oder nahe bei<br />

der Synagoge. Die Tauchbecken besaßen<br />

in der Regel einen quadratischen Grundriss<br />

mit fest eingebauten, häufig beckenbreiten<br />

Treppenstufen als Einstieg.<br />

Jüdische Ritualbäder mit fester Einstiegstreppe<br />

konnten sich vor allem seit<br />

der Neuzeit als sogenannte „Keller-Mikwen“<br />

auch in Privathäusern jüdischer Eigentümer<br />

befinden – wie etwa ein stadtarchäologischer<br />

Befund aus Chemnitz zeigt. Ob es sich<br />

dabei allerdings um privat genutzte oder<br />

öffentliche Bäder handelte, bleibt ungewiss.<br />

Für die rechteckige Form des Görlitzer<br />

Beckens gibt es ausschließlich neuzeitliche<br />

Entsprechungen. Neben eindeutigen oder<br />

wahrscheinlichen Mikwen stehen mittelalterliche<br />

und neuzeitliche Befunde, die zwar<br />

formal als Ritualbad hätten dienen können,<br />

denen aber jedwede urkundliche Bestätigung<br />

ihrer Funktion oder eindeutige Baubefunde<br />

fehlen. Ole Harck zählt das Görlitzer<br />

Becken entsprechend zur Gruppe baulicher<br />

Befunde, die mangels zusätzlicher Hinweise<br />

nicht eindeutig anzusprechen sind.<br />

Das Haus Nikolaistraße 6<br />

Seit der Zeit von 1675 bis 1813 beherbergte<br />

das Haus Nikolaistraße 6 eine „Schönfärberei“,<br />

deren Eigentümer in den Kaufbüchern<br />

etwa als „Nikolasfärber“ auftaucht.<br />

Hier wurden vor allem wertvolle Textilien<br />

18 Geschichte


Wasserbecken ist keine mittelalterliche Mikwe!<br />

Jasper von Richthofen<br />

Plan der Görlitzer Wasserleitung 1728. Kolorierte Federzeichnung von Johann Wilhelm Gehler.<br />

(RAG, in: Beschreibung der Wasserleitung in der Stadt Görlitz 1728)<br />

gefärbt. Bis 1837 hatte im Haus ein Tuchbereiter<br />

seinen Sitz, zu dessen Tätigkeiten<br />

ebenfalls das Färben gehörte. Beide<br />

Gewerbe benötigten für die Ausübung<br />

ihres Handwerks in erheblichem Umfang<br />

Wasser. Der Wasserbedarf konnte vermutlich<br />

nicht durch das im Becken vorhandene<br />

Grundwasser, das jahreszeitlichen<br />

Schwankungen unterworfen war, gedeckt<br />

werden. Die Dokumentation der Görlitzer<br />

Wasserversorgung von 1728, deren Leitungssystem<br />

bereits seit dem 14. Jahrhundert<br />

ausgebaut wurde, lässt daher beim<br />

Haus Nikolaistraße 6 einen Strang einer<br />

hölzernen Wasserleitung erkennen, welcher<br />

an der westlichen Seite in das Haus<br />

führte. Die Fließrichtung ist durch Pfeil<br />

markiert. Der Wasserauslass im Haus Nikolaistraße<br />

6 kann sich im Hinblick auf das<br />

notwendige Gefälle nur in jenem Keller<br />

befunden haben und hat vermutlich das<br />

Becken gespeist. Dennoch wäre auch eine<br />

spätere Zweitverwendung eines zunächst<br />

als Mikwe angelegten Bassins vorstellbar.<br />

Wie sieht es also mit den historischen Besitzverhältnissen<br />

des Hauses aus? Während<br />

der jüdischen Siedlungsphasen im<br />

14. Jahrhundert hat sich jüdisches Grundeigentum<br />

keineswegs nur auf die der Nikolaistraße<br />

benachbarte Judengasse, die<br />

heutige Jüdenstraße, im Sinne eines abgeschlossenen<br />

Viertels beschränkt. Entsprechend<br />

gab es gemäß der Besitzstandsbeurkundungen<br />

im ältesten Stadtbuch von<br />

1305 bis 1416 in der Judengasse auch<br />

christliche Hauseigentümer. Demgegenüber<br />

lässt sich in der Nikolaistraße – immerhin<br />

eine der wichtigsten Wegeachsen<br />

in die Stadt – nach Ausweis vorhandener<br />

Quellen kein einziger jüdischer Hausbe-<br />

Geschichte<br />

19


Deutungsstreit in Görlitz beendet:<br />

Jasper von Richthofen<br />

Das Bader-Haus Jüdenstraße 11 von 1720. (Foto: Frank Vater)<br />

sitzer nachweisen. Auch vor diesem Hintergrund<br />

erscheint also eine Deutung des<br />

Bassins in der Nikolaistraße 6 als Keller-<br />

Mikwe zumindest unwahrscheinlich.<br />

Judenbad und jüdisches Leben<br />

Eine jüdische Besiedlung wird in Görlitz<br />

vermutlich bereits seit Beginn der Stadtwerdung<br />

oder kurze Zeit später vorhanden<br />

gewesen sein. Die Begriffe „Judenschule“<br />

(1344) oder „Synagoge“ (1338)<br />

sowie „Judenkirchhof“ (1325) erscheinen<br />

bereits in den ältesten Aufzeichnungen<br />

aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts.<br />

Eine „Judenbadestube“ in der „Juden gaz-<br />

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20 Geschichte


Wasserbecken ist keine mittelalterliche Mikwe!<br />

Jasper von Richthofen<br />

Alte Synagoge von 1853 in der Langenstraße 24 nach der Sanierung, heute als privates Literaturhaus genutzt.<br />

(Foto: Frank Vater 2022)<br />

ze“ wird im Kontext von Besitzstandsverfügungen<br />

im Stadtbuch erstmals um das<br />

Jahr 1307?/1310 und dann wieder 1327,<br />

1336 und 1346 erwähnt. Die Tatsache,<br />

dass die Lage der Badestube in der Judengasse<br />

wiederum zur Lokalisierung anderer<br />

Häuser in der Judengasse verwendet<br />

wurde und auch die Badestube selbst Gegenstand<br />

von Besitzstandsverfügungen<br />

gewesen ist, spricht dafür, dass es sich dabei<br />

nicht um eine schlichte Keller-Mikwe,<br />

sondern um ein eigens dafür errichtetes<br />

Gebäude gehandelt hat. Im Jahr 1347<br />

übergaben die Bürger Schyban und Martin<br />

die Badestube in der „Judingasse“ an Johannes<br />

von Reichenbach, einen Christen.<br />

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Geschichte<br />

21


Deutungsstreit in Görlitz beendet:<br />

Jasper von Richthofen<br />

Der Görlitzer Historiker Richard Jecht deutete<br />

diese Übergabe als Hinweis auf die<br />

vor dem Hintergrund einer verheerenden<br />

Pestepidemie um das Jahr 1350 europaweit<br />

erfolgten Juden-Pogrome. Auch die<br />

Görlitzer Juden wurden in dieser Zeit vertrieben<br />

und die Gemeinde aufgelöst. Die<br />

Badestube in der Judengasse taucht im<br />

Stadtbuch fortan (1353, 1377, 1383) stets<br />

im Besitz von Christen auf. Im Jahr 1720<br />

kaufte der „Balneator“ (Bademeister) und<br />

Chirurg Johann Ernst Inniger das Grundstück<br />

Jüdenstraße 11 und errichtete dort<br />

im selben Jahr auf zwei durch den Brand<br />

von 1717 frei gewordenen Grundstücken<br />

das dort heute noch bestehende Gebäude.<br />

Bis 1849 blieb das Haus im Besitz von<br />

Badern. Genau dort wird wohl auch der<br />

Standort der Mikwe in der ersten Hälfte<br />

des 14. Jahrhunderts zu suchen sein. Eine<br />

archäologische Begleitung der Sanierung<br />

des Hauses Jüdenstraße 11 im Jahr 2016<br />

sowie archäologische Untersuchungen im<br />

Vorfeld der Errichtung des benachbarten<br />

Parkdecks blieben leider aus, sodass mögliche<br />

bauliche Hinweise auf eine Mikwe an<br />

dieser Stelle fehlen. Mit den urkundlichen<br />

Nachweisen darf die Görlitzer Mikwe während<br />

der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts<br />

dennoch als hinreichend lokalisiert<br />

gelten. Die mutmaßliche Keller-Mikwe in<br />

der Nikolaistraße 6 diente hingegen wohl<br />

profanen Funktionen und stammt aus<br />

dem 17. oder 18. Jahrhundert.<br />

Einweihung der Synagoge am 7. März 1911.<br />

(Foto: Robert Scholz, RAG)<br />

Im Zeitraum zwischen etwa 1350 und 1384<br />

sind dem Stadtbuch keine Hinweise auf in<br />

Görlitz ansässige Juden zu entnehmen,<br />

erst ab 1384 änderte sich dies. Fortan kauften<br />

wieder Juden Häuser und Grundstücke<br />

in Görlitz. Auch wurde 1388 – allerdings<br />

nunmehr in der Langenstraße – eine neue<br />

Synagoge errichtet. Ein „Judenbad“ taucht<br />

in den Quellen allerdings nicht mehr auf.<br />

Der Mittelpunkt jüdischen Lebens verlagerte<br />

sich in die „neue Judengasse“, die<br />

später in „Jüdenring“ umbenannt wurde,<br />

die heutige Hugo-Keller-Straße. Die mittelalterliche<br />

Geschichte der Juden in Görlitz<br />

endete jedoch nach wenigen Jahren mit<br />

ihrer erneuten Vertreibung im Jahre 1396.<br />

Erst knapp 450 Jahre später siedelten sich<br />

wieder Juden in der Stadt Görlitz an – ab<br />

22 Geschichte


Wasserbecken ist keine mittelalterliche Mikwe!<br />

Jasper von Richthofen<br />

Jüdischer Friedhof in der Biesnitzer Straße. (Foto: Görlitzer Sammlungen)<br />

1839 noch vereinzelt und ab 1847 dann als<br />

gleichberechtigte Bürger. Sie trugen viel<br />

zum Gemeinwesen der Stadtgesellschaft<br />

sowie zum wirtschaftlichen Erfolg von<br />

Görlitz im 19. und 20. Jahrhundert bei. Unter<br />

anderem verdankt das einstige Kaiser-<br />

Friedrich-Museum, Vorläufer des heutigen<br />

Kulturhistorischen Museums, dem Mäzenatentum<br />

einiger jüdischer Bürger seine<br />

Entstehung. Beginnend mit der Machtergreifung<br />

der Nationalsozialisten im Jahr<br />

1933 fand auch diese Siedlungsperiode<br />

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Geschichte<br />

23


Deutungsstreit in Görlitz beendet:<br />

Jasper von Richthofen<br />

Historisches Foto des Konzentration-Außenlagers Biesnitzer Grund. (Foto: RAG)<br />

durch Deportation, Vertreibung und Ermordung<br />

der Görlitzer jüdischen Glaubens<br />

oder jüdischer Herkunft ein nachhaltiges,<br />

beklemmendes und jähes Ende.<br />

Auch wenn in Görlitz nun keine mittelalterliche<br />

Mikwe mehr zu besichtigen ist, sind<br />

die Spuren jüdischer Geschichte dennoch<br />

vielfältig: Monumentale Zeugnisse sind<br />

die zwei erhaltenen Synagogen. Die sogenannte<br />

„alte Synagoge“ in der Langenstra-<br />

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24<br />

Geschichte


Wasserbecken ist keine mittelalterliche Mikwe!<br />

Jasper von Richthofen<br />

ße 24 wird heute als Literaturhaus genutzt.<br />

Im Gebäude hatte ursprünglich ein Theater<br />

seinen Sitz. Es wurde 1853 als Synagoge<br />

bezogen und 1869 umgebaut. Von<br />

der originalen Ausstattung ist nichts mehr<br />

erhalten. Bis zur Fertigstellung des opulenten<br />

Synagogen-Neubaus an der heutigen<br />

Otto-Müller-Straße 1911 blieb die<br />

alte Synagoge das Zentrum des jüdischen<br />

Gemeindelebens. Die neue Synagoge, ein<br />

herausragendes Architekturdenkmal des<br />

Reformstils von europäischer Bedeutung,<br />

wurde zwischen 1909 und 1911 nach Plänen<br />

der Dresdner Architekten Lossow &<br />

Kühne errichtet, die zeitgleich auch den<br />

Leipziger Hauptbahnhof bauten. Sie überlebte<br />

wie durch ein Wunder die sogenannte<br />

„Reichskristallnacht“ vom 9. November<br />

1938. Ergreifend ist die in ihrem geschändeten<br />

Zustand belassene Ehrentafel für<br />

die im Ersten Weltkrieg gefallenen Gemeindemitglieder.<br />

Nach dem Abschluss<br />

aufwendiger Sanierungsarbeiten wird der<br />

monumentale Bau seit 2021 als „Kulturforum<br />

Görlitzer Synagoge“ genutzt und ist<br />

zu besichtigen. Auch der neue jüdische<br />

Friedhof an der Biesnitzer Straße, auf dem<br />

1852 die erste Beisetzung stattfand, steht<br />

für Besuche zur Verfügung. Die Görlitzer<br />

Sammlungen für Geschichte und Kultur<br />

laden hier mehrmals im Jahr zu Führungen<br />

ein. Unmittelbar neben dem Friedhof<br />

liegt die noch unsanierte jüdische Feierhalle.<br />

Auf dem Friedhofsgelände befindet<br />

sich eine Gedenkstätte für hier beigesetzte<br />

Häftlinge des auf einem benachbarten Gelände<br />

errichteten KZ-Außenlagers Biesnitzer<br />

Grund, Außenstelle des KZ Groß Rosen<br />

in Niederschlesien. Das Lager existierte<br />

von August 1944 bis Mai 1945 und ist heute<br />

vollständig überbaut.<br />

Jasper von Richthofen<br />

Veranstaltungshinweis:<br />

Diesjährige Führungen<br />

auf dem Jüdische Friedhof<br />

mit Stadthistorikerin Ines Haaser<br />

von den Görlitzer Sammlungen:<br />

Sonntag, 23. April <strong>2023</strong><br />

und Sonntag, 30. Juli, jeweils 16 Uhr.<br />

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Geschichte<br />

25


Veranstaltungen zur Winterzeit den Görlitzer Sammlungen<br />

Winterferienprogramm<br />

Winterferienprogramm der Görlitzer Sammlungen – „Schnee und Eis in Görlitz und der Oberlausitz“<br />

14. bis 26. <strong>Februar</strong> <strong>2023</strong> im Kaisertrutz<br />

Für Ferienkinder<br />

Führungen für Kinder und Familien – „Die letzte Eiszeit in der Oberlausitz“<br />

Im Dauerausstellungsbereich „Von der Eiszeit bis ins frühe Görlitz“ werden in einer familienfreundlichen Führung die<br />

eiszeitliche Oberlausitz und ihr Tierreich beleuchtet. Dabei wird erkundet, wie Menschen damals lebten, jagten und<br />

sogar Kultur schufen. In der Führung ist Anfassen ausdrücklich erlaubt: Historisch exakt nachgebaute Objekte laden<br />

die Besucherinnen und Besucher zum Ausprobieren und Staunen ein.<br />

Termine: sonntags, 19.02.<strong>2023</strong> und 26.02.<strong>2023</strong>, jeweils 14 Uhr<br />

Dauer ca. 1 Stunde | Eintritt für Kinder von 6 bis 18 Jahre 4 €, Erwachsene regulär 8 €, ermäßigt 6 €,<br />

keine Voranmeldung nötig<br />

Führungen für Horte und weitere Kindergruppen – „Winterzeit in Görlitz und der Oberlausitz“<br />

Einige Bilder, die im Kaisertrutz zu sehen sind, liegen unter einer dicken Schneedecke. Ganz friedlich sieht es aus, leise<br />

und kalt. Dass der Winter – früher wie heute – aber nicht nur Gemütlichkeit, sondern auch jede Menge Spaß bietet,<br />

erfahren Kinder durch die Bilder und passende Geschichten, die die Winterfreuden früherer Zeiten beschreiben. Anschließend<br />

bauen sie einen Schneemann, der allen Temperaturen trotzt und mit nach Hause genommen werden kann.<br />

Buchbare Termine 14., 15.02. und 21., 22.02.<strong>2023</strong>, Beginn 10 Uhr<br />

Dauer ca. 2,5 bis 3 Stunden | Preis 4,00 € pro Kind (Eintritt, Führung und Materialkosten inkl.) – 2 Betreuer haben<br />

freien Eintritt | Voranmeldung bis zum Vortag der jeweiligen Veranstaltung bei Museumspädagogin Marie Karutz,<br />

03581/671417, m.karutz@goerlitz.de<br />

Ein Winterbild, dass im Ferienprogramm besprochen wird, ist „Demianiplatz im Winter“, um 1930. Es ist auch Titelbild<br />

der vorliegenden <strong>StadtBILD</strong>-Ausgabe.<br />

Es vermittelt einen Eindruck vom städtischen Leben in Görlitz in den Jahren der Weimarer Republik. Das Gemälde<br />

wird der Görlitzer Malerin Dora Kolisch (1887–1962) zugeschrieben wird. Die Szenerie auf dem verschneiten Platz vor<br />

dem Kaufhaus „Zum Strauß“ wirkt fast wie in einer quirligen Großstadt mit moderner Straßenbahn und zahlreichen<br />

Menschen, die ihrem Tagwerk nachgehen.<br />

Veranstaltungstipp für Geschichtsinteressierte:<br />

Die Stadt Görlitz unter den Wettinern 1635 – 1815<br />

Mitten im Dreißigjährigen Krieg mit dem Prager Frieden gelangten die beiden Lausitzen an das Kurfürstentum Sachsen.<br />

Nur langsam erholte sich Görlitz von den Folgen des Krieges. Während Zittau auf die Leineweberei setzte und<br />

zur reichsten Stadt in der Oberlausitz wurde, verpasste Görlitz seine Aufstiegschancen. Stadthistorikerin Ines Haaser<br />

nimmt im Kaisertrutz Geschichtsinteressierte mit auf eine aufschlussreiche Zeitreise.<br />

Sonntag, 5. <strong>Februar</strong> <strong>2023</strong> | 15 Uhr | Kaisertrutz | Kuratorenführung mit Stadthistorikerin Ines Haaser<br />

Weitere Informationen und Veranstaltungen unter www.goerlitzer-sammlungen.de<br />

Das Görlitzer Magazin Nr. 34 ist erschienen<br />

Das beliebte Magazin, das seit 1987 als jährliche Schriftenreihe erscheint, versammelt<br />

abwechslungsreiche populärwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte und<br />

Gegenwart der Stadt Görlitz und ihrer Umgebung. Es liegt seit Kurzem vor und ist<br />

in den Museumsshops der Görlitzer Sammlungen - im Kaisertrutz und dem Barockhaus<br />

(Neißstraße 30) - erhältlich.<br />

Hier auszugsweise nähere Informationen zu einigen Beiträgen und eine Übersicht<br />

über die weiteren Themen in dieser Publikation:<br />

Lars-Gunter Schier<br />

Der Münzschatz im Turmknopf der Zittauer Kreuzkirche – Eine Sternstunde der<br />

Görlitzer Numismatik<br />

Bis 1991 hatte niemand geahnt, dass sich im Knopf des Dachreiters – auf der Zit-<br />

26<br />

Ausblick


Veranstaltungen zur Winterzeit den Görlitzer Sammlungen<br />

Winterferienprogramm<br />

men. Mit diesem korrespondieren überraschenderweise etliche beigefügte Münzen und Medaillen. Dies macht den<br />

Turmschatz zu einem bemerkenswerten Geschichtszeugnis. Die aus kulturhistorischer Sicht wertvollste Münze aus<br />

dem Turmknopf ist ein Groschen der Stadt Görlitz von 1516 mit der Aufschrift „Neues Geld von Görlitz“. Sie ist das<br />

einzige bekannte Exemplar, weswegen der Beitrag dieser Münze ein besonderes Augenmerk schenkt.<br />

Rainer Appelt<br />

Das Wirken des Jenaer Wissenschaftlers Dr. Paul Rudolph bei Curt Bentzin und Hugo Meyer in Görlitz<br />

In diesem Beitrag werden berühmte Kamerainnovationen von Paul Rudolph (1858-1935) beschrieben, die der Görlitzer<br />

Hugo-Meyer-Optik zu Weltruf verhalfen. Doch viele Jahre zuvor entwickelte der Physiker und Mathematiker in der neu<br />

gegründeten Abteilung für Photoobjektive der Firma Carl Zeiss in Jena eine Vielzahl an legendären Objektiven wie Anastigmat,<br />

Planar, Unar und Tessar, das „Adlerauge“. Bei diesen innovativen Objekten kam das Prinzip der achromatischen, anastigmatischen<br />

Bildfeldebnung zur Anwendung, wodurch eine bisher nicht gekannte optische Leistung erreicht wurde. Nach<br />

einem Zerwürfnis mit seinem Arbeitgeber nahm er später ein Angebot des Zeiss-Konkurrenten Hugo Meyer aus Görlitz an.<br />

Stefanie Fink<br />

Erfeilschter Luxus. Die Villa Meißner von Cremer & Wolffenstein in Görlitz<br />

Dieser Aufsatz beschäftigt sich mit der Entstehung eines eindrucksvollen baulichen Zeugnisses der Görlitzer Stadtgeschichte,<br />

der Villa Meißner. Sie liegt am Rande des Görlitzer Stadtparkes im Lindenweg 4. Heute ist hier das „Kinderhaus<br />

Tausendfuß“ beheimatet. Die von den Architekten Wilhelm Cremer (1845-1919) und Richard Wolffenstein<br />

(1846-1919) entworfene und 1893/94 für den Görlitzer Unternehmer Oskar Meißner (1843-1931) errichtete Villa zeigt,<br />

von welcher Qualität der gehobene Wohnungsbau in Görlitz im ausgehenden 19. Jahrhundert war.<br />

Kai Wenzel<br />

Wiedergefunden! Kriegsverluste des Kulturhistorischen Museums Görlitz auf dem Kunstmarkt<br />

Der vorliegende Text greift die dramatischen Folgen der Teilung der Stadt Görlitz am Ende des Zweiten Weltkrieges für<br />

die Bestände der früheren Städtischen Kunstsammlungen, des heutigen Kulturhistorischen Museums, auf. Tausende<br />

Objekte, die kriegsbedingt in die östliche Umgebung der Neißestadt ausgelagert wurden, gelten noch immer als<br />

verschollen. Durch Plünderungen an den Auslagerungsorten gelangten einige Museumsstücke auf den Kunstmarkt.<br />

Über das Wiederfinden und über erfolgreiche, bedeutende Rückerwerbungen berichtet dieser Beitrag.<br />

Weitere Beiträge im Görlitzer Magazin Nr.34:<br />

Andreas Kieseler Die Herkunft des im Elbe-Weichsel-Raum auftretenden „Hacksilber-Schmucks“ –<br />

Ein interdisziplinäres Forschungsprojekt am Kulturhistorischen Museum in Görlitz<br />

Jasper von Richthofen Unter die Lupe genommen: Keine mittelalterliche Mikwe in der Görlitzer Nikolaistraße!<br />

(Mehr zu diesem Thema finden Sie in vorliegen <strong>StadtBILD</strong>-Ausgabe auf Seite 14)<br />

Albrecht Naumann Erinnerungen an den Herbst 1989<br />

Steffen Menzel „Für den Kenner interessant, für den Liebhaber instruktiv“ – Das ornithologische Kabinett der<br />

Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften (Teil 2)<br />

Steffen Menzel Aus der Arbeit der Oberlausitzischen Bibliothek der Wissenschaften im Jahr 2021<br />

Karin Stichel Die Digitalisierung und der Nachweis der wertvollen Sammlungen – OLB 4.0<br />

Kai Wenzel 10 Jahre Erna von Dobschütz Stiftung<br />

Ines Haaser, Kai Wenzel Neuerwerbungen<br />

Kai Wenzel Ein Leben für die Kunst – Nachruf auf Inga Arnold-Geierhos<br />

Zum Titelmotiv:<br />

Es zeigt den „Görlitzer Groschen“ (Probegroschen) von 1516, Münzstätte Görlitz. Dieser wurde 1991 im Turmknopf der<br />

Zittauer Kreuzkirche entdeckt und ist das einzige bekannte Exemplar. Mehr dazu im: Der Münzschatz im Turmknopf<br />

der Zittauer Kreuzkirche – Eine Sternstunde der Görlitzer Numismatik<br />

Das Görlitzer Magazin ist in den Museumsshops der Görlitzer Sammlungen, im Kaisertrutz und im Barockhaus,<br />

für 14 Euro erhältlich.<br />

Zudem kann es auch online bestellt werden über<br />

https://www.goerlitzer-sammlungen.de/goerlitzer-magazin-34.html<br />

oder über museum@goerlitz.de<br />

Ausblick<br />

27


Alt-Görlitz im Schnee<br />

im Schnee<br />

Drachenfels mit Lutherkirche um 1903<br />

Ein langer strenger Winter ist auch für Görlitz<br />

selten geworden. Mancher ist gar nicht<br />

unzufrieden darüber. Man spart Arbeit<br />

und Kosten für Heizung und Straßenreinigung.<br />

Die Schulkinder haben sich ihre<br />

Winterferien aber anders vorgestellt. Vor<br />

100 oder 80 Jahren gab es hier auch nicht<br />

nur Bilderbuchwinter mit Rodeln und<br />

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28 Winterliches


Als die Eiswiese zu ihrem Namen kam<br />

Alt-Görlitz im Schnee<br />

Kinderschlitten an der Goethestraße um 1904<br />

Schlittschuhlaufen, Schneemännern und<br />

Schneeballschlachten. Aber auch nach<br />

dem Jahresende zwischen Heiligabend<br />

und Neujahrsmorgen war noch manches<br />

zu erleben, was man später gern den Enkeln<br />

erzählte.<br />

Die Schüler fanden in ihrer „Schlesischen<br />

Fibel“ und in den fremdsprachlichen Lesebüchern<br />

so manches Gedicht (wie vom<br />

„Büblein auf dem Eis“) oder Lesestücke mit<br />

winterlichem Inhalt. In den Musikstunden<br />

an der Nikolaischule sang man: „Oh, wie ist<br />

es kalt geworden“. An der Rauschwalder<br />

Straße bauten die Kinder aus dem Vorderhaus<br />

und aus dem Hinterhaus auf dem Hof<br />

gemeinsam einen Schneemann mit einer<br />

langen Mohrrübe aus dem Kellervorrat als<br />

Nase, mit Steinkohlen als Augen und mit<br />

einem durchlöcherten Kochtopf als Hut.<br />

Die Mädchen an der Augustastraße streuten<br />

frisches Futter in das Vogelhäuschen<br />

am Fenster. Gegen eisigen Wind hängte die<br />

Großmutter Wolldecken vor die Fenster;<br />

sie reichten vom Fußboden bis etwa 20 cm<br />

oberhalb der Fensterbretter. Zwischen die<br />

Doppelfenster kamen eingerollte Decken<br />

als Schutz. Die größeren Jungen hatten zu<br />

tun, aus den Kellern Kohlen und Kartoffeln<br />

hochzuholen, aus den Öfen Asche in Eimer<br />

zu schaufeln und in die Aschegruben zu<br />

schütten, die man überall in einer Hofecke<br />

fand, tief ausgehoben, ummauert und mit<br />

einem dicken Stahlblech und einer Luke<br />

abgedeckt. Bei Neuschnee trug man die<br />

Teppiche aus den Nobelvillen am Mühlweg<br />

nicht wie sonst zur Klopfstange und<br />

Winterliches<br />

29


Alt-Görlitz im Schnee<br />

im Schnee<br />

Schlittschuhlauf hinter der alten Musikhalle am Neißeufer um 1905<br />

wirbelte beim Ausklopfen Staubwolken<br />

auf. Diesmal breiteten die Dienstmädchen<br />

und großen Jungen vorsichtig die Oberseite<br />

nach unten auf dem Schnee aus und<br />

ließen den Klopfer auf die Rückseite sausen.<br />

Der viereckige Schmutzabdruck war<br />

bald wieder zugeschneit.<br />

Die Polizei, damals noch in städtischer<br />

Verantwortung, achtete streng darauf,<br />

dass verschneite und vereiste Straßen begehbar,<br />

befahrbar und sicher blieben. Die<br />

Gehwege waren zu beräumen, zu fegen<br />

und mit Ofenasche abzustumpfen, was<br />

bei Tauwetter einen scheußlichen braunen<br />

Matsch hinterließ. Das Gerinne an<br />

den Bordsteinen war sauber freizuschaufeln,<br />

damit Tauwasser in die Gullys abfließen<br />

konnte. Neben der Fahrbahn war der<br />

Schnee fast meterhoch aufgetürmt, nur<br />

an einigen Hauseinfahrten blieb die lange<br />

Schneemauer unterbrochen. Manchmal<br />

dauerte es Wochen, bis das weggetaut<br />

war. Da hatten Hausverwalter und<br />

Dienstleute an der unteren Blumenstraße<br />

reichlich zu tun. Die vielen Pferdefuhrwerke,<br />

die Kohlen und Kartoffeln, Mehl und<br />

Holz brachten, sollten nicht ins Rutschen<br />

kommen. Bei Eisglätte wurden auch die<br />

wichtigsten Straßen bestreut. Von den<br />

Hauptstraßen aber transportierte man die<br />

Schneemassen mit Pferdewagen zur Straße<br />

nach Biesnitz und lud sie dort an einem<br />

Abhang auf der „Eiswiese“ zum Abtauen<br />

ab. (Der Name hat sich bis heute für den<br />

späteren Sportplatz dort erhalten.)<br />

Frühmorgens hauchten die Mädchen<br />

30 Winterliches


Als die Eiswiese zu ihrem Namen kam<br />

Alt-Görlitz im Schnee<br />

Biesnitzerstr. um 1911<br />

Löcher zwischen die Eisblumen an den<br />

Fensterscheiben der Goethestraße und<br />

jubelten, wenn die Eisenzäune der Vorgärten<br />

weiße Häubchen trugen. Nachmittags<br />

schoben oder zogen die älteren Geschwister<br />

die dick vermummten Kleinen in ihren<br />

Stuhlschlitten durch den Stadtpark oder<br />

ein Stück am Neißeufer entlang, wo man<br />

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Winterliches<br />

31


Alt-Görlitz im Schnee<br />

im Schnee<br />

Neue Eisbahn hinter der Stadthalle um 1912<br />

die Enten an ihren kleinen eisfreien Wasserlöcher<br />

füttern konnte. Nach der Schule<br />

zog es die Jungen und Mädchen zu den<br />

Rodelplätzen an der Lutherkirche oder<br />

im Kreuzkirchenpark oder an der „Kleinen<br />

Landeskrone“ östlich der Gartenstadt Rabenberg.<br />

Mutige Jugendliche rasten die<br />

1910 eröffnete Rodelbahn vom Gipfel der<br />

Landeskrone hinab, manchmal leider auch<br />

gegen einen Baum am Wege. Lehrjungen,<br />

Gymnasiasten und Luisenschülerinnen<br />

versuchten sich im eleganten Eislauf am<br />

Neißeufer zwischen Lindenweg und Stadthalle<br />

oder auf dem zugefrorenen Ausstellungsteich<br />

hinter der „Ruhmeshalle“. Für<br />

erwachsene Schlittschuhamateure mit ihren<br />

Damen spielte zuweilen auf dem Neißeeis<br />

das Garnisonmusikkorps schwungvolle<br />

Tänze. Die Kleinsten begeisterten<br />

sich an der weißen Mauer oder auf dem<br />

Wilhelmsplatz auf einer schmalen Schlitterbahn,<br />

nahmen mutig Anlauf und gingen<br />

dann im Schlittern in die Hocke zum<br />

bestaunten „Kauermännchen“. Dass man<br />

beim Sturz blaue Flecke am Knie bekam,<br />

galt als Ehrensache, nur „Heulsusen“ jammerten<br />

darüber und ernteten Spott.<br />

Hausfrauen und Dienstmädchen waren<br />

derweil zum Wochenmarkt an der Elisabethstraße<br />

unterwegs, vorüber an den<br />

mit Brettern verschalten Brunnensockelfiguren<br />

auf dem Postplatz und an den<br />

Gaslaternen mit ihren weißen Mützen. Die<br />

Schaufensterauslagen waren hinter Eisblumen<br />

fast verdeckt. Bauern aus Markersdorf<br />

oder Moys brachten ihre Waren auf<br />

32<br />

Winterliches


Als die Eiswiese zu ihrem Namen kam<br />

Alt-Görlitz im Schnee<br />

Pferdeschlitten; die Pferde hatten Decken<br />

über den Rücken gelegt, die Kutscher dicke<br />

Schals und tropfende rote Nasen.<br />

Familien mit höheren Einkommen gingen<br />

mit den Kindern zum Wintermärchen ins<br />

Theater oder zur Familienvorstellung mit<br />

halben Preisen am Nachmittag in eins der<br />

Varietés – die „Reichshallen“ an der Berliner<br />

Straße oder das „Wilhelmtheater“ hinter<br />

dem Kaufhaus von Louis Friedländer.<br />

Am Wochenende kamen Bekannte aus<br />

Rauschwalde, die einen Pferdeschlitten<br />

besaßen, und luden die Kinderschar zu<br />

einer Ausfahrt mit Glöckchengeläut nach<br />

Kunnerwitz oder Holtendorf ein.<br />

Danach war's auch zu Hause gemütlich.<br />

Kam man durchgefroren an, lehnte man<br />

sich gern mit dem Rücken und den klammen<br />

Fingern an die warmen Ofenkacheln.<br />

Großmutter setzte sich dicht am Fenster<br />

auf ihren Lehnstuhl, hüllte ihre Beine in<br />

eine Decke und öffnete den Nähkasten.<br />

Gerade im Winter gab es genug zu tun -<br />

Socken und Pullover stricken, Topflappen<br />

häkeln, Kinderstrümpfe stopfen. Dabei<br />

erzählte sie den Kleinsten, die es sich auf<br />

ihren Fußbänkchen rundum bequem gemacht<br />

hatten, zum wiederholten Male<br />

das Märchen von Schneewittchen und<br />

den sieben Zwergen. Großvater saß am<br />

Tisch, studierte im „Görlitzer Anzeiger“<br />

den Wetterbericht und brummelte sich<br />

etwas in den Bart, nachdem er den Artikel<br />

über die Finanzdebatte in der Stadtverordnetenversammlung<br />

gelesen hatte.<br />

Als er vorschlug, für ein paar Tage mit der<br />

Riesengebirgsbahn zu Tante Pauline nach<br />

Krummhübel zu fahren, versuchte Großmutter<br />

es ihm auszureden; sie habe zu viel<br />

zu tun, und nach Weihnachten sei auch<br />

Flaute im Portemonnaie.<br />

Skifahrer auf der Landeskrone, um 1929<br />

Warm war es nachts in den Kellerbackstuben,<br />

wo die Brote und Kuchen für den<br />

nächsten Morgen dufteten, ungemütlich<br />

kalt und feucht aber in den Kellerwohnungen<br />

der Tagelöhnerfamilien und in den<br />

Schlafkammern der Stallknechte. Armenärzte<br />

hatten Mühe, die Neugeborenen<br />

über den Winter zu bringen. Dennoch hatte<br />

der Winter auch in Görlitz seinen Zauber.<br />

Dr. Ernst Kretzschmar<br />

(gest. 4. Dezember 2020)<br />

Fotos: größtenteils Robert Scholz<br />

Winterliches<br />

33


Karl von Holtei: „Ich, der alte Polenfreund“.<br />

von Holtei<br />

Am 24. Januar <strong>2023</strong> jährte sich der Geburtstag<br />

des Breslauers Karl von Holtei.<br />

Auch wenn seine Werke heute kaum noch<br />

gelesen oder aufgeführt werden, ist er es<br />

wert, dass man an ihn erinnert – an einen<br />

Künstler, der auf seinem Gebiet fast alles<br />

konnte. In Görlitz erinnert die Holteistraße<br />

beim Schellergrund an den größten schlesischen<br />

Mundartdichter.<br />

Im Historischen Museum von Wroclaw, im<br />

alten Breslauer Rathaus, steht seine Büste;<br />

eine von fünfundzwanzig, mit denen an<br />

verdienstvolle und berühmte Breslauer<br />

Bürgerinnen und Bürger erinnert wird. Und<br />

in Oberniki/Obernigk trägt ein allgemeinbildendes<br />

Gymnasium seinen Namen: Karl<br />

von Holtei. Hier in Oberniki hat er im Sommer<br />

seine Kindheit verlebt. Er starb mit 82<br />

Jahren in Breslau, am 12. <strong>Februar</strong> 1880. 143<br />

Jahre ist das nun her. Gerhart Hauptmann<br />

wohnte dem eindrucksvollen Begräbnis<br />

von Holtei als 18-jähriger bei und schrieb<br />

in seinen Lebenserinnerungen: „In corpore<br />

wohnten wir eines Tages dem Begräbnis<br />

Karl von Holteis bei. Ich hatte die schöne<br />

auffällige Greisenerscheinung mit dem<br />

weißen, bis auf die Schulter hängenden<br />

wohlgepflegten Haar einmal auf der Straße<br />

gesehen. Ein unauslöschlicher Eindruck<br />

ist mir davon zurückgeblieben. Nun lag er<br />

im Sarg und wurde zur letzten Ruhe getragen.<br />

Ich hatte den Eindruck, dass die ganze<br />

Stadt mit ihm zu Grabe zog. ...Ich war gerührt,<br />

als ich einen Jungen, der auf einem<br />

Lattenzaune saß, immer wieder sagen hörte:<br />

Das ist der größte deutsche Dichter gewesen!<br />

Das ist der größte deutsche Dichter<br />

gewesen! wiederholte er, unter eigener<br />

Rührung lehrhaft umherblickend“.<br />

Wer war Karl von Holtei? Der Germanist<br />

Professor Karl Weinhold beschrieb das<br />

Wesen Holteis anlässlich dessen 81. Geburtstages<br />

so: „Holtei ist ein vielseitig entwickeltes<br />

Wesen, er ist Dichter, Redakteur,<br />

Schauspieler, Liedersänger, künstlerischer<br />

Vorleser, Meister im plaudernden Gespräch<br />

und im Briefwechsel gewesen. Er<br />

war ein wilder fahrender Geselle und ein<br />

fleißiger Bücherschreiber, er verlor sich in<br />

leichtsinniges, törichtes Treiben und gab<br />

sich kindlich weich dem stillen Leben der<br />

Natur hin und lauschte den ernsthaften<br />

Geheimnissen der menschlichen Seele.<br />

Eine dunkle Macht jagte ihn in früher Ju-<br />

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34<br />

Persönlichkeit


Zum 225. Geburtstag des schlesischen Multitalents<br />

Karl von Holtei<br />

Karl Eduard von Holtei (1798-1880). Bildrechte: IMAGO / H. Tschanz-Hofmann<br />

gend auf die wirren Pfade seines Lebens.<br />

Und dieser Macht ist er gefolgt, wohin sie<br />

ihn führen wollte, ohne ihr ein bewusstes<br />

Wollen entgegen zu stellen“.<br />

Karl von Holtei verfasste etwa 120 Werke,<br />

darunter zahlreiche Bühnenstücke, Lieder,<br />

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Persönlichkeit<br />

35


Karl von Holtei: „Ich, der alte Polenfreund“.<br />

von Holtei<br />

Erzählungen, Romane und autobiografische<br />

Schriften. Als künstlerische Leistung<br />

von bleibendem Wert werden seine<br />

„Schlesischen Gedichte“ angesehen.<br />

Berlin, Riga und Graz sind Städte, in denen<br />

sich Holtei jeweils einige Jahre aufgehalten<br />

hat. Längere Gastspiele und Reisen<br />

führten ihn aber auch nach Dresden, Prag<br />

Wien, Paris, Hamburg, Düsseldorf, Weimar<br />

und zu weiteren Orten. Er führte ein ruheloses<br />

Wanderleben, aber er litt wohl stets<br />

an Heimweh nach Breslau, wo er immer<br />

wieder zurückkehrte. Sein in schlesischer<br />

Mundart verfasster Wunsch „Heem will ich,<br />

suste nischt ock heem“ (nach Hause will<br />

ich, sonst nichts wie nach Hause) ist fast<br />

als Hilferuf zu verstehen.<br />

Josef von Eichendorff lernte er schon 1822<br />

in Breslau kennen. Es entwickelte sich eine<br />

langjährige Freundschaft. Gustav Freytag<br />

schreibt in seinen „Erinnerungen aus meinem<br />

Leben“: „Karl von Holtei war 1842<br />

wieder nach Breslau gekommen und hatte<br />

die künstlerische Leitung des Stadttheaters<br />

übernommen. Wir wurden bald gute<br />

Bekannte, saßen neben einander am Mittagstisch<br />

und spielten Domino um den<br />

Kaffee. Mir wurde er lieb und wertvoll, weil<br />

es kaum einen Zweiten gab, der mit Personen<br />

und Verhältnissen der deutschen<br />

Bühnen so bekannt war wie er“.<br />

In den Jahren 1837-1841, als Holtei Theaterdirektor<br />

in Riga war, wurde Richard<br />

Wagner – erst 24 Jahre alt – dort für zwei<br />

Jahre sein Theaterkapellmeister, aber die<br />

beiden verstanden sich nicht besonders<br />

gut.<br />

Und nicht zu vergessen: Weimar. Holtei,<br />

der inzwischen als Schriftsteller Erfolg hatte,<br />

vor allem mit Theaterstücken, wurde im<br />

Frühjahr 1827 von Goethe mit den Worten<br />

empfangen: „Es ist mir lieb, daß ich Sie<br />

auch einmal zu sehen bekomme“.<br />

Zum Zeitpunkt dieser ersten Begegnung<br />

war Holtei 29 Jahre alt, Goethe bereits 77.<br />

Holtei blieb länger als vorgesehen in der<br />

kleinen Residenzstadt, wurde von Goethe<br />

häufiger zum Essen geladen, freundete<br />

sich mit Goethes Sohn August an und<br />

lernte Johanna Schopenhauer kennen, die<br />

in Weimar einen literarischen Salon unterhielt.<br />

Sie war die Mutter des Philosophen<br />

Arthur Schopenhauer. Holteis Rezitationsabende<br />

wurden auch hier gut besucht.<br />

1829, 1830 und 1831 sind ebenfalls Besuche<br />

von Holtei bei Goethe dokumentiert.<br />

Und die tiefe Freundschaft zu Johanna<br />

Schopenhauer dauerte fort.<br />

1830 waren seine „Schlesischen Gedichte“<br />

erschienen. Negative Kritik erntete er<br />

dafür ausgerechnet von seiner Vaterstadt.<br />

Goethe jedoch, der Nichtschlesier, hatte<br />

die Mundart-Gedichte sogar in einem eigenen<br />

Aufsatz begrüßt. Anerkennung bekam<br />

er auch von Jacob Grimm.<br />

Als der deutsche Dichterfürst gestorben<br />

war, war Holtei im preußischen Berlin der<br />

Initiator und Veranstalter einer am 10. April<br />

1832 gehaltenen würdigen Totenfeier<br />

für Goethe. Seine zweite Frau, die Schauspielerin<br />

und Sängerin Julie Holzbecher,<br />

feierte hier zu dieser Zeit große Bühnenerfolge,<br />

darunter auch in Stücken ihres Mannes.<br />

Sie verstarb 1839 in Riga.<br />

Die erste Frau Holteis, Luise Rogee, war<br />

eine beliebte Schauspielerin am Breslauer<br />

Theater gewesen. Sie war mit 25 Jahren<br />

nach nur 4-jähriger Ehe gestorben.<br />

August Kopisch, mit dem Holtei zusammen<br />

in einer Klasse das Maria-Magdalenen-Gymnasium<br />

zu Breslau besucht hatte,<br />

war ebenso Mitglied des „Breslauer Künst-<br />

36<br />

Persönlichkeit


Zum 225. Geburtstag des schlesischen Multitalents<br />

Karl von Holtei<br />

lerverein“ wie Holtei, Eichendorff, Gustav<br />

Freytag und Hoffman von Fallersleben.<br />

Und als Ferdinand Lassalle, Gründer der<br />

Sozialdemokratischen Partei Deutschlands<br />

und auch ehemaliger Schüler des<br />

Magdalenengymnasiums, in Breslau zu<br />

Grabe getragen wurde, begleitete ihn Karl<br />

von Holtei zur letzten Ruhe auf dem Jüdischen<br />

Friedhof.<br />

Eine ganz besondere Beziehung begann<br />

1844: Holtei lernte den Breslauer Domprediger<br />

kennen, einen der damals bedeutendsten<br />

Kanzelredner im katholischen<br />

Deutschland: Heinrich Förster. Der<br />

protestantisch erzogene Holtei und der<br />

katholische Kirchenmann verstanden sich<br />

sofort. Aber es gab auch Meinungsverschiedenheiten<br />

wegen der unterschiedlichen<br />

Religionen. Eines Tages kam es zum<br />

Zerwürfnis. Holtei zog 1849 nach Graz zu<br />

seiner Tochter. Förster wurde 1853 Fürstbischof<br />

von Breslau. Es kam dann aber wieder<br />

zur Annäherung zwischen den beiden.<br />

Und als Holtei 1863 wieder nach Breslau<br />

zurückkam, besuchte er den Fürstbischof.<br />

Vom Frühjahr 1863 bis 1872 weilte Holtei<br />

oft mehrmals in der Woche zum Mittagsmahl<br />

bei seinem Freund, dem Fürstbischof.<br />

Doch es kam noch einmal zu einem<br />

Zerwürfnis, das zum Ende dieser Beziehung<br />

führte.<br />

Am 12. <strong>Februar</strong> 1880 starb Karl von Holtei<br />

im „Brüderkloster“. Er wurde in Breslau<br />

auf dem St. Bernhardin Friedhof beerdigt.<br />

Einen großen Teil seines Lebens hat er in<br />

dem umfangreichen Werk „Vierzig Jahre“<br />

niedergeschrieben. Es erschien 1862 in<br />

erster Auflage bei Holteis Breslauer Verleger<br />

Eduard Trewendt.<br />

Kathrin Drochmann<br />

Impressum:<br />

Herausgeber (V.i.S.d.P.):<br />

<strong>StadtBILD</strong>-Verlag<br />

eine Unternehmung der<br />

incaming media GmbH<br />

vertreten durch den Geschäftsführer<br />

Andreas Ch. de Morales Roque<br />

Mitglied im Deutschen Fachjournalistenverband<br />

Carl-von-Ossietzky-Straße 45 | 02826 Görlitz<br />

Tel. 03581 87 87 87 | Fax: 03581 40 13 41<br />

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Mo. - Fr. von 9.00 bis 16.00 Uhr<br />

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Erscheinungsweise: monatlich<br />

Redaktion & Inserate:<br />

Andreas Ch. de Morales Roque<br />

Kathrin Drochmann<br />

Dipl. - Ing. Eberhard Oertel<br />

Bertram Oertel<br />

Layout:<br />

Kathrin Drochmann<br />

Lektorat:<br />

Wolfgang Reuter, Berlin<br />

Teile der Auflage werden kostenlos verteilt, um<br />

eine größere Verbreitungsdichte zu gewährleisten.<br />

Für eingesandte Texte & Fotos übernimmt der Herausgeber<br />

keine Haftung. Artikel, die namentlich<br />

gekennzeichnet sind, spiegeln nicht die Auffassung<br />

des Herausgebers wider. Anzeigen und redaktionelle<br />

Texte können nur nach schriftlicher Genehmigung<br />

des Herausgebers verwendet werden.<br />

Redaktionsschluss:<br />

Für die nächste Ausgabe (März)<br />

ist am 15.02.<strong>2023</strong><br />

Persönlichkeit 37


Was Unternehmer <strong>2023</strong> wissen müssen<br />

ETL-Steuerberatung<br />

Schlussabrechnungen der Corona-Hilfen stehen an<br />

Unternehmer, die Überbrückungshilfe I bis IV sowie November- oder Dezemberhilfe durch prüfende Dritte (im Regelfall der Steuerberater)<br />

beantragt haben, sind verpflichtet, bis zum 30. Juni <strong>2023</strong> eine Schlussabrechnung einzureichen. Voraussetzung ist, dass<br />

bereits Bescheide der Bewilligungsstellen vorliegen. Die Schlussabrechnung darf ebenfalls nur durch den prüfenden Dritten im Antragsportal<br />

der Bundesregierung erfolgen. Seit dem 5. Mai 2022 ist die Einreichung der Schlussabrechnung für die Überbrückungshilfe<br />

I bis III sowie die November- und Dezemberhilfe im sog. „Paket 1“ möglich. Die Abrechnung der Überbrückungshilfe III Plus und<br />

Überbrückungshilfe IV erfolgt seit 15. November 2022 im sog. „Paket 2“. Für beide Pakete wird es voraussichtlich im ersten Halbjahr<br />

<strong>2023</strong> möglich sein, auf Einzelfallbasis elektronisch eine Fristverlängerung bis zum 31. Dezember <strong>2023</strong> zu beantragen.<br />

Kleine Photovoltaikanlagen bleiben steuerfrei<br />

Einnahmen und Entnahmen im Zusammenhang mit dem Betrieb von begünstigten (kleinen) Photovoltaikanlagen bleiben rückwirkend<br />

ab dem Jahr 2022 steuerfrei. Und dies ganz automatisch per Gesetz. Die Steuerbefreiung gilt in zwei Fällen: Einerseits für<br />

Photovoltaikanlagen auf, an oder in Einfamilienhäusern einschließlich Nebengebäuden (z. B. Garage, Carport) oder nicht Wohnzwecken<br />

dienenden Gebäuden (z. B. Gewerbeimmobilie) mit einer installierten Bruttoleistung von bis zu 30 Kilowatt-Peak (kWp).<br />

Andererseits bleiben Einnahmen und Entnahmen von auf, an oder in sonstigen Gebäuden (Mehrfamilienhäuser, gemischt genutzte<br />

Gebäude) vorhandenen Photovoltaikanlagen mit einer installierten Bruttoleistung von bis zu 15 kWp je Wohn- oder Gewerbeeinheit<br />

steuerfrei. Insgesamt darf die Leistung maximal 100 kWp pro Steuerpflichtigen oder Mitunternehmerschaft betragen. Die Steuerbefreiung<br />

gilt auch unabhängig von der Verwendung des erzeugten Stroms. Bei nicht gewerblich tätigen Personengesellschaften<br />

kommt es durch den Betrieb einer begünstigten Photovoltaikanlage nicht mehr zu einer gewerblichen Infektion z. B. der Vermietungseinkünfte.<br />

Nullsteuersatz für Lieferung von Photovoltaikanlagen<br />

In das Umsatzsteuergesetz wird ein neuer Steuersatz von 0 Prozent eingeführt. Dieser gilt ab dem Jahr <strong>2023</strong> für alle Lieferungen von<br />

Solarmodulen an den Betreiber einer Photovoltaikanlage, einschließlich der Stromspeicher, wenn die Photovoltaikanlage auf oder<br />

in der Nähe von Privatwohnungen, Wohnungen sowie bestimmten öffentlichen Gebäuden eingebaut wird. Diese Voraussetzungen<br />

gelten als erfüllt, wenn die Leistung der Photovoltaikanlage nicht mehr als 30 kWp betragen wird. Begünstigt sind ebenfalls der<br />

innergemeinschaftliche Erwerb, die Einfuhr und die Installation solcher Anlagen. Die Neuregelung hat den Vorteil, dass Betreiber<br />

einer Photovoltaikanlage ohne steuerliche Nachteile die Kleinunternehmerregelung nutzen können, während der leistende Unternehmer<br />

weiterhin den vollen Vorsteuerabzug aus seinen Eingangsleistungen erhält.<br />

Weiterhin ermäßigter Umsatzsteuersatz auf Restaurationsleistungen<br />

Für Speisen – aber nicht für Getränke – gilt seit Januar 2021 ein ermäßigter Steuersatz von 7 Prozent. Die Anwendung des ermäßigten<br />

Steuersatzes wurde mehrfach verlängert, zuletzt bis zum 31. Dezember 2022. Angesichts der noch immer schwierigen<br />

wirtschaftlichen Gesamtlage hat die Bundesregierung den ermäßigten Steuersatz nochmals bis zum 31. Dezember <strong>2023</strong> verlängert.<br />

Umsatzsteuer auf Gas und Fernwärme befristet gesenkt<br />

Der Umsatzsteuersatz für Gaslieferungen über das Erdgasnetz und die Lieferung von Wärme über ein Wärmenetz wird befristet<br />

vom 1. Oktober 2022 bis zum 31. März 2024 von 19 Prozent auf 7 Prozent gesenkt. Nicht entscheidend ist dabei, um welche Art<br />

von Gas es sich handelt (z. B. Biogas oder Erdgas). Ebenso erfasst sind Lieferungen von Gas, die vom leistenden Unternehmer per<br />

Tanklastwagen zum Leistungsempfänger für die Wärmeerzeugung transportiert werden. Ermäßigt besteuert wird auch die Einspeisung<br />

von Gas in das Erdgasnetz. Da Gas- und Wärmelieferungen erst mit Ablauf des jeweiligen Ablesezeitraums als ausgeführt zu<br />

behandeln sind, unterliegt der Gas- oder Wärmeverbrauch eines Kunden dann in vollem Umfang dem Steuersatz, der am Ende des<br />

Ablesezeitraums gilt – selbst dann, wenn zu Beginn dieses Zeitraums noch ein anderer Steuersatz gegolten hat. Abschlagsrechnungen<br />

brauchen nicht korrigiert zu werden (auch nicht für Zwecke des Vorsteuerabzugs). Gegenüber vorsteuerabzugsberechtigten<br />

Unternehmern können Abschläge somit im gesamten Zeitraum mit dem Regelsteuersatz von 19 Prozent Umsatzsteuer abgerechnet<br />

werden, die dann erst mit der jeweiligen Schlussabrechnung korrigiert werden müssen.<br />

Investitionsfristen nochmals verlängert<br />

Investitionsabzugsbeträge sind grundsätzlich bis zum Ende des dritten auf das Wirtschaftsjahr des jeweiligen Abzugs folgenden<br />

Wirtschaftsjahres für begünstigte Investitionen zu verwenden. Anderenfalls sind sie rückgängig zu machen. Für steuerliche Investitionsabzugsbeträge<br />

nach § 7g EStG, die für die Jahre 2017 bis 2019 gebildet wurden, gelten andere Fristen. Teilweise wurden<br />

sie wegen der Corona- Pandemie bereits mehrfach verlängert und nun wurden sie erneut bis zum 31. Dezember <strong>2023</strong> verlängert.<br />

Durchschnittssteuersatz für Land- und Forstwirte gesenkt<br />

Für nicht buchführungspflichtige Land- und Forstwirte besteht die Möglichkeit, ihre Umsätze nach einem Durchschnittsteuersatz zu<br />

besteuern. Voraussetzung ist, dass die Umsätze 600.000 Euro nicht übersteigen. Nachdem der Durchschnittsteuersatz für das Jahr<br />

2022 auf 9,5 Prozent gesenkt wurde, erfolgt zum 1. Januar <strong>2023</strong> eine erneute Senkung auf 9,0 Prozent.<br />

Billigkeitsmaßnahmen für notleidende Unternehmen<br />

Corona und Energiekrise – Unternehmen haben viele Herausforderungen zu meistern. Das Bundesministerium für Finanzen hat die<br />

Finanzämter angewiesen, bei Anträgen auf Billigkeitsmaßnahmen (wie Anträge auf Stundung oder Anpassung von Steuervorauszahlungen)<br />

bis Ende März <strong>2023</strong> zeitnah zu entscheiden und dabei für Steuerbeträge des Jahres 2022 keine strengen Anforderungen<br />

zu stellen. Dies betrifft vor allem die Anpassung und rückwirkende Herabsetzung von Vorauszahlungen sowie das Absehen<br />

von Stundungszinsen (bei Stundungen von bis zu drei Monaten). Durch gleichlautende Erlasse der obersten Finanzbehörden der<br />

Länder wurden die Billigkeitsmaßnahmen auch auf die Gewerbesteuer übertragen. Bis Ende März <strong>2023</strong> können die Gewerbesteuer-<br />

Vorauszahlungen für den Erhebungszeitraum 2022 (rückwirkend) auf Antrag herabgesetzt werden.<br />

Autor: Ulf Hannemann, Freund & Partner GmbH (Stand: 30.12.2022)<br />

38<br />

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