140_Ausgabe Maerz 2015
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Vorwort<br />
Liebe Leserinnen, liebe Leser,<br />
mit gemischten Gefühlen las man die Pressemitteilung,<br />
im Görlitzer Rathaus erwäge man, die Denkmalpflege der<br />
Stadt in die Verantwortung des Landkreises zu geben.<br />
Sofort erinnerte man sich an jene irrwitzigen Urteile hiesiger<br />
Unternehmervertreter, die Denkmalpflege sei der<br />
Sargnagel für jeden Fortschritt in Görlitz, und an den forschen<br />
Ausspruch eines Stadtrates, man lebe nicht mehr<br />
im 19. Jahrhundert. Andererseits gab es sogar einmal<br />
jene unbekümmerte Kühnheit, Kulturhauptstadt Europas<br />
oder Welterbe zu werden. Noch weiß man nicht, wie sich<br />
die zuständige Landesbehörde, die Deutsche Stiftung<br />
Denkmalschutz oder andere überregionale Fachorgane<br />
dazu verhalten werden. Ist es gar nur ein Schnellschuß<br />
bürokratischer Krämerseelen, um Personalkosten zu sparen<br />
und dann andererseits Prestigevorhaben großzügig<br />
zu finanzieren? Der Landkreis Görlitz, dem die Stadt seit<br />
der Selbstaufgabe der Kreisfreiheit durch die Stadträte<br />
angehört, hat eigenständige Aufgaben in der Denkmalpflege.<br />
Er kümmert sich um Rathäuser und Bürgerbauten<br />
der kleineren Städte, um ländliches Brauchtum und Umgebindehäuser,<br />
um Schloßruinen und historische Landtechnik,<br />
um Kirchen und Kriegsgräber. Nicht einmal dafür<br />
reichen Geld und Personal aus. Görlitz ist zuständig für<br />
tausende Denkmale unterschiedlicher Baustile, darunter<br />
einige von nationaler Bedeutung. Unter Fachleuten, bürgerschaftlichen<br />
Vereinigungen und in der Bevölkerung<br />
regt sich Protest gegen die Absicht, die eigene Denkmalpflegeeinrichtung<br />
abzugeben. Aber Stadpolitiker sprechen<br />
sogar in der Presse den Bürgern Urteilsvermögen<br />
ab und machen Demokratie zu einer Floskel; man kennt<br />
das von früher und sehr viel früher. Frohlocken werden<br />
Immobilienhaie, Billigsanierer, Grundstücksspekulanten,<br />
Tiefgaragenliebhaber, Betonklotzarchitekten und Fassadenbeschmierer.<br />
Jeder Schlag gegen eine sachkundige,<br />
beratungsfreundliche, aber im Grundsatz standpunktfeste<br />
Denkmalpflege schadet der Stadt – ihrer Anziehungskraft<br />
für Touristen, die hier etwas Einmaliges erleben möchten,<br />
für Industrieinvestoren, die ein kulturvolles Umfeld<br />
erwarten, und ihrer Wirkung auf die Heranwachsenden,<br />
die stolz auf ihre schöne Heimat sein sollen, um später<br />
mit Herz und Verstand für das Gedeihen der Stadt zu wirken.<br />
Was würden die verdienten Denkmalschützer sagen,<br />
die nicht mehr unter uns sind, denen die Stadt aber viel<br />
verdankt, die Ehrenbürger Professor Dr. Ernst-Heinz Lemper<br />
(Museumsdirektor und Denkmalschutzbeauftragter),<br />
Professor Hans Nadler in Dresden, Professor Dr. Gottfried<br />
Kiesow an der Spitze der Deutschen Stiftung Denkmalschutz,<br />
für den Görlitz als „schönste deutsche Stadt“ galt,<br />
Günter Hain mit seinen zahllosen Gemälden, Aquarellen<br />
und Zeichnungen mit Stadtmotiven, Horst Wenzel mit<br />
seinen populären Druckschriften über Görlitzer Kirchen?<br />
Oder Horst Kranich und Siegfried Hirche, geehrt mit dem<br />
Meridian des Ehrenamtes für ihre Forschungen und Pflegearbeiten<br />
auf dem Nikolaifriedhof? Was wird der Spender<br />
der deutschlandweit legendären alljährlichen „Altstadtmillion“<br />
empfinden? Und wie undankbar erweisen<br />
wir uns alle gegenüber all den privaten Sponsoren und<br />
den Zuwendungen aus europäischen, Bundes- und Landesmitteln,<br />
den privaten Investoren von hunderten von<br />
Gebäudesanierungen vornehmlich in den 1990er Jahren?<br />
Wie rechtfertigen wir das Vertrauen in die Stadt, das mit<br />
der Einrichtung der Jugendbauhütte (Scharfrichterhaus<br />
und Karpfengrund) und der Weiterbildungsstätte der<br />
Deutschen Stiftung Denkmalschutz (Waidhaus, Karpfengrund)<br />
ausgedrückt wurde? Wie mißachten wir den jahrzehntelangen<br />
Einsatz von städtischen Denkmalpflegern<br />
wie Michael Vogel und Peter Mitsching! Der Aktionskreis<br />
für Görlitz, der bereits 1989 entstand und dem auch ich<br />
angehöre, fordert nachdrücklich den Verbleib der Denkmalpflegebehörde<br />
in der Stadt. Tun Sie es auch, laut und<br />
bestimmt! Darum bittet ihr<br />
Ernst Kretzschmar<br />
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Einleitung<br />
3
Nikolator<br />
Das Nikolaitor –<br />
Nikolaitor und Nikolaiturm (IV.) nach einer Zeichnung von Fritsch<br />
Dass auch die älteste Stadtanlage in Görlitz<br />
schon befestigt war, unterliegt keinem<br />
Zweifel. Sie wird kaum anders als durch<br />
Erdwerke und Palisaden ausgeführt gewesen<br />
sein. Eine Verstärkung dürfte nach<br />
Abschluß des Sechsstädtebundes 1346<br />
erfolgt sein, der sich nachdrücklich gegen<br />
das Raubritterwesen richtete, ganz<br />
besonders aber nach der Einführung des<br />
Schießpulvers, das die Görlitzer seit 1394<br />
benutzten.<br />
Das Nikolaitor mit seinem Turm war einst<br />
einer der wichtigsten Punkte dieses Bollwerkes,<br />
welches sich mit seiner doppelten,<br />
selten sogar dreifachen Mauer um die<br />
Stadt zog. Der Gesamtumfang der damaligen<br />
Stadtmauer von 2460 Metern läßt diese<br />
heute nahezu imposant erscheinen.<br />
Die innere Mauer war demnach sehr stark<br />
und hatte einen überdachten Wehrgang<br />
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4<br />
Geschichte
Nikolaitor<br />
das zweitälteste Tor der Stadt<br />
und Schießscharten, die sich von Turm zu<br />
Turm erstreckten.<br />
Das Nikolaitor wurde bereits auf den ersten<br />
Blättern des alten Görlitzer Stadtbuches<br />
im Jahre 1305 genannt. Der Sage<br />
nach wird sogar behauptet, dass Herzog<br />
Sobieslaus es im Jahre 1131 erbaut hätte.<br />
Zweifellos ist es das zweitälteste der Neißestadt.<br />
Wenn 1344 von einer „Hofestatt“<br />
unter dem St.-Nikolaus-Turme zwischen<br />
der Mauer die Rede ist, so bestätigen dies<br />
alte Bilder und Pläne, nach denen man an<br />
ein dreifaches Tor denken kann.<br />
Das erste Tor führte von der Nikolaistraße<br />
durch die innere Stadtmauer, das zweite,<br />
das durch ein starkes Fallgitter bewehrt<br />
war, durch die Außenmauer des Zwingers,<br />
während das dritte Tor, das sich unter dem<br />
Torhause öffnete, an den Graben und die<br />
Zugbrücke stieß, die, wenn sie aufgezogen<br />
war, das Tor völlig bedeckte.<br />
<strong>140</strong>0 wurde ein neues Torhaus, an dem<br />
früher seit 1399 Halseisen befestigt waren,<br />
geschaffen, und 1428 entstand wegen der<br />
Hussitengefahr ein weiterer Wehrgang.<br />
In dieser ersten Gestalt stand es bis zum<br />
Brand im Jahre 1456, der das Tor bis auf<br />
die Umfassungsmauern zerstörte.<br />
Bereits im folgenden Jahr wurde es in der<br />
früheren Festigkeit neu aufgebaut und<br />
hielt so lange Jahre trotz manchen Weterschlages<br />
und mancher Veränderung.<br />
Auch in Friedenszeiten war das Tor stets<br />
bewacht. 1489 setzte der Rat der Stadt<br />
Görlitz einen besonderen Wächter an das<br />
Tor, der den Bierschmuggel des Pfarrers<br />
der Nikolaikirche in die innere Stadt verhindern<br />
sollte, da die Geistlichkeit zu dieser<br />
Zeit nur die Befugnis hatte, lediglich<br />
auf dem Pfarrhofe für sich und die Kleriker<br />
fremdes Bier zu halten. Der Pfarrhof und<br />
der alte Nikolaifriedhof wurden seinerzeit<br />
selbst von Mauern umschlossen, die lange<br />
Zeit den Namen „Biermauer“ trugen, weil<br />
frühere Pfarrer fremdes Bier gegen die<br />
verbrieften Rechte der Stadt hereinholten<br />
und sogar an Fremde veräußerten, was zu<br />
bitteren Kämpfen zwischen Rat und Geistlichkeit<br />
führte. Dieser Bierstreit beschäftigte<br />
König und Bischof durch Jahre.<br />
Auf der Abbildung auf Seite 6 sehen wir<br />
den Turm noch mit der gotischen Spitze<br />
und der „überhängenden Wehre“ geschmückt,<br />
bis ein neuer Brand im Jahre<br />
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Geschichte<br />
5
Nikolator<br />
Das Nikolaitor –<br />
Nikolaiturm und – tor im Mittelalter<br />
1717 Tor und Turm in gleicher Weise zerstörte.<br />
Nach dem erneuten Brande von 1726 erhielt<br />
der Turm die heutige Gestalt mit seiner<br />
neuen Haube, und seit bereits 1568<br />
hatte die Torbrücke steinerne Pfeiler mit<br />
Nikolaiturm und – tor um 1840<br />
Bogen als Durchlässe. (siehe Bild rechts)<br />
Im Jahre 1774 wurden Zugbrücke und<br />
Fallgatter entfernt. Bis 1752 ging man von<br />
der Stadtmauer aus auf einer Treppe hoch<br />
zum Turm, und erst im genannten Jahr<br />
wurde ein Eingang ebenerdig hergestellt.<br />
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6<br />
Geschichte
Nikolaitor<br />
das zweitälteste Tor der Stadt<br />
1848 wurde leider dann das ehrwürdige<br />
Nikolaitor abgebrochen, und nur das<br />
Wachhaus fristete, weil es den Weg nicht<br />
„einengte“, noch für kurze Zeit sein reichbewegtes<br />
Leben.<br />
Von ganz besonderem Reiz ist das nebenstehende<br />
Bild aus dem Jahre 1773. Abgesehen<br />
vom Tor fesselt uns der Anblick der<br />
Häuser am Eingang des Steinweges und<br />
der Lunitz, wo wir linker Hand an der Ecke<br />
des Nikolaigrabens einen schönen Renaissancegiebel<br />
aus dem 16. Jahrhundert<br />
sehen, und rechts ist das Haus des sogenannten<br />
„Jesusbäckers“, an dem eine „Kapelle“<br />
für die Prozessionen zum Heiligen<br />
Grab errichtet gewesen war. Von der Seite<br />
sehen wir, dass diese Kapelle einst von einem<br />
Dach geschützt war. Vom Nikolaitor<br />
führt die Krebsgasse an der Mauer hin.<br />
Hier hatten die Dominikaner aus Bunzlau<br />
bis 1456 ihre Terminei, und in eins der<br />
Häuser wurde die „Alte Schule“ verlegt,<br />
bevor sie 1565 ins Gymnasium kam. An<br />
ihrer statt entstand dann dort 1573 die<br />
erste allgemeine deutsche Knabenschule<br />
mit vier Lehrern. Krebsgasse und Karpfengrund<br />
boten sonst die Wohnungen für<br />
Nikolaiturm und – tor um 1773<br />
Geistliche, Altaristen, den Organisten und<br />
hatten auch ein „Seelhaus“, das 1537 ans<br />
Frauenhospital überging.<br />
Nach: Ludwig Feyerabend:<br />
Alt Görlitz einst und jetzt, 1927<br />
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Geschichte<br />
7
Der Nikolaiturm –<br />
Dort, wo der Ursprung der Stadt Görlitz<br />
lag, im Nikolaiviertel, erhebt sich seit uralten<br />
Zeiten der heute 45 Meter hohe Nikolaiturm.<br />
Er war zum Schutz des Nikolaitores,<br />
des nördlichen Ausgangs der Stadt,<br />
errichtet worden.<br />
Viele Unglücksfälle trugen zur heutigen<br />
Gestalt des Nikolaiturmes bei. Den größten<br />
Einfluss hatten die Stadtbrände von<br />
1717 und 1726. Sah man bis dahin den<br />
Nikolaiturm mit einem offenen Wehrgang<br />
und einer gotischen Spitze, so erfolgte<br />
1727 seine Umgestaltung. Er erhielt eine<br />
zusätzliche Etage und als Bekrönung eine<br />
barocke Haube mit einer Laterne, in der<br />
die Glocke hängt.<br />
1848 wurden das Torhaus und die Stadtmauer<br />
abgetragen. Seitdem präsentiert<br />
sich der schlichte, 9,30 Meter dicke Turm<br />
freistehend als markanter Punkt im Nikolaiviertel.<br />
Die Nachrichten über Erneuerungsbauten,<br />
Aufsetzen eines neuen Knopfes oder einer<br />
Wetterfahne sowie über neue Glocken<br />
wiederholen sich in den vielen Jahren.<br />
Deshalb soll hier nur noch über die Glocken<br />
berichtet werden.<br />
1532 erfolgte der erste Glockeneinbau.<br />
1559 kam eine Glocke von der Annenkapelle<br />
auf den Nikolaiturm, welche aber<br />
1585 auf den Rathausturm umgehangen<br />
wurde. Die Glocke von 1669 trug die Inschrift<br />
„Multum in republica valent tempora“<br />
– „Viel bedeuten im Gemeinwesen die<br />
Zeiten“.<br />
Diese Glocke wurde Opfer des Stadtbrandes<br />
von 1717. Der Glockengießer Benjamin<br />
Körner aus Sorau bekam den Auftrag<br />
zum Neuguss einer Glocke. Die neue Glocke<br />
hat einen Durchmesser von 1,18 Meter,<br />
eine Höhe von 0,55 Meter und wiegt<br />
etwa 970 Kilogramm.<br />
In einem Schmuckband trägt sie folgende<br />
Inschrift: A. MDCCXVII. ULT. IUL. FEURALI<br />
INCENTO ADUSTA. MDCCXIX. DIE X. AUG.<br />
SUB CONSS. L. AB. FR. NIC. S. KN. AR. I.<br />
G. P. C. M. A. M. FORM. RESTITUTA. Soravia.<br />
Soli DEO. GLORIA“ – „Im Jahre 1717,<br />
am letzten (Tag) des Juli in einer schrecklichen<br />
Feuersbrunst verbrannt. 1719 am<br />
10. August unter der Gemeinschaft Abraham<br />
Friedrich Nicius, Samuel Knorr Bürgermeister,<br />
Johann Georg Pauli, Christian<br />
Moller von Mollerstein, In der Form wieder<br />
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8<br />
Geschichte
Der<br />
und die<br />
Nicolaiturm<br />
Görlitzer Heimatforscher<br />
Die Glocke des Nikolaiturmes<br />
hergestellt in Sorau. Gott allein die Ehre“.<br />
So hängt sie noch heute unter der Laterne<br />
und verkündet jede Stunde.<br />
Bis 1904 war der Nikolaiturm bewohnt.<br />
Man kann sich schwer vorstellen, unter<br />
welchen Bedingungen die Türmerfamilie in<br />
den alten Gemäuern hauste, wenn sogar<br />
der Magistrat zu der Erkenntnis gelangte,<br />
dass dieses Wohnen nicht mehr der Zeit<br />
entsprach. Das Tor gab es nicht mehr zu<br />
beschützen, die Feuersicherheit war durch<br />
in der Stadt verteilte Feuermelder gewährleistet,<br />
und das Schlagen der Glocken<br />
übernahm ein elektrisches Schlagwerk.<br />
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Geschichte<br />
9
Der Nikolaiturm –<br />
Die Türmerfamilie zog in die Stadt, und ein<br />
sehr alter und für die damalige Zeit wichtiger<br />
Berufsstand ging zu Ende.<br />
65 Jahre wurde es still um den Nikolaiturm.<br />
Nur wenn die Glocke nicht mehr<br />
schlug, verirrte sich ein Elektriker auf den<br />
Turm. 1969 wählten zwei Studenten der<br />
TU Dresden, Sektion Architektur, unter der<br />
Leitung von Dr.-Ing. Klemm, den Nikolaiturm<br />
zu ihrem Studiumobjekt. Neben dem<br />
Vermessen sollte der Turm gegründet werden,<br />
und da besann man sich der Görlitzer<br />
Heimatforscher, welche mit Kellergrabungen<br />
von sich reden machten. Deshalb auch<br />
der Spitzname des Vereins „Kellerasseln“.<br />
Die Grabungen im Nikolaiturm mussten ab<br />
einer bestimmten Tiefe abgebrochen werden,<br />
wegen Sicherheitsproblemen, nicht<br />
für den Turm, sondern für die Grabenden.<br />
Und wieder zog für zwei Jahre Ruhe<br />
in den Turm ein, bis 1971 der damalige<br />
Zirkelleiter Herbert Köppert den Vorschlag<br />
unterbreitete, den Nikolaiturm durch den<br />
Verein zum Museum auszubauen. Unbürokratisch<br />
stimmte die Stadt der Idee zu,<br />
und Denkmalpflege und Kulturamt signalisierten<br />
ihre Unterstützung.<br />
Was erwartete die Heimatforscher? Im<br />
Eingangsbereich 5.000 alte Dachziegel<br />
und ein Holzverschlag, welcher den Treppenzugang<br />
versperrte. Neben den vorhandenen<br />
zwei Türmerstuben mit Öfen in<br />
der 6. und 7. Etage waren die Räume der<br />
5., 6. und 7. Etage durch Holztrennwände<br />
in einzelne Kammern unterteilt. Und Taubendreck<br />
bis zum „Gehtnichtmehr“. Aber<br />
das alles sollte kein Hindernis sein. Was<br />
soll man jetzt an Arbeiten aufzählen und<br />
was weglassen? Neun Jahre steckte der<br />
kleine Trupp jede freie Minute in den Turm.<br />
Viele freiwillige Helfer standen ihnen zur<br />
Seite. Und damit die Besucher nicht einen<br />
kahlen Turm besichtigen, wurden in jeder<br />
Etage eine Ausstellung vorbereitet und die<br />
Türmerstuben wohnlich gestaltet.<br />
Am 13. und 14. September 1980 waren<br />
die Görlitzer zur ersten Besichtigung eingeladen.<br />
Die Besucherschlange zog sich<br />
die Nikolaistraße hoch, und wer den Turm<br />
erklommen hatte, war voll des Lobes für<br />
die geleistete Arbeit.<br />
Die 90er Jahre waren noch einmal entscheidend<br />
für das Aussehen des Nikolaiturmes.<br />
1994 erfolgte eine vollständige<br />
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10<br />
Geschichte
Der<br />
und die<br />
Nicolaiturm<br />
Görlitzer Heimatforscher<br />
Heimatforscher und Helfer 1976 im Nikolaiturm<br />
Sanierung im Innern. Neue Fenster, neue<br />
Elektrik, neue Beleuchtung, teilweise neue<br />
Treppenstufen und Dielen und der Einbau<br />
einer Brandmeldeanlage. Aber damit<br />
nicht genug. 1996 wurde die Dachhaube<br />
saniert. Eine neue Wetterfahne schmückt<br />
seitdem den Nikolaiturm.<br />
Wer aber sind die Leute, die ihre ganze<br />
Freizeit in den Nikolaiturm investieren?<br />
1955 fand eine Stadtführung bei den Teilnehmern<br />
so großes Interesse, dass sich<br />
zehn Personen zusammenfanden und am<br />
09.09.1955 den „Zirkel Görlitzer Heimatforscher“<br />
ins Leben riefen.<br />
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Geschichte<br />
11
Der Nikolaiturm –<br />
Als Arbeitsgemeinschaft des Kulturhauses<br />
„Karl Marx“ war der Waggonbau der Trägerbetrieb.<br />
Neben dem Vertrautmachen<br />
mit der Geschichte der Stadt Görlitz wurden<br />
gleich von Anfang an praktische Arbeiten<br />
durchgeführt. So erfolgte die Freilegung<br />
von mehreren Grabsteinen auf dem<br />
Nikolaifriedhof. Im Rahmen der Stadtkernforschung<br />
wurden über 200 Keller untersucht,<br />
vermessen, skizziert und fotografiert.<br />
Dabei wurde auch der Brunnen in<br />
der Neißstraße 8 entdeckt. 1962 verlegte<br />
der Zirkels seine Arbeitsräume vom Kulturhaus<br />
auf die Langenstraße 41, dem „Schrickelschen<br />
Haus“. Natürlich wurde intensiv<br />
zur Familie Schrickel und zum ehemaligen<br />
Schrickelschen Garten geforscht und die<br />
Ergebnisse veröffentlicht.<br />
Das Kulturhaus und somit der VEB Waggonbau<br />
trug die anfallenden Betriebskosten<br />
im Nikolaiturm und auf der Langenstraße.<br />
Mit der Wende und der Wiedervereinigung<br />
war der Waggonbau nicht mehr an<br />
Kulturarbeit interessiert, und alle Arbeitsgruppen<br />
standen auf der Straße. Im Kulturamt<br />
fanden die Heimatforscher einen<br />
neuen Ansprechpartner. 1990 erfolgte die<br />
Eintragung des Zirkels im Vereinsregister.<br />
Somit konnte die Stadt auch eine materielle<br />
Unterstützung gewähren. Die Reprivatisierung<br />
des Hauses Langenstraße trieb<br />
die Mietskosten der Arbeitsräume in die<br />
Höhe, und 1997 wurde diese Förderung<br />
gestrichen. Rettungsanker war der „Aktionskreis<br />
für Görlitz“, welcher bis 2005 die<br />
Heimatforscher finanziell unterstützte.<br />
Geschichte und Geschichten des Nikolaiturms<br />
sind unerschöpflich, und hinter jedem<br />
Ausstellungsstück verbirgt sich wieder<br />
eine neue Geschichte.<br />
Über 48.000 Besucher haben sich bisher<br />
von der Einmaligkeit des Nikolaiturmes<br />
und der Vielfalt der Ausstellungen überzeugt.<br />
Fundiert geben die 11 Mitglieder<br />
der Görlitzer Heimatforscher ihr Wissen an<br />
die Besucher weiter.<br />
Dieser kleine Kreis von Mitstreitern bemüht<br />
sich, den Nikolaiturm so lebendig<br />
wie möglich zu gestalten.<br />
Jährliche Sonderausstellungen zu stadtgeschichtlichen<br />
Themen laden zusätzlich<br />
zum Besuch ein.<br />
In diesem Jahr wird an das Ende des 2.<br />
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12<br />
Geschichte
Der<br />
und die<br />
Nicolaiturm<br />
Görlitzer Heimatforscher<br />
Türmerstube der 6. Etage<br />
Weltkrieges erinnert und welche Spuren<br />
er in der Stadt Görlitz hinterlassen hat.<br />
Von Ende April bis Ende Oktober ist der<br />
Nikolaiturm geöffnet. Die genauen Öffnungszeiten<br />
sind dem Internet, der Tagespresse<br />
oder dem Aushang am Turm zu<br />
entnehmen. Gruppenführungen werden<br />
nach Anmeldung zu allen Zeiten durchgeführt.<br />
Claus Bernhard, Görlitz<br />
„Zirkel Görlitzer Heimatforscher e. V.“<br />
Langenstr. 41, 02826 Görlitz<br />
Tel.: Claus Bernhard 03581/310087<br />
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Geschichte<br />
13
Nikolaistraße 5 -<br />
5<br />
Die einstige Nikolaigasse, später dann<br />
auch Nikolaistraße, wurde erstmals im<br />
Jahr 1305 erwähnt.<br />
Bereits im Jahre <strong>140</strong>3 hatte sie nach dem<br />
verschollenen Geschoßregister 28 Wirte,<br />
zu jener Zeit mit 28 Häusern gleichsetzbar,<br />
wobei heute noch 14 Häuser existieren.<br />
Dies wird ein Ergebnis der zahlreichen<br />
Brände sein, unter anderem in den Jahren<br />
1456, 1642, 1691 und natürlich auch dem<br />
Brand 1717, dem bekanntlich ja auch das<br />
Nikolaitor und der Nikolaiturm zum Opfer<br />
fielen. Die Nachfolgen dieser Brände<br />
müssen also viele Veränderungen mit sich<br />
gebracht haben. Manche der Häuser, so<br />
die Nummern 1, 3, 5, 7 und 12, sind auf<br />
mehreren früheren Hausstellen nach den<br />
Bränden aufgebaut worden. Dies deutet in<br />
jedem Falle die verschiedenen Geschoßhöhen<br />
der einzelnen Häuser.<br />
Die Nikolaigasse 5 hat ein Rundbogenportal<br />
aus der Renaissancezeit, welches mit<br />
schrägen Pfosten umrahmt wird. In den<br />
Zwickeln und an den Pfosten finden sich<br />
imposante Ornamente. Der Mittelkragstein<br />
zeigt einen Anker, weshalb das Haus<br />
wohl auch „Zum Silbernen Anker“ genannt<br />
Nikolaigasse 5<br />
wurde. Dies wiederum läßt darauf schließen,<br />
das hier einst einer der weit über 300<br />
Brauhöfe der inneren Stadt angesiedelt<br />
war. Leider war bei unseren Recherchen<br />
nicht mehr in Erfahrung zu bringen.<br />
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14<br />
Geschichte
Hotel Paul Otto<br />
Paul Otto<br />
Portal, Nikolaigasse 5<br />
Für Hinweise, wie es zum Namen des „Silbernen<br />
Ankers“ kam, sind wir natürlich jederzeit<br />
gern aufgeschlossen.<br />
Links neben der Tür befand sich ein Fenster,<br />
das beinahe bis in den Boden reichte<br />
und Renaissanceformen trug. Um 1700<br />
besaß das Haus der Stadtschreiber Gottfried<br />
Gerlach und dann seit mindestens<br />
1790 bis 1862 Christian Gottfried Tobias<br />
und seine Nachkommen.<br />
Zu DDR Zeiten verkam auch dieses Kleinod<br />
in der Altstadt und wurde selbst nach<br />
der Wende nicht wachgeküsst. Es verfiel<br />
immer mehr und führte ein trauriges Dasein<br />
inmitten einer nahezu wiederhergestellten<br />
Nikolaistraße.<br />
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Geschichte<br />
15
Nikolaistraße 5 -<br />
5<br />
Das einzige Augenmerk für das graue<br />
Haus in der Nikolaistraße galt dem „Jüdischen<br />
Bad“, welches sich in den Kellerräumen<br />
des Hauses befindet. Dies war<br />
bei den zahlreichen Besuchern, die Görlitz<br />
nach der Wende besuchten, immer wieder<br />
ein Touristenmagnet.<br />
Der Zulauf von der Peterskirche (links oben)<br />
Im Jüdischen Bad<br />
So berichtet Frau Burkhardt, die die Führungen<br />
in das Jüdische Bad seit vielen<br />
Jahren leitet:<br />
„Bei diesem Aushang bleiben immer wieder<br />
viele Touristen, die unsere Stadt besuchen,<br />
an der Nikolaistraße 5 stehen.“<br />
Die 20-minütige Führung, die täglich von<br />
10.00 - 12.00 Uhr und nach Vereinbarung<br />
buchbar ist, beginnt mit dem Entstehen<br />
des jüdischen Viertels in Görlitz im Mittelalter.<br />
Von der Ansiedlung der Juden im<br />
Jahr 1329 und auch ihrer Vertreibung im<br />
Jahre 1389.<br />
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16<br />
Geschichte
Hotel Paul Otto<br />
Paul Otto<br />
Nikolaistraße 6 (vorn) und 5 (links) im Juli 1981<br />
Sie werden dann 6m unter die Erde geführt<br />
in die Keller der Mikwe. Hier werden<br />
dann die mit dem Tauchbad verbundenen<br />
Rituale und auch Sitten und Gebräuche<br />
des jüdischen Lebens dem Besucher dargelegt.<br />
Sie erfahren, wann die jüdische<br />
Zeitrechnung begann, und vieles mehr.<br />
Den wirklich schrecklichen Zustand der<br />
beiden Häuser auf der Nikolaistraße 5 und<br />
6 zeigt das Bild oben. Die unteren Fenster<br />
teilweise zugemauert, die Türen mit Holz<br />
verkeilt und die alte Beschriftung, die noch<br />
um die Jahrhundertwende entstand, stark<br />
verwittert – Tristesse pur im Jahr 1981.<br />
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Geschichte<br />
17
Nikolaistraße 5 -<br />
5<br />
Noch vor der Wende, im Jahr 1985, eröffnete<br />
die „Destille“ als eines der beliebtesten<br />
Restaurants in Görlitz ihre Türen.<br />
In den 1990er Jahren erwarb das Haus Nikolaistraße<br />
6 Reinhard Pietsch. Er sanierte<br />
es und eröffnete die „Destille“ im neuen<br />
Gewand, die er in der Folgezeit zu einem<br />
allseits guten Ruf führte. Altersbedingt erwarb<br />
das Haus dann im Jahre 2010 der<br />
junge Paul Otto, der sich bereits in mehreren<br />
Restaurants der Neißestadt einen<br />
guten Ruf als Koch erarbeitet hatte.<br />
Seit 2010 verwöhnt das junge Team tagtäglich<br />
seine Gäste aus aller Welt mit mediterraner<br />
und frischer Küche sowie einer<br />
Auswahl an regionalen Speisen. Zum<br />
Hause gehörte ebenfalls eine Pension mit<br />
damals 4 Zimmern. Nachdem das frische<br />
Konzept des jungen Paul Otto großen Anklang<br />
bei den Görlitzern und den Gästen<br />
der Neißestadt empfangen hatte und auch<br />
die Zimmer ständig ausgebucht waren,<br />
kam Paul Otto auf die Idee, die benachbarte<br />
Ruine Nikolaistraße 5 als modernes<br />
4-Sterne-Hotel auszubauen. Das war im<br />
Herbst des Jahres 2013. Aber es erwartete<br />
ihn anfänglich enormer bürokratischer<br />
Aufwand, um seine Idee umsetzen<br />
zu können. Auch bei der Namensgebung<br />
kam ihm so mancher Name in den Kopf.<br />
Letzlich entschied er sich für seinen eigenen<br />
Namen, der für Qualität, aber auch<br />
persönliches Engagement stehen sollte.<br />
Am 17. Februar 2014 begann die aufwendige<br />
Sanierung des Hauses. In nur kurzer<br />
Zeit entstand wieder ein Kleinod. Liebevoll<br />
wurden die Fassade, die Fenster, aber<br />
auch die Gitter im Treppenhaus aufgearbeitet<br />
und saniert.<br />
Aufgearbeitetes Gitter<br />
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18<br />
Geschichte
Hotel Paul Otto<br />
Paul Otto<br />
Bereits im Sommer 2014 betteten sich die<br />
Gäste unter aufwendig sanierten Stuckdecken,<br />
kunstvoll verzierten Holzbalkendecken<br />
und Gewölben, die sie von anderen<br />
Zeiten träumen lassen. Die nunmehr 24<br />
Zimmer wurden zu einem innovativen und<br />
zukunftsorientierten Hotel umgebaut. Dabei<br />
gleicht kein Zimmer dem anderen, da<br />
die Zimmer komplett individuell eingerichtet<br />
wurden.<br />
Gewölbezimmer mit freistehender Badewanne<br />
So ist im großen Gewölbezimmer eine freistehende<br />
Badewanne der Blickfang.<br />
Neue Fassade mit Schriftzug, Nikolaistraße 6<br />
Ein moderner Fahrstuhl und ein behindertengerechtes<br />
Zimmer wurden ebenfalls<br />
integriert. Die hauseigene Kostbar im Tonnengewölbe<br />
und auch die offene Kochschule,<br />
die auch gern als Konferenzmöglichkeit<br />
genutzt werden kann, erweitern<br />
die Möglichkeiten im Haus.<br />
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Geschichte<br />
19
Nikolaistraße 5 -<br />
5<br />
ausgestattet. Dazu erhielten sie eine moderne<br />
Optik, und auch diese unterscheiden<br />
sich nicht nur in Größe und Form von<br />
Zimmer zu Zimmer, sondern auch in Farbe<br />
und Interieur.<br />
Gravierte Tür der Firma Hilzinger<br />
Ein besonderer Hingucker sind die Zimmertüren,<br />
die mit der Silhouette des Nikolaiturmes<br />
und dem Logo geprägt worden<br />
sind. Dabei wurden gleich auch die Zimmernummern<br />
mit eingraviert.<br />
Die Bäder und im Besonderen die Duschen<br />
wurden mit mannshohen Granitwänden<br />
Dusche mit echten Granitplatten<br />
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20<br />
Geschichte
Hotel Paul Otto<br />
Paul Otto<br />
Aufwendig restaurierte Stuckdecke<br />
An dieser Stelle zwei weitere Zimmerbeispiele,<br />
leider reicht hier nicht der Platz,<br />
um alle 24 individuell gestalteten Zimmer<br />
zeigen zu können. Am besten überzeugen<br />
Sie sich selbst beim nächsten Besuch in<br />
der Neißestadt von der filigranen Arbeit<br />
der einzelnen Gewerke.<br />
Kleines Gewölbezimmer<br />
Das Hotel Paul Otto ist in jedem Falle ein<br />
gutes Zeugnis geworden, wie aus einer<br />
Ruine in kurzer Zeit ein modernes und attraktives<br />
4-Sterne-Hotel in enger Zusammenarbeit<br />
mit dem Denkmalschutz der<br />
Stadt entstanden ist.<br />
Andreas Ch. de Morales Roque<br />
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Geschichte<br />
21
Helenenbad<br />
von Carnap-Bornheim –<br />
Helene Luise Ulrike von Carnap – Bornheim<br />
geborene von Cranach vermählte<br />
sich am 9.5.1882 in Nieder Girbigsdorf<br />
mit Roderich Karl Gerhard Ottomar<br />
Freiherr von Carnap – Bornheim (geb.<br />
13.9.1858 in Burg – Kriegshofen bei<br />
Brühl am Rhein, und verstorben bereits<br />
am 10.12.1915 in Berlin).<br />
Gerhard Roderich war Majoratsherr auf<br />
Jahnsfelde, Kreis Landsberg an der Warthe.<br />
Er diente als Kgl. Preuß. Leutnant<br />
im I. Schlesischen Husarenregiment<br />
Nr. 4 und als Rittmeister der Landwehr-<br />
Kavallerie. Er war Ehrenritter des Johanniter-Ordens.<br />
Seine Gattin Helene Ulrike geborene von<br />
Cranach (*29.4.1863 in Nieder Girbigsdorf,<br />
verstorben am 24.3.1940 als Herrin<br />
des Leontinenhofes in Görlitz). Sie war<br />
durch ihre 6 Kinder Mutterkreuzinhaberin.<br />
Helene entstammt aus dem Rittergut Nieder<br />
Girbigsdorf. Ihre Mutter Wilhelmine<br />
Nicoline Bertha Juliane Freiin von Lützow<br />
genannt von Torgelo (*25.10.1838 in Oldenburg<br />
+ 29.8.1932 in Görlitz Leontinenhof)<br />
vermählte sich am 12.7.1860 mit<br />
Helene von Carnap-Bornheim 1895<br />
dem Kgl. Preuß. Major und Rittergutsbesitzer<br />
in Niedergirbigsdorf, Amtsvorsteher<br />
und Standesbeamter des Ortes.<br />
Richard ist geboren am 31.8.1825 in<br />
Craazen und verstarb am 25.9. 1887 in<br />
Nieder Girbigsdorf. Richard ist ein direkter<br />
Nachfahre der berühmten Malerfamilie<br />
Lucas Cranach dem Älteren und Jüngeren<br />
in der 10. Generation. Die Grabstelle<br />
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22<br />
Geschichte
Förderin des Helenenbades Görlitz<br />
ist noch auf dem Friedhof in Ebersbach<br />
erhalten.<br />
Durch die Heirat mit Roderich von<br />
Carnap- Bornheim wurde sie Miteigentümer<br />
des Leontinenhofes in Görlitz an der<br />
Christoph-Lüders-Straße rechts an dem<br />
Wege zum Helenenbad (jetzt Siebenbörner).<br />
Der Leontinenhof, ein ehemaliges Vorwerk,<br />
war seit 1860 im Familienbesitz<br />
derer von Carnap-Bornheim. Die Grundstücksfläche<br />
betrug 1917 65,6 Ha mit<br />
einem Grundsteuerreinertrag von 2310,-<br />
Mark und ab 1921 nur noch 56 Ha mit<br />
einem Grundsteuerreinertrag von 2310,-<br />
Mark. Der Haupterwerb war die Abmelkwirtschaft.<br />
In Görlitz gab es zwei große Schwimmvereine.<br />
Zum einem den bürgerlichen<br />
Wassersportverein „Weddigen“ und zum<br />
anderen den Arbeiterschwimmverein.<br />
Beide Vereine trainierten im „Stadtbad<br />
Weinbergpark“ an der Weinlache. Die<br />
Beziehungen des Arbeiterschwimmvereins<br />
zu dem bürgerlichen Verein „Weddigen“<br />
waren nicht besonders gut. Daraufhin<br />
erwog der Arbeiterschwimmverein<br />
Im Kostüm für den Berliner Kaiserball 1903<br />
1921, trotz der schwierigen Verhältnisse<br />
nach den 1. Weltkrieg aus eigener Kraft<br />
ein Schwimmbad zu bauen.<br />
Die Baronin Helene von Carnap-Bornheim<br />
geb. von Cranach, Besitzerin des Leontinenhofs,<br />
war sozial eingestellt und kam<br />
den Arbeitersportlern sehr entgegen. Sie<br />
überließ den Arbeitersportlern ein für das<br />
Bad geeignetes Gelände von 35.000 m²<br />
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Geschichte<br />
23
Helenenbad<br />
von Carnap-Bornheim –<br />
Leontinenhof Christoph-Lüders-Straße. Nach 1945 Kinderheim “Martha Prenzel”<br />
aus ihrem Besitz zu sehr günstigen Bedingungen.<br />
Den Bauauftrag übernahm<br />
die „Bauhütte Görlitz“, die für Gewerkschaften<br />
zuständige Baufirma. Der Bau<br />
erfuhr die große Unterstützung der Görlitzer<br />
Bevölkerung, die zahlreiche freiwillige<br />
Arbeitsstunden leistete. Auch hier erwies<br />
sich Baronin von Carnap-Bornheim als<br />
eine uneigennützige Helferin. Die für den<br />
Fuhrdienst benötigten Gespanndienste<br />
stellte der Leontinenhof ebenfalls unentgeltlich<br />
zur Verfügung. Damit konnte<br />
bereits am 28.5.1922 das Bad eröffnet<br />
werden. Die Wasserversorgung kam aus<br />
den Teichen am Siebenbörner.<br />
Das Schwimmerbecken hatte die Maße<br />
von 70 x 25 Meter und das Nichtschwimmerbecken<br />
von 20 x 25 Meter. Ehren-<br />
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24<br />
Geschichte
Förderin des Helenenbades Görlitz<br />
Leontinenhof und Sommeridylle auf der Veranda<br />
amtliche Übungsleiter bildeten regional<br />
gute Schwimmer, Springer und Wasserballspieler<br />
aus.<br />
Das Bad mit seinen weiträumigen Liegewiesen<br />
war besonders für die Arbeiterfamilien<br />
eine sehr beliebte Erholungsstätte.<br />
Nun konnten Arbeiterfamilien mit ihren<br />
Kindern ohne die Trennung in Männer<br />
und Frauen Erholung suchen und finden.<br />
Das Bad nannte sich zunächst „Badeanstalt<br />
Leontinenhof“. Zu Ehren der Unterstützerin<br />
zum Bau dieses Bades Helene<br />
von Carnap-Bornheim wurde das Bad<br />
dann nach ihrem Vornamen Helene „Helenenbad“<br />
benannt.<br />
Im Mai 1934 wurde das ehemalige „rote<br />
Helenenbad“ von den Nazis enteignet<br />
und in Nationalsozialistische Hände der<br />
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Geschichte<br />
25
Helenenbad<br />
von Carnap-Bornheim –<br />
Helenenbad Görlitz, Ansichtskarte 1955<br />
„Deutschen Arbeitsfront“ (DAF) gelegt.<br />
Nach 1945 kam das Bad in den Besitz<br />
der Stadtgemeinde.<br />
In den 1970er Jahren gab es unter dem<br />
Stadtrat für Jugend und Sport Hoffmann<br />
Projekte, wie in 5 Ausbaustufen diese<br />
Einrichtungen zu einer modernen Badelandschaft<br />
inklusive Voraussetzungen für<br />
das Trainingszentrum Schwimmen entwickelt<br />
werden sollten.<br />
Als erstes wurde unter Herrn Hoffmann<br />
und dann unter meiner Leitung der baufällige<br />
Umkleide-, Sanitär- und Funktionstrakt<br />
abgebrochen und durch moderne<br />
Dusch-, Umkleide- und Sanitärräume<br />
ersetzt. Weiterhin wurden ein modernes<br />
Kassengebäude und ein Imbisstrakt errichtet.<br />
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26<br />
Geschichte
Förderin des Helenenbades Görlitz<br />
Als letzter Bauabschnitt sollte ein 50 Meter<br />
überdachtes beheizbares Schwimmbecken<br />
entstehen, welches den internationalen<br />
Wettkampfbedingungen für den<br />
Schwimmsport Rechnung tragen sollte.<br />
Es gab bereits Verhandlungen mit dem<br />
Waggonbau, dass sich das Bad an das<br />
Kesselhaus des Waggonbaus anschließen<br />
könnte. Moderne Wasserreinigungs- und<br />
Umwälzanlagen wurden ebenfalls bereits<br />
angeschafft, die später verschrottet wurden.<br />
Leider wurde dieses Projekt durch<br />
die nachfolgenden Stadträte nicht weiter<br />
verfolgt. Die Gründe dafür sind mir nicht<br />
bekannt.<br />
Am Ende der 1980 Jahre zeigte das Becken<br />
einen erheblichen Verschleiß, so<br />
dass dringend eine Sanierung erforderlich<br />
geworden wäre. Projekte zur Sanierung<br />
gab es in den 1990er Jahren zur<br />
Genüge, aber wiederum war kein Geld<br />
da, und das Bad wurde 2002 aus nicht<br />
nachvollziehbaren Gründen geschlossen.<br />
Was einst in freiwilligen Aufbaustunden<br />
Arbeiterhände schufen, ist nun den Bach<br />
herunter gegangen, und ein Denkmal<br />
der Görlitzer Arbeiterbewegung sollte<br />
vergammeln. Umso erfreulicher ist es,<br />
dass sich für die weitere Nutzung des<br />
Geländes der Verein für Arbeitsmarkt und<br />
Regionalentwicklung (AUR) einsetzt, der<br />
dieses Objekt seit 2010 von der Stadt gepachtet<br />
hat und für dessen Bewirtschaftung<br />
sorgt. Unterstützt wird dabei der<br />
AUR durch den Förderverein Helenenbad,<br />
der sich engagiert für Veranstaltungen<br />
und vor allem für eine Badelandschaft<br />
für Kinder. Die Angebote werden sehr<br />
gut vor allem von Familien mit Kindern<br />
und Kindergärten angenommen. Hoffen<br />
wir, dass wenigstens <strong>2015</strong> das Planschbecken<br />
für Kinder in Betrieb gehen kann,<br />
dessen Mittel wiederum durch Spenden<br />
der Görlitzer Bürgerschaft aufgebracht<br />
werden müssen, für deren Spenden der<br />
Förderverein eifrig wirbt. Das würde der<br />
beste Dank zur Erinnerung an Baronin<br />
Helene von Carnap-Bornheim zu ihrem<br />
75. Todestage am 24. März <strong>2015</strong>.<br />
Wolfgang Stiller, Görlitz<br />
Quellen: Archiv Wolfgang Stiller<br />
Diethard Mühle, Ortschronist Schöpstal<br />
Bildzeugnisse aus dem privaten Nachlass von<br />
Prof. Dr. Claus von Carnap-Bornheim, Fahrdorf<br />
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Geschichte<br />
27
Einst Wohnhaus in Görlitz –<br />
in Görlitz<br />
Die Großeltern des Verfassers<br />
Jedes Haus einer Stadt oder eines Dorfes<br />
könnte eine Geschichte erzählen, wenn<br />
sie aufgeschrieben würde. Bei dem einen<br />
oder anderen Gebäude lohnt es sich<br />
schon, seine Geschichte oder die seiner<br />
Bewohner zu notieren. Da wäre zum Beispiel<br />
das Barock-Haus Obermarkt 29, in<br />
dem einst Napoleon und Zar Alexander<br />
logierten oder der „Braune Hirsch“ am<br />
Untermarkt, wo J. W. v. Goethe abgestie-<br />
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28<br />
Geschichte
Ein<br />
jetzt Rathaus<br />
Wohnhaus<br />
in Zgorzelec<br />
in Görlitz<br />
gen sein soll.<br />
Hier soll zunächst von einem Haus die<br />
Rede sein, das um 1900 gut platziert in<br />
der Görlitzer Ost-Stadt erbaut wurde: An<br />
der ehemaligen Jakob-Böhme-Straße 7,<br />
Ecke Schenckendorffstraße – jetzt die<br />
Uliza Domanskiego 7. Es dient nun als<br />
„Urzad Miasto“ - Stadtamt, also Rathaus.<br />
In diesem ehemals hochherrschaftlichen<br />
Haus wohnten einst höhere Beamte,<br />
Ärzte und gut betuchte Görlitzer. Das<br />
Adressbuch von 1938 weist aus: Büroleiter,<br />
Pfarrer, Lehrer i.R., Justizrat Roth,<br />
Intendant Nissen, Magistratsbaurat Zimmermann<br />
und Kontrolleur Gustav Besser.<br />
Letzterer war mein Großvater väterlicherseits<br />
mit seiner Familie; angestellt von<br />
der Hauseigentümerin Elisabeth Hölken<br />
als Hausmann. Heute würde man sagen:<br />
Hausmeister. Sie wohnten im Souterrain<br />
mit einem separaten Eingang, der heute<br />
in der ursprünglichen Form nicht mehr<br />
existiert. In dieser ehemaligen Wohnung<br />
befindet sich jetzt die Polizeiwache des<br />
Rathauses.<br />
Als 6-jähriger war ich von diesem Haus<br />
immer sehr beeindruckt, ob seiner Größe,<br />
dem herrschaftlichen Aufgang mit<br />
seinen roten Läufern, den großen, herrlich<br />
ausgestatteten Räumen und dem repräsentativen<br />
Treppenhaus. Im 1. Stock<br />
wohnte ein gleichaltriger Junge, mit dem<br />
ich, wenn wir meine Großeltern besuchten,<br />
spielen konnte. Deshalb ist mir das<br />
Haus so vertraut. Das schönste Erlebnis<br />
war aber, wenn ich mit meinem Großvater<br />
in den Heizungskeller durfte. Eine<br />
hohe Eisentreppe führte hinunter zum<br />
Heizofen, den mein Opa bedienen musste,<br />
um das große Haus ordentlich warm<br />
zu bekommen. Die Wohnräume waren<br />
groß und hoch. Interessant für mich war<br />
natürlich, wie die Anlage funktionierte<br />
und was man zur Bedienung tun muss.<br />
Mein Großvater versah aber nicht nur<br />
diesen Hausmeisterdienst für die Jakob-<br />
Böhme-Straße 7. Für den Lebensunterhalt<br />
war auch eine - heute sagt man -<br />
Zweitbeschäftigung notwendig. Jeden<br />
Abend drehte er gegen 20 Uhr eine große<br />
Runde durch die angrenzenden Straßen,<br />
einen großen Schlüsselbund in der<br />
Hand, um im Auftrag der Görlitzer Wachund<br />
Schließgesellschaft zu kontrollieren,<br />
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Geschichte<br />
29
Einst Wohnhaus in Görlitz –<br />
in Görlitz<br />
Eckhaus Jakob-Böhme-Straße/Schenckendorffstraße um 1920<br />
ob denn die Bewohner die Haustüren<br />
zur Nacht auch abgeschlossen hatten.<br />
Dazu kam die Kontrolle der Gaslaternen.<br />
Brannte eine nicht, so nahm Opa<br />
seine mitgeführte Stange und brachte<br />
sie mit einem daran befestigten Haken<br />
zum Leuchten. In dem Glaszylinder befand<br />
sich eine entsprechende Öse, die<br />
die Gaszufuhr öffnete. War allerdings der<br />
Gasstrumpf defekt, klappte es nicht mit<br />
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30<br />
Geschichte
Ein<br />
jetzt Rathaus<br />
Wohnhaus<br />
in Zgorzelec<br />
in Görlitz<br />
Das Haus heute<br />
dem Entzünden der Gaslaterne.<br />
Zum Lebensunterhalt war es auch notwendig,<br />
einen Schrebergarten zu betreiben.<br />
Meine Großeltern hatten sogar zwei.<br />
Einer befand sich nur wenige Schritte<br />
von der Wohnung entfernt an der katholischen<br />
Bonifatius-Kirche, die 1926/27<br />
erbaut worden war. Sie heißt heute noch<br />
so. Die große Fläche vor der Kirche ist<br />
seit Langem bebaut. Der zweite Garten<br />
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Geschichte<br />
31
Einst Wohnhaus in Görlitz –<br />
in Görlitz<br />
lag etwas weiter entfernt in der Nähe<br />
des Viaduktes. War Erntezeit, musste<br />
die ganze Familie helfen, Johannisbeeren<br />
pflücken, die zu Marmelade und Kompott<br />
für den Winter eingekocht wurden. Es<br />
waren unzählige Sträucher. Wir Kinder<br />
tobten herum, beobachteten die Züge,<br />
die von und nach Moys fuhren.<br />
In meinen Nachforschungen über das<br />
Haus Jakob-Böhme-Straße 7, seine Baugeschichte,<br />
konnte ich nichts in Erfahrungen<br />
bringen. Am Haus selbst sind die<br />
einstigen Vorgarten-Anlagen verkleinert<br />
worden, wie man auf den Fotos erkennen<br />
kann. Die Bauunterlagen vom östlichen<br />
Stadtteil wurden laut Auskunft der Görlitzer<br />
Bau-Verwaltung 1953 an polnische<br />
Behörden übergeben, so dass ich keine<br />
Auskünfte erhalten konnte. Auf Nachfragen<br />
meinerseits beim Urzad Miasto Zgorzelec<br />
bekam ich leider keine Auskunft.<br />
Meine Großeltern mütterlicherseits wohnten<br />
ebenfalls in einem bemerkenswerten<br />
Haus: Neißstraße 19, das im Mittelalter<br />
ein Brauhaus beherbergte. Über dem<br />
Barock-Portal prangt eine Krone mit der<br />
Jahreszahl 1727 und der Inschrift „Gott<br />
Portal Neißstraße 19<br />
hilft, Gott hat geholfen, Gott wird helfen“.<br />
Ins Auge fällt besonders die alte<br />
Haustür. In den verschachtelten Kellergewölben<br />
befindet sich heute die bekannte<br />
und von Touristen gern besuchte Gast-<br />
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32<br />
Geschichte
Ein<br />
jetzt Rathaus<br />
Wohnhaus<br />
in Zgorzelec<br />
in Görlitz<br />
stätte „acanthus“. Im Seitenflügel des<br />
Hauses wohnten meine Großeltern, die<br />
einen herrlichen Blick auf die Neiße hatten,<br />
aber bei offenem Fenster immer das<br />
Rauschen des Flusses vom Wehr her vernahmen.<br />
Im Mai 1945 mussten sie ausziehen.<br />
In den letzten Kriegstagen hatte<br />
eine Bombe das gesamte Treppenhaus<br />
zerstört, so dass die Mieter beschwerlich<br />
oder gar nicht mehr in ihre Wohnungen<br />
gelangen konnten. Die Möbel wurden<br />
per Seil aus dem 2. Stock in den Hof gehievt,<br />
der heute ein Biergarten ist. Erst<br />
Jahre später wurde der Schaden beseitigt.<br />
Ihre nächste Wohnung fanden sie<br />
in der Brüderstraße 3 - ebenfalls ein erwähnungswertes<br />
Haus, das einst auch<br />
als Brauhof 1717 errichtet worden war<br />
mit vielen Kellern. Was dieses Haus mit<br />
einem Barock-Eingang so hervorhebt, ist<br />
die Tatsache, dass hier der Leichnam des<br />
Marschalls Duroc einbalsamiert wurde,<br />
ehe er auf Weisung Napoleons nach Paris<br />
gebracht wurde. Duroc, engster Vertrauter,<br />
Adjutant und Stellvertreter Napoleons,<br />
war bei Kämpfen in der Nähe von<br />
Markersdorf am 23. Mai 1813 tödlich verletzt<br />
worden. Das wannenähnliche Gefäß<br />
aus Granit, in dem Duroc einbalsamiert<br />
worden sein soll, steht heute im Hof der<br />
Brüderstraße 3.<br />
Also in dieses Haus zogen 1945 meine<br />
Großeltern. Zwar nicht in das Vorderhaus<br />
mit der schönen Barock-Fassade,<br />
sondern in das damals noch dazugehörige<br />
vierstöckige Hinterhaus, von dessen<br />
fensterloser Rückseite man nur aus einer<br />
Dachluke einen herrlichen Blick zum Nikolaigraben<br />
hatte. Ein zum Grundstück<br />
gehöriges niedriges Seitengebäude beherbergte<br />
in der damaligen Zeit eine<br />
Bettfedern-Reinigung. Beide Bauten sind<br />
unterdessen wegen Baufälligkeit abgerissen<br />
worden. Über die geschichtsträchtige<br />
Vergangenheit des Hauses Brüderstraße<br />
3 wussten die damaligen Mieter vermutlich<br />
nicht viel, wenn überhaupt.<br />
Und so birgt das eine oder andere Gebäude<br />
der Stadt so manches Geheimnis,<br />
über das man wenig oder gar nichts<br />
erfährt, wenn es nicht aufgeschrieben<br />
wird.<br />
Wolfhard Besser, Berlin<br />
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Geschichte<br />
33
Goebbels<br />
Sieben Wochen vor<br />
Rede<br />
dem Untergang:<br />
Ankunft in der Stadthalle am 8.3.1945<br />
Für die heute noch lebenden Zeitzeugen<br />
der letzten Kriegsmonate vor 70 Jahren<br />
tauchen Bilder und Ereignisse von damals<br />
jetzt wieder lebendig und bestürzend im<br />
Gedächnis auf: Flüchtlingsströme aus<br />
den östlichen Frontgebieten, zerbombte<br />
Stadtzentren, Truppentransporte und<br />
Durchhalteappelle in Rundfunksendungen<br />
und Tagespresse. Aus Görlitz waren<br />
in der zweiten Februarhälfte etwa 60000<br />
Einwohner, zumeist Frauen mit Kindern<br />
oder älteren Leute, evakuiert worden,<br />
viele nach Bayern; andere suchten auf<br />
eigene Faust eine Zuflucht bei Verwandten<br />
weiter westlich oder südlich. Zurück<br />
blieben Rüstungsarbeitet und zum Volkssturm<br />
verpflichtete Jugendliche und Greise.<br />
Man munkelte, Görlitz werde wie Bres-<br />
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34<br />
Geschichte
Goebbels am 8. März<br />
Rede<br />
1945 in Görlitz<br />
Bühne der Stadthalle und Rednerpult<br />
lau zur Festung erklärt. 80 Panzersperren<br />
im Stadtbereich deuteten darauf hin. In<br />
der außergewöhnlich langen letzten UFA-<br />
Filmwochenschau nahm Görlitz einen<br />
breiten Raum ein. Am 8. März besuchte<br />
der Propagandaminister und Berliner Gauleiter<br />
Dr. Josph Goebbels das frontnahe<br />
Gebiet in Lauban und Görlitz. Bei einem<br />
Appell auf dem Marktplatz der kurzzeitig<br />
rückeroberten Nachbarstadt Lauban und<br />
dann im großen Saal der Görlitzer Stadthalle<br />
versuchte der redegewandte, erfahrene<br />
Propagandist bei seinen Zuhörern<br />
Durchhaltewillen und Siegeszuversicht zu<br />
stärken, obwohl die hoffnungslose militärische<br />
Lage den Zusammenbruch Hitler-<br />
Deutschlands in Kürze erwarten ließ.<br />
Noch heute werden die Wochenschau-<br />
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Geschichte<br />
35
Goebbels<br />
Sieben Wochen vor<br />
Rede<br />
dem Untergang:<br />
Dr. Goebbels bei seiner Rede<br />
Ausschnitte in Fernsehdokumentationen<br />
häufig gezeigt. Sie sind hierzulande und<br />
im Ausland wohlbekannt und verbinden<br />
sich unauslöschlich mit der Stadt Görlitz<br />
als Handlungsschauplatz. In seiner<br />
Tagebucheintragung vom 9. März 1945<br />
schilderte Goebbels diese Ereignisse ausführlich<br />
über mehrere Seiten. Die hiesige<br />
letzte Tageszeitung, die „Oberlausitzer<br />
Tagespost“ der NSDAP, brachte in ihrer<br />
<strong>Ausgabe</strong> vom 10./11. März 1945 auf<br />
der Titelseite einen ausführlichen Bericht<br />
mit einem Stimmungsbild und längeren<br />
Redeauszügen. Im Tagebuch faßte<br />
Goebbels, jetzt der zweite Mann neben<br />
Hitler im Berliner „Führerbunker“, seine<br />
Eindrücke von Görlitz zusammen: „Die<br />
Stadt bietet einen merkwürdigen Anblick.<br />
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36<br />
Geschichte
Goebbels am 8. März<br />
Rede<br />
1945 in Görlitz<br />
Kundgebungsteilnehmer in Stadthallensaal<br />
Frauen gibt es kaum noch; sie sind mit<br />
ihren Kindern längst evakuiert. Görlitz ist<br />
eine Stadt der Männer geworden. Kreisleiter<br />
Malitz, ein früherer Berliner Ortsgruppenleiter,<br />
empfängt mich in Görlitz.<br />
Er hat die Verteidigung der Stadt in einen<br />
fabelhaften Zustand versetzt und ist fest<br />
entschlossen, sie unter allen Umständen<br />
zusammen mit der Wehrmacht zu halten.<br />
Generaloberst Schörner ist eigens aus<br />
seinem Hauptquartier gekommen, um an<br />
meinem Besuch in Görlitz teilzunehmen…<br />
Mein Besuch vorn bei der Truppe löst dort<br />
die größte Freude aus. Man sieht es an<br />
den Gesichtern der Männer, wie befriedigt<br />
und beglückt sie sind, mich so weit vorn<br />
zu sehen.“ Über seine Gespräche mit Offizieren<br />
und politischen Leitern in Görlitz<br />
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Geschichte<br />
37
Goebbels<br />
Sieben Wochen vor<br />
Rede<br />
dem Untergang:<br />
Zuhörer zwischen Begeisterung und Zweifeln<br />
notierte er: „Die Stimmung, die in diesem<br />
Kreise herrscht, ist direkt ansteckend.<br />
Von Defaitismus keine Spur. Das merke<br />
ich dann auch, als ich in der überfüllten<br />
Stadthalle vor Soldaten und Volkssturmmännern<br />
spreche. Ich finde hier ein Publikum,<br />
das für meine Darlegung völlig<br />
aufgeschlossen ist. Meine Rede ist ganz<br />
auf Kampf und Durchhalten eingestellt“.<br />
Über seine anschließenden Gespräche im<br />
Hotel berichtet er: „Immer wieder stelle<br />
ich fest, daß bei diesen Männern ein fester<br />
Glaube an den Sieg und an den Führer<br />
vorherrscht. Die Offiziere aus diesem<br />
Kampfraum benehmen sich mir persönlich<br />
gegenüber fabelhaft… Es sind schöne<br />
Stunden, die direkt erholsam wirken.“<br />
Der Pressebericht versucht die Stimmung<br />
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38<br />
Geschichte
Goebbels am 8. März<br />
Rede<br />
1945 in Görlitz<br />
Pressebericht in der Oberlausitzer Tagespost<br />
in der Stadthalle wiederzugeben. „Es<br />
fand“, so heißt es, „in Görlitz eine Großkundgebung<br />
statt, an der Tausende von<br />
Soldaten, Volkssturmmännern, Frauen,<br />
Hitlerjungen und Rüstungsarbeitern teilnahmen.<br />
Kreisleiter Dr. Malitz eröffnete<br />
die Veranstaltung mit leidenschaftlichen<br />
Worten des Bekenntnisses und versprach,<br />
die ganze Ehre der Frontstadt Görlitz einzusetzen“.<br />
Goebbels schilderte die Leiden<br />
der Zivilbevölkerung in den Frontgebieten<br />
Ostpreußen, Ostbrandenburg und Schlesien<br />
und erinnerte an geschichtliche Ereignisse<br />
früherer Jahrhunderte im engeren<br />
Umfeld wie die Abwehr der Mongolen und<br />
der Hussiten, den Siebenjährigen Krieg<br />
und die Befreiungskriege gegen Napoleon.<br />
Seine Rede mündete in die Kernsätze:<br />
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Geschichte<br />
39
Goebbels<br />
Sieben Wochen vor<br />
Rede<br />
dem Untergang:<br />
„Niemals wird die Stunde kommen, dass<br />
wir kapitulieren, und niemals hat es in der<br />
Geschichte ei Beispiel dafür gegeben, daß<br />
ein Volk verloren gewesen wäre, wenn es<br />
sich nicht selbst verloren gegeben hätte…<br />
Die Geschichte wird uns den Sieg schenken,<br />
da wir allein ihn verdienen.“<br />
Für die Heutigen ist es schwer zu begreifen,<br />
wie sich in der Stadt verbliebene<br />
Görlitzer damals für Augenblicke an solche<br />
Versprechen klammern konnten. Blicke<br />
der Filmkamera auf die Gesichter der<br />
Zuhörer zeigen auch die ganze Skala der<br />
Empfindungen von begeisteter Gläubigkeit<br />
bis zu Zweifel und trüben Ahnungen.<br />
Es waren die verzweifelten Ängste und<br />
Hoffnungen der in der Stadt verbliebenen<br />
Görlitzer. Goebbels war erstmals im November<br />
1932, also kurz vor Errichtung der<br />
Hitler-Herrschaft, als Redner in der Görlitzer<br />
Stadthalle gewesen. Nun symbolisierte<br />
er am 8. März 1945 auch mit seinem<br />
eindringlichen Durchhalteappell das katastrophale<br />
Ende der zwölfjährigen Ereigniskette<br />
zwischen Begeisterung, Anpassung,<br />
Ernüchterung und Entsetzen. Auch Stadt<br />
und Kreis Görlitz hatten nach Kriegsende<br />
jahrzehntelang schwer an den Folgen zu<br />
tragen und im Rahmen des Möglichen<br />
den Wiederaufbau zu meistern. Wenige<br />
Ereignisse der Stadtgeschichte im zurückliegenden<br />
20. Jahrhundert haben sich<br />
weit über die Grenzen von Görlitz hinaus<br />
so stark in das Gedächnis der Deutschen<br />
einprägt wie diese letzte öffentliche Rede<br />
des Meisterdemagogen Goebbels, von<br />
dessen Erfahrungen bis heute politische<br />
Meinungsmacher international gelernt haben.<br />
Görlitz hatte damals im Vergleich zu<br />
anderen deutschen Städten, auch in der<br />
nächsten Umgebung, noch Glück im Unglück.<br />
Tieffliegerbeschuß, Bombenabwürfe<br />
und Artillerietreffer beschädigten etwa<br />
1700 Gebäude und zerstörten annähernd<br />
40. Die Stadt wurde erst bei Kriegsende<br />
ohne Straßen- und Häuserkämpfe besetzt.<br />
Vorher schwenkten die Angreifer<br />
in Richtung Berlin und Prag an Görlitz<br />
vorbei. Görlitz wurde nicht zur Festung<br />
erklärt. Die Wehrmacht zog sich zurück.<br />
Die hiesigen Durchhalteredner machten<br />
sich heimlich davon und kehrten erst<br />
1948 als Angeklagte in einem Schauprozeß<br />
wieder in die Stadthalle zurück. Nur<br />
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40<br />
Geschichte
Goebbels am 8. März<br />
Rede<br />
1945 in Görlitz<br />
Panzersperre auf der Jakobstraße<br />
sieben Wochen nach der letzten Rede des<br />
Propagandachefs des Reiches in der Görlitzer<br />
Stadthalle vergiftete das Ehepaar<br />
Goebbels seine sechs Kinder und nahm<br />
sich das Leben. Die Besetzer der Berliner<br />
Reichskanzlei fanden nur den verkohlten<br />
Leichnam mit dem verkrüppelten Fuß. Der<br />
Spuk war vorbei. Er hinterließ ein schweres<br />
Erbe. Die Erinnerung daran bestärkt<br />
uns einmal mehr in den Willen, den Organisatoren<br />
und Befürwortern heutiger und<br />
künftiger Kriege zu widerstehen, mögen<br />
sie auch diesmal durch ihre Propagandisten<br />
so raffiniert wie möglich gerechtfertigt<br />
werden. Auch deshalb ist es nützlich,<br />
sich an jenen 8. März 1945 in der Görlitzer<br />
Stadthalle zu erinnern.<br />
Dr. Ernst Kretzschmar<br />
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Geschichte<br />
41
Otto<br />
Das Todaustreiben<br />
Schöne<br />
in der Oberlausitz –<br />
Mit dem dritten Sonntag vor Ostern, im<br />
kirchlichen Bereich „Lätare“ (Freue dich!)<br />
genannt, beginnt die Reihe althergebrachter<br />
Frühlingsbräuche, mit denen von jeher<br />
die vorösterliche Zeit unser Volksleben in<br />
reicher Fülle belebt hat.<br />
Auf einem Volksglauben, nämlich um die<br />
dämonischen Mächte des Winters durch<br />
Feuer zu bannen, beruht das sogenannte<br />
„Todaustragen“ am Sonntag Lätare, das<br />
wir vor allem in dem fränkisch-thüringischsächsischen<br />
Mitteldeutschland antreffen.<br />
Dieses Todaustreiben hat wohl nirgends<br />
eine so mannigfache Gestalt angenommen<br />
wie in unserer Lausitz. Wir finden es auch<br />
bei den deutschen wie slawischen Bewohnern<br />
des benachbarten Böhmens. Bei den<br />
Wenden hat dieser auch „Sommertragen“<br />
oder „Sommersingen“ genannte Brauch<br />
eine derartige Verbreitung gewonnen,<br />
dass er von manchen Heimatschriftstellern<br />
irrtümlicherweise als eine ursprünglich slawische<br />
Volkssitte angesehen wird.<br />
Es ist sicher anzunehmen, dass das „Todaustreiben“<br />
früher auch von Erwachsenen<br />
ausgeführt worden ist, in den Zeiten, in<br />
denen wir nähere schriftliche Nachrichten<br />
von ihm erhalten, ist es bereits zu einem<br />
Kinderfest geworden.<br />
Der Verlauf der Handlung ist gewöhnlich<br />
folgender: Mehrere verkleidete Knaben<br />
tragen eine abenteuerlich herausgeputzte<br />
Figur, gewöhnlich einen Strohmann,<br />
der den „Tod“, das heißt in der Natur den<br />
„Winter“, darstellen soll, in der Ortsmarkung<br />
herum und verbrennen ihn zuletzt<br />
oder werfen ihn in einen Teich.<br />
Bestimmte Kunde von diesem eigenartigen<br />
Frühlingsbrauch haben wir in der Oberlausitz<br />
aus Görlitz und Königshain, in der<br />
Westlausitz aus Radeberg. Von Königshain<br />
wird uns berichtet: Uralten Brauche gemäß<br />
zog alljährlich am Sonntag Lätare alt<br />
und jung aus dem Dorfe Königshain und<br />
den umliegenden Ortschaften nach dem<br />
sogenannten „Totenstein“, einen hohen,<br />
im Bergwalde emporragenden Granitfelsen,<br />
wo die umgebrachten Strohfackeln<br />
entzündet und verbrannt wurden. Dabei<br />
sang man unaufhörlich: „Den Tod haben<br />
wir ausgetrieben, den Sommer bringen<br />
wir wieder!“<br />
Nirgends geht aus dieser Frühlingssitte<br />
in Verbindung mit mehreren Begleiter-<br />
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42<br />
Geschichte
Otto<br />
Volkssitten<br />
Schöne<br />
am Sonntag Lätare<br />
Landeskrone – Zittauer Tagebuch August 1771<br />
scheinungen so deutlich hervor, dass sie<br />
am Orte einer uralten Opferstätte weiter<br />
lebt, als hier in Königshain. So fand man in<br />
den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts<br />
eine bisher mit Erde bedeckte, baumblattförmige,<br />
große Vertiefung, die zweifellos<br />
von Menschenhand hergestellt worden ist,<br />
auf der Felsoberfläche, die sicherlich einst<br />
den Opferhandlungen gedient hat.<br />
Wie oft mögen Händler aus fernen Ländern<br />
gerade an dieser Stelle an festlichen<br />
Tagen sich eingefunden haben, wo sie das<br />
Volk versammelt fanden und es nicht in<br />
seinen nach germanischer Sitte weit zer-<br />
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Geschichte<br />
43
Otto<br />
Das Todaustreiben<br />
Schöne<br />
in der Oberlausitz –<br />
Totenstein – Zittauer Tagebuch Februar 1772<br />
streut liegenden Einzelhöfen aufzusuchen<br />
brauchten. Also den letzten Rest eines germanischen<br />
Frühlingsopferfestes bedeutet<br />
das Königshainer Todaustreiben, dem erst<br />
in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts<br />
durch behördliche Verbote ein jähes Ende<br />
bereitet worden ist.<br />
In ähnlicher Weise wie in Königshain<br />
hat man bis 1793 in Görlitz an der Sitte<br />
des Todaustreibens festgehalten, indem<br />
am einen Strohmann am Niedertore der<br />
Stadt, an der sogenannten „Goldgrube“,<br />
wo einst der Galgen stand, in die Neiße<br />
warf. Man nannte den Brauch auch „Som-<br />
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44<br />
Geschichte
Otto<br />
Volkssitten<br />
Schöne<br />
am Sonntag Lätare<br />
mersingen“ oder „Sommertragen“, weil<br />
die armen Kinder dabei auch einen grünen<br />
Nadelholzsaft mit kleinen Ketten von<br />
Stroh, bunten Lappen, seidenen Bändern,<br />
Goldflitter und Eierschalen verziert, den<br />
sogenannten „Sommer“, trugen und allerlei<br />
leckere Gaben erbaten. Der zum Ersäufen<br />
bestimmte „Tod“, ein Strohmann, war<br />
mit einer alten Jacke, einem abgenutzten<br />
Hut und bunten Hosen bekleidet.<br />
Alle Anwesenden warfen mit Steinen oder<br />
Holzstücken nach dem Strohmann, denn<br />
man glaubte, dass der, der ihn träfe, in<br />
dem betreffenden Jahre nicht sterbe.<br />
Dann wurde er ins Wasser oder auch über<br />
die Dorfgrenze geworfen, was sehr oft zu<br />
Streitigkeiten mit der Jugend des Nachbarortes<br />
führte, die den „Tod“ auch nicht<br />
auf ihren Fluren dulden wollten.<br />
Wie im benachbarten Schlesien am Sonntage<br />
Lätare, dem „Sommersonntage“, die<br />
Kinder von Haus zu Haus „Sommersingen“<br />
gingen und wohl noch gehen. So geschah<br />
dies auch in der Oberlausitz an diesem<br />
Tage unter dem Absingen ähnlicher Lieder<br />
wie in jener Gegend. Sie erscheinen mit<br />
bunten Zweigen in den Händen und erhalten<br />
als Gaben zumeist Eier.<br />
Aus der Südostecke der Oberlausitz, aus<br />
Markersdorf bei Zittau, stammt der Vierzeiler,<br />
den wir an dieser Stelle mitteilen<br />
wollen: „Drei Rosen rot, drei Rosen rot,<br />
die steh’n auf einem Stengel, der Herr ist<br />
schön, der Herr ist schön, die ist wie ein<br />
Engel. Frau Wirtin geht im Hause herum,<br />
sie hat ‚ne weiße Schürze um mit einem<br />
roten Bande; sie ist die Schönste im Lande.“<br />
Eine feinsinnige dichterische Verwertung<br />
hat die von uns oben mitgeteilte wendische<br />
Form des Todaustreibens von einem<br />
hervorragenden sächsischen Dichter der<br />
Gegenwart, Kurt Arnold Findeisen, in seinem<br />
Balladenband „Ahnenland“ und seiner<br />
Geschichtensammlung „Der Tod und<br />
das Tödlein“ gefunden. Das letztgenannte<br />
Buch zeugt unseres Erachtens von einem<br />
hohen Verständnis des Dichters, solch alten<br />
Volksbrauch in einem durchaus neuzeitlich<br />
gestalteten Novellenkranz zu verflechten.<br />
Otto Schöne in: Zittauer Nachrichten und<br />
Anzeiger, Nr. 72 vom 26.03.1927, S. 953<br />
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Geschichte<br />
45
Oscarverleihung<br />
Und der geht ...<br />
Wes Andersons neuestes Werk „The<br />
Grand Budapest Hotel“, das zum Großteil<br />
in Görlitz vom Kultregisseur gedreht<br />
wurde, ist auf der diesjährigen Oscar-<br />
Verleihung in Los Angeles, Californien,<br />
von der Oscar-Academy und der Jury<br />
mit vier Oscars ausgezeichnet worden.<br />
Und das hat seinen guten Grund! Für<br />
die Dreharbeiten des Filmes brachte<br />
Anderson Anfang 2013 für mehrere Monate<br />
erstklassige US-Schauspieler in die<br />
Filmstadt Görlitz. Viele Görlitzer Dienstleister<br />
und Hotels waren im Januar und<br />
Beschriftung im Schnee, Januar 2013<br />
Panzerbeschriftung im Februar 2013<br />
Februar voll in die Produktion involviert.<br />
So auch Thomas Oertel, Inhaber von<br />
Graphik Werbung und Design, der teilweise<br />
nachts für die zahlreichen Verklebungen<br />
an Fahrzeugen, aber auch<br />
im Innern des Jugendstilkaufhauses<br />
und der Stadthalle zuständig war, denn<br />
am nächsten Morgen mußte alles fertig<br />
sein. Der Oscar für das beste Szenenbild<br />
ist somit auch eine Ehrung für unser<br />
wunderschönes Kaufhaus, die Stadthalle<br />
und die Gesamtkulisse von Görlitz.<br />
Andreas Ch. de Morales Roque<br />
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46<br />
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