143_Ausgabe Juni 2015
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Vorwort<br />
Liebe Leserinnen, liebe Leser,<br />
vor 450 Jahren, am 22.<strong>Juni</strong> 1565, zogen die Schüler<br />
der evangelischen Lateinschule bei der Peterskirche<br />
mit ihren Lehrern in ihr neues Schulgebäude<br />
im ehemaligen Franziskanerkloster am Obermarkt.<br />
Kaiser Ferdinand I. hatte ein Jahr zuvor den Antrag<br />
genehmigt, dass dort „eine Particular-Schule zur<br />
Unterweisung der Jugend und Erziehung geschickter<br />
gelehrter Leut“ eingerichtet werden durfte. In<br />
seiner lateinischen Antrittsrede betonte der neue<br />
Rektor Petrus Vincentius, „dass das Menschengeschlecht<br />
nicht zum Müßiggang, nicht zum Wohlleben<br />
und nicht zum Untergang bestimmt“ sei und<br />
dass „auch Schulen notwendig seien, in denen die<br />
Jugend zusammengeführt und die von Gott gebotene,<br />
von unseren Vorfahren angenommene Lehre<br />
kennenlerne“. Und dass sich „zu den Kirchen wohlgestaltete<br />
Schulen gesellen, in welchen die Jugend<br />
in Geschichte unterrichtet und durch die himmlische<br />
Lehre, die zu ihrer Erklärung notwendigen<br />
Fächer und durch ehrbare Pflichterfüllung zusammengehalten<br />
werde“. Das Gymnasium Augustum<br />
Gorlicense war geboren. Im Laufe der Jahrhunderte<br />
haben Lehrer, Schüler, Eltern und Stadt-Obrigkeiten<br />
unter wechselnden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen<br />
versucht, diesen Ansprüchen gerecht zu<br />
werden. Runde Schuljubiläen boten immer wieder<br />
Gelegenheit, schriftlich oder mit Festprogramm<br />
Rückschau und Ausblick zu versuchen. Vor 50 Jahren<br />
gab es noch getrennte Feiern mit gegensätzlichen<br />
Sichtweisen in Ost und West, in Görlitz und<br />
Göttingen, diesseits und jenseits der Frontlinie des<br />
Kalten Krieges zwischen den großen Machtblöcken.<br />
Zeittypisch waren selbstgerechte gegenseitige<br />
Schmähungen. Aber heute, 25 Jahre nach Wiederherstellung<br />
eines einheitlichen deutschen Staates,<br />
sollte und kann das Jubiläum besonnener ausfallen<br />
und die Schulgeschichte an den Möglichkeiten<br />
der jeweiligen Zeitumstände messen. Selbst in den<br />
Jahrzehnten der Trennung haben diesseits und jenseits<br />
die ehemaligen Schüler ihr Bestes zu geben<br />
versucht als Wissenschaftler und Ärzte, Theologen<br />
und Lehrer, Diplomaten und Künstler, Juristen<br />
und Offiziere, Unternehmer und Journalisten.<br />
1948 wurde als Konsequenz der Schulreform das<br />
Gymnasium Augustum aufgelöst. Die letzten Neuzugänge<br />
(1944) hatten ihr Abitur 1952, darunter<br />
auch ich. Mein verehrter Klassenleiter vom 10. bis<br />
12. Schuljahr war Oberstudienrat Georg Ertel, der<br />
letzte Leiter des Gymnasium Augustum 1945/1948.<br />
Wie viele Klassenkameraden war ich 1944 noch<br />
in der alten Heimat jenseits von Oder und Neiße<br />
aufs Gymnasium gekommen, nun waren die Ostpreußen,<br />
Ostbrandenburger und Schlesier an der<br />
Görlitzer Schule stark vertreten. Auch das ist schon<br />
lange Geschichte. Weit vor 1989 gab es Klassentreffen<br />
der Ehemaligen aus beiden deutschen Staaten.<br />
Geblieben sind Maßstäbe für die Schulbildung<br />
heute und morgen: Gemeinschaftsgeist und Vaterlandsliebe,<br />
Leistungswille und Bescheidenheit, Anstand<br />
und Verantwortungsbewußtsein, die Einheit<br />
von intellektueller, charakterlicher, musischer und<br />
körperlicher Menschenbildung. Vor einem halben<br />
Jahrhundert übergab mir Studienrat Paul Fiedler,<br />
einst Lehrer am Gymnasium Augustum und nun<br />
mein Schulkollege, kurz vor seinem Tode die von<br />
ihm gehütete alte Fahne des Gymnasiums mit der<br />
griechischen Inschrift „Vor den Erfolg haben die<br />
Götter den Schweiß gesetzt“. Diese Reliquie wird<br />
heute im Museum verwahrt. Ich durfte sie in einer<br />
Vitrine präsentieren, als wir am 26. Februar 1993<br />
in der altehrwürdigen Aula die Rückbenennung<br />
in Gymnasium Augustum miterleben konnten. Ihr<br />
geistiges Vermächtnis möge lebendig bleiben! Dies<br />
wünscht sich als einer der älteren Ehemaligen<br />
Ihr Ernst Kretzschmar<br />
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Einleitung<br />
3
Anne<br />
450 Jahre Gymnasium Augustum –<br />
Vor 450 Jahren, am 22. <strong>Juni</strong> 1565, wurde<br />
mit der Einführung von Petrus Vincentius<br />
als erstem Rektor das Görlitzer Gymnasium<br />
Augustum im ehemaligen Franziskanerkloster<br />
am Klosterplatz gegründet.<br />
Der letzte Mönch Urban Weissbach, ein<br />
Schuster aus Altenburg, hatte zu diesem<br />
Zweck die verlassenen und stark verfallenen<br />
Klostergebäude mit Einwilligung der<br />
kirchlichen Oberbehörden und mit der<br />
Erlaubnis des böhmischen Königs und<br />
Kaisers Ferdinands I. der Stadt Görlitz<br />
übergeben. Es ist vor allem dem Stadtkämmerer<br />
Georg Ottoman zu danken,<br />
dass der Görlitzer Rat nicht nur erhebliche<br />
finanzielle Mittel für die notwendigen<br />
Baumaßnahmen bereitstellte, sondern<br />
auch für die Berufung bestmöglicher<br />
Lehrkräfte sorgte. Mit Petrus Vincentius,<br />
dem Professor für Rhetorik und Ethik an<br />
der Wittenberger Universität, und Laurentius<br />
Ludovicus, der in Goldberg noch<br />
Schüler des berühmten Humanisten und<br />
Schulreformers Valentin Trotzendorf gewesen<br />
war, konnten Freunde und Schüler<br />
Melanchthons gewonnen werden. Sie<br />
entwickelten nach den Lehrplänen Me-<br />
Werbung für die Sonderausstellung<br />
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4<br />
Geschichte
Anne<br />
Görlitz feiert<br />
Augustum<br />
eine Erfolgsgeschichte<br />
lanchthons das Görlitzer Gymnasium zu<br />
einer humanistischen Bildungsstätte auf<br />
hohem wissenschaftlichem Niveau. Über<br />
die Jahrhunderte hinweg haben bedeutende<br />
Gelehrte tausende Schüler nicht<br />
nur aus der Oberlausitz, sondern auch<br />
aus Schlesien und Böhmen angezogen,<br />
und zahlreiche Absolventen wurden bekannte<br />
Persönlichkeiten.<br />
Im Jubiläumsjahr legen zwei sehenswerte<br />
Ausstellungen davon Zeugnis ab.<br />
In der Annenkapelle werden noch bis<br />
zum 28. <strong>Juni</strong> <strong>2015</strong> mit einer interaktiven<br />
Ausstellung Projektergebnisse des<br />
Fächerverbindenden Unterrichts der<br />
heutigen Schüler zur Schulgeschichte<br />
gezeigt. Das Kulturhistorische Museum<br />
lädt im Kaisertrutz vom 8. Mai bis 6.<br />
September <strong>2015</strong> zu einer Sonderausstellung<br />
„Denkfabrik 1600. Das Gymnasium<br />
Augustum und das Görlitzer Geistesleben“<br />
ein. Dazu ist ein farbig illustrierter<br />
Katalog erschienen. Themenführungen,<br />
Familiennachmittage, Vorträge und kulturgeschichtliche<br />
Spaziergänge lassen<br />
die über dreihundert Objekte der Ausstellung<br />
erlebbar werden.<br />
Am 1. Mai 1566 hatte Petrus Vincentius<br />
bei dem Görlitzer Buchdrucker Ambrosius<br />
Fritsch eine Schulordnung für das<br />
Gymnasium drucken lassen. Diese lange<br />
als verschollen geltende Schrift gehört<br />
im Original zu den Objekten der Ausstellung<br />
und liegt aus Anlass des Jubiläums<br />
nun erstmals in deutscher Übersetzung<br />
vor unter dem Titel: „Erziehung und<br />
Lehre am Görlitzer Gymnasium“.<br />
Höhepunkt des Jubiläums wird die Festwoche<br />
vom 22. - 28. <strong>Juni</strong> <strong>2015</strong> sein.<br />
Am 22. <strong>Juni</strong> 1565 waren nach dem Freitagsgottesdienst<br />
in der Peterskirche die<br />
Schüler und Lehrer der ehemaligen städtischen<br />
Lateinschule von ihrem Schulgebäude<br />
in der Krebsgasse unter dem<br />
Geläut aller Glocken und Gesang durch<br />
die Straßen ins Kloster gezogen, wo im<br />
Refektorium, dem ehemaligen Speisesaal<br />
der Mönche und der nunmehrigen<br />
Prima, der eigentliche Festakt der Gründung<br />
des Gymnasiums stattfand.<br />
Am 22. <strong>Juni</strong> <strong>2015</strong> wird nach der Andacht<br />
in der Peterskirche dieser festliche Zug<br />
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Geschichte<br />
5
Anne<br />
450 Jahre Gymnasium Augustum –<br />
Eingang zum alten Gymnasium, Zeichnung von Johann Gottfried Schultz, 1797<br />
in historischen Kostümen nachvollzogen.<br />
In der Aula des Gymnasiums schließt<br />
sich um 11 Uhr die Festveranstaltung<br />
an, zu der die Stadt persönlich einlädt.<br />
In einem Symposium am Nachmittag<br />
sollen die aktuellen gesellschaftlichen<br />
Veränderungen und Anforderungen an<br />
die schulische Bildung von fachlich aus-<br />
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<br />
6<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Geschichte
Anne<br />
Görlitz feiert<br />
Augustum<br />
eine Erfolgsgeschichte<br />
Reste des alten Klosters vor dem Abriss, Gemälde von H. Thiedge<br />
gewiesenen Persönlichkeiten diskutiert<br />
werden.<br />
Die gesamte Festwoche wird vom Augustum-Annen-Gymnasium<br />
als Projektwoche<br />
gestaltet. So wird es für die<br />
Schüler je einen Sporttag, einen Theatertag,<br />
einen Naturwissenschaftlichen<br />
Tag und einen Sprachentag geben. In<br />
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Geschichte<br />
7
Anne<br />
450 Jahre Gymnasium Augustum –<br />
Gymnasium Augustum Klosterplatz, Aquarell von Albin Kühn, 1895<br />
einer besonderen Veranstaltung werden<br />
die Preisträger des 4. Schreibwettbewerbs<br />
`Schule „schräglich schön“`<br />
ausgezeichnet. Die Schriftsteller Fabian<br />
Lenk und Christoph Hein haben Lesungen<br />
zugesagt. Der Kinder-, Jugend- und<br />
Kammerchor des Gymnasiums lädt zur<br />
Märchenoper „Die Zauberflöte“ und zum<br />
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8<br />
Geschichte
Anne<br />
Görlitz feiert<br />
Augustum<br />
eine Erfolgsgeschichte<br />
Festkonzert ein. Mit den Religionslehrern<br />
gestalten die Schüler des Augustum-Annen-Gymnasiums<br />
und des Joliot-Curie-<br />
Gymnasiums den Ökumenischen Gottesdienst<br />
zum Schuljahresabschluss.<br />
Für den 27. <strong>Juni</strong> <strong>2015</strong> ist ein großes Absolvententreffen<br />
geplant. Am 28. <strong>Juni</strong><br />
findet in der Dreifaltigkeitskirche, der<br />
alten Schulkirche, der Festgottesdienst<br />
statt.<br />
Eine Matinee mit Musik des 16. Jahrhunderts<br />
wird den Ausklang der Festwoche<br />
bilden.<br />
Vor fünfzig Jahren zur Vierhundertjahrfeier<br />
hatte es Feierlichkeiten im<br />
Joliot-Curie-Gymnasium gegeben. 230<br />
ehemalige Angehörige des Gymnasium<br />
Augustum Gorlicense hatten sich aber<br />
auch vom 11. bis 13. <strong>Juni</strong> 1965 in Göttingen<br />
versammelt, um das Jubiläum im<br />
Exil zu feiern.<br />
<strong>2015</strong> können wir im wiedervereinigten<br />
demokratischen Deutschland gemeinsam<br />
am alten Ort auf 450 Jahre höhere<br />
Schulbildung in Görlitz zurückblicken,<br />
für vielfältige Unterstützung danken und<br />
uns auf ereignisreiche Tage freuen.<br />
Gymnasiasten vor der Schule, Gemälde von<br />
Thiedge um 1850, Ausschnitt<br />
Ludwig Ammer<br />
Vorstandsvorsitzender<br />
des Vereins der Freunde des Gymnasium<br />
Augustum Görlitz e. V.<br />
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Geschichte<br />
9
Sagen<br />
Lateinstunden<br />
Görlitz<br />
und Zechtouren –<br />
Raum der Prima im alten Gymnasium, 1796<br />
Über Jahrhunderte hinweg besaß das Görlitzer<br />
Gymnasium im ehemaligen Klostergebäude<br />
weithin einen guten Ruf. Die Namen<br />
etlicher Lehrer und vieler ehemaliger<br />
Schüler sind in die Geschichte eingegangen.<br />
Weniger bekannt ist ein bemerkenswertes<br />
Dokument, das einen ungewohnt<br />
lebendigen und vergnüglichen Einblick in<br />
den Schulalltag erlaubt. Es sind die „Merkwürdigkeiten,<br />
welche teils das sämtliche<br />
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10<br />
Geschichte
Sagen<br />
Schüler im 19.<br />
Görlitz<br />
Jahrhundert<br />
Gymnasium, teils aber vorzüglich die erste<br />
Classe desselben betroffen haben“, aufgeschrieben<br />
ab 1810 bis in die zweite Hälfte<br />
des 19. Jahrhunderts. Eine Auswahl brachte<br />
Bernhard Meth 1909 unter dem Titel<br />
„Schulgeschichten aus dem Alten Görlitzer<br />
Kloster“ an die Öffentlichkeit. Das Original<br />
dieser handschriftlichen „Primanerannalen“<br />
gilt als verschollen.<br />
Der Zeitabschnitt, den uns die jungen<br />
Chronisten aus den jeweiligen Abschlussklassen<br />
schildern, brachte so manche einschneidende<br />
Neuerung. Am Anfang erfahren<br />
wir noch vom kargen, patriarchalischen<br />
Schulbetrieb mit einem soliden Bildungsstand<br />
und einem ruppig-vertraulichen Umgangston<br />
zwischen Lehrern und Schülern.<br />
Nachdem Görlitz 1815 zu Preußen gekommen<br />
war, sollten nach den Vorstellungen<br />
Wilhelm von Humboldts die Gymnasien im<br />
neuhumanistischen Sinne vervollkommnet<br />
werden. Neben die alten Sprachen, die<br />
bis dahin im Mittelpunkt gestanden hatten,<br />
traten mehr deutsche Literatur, Kunstgeschichte,<br />
Mathematik, Physik und Sport.<br />
Der Unterricht sollte sich durch Ordnung,<br />
Disziplin, Pflichtbewußtsein und Leistungsstreben<br />
auszeichnen. Im Selbstverständnis<br />
der Schüler bedeutete dies den Abschied<br />
vom lockeren Scholarenleben in der Schulfamilie<br />
und den unwillkommenen Zwang,<br />
zu einem dienstbeflissenen Schuluntertan<br />
einer strammen Bildungsanstalt zu werden.<br />
Sie konnten noch nicht übersehen,<br />
daß diese Entwicklung im einzelnen wohl<br />
auch unerfreuliche Früchte trug, aber vor<br />
allem unumgängliche, gesellschaftlich bedingte<br />
Fortschritte brachte.<br />
1816 klagte der Chronist Werner: „Am<br />
1. Februar sonnabends früh in der Geschichtsstunde<br />
machte der Herr Rektor<br />
folgendes ihm aus Potsdam zugeschickte<br />
Dekret bekannt,… Die jedesmaligen<br />
Abiturienten sollen sich 3 Monate vor ihrem<br />
Abgange auf die Universität bei dem<br />
Schulrektor melden. Der Abiturientenexamen<br />
in Gegenwart einer bestimmten<br />
Kommission soll die Tüchtigkeit und Reife<br />
der Abiturienten an den Tag fördern. Es<br />
sind 3 Zensuren festgesetzt: 1, 2 und 3.<br />
Die erste erlaubt unbedingten Abgang auf<br />
die Universität, die zweite bedingten, und<br />
die dritte rät noch zum Dableiben. Die Ab-<br />
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Geschichte<br />
11
Sagen<br />
Lateinstunden<br />
Görlitz<br />
und Zechtouren –<br />
iturienten haben so ziemlich das zu leisten,<br />
was man von einem im Bücherstaube<br />
grau gewordenen Professor verlangen<br />
kann… Den 3. März Montag fingen sich<br />
die schriftlichen Examensarbeiten der Abiturienten<br />
an, jeden Tag von 8 bis 12 und<br />
Nachm. 1 bis 4 und dauerten bis sonnabends<br />
inclusive: Montag deutsche Arbeit,<br />
Dienstag lat., Mittwoch griech., Donn.<br />
franz., Freit. griech., Sonnab. mathem.<br />
Den 17. März montags fing sich d. mündliche<br />
Examen mit den Abiturienten an früh<br />
von 9 bis gegen 12 und Nachmittag von<br />
2 bis gegen 5 Uhr. Dienstags Nachmittag<br />
ebenfalls gegen 3 Stunden. Die dazu niedergesetzte<br />
Examinationskommission bestand<br />
aus allen Herren Lehrern, von denen<br />
d. Herren Rektor, Conrektor und Subrektor<br />
examinierten, und aus den Herren Bürgermeister<br />
Neumann, Sohr, Brotze, Lessing,<br />
den Herren Mag. Janke und Klien.“<br />
Mit der Zeit gewöhnte man sich daran und<br />
versuchte dem Unvermeidlichen angenehme<br />
Seiten abzugewinnen, wie Schaefer<br />
1830 berichtete: „Während des diesjährigen<br />
schriftlichen Abiturienten-Examens<br />
ging es sehr lustig zu: Wein, Bier, Kümmel<br />
und Speisen waren in großer Menge<br />
vorhanden, und Tabak wurde so sehr geschmaucht,<br />
daß man einander fast nicht<br />
sehen konnte.“ Hatte doch 1821 Janke<br />
vorausgesagt: „Wie unser liebenswürdiger<br />
Rektor von je ein Grillenfänger gewesen<br />
ist und es wohl auch in aeternum bleiben<br />
wird, so fiel ihm auch jüngst ein, uns das<br />
Tabakrauchen zu verbieten…Wie lächerlich!<br />
Am Allerlächerlichsten aber war seine<br />
Drohung, er wolle die Tabakraucher ins<br />
Carcer stecken! Trotz seiner Drohungen<br />
und Zornausbrüche wird das Tabakrauchen<br />
nichtsdestoweniger und kontinuierter,<br />
ja noch ärger fortgesetzt und in Ewigkeit<br />
wohl fortgesetzt werden“. Seitenweise<br />
berichten die Annalen über die Zechtouren<br />
der Oberklasse. 1831 notierte Heintze:<br />
„Am nächsten Abend saßen 8 von uns im<br />
Gasthaus zum weißen Roß, um das dortige<br />
Bier zu kosten und das Benehmen<br />
des Wirts gegen uns zu beobachten…Wir<br />
verhandelten am selben Abende noch mit<br />
ihm wegen eines eigenen Zimmers, und<br />
vom folgenden Abende an konnten wir<br />
ungestört von Philistern in der eigenen<br />
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12<br />
Geschichte
Sagen<br />
Schüler im 19.<br />
Görlitz<br />
Jahrhundert<br />
Kneipe sitzen und tranken<br />
täglich 150 bis 200 Flaschen<br />
Bier.“ Mitunter hatten die<br />
Trinkfreuden weniger erfreuliche<br />
Folgen, wie 1836<br />
zu lesen ist: „Am 21. Dezember<br />
feierten wir unser<br />
sieben die Thomasnacht bei<br />
Grog; dann zogen wir in der<br />
Stadt herum und verübten<br />
allerlei Ulk: wir hoben einige<br />
Schilder ab und warfen<br />
sie in die Röhrtröge; einige<br />
rollten wir auf abschüssigen<br />
Straßen den heraufkommenden<br />
Nachtwächtern<br />
entgegen.“ Das Bier<br />
steigerte die Angriffslust,<br />
so 1828: „Den 2. <strong>Juni</strong> waren<br />
die Primaner Dehmel,<br />
Schäfer, Langer, Helwig und<br />
Mattausch in der Schnapskneipe<br />
bei Braders unterm<br />
Frauentore, im sogenannten<br />
Zwinger. Dehmel, der<br />
schon tüchtig angestochen<br />
war, äußerte in Gegenwart Hof des Gymnasiums, Zeichnung von Nathe, 1802<br />
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Geschichte<br />
13
Sagen<br />
Lateinstunden<br />
Görlitz<br />
und Zechtouren –<br />
Gymnasium von Süden, Zeichnung von Schultz, 1804<br />
zweier Schneidergesellen, daß vor einiger<br />
Zeit ein starker Wind zwei Schneidergesellen<br />
vom Steinberge bei Lauban heruntergeworfen<br />
habe…Nun wurde gegenseitig<br />
mit Redensarten gestichelt, und es kam<br />
an demselben Abend zu einer tüchtigen<br />
Schlägerei, wobei die Schneider zusammengehauen,<br />
dem einen das Nasenbein<br />
zerschlagen und ein andrer hinter den<br />
Ofen geworfen wurde.“<br />
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14<br />
Geschichte
Sagen<br />
Schüler im 19.<br />
Görlitz<br />
Jahrhundert<br />
300-Jahr-Feier, 1865, Primaner mit Schulfahne<br />
Der hochgelehrte, poltrige Rektor Anton,<br />
ein stadtbekanntes Original, hatte genug<br />
Gründe für Verwarnungen und Verbote.<br />
1824 schreibt Haupt: „Am 3. Dezember<br />
hörte der Herr Rektor einen ziemlichen<br />
Spektakel in Unterprima; er lief sofort<br />
in die Klasse und schimpfte auf das viehische<br />
Gebrüll und sagte, die Primaner<br />
seien keine Menschen, sondern höchstens<br />
Viehmenschen.“ Alle Versuche, die<br />
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Geschichte<br />
15
Sagen<br />
Lateinstunden<br />
Görlitz<br />
und Zechtouren –<br />
Prof. Dr. Karl Anton, Rektor von 1809 bis 1854<br />
aufsässigen jungen Geister<br />
an die Kandare zu nehmen,<br />
fruchteten zunächst wenig;<br />
1837 lesen wir: „Den 2. Dezember<br />
wurde vom Rektor<br />
in Prima etwas gerungst,<br />
doch ziemlich gelinde. Anlaß<br />
dazu gab der Umstand, daß<br />
das – seit Michaeli in allen<br />
Klassen eingeführte – Klassenbuch<br />
schrecklich zerrissen<br />
worden war…Der Rektor<br />
meinte, er wisse recht<br />
gut, daß das Buch von uns<br />
bloß deshalb so fürchterlich<br />
zugerichtet worden sei,<br />
weil wir der Konferenz, der<br />
es vorgelegt werden muß,<br />
zeigen wollten, daß wir uns<br />
nichts daraus machten.“<br />
Die politischen Entwicklungen<br />
(wie Burschenschaftsbewegung<br />
und „Demagogenverfolgungen“)<br />
machten<br />
keinen Bogen um die Schule.<br />
1835 berichtet Adam,<br />
weshalb der Abiturient<br />
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16<br />
Geschichte
Sagen<br />
Schüler im 19.<br />
Görlitz<br />
Jahrhundert<br />
Rösler bei einer Bestrafung<br />
ausgespart wurde: „Das<br />
Rätsel löst sich aber, wenn<br />
man weiß, daß der Magister<br />
Rösler, der Vater des Abiturienten,<br />
der beste Freund<br />
des Bürgermeisters Demiani<br />
ist und dieser die Konferenzen<br />
anzusetzen hat!<br />
Was vermag das schwache<br />
Recht gegen die Übermacht<br />
der Gewaltigen?“ Zum Beweis<br />
führte er die Schicksale<br />
zweier ehemaliger Schüler<br />
an: „Meerfurth, der den<br />
Jahrgang 1828/29 dieser<br />
Annalen geschrieben hat,<br />
ging von hier ab, um in<br />
Breslau Theologie zu studieren.<br />
Nach Beendigung<br />
seiner Studien und nach<br />
absolviertem ersten Examen<br />
wurde er wegen des<br />
Verdachts der Teilnahme<br />
an einer verbotenen Verbindung<br />
zur Untersuchung gezogen<br />
und…zu zwanzigjäh- Görlitzer Schuljunge, Zeichnung 1844<br />
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Geschichte<br />
17
Sagen<br />
Lateinstunden<br />
Görlitz<br />
und Zechtouren –<br />
Neues Schulgebäude auf dem Klosterplatz, 1856, Lithographie um 1870<br />
riger Festungsstrafe verurteilt! Schäfer, der<br />
den Jahrgang 1829/30 geschrieben hatte,<br />
starb 1832 als Student bei seinen Eltern in<br />
Markersdorf und wurde dort unter Begleitung<br />
sehr vieler Primaner begraben. Aus<br />
den an seinem Grabe von den Primanern<br />
angestimmten Gesängen wollten gewisse<br />
Demagogenriecher herausgemerkt haben,<br />
daß Schäfer Burschenschafter gewesen<br />
sein müsse.! Um nun wo möglich noch<br />
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18<br />
Geschichte
Sagen<br />
Schüler im 19.<br />
Görlitz<br />
Jahrhundert<br />
die Sänger zur Verantwortung<br />
und Untersuchung zu<br />
ziehen, wurde die Sache angezeigt<br />
und der arme Schäfer<br />
trotz des Flehens seiner<br />
Eltern, man möge ihrem<br />
Sohne doch im Grabe Ruhe<br />
lassen, ausgegraben! Man<br />
fand auch richtig, was man<br />
suchte: das schwarz-rotgoldne<br />
Band!“ Die Jugenderfahrungen<br />
am Görlitzer<br />
Gymnasium prägten diese<br />
Generation, die dann die<br />
Revolution, die „Einigungskriege“<br />
und das wilhelminische<br />
Deutschland als Augenzeugen<br />
und Mitgestalter<br />
erleben sollte. Dankbar und<br />
etwas wehmütig gedachte<br />
man im Alter der „guten<br />
alten Zeit“, die doch widersprüchlich<br />
gewesen war wie<br />
jede Zeit.<br />
Dr. Ernst Kretzschmar<br />
Aus: Allerlei aus Alt-Görlitz,<br />
Görlitzinformation 1988 Garten des Gymnasiums, Zeichnung von Nathe, 1804<br />
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Geschichte<br />
19
Görlitz<br />
Gymnasialrektor<br />
Ratsarchiv<br />
Christian Friedrich Baumeister –<br />
Klassenraum der Prima<br />
Das Görlitzer Gymnasium<br />
begeht seinen 450. Geburtstag.<br />
Es repräsentiert<br />
bis heute einen bemerkenswerten<br />
Teil nicht nur<br />
der Görlitzer Geistes- und<br />
Wissenschaftsgeschichte.<br />
Bildung, so erkannte<br />
man auch hier schon im<br />
16. Jahrhundert, ist die<br />
Grundlage für Prosperität<br />
und Wohlstand. Die Erziehung<br />
der Gymnasiasten zu<br />
guten Christenmenschen<br />
sollte zugleich ein friedliches<br />
und gottgefälliges<br />
Leben in der Stadtgemeinschaft<br />
sichern helfen. Der<br />
Görlitzer Rat investierte<br />
ungeheuer viel Geld, um<br />
das aufgelassene Franziskanerkloster<br />
in eine Schule<br />
zu verwandeln. Entscheidend<br />
für die Entwicklung<br />
des Görlitzer Gymnasiums<br />
war aber die Erkenntnis<br />
des Rates, dass die Qua-<br />
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20<br />
Geschichte
Görlitzer Gelehrter<br />
Ratsarchiv<br />
und Pädagoge<br />
lität des Unterrichts wesentlich<br />
von der Lehrerschaft<br />
und besonders von<br />
einem herausragenden,<br />
brillanten Rektor abhing.<br />
So dotierte man die Rektorenstelle<br />
sehr hoch und<br />
verwandte viel Mühe darauf,<br />
geeignete Gelehrte<br />
für dieses Amt zu gewinnen.<br />
Christian Friedrich<br />
Baumeister, der es von<br />
1736 bis zu seinem Tode<br />
1785 bekleidete, gehörte<br />
zu den herausragendsten<br />
von ihnen. Der 1709<br />
in Großkörnern bei Gotha<br />
geborene Sohn eines Pfarrers<br />
studierte nach dem<br />
Besuch des Gothaer Gymnasiums<br />
an den Universitäten<br />
in Jena und Wittenberg.<br />
Neben der Theologie<br />
galt sein besonderes Interesse<br />
der Philosophie des<br />
bedeutenden, aber damals<br />
von den Pietisten stark an-<br />
Abschied von Wittenberg<br />
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Geschichte<br />
21
Görlitz<br />
Gymnasialrektor<br />
Ratsarchiv<br />
Christian Friedrich Baumeister –<br />
gefeindeten Christian Wolff. Baumeister<br />
lehrte nach Erlangung des Magistertitels<br />
ab 1730 an der Universität Wittenberg.<br />
Die Studenten strömten zahlreich<br />
und begeistert in seine Vorlesungen. Er<br />
war ein geschliffener Rhetoriker und<br />
beherrschte wie kein anderer Altsprachen<br />
wie Latein und Hebräisch. Dies<br />
erweckte den Neid und gar die Feindschaft<br />
unter den Akademikerkollegen,<br />
besonders aber der Professorenschaft.<br />
Der Görlitzer Rat suchte seit 1735 einen<br />
Nachfolger für den immer hinfälliger gewordenen<br />
alten Rektor Samuel Grosser.<br />
Der Ruf Baumeisters drang nach Görlitz.<br />
Über den Dresdner Hofrat Günther zog<br />
man in Wittenberg Meinungen über die<br />
Qualitäten Baumeisters ein. Besonders<br />
das Gutachten des Gelehrten Ephraim<br />
Gottfried Reich überzeugte in Görlitz.<br />
Trefflich war dessen Urteil über die Anfeindungen<br />
einiger Wittenberger wegen<br />
des Erfolgs des „Wolffianers“ Baumeister<br />
bei den Studenten: „Allein man<br />
weiß, daß es auf Academien auch öffters<br />
Neider gibt, welche scheel sehen,<br />
wenn ein kleines Lichtgen heller leuchtet<br />
als eine hochgesetzte Kertze.“ Baumeister<br />
erklärte, vielleicht auch weil er<br />
der Wittenberger Kleingeister leid war,<br />
sehr bald seine Bereitschaft, einem Rufe<br />
nach Görlitz zu folgen. Darauf wurde er<br />
von Wittenberg hier als Trunkenbold<br />
und Frauenheld denunziert. Er rechtfertigte<br />
sich diesbezüglich übrigens in einem<br />
Schreiben damit, dass sein Arzt ihn<br />
anhielte, mehr Bier zu trinken. Die über<br />
den Tag konsumierten 2 Liter wären<br />
deutlich zu wenig. Und hübsche Frauenzimmer,<br />
um die man freien könne,<br />
gäbe es in Wittenberg nicht. Am 5. <strong>Juni</strong><br />
1736 empfing man den neu berufenen<br />
Rektor in Görlitz. Neben seinem Wissen<br />
zeichnete diesen außergewöhnlichen<br />
Gelehrten sein ungeheurer Fleiß aus. Er<br />
verfasste über 300 philosophische, pädagogische,<br />
philologische und historische<br />
Werke. Besonders sein Kompendium<br />
der Philosophie und sein Lehrbuch der<br />
Rhetorik gehörten zu seinen wichtigsten<br />
Schriften und fanden auch im Ausland<br />
Aufmerksamkeit. Neben Mathematik,<br />
Philosophie und humanistischen Studien<br />
legte er besonderen Wert auf den Un-<br />
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22<br />
Geschichte
Görlitzer Gelehrter<br />
Ratsarchiv<br />
und Pädagoge<br />
terricht der Altsprachen. Zudem führte<br />
er den Französischunterricht ein. Dabei<br />
wurden nicht mehr wie bisher wesentlich<br />
Definitionen und Regeln gepaukt.<br />
Die Gymnasiasten sollten auf die akademische<br />
und spätere berufliche Praxis<br />
vorbereitet werden. So lernten sie frei<br />
vom Katheder in Latein zu referieren.<br />
Baumeister liebte seinen Beruf und seine<br />
Wahlheimat. Lukrative Angebote der<br />
Gymnasien zu Meißen, Stade, Coburg<br />
und Gera schlug er deshalb ebenso aus<br />
wie die der Universitäten Wittenberg<br />
und Erlangen. Auch privat fand er sein<br />
Glück. Noch im August 1736 heiratete<br />
er die Tochter des Wittenberger Theologieprofessors<br />
Haferung. Seinen 11 Kindern<br />
war er ein strenger, aber liebender<br />
Vater. Nach 49 Jahren Rektorat verstarb<br />
Baumeister hochverehrt im Jahre 1785<br />
in Görlitz.<br />
Siegfried Hoche<br />
Ratsarchivar<br />
Rektor Friedrich Christian Baumeister, 1709 bis 1785<br />
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Geschichte<br />
23
Bergstraße<br />
In der Tradition Görlitzer<br />
1<br />
Fabrikantenvillen –<br />
Villa Kaufmann, Bergstraße 1, um 1900<br />
Der stürmische industrielle Aufschwung<br />
in Görlitz im 19. und frühen 20. Jahrhundert<br />
gab der Stadt in mancher Hinsicht<br />
ein neues Profil. Der wachsende Bedarf<br />
an Arbeitskräften ließ die Einwohnerzahl<br />
in diesem Zeitraum auf das Zehnfache<br />
steigen. Die Stadt dehnte sich nach Osten,<br />
Süden und Westen aus und verän-<br />
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24<br />
Geschichte
Das Haus Bergstraße 1<br />
derte durch moderne Neubauviertel mit<br />
Wohnstraßen, Plätzen, Kirchen, Schulen,<br />
Einkaufspassagen, Kaufhäusern ihr Gesicht.<br />
Namen von Großunternehmern<br />
waren jedermann wohlbekannt – Lüders,<br />
Raupach, Müller, Roscher, Fischer,<br />
Körner, Meyer, Hagspihl, Scheller, Ephraim,<br />
Strassburg. Diese Persönlichkeiten<br />
sorgten nicht nur für eine weitgehend<br />
erfolgreiche, innovative und exportfähige<br />
Produktion. Sie stellten sich auch den<br />
Herausforderungen politischer Mitgestaltung,<br />
waren Stadtverordnete, ehrenamtliche<br />
Magistratsmitglieder, Abgeordnete<br />
im Landtag und sogar im Reichstag<br />
(Erwin Lüders). Und sie erwiesen sich<br />
als großzügige Förderer der städtischen<br />
Kultur, steuerten beträchtliche Summen<br />
für Kirchenneubauten, Museen, wissenschaftliche<br />
und sozialfürsorgerische Bürgervereine<br />
bei. Sie öffneten ihre Wohnhäuser<br />
für anregende Gespräche über<br />
Theateraufführungen, Konzertvorhaben<br />
und Kommunalpolitik. Bedeutend war<br />
jedoch auch ihr Beitrag zur Verschönerung<br />
des Stadtbildes durch ihre Privatvillen,<br />
für die einheimische Architekten,<br />
Bauunternehmen und Kunsthandwerker<br />
herangezogen wurden. Die großzügigen,<br />
modernen und zumeist stilvollen<br />
Gebäude mit Ziergärten, Springbrunnen<br />
und geschmiedeten Zäunen setzten Akzente<br />
in den neuen Vierteln und wirkten<br />
so dem Eindruck von einförmigen Wohnhauszeilen<br />
entgegen. Es waren keine<br />
protzigen Zurschaustellungen privaten<br />
Reichtums einer abgehobenen Schicht<br />
oder geheimnisvolle Märchenschlösser<br />
hinter hohen Mauern, sondern architektonische<br />
Glanzlichter, insbesondere in<br />
Nähe des Stadtparks (ironisch auch nach<br />
den Bewohnern „Geheimratsviertel“ genannt)<br />
oder in der aufblühenden neuen<br />
Südstadt mit ihren breiten Alleen. Wir<br />
denken da an die Villen von Erwin Lüders<br />
(Schützenstraße 9), Otto Müller (Schützenstraße<br />
8), Adolph Behnisch (Mühlweg<br />
19), Guido Hagsphil (Goethestraße<br />
5), Martin Ephraim (Goethestraße 17),<br />
Otto Strassburg (Viktoriastraße 9), Raupach<br />
(Zittauer Straße 14/15), Alexander-<br />
Katz (Promenade 14, 1945 zerstört). Die<br />
meisten überstanden das Kriegsende<br />
1945 und wurden inzwischen einfühlsam<br />
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Geschichte<br />
25
Bergstraße<br />
In der Tradition Görlitzer<br />
1<br />
Fabrikantenvillen –<br />
saniert. Nur die großzügige Villa Hagspihl<br />
an der Goethestraße (zeitweise Fachschule<br />
für Binnenhandel) steht immer<br />
noch leer.<br />
Etwa zwei Jahrzehnte Leerstand haben<br />
auch der Villa Bergstraße 1 arg zugesetzt.<br />
An dieser Stelle neben dem einstigen<br />
mittelalterlichen Mauerring am Rande<br />
der Altstadt gab es ebenfalls Neubauten<br />
bis hinab zum Neißeufer. Die Bergstraße<br />
war nach dem Lohgerberei-Besitzer Erich<br />
Janson Berg, Kopenhagen, benannt, der<br />
dort 1832 am ältesten Görlitzer Industriestandort<br />
den Betrieb errichten ließ. Die<br />
Unternehmer Halberstadt und Apitzsch<br />
kauften 1850/1856 die Gerberei auf und<br />
errichteten dort 1857 eine neue Fabrik.<br />
Die Grundstücke 3 bis 13 und 30/31<br />
besaß die Firma Müller und Kaufmann,<br />
ebenso Bergstraße 1 und 2. Unternehmer<br />
Siegfried Kaufmann (1846-1898)<br />
ließ Bergstraße 1 eine Villa errichten, die<br />
er 1895 bezog. Zur Fabrik gehörten Weberei,<br />
Färberei, Appretur und Verkaufsraum.<br />
Da Kaufmann jedoch bereits drei<br />
Jahre nach dem Bezug der Villa verstarb,<br />
übernahm seine Witwe Rosa Kaufmann,<br />
geborene Franck, als Fabrikbesitzerin<br />
zunächst die Verantwortung und zog<br />
zugleich ihre fünf Kinder groß: Ludwig,<br />
Hans, Ulrich, Hilde und Gerhart. Das<br />
Haus wurde zu ihrer Zeit eine Begegnungsstätte<br />
für den Meinungsaustausch<br />
über das kulturelle Leben der Stadt. Für<br />
die Gemäldesammlung des Kaiser-Friedrich-Museums<br />
in der 1902 eingeweihten<br />
„Ruhmeshalle“ stiftete sie ein Bild, wie<br />
der Festschrift von 1912 zu entnehmen<br />
ist. Wegen ihrer jüdischen Herkunft sah<br />
sie sich 1936 zum Verlassen Deutschlands<br />
gezwungen. Sie lebte und starb<br />
(1943) in Tanganjika, wo die älteren<br />
Söhne im ehemaligen Deutsch-Ostafrika<br />
in den 1920er Jahren Land erworben<br />
hatten. Ihre Nachkommen besuchten in<br />
den zurückliegenden Jahrzehnten mehrmals<br />
das Haus ihrer Görlitzer Vorfahren<br />
an der Bergstraße, das nach den Jahren<br />
des Leerstandes und der Verwahrlosung<br />
nach 1990 nun endlich mit dankenswertem<br />
Einsatz durch die neuen Eigentümer<br />
als Baudenkmal und erlesene Wohnstätte<br />
wieder erschlossen wird.<br />
Ähnlich wie wenige Jahre später bei der<br />
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26<br />
Geschichte
Das Haus Bergstraße 1<br />
Villa und Fabrik Kaufmann (links) um 1900, Lithographie<br />
berühmten Ephraim-Villa an der Goethestraße<br />
findet man bei der Kaufmann-Villa<br />
bereits das Bemühen, vom Stilempfinden<br />
der Gründerzeitarchitektur abzurücken<br />
und dem Neubau mehr individuelle Gestaltungsmöglichkeiten<br />
einzuräumen.<br />
Nicht eine streng geordnete Fassade<br />
ist entscheidend, sondern die Funktion<br />
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Geschichte<br />
27
Bergstraße<br />
In der Tradition Görlitzer<br />
1<br />
Fabrikantenvillen –<br />
der Innenräume wie etwa Eingangshalle,<br />
Treppe, Wintergarten, Speisezimmer,<br />
Teezimmer, Musikzimmer und so weiter.<br />
Das äußere Gesamtbild bietet eine<br />
scheinbare Beliebigkeit mit unterschiedlichen<br />
Fenstergrößen und Giebeln, Erkern<br />
und Türmchen. Aber dennoch zeigt der<br />
Gesamteindruck einen ausgewogenen<br />
Baukörper trotz der gewollten Asymmetrie.<br />
Das betonte Zeigen von Naturstein,<br />
Holzfachwerk und sogar Blech folgt der<br />
Mode vor 1914 und taucht ja auch noch<br />
an Villen der 1920er Jahre in Görlitz auf.<br />
Auch die Innenausstattung bevorzugte<br />
Holztäfelungen, Stuckdecken, Farbglasfenster<br />
und Mosaik.<br />
Erstaunlich und doch zeittypisch wirkt der<br />
Kontrast zur zweckbetonten, sachlichen<br />
Strenge der benachbarten Fabrikanlage.<br />
Im Rahmen der laufenden Rekultivierung<br />
der Uferbereiche sollte nun auch diese<br />
bisher vernachlässigte Gegend bewußter<br />
von den Görlitzern wahrgenommen und<br />
für den Tourismus erschlossen werden.<br />
Dr. Ernst Kretzschmar<br />
Grabanlage von Siegfried Kaufmann<br />
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28<br />
Geschichte
Das Haus Bergstraße 1 heute<br />
Jahrzehnte lang verfiel eine<br />
der schönsten historischen<br />
Villen mit ihrer grandiosen<br />
Geschichte zusehends.<br />
Bereits vor Jahren war die<br />
einstige Kaufmannsche Villa<br />
ein Highlight beim Offenen<br />
Tag der Sanierungstür.<br />
Vor wenigen Jahren fand<br />
sich dann endlich ein Investor,<br />
der den Mut hatte,<br />
diesem Kleinod in enger<br />
Zusammenarbeit mit dem<br />
Denkmalschutz wieder zu<br />
altem Prunk zu verhelfen.<br />
Wenn man heute die schönen<br />
Anlagen der Ochsenbastei<br />
betritt, sieht man<br />
die bauliche Kunst unserer<br />
Vorväter wieder in einem<br />
strahlenden Antlitz. Auch<br />
hier wurde mit enormer<br />
Tatkraft ein Schmutzfleck in<br />
dem größten Flächendenkmal<br />
Deutschlands mit sehr<br />
viel Eigeninitiative beseitigt.<br />
Eingangsbereich Bergstraße 1, Frühjahr <strong>2015</strong><br />
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Geschichte<br />
29
Das Haus Bergstraße 1 heute<br />
Südseite Bergstraße 1<br />
In dieser Ansicht der Villa Bergstraße 1<br />
fällt die gelungen sanierte Dachkonstruktion<br />
mit dem dezenten, aber spannenden<br />
Muster oberhalb des Giebels auf. Liebevoll<br />
wurden der Erkerturm, aber auch<br />
der Wintergarten wieder hergestellt. Die<br />
Fassade erscheint in einem freundlichen<br />
Ton, und auch die Fenster wurden nach<br />
historischem Vorbild saniert. Ein echter<br />
Hingucker sind natürlich auch die<br />
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30<br />
Geschichte
Das Haus Bergstraße 1 heute<br />
Die Villa neben dem Westeingang zum Ochsenzwinger<br />
Schmiedearbeiten am Tor und am Zaun.<br />
Unser Foto zeigt, wie harmonisch sich die<br />
restaurierte Villa dem Eingang zur Ochsenbastei<br />
anpasst. Dies ist ein wirklich<br />
gelungenes Beispiel für denkmalgerechte<br />
Sanierung. Wollen wir hoffen, dass die<br />
eine oder andere Villa, die noch in einem<br />
beklagenswerten Dasein schmachtet,<br />
möglichst rasch einen Investor findet!<br />
A. Ch. de Morales Roque<br />
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Geschichte<br />
31
Sagen<br />
Wie die Weißenberger den Schatz –<br />
Die Weißenberger plagten gar arge Sorgen.<br />
Zum ersten Male in der ruhmvollen<br />
Geschichte ihres weithin bekannten<br />
Städtchens hatten sie finanzielle Nöte,<br />
denn sie waren durch widrige Zeitverhältnisse<br />
in ziemliche Schulden geraten,<br />
die nun mit Zins und Zinseszinsen<br />
zurückgezahlt werden mußten. Doch<br />
zu ihrem großen Jammer lagen in der<br />
eisernen Geldtruhe des Bürgermeisterzimmers<br />
im Rathaus nur noch ein paar<br />
armselige Kreuzer und Heller, die kaum<br />
für einen Krug Bier reichten, geschweige<br />
denn für größere <strong>Ausgabe</strong>n. Aber<br />
wie sollte man zu der erforderlichen<br />
Summe für die Begleichung der Schulden<br />
kommen, wenn es wenig Aussicht<br />
auf gute Geschäfte für die Bürger der<br />
Stadt in nächster Zeit gab?<br />
Da war nun dem Weißenberger Böttchermeister<br />
Balduin, der mit im ehrenwerten<br />
Rat des berühmten Städtchens<br />
saß, etwas über einen sagenhaften<br />
Schatz auf der Landeskrone zu Ohren<br />
gekommen. Unter anderem sollte er<br />
aus drei Fässern voll geprägter Münzen<br />
bestehen. Im ersten Faß gäbe es lauter<br />
Goldstücke, in dem zweiten wären bis<br />
oben hin silbrige Taler, und im dritten<br />
befänden sich kleinere Münzwerte, wie<br />
zum Beispiel Silbergroschen, die man<br />
ja auch gut verwerten könnte. Außerdem<br />
gäbe es in dem Schatzkeller noch<br />
zahlreiche silberne und goldene Geräte,<br />
Armleuchter und Schüsseln sowie ganze<br />
Braupfannen voll klarer Gold- und<br />
Silberbarren. Dieser gewaltige Schatz<br />
sei vor langer Zeit von dem ehemaligen<br />
Herrn der Landeskrone, Aloys Zistibor,<br />
in den Felsenkeller seines burgähnlichen<br />
Schlosses mit Hilfe eines alten<br />
Zauberers gebracht worden. Nach dem<br />
überraschenden Tode des Zistibors wäre<br />
jedoch der Eingang zur Schatzkammer<br />
verschwunden. Sosehr man damals<br />
und auch später nach ihm suchte, kein<br />
Mensch konnte ihn bisher entdecken.<br />
Er, der Herr Böttchermeister Balduin,<br />
hätte aber jetzt aus einem alten Zauberbuch<br />
erfahren, wie man wohl in den<br />
Besitz des Schatzes gelangen könnte.<br />
Schon bei der Schilderung des Wertumfangs<br />
war es dem Bürgermeister und<br />
seinen Ratsherren heiß und kalt über<br />
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32<br />
Geschichte
Sagen<br />
auf der Landeskrone heben wollten<br />
den Rücken gelaufen. Sie<br />
glaubten fest daran, dass<br />
es den Zistiborschatz wirklich<br />
gäbe. Wenn sie diesen<br />
in ihre geliebte Stadt bringen<br />
könnten, wären alle<br />
finanziellen Sorgen erledigt,<br />
und der Ruhm ihres<br />
Ortes würde über solch<br />
eine Tat in noch weitere<br />
Gefilde dringen, als es<br />
bisher der Fall war. Der<br />
Böttchermeister mußte<br />
nun berichten, wie an den<br />
Schatz zu gelangen wäre.<br />
So fing also der brave<br />
Mann an zu erzählen:<br />
„In der Johannisnacht,<br />
Punkt 12 Uhr, müsse man<br />
mit einem Kater, einem Ziegenbock<br />
und einem Hund<br />
oben auf der Landeskrone<br />
sein. Es müssen aber ganz<br />
schwarze Tiere sein, weil<br />
die dortigen Berggeister<br />
aus noch unbekannten<br />
Gründen diese Farbe und<br />
Aufstieg zum Gipfel der Landeskrone<br />
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Geschichte<br />
33
Sagen<br />
Wie die Weißenberger den Schatz –<br />
auch die genannten Tiere bevorzugen.<br />
Wenn man mit diesen vierbeinigen Lebewesen<br />
die Bergspitze erreicht hätte,<br />
so würden die drei Tiere in der Geisterstunde<br />
den Schatz finden, und die<br />
bis dahin verborgene Tür spränge von<br />
selbst auf. Man dürfe aber während der<br />
ganzen Schatzsuche auf der Landeskrone<br />
kein Sterbenswörtchen reden, auch<br />
wenn die Geister zu dieser Stunde vor<br />
Ärger über die nächtliche Störung noch<br />
so rumoren sollten; erklinge nur ein<br />
Wort, wären alle bisher aufgebrachten<br />
Mühen umsonst.“<br />
Nach diesem ausführlichen Bericht des<br />
Meisters der Fässer und Wannen waren<br />
alle Ratsherren Feuer und Flamme,<br />
den Schatz recht bald zu heben. Man<br />
versprach auch sich gegenseitig, über<br />
das geplante Vorhaben vorläufig zu<br />
schweigen, denn womöglich würden<br />
die Reichenbacher, denen sie solch einen<br />
Erfolg nicht gönnten, ihnen sonst<br />
zuvorkommen. Doch so waren aber im<br />
Weißenberger Städtchen die erforderlichen<br />
schwarzen Tiere zu finden? Gingen<br />
sie eventuell nach dem Heben des<br />
Schatzes als Opfer für die Berggeister<br />
verloren? Der Pfefferküchler war bereit,<br />
seinen schon bejahrten Kater zur<br />
Verfügung zu stellen, denn die Tiere<br />
mußten ja aufgebracht werden. Der<br />
Herr Apotheker trennte sich ungern von<br />
seinem Spitz, aber das Wohl und Wehe<br />
der Stadt standen im Vordergrund. Jedoch,<br />
wer hatte einen schwarzen Ziegenbock?<br />
Den besaß glücklicherweise<br />
der Schneidemeister. So hatten nun<br />
die Weißenberger Ratsherren die Tiere<br />
endlich zusammen und beschlossen, in<br />
zwei Tagen das Unternehmen zu starten,<br />
weil da laut Kalender die Johannisnacht<br />
war.<br />
Mit einen Planwagen, gezogen von zwei<br />
Pferden, brachen am zeitigen Abend<br />
des so bedeutsamen Tages vier Weißenberger<br />
mit einem Fuhrmann als<br />
Kutscher in Richtung Landeskrone auf.<br />
Drei davon waren die Besitzer der ausgewählten<br />
Tiere. Der vierte Mann war<br />
der Herr Böttchermeister als Leiter der<br />
kleinen Delegation. Es dunkelte schon<br />
stark, als die eigenartige Reisegesellschaft<br />
den Fuß des Berges erreichte. Im<br />
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34<br />
Geschichte
Sagen<br />
auf der Landeskrone heben wollten<br />
trüben Schein der Lampen begann man<br />
den Aufstieg. Die eventuell benötigten<br />
Fackeln trug der Böttchermeister. Doch<br />
die an einem Halsband mitgeführten<br />
Tiere waren wohl nicht sehr begeistert<br />
davon, zu so später Stunde noch die<br />
Landeskrone zu erklimmen. Am meisten<br />
Schwierigkeiten gab es mit dem alten<br />
Kater, den deshalb der beleibte Pfefferküchler<br />
auf dem Arm tragen mußte,<br />
wenn man die Bergspitze überhaupt<br />
zur vorgesehenen Zeit erreichen wollte.<br />
Außerdem durfte in der Dunkelheit keines<br />
der Tiere abhanden kommen. Wer<br />
sollte die schwarzen Vierbeiner dann<br />
im Gestrüpp entdecken? Und ohne sie<br />
gäbe es auch keinen Schatz.<br />
Zum allseitigen Verdruß der besorgten<br />
Männer zog noch ein Unwetter herauf.<br />
Heftiger Wind, Blitze und Donnergrollen<br />
sowie einsetzender Regen ließen den<br />
Aufstieg zu keinem Vergnügen werden.<br />
Völlig durchnäßt erreichten Mensch und<br />
Tier dann in der Mitternachtsstunde<br />
den Gipfel der Landeskrone. Doch wo<br />
war nun der verschüttete Schatzkeller<br />
zu suchen? Nach längerem Hin- und<br />
Herirren zog der Spitz an der Leine des<br />
Apothekers und fing bei einem niedrigen<br />
Gebüsch an zu scharren. Im Schein der<br />
Lampen und Fackeln entdeckten dort<br />
die Weißenberger einen Steinhaufen,<br />
in dem sich auch dicke Holzteile einer<br />
alten Tür befanden. Sofort wurde mit<br />
Hacke und Schaufel an der Beseitigung<br />
der Trümmer gearbeitet. Der Böttchermeister<br />
mußte inzwischen die Leinen<br />
der Tiere halten. Die Herzen der Männer<br />
schlugen nun vor Freude ganz toll.<br />
Sicherlich hatten sie mit Hilfe der Tiere<br />
den verschütteten Eingang zum Schatzkeller<br />
gefunden. Da schlug unmittelbar<br />
in ihrer Nähe ein Blitz in die Erde, und<br />
zugleich ertönte ein furchbarer Donnerknall,<br />
als ob ein grimmiger Berggeist<br />
seinen Unwillen über die Ruhestörer<br />
äußern wollte. Vor Schreck und Angst<br />
entfielen den Weißenberger Männern<br />
die Arbeitsgeräte aus den Händen und<br />
dem Herrn Böttchermeister die Leinen<br />
der ihm anvertrauten Tiere, die, durch<br />
dieses plötzliche Naturereignis ebenfalls<br />
erschreckt, nach verschiedenen Richtungen<br />
hin die Flucht ergriffen. Da war<br />
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Geschichte<br />
35
Sagen<br />
Wie die Weißenberger den Schatz<br />
nun guter Rat teuer. Trotz allen Rufens<br />
und Lockens ließen sich bei immer heftigerem<br />
Regen und der stockdunklen<br />
Nacht kein Kater, Hund und Ziegenbock<br />
blicken. Sicher hatten sich die Tiere zum<br />
Schutz vor dem Unwetter in irgendeine<br />
Felsecke verkrochen.<br />
Unsere Weißenberger beschlossen<br />
jetzt, eiligst ihre Schatzbergeaktion abzubrechen,<br />
denn da sie nicht die allermutigsten<br />
Vertreter ihrer Stadt waren,<br />
fürchteten sie, womöglich noch unliebsame<br />
Bekanntschaft mit den in ihrer<br />
nächtlichen Ruhe gestörten Berggeistern<br />
zu machen. Außerdem war die Mitternachtstunde<br />
schon einige Zeit vorbei,<br />
des weiteren hatte man ja wegen<br />
der geflüchteten Tiere gesprochen, und<br />
zum dritten konnte der Schatz ja nur<br />
im Beisein der schwarzen Vierbeiner<br />
gefunden und geborgen werden. Doch<br />
wo sollte man die Ausreisser bei diesem<br />
tobenden Unwetter auch suchen? Also<br />
beeilten sich die vier völlig durchnässten<br />
und vor Kälte bibbernden Schatzsucher<br />
mit dem Abstieg, um schnellstens<br />
zu ihrem Gespann zu gelangen. Heimwärts<br />
ging es nun ohne Schatz und Tiere.<br />
Aber mit heilen Gliedern gelangten<br />
sie wieder ins heimatliche Städtchen.<br />
Die überstandenen Strapazen und<br />
Schrecken wurden auf der nächsten<br />
Ratsversammlung von den vier wackeren<br />
Schatzsuchern so hervorgehoben,<br />
dass sie von Stund an als die tapfersten<br />
Männer von Weißenberg galten, die<br />
für ihr gefährliches Unternehmen sogar<br />
einen Orden verdient hätten. Ob nun<br />
die Ratsherren dieser berühmten Stadt<br />
im nächsten Jahr wieder einen Versuch<br />
wagten, um an den Schatz zu gelangen,<br />
oder ob sie zu anderen Geldquellen kamen,<br />
die ihre Schulden tilgten, konnte<br />
der heutige Chronist nicht in Erfahrung<br />
bringen.<br />
Text: Paul Mikles<br />
Zeichnung: Günter Hain<br />
Aus: Sagen des Kreises Görlitz, Teil 4<br />
Görlitzinformation 1989<br />
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36<br />
Geschichte
Werner<br />
Ein ferner Wink<br />
Finck<br />
von Werner Finck:<br />
Als ich sechs Jahre alt war, trat die Schule<br />
an meine Eltern heran. Es war das<br />
Gymnasium Augustum zu Gorlicia. Ein<br />
gotischer Bau, besser gesagt: ein spätgotischer<br />
Bau, sehr spät gotisch sogar,<br />
er ist wohl um das Jahr 1865 fertig geworden.<br />
Und so waren auch die Lehrer.<br />
Jede Originalität galt als Verstoß gegen<br />
die Schulordnung.<br />
Ich habe mich nicht in der Schule angemeldet,<br />
sondern meine Eltern meldeten<br />
mich an. Ich versprach mir sehr wenig<br />
von der Schule.<br />
Auch ohne tiefenpsychologische Vorkenntnisse<br />
muß ich geahnt haben, wie<br />
lächerlich relativ Bildung und Wissen<br />
sind. Und daß das einzige Wissen, das<br />
anzuschaffen in dieser Welt sich lohnt,<br />
nach wie vor das geniale Bewußtsein<br />
des Sokrates ist, der wußte, daß er<br />
nichts wußte.<br />
Es sei mir gestattet, in diesem Zusammenhang<br />
nicht auf unsere modernsten<br />
revolutionären Neuerkenntnisse<br />
besonders auf dem Gebiet der Physik<br />
und Chemie einzugehen, weil auch die<br />
im Laufe der nächsten Jahre bestimmt<br />
schon wieder überholt sind und nicht<br />
mehr stimmen werden.<br />
Da hat man nun Schelte bekommen und<br />
Nachhilfestunden und noch eins hinter<br />
die Ohren für das Nichtwissen von Lehrsätzen,<br />
die nach dem heutigen Stand<br />
der Wissenschaft glatter Unsinn sind.<br />
Ja, und wie gesagt, das muß ich geahnt<br />
haben!<br />
Die Schule war das größte Mißverständnis<br />
meines Lebens. Meine Lehrer interessierten<br />
mich nicht, und deshalb konnten<br />
sie mich auch nicht interessieren.<br />
Für irgend etwas.<br />
Etwa für Geographie: Uns wurde eingetrichtert,<br />
der Weiße Mann kommt in den<br />
Schwarzen Erdteil und bringt den Eingeborenen<br />
bunte Kugeln; dafür bekommt<br />
er von ihnen die Schätze des Landes.<br />
Und heute? Da bringt der weiße Mann<br />
ihnen die Schätze seines Landes und<br />
bekommt dafür von ihnen die Kugeln.<br />
Ich war sehr gehorsam. Ich sprang immer<br />
als erster auf, wenn der Lehrer die<br />
Klasse betrat. Sitzen blieb ich nur zu Ostern.<br />
Die (noch vorhandenen) Zeugnisse wa-<br />
Impressum:<br />
Herausgeber (V.i.S.d.P.):<br />
incaming media GmbH<br />
Geschäftsführer:<br />
Andreas Ch. de Morales Roque<br />
Carl-von-Ossietzky Str. 45<br />
02826 Görlitz<br />
Ruf: (03581) 87 87 87<br />
Fax: (03581) 40 13 41<br />
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Mo. - Fr. von 9.00 bis 17.00 Uhr<br />
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Verantw. Redakteur:<br />
Andreas Ch. de Morales Roque<br />
(Mitglied im Deutschen<br />
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Anzeigenschluss für die Juli-<strong>Ausgabe</strong>:<br />
15. <strong>Juni</strong> <strong>2015</strong><br />
Redaktionsschluss: 20. <strong>Juni</strong> <strong>2015</strong><br />
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Stadtwerke Görlitz AG<br />
Immer.Näher.Dran<br />
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Geschichte 37
Werner<br />
Eine etwas andere<br />
Finck<br />
Schulzeit in Görlitz<br />
zerfahren geblieben, wie er war. Seine<br />
Versetzung ist im höchsten Maße zweifelhaft.<br />
Klassenplatz: 32. unter 32 Schülern.<br />
Am 23. Dezember 1914 (der Erste Weltkrieg<br />
war schon im Gange) lautete das<br />
Zeugnis: Klassenplatz: der 17. unter 18<br />
Schülern. (Um ehrlich zu sein, einer war<br />
gestorben.)<br />
Später, in Obertertia, las ich in einer Literaturgeschichte,<br />
daß Gerhart Hauptmannn,<br />
mein schlesischer Landsmann,<br />
nur bis Quarta gekommen war. Pech!<br />
dachte ich mir, da bin ich schon zwei<br />
Klassen zu weit! Und mit Gottfried Keller<br />
und Thomas Mann war es auch nicht<br />
weither in der Schule.<br />
Werner Finck, Kabarettist und Schauspieler<br />
Selbstbildnis mit Autogramm<br />
ren verheerend. Am 3. Oktober 1913<br />
befand der Ordinarius der Vb: Finck<br />
hat noch keine Anstalt gemacht, sich<br />
zusammenzunehmen, ist vielmehr so<br />
Werner Finck über seine Schulzeit in<br />
Görlitz in seinem Erinnerungsbuch<br />
„Alter Narr – was nun?“,<br />
München 1972<br />
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38<br />
Geschichte
GWZ