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Die Passion Christi_(de)

Jesus gleich einer mächtigen Zeder dem Sturm des Widerstandes, der sich wütend gegen ihn erhob, Trotz geboten und der mit den Mächten der Finsternis einen einsamen Kampf ausfocht. Halsstarrige Köpfe sowie boshafte und verschlagene Herzen hatten vergebens versucht, ihn zu verwirren und zu überwältigen. In göttlicher Majestät hatte er sich als Sohn Gottes unbeugsam gezeigt. Jetzt dagegen glich er einem windgepeitschten Schilfrohr ... Jahrhunderte vor der Kreuzigung, es steht geschrieben, "Meine Kraft ist vertrocknet wie eine Scherbe, und meine Zunge klebt an meinem Gaumen, und du legst mich in des Todes Staub. Denn Hunde umringen mich, eine Rotte von Übeltätern schließt mich ein; sie haben meine Hände und Füße durchgraben." Noch am Kreuz ließen Jesu Feinde ihre Wut an ihm aus. Priester, Oberste und Schriftgelehrte verhöhnten gemeinsam mit dem Pöbel den sterbenden Heiland. Dieses Buch zeugt von der kostbaren Liebe, dem unendlichen Leben und die Passion Christi...

Jesus gleich einer mächtigen Zeder dem Sturm des Widerstandes, der sich wütend gegen ihn erhob, Trotz geboten und der mit den Mächten der Finsternis einen einsamen Kampf ausfocht. Halsstarrige Köpfe sowie boshafte und verschlagene Herzen hatten vergebens versucht, ihn zu verwirren und zu überwältigen. In göttlicher Majestät hatte er sich als Sohn Gottes unbeugsam gezeigt. Jetzt dagegen glich er einem windgepeitschten Schilfrohr ... Jahrhunderte vor der Kreuzigung, es steht geschrieben, "Meine Kraft ist vertrocknet wie eine Scherbe, und meine Zunge klebt an meinem Gaumen, und du legst mich in des Todes Staub. Denn Hunde umringen mich, eine Rotte von Übeltätern schließt mich ein; sie haben meine Hände und Füße durchgraben." Noch am Kreuz ließen Jesu Feinde ihre Wut an ihm aus. Priester, Oberste und Schriftgelehrte verhöhnten gemeinsam mit dem Pöbel den sterbenden Heiland. Dieses Buch zeugt von der kostbaren Liebe, dem unendlichen Leben und die Passion Christi...

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New Covenant Publications International. German<br />

Copyright © 2020. Internationale Veröffentlichungen <strong>de</strong>s Neuen Bund.<br />

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne ausdrückliche schriftliche<br />

Genehmigung <strong>de</strong>s Autors vervielfältigt o<strong>de</strong>r in irgen<strong>de</strong>iner Form o<strong>de</strong>r mit irgendwelchen<br />

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ISBN: 359-2-85933-609-1<br />

ISBN: 359-2-85933-609-1<br />

Katalogisierung in Publikationsdaten<br />

Herausgegeben und Gestaltet von : Internationale Gruppe <strong>de</strong>s Neuen Bund.<br />

Gedruckt im Vereinigten Königreich.<br />

Erstdruck 26. Mai 2020<br />

Herausgegeben von : Internationale Veröffentlichungen <strong>de</strong>s Neuen Bund.<br />

Postfach 7777-777<br />

Devon, London, Großbritannien 234-543<br />

Besuchen Sie die Website: www.newcovenant.co.uk


DIE PASSION CHRISTI


Jesus gleich einer mächtigen Ze<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Sturm <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>r sich wütend<br />

gegen ihn erhob, Trotz geboten und <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>n Mächten <strong>de</strong>r Finsternis einen<br />

einsamen Kampf ausfocht. Halsstarrige Köpfe sowie boshafte und verschlagene<br />

Herzen hatten vergebens versucht, ihn zu verwirren und zu überwältigen. In<br />

göttlicher Majestät hatte er sich als Sohn Gottes unbeugsam gezeigt. Jetzt dagegen<br />

glich er einem windgepeitschten Schilfrohr ... Jahrhun<strong>de</strong>rte vor <strong>de</strong>r Kreuzigung, es<br />

steht geschrieben, "Meine Kraft ist vertrocknet wie eine Scherbe, und meine Zunge<br />

klebt an meinem Gaumen, und du legst mich in <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s Staub. Denn Hun<strong>de</strong><br />

umringen mich, eine Rotte von Übeltätern schließt mich ein; sie haben meine<br />

Hän<strong>de</strong> und Füße durchgraben." Noch am Kreuz ließen Jesu Fein<strong>de</strong> ihre Wut an<br />

ihm aus. Priester, Oberste und Schriftgelehrte verhöhnten gemeinsam mit <strong>de</strong>m<br />

Pöbel <strong>de</strong>n sterben<strong>de</strong>n Heiland. <strong>Die</strong>ses Buch zeugt von <strong>de</strong>r kostbaren Liebe, <strong>de</strong>m<br />

unendlichen Leben und die <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong>...


<strong>Die</strong>se Seite wur<strong>de</strong> absichtlich frei gelassen.


New Covenant Publications<br />

International Inc.<br />

Reformierte Bücher, Transformierte Geist<br />

Alt-Heerdt 104, 40549 Düsseldorf, Germany<br />

Tel : +49 211 399 435 234<br />

Email: newcovenantpublicationsintl@gmail.com


Danksagung<br />

<strong>Die</strong>ses Buch ist Gott gewidmet.


Vorwort<br />

Der Verlag New Covenant Publications International strebt danach, <strong>de</strong>n Leser<br />

wie<strong>de</strong>r zum Willen Gottes zurückzuführen und Himmel und Er<strong>de</strong> in einer<br />

Bestärkung <strong>de</strong>s immerwähren<strong>de</strong>n Gesetzes <strong>de</strong>r Liebe miteinan<strong>de</strong>r zu verbin<strong>de</strong>n.<br />

<strong>Die</strong> Bun<strong>de</strong>sla<strong>de</strong> auf <strong>de</strong>m Logo steht für <strong>de</strong>n intimen Bund Jesu <strong>Christi</strong> mit seinem<br />

Volk und die zentrale Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Gesetze Gottes. Es steht geschrieben: „Das<br />

soll <strong>de</strong>r Bund sein, <strong>de</strong>n ich mit <strong>de</strong>m Hause Israel schließen will nach dieser Zeit,<br />

spricht <strong>de</strong>r Herr: Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn<br />

schreiben, und sie sollen mein Volk sein, und ich will ihr Gott sein.“ (Jeremia 31,<br />

31–33; Hebräer 8, 8–10) Daher umschließt diese neue La<strong>de</strong> ein Volk, das die Liebe<br />

und die Gesetze <strong>de</strong>r Schrift Gottes in seinem Herzen trägt – selbst in Zeiten<br />

gewalttätiger Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen, <strong>de</strong>s Sittenverfalls und hemmungsloser<br />

Betrügereien.<br />

Schon seit vielen Jahrhun<strong>de</strong>rten sahen sich einige Menschen zehren<strong>de</strong>r Qualen,<br />

unfassbarer Unterdrückung und gefährlichen Kriegshandlungen ausgesetzt, die<br />

dazu dienen sollten, die Wahrheit zu verschleiern und die Weisheit Gottes zu<br />

auszulöschen. Beson<strong>de</strong>rs im Mittelalter geriet das wahre Wort durch die<br />

Traditionen und <strong>de</strong>r Unwissenheit <strong>de</strong>r Menschen in Vergessenheit, <strong>de</strong>nn sie<br />

verschmähten die Weisheit und versündigten sich an <strong>de</strong>r La<strong>de</strong>. Ein Schandfleck<br />

entstand, als sich die Menschen mit <strong>de</strong>m sich ausbreiten<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Übel verban<strong>de</strong>n,<br />

und dies brachte schließlich eine solche Plage <strong>de</strong>r ungezügelten Deka<strong>de</strong>nz und<br />

diabolischen Grausamkeit über sie, dass viele Leben unrechtmäßig geopfert<br />

wur<strong>de</strong>n, nur weil sich einige weigerten, sich <strong>de</strong>m Gewissensrecht unterzuordnen.<br />

Beson<strong>de</strong>rs zur Zeit <strong>de</strong>r Reformation im 16. Jahrhun<strong>de</strong>rt stellt die Geschichte einen<br />

entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Wen<strong>de</strong>punkt zur Wahrheit hin dar, wenngleich dieser begleitet<br />

wur<strong>de</strong> von einer Phase <strong>de</strong>r Aufwühlung, wie sie in <strong>de</strong>r Gegenreformation zum<br />

Ausdruck kommt. In diesem Buch soll <strong>de</strong>r Leser jedoch wie<strong>de</strong>r auf die<br />

unangefochtene Be<strong>de</strong>utsamkeit dieser bahnbrechen<strong>de</strong>n Umwälzung aus Sicht <strong>de</strong>r<br />

Reformatoren und an<strong>de</strong>rer Zeitzeugen aufmerksam gemacht wer<strong>de</strong>n. Aus ihren<br />

Aufzeichnungen lässt sich verständlich aufzeigen, welche verheeren<strong>de</strong>n Schlachten<br />

sich damals zutrugen und welche Beweggrün<strong>de</strong> dieser gewaltigen Gegenwehr zu


Grun<strong>de</strong> lagen. So lassen sich sogar Einblicke in bisher unzugängliche Mysterien,<br />

heftige Kontroversen und übernatürliche Eingriffe gewähren.<br />

Mit unserem Leitsatz „Reformierte Bücher, Transformierte Geist“ heben wir<br />

sowohl die Einzigartigkeit <strong>de</strong>r Literaturgattung, die in dieser wegweisen<strong>de</strong>n Zeit<br />

entstand, als auch ihre Wirkmacht hervor. Er spiegelt auch die Dringlichkeit <strong>de</strong>r<br />

individuellen Reformierung, <strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rgeburt und <strong>de</strong>r eigenen Verwandlung<br />

wi<strong>de</strong>r. Wie schon vor 500 Jahren <strong>de</strong>r Buchdruck Gutenbergs, verbun<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>r<br />

Vermittlung durch Übersetzungen, die Prinzipien <strong>de</strong>s reformierten Glaubens an die<br />

gesamte Menschheit herantrug, sollen nun die digitale Presse und die<br />

Onlinemedien <strong>de</strong>r heutigen Zeit in je<strong>de</strong>r Sprache das Licht <strong>de</strong>r Wahrheit in die<br />

Welt hinaustragen.


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong>


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

2


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Inhaltsverzeichnis<br />

Kapitel 1: „Gott mit uns“ ......................................................................................................... 7<br />

Kapitel 2: Das auserwählte Volk ........................................................................................... 13<br />

Kapitel 3: „Als aber die Zeit erfüllet ward ...“....................................................................... 15<br />

Kapitel 4: „Euch ist heute <strong>de</strong>r Heiland geboren“................................................................... 20<br />

Kapitel 5: Jesu Darstellung .................................................................................................... 24<br />

Kapitel 6: „Wir haben seinen Stern gesehen“........................................................................ 31<br />

Kapitel 7: Jesu Kindheit ......................................................................................................... 36<br />

Kapitel 8: Auf <strong>de</strong>m Passahfest ............................................................................................... 41<br />

Kapitel 9: Tage <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung ............................................................................... 47<br />

Kapitel 10: <strong>Die</strong> Stimme in <strong>de</strong>r Wüste .................................................................................... 53<br />

Kapitel 11: <strong>Die</strong> Taufe ............................................................................................................ 63<br />

Kapitel 12: <strong>Die</strong> Versuchung .................................................................................................. 67<br />

Kapitel 13: Der Sieg .............................................................................................................. 75<br />

Kapitel 14: „Wir haben <strong>de</strong>n Messias gefun<strong>de</strong>n“.................................................................... 80<br />

Kapitel 15: Auf <strong>de</strong>r Hochzeit zu Kana .................................................................................. 88<br />

Kapitel 16: In seinem Tempel ................................................................................................ 95<br />

Kapitel 17: Niko<strong>de</strong>mus ........................................................................................................ 103<br />

Kapitel 18: „Er muß wachsen ...“ ........................................................................................ 110<br />

Kapitel 19: Am Jakobsbrunnen ........................................................................................... 114<br />

Kapitel 20: „Wenn ihr nicht Zeichen und Wun<strong>de</strong>r seht ...“................................................. 123<br />

Kapitel 21: Bethesda und <strong>de</strong>r Hohe Rat .............................................................................. 126<br />

Kapitel 22: Gefangenschaft und Tod <strong>de</strong>s Johannes ............................................................. 137<br />

Kapitel 23: „Das Reich Gottes ist herbeigekommen“ ......................................................... 147<br />

Kapitel 24: „Ist er nicht <strong>de</strong>s Zimmermanns Sohn?“ ............................................................ 151<br />

Kapitel 25: <strong>Die</strong> Berufung am See ........................................................................................ 157<br />

Kapitel 26: In Kapernaum.................................................................................................... 162<br />

Kapitel 27: „So du willst, kannst du mich wohl reinigen ...“ .............................................. 170<br />

Kapitel 28: Levi-Matthäus ................................................................................................... 178<br />

3


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 29: Der Sabbat ......................................................................................................... 185<br />

Kapitel 30: <strong>Die</strong> Erwählung <strong>de</strong>r Zwölf ................................................................................. 191<br />

Kapitel 31: <strong>Die</strong> Bergpredigt ................................................................................................. 197<br />

Kapitel 32: Der Hauptmann ................................................................................................. 209<br />

Kapitel 33: Wer sind meine Brü<strong>de</strong>r? ................................................................................... 213<br />

Kapitel 34: <strong>Die</strong> Einladung ................................................................................................... 219<br />

Kapitel 35: „Schweig und verstumme!“ .............................................................................. 223<br />

Kapitel 36: Ein lebendiger Glaube ...................................................................................... 230<br />

Kapitel 37: <strong>Die</strong> ersten Evangelisten .................................................................................... 234<br />

Kapitel 38: „Ruhet ein wenig!“ ........................................................................................... 242<br />

Kapitel 39: „Gebt ihr ihnen zu essen!“ ................................................................................ 246<br />

Kapitel 40: Eine Nacht auf <strong>de</strong>m See .................................................................................... 252<br />

Kapitel 41: <strong>Die</strong> Entscheidung in Galiläa ............................................................................. 257<br />

Kapitel 42: Überlieferungen ................................................................................................ 267<br />

Kapitel 43: <strong>Die</strong> Schranken wer<strong>de</strong>n nie<strong>de</strong>rgerissen .............................................................. 270<br />

Kapitel 44: Das wahre Zeichen ............................................................................................ 274<br />

Kapitel 45: Im Schatten <strong>de</strong>s Kreuzes ................................................................................... 279<br />

Kapitel 46: <strong>Die</strong> Verklärung ................................................................................................. 286<br />

Kapitel 47: Fähig zum <strong>Die</strong>nst .............................................................................................. 290<br />

Kapitel 48: Wer ist <strong>de</strong>r Größte? ........................................................................................... 294<br />

Kapitel 49: Auf <strong>de</strong>m Laubhüttenfest ................................................................................... 303<br />

Kapitel 50: In <strong>de</strong>r Schlinge .................................................................................................. 309<br />

Kapitel 51: Das Licht <strong>de</strong>s Lebens ........................................................................................ 316<br />

Kapitel 52: Der gute Hirte ................................................................................................... 326<br />

Kapitel 53: <strong>Die</strong> letzte Reise von Galiläa .............................................................................. 331<br />

Kapitel 54: Der barmherzige Samariter ............................................................................... 339<br />

Kapitel 55: Nicht mit äußerlichen Gebär<strong>de</strong>n ... ................................................................... 344<br />

Kapitel 56: Jesus segnet die Kin<strong>de</strong>r ..................................................................................... 348<br />

Kapitel 57: „Eines fehlt dir“ ................................................................................................ 352<br />

Kapitel 58: „Lazarus, komm heraus!“ ................................................................................. 356<br />

4


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 59: <strong>Die</strong> Anschläge <strong>de</strong>r Priester ............................................................................... 365<br />

Kapitel 60: Das Gesetz <strong>de</strong>s neuen Königreichs ................................................................... 370<br />

Kapitel 61: Zachäus ............................................................................................................. 374<br />

Kapitel 62: Das Fest im Hause Simons ............................................................................... 378<br />

Kapitel 63: Dein König kommt! .......................................................................................... 386<br />

Kapitel 64: <strong>Die</strong> Verurteilung eines Volkes .......................................................................... 392<br />

Kapitel 65: Der Tempel wird wie<strong>de</strong>r gereinigt .................................................................... 398<br />

Kapitel 66: Kampf ............................................................................................................... 408<br />

Kapitel 67: „Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer ...“ .................................................. 415<br />

Kapitel 68: Im Vorhof <strong>de</strong>s Tempels .................................................................................... 424<br />

Kapitel 69: Auf <strong>de</strong>m Ölberg ................................................................................................ 429<br />

Kapitel 70: Der Geringste dieser meiner Brü<strong>de</strong>r ................................................................. 437<br />

Kapitel 71: Aller <strong>Die</strong>ner ...................................................................................................... 441<br />

Kapitel 72: „Zu meinem Gedächtnis ...“.............................................................................. 448<br />

Kapitel 73: „Euer Herz erschrecke nicht“ ........................................................................... 455<br />

Kapitel 74: Gethsemane ....................................................................................................... 469<br />

Kapitel 75: Jesus vor Hannas und Kaiphas .......................................................................... 477<br />

Kapitel 76: Judas .................................................................................................................. 489<br />

Kapitel 77: Bei Pilatus ......................................................................................................... 495<br />

Kapitel 78: Golgatha ............................................................................................................ 510<br />

Kapitel 79: „Es ist vollbracht!“ ............................................................................................ 522<br />

Kapitel 80: In Josephs Grab ................................................................................................. 527<br />

Kapitel 81: Der Herr ist auferstan<strong>de</strong>n! ................................................................................. 535<br />

Kapitel 82: „Was weinest du?“ ............................................................................................ 541<br />

Kapitel 83: Der Gang nach Emmaus ................................................................................... 546<br />

Kapitel 84: „Frie<strong>de</strong> sei mit euch!“ ....................................................................................... 550<br />

Kapitel 85: Noch einmal am See Genezareth ...................................................................... 555<br />

Kapitel 86: „Gehet hin und lehret alle Völker!“ .................................................................. 561<br />

Kapitel 87: „Zu meinem Vater und zu eurem Vater“ .......................................................... 571<br />

5


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

6


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

„‚Sie wer<strong>de</strong>n seinen Namen Immanuel heißen‘, das ist verdolmetscht: Gott mit<br />

uns.“ Matthäus 1,23. „<strong>Die</strong> Erleuchtung zur Erkenntnis <strong>de</strong>r Herrlichkeit Gottes“ strahlte „in <strong>de</strong>m<br />

Angesicht Jesu <strong>Christi</strong>“. 2.Korinther 4,6. Von Ewigkeit an war <strong>de</strong>r Herr Jesus eins mit <strong>de</strong>m<br />

Vater. Er war „das Ebenbild Gottes“ (2.Korinther 4,4), das Ebenbild seiner Größe und Majestät,<br />

„<strong>de</strong>r Abglanz seiner Herrlichkeit“. Hebräer 1,3. Er kam auf die Er<strong>de</strong>, um diese Herrlichkeit zu<br />

bezeugen, in diese sün<strong>de</strong>ndunkle Welt, um das Licht <strong>de</strong>r Liebe Gottes zu offenbaren — um<br />

„Gott mit uns“ zu sein. Deshalb auch wur<strong>de</strong> von ihm geweissagt: „Sie wer<strong>de</strong>n seinen Namen<br />

Immanuel heißen.“ Matthäus 1,23.<br />

Durch sein Leben mitten unter uns sollte Jesus das Wesen Gottes <strong>de</strong>n Menschen und <strong>de</strong>n<br />

Engeln kundtun. Er war das Wort Gottes, durch ihn wur<strong>de</strong>n Gottes Gedanken vernehmbar<br />

gemacht. In seinem hohepriesterlichen Gebet sagt Jesus: „Ich habe ihnen <strong>de</strong>inen Namen<br />

kundgetan (barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gna<strong>de</strong> und Treue) ..., damit<br />

die Liebe, mit <strong>de</strong>r du mich liebst, sei in ihnen und ich in ihnen.“ Johannes 17,26; 2.Mose 34,6.<br />

Doch diese Offenbarung wur<strong>de</strong> nicht nur seinen erdgeborenen Kin<strong>de</strong>rn geschenkt, vielmehr ist<br />

unsere kleine Welt zugleich das Lehrbuch für das Weltall. Gottes wun<strong>de</strong>rbares Gna<strong>de</strong>nziel, das<br />

Geheimnis seiner erlösen<strong>de</strong>n Liebe ist das Thema, das „auch die Engel gelüstet zu schauen“<br />

(1.Petrus 1,12), und sie wer<strong>de</strong>n sich damit die ganze Ewigkeit hindurch beschäftigen. <strong>Die</strong><br />

Erlöstern wie auch die sündlosen Wesen wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>m Kreuz <strong>Christi</strong> <strong>de</strong>n Hauptgegenstand<br />

ihres Forschens und Preisens sehen.<br />

Dann wer<strong>de</strong>n sie erkennen, daß die Herrlichkeit, die vom Antlitz Jesu wi<strong>de</strong>rstrahlt, <strong>de</strong>r<br />

Abglanz seiner aufopfern<strong>de</strong>n Liebe ist. Im Lichte Golgathas wird es <strong>de</strong>utlich, daß das Gesetz<br />

<strong>de</strong>r entsagen<strong>de</strong>n Liebe das auf Er<strong>de</strong>n und im Himmel gültige Lebensgesetz ist; daß die Liebe,<br />

die „nicht das Ihre“ (1.Korinther 13,5) sucht, <strong>de</strong>m Herzen Gottes entspringt, und daß in <strong>de</strong>m,<br />

<strong>de</strong>r „sanftmütig und von Herzen <strong>de</strong>mütig“ war (Matthäus 11,29), sich das Wesen <strong>de</strong>ssen zeigt,<br />

„<strong>de</strong>r da wohnt in einem Licht, da niemand zukommen kann“. 1.Timotheus 6,16. Am Anfang<br />

offenbarte sich Gott in einem je<strong>de</strong>n Schöpfungswerk. Christus war es, <strong>de</strong>r die Himmel<br />

ausbreitete und auch <strong>de</strong>n Grund <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> legte. Seine Hand wies <strong>de</strong>n Welten im Universum<br />

ihren Platz an und formte die Blumen auf <strong>de</strong>m Fel<strong>de</strong>. Von ihm heißt es: „Der du die Berge<br />

festsetzest in <strong>de</strong>iner Kraft.“ Psalm 65,7. „Sein ist das Meer, und er hat‘s gemacht.“ Psalm 95,5.<br />

Er war es, <strong>de</strong>r die Er<strong>de</strong> mit Schönheit und die Lüfte mit Gesang erfüllte. Und auf je<strong>de</strong>s seiner<br />

Schöpfungswerke auf Er<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>n Lüften und am Himmel, schrieb er die Botschaft von <strong>de</strong>r<br />

Liebe <strong>de</strong>s Vaters.<br />

<strong>Die</strong> Sün<strong>de</strong> hat zwar das vollkommene Werk Gottes verdorben, die göttliche Handschrift aber<br />

ist an ihm erhalten geblieben. Selbst heute noch kün<strong>de</strong>t die Schöpfung von <strong>de</strong>r Herrlichkeit und<br />

Güte Gottes. Nichts, abgesehen von <strong>de</strong>m selbstsüchtigen Herzen <strong>de</strong>r Menschen, lebt für sich<br />

selbst. Je<strong>de</strong>r Vogel in <strong>de</strong>n Lüften, je<strong>de</strong>s Tier auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> dient einem an<strong>de</strong>ren Leben. Je<strong>de</strong>s<br />

Blatt im Wal<strong>de</strong>; je<strong>de</strong>r beschei<strong>de</strong>ne Grashalm erfüllt einen <strong>Die</strong>nst. Je<strong>de</strong>r Baum und Strauch, ja,<br />

je<strong>de</strong>s Blatt gibt von jener Lebenskraft weiter, ohne die we<strong>de</strong>r Mensch noch Tier leben könnte.<br />

7


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Und auch Mensch und Tier ihrerseits dienen <strong>de</strong>m Leben von Baum, Strauch und Blatt. Durch<br />

ihren Duft und ihre Schönheit wer<strong>de</strong>n die Blumen <strong>de</strong>r Welt zum Segen. <strong>Die</strong> Sonne verströmt ihr<br />

Licht und schenkt dadurch tausend Welten Freu<strong>de</strong>. Selbst <strong>de</strong>r Ozean, <strong>de</strong>r Ursprung aller<br />

Quellen und Flüsse, nimmt die Ströme aller Län<strong>de</strong>r wie<strong>de</strong>r in sich auf. Doch er nimmt nur, um<br />

erneut zu schenken. <strong>Die</strong> Dunstschleier, die von ihm aufsteigen, fallen als Regen auf die Er<strong>de</strong><br />

nie<strong>de</strong>r, damit sie neue Lebenskeime hervorbringe. <strong>Die</strong> heiligen Engel freuen sich, wenn sie<br />

schenken können, wenn sie gefallenen, sündhaften Menschen Liebe darbieten und unermüdlich<br />

über sie wachen können. Himmlische Wesen werben um die Herzen <strong>de</strong>r Menschen und bringen<br />

himmlisches Licht in diese dunkle Welt. Durch geduldiges und sanftes Wirken beeinflussen sie<br />

das Gemüt, um verlorene Menschen in die Gemeinschaft mit Christus zu führen, die viel fester<br />

ist, als sie es sich vorstellen können.<br />

Doch wen<strong>de</strong>n wir uns von all diesen geringeren bildlichen Darstellungen ab, dann schauen<br />

wir Gott in Jesus Christus. Sehen wir auf Jesus, dann erkennen wir, daß Schenken zur<br />

Herrlichkeit Gottes gehört. Jesus sagt von sich, „daß ich ... nichts von mir selber tue“. Johannes<br />

8,28. „Der Vater, von <strong>de</strong>m alles Leben kommt, hat mich gesandt, und ich lebe durch<br />

ihn.“ Johannes 6,57 (GN). „Ich suche nicht meine Ehre“ (Johannes 8,50), son<strong>de</strong>rn die Ehre<br />

<strong>de</strong>ssen, <strong>de</strong>r mich gesandt hat. Johannes 7,18. <strong>Die</strong>se Worte erläutern <strong>de</strong>n erhabenen Grundsatz,<br />

auf <strong>de</strong>m das Leben <strong>de</strong>s Alls beruht. Christus erhielt alles von Gott, er nahm aber lediglich, um<br />

seinerseits zu schenken. So wird auch in <strong>de</strong>n himmlischen Vorhöfen verfahren, das gilt auch für<br />

Jesu <strong>Die</strong>nst für alle Geschöpfe: durch <strong>de</strong>n geliebten Sohn wird das Leben <strong>de</strong>s Vaters allem<br />

zuteil; über <strong>de</strong>n Sohn kehrt es als Lobpreis und fröhlicher <strong>Die</strong>nst wie<strong>de</strong>r zum Vater zurück, eine<br />

Flut <strong>de</strong>r Liebe gleichsam, die zum erhabenen Ursprung aller Dinge zurückströmt. Durch<br />

Christus wird somit <strong>de</strong>r Kreislauf <strong>de</strong>s Segens geschlossen, das Wesen <strong>de</strong>s Gebers aller Dinge<br />

und das Gesetz <strong>de</strong>s Lebens enthüllt.<br />

<strong>Die</strong>ses Gesetz wur<strong>de</strong> ausgerechnet im Himmel übertreten. <strong>Die</strong> Sün<strong>de</strong> entsprang <strong>de</strong>r<br />

Selbstsucht. Luzifer, <strong>de</strong>r schirmen<strong>de</strong> Cherub, wollte <strong>de</strong>r Erste im Himmel sein. Er trachtete<br />

danach, die himmlischen Wesen zu beherrschen, sie <strong>de</strong>m Schöpfer abspenstig zu machen und<br />

ihre Huldigung für sich zu gewinnen. Deshalb verleum<strong>de</strong>te er Gott und schrieb ihm <strong>de</strong>n<br />

Wunsch nach Selbsterhöhung zu. <strong>Die</strong> eigenen üblen Wesenszüge versuchte er <strong>de</strong>m liebevollen<br />

Schöpfer anzudichten. So täuschte er Engel und Menschen. Er verleitete sie, an Gottes Wort zu<br />

zweifeln und seiner Güte zu mißtrauen. Weil Gott ein Gott <strong>de</strong>r Gerechtigkeit und<br />

furchterregen<strong>de</strong>r Hoheit ist, veranlaßte Satan sie, ihn für hartherzig und unversöhnlich zu<br />

halten. Dadurch verführte er die Menschen, sich seiner Rebellion gegen Gott anzuschließen.<br />

Eine Nacht <strong>de</strong>r Lei<strong>de</strong>n brach damit über unsere Er<strong>de</strong> herein.<br />

Durch das Mißverstehen <strong>de</strong>r Absichten Gottes wur<strong>de</strong> die Welt verfinstert. Damit die dunklen<br />

Schatten erhellt und die Schöpfung zu Gott zurückgeführt wür<strong>de</strong>, mußte Satans trügerische<br />

Macht vernichtet wer<strong>de</strong>n. Das aber konnte nicht durch Gewaltanwendung geschehen.<br />

Gewaltausübung steht <strong>de</strong>n Grundsätzen <strong>de</strong>r Herrschaft Gottes entgegen. Er erwartet lediglich<br />

einen <strong>Die</strong>nst aus Liebe. Sie aber kann man we<strong>de</strong>r befehlen noch durch Machteinsatz o<strong>de</strong>r<br />

Amtsgewalt erzwingen. Nur Liebe erzeugt Gegenliebe. Gott erkennen heißt ihn lieben. Der<br />

8


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Gegensatz seines Charakters zu <strong>de</strong>m Charakter Satans mußte <strong>de</strong>shalb geoffenbart wer<strong>de</strong>n. Nur<br />

einer im ganzen Universum konnte dies tun; nur er, <strong>de</strong>r die Höhe und Tiefe <strong>de</strong>r Liebe Gottes<br />

kannte, konnte sie auch verkün<strong>de</strong>n. Über <strong>de</strong>r dunklen Er<strong>de</strong>nnacht sollte die Sonne <strong>de</strong>r<br />

Gerechtigkeit aufgehen voller „Heil unter ihren Flügeln“. Maleachi 3,20.<br />

Der Erlösungsplan wur<strong>de</strong> nicht nachträglich erdacht und kam nicht nach Adams Fall<br />

zustan<strong>de</strong>. Er war vielmehr die „Offenbarung <strong>de</strong>s Geheimnisses, das ewige Zeiten hindurch<br />

verschwiegen geblieben“ war. Römer 16,25 (Menge). Er legte die Grundsätze dar, auf <strong>de</strong>nen<br />

von Ewigkeit her Gottes Thron ruhte. Gott und Christus hatten von Anbeginn an vorausgesehen,<br />

daß Satan von ihnen abfallen und <strong>de</strong>n Menschen durch die Macht <strong>de</strong>s Betruges in <strong>de</strong>n Fall<br />

hineinziehen wer<strong>de</strong>. Gott hat die Sün<strong>de</strong> nicht gewollt, er hatte sie aber kommen sehen und für<br />

diesen schrecklichen Notfall bereits seine Vorkehrungen getroffen. So sehr liebte er die Welt,<br />

daß er beschloß, seinen eingeborenen Sohn dahinzugeben, „auf daß alle, die an ihn glauben,<br />

nicht verloren wer<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn das ewige Leben haben“. Johannes 3,16.<br />

Satan hatte gesagt: „Ich will ... meinen Thron über die Sterne Gottes erhöhen ... und gleich<br />

sein <strong>de</strong>m Allerhöchsten.“ Jesaja 14,13.14. Von Christus dagegen heißt es: „Er war wie Gott.<br />

Aber er betrachtete diesen Vorzug nicht als unaufgebbaren Besitz. Aus freiem Entschluß gab er<br />

alles auf und wur<strong>de</strong> wie ein Sklave. Er kam als Mensch in die Welt und lebte wie ein<br />

Mensch.“ Philipper 2,6.7 <strong>Die</strong>se Tat war ein freiwilliges Opfer. Jesus hätte an <strong>de</strong>r Seite <strong>de</strong>s<br />

Vaters bleiben, er hätte an <strong>de</strong>r Herrlichkeit <strong>de</strong>s Himmels und <strong>de</strong>r Huldigung <strong>de</strong>r Engel<br />

festhalten können. Doch aus eigenem Antrieb legte er die königliche Macht in die Hän<strong>de</strong> <strong>de</strong>s<br />

Vaters zurück und stieg vom Thron <strong>de</strong>s Universums herab, damit er Licht zu <strong>de</strong>nen brächte, die<br />

im Dunkeln sind, und Leben zu <strong>de</strong>n Verdammten.<br />

Vor fast 2000 Jahren erschallte im Himmel, vom Throne Gottes ausgehend, eine Stimme von<br />

geheimnisvoller Tragweite: „Siehe, ich komme!“ — „Opfer und Gaben hast du nicht gewollt;<br />

einen Leib aber hast du mir bereitet ... Siehe, ich komme — im Buch steht von mir geschrieben<br />

—, daß ich tue, Gott, <strong>de</strong>inen Willen.“ Hebräer 10,5-7. <strong>Die</strong>se Worte kün<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>r Erfüllung<br />

<strong>de</strong>s Planes, <strong>de</strong>r von Ewigkeit an verborgen war. Christus stand im Begriff, auf unserer Er<strong>de</strong> zu<br />

erscheinen und Mensch zu wer<strong>de</strong>n. Deshalb sagt er auch: „Einen Leib ... hast du mir bereitet.“<br />

Wäre er in <strong>de</strong>r Herrlichkeit erschienen, die er bei <strong>de</strong>m Vater vor <strong>de</strong>r Schöpfung <strong>de</strong>r Welt besaß,<br />

dann hätten wir das Licht seiner Gegenwart nicht ertragen können. Damit wir ihn anschauen<br />

konnten, ohne vernichtet zu wer<strong>de</strong>n, wur<strong>de</strong> seine Herrlichkeit verhüllt. Seine Göttlichkeit lag<br />

unter <strong>de</strong>m Schleier <strong>de</strong>r menschlichen Natur verborgen — die unsichtbare Herrlichkeit wur<strong>de</strong><br />

sichtbar in menschlicher Gestalt.<br />

<strong>Die</strong>ser erhabene Plan war in Ur- und Sinnbil<strong>de</strong>rn vorge<strong>de</strong>utet wor<strong>de</strong>n. Der brennen<strong>de</strong> Busch<br />

zum Beispiel, in <strong>de</strong>m Christus <strong>de</strong>m Mose erschien, offenbarte Gott. Zum Sinnbild für die<br />

Darstellung <strong>de</strong>r Gottheit wur<strong>de</strong> ein armseliger Busch gewählt, <strong>de</strong>r offensichtlich keinerlei<br />

Anziehungskraft hatte. Dennoch verhüllte er <strong>de</strong>n Unendlichen. Der barmherzige Gott verbarg<br />

seine Herrlichkeit unter einer recht beschei<strong>de</strong>nen Erscheinungsform, damit Mose ihn schauen<br />

und <strong>de</strong>nnoch weiterleben konnte. Mit Israel war Gott bei Tag durch die Wolkensäule und bei<br />

Nacht durch die Feuersäule verbun<strong>de</strong>n. So offenbarte er <strong>de</strong>n Menschen seinen Willen und ließ<br />

9


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

ihnen seine Gna<strong>de</strong> zuteil wer<strong>de</strong>n. Gottes Herrlichkeit wur<strong>de</strong> abgemil<strong>de</strong>rt und seine Majestät<br />

verhüllt, damit die schwache Sehkraft <strong>de</strong>s Menschen sie wahrnehmen konnte. Genauso sollte<br />

Christus im „nichtigen Leib“ unserer menschlichen Gestalt erscheinen. Philipper 1,21. Nach<br />

<strong>de</strong>m Urteil <strong>de</strong>r Welt verfügte er über keine Schönheit, die ihn angenehm gemacht hätte;<br />

<strong>de</strong>nnoch sollte er Gott, das Licht <strong>de</strong>s Himmels und <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>, verkörpern. Seine Herrlichkeit war<br />

verhüllt und seine Erhabenheit und Majestät waren verborgen, damit er <strong>de</strong>n mühseligen und<br />

versuchten Menschen recht nahe kommen konnte. Durch Mose befahl Gott <strong>de</strong>n Israeliten: „Sie<br />

sollen mir ein Heiligtum machen, daß ich unter ihnen wohne.“ 2.Mose 25,8.<br />

In diesem Heiligtum mitten unter seinem Volk ließ er sich nie<strong>de</strong>r. Während <strong>de</strong>r gesamten<br />

beschwerlichen Wüstenwan<strong>de</strong>rung war das Sinnbild seiner Gegenwart stets bei ihnen. Ebenso<br />

schlug Christus seine Hütte inmitten <strong>de</strong>r Wohnstatt <strong>de</strong>r Menschen auf. Er errichtete sein Zelt<br />

gleichsam neben unsern Zelten, um unter uns wohnen und uns mit seinem göttlichen Wesen und<br />

Leben vertraut machen zu können. „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir<br />

sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als <strong>de</strong>s eingebornen Sohnes vom Vater, voller Gna<strong>de</strong><br />

und Wahrheit.“ Johannes 1,14. Seit Christus kam, um unter uns zu weilen, wissen wir, daß Gott<br />

mit unseren Versuchungen vertraut ist und mit unseren Lei<strong>de</strong>n mitempfin<strong>de</strong>t. Je<strong>de</strong>r<br />

Nachkomme Adams kann nun begreifen, daß unser Schöpfer die Sün<strong>de</strong>r liebt. In je<strong>de</strong>m<br />

Gna<strong>de</strong>nerweis, in je<strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong>nverheißung, in je<strong>de</strong>r Liebestat, in je<strong>de</strong>m Lockreiz, <strong>de</strong>r vom<br />

Leben <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s auf Er<strong>de</strong>n ausgeht, erkennen wir <strong>de</strong>n „Gott mit uns“!<br />

Satan stellt Gottes Gesetz <strong>de</strong>r Liebe als ein Gesetz <strong>de</strong>r Selbstsucht dar. Er behauptet, es sei<br />

unmöglich, seinen Vorschriften zu gehorchen. Den Fall <strong>de</strong>s ersten Elternpaares mit allem Leid,<br />

das daraus hervorging, lastet er <strong>de</strong>m Schöpfer an und verführt die Menschen dazu, in Gott <strong>de</strong>n<br />

Urheber <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>, <strong>de</strong>s Lei<strong>de</strong>s und <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s zu sehen. Jesus sollte diesen Betrug auf<strong>de</strong>cken.<br />

Als Mensch wie wir sollte er ein Beispiel an Gehorsam geben. Deshalb nahm er unsere<br />

menschliche Natur an und machte unsere Erfahrungen. „Daher mußte er in allen Dingen seinen<br />

Brü<strong>de</strong>rn gleich wer<strong>de</strong>n.“ Hebräer 2,17.<br />

Falls wir etwas erdul<strong>de</strong>n müßten, was Jesus nicht zu erdul<strong>de</strong>n brauchte, wür<strong>de</strong> Satan dies so<br />

<strong>de</strong>uten, als reiche die Kraft Gottes nicht für uns aus. Deshalb auch wur<strong>de</strong> Jesus versucht<br />

„allenthalben gleichwie wir“. Hebräer 4,15. Er ertrug je<strong>de</strong> Versuchung, <strong>de</strong>r auch wir ausgesetzt<br />

sind, und er benutzte zu seinen Gunsten keine Kraft, die nicht auch uns uneingeschränkt<br />

angeboten wird. Als Mensch trat er <strong>de</strong>r Versuchung entgegen und überwand sie mit <strong>de</strong>r Kraft,<br />

die ihm von Gott verliehen wur<strong>de</strong>. Er sagt: „Deinen Willen, mein Gott, tue ich gern, und <strong>de</strong>in<br />

Gesetz hab ich in meinem Herzen.“ Psalm 40,9. Als er von Ort zu Ort zog, Gutes tat und die<br />

vom Satan Gepeinigten heilte, da öffnete er <strong>de</strong>n Menschen das Verständnis für das Gesetz<br />

Gottes und für die Art seines <strong>Die</strong>nstes. Sein Leben bezeugt, daß es auch uns möglich ist, <strong>de</strong>m<br />

Gesetz Gottes zu gehorchen.<br />

Durch sein Menschsein kam Christus <strong>de</strong>r Menschheit nahe, durch seine Göttlichkeit blieb er<br />

mit <strong>de</strong>m Throne Gottes verbun<strong>de</strong>n. Als Menschensohn gab er uns ein Beispiel <strong>de</strong>s Gehorsams,<br />

als Sohn Gottes schenkte er uns die Kraft zu gehorchen. Christus war es gewesen, <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m<br />

Busch auf <strong>de</strong>m Berge Horeb zu Mose gesprochen hatte: „Ich wer<strong>de</strong> sein, <strong>de</strong>r ich sein wer<strong>de</strong> ...<br />

10


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

So sollst du zu <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn Israel sagen: ‚Ich wer<strong>de</strong> sein‘, <strong>de</strong>r hat mich zu euch<br />

gesandt.“ 2.Mose 3,14. Das war die Bürgschaft für die Befreiung Israels. Als er nun in<br />

menschlicher Gestalt zu uns kam, erklärte er sich als <strong>de</strong>r „Ich bin“. Das Kind in Bethlehem, <strong>de</strong>r<br />

beschei<strong>de</strong>ne, <strong>de</strong>mütige Heiland ist Gott, „offenbart im Fleisch“. 1.Timotheus 3,16. Zu uns sagt<br />

er: „Ich bin <strong>de</strong>r gute Hirte.“ Johannes 10,11. — „Ich bin das lebendige Brot.“ Johannes 6,51. —<br />

„Ich bin <strong>de</strong>r Weg und die Wahrheit und das Leben.“ Johannes 14,6. — „Mir ist gegeben alle<br />

Gewalt im Himmel und auf Er<strong>de</strong>n.“ Matthäus 28,18. „Ich bin“, das ist die Beteuerung je<strong>de</strong>r<br />

Verheißung. „Ich bin“ — habt <strong>de</strong>shalb keine Furcht. „Gott mit uns“, das sichert uns Befreiung<br />

von <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> zu und die Kraft, <strong>de</strong>m Gesetz Gottes zu gehorchen.<br />

Als Christus sich <strong>de</strong>mütigte und menschliche Gestalt annahm, offenbarte er einen Charakter,<br />

<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Satans entgegengesetzt ist. Ja, er ging <strong>de</strong>n Weg <strong>de</strong>r Demütigung sogar noch weiter: „Er<br />

erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum To<strong>de</strong>, ja zum To<strong>de</strong> am Kreuz.“ Philipper 2,8.<br />

Wie <strong>de</strong>r Hohepriester die prächtigen Priestergewän<strong>de</strong>r ablegte und im weißen Leinenkleid <strong>de</strong>s<br />

einfachen Priesters seinen <strong>Die</strong>nst versah, so nahm Christus die Gestalt eines <strong>Die</strong>nen<strong>de</strong>n an und<br />

brachte ein Opfer dar, sich selbst, Priester und Opfer zugleich. „Er ist um unsrer Missetat willen<br />

verwun<strong>de</strong>t und um unsrer Sün<strong>de</strong> willen zerschlagen. <strong>Die</strong> Strafe liegt auf ihm, auf daß wir<br />

Frie<strong>de</strong>n hätten.“ Jesaja 53,5.<br />

Christus wur<strong>de</strong> so behan<strong>de</strong>lt, wie wir es verdient haben. Damit wollte er erreichen, daß uns<br />

die Behandlung zuteil wür<strong>de</strong>, die eigentlich ihm zukam. Er wur<strong>de</strong> um unserer Sün<strong>de</strong> willen, an<br />

<strong>de</strong>r er keinen Teil hatte, verdammt, damit wir durch seine Gerechtigkeit, an <strong>de</strong>r wir keinen Teil<br />

haben, gerechtfertigt wür<strong>de</strong>n. Er erlitt <strong>de</strong>n Tod, <strong>de</strong>n wir hätten erlei<strong>de</strong>n müssen, damit wir sein<br />

Leben empfangen konnten. „Durch seine Wun<strong>de</strong>n sind wir geheilt.“ Jesaja 53,5.<br />

Durch sein Leben und Sterben hat Christus mehr erreicht als nur die Rettung aus <strong>de</strong>m durch<br />

die Sün<strong>de</strong> verursachten Untergang. Satan hatte eine ewige Trennung zwischen Gott und Mensch<br />

erreichen wollen. Durch Christus aber wer<strong>de</strong>n wir enger mit Gott verbun<strong>de</strong>n, so als hätten wir<br />

niemals gesündigt. Dadurch, daß er unser Wesen annahm, hat sich <strong>de</strong>r Heiland unlöslich mit<br />

uns Menschen verbun<strong>de</strong>n. Für alle Ewigkeit gehört er zu uns. „Also hat Gott die Welt geliebt,<br />

daß er seinen eingebornen Sohn gab.“ Johannes 3,16. Er gab ihn nicht nur, damit er unsere<br />

Sün<strong>de</strong>n tragen und für uns als Opfer sterben sollte, er schenkte ihn <strong>de</strong>m gefallenen<br />

Menschengeschlecht.<br />

Um uns seiner unwan<strong>de</strong>lbaren Frie<strong>de</strong>nsgesinnung zu versichern, ließ Gott seinen<br />

eingeborenen Sohn Mensch wer<strong>de</strong>n, damit er für immer Mensch bliebe. Das ist das<br />

Unterpfand dafür, daß Gott seine Verheißung auch erfüllen wird. „Uns ist ein Kind geboren, ein<br />

Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter.“ Jesaja 9,5. Durch seinen<br />

Sohn nahm auch Gott menschliche Natur an, die er damit in <strong>de</strong>n Himmel aufnahm. Der<br />

„Menschensohn“ hat Anteil an <strong>de</strong>r Herrschaft über die Welt. Als „Menschensohn“ heißt er:<br />

„Wun<strong>de</strong>r-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Frie<strong>de</strong>-Fürst.“ Jesaja 9,5. Der „Ich bin“ ist <strong>de</strong>r Mittler<br />

zwischen Gott und Mensch und legt seine Hän<strong>de</strong> auf bei<strong>de</strong>. Er, „<strong>de</strong>r da ist heilig, unschuldig,<br />

unbefleckt, von <strong>de</strong>n Sün<strong>de</strong>rn abgeson<strong>de</strong>rt“, schämt sich nicht, uns „Brü<strong>de</strong>r zu heißen“. Hebräer<br />

7,26; Hebräer 2,11. Durch Christus wird die Familie auf Er<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Himmels verbun<strong>de</strong>n.<br />

11


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Der in die Herrlichkeit aufgenommene Christus ist unser Bru<strong>de</strong>r. Der Himmel ist<br />

eingeschlossen in die menschliche Natur, und menschliches Wesen seinerseits entfaltet sich im<br />

Herzen <strong>de</strong>ssen, <strong>de</strong>r die unendliche Liebe ist.<br />

Gott sagt von seinem Volk: „Wie edle Steine wer<strong>de</strong>n sie in seinem Lan<strong>de</strong> glänzen. Denn wie<br />

groß ist seine Güte und wie groß ist seine Huld!“ Sacharja 9,16.17. <strong>Die</strong> Erhöhung <strong>de</strong>r Erlösten<br />

wird zu einem ewigen Zeugnis <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong> Gottes wer<strong>de</strong>n. „In <strong>de</strong>n kommen<strong>de</strong>n Zeiten“ wird er<br />

„<strong>de</strong>n überschwenglichen Reichtum seiner Gna<strong>de</strong> durch seine Güte gegen uns in Christus Jesus“<br />

erweisen, „auf daß ... kundwür<strong>de</strong>... <strong>de</strong>n Mächten und Gewalten im Himmel die mannigfaltige<br />

Weisheit Gottes. <strong>Die</strong>sen ewigen Vorsatz hat Gott ausgeführt in Christus Jesus, unsrem<br />

Herrn“. Epheser 2,7; Epheser 3,10.11. Durch <strong>Christi</strong> Erlösungstat steht Gottes Herrschaft<br />

gerechtfertigt da. Der Allmächtige wird als ein Gott <strong>de</strong>r Liebe geoffenbart. Satans<br />

Anschuldigungen sind wi<strong>de</strong>rlegt, sein Wesen entlarvt. Niemals wie<strong>de</strong>r kann es zu einem<br />

Aufruhr kommen, und nie wie<strong>de</strong>r wird die Sün<strong>de</strong> Eingang in die Schöpfung fin<strong>de</strong>n. Für alle<br />

Ewigkeit sind die Geschöpfe vor Abfall geschützt. <strong>Christi</strong> Opfer aus Liebe hat die Bewohner<br />

<strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> und <strong>de</strong>s Himmels unauflöslich mit ihrem Schöpfer verbun<strong>de</strong>n.<br />

Das Erlösungswerk wird vollständig sein. Dort, wo einst die Sün<strong>de</strong> herrschte, wird die<br />

Gna<strong>de</strong> Gottes überreich vorhan<strong>de</strong>n sein. <strong>Die</strong> Er<strong>de</strong> die Satan als sein Eigentum beansprucht, soll<br />

nicht nur losgekauft son<strong>de</strong>rn erhöht wer<strong>de</strong>n. Unserer kleinen Welt, die unter <strong>de</strong>m Fluch <strong>de</strong>r<br />

Sün<strong>de</strong> <strong>de</strong>r einzige dunkle Fleck in Gottes herrlicher Schöpfung war, soll mehr als allen an<strong>de</strong>ren<br />

Welten im Universum Ehre erwiesen wer<strong>de</strong>n. Hier, wo einst <strong>de</strong>r Sohn Gottes unter <strong>de</strong>n<br />

Menschen Wohnung nahm, wo <strong>de</strong>r König <strong>de</strong>r Herrlichkeit lebte, litt und starb, soll <strong>de</strong>reinst die<br />

„Hütte Gottes bei <strong>de</strong>n Menschen“ stehen, wenn er alles neu gemacht haben wird. „Und er wird<br />

bei ihnen wohnen, und sie wer<strong>de</strong>n sein Volk sein, und er selbst, Gott, wird mit ihnen<br />

sein.“ Offenbarung 21,3. Wenn die Erlösten in <strong>de</strong>r Ewigkeit im Lichte <strong>de</strong>s Herrn wan<strong>de</strong>ln,<br />

wer<strong>de</strong>n sie ihn für seine unaussprechliche Gabe preisen, für Immanuel — Gott mit uns.<br />

12


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 2: Das auserwählte Volk<br />

Über tausend Jahre lang hatten die Ju<strong>de</strong>n auf die Ankunft <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s gewartet. Auf dies<br />

Ereignis grün<strong>de</strong>ten sich ihre lebhaftesten Hoffnungen. Im Lied, in <strong>de</strong>r Weissagung, im<br />

Tempeldienst und im täglichen Gebet war sein Name enthalten. Doch als er unter ihnen<br />

erschien, erkannten sie ihn nicht. Der Geliebte <strong>de</strong>s Himmels war für sie nur „eine Wurzel aus<br />

dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt und Hoheit“, und sie erblickten keine Schönheit an ihm,<br />

die ihn für sie begehrenswert gemacht hätte. Jesaja 53,2. „Er kam in sein Eigentum; und die<br />

Seinen nahmen ihn nicht auf.“ Johannes 1,11. Dennoch hatte Gott die Israeliten erwählt; er hatte<br />

sie dazu berufen, die Kenntnis seines Gesetzes, <strong>de</strong>r Sinnbil<strong>de</strong>r und Weissagungen, die auf <strong>de</strong>n<br />

Heiland hinwiesen, unter <strong>de</strong>n Menschen zu bewahren. Seinem Wunsche entsprechend sollten<br />

sie Heilsbrunnen für die Welt sein. Was Abraham in seiner Umgebung, Joseph in Ägypten und<br />

Daniel am Hofe zu Babel war, das sollte das Volk <strong>de</strong>r Hebräer unter <strong>de</strong>n heidnischen Völkern<br />

sein. Es sollte <strong>de</strong>n Menschen Gott offenbaren.<br />

Als <strong>de</strong>r Herr Abraham berief, sagte er: „Ich ... will dich segnen ... und du sollst ein Segen<br />

sein ... und in dir sollen gesegnet wer<strong>de</strong>n alle Geschlechter auf Er<strong>de</strong>n.“ 1.Mose 12,2.3. Das<br />

wur<strong>de</strong> auch von <strong>de</strong>n Propheten wie<strong>de</strong>rholt. Sogar als Israel durch Krieg und Gefangenschaft<br />

verheert wor<strong>de</strong>n war, galt ihm die Verheißung: „Es wer<strong>de</strong>n die Übriggebliebenen aus Jakob<br />

unter vielen Völkern sein wie Tau vom Herrn, wie Regen aufs Gras, <strong>de</strong>r auf niemand harrt noch<br />

auf Menschen wartet.“ Micha 5,6. Über <strong>de</strong>n Tempel zu Jerusalem kündigte <strong>de</strong>r Herr durch<br />

Jesaja an: „Mein Haus wird ein Bethaus heißen für alle Völker.“ Jesaja 56,7. Doch die Israeliten<br />

richteten ihre Hoffnungen auf weltliche Größe. Seit<strong>de</strong>m sie das Land Kanaan betreten hatten,<br />

wichen sie von <strong>de</strong>n Geboten Gottes ab und folgten heidnischen Bräuchen. Vergeblich warnte<br />

Gott sie durch seine Propheten. Vergeblich wur<strong>de</strong>n sie auch dadurch bestraft, daß heidnische<br />

Völker sie unterdrückten. Je<strong>de</strong>r Sinnesän<strong>de</strong>rung folgte ein um so tieferer Abfall.<br />

Wären die Kin<strong>de</strong>r Israel Gott treu geblieben, hätte er sein Ziel erreichen und sie ehren und<br />

erhöhen können. Wären sie gehorsam geblieben, so hätte er sie „zum höchsten über alle<br />

Völker“ gemacht, „die er geschaffen hat“, und sie wären „gerühmt, gepriesen und geehrt“<br />

wor<strong>de</strong>n. 5.Mose 26,19. Mose sagt: „Alle Völker auf Er<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n sehen, daß über dir <strong>de</strong>r<br />

Name <strong>de</strong>s Herrn genannt ist, und wer<strong>de</strong>n sich vor dir fürchten.“ 5.Mose 28,10. Wenn alle<br />

Völker „diese Gebote hören“, müßten sie sagen: „Ei, was für weise und verständige Leute sind<br />

das, ein herrliches Volk!“ 5.Mose 4,6. Weil sie aber treulos waren, konnte Gottes Ziel nur durch<br />

ständige Trübsal und Demütigung erreicht wer<strong>de</strong>n.<br />

Sie wur<strong>de</strong>n von Babylon unterjocht und unter die Hei<strong>de</strong>n zerstreut. Im Elend erneuerten<br />

viele ihren Glauben an <strong>de</strong>n Bund mit Gott. Als sie ihre Harfen an die Wei<strong>de</strong>n zu Babel hingen<br />

und um <strong>de</strong>n heiligen Tempel, <strong>de</strong>r verwüstet lag, Leid trugen (Psalm 137,1-3), da ging von ihnen<br />

das Licht <strong>de</strong>r Wahrheit aus, und sie verbreiteten die Erkenntnis Gottes unter <strong>de</strong>n Hei<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong><br />

heidnischen Opferbräuche waren ein Zerrbild <strong>de</strong>s von Gott festgelegten Opferdienstes. Viele,<br />

die es mit <strong>de</strong>n heidnischen Bräuchen ernst nahmen, erfuhren durch die Ju<strong>de</strong>n, was es mit <strong>de</strong>m<br />

13


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

von Gott vorgeschriebenen Opfer auf sich hatte, und nahmen im Glauben die Verheißung eines<br />

Erlösers an.<br />

Viele Verbannte erdul<strong>de</strong>ten Verfolgung, nicht wenige büßten sogar ihr Leben ein, weil sie<br />

sich weigerten, <strong>de</strong>n Sabbat zu mißachten und an <strong>de</strong>n heidnischen Festen teilzunehmen. Als die<br />

Götzendiener angestachelt wur<strong>de</strong>n, die Wahrheit auszulöschen, stellte <strong>de</strong>r Herr seine <strong>Die</strong>ner vor<br />

Herrscher und Könige, damit diese und <strong>de</strong>ren Untertanen erleuchtet wür<strong>de</strong>n. Von Zeit zu Zeit<br />

wur<strong>de</strong>n die gewaltigsten Monarchen dazu gebracht, die Überlegenheit <strong>de</strong>s Gottes zu verkün<strong>de</strong>n,<br />

<strong>de</strong>n ihre hebräischen Gefangenen anbeteten.<br />

Durch die Babylonische Gefangenschaft wur<strong>de</strong>n die Kin<strong>de</strong>r Israel wirksam von <strong>de</strong>r<br />

Anbetung <strong>de</strong>r Götzenbil<strong>de</strong>r geheilt. In <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Jahrhun<strong>de</strong>rten erdul<strong>de</strong>ten sie die<br />

Unterdrückung durch heidnische Fein<strong>de</strong>, bis sie zu <strong>de</strong>r festen Überzeugung gelangten, daß ihre<br />

Wohlfahrt vom Gehorsam gegenüber <strong>de</strong>m Gesetz Gottes abhinge. Bei allzu vielen Ju<strong>de</strong>n<br />

beruhte dieser Gehorsam jedoch nicht auf Liebe. Sie han<strong>de</strong>lten aus selbstsüchtigen<br />

Beweggrün<strong>de</strong>n und dienten Gott nur äußerlich, um dadurch zu nationaler Größe zu gelangen.<br />

Daher wur<strong>de</strong>n sie nicht zu einem Licht <strong>de</strong>r Welt, son<strong>de</strong>rn sie son<strong>de</strong>rten sich von <strong>de</strong>r Welt ab,<br />

um so <strong>de</strong>r Versuchung zum Götzendienst zu entgehen. In <strong>de</strong>n Unterweisungen, die Gott ihnen<br />

durch Mose erteilt hatte, war <strong>de</strong>r Umgang Israels mit Götzenanbetern eingeschränkt wor<strong>de</strong>n.<br />

<strong>Die</strong>se Belehrungen wur<strong>de</strong>n nun falsch ausgelegt. Israel sollte zwar durch sie daran gehin<strong>de</strong>rt<br />

wer<strong>de</strong>n, sich nach heidnischen Bräuchen zu richten; doch jetzt dienten sie dazu, zwischen sich<br />

und <strong>de</strong>n Hei<strong>de</strong>n einen Wall aufzubauen. Jerusalem war in <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Himmel,<br />

und Eifersucht erfüllte sie bei <strong>de</strong>m Gedanken, Gott könnte <strong>de</strong>n Hei<strong>de</strong>n Gna<strong>de</strong> erweisen.<br />

Nach ihrer Rückkehr aus Babylon widmeten die Ju<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r religiösen Unterweisung große<br />

Aufmerksamkeit. Überall im Lan<strong>de</strong> errichteten sie Synagogen, in <strong>de</strong>nen Priester und<br />

Schriftgelehrte das Gesetz auslegten. Sie grün<strong>de</strong>ten auch Schulen, auf <strong>de</strong>nen neben <strong>de</strong>n Künsten<br />

und Wissenschaften angeblich auch die Grundsätze wahrer Frömmigkeit gelehrt wur<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong>se<br />

Institutionen gerieten jedoch in Verfall; <strong>de</strong>nn während <strong>de</strong>r Gefangenschaft hatten viele<br />

Israeliten heidnische Vorstellungen und Bräuche übernommen, die sie nun in <strong>de</strong>n Gottesdienst<br />

einschleusten. In vielen Dingen paßten sie sich <strong>de</strong>n Gewohnheiten <strong>de</strong>r Götzendiener an.<br />

Als sich die Ju<strong>de</strong>n von Gott abwandten, verloren sie weitgehend das Verständnis für die<br />

Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Opferdienstes, <strong>de</strong>r von Christus selbst eingeführt wor<strong>de</strong>n war. In allen seinen<br />

Teilen war dieser <strong>Die</strong>nst ein Sinnbild auf Jesus hin und von Kraft und geistlicher Schönheit<br />

erfüllt. Den Ju<strong>de</strong>n kam nun die geistliche Sinngebung ihrer Zeremonien abhan<strong>de</strong>n, und so<br />

klammerten sie sich an tote Formen. Sie setzten ihr Vertrauen auf die bloßen Opfer und<br />

Bräuche statt auf <strong>de</strong>n, auf <strong>de</strong>n diese hinwiesen. Um diesen Verlust zu ersetzen, vervielfältigten<br />

die Priester und Rabbiner die eigenen Anfor<strong>de</strong>rungen, und je strenger diese wur<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>sto<br />

weniger fand sich die Liebe Gottes in ihnen. Gradmesser ihrer Frömmigkeit war die Anzahl<br />

ihrer kultischen Handlungen, ihre Herzen aber waren voller Stolz und Heuchelei.<br />

Bei all diesen peinlich genauen und lästigen Vorschriften war es unmöglich, das Gesetz<br />

wirklich zu halten. Wer Gott dienen und dabei <strong>de</strong>n Regeln <strong>de</strong>r Rabbiner gehorchen wollte,<br />

14


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

plagte sich unter einer schweren Last ab. Er konnte vor <strong>de</strong>n Anklagen seines geängsteten<br />

Gewissens nicht zur Ruhe kommen. Auf diese Weise versuchte Satan, das Volk mutlos zu<br />

machen, die Vorstellung vom Wesen Gottes zu verfälschen und <strong>de</strong>n Glauben Israels in Verruf<br />

zu bringen. Er hoffte, beweisen zu können, was er bei seinem Aufruhr im Himmel behauptet<br />

hatte, nämlich daß Gottes For<strong>de</strong>rungen ungerecht seien und man ihnen nicht gehorchen könne.<br />

Selbst die Kin<strong>de</strong>r Israel, so versicherte er, hielten das Gesetz nicht. <strong>Die</strong> Ju<strong>de</strong>n sehnten zwar die<br />

Ankunft <strong>de</strong>s Messias herbei, aber sie hatten <strong>de</strong>nnoch keine richtige Vorstellung von seiner<br />

Aufgabe. Sie wollten nicht von ihrer Sün<strong>de</strong>nschuld erlöst, son<strong>de</strong>rn vom Römerjoch befreit<br />

wer<strong>de</strong>n und hielten nach einem Messias Ausschau, <strong>de</strong>r als Eroberer kommen, die Macht ihrer<br />

Unterdrücker zerbrechen und Israel zur Weltherrschaft verhelfen sollte. So wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Weg für<br />

sie bereitet, <strong>de</strong>n Heiland zu verwerfen.<br />

Zur Zeit <strong>de</strong>r Geburt <strong>Christi</strong> härmte sich das Volk unter <strong>de</strong>r Fremdherrschaft ab, außer<strong>de</strong>m<br />

war es von innerem Ha<strong>de</strong>r zerrissen. Obwohl <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n erlaubt wor<strong>de</strong>n war, eine eigene<br />

Regierung zu behalten, konnte nichts die Tatsache verbergen, daß sie von <strong>de</strong>n Römern<br />

unterjocht wur<strong>de</strong>n und daß sie sich mit <strong>de</strong>r Beschneidung <strong>de</strong>r eigenen Macht nicht abfin<strong>de</strong>n<br />

konnten. <strong>Die</strong> Römer behielten sich das Recht vor, <strong>de</strong>n Hohenpriester zu ernennen und<br />

abzusetzen. Oftmals erhielt man dieses Amt nur durch List, Bestechung, ja sogar durch Mord.<br />

Dadurch griff die Korruption unter <strong>de</strong>n Priestern immer stärker um sich. Doch noch übten sie<br />

eine große Macht aus, die sie für selbstsüchtige und gewinnträchtige Ziele einsetzten. Das Volk<br />

war ihren hartherzigen For<strong>de</strong>rungen ausgeliefert und mußte außer<strong>de</strong>m noch hohe Steuern an die<br />

Römer zahlen. Deshalb herrschte überall Unzufrie<strong>de</strong>nheit. Häufig kam es zu Volksaufstän<strong>de</strong>n.<br />

Geldgier und Gewalttat, Mißtrauen und Gleichgültigkeit im religiösen Leben zehrten am Mark<br />

<strong>de</strong>s Volkes.<br />

Haß auf die Römer, nationaler Stolz und geistlicher Hochmut ließen die Ju<strong>de</strong>n noch immer<br />

streng <strong>de</strong>n religiösen Formen anhangen. <strong>Die</strong> Priester versuchten, <strong>de</strong>n Schein <strong>de</strong>r Heiligkeit<br />

aufrechtzuerhalten, in<strong>de</strong>m sie peinlich genau die kultischen Vorschriften beachteten. Das<br />

bedrängte und in geistlicher Finsternis leben<strong>de</strong> Volk wie auch seine machthungrigen<br />

Beherrscher ersehnten <strong>de</strong>n Einen, <strong>de</strong>r die Fein<strong>de</strong> besiegen und das Königreich Israel<br />

wie<strong>de</strong>rherstellen wür<strong>de</strong>. <strong>Die</strong> Weissagungen hatten sie erforscht, doch ohne geistliche<br />

Erleuchtung. Sie übersahen daher jene Schriftworte, die auf die Erniedrigung <strong>Christi</strong> bei seiner<br />

ersten Ankunft hinwiesen, und mißverstan<strong>de</strong>n jene an<strong>de</strong>ren, die von <strong>de</strong>r Herrlichkeit seines<br />

zweiten Kommens sprechen. Ihr Hochmut verdunkelte ihre Erkenntnis, so daß sie die<br />

Weissagungen nach ihren eigenen selbstsüchtigen Wünschen auslegten.<br />

15


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

„Als aber die Zeit erfüllet ward, sandte Gott seinen Sohn ... auf daß er die, so unter <strong>de</strong>m<br />

Gesetz waren, erlöste, damit wir die Kindschaft empfingen.“ Galater 4,4. Das Kommen <strong>de</strong>s<br />

Heilan<strong>de</strong>s wur<strong>de</strong> bereits im Garten E<strong>de</strong>n vorhergesagt. Als Adam und Eva zum ersten Mal die<br />

Verheißung hörten, warteten sie auf <strong>de</strong>ren rasche Erfüllung. Voller Freu<strong>de</strong> empfingen sie ihren<br />

erstgeborenen Sohn in <strong>de</strong>r Hoffnung, daß er <strong>de</strong>r Erlöser sein möchte. Doch die Erfüllung dieser<br />

Verheißung ließ auf sich warten. Jene, die sie zuerst empfingen, starben, ohne erlebt zu haben,<br />

daß sie sich erfüllt hätte. Von <strong>de</strong>n Tagen Henochs an wur<strong>de</strong> diese Verheißung durch Patriarchen<br />

und Propheten weitergegeben und die Hoffnung auf seine Erscheinung am Leben erhalten, und<br />

<strong>de</strong>nnoch kam er nicht. Erst die Weissagung Daniels offenbarte die Zeit seines Kommens, doch<br />

nicht alle verstan<strong>de</strong>n diese Botschaft richtig zu <strong>de</strong>uten. So ging ein Jahrhun<strong>de</strong>rt nach <strong>de</strong>m<br />

an<strong>de</strong>rn vorüber, und die Stimmen <strong>de</strong>r Propheten verstummten. <strong>Die</strong> Hand <strong>de</strong>r Unterdrücker<br />

lastete schwer auf Israel, und viele sprachen nun: „Es dauert so lange, und es wird nichts aus <strong>de</strong>r<br />

Weissagung.“ Hesekiel 12,22.<br />

Wie die Gestirne unbeirrbar ihre ewige Bahn ziehen, so erfüllen sich auch die Absichten<br />

Gottes. Einst hatte <strong>de</strong>r Herr unter <strong>de</strong>n Sinnbil<strong>de</strong>rn einer großen Finsternis und eines rauchen<strong>de</strong>n<br />

Ofens Abraham die Knechtschaft Israels in Ägypten kundgetan und dabei seinem <strong>Die</strong>ner<br />

erklärt, daß ihr Aufenthalt dort vierhun<strong>de</strong>rt Jahre währen wür<strong>de</strong>; danach aber sollten sie<br />

„ausziehen mit großem Gut“. 1.Mose 15,14. Das stolze Reich <strong>de</strong>r Pharaonen bekämpfte<br />

lei<strong>de</strong>nschaftlich diese Verheißung Gottes. Doch vergebens; <strong>de</strong>nn als die Zeit <strong>de</strong>r Erfüllung<br />

gekommen war, „an eben diesem Tage zog das ganze Heer <strong>de</strong>s Herrn<br />

aus Ägyptenland“. 2.Mose 12,41. Mit <strong>de</strong>r gleichen Sicherheit war im Rate Gottes auch die Zeit<br />

<strong>de</strong>s ersten Advents <strong>Christi</strong> bestimmt wor<strong>de</strong>n. Als die Weltenuhr diese Stun<strong>de</strong> anzeigte, wur<strong>de</strong><br />

Jesus in Bethlehem geboren.<br />

„Als ... die Zeit erfüllet ward, sandte Gott seinen Sohn.“ Galater 4,4. Er hatte in seiner<br />

Vorsehung die Bewegungen <strong>de</strong>r Völker, die Wogen menschlicher Bestrebungen und Einflüsse<br />

gelenkt, bis die Welt für das Kommen <strong>de</strong>s Erlösers reif war. Damals waren die Völker unter<br />

einer Herrschaft vereinigt; sie re<strong>de</strong>ten allgemein eine Sprache, die auch überall als<br />

Schriftsprache galt. Von weither kamen die zerstreut wohnen<strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n nach Jerusalem, um<br />

gemeinsam die jährlichen Feste zu feiern. So konnten sie auch nach <strong>de</strong>r Rückkehr in ihre<br />

Heimatorte überall die Kun<strong>de</strong> von <strong>de</strong>r Ankunft <strong>de</strong>s Messias verbreiten. Zu <strong>de</strong>r gleichen Zeit ließ<br />

<strong>de</strong>r Einfluß <strong>de</strong>s Hei<strong>de</strong>ntums auf das Volk nach. Man war <strong>de</strong>s großartigen heidnischen<br />

Gepränges und <strong>de</strong>r Fabeln überdrüssig gewor<strong>de</strong>n und sehnte sich nach einer Religion, die das<br />

Herz befriedigen konnte. Wohl schien das Licht <strong>de</strong>r Wahrheit von <strong>de</strong>n Menschen gewichen,<br />

doch gab es immer noch Seelen, die nach diesem Licht verlangten und die mit Sorge und<br />

Unruhe erfüllt waren. <strong>Die</strong>se Seelen hungerte und dürstete nach <strong>de</strong>r Erkenntnis <strong>de</strong>s lebendigen<br />

Gottes, und sie sehnten sich nach <strong>de</strong>r Gewißheit eines Lebens jenseits <strong>de</strong>s Grabes.<br />

<strong>Die</strong> Ju<strong>de</strong>n hatten sich von Gott abgewandt; <strong>de</strong>r Glaube war verblaßt und die Hoffnung auf<br />

das ewige Heil fast erloschen. Man verstand die Worte <strong>de</strong>r Propheten nicht mehr. Dem größten<br />

16


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Teil <strong>de</strong>s Volkes war <strong>de</strong>r Tod ein schreckliches Geheimnis; die Vorstellungen über das Jenseits<br />

waren dunkel und ungewiß. Man hörte nicht nur das Klagen <strong>de</strong>r Mütter von Bethlehem, son<strong>de</strong>rn<br />

es erfüllte sich, „was gesagt ist von <strong>de</strong>m Propheten Jeremia, <strong>de</strong>r da spricht: ‚Zu Rama hat man<br />

ein Geschrei gehört, viel Weinen und Heulen; Rahel beweinte ihre Kin<strong>de</strong>r und wollte sich nicht<br />

trösten lassen, <strong>de</strong>nn es war aus mit ihnen.‘“ Matthäus 2,17.18. Ohne Trost saßen die Ju<strong>de</strong>n „am<br />

Ort und Schatten <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s“. Matthäus 4,16. Sehnsuchtsvoll schauten sie nach <strong>de</strong>m Erlöser aus,<br />

<strong>de</strong>ssen Erscheinen die Dunkelheit vertreiben und das Geheimnis <strong>de</strong>r Zukunft offenbaren<br />

sollte. Außerhalb <strong>de</strong>s jüdischen Volkes gab es Angehörige frem<strong>de</strong>r Stämme, die das Erscheinen<br />

eines göttlichen Lehrers vorhersagten. <strong>Die</strong>se suchten ernstlich die Wahrheit, und darum<br />

schenkte Gott ihnen <strong>de</strong>n Geist <strong>de</strong>r Weissagung. Gleich Sternen am dunklen Nachthimmel waren<br />

solche Lehrer, einer nach <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>rn, aufgetaucht. Mit ihren Seherworten hatten sie in <strong>de</strong>n<br />

Herzen vieler Hei<strong>de</strong>n frohe Hoffnungen entfacht.<br />

Seit Jahrhun<strong>de</strong>rten waren die heiligen Schriften ins Griechische übersetzt wor<strong>de</strong>n, die damals<br />

über weite Gebiete <strong>de</strong>s Römischen Reiches verbreitete Sprache. Dazu kam noch, daß die Ju<strong>de</strong>n<br />

überallhin verstreut waren und ihre Messiaserwartung in gewissem Gra<strong>de</strong> von <strong>de</strong>n Hei<strong>de</strong>n<br />

geteilt wur<strong>de</strong>. Unter jenen, von <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n Hei<strong>de</strong>n genannt, befan<strong>de</strong>n sich Männer, die ein<br />

besseres Verständnis <strong>de</strong>r göttlichen Weissagungen über <strong>de</strong>n Messias besaßen als die<br />

Schriftgelehrten Israels. Sie erwarteten in <strong>de</strong>m Messias einen Erretter von <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>.<br />

Philosophen bemühten sich, das Geheimnis <strong>de</strong>r hebräischen Heilsgeschichte zu erforschen.<br />

Aber die Verblendung <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n verhin<strong>de</strong>rte die Ausbreitung <strong>de</strong>s Lichtes. Sie wollten die Kluft,<br />

die zwischen ihnen und an<strong>de</strong>ren Völkern bestand, um keinen Preis überbrücken und waren nicht<br />

gewillt, ihre Erkenntnis über <strong>de</strong>n Opferdienst an<strong>de</strong>ren mitzuteilen. Zuerst mußte ihr Messias,<br />

<strong>de</strong>r wahre Lehrer, kommen und die Be<strong>de</strong>utung aller biblischen Schattenbil<strong>de</strong>r erklären.<br />

Durch die Natur, durch Bil<strong>de</strong>r und Gleichnisse, durch Patriarchen und Propheten hatte Gott<br />

zur Welt gesprochen. <strong>Die</strong>se Unterweisungen mußten <strong>de</strong>r Menschheit auch in einer<br />

menschlichen Sprache gegeben wer<strong>de</strong>n. Der Engel <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>s sollte diese Aufgabe<br />

übernehmen. Seine Stimme sollte in seinem eigenen Tempel gehört wer<strong>de</strong>n. Christus mußte<br />

kommen, um jene Worte zu sprechen, die klar und <strong>de</strong>utlich verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n konnten. Er, <strong>de</strong>r<br />

Schöpfer <strong>de</strong>r Wahrheit, mußte die Wahrheit von <strong>de</strong>r Spreu menschlicher Äußerungen trennen,<br />

die ohne Wirkung geblieben waren. Nicht nur mußten die Grundsätze <strong>de</strong>r Herrschaft Gottes und<br />

<strong>de</strong>r Erlösungsplan auf das sinnfälligste erklärt, son<strong>de</strong>rn auch die Texte <strong>de</strong>s Alten Testamentes<br />

sollten <strong>de</strong>n Menschen ausführlich dargelegt wer<strong>de</strong>n.<br />

Dennoch gab es unter <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n standhafte Seelen, Nachkommen jenes geheiligten<br />

Geschlechtes, das die Erkenntnis Gottes in sich bewahrt hatte, die noch auf die Erfüllung <strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>n Vätern gegebenen Verheißung warteten. <strong>Die</strong>se gläubigen Ju<strong>de</strong>n stärkten und belebten<br />

ihrenGlauben immer wie<strong>de</strong>r durch die Worte Moses: „Einen Propheten wird euch <strong>de</strong>r Herr, euer<br />

Gott, erwecken aus euren Brü<strong>de</strong>rn gleichwie mich; <strong>de</strong>n sollt ihr hören in allem, was er euch<br />

sagen wird.“ Apostelgeschichte 3,22. O<strong>de</strong>r sie lasen, daß Gott <strong>de</strong>n Einen salben und auf die<br />

Er<strong>de</strong> sen<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>, „<strong>de</strong>n Elen<strong>de</strong>n gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu<br />

verbin<strong>de</strong>n, zu verkündigen <strong>de</strong>n Gefangenen die Freiheit ... zu verkündigen ein gnädiges Jahr <strong>de</strong>s<br />

17


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Herrn“. Jesaja 61,1.2. O<strong>de</strong>r sie hörten davon, daß er „wird nicht verlöschen ... bis er auf Er<strong>de</strong>n<br />

das Recht aufrichte“, daß „die Inseln warten auf seine Weisung“ und daß die Hei<strong>de</strong>n zu seinem<br />

Licht und die Könige zum Glanz, <strong>de</strong>r über ihm aufgeht, ziehen wür<strong>de</strong>n. Jesaja 42,4; Jesaja<br />

60,3.<br />

Beson<strong>de</strong>rs aber belebten sie die Worte <strong>de</strong>s sterben<strong>de</strong>n Jakob: „Es wird das Zepter von Juda<br />

nicht weichen noch <strong>de</strong>r Stab <strong>de</strong>s Herrschers von seinen Füßen, bis daß <strong>de</strong>r Held komme, und<br />

ihm wer<strong>de</strong>n die Völker anhangen.“ 1.Mose 49,10. <strong>Die</strong> Tatsache <strong>de</strong>r dahinschwin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Macht<br />

Israels zeugte für das nahe bevorstehen<strong>de</strong> Kommen <strong>de</strong>s Messias. <strong>Die</strong> Weissagung Daniels<br />

schil<strong>de</strong>rte die Herrlichkeit seiner Herrschaft über ein Reich, das allen irdischen Reichen folgen<br />

sollte und das „ewig bleiben“ wür<strong>de</strong>. Daniel 2,44. Während nur wenige die Sendung <strong>Christi</strong><br />

wirklich verstan<strong>de</strong>n, war die Erwartung weit verbreitet, daß er als mächtiger Fürst kommen<br />

wer<strong>de</strong>, um in Israel sein Reich aufzurichten und <strong>de</strong>n Völkern die ersehnte Freiheit zu bringen.<br />

<strong>Die</strong> Zeit war erfüllt. <strong>Die</strong> Menschheit, durch Jahrhun<strong>de</strong>rte <strong>de</strong>r Übertretung immer tiefer<br />

gesunken, verlangte nach <strong>de</strong>m Erlöser. Satan hatte alles getan, um die Kluft zwischen <strong>de</strong>m<br />

Himmel und <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> tief und unüberbrückbar zu machen. Durch seine Lügen hatte er die<br />

Menschen ermutigt, zu sündigen. Es war seine Absicht, die Langmut Gottes zu erschöpfen und<br />

<strong>de</strong>ssen Liebe zu <strong>de</strong>n Menschen so zu verdunkeln, daß er schließlich die Welt seiner satanischen<br />

Oberhoheit überlassen wür<strong>de</strong>. Satan suchte <strong>de</strong>n Menschen die Erkenntnis Gottes unmöglich zu<br />

machen und ihre Aufmerksamkeit vom Tempel Gottes abzuwen<strong>de</strong>n, um sein eigenes Reich<br />

aufrichten zu können. Es schien sogar, als wäre seinem Streben nach <strong>de</strong>r höchsten Gewalt ein<br />

voller Erfolg beschie<strong>de</strong>n. Zwar hatte Gott in je<strong>de</strong>r Generation seine Werkzeuge; selbst unter <strong>de</strong>n<br />

Hei<strong>de</strong>n gab es Männer, durch die Christus wirken konnte, das Volk aus ihrer Sün<strong>de</strong> und<br />

Erniedrigung herauszuführen. Doch diese Männer wur<strong>de</strong>n verachtet und verabscheut. Viele von<br />

ihnen starben eines gewaltsamen To<strong>de</strong>s. Der dunkle Schatten, <strong>de</strong>n Satan über die Welt<br />

geworfen hatte, wur<strong>de</strong> länger und länger.<br />

Satan hatte durch das Hei<strong>de</strong>ntum zu allen Zeiten die Menschen Gott abspenstig gemacht;<br />

aber seinen größten Sieg erlangte er, in<strong>de</strong>m er <strong>de</strong>n Glauben in Israel verfälschte. Wie <strong>de</strong>n<br />

Hei<strong>de</strong>n, die durch ihren Götzendienst die Gotteserkenntnis verloren und immer ver<strong>de</strong>rbter<br />

wur<strong>de</strong>n, so erging es auch Israel. <strong>Die</strong> Auffassung, daß <strong>de</strong>r Mensch sich durch seine eigenen<br />

Werke selbst erlösen könne, war die Grundlage je<strong>de</strong>r heidnischen Religion; auch in Israel hatte<br />

dieser Grundsatz, von Satan eingepflanzt, Bo<strong>de</strong>n gewonnen. Wo immer man ihn befolgt,<br />

berauben die Menschen sich selbst je<strong>de</strong>r Schutzwehr gegen die Sün<strong>de</strong>. <strong>Die</strong> Heilsbotschaft wird<br />

<strong>de</strong>n Menschen durch menschliche Werkzeuge übermittelt. Doch die Ju<strong>de</strong>n wollten das<br />

ausschließliche Recht auf die Wahrheit, die das ewige Leben be<strong>de</strong>utet, für sich allein. Sie hatten<br />

das lebendige Manna gehortet und es dadurch <strong>de</strong>m Ver<strong>de</strong>rben ausgeliefert. <strong>Die</strong> Religion, die sie<br />

für sich allein in Anspruch zu nehmen gedachten, geriet ihnen zum Ärgernis. Sie beraubten Gott<br />

seiner Herrlichkeit und betrogen die Welt, in<strong>de</strong>m sie das Evangelium verfälschten. <strong>Die</strong><br />

Weigerung <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n, sich Gott zu weihen und <strong>de</strong>r Welt zum Heil zu wer<strong>de</strong>n, machte sie zu<br />

Werkzeugen Satans, die Ver<strong>de</strong>rben über die Welt brachten.<br />

18


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Das Volk, das Gott erwählt hatte, Pfeiler und Grundfeste <strong>de</strong>r Wahrheit zu sein, war zu<br />

Beauftragten Satans gewor<strong>de</strong>n. Sie erfüllten die Aufgabe, die Satan ihnen zugedacht hatte,<br />

in<strong>de</strong>m sie Mittel und Wege fan<strong>de</strong>n, das Wesen Gottes falsch darzustellen, und die Welt<br />

veranlaßten, ihn als Tyrannen zu betrachten. Sogar die Priester, die ihren <strong>Die</strong>nst im Tempel<br />

versahen, hatten die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r gottesdienstlichen Handlungen aus <strong>de</strong>n Augen verloren. Sie<br />

hatten längst aufgehört, hinter <strong>de</strong>ren Symbolcharakter <strong>de</strong>n eigentlichen Sinn zu sehen. Im<br />

Ablauf <strong>de</strong>s Opferdienstes waren sie zu Akteuren in einem Schaustück gewor<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong><br />

Ordnungen, die Gott selbst eingesetzt hatte, wur<strong>de</strong>n zu einem Mittel, die Sinne zu betören und<br />

die Herzen zu verhärten. Auf diesem Wege konnte Gott nichts mehr für die Menschheit tun.<br />

<strong>Die</strong>ses ganze System mußte beseitigt wer<strong>de</strong>n.<br />

Der Betrug <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> hatte seinen Höhepunkt erreicht. Alle Wirksamkeit, die Seelen <strong>de</strong>r<br />

Menschen moralisch zu ver<strong>de</strong>rben, war in vollem Gange. Der Sohn Gottes sah, als er auf die<br />

Welt blickte, nur Not und Elend. Mit tiefem Erbarmen erkannte er, wie Menschen Opfer <strong>de</strong>r<br />

satanischen Grausamkeit wur<strong>de</strong>n. Voller Mitgefühl blickte er auf jene, die verführt o<strong>de</strong>r getötet<br />

wur<strong>de</strong>n und verlorengingen. Sie hatten sich einen Obersten gewählt, <strong>de</strong>r sie gleichsam als<br />

Gefangene vor seinen Karren spannte. Irregeleitet und betrogen, bewegten sie sich in einer<br />

traurigen Prozession ihrem ewigen Untergang entgegen, <strong>de</strong>m Tod, in <strong>de</strong>m keine<br />

Lebenshoffnung ist, <strong>de</strong>r Nacht, die keinen Morgen kennt. Satanisches Wirken vermischte sich<br />

mit menschlichem Tun. <strong>Die</strong> Leiber menschlicher Wesen, dazu geschaffen, daß Gott darin<br />

wohnte, wur<strong>de</strong>n zu einer Behausung <strong>de</strong>r Teufel. <strong>Die</strong> Sinne, Nerven, Triebe und Organe <strong>de</strong>r<br />

Menschen wur<strong>de</strong>n durch übernatürliche Kräfte angestachelt, <strong>de</strong>r niedrigsten Begier<strong>de</strong> zu frönen.<br />

Den Angesichtern <strong>de</strong>r Menschen war gera<strong>de</strong>zu <strong>de</strong>r Stempel <strong>de</strong>r Dämonen aufgeprägt. Sie<br />

spiegelten die Legionen <strong>de</strong>s Bösen wi<strong>de</strong>r, von <strong>de</strong>m sie besessen waren. Solcherart war <strong>de</strong>r<br />

Anblick, <strong>de</strong>r sich <strong>de</strong>m Erlöser <strong>de</strong>r Welt bot. Welch ein Schauspiel für <strong>de</strong>n unendlich Reinen,<br />

das zu sehen!<br />

<strong>Die</strong> Sün<strong>de</strong> war zu einer systematisch betriebenen Kunst gewor<strong>de</strong>n, und das Laster wur<strong>de</strong> als<br />

Teil <strong>de</strong>r Religion geheiligt. <strong>Die</strong> Empörung wi<strong>de</strong>r Gott war tief in <strong>de</strong>n Herzen verwurzelt, und<br />

die Feindseligkeit <strong>de</strong>r Menschen gegen <strong>de</strong>n Himmel war außeror<strong>de</strong>ntlich heftig. Vor <strong>de</strong>m<br />

ganzen Universum zeigte es sich, daß die menschliche Natur, von Gott getrennt, sich nicht über<br />

das Menschliche emporschwingen kann. Ein neues Element <strong>de</strong>r Lebensgestaltung und Kraft<br />

muß erst durch jenen Einen verliehen wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r die Welt geschaffen hat. Voller Spannung<br />

hatten die nichtgefallenen Welten erwartet, daß sich <strong>de</strong>r Herr aufmachen und die Bewohner <strong>de</strong>r<br />

Er<strong>de</strong> hinwegraffen wür<strong>de</strong>. Und wenn Gott dies getan hätte, dann wäre Satan bereit gewesen,<br />

seinen Plan auszuführen, um sich die Ergebenheit <strong>de</strong>r himmlischen Wesen zu sichern. Er hatte<br />

erklärt, daß die Grundsätze <strong>de</strong>r Herrschaft Gottes eine Vergebung unmöglich machten. Wür<strong>de</strong><br />

Gott die Welt vernichtet haben, so hätte <strong>de</strong>r Teufel behauptet, daß seine Anklagen gegen Gott<br />

wahr seien. Er lauerte darauf, Gott anzuklagen und auch an<strong>de</strong>re Welten in die Empörung<br />

hineinzuziehen.<br />

Aber statt die Welt zu vernichten, sandte Gott seinen Sohn, sie zu retten. Obwohl überall<br />

Ver<strong>de</strong>rbtheit und Trotz herrschten, wur<strong>de</strong> ein Weg <strong>de</strong>r Erlösung <strong>de</strong>r Menschheit vorbereitet. Im<br />

19


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Augenblick, gera<strong>de</strong> da Satan zu triumphieren schien, brachte <strong>de</strong>r Sohn Gottes<br />

die frohe Botschaft von <strong>de</strong>r göttlichen Gna<strong>de</strong>. In allen Zeiten, in je<strong>de</strong>r Stun<strong>de</strong> ist die Liebe<br />

Gottes <strong>de</strong>m gefallenen Menschengeschlecht nachgegangen. Ungeachtet seiner Bosheit, empfing<br />

es beständig sichtbare Zeichen seiner Gna<strong>de</strong>. Und als die Zeit erfüllt war, offenbarte die<br />

Gottheit ihre Herrlichkeit, in<strong>de</strong>m sie die Fülle heilsamer Gna<strong>de</strong> über die Welt ausschüttete.<br />

<strong>Die</strong>se Gna<strong>de</strong> sollte nie aufgehalten o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Welt entzogen wer<strong>de</strong>n, bis die Durchführung <strong>de</strong>s<br />

Heilsplanes vollen<strong>de</strong>t wäre.<br />

Satan frohlockte, daß es ihm gelungen war, das Bild Gottes bei <strong>de</strong>n Menschen<br />

herabzusetzen. Darum kam Jesus auf diese Er<strong>de</strong>, um im Menschen das Bild seines Schöpfers<br />

wie<strong>de</strong>rherzustellen. Niemand außer Christus kann <strong>de</strong>n Charakter, <strong>de</strong>r durch die Sün<strong>de</strong> zugrun<strong>de</strong><br />

gerichtet wor<strong>de</strong>n war, erneuern. Er kam, die bösen Geister zu vertreiben, die <strong>de</strong>n Willen<br />

beherrscht hatten. Er kam, um uns aus <strong>de</strong>m Staub aufzuhelfen, um unseren entstellten Charakter<br />

nach <strong>de</strong>m Vorbild seines göttlichen Wesens umzuformen und ihn mit seiner eigenen<br />

Herrlichkeit zu schmücken.<br />

20


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Der König <strong>de</strong>r Herrlichkeit ließ sich herab, Knechtsgestalt anzunehmen und unter harten und<br />

widrigen Verhältnissen auf Er<strong>de</strong>n zu leben. Seine Herrlichkeit wur<strong>de</strong> verborgen, damit nicht die<br />

Majestät seiner äußeren Erscheinung die Aufmerksamkeit <strong>de</strong>r Welt auf ihn lenken sollte. Er<br />

vermied allen äußeren Glanz und Aufwand; <strong>de</strong>nn er wußte, daß we<strong>de</strong>r Reichtum noch weltliche<br />

Ehren noch Ansehen bei <strong>de</strong>n Menschen eine Seele vom To<strong>de</strong> erretten können. Jesus wollte<br />

keine Anhänger, die ihm um <strong>de</strong>s Irdischen willen nachfolgten. Nur die Größe <strong>de</strong>r göttlichen<br />

Wahrheit sollte die Menschenherzen zu ihm führen. Von <strong>de</strong>m Wesen <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s war von<br />

<strong>de</strong>n Propheten lange zuvor geweissagt wor<strong>de</strong>n; und auf das Zeugnis <strong>de</strong>s Wortes Gottes hin<br />

sollten die Menschen Jesus als Messias annehmen.<br />

<strong>Die</strong> Großzügigkeit <strong>de</strong>s Erlösungsplanes hatte die Engel in Verwun<strong>de</strong>rung versetzt. Sie<br />

beobachteten das Volk Gottes, um zu sehen, wie es <strong>de</strong>n Sohn <strong>de</strong>s Himmels in Menschengestalt<br />

aufnehmen wür<strong>de</strong>. Ihrer etliche begaben sich in das Land <strong>de</strong>s auserwählten Volkes. An<strong>de</strong>re<br />

Völker glaubten Fabeln und beteten Götzen an. <strong>Die</strong> Engel aber kamen in das Land, in <strong>de</strong>m die<br />

Herrlichkeit Gottes offenbart wor<strong>de</strong>n war und in <strong>de</strong>m das Licht <strong>de</strong>r Weissagung geschienen<br />

hatte. Unbemerkt gelangten sie nach Jerusalem und kamen zu <strong>de</strong>n berufenen Auslegern <strong>de</strong>r<br />

heiligen Schriften und zu <strong>de</strong>n <strong>Die</strong>nern <strong>de</strong>s Hauses Gottes. Dem Priester Zacharias war bereits,<br />

als er vor <strong>de</strong>m Altar diente, verkündigt wor<strong>de</strong>n, daß die Menschwerdung <strong>Christi</strong> bevorstehe;<br />

auch war schon <strong>de</strong>r Vorläufer <strong>de</strong>s Herrn geboren und <strong>de</strong>ssen Sendung durch Wun<strong>de</strong>r und<br />

Weissagung bestätigt wor<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> Kun<strong>de</strong> von seiner Geburt und <strong>de</strong>r wun<strong>de</strong>rbaren Be<strong>de</strong>utung<br />

seiner Aufgabe hatte sich überall verbreitet. Dennoch rüstete sich Jerusalem nicht, seinen<br />

Erlöser zu begrüßen.<br />

Mit Erstaunen nahmen jetzt die Boten <strong>de</strong>s Himmels die Gleichgültigkeit <strong>de</strong>s Volkes wahr,<br />

das Gott berufen hatte, <strong>de</strong>r Welt das Licht <strong>de</strong>r heiligen Wahrheit mitzuteilen. Das jüdische Volk<br />

war bewahrt wor<strong>de</strong>n, um zu bezeugen, daß Christus <strong>de</strong>m Samen Abrahams und <strong>de</strong>m Hause<br />

Davids entstammte; <strong>de</strong>nnoch wußte es nicht, daß die Ankunft <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s jetzt unmittelbar<br />

bevorstand. Selbst im Tempel, wo die Morgen- und Abendopfer täglich auf das Lamm Gottes<br />

hinwiesen, traf man keine Vorbereitungen, ihn zu empfangen; <strong>de</strong>nn auch die Priester und Lehrer<br />

<strong>de</strong>s Volkes wußten nichts davon, daß nunmehr das größte und wichtigste Ereignis aller Zeiten<br />

eintreten sollte. Gedankenlos leierten sie ihre Gebete herunter und genügten <strong>de</strong>n förmlichen<br />

Vorschriften <strong>de</strong>s Gottesdienstes, um <strong>de</strong>n Menschen zu gefallen; in ihrem Streben nach<br />

Reichtum und weltlicher Ehre waren sie jedoch nicht auf die Offenbarung <strong>de</strong>s Messias<br />

vorbereitet. <strong>Die</strong>se Gleichgültigkeit durchdrang das ganze jüdische Land. Eigennutz und<br />

Weltsucht machten die Herzen unempfänglich für die Freu<strong>de</strong>, die <strong>de</strong>n Himmel bewegte.<br />

Wenige nur sehnten sich danach, <strong>de</strong>n Unsichtbaren zu schauen, und nur diesen wenigen<br />

offenbarte sich <strong>de</strong>r Himmel.<br />

Engel begleiteten Joseph und Maria auf ihrer Reise von ihrem Heim in Nazareth nach <strong>de</strong>r<br />

Stadt Davids. Das Gebot <strong>de</strong>s kaiserlichen Rom, daß sich alle Völker in seinem ausge<strong>de</strong>hnten<br />

Gebiet schätzen ließen, erstreckte sich auch auf die Bewohner <strong>de</strong>r Berge Galiläas. Wie einst<br />

21


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Cyrus zur Weltherrschaft berufen wur<strong>de</strong>, damit er die Gefangenen <strong>de</strong>s Herrn freiließe, so diente<br />

jetzt Kaiser Augustus als Werkzeug, um die Absicht Gottes auszuführen, in<strong>de</strong>m er <strong>de</strong>n Anlaß<br />

gab, <strong>de</strong>r die Mutter Jesu nach Bethlehem führte. Sie stammte aus <strong>de</strong>m Geschlecht Davids, und<br />

<strong>de</strong>r Sohn Davids mußte in Davids Stadt geboren wer<strong>de</strong>n. Aus Bethlehem, so hatte <strong>de</strong>r Prophet<br />

gesagt, „soll mir <strong>de</strong>r kommen, <strong>de</strong>r in Israel Herr sei, <strong>de</strong>ssen Ausgang von Anfang und von<br />

Ewigkeit her gewesen ist“. Micha 5,1. Doch in <strong>de</strong>r Stadt ihrer königlichen Vorfahren kannte<br />

und beachtete man Joseph und Maria nicht. Mü<strong>de</strong> und ohne ein Obdach zu haben, zogen sie die<br />

lange, enge Straße entlang von einem En<strong>de</strong> bis zum an<strong>de</strong>rn und suchten vergebens eine<br />

Unterkunft für die Nacht. Es gab für sie keinen Platz mehr in <strong>de</strong>n überfüllten Herbergen <strong>de</strong>r<br />

Stadt. Endlich gewährte ihnen ein dürftiger Stall Obdach für die Nacht, und hier wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />

Erlöser <strong>de</strong>r Welt geboren. Obschon die Menschen nichts davon wußten, vernahm es <strong>de</strong>r<br />

Himmel mit Jauchzen. Mit tiefer, immer inniger wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Anteilnahme fühlten sich die<br />

himmlischen Wesen zur Er<strong>de</strong> hingezogen. <strong>Die</strong> ganze Welt schien durch die Gegenwart <strong>de</strong>s<br />

Erlösers erhellt. Über <strong>de</strong>n Höhen von Bethlehem sammelte sich eine unzählbare Engelschar. Sie<br />

erwartete das Zeichen, um <strong>de</strong>r Welt die Freu<strong>de</strong>nbotschaft mitzuteilen. Wären die Obersten<br />

Israels ihrer Berufung treu geblieben, dann hätten sie an <strong>de</strong>r großen Freu<strong>de</strong> teilhaben dürfen, die<br />

Geburt <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s zu verkündigen. So wur<strong>de</strong>n sie jedoch übergangen.<br />

Der Herr spricht: „Ich will Wasser gießen auf das Durstige und Ströme auf das<br />

Dürre.“ Jesaja 44,3. — „Den Frommen geht das Licht auf in <strong>de</strong>r Finsternis.“ Psalm 112,4. So<br />

wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>nen, die das Licht suchen und es freudig annehmen, helle Lichtstrahlen vom Throne<br />

Gottes leuchten. Auf <strong>de</strong>n Fel<strong>de</strong>rn, auf <strong>de</strong>nen einst <strong>de</strong>r junge David seine Schafe gewei<strong>de</strong>t hatte,<br />

hüteten auch jetzt Hirten <strong>de</strong>s Nachts ihre Her<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>n stillen Nachtstun<strong>de</strong>n sprachen sie<br />

miteinan<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>m verheißenen Heiland und beteten um das Kommen <strong>de</strong>s Königs auf Davids<br />

Thron. „Siehe, <strong>de</strong>s Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit <strong>de</strong>s Herrn leuchtete um sie; und<br />

sie fürchteten sich sehr. Und <strong>de</strong>r Engel sprach zu ihnen: ‚Fürchtet euch nicht! Siehe, ich<br />

verkündige euch große Freu<strong>de</strong>, die allem Volk wi<strong>de</strong>rfahren wird; <strong>de</strong>nn euch ist heute <strong>de</strong>r<br />

Heiland geboren, welcher ist Christus, <strong>de</strong>r Herr, in <strong>de</strong>r Stadt Davids.‘“ Lukas 2,9-11.<br />

Bei diesen Worten zogen Bil<strong>de</strong>r von großer Herrlichkeit an <strong>de</strong>m inneren Auge <strong>de</strong>r<br />

lauschen<strong>de</strong>n Hirten vorüber. Der Erlöser Israels war gekommen! Macht, Erhöhung und Sieg<br />

wür<strong>de</strong>n die Folge seines Eintritts in die Welt sein. Aber <strong>de</strong>r Engel mußte sie darauf vorbereiten,<br />

ihren Heiland auch in Armut und Niedrigkeit zu erkennen. „Das habt zum Zeichen: ihr wer<strong>de</strong>t<br />

fin<strong>de</strong>n das Kind in Win<strong>de</strong>ln gewickelt und in einer Krippe liegen.“ Lukas 2,12. Der Bote <strong>de</strong>s<br />

Himmels besänftigte die Furcht <strong>de</strong>r Hirten. Er sagte ihnen, wie sie Jesus fän<strong>de</strong>n. Mit zarter<br />

Rücksicht auf ihre menschliche Schwäche gab er ihnen Zeit, sich an die göttliche Herrlichkeit<br />

zu gewöhnen. Dann aber ließen sich Freu<strong>de</strong> und Lobpreis nicht länger halten. <strong>Die</strong> himmlischen<br />

Heerscharen erhellten die ganze Ebene mit ihrem Glanz. In das tiefe nächtliche Schweigen <strong>de</strong>r<br />

Er<strong>de</strong> tönte <strong>de</strong>r Jubelgesang: „Ehre sei Gott in <strong>de</strong>r Höhe und Frie<strong>de</strong> auf Er<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>n Menschen<br />

ein Wohlgefallen.“ Lukas 2,14.<br />

Wenn doch die Menschen heute noch diesen Jubelchor vernehmen könnten! Jene<br />

Ankündigung, <strong>de</strong>r damals erklungene Schall, wür<strong>de</strong> sich fortpflanzen bis ans En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Zeit und<br />

22


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Wi<strong>de</strong>rhall fin<strong>de</strong>n bis an die En<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>. Und wenn einst die Sonne <strong>de</strong>r Gerechtigkeit<br />

aufgehen wird mit Heil unter ihren Flügeln — dann wird dieser Gesang vielfältig wi<strong>de</strong>rtönen<br />

von <strong>de</strong>r Stimme einer großen Schar, gleich <strong>de</strong>m Rauschen großer Wasser: „Halleluja! <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r<br />

Herr, unser Gott, <strong>de</strong>r Allmächtige, hat das Reich eingenommen!“ Offenbarung 19,6. Als sich<br />

die Engel entfernten, schwand auch das Licht, und die Schatten <strong>de</strong>r Nacht breiteten sich aufs<br />

neue über die Höhen von Bethlehem. Aber das prächtigste Bild, das Menschenaugen je<br />

wahrgenommen haben, blieb im Gedächtnis <strong>de</strong>r Hirten. „Da die Engel von ihnen gen Himmel<br />

fuhren, sprachen die Hirten untereinan<strong>de</strong>r: Laßt uns nun gehen nach Bethlehem und die<br />

Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns <strong>de</strong>r Herr kundgetan hat. Und sie kamen eilend<br />

und fan<strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>, Maria und Joseph, dazu das Kind in <strong>de</strong>r Krippe liegen.“ Lukas 2,15.16.<br />

Mit großer Freu<strong>de</strong> im Herzen gingen sie wie<strong>de</strong>r fort und verkün<strong>de</strong>ten, was sie gesehen und<br />

gehört hatten. „Und alle, vor die es kam, wun<strong>de</strong>rten sich <strong>de</strong>r Re<strong>de</strong>, die ihnen die Hirten gesagt<br />

hatten. Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen. Und die Hirten<br />

kehrten wie<strong>de</strong>r um, priesen und lobten Gott.“ Lukas 2,18-20. Himmel und Er<strong>de</strong> sind heute nicht<br />

weiter voneinan<strong>de</strong>r entfernt als damals, da die Hirten <strong>de</strong>m Gesang <strong>de</strong>r Engel lauschten. Und <strong>de</strong>r<br />

Himmel läßt heute <strong>de</strong>n Menschen seine Fürsorge nicht weniger ange<strong>de</strong>ihen als damals, da<br />

einfache Leute bei ihrer gewöhnlichen Beschäftigung zur Mittagszeit Engeln begegneten und in<br />

<strong>de</strong>n Weingärten und auf <strong>de</strong>n Fel<strong>de</strong>rn mit <strong>de</strong>n Boten Gottes re<strong>de</strong>ten. So kann auch uns auf allen<br />

unseren Wegen <strong>de</strong>r Himmel nahe sein. Gott wird seine Engel sen<strong>de</strong>n, damit sie die Schritte<br />

<strong>de</strong>rer bewahren, die nach seinen Geboten wan<strong>de</strong>ln.<br />

<strong>Die</strong> Geschichte von Bethlehem ist ein unerschöpfliches Thema. In ihr verborgen liegt die<br />

„Tiefe <strong>de</strong>s Reichtums, bei<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>r Weisheit und <strong>de</strong>r Erkenntnis Gottes“. Römer 11,33. Wir<br />

staunen über das Opfer <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Himmelsthron mit <strong>de</strong>r Krippe und die<br />

Gesellschaft <strong>de</strong>r anbeten<strong>de</strong>n Engel mit jener <strong>de</strong>r Tiere im Stall vertauschte. Tief beschämt<br />

stehen vor ihm <strong>de</strong>r Stolz und <strong>de</strong>r Eigendünkel <strong>de</strong>r Menschen. <strong>Die</strong> armselige Geburt <strong>de</strong>s<br />

Heilan<strong>de</strong>s war erst <strong>de</strong>r Anfang seiner außeror<strong>de</strong>ntlichen Erniedrigung. Hätte <strong>de</strong>r Sohn Gottes<br />

Menschengestalt angenommen, als Adam noch unschuldig im Paradiese lebte, dann schon wäre<br />

solche Tat eine gera<strong>de</strong>zu unbegreifliche Herablassung gewesen; nun aber kam Jesus auf die<br />

Er<strong>de</strong>, nach<strong>de</strong>m das Menschengeschlecht bereits durch vier Jahrtausen<strong>de</strong> im <strong>Die</strong>nst <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong><br />

geschwächt wor<strong>de</strong>n war. Und <strong>de</strong>nnoch nahm er wie je<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re die Folgen auf sich, die das<br />

unerbittliche Gesetz <strong>de</strong>r Vererbung zeitigte. Das Erleben seiner irdischen Vorfahren lehrt uns,<br />

worin diese Folgen bestan<strong>de</strong>n. Mit einem solchen Erbteil belastet, teilte er unsere Nöte und<br />

Versuchungen und gab uns das Beispiel eines sündlosen Lebens.<br />

Satan hatte Christus im Himmel wegen seiner Stellung vor Gott gehaßt. <strong>Die</strong>ser Haß steigerte<br />

sich, als er entthront wur<strong>de</strong>. Er haßte <strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r es auf sich nahm, ein Geschlecht von Sün<strong>de</strong>rn zu<br />

erlösen. Dennoch sandte Gott seinen Sohn in diese Welt, über die Satan zu herrschen begehrte,<br />

er sandte ihn als ein hilfloses, aller menschlichen Schwachheit unterworfenes Kindlein. Er<br />

erlaubte ihm, sich zusammen mit je<strong>de</strong>r Menschenseele <strong>de</strong>n Gefahren <strong>de</strong>s Lebens auszusetzen<br />

und, wie je<strong>de</strong>s an<strong>de</strong>re Menschenkind auch, <strong>de</strong>n Lebenskampf zu führen — mit <strong>de</strong>m Wagnis, zu<br />

versagen und auf ewig verlorenzugehen. Ein menschlicher Vater ist herzlich besorgt um seinen<br />

23


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Sohn. Wenn er seinem Kind ins Auge schaut, so erzittert er bei <strong>de</strong>m Gedanken an die Gefahren,<br />

die das Leben mit sich bringt. Er möchte seinen Liebling vor <strong>de</strong>r Gewalt Satans bewahren und<br />

Anfechtung und Kampf von ihm fernhalten. Gott aber sandte seinen eingeborenen Sohn in<br />

einen viel heißeren Kampf und in be<strong>de</strong>utend größere Gefahren, damit unseren Kleinen <strong>de</strong>r Pfad<br />

zum Leben gesichert wür<strong>de</strong>. „Darin steht die Liebe: nicht, daß wir Gott geliebt haben, son<strong>de</strong>rn<br />

daß er uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für unsre Sün<strong>de</strong>n.“ 1.Johannes<br />

4,10. Darüber wun<strong>de</strong>re dich, o Himmel, und staune, o Er<strong>de</strong>!<br />

24


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 5: Jesu Darstellung<br />

Etwa vierzig Tage nach <strong>de</strong>r Geburt <strong>Christi</strong> brachten Joseph und Maria das Kind nach<br />

Jerusalem, um es <strong>de</strong>m Herrn zu weihen und ein Opfer zu bringen. <strong>Die</strong>s entsprach <strong>de</strong>m jüdischen<br />

Gesetz, und als Stellvertreter <strong>de</strong>r Menschen mußte Christus in je<strong>de</strong>r Hinsicht <strong>de</strong>m Gesetz<br />

nachkommen. So wur<strong>de</strong> durch seine Beschneidung das Gesetz erfüllt. Als Opfergabe <strong>de</strong>r Mutter<br />

verlangte das Gesetz ein einjähriges Lamm zum Brandopfer und eine junge Taube o<strong>de</strong>r<br />

Turteltaube zum Sündopfer. Für <strong>de</strong>n Fall aber, daß die Eltern zu arm waren, ein Lamm zu<br />

bringen, erlaubte das Gesetz, ein Paar Turteltauben o<strong>de</strong>r zwei junge Tauben, die eine als<br />

Brandopfer, die an<strong>de</strong>re als Sündopfer, anzunehmen.<br />

<strong>Die</strong> <strong>de</strong>m Herrn dargebrachten Opfer mußten ohne Fehl sein. Sie versinnbil<strong>de</strong>ten Christus.<br />

Daran erkennen wir, daß Jesus frei war von körperlichen Gebrechen. So entsprach er auch <strong>de</strong>r<br />

Ankündigung eines „unschuldigen und unbefleckten Lammes“. 1.Petrus 1,19. Sein makelloser<br />

Körper war stark und gesund. Sein ganzes Leben hindurch lebte er in völliger Übereinstimmung<br />

mit <strong>de</strong>n Naturgesetzen. Geistig und körperlich gab er ein Beispiel dafür, was alle Menschen<br />

nach <strong>de</strong>m Willen Gottes sein könnten, wenn sie seinen Geboten gehorchen. <strong>Die</strong> Sitte, <strong>de</strong>n<br />

Erstgeborenen im Tempel darzustellen, stammte aus uralter Zeit. Gott hatte verheißen, <strong>de</strong>n<br />

Erstgeborenen <strong>de</strong>s Himmels für die Rettung <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>r dahinzugeben. <strong>Die</strong>se Gabe sollte von<br />

je<strong>de</strong>r Familie durch das Darbringen <strong>de</strong>s Erstgeborenen anerkannt wer<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong>ser sollte<br />

gleichsam als Vertreter <strong>Christi</strong> unter <strong>de</strong>n Menschen <strong>de</strong>m Priestertum geweiht wer<strong>de</strong>n.<br />

Bei <strong>de</strong>r Befreiung Israels aus Ägypten wur<strong>de</strong> die Darstellung <strong>de</strong>s Erstgeborenen aufs neue<br />

geboten. Während die Kin<strong>de</strong>r Israel sich in <strong>de</strong>r Knechtschaft <strong>de</strong>r Ägypter befan<strong>de</strong>n, empfing<br />

Mose vom Herrn <strong>de</strong>n Befehl, zum Pharao Ägyptens zu gehen und zu ihm zu sagen: „Israel ist<br />

mein erstgeborener Sohn; und ich gebiete dir, daß du meinen Sohn ziehen läßt, daß er mir diene.<br />

Wirst du dich weigern, so will ich <strong>de</strong>inen erstgeborenen Sohn töten.“ 2.Mose 4,22.23. Mose<br />

entledigte sich seiner Botschaft, erhielt jedoch von <strong>de</strong>m stolzen König die Antwort: „Wer ist <strong>de</strong>r<br />

Herr, daß ich ihm gehorchen müsse und Israel ziehen lasse: Ich weiß nichts von <strong>de</strong>m Herrn, will<br />

auch Israel nicht ziehen lassen.“ 2.Mose 5,2. Daraufhin trat <strong>de</strong>r Herr mit Zeichen und Wun<strong>de</strong>rn<br />

für sein Volk ein, in<strong>de</strong>m er schreckliche Gerichte über Pharao verhängte. Schließlich wur<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>m Würgeengel befohlen, alle Erstgeburt <strong>de</strong>r Ägypter — Menschen und Tiere —<br />

umzubringen. Damit die Israeliten dabei verschont blieben, sollten sie ihre Türpfosten mit <strong>de</strong>m<br />

Blut eines geschlachteten Lammes bestreichen. Wo immer die Häuser <strong>de</strong>r Israeliten <strong>de</strong>rart<br />

gezeichnet wären, wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Engel bei <strong>de</strong>r Ausführung seines Auftrages daran vorübergehen.<br />

Nach<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Herr dieses Gericht über Ägypten gebracht hatte, sagte er zu Mose: „Heilige<br />

mir alle Erstgeburt ... alles, was zuerst <strong>de</strong>n Mutterschoß durchbricht bei Mensch und Vieh, das<br />

ist mein.“ 2.Mose 13,2. Und weiter: „An <strong>de</strong>m Tage, da ich alle Erstgeburt schlug in<br />

Ägyptenland, da heiligte ich mir alle Erstgeburt in Israel, vom Menschen an bis auf das Vieh,<br />

daß sie mir gehören sollen.“ 4.Mose 3,13. Als aber <strong>de</strong>r <strong>Die</strong>nst in <strong>de</strong>r Stiftshütte eingesetzt<br />

wur<strong>de</strong>, erwählte sich Gott <strong>de</strong>n Stamm Levi, damit dieser an Stelle <strong>de</strong>r Erstgeborenen Israels <strong>de</strong>n<br />

25


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

<strong>Die</strong>nst im Heiligtum versähe. Dennoch sollte <strong>de</strong>r Erstgeborene weiterhin als <strong>de</strong>s Herrn<br />

Eigentum gelten und <strong>de</strong>shalb durch ein Lösegeld zurückgekauft wer<strong>de</strong>n.<br />

So hatte das Gesetz <strong>de</strong>r Darstellung <strong>de</strong>s Erstgeborenen eine beson<strong>de</strong>re Be<strong>de</strong>utung gewonnen.<br />

Während diese einerseits einen Gedächtnisbrauch an die wun<strong>de</strong>rbare Befreiung <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r<br />

Israel durch <strong>de</strong>n Herrn be<strong>de</strong>utete, wies sie an<strong>de</strong>rseits auf die noch wichtigere Erlösung durch<br />

<strong>de</strong>n eingeborenen Sohn Gottes hin. Wie das an die Türpfosten gesprengte Blut <strong>de</strong>r Opfertiere<br />

die Erstgeborenen Israels vor <strong>de</strong>m leiblichen To<strong>de</strong> bewahrte, so hat das Blut <strong>Christi</strong> Macht, die<br />

Welt vom ewigen Ver<strong>de</strong>rben zu erretten.<br />

Welche Be<strong>de</strong>utung kam <strong>de</strong>mnach <strong>de</strong>r Darstellung <strong>Christi</strong> zu! Doch <strong>de</strong>r Blick <strong>de</strong>s Priesters<br />

vermochte <strong>de</strong>n Schleier nicht zu durchdringen; ihm blieb das dahinterliegen<strong>de</strong> Geheimnis<br />

verborgen. <strong>Die</strong> Darstellung <strong>de</strong>r Säuglinge im Tempel war für ihn ein ganz gewöhnlicher<br />

Vorgang. Tag für Tag nahm er, wenn man die Kin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Herrn weihte, das Lösegeld entgegen<br />

und waltete gewohnheitsmäßig seines Amtes, ohne dabei beson<strong>de</strong>rs auf Eltern o<strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r zu<br />

achten, es sei <strong>de</strong>nn, äußere Anzeichen ließen auf Wohlstand o<strong>de</strong>r eine hohe Stellung <strong>de</strong>r Eltern<br />

schließen. Maria und Joseph aber waren arm; und als sie mit ihrem Kind kamen, sah <strong>de</strong>r<br />

Priester nur ein in einfachste Gewän<strong>de</strong>r geklei<strong>de</strong>tes Elternpaar aus Galiläa. Nichts an ihrer<br />

äußeren Erscheinung erweckte beson<strong>de</strong>re Aufmerksamkeit, zu<strong>de</strong>m brachten sie auch nur die<br />

Opfergabe <strong>de</strong>r Armen zum Tempel.<br />

So versah <strong>de</strong>r Priester lediglich die Förmlichkeiten, die ihm sein Amt vorschrieb. Er nahm<br />

das Kind auf seine Arme und hielt es vor <strong>de</strong>m Altar empor; dann gab er es seiner Mutter zurück<br />

und trug <strong>de</strong>n Namen „Jesus“ in die Liste <strong>de</strong>r Erstgeborenen ein. Er ahnte nicht, daß das<br />

Kindlein, das er eben noch auf seinen Armen gehalten hatte, <strong>de</strong>r Herr <strong>de</strong>s Himmels, <strong>de</strong>r König<br />

<strong>de</strong>r Herrlichkeit war. Noch weniger kam ihm <strong>de</strong>r Gedanke, daß dieses Kind es war, von <strong>de</strong>m<br />

Mose geschrieben hatte: „Einen Propheten wird euch <strong>de</strong>r Herr, euer Gott, erwecken aus euren<br />

Brü<strong>de</strong>rn gleichwie mich; <strong>de</strong>n sollt ihr hören in allem, was er euch sagen<br />

wird.“ Apostelgeschichte 3,22. Er ahnte auch nicht, daß dieses Knäblein es war, <strong>de</strong>ssen<br />

Herrlichkeit schon Mose zu sehen begehrt hatte. Ein Größerer als Mose lag in seinen Armen,<br />

und als er <strong>de</strong>n Namen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s in die Liste eintrug, da schrieb er <strong>de</strong>n Namen <strong>de</strong>s Einen<br />

nie<strong>de</strong>r, auf <strong>de</strong>m die ganze jüdische Heilsgeschichte ruhte. Mit seinem Erscheinen verlor <strong>de</strong>r<br />

Opfer- und Gabendienst seine Geltung, fand das Vorbild seine Erfüllung — wich <strong>de</strong>r Schatten<br />

<strong>de</strong>m Wesen.<br />

War auch die Wolke <strong>de</strong>r Herrlichkeit vom Heiligtum gewichen, so verhüllte sich doch jetzt<br />

in <strong>de</strong>m Kind von Bethlehem die Herrlichkeit, vor <strong>de</strong>r sich die Engel beugten. <strong>Die</strong>ses sich seiner<br />

noch gar nicht bewußte Kind war nichts an<strong>de</strong>res als <strong>de</strong>r verheißene Same, auf <strong>de</strong>n schon <strong>de</strong>r<br />

erste Altar an <strong>de</strong>r Pforte <strong>de</strong>s Paradieses hinwies. Es war <strong>de</strong>r Held — <strong>de</strong>r Frie<strong>de</strong>fürst. Es war <strong>de</strong>r,<br />

welcher sich gegenüber Mose als „Ich bin“ bezeichnet und <strong>de</strong>r hernach in <strong>de</strong>r Wolken- und<br />

Feuersäule das Volk Israel geführt hatte. Längst war er von <strong>de</strong>n Sehern angekündigt wor<strong>de</strong>n —<br />

als <strong>de</strong>r Ersehnte aller Völker, als Wurzel und Reis Davids, als <strong>de</strong>r helle Morgenstern. Der Name<br />

<strong>de</strong>s hilflosen Kin<strong>de</strong>s, eingetragen in die Stammesliste Israels, zum Zeichen, daß Er unser Bru<strong>de</strong>r<br />

ist, war die Hoffnung <strong>de</strong>r gefallenen Menschheit. Wie jetzt für ihn das Lösegeld gezahlt wer<strong>de</strong>n<br />

26


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

mußte, so wollte er <strong>de</strong>reinst die Sühne für die Sün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r ganzen Welt auf sich nehmen. Er war<br />

<strong>de</strong>r wahre Hohepriester über das Haus Gottes (Hebräer 10,21), das Haupt eines unvergänglichen<br />

Priestertums (Hebräer 7,24), <strong>de</strong>r Fürsprecher „zu <strong>de</strong>r Rechten <strong>de</strong>r Majestät in <strong>de</strong>r<br />

Höhe“. Hebräer 1,3.<br />

Geistliches kann nur geistlich beurteilt wer<strong>de</strong>n. Während <strong>de</strong>r Sohn Gottes im Tempel zu <strong>de</strong>r<br />

Aufgabe geweiht wur<strong>de</strong>, die zu erfüllen er gekommen war, erblickte <strong>de</strong>r Priester in ihm nicht<br />

mehr als in irgen<strong>de</strong>inem an<strong>de</strong>ren Kind. Obgleich er selbst we<strong>de</strong>r etwas Beson<strong>de</strong>res sah noch<br />

fühlte, wur<strong>de</strong> die Tatsache, daß Gott seinen Sohn in die Welt gab, <strong>de</strong>nnoch wohlbekannt. <strong>Die</strong>se<br />

Gelegenheit durfte nicht vorübergehen, ohne daß Christus erkannt wür<strong>de</strong>. „Siehe, ein Mensch<br />

war zu Jerusalem, mit Namen Simeon; und <strong>de</strong>rselbe Mensch war fromm und gottesfürchtig und<br />

wartete auf <strong>de</strong>n Trost Israels, und <strong>de</strong>r heilige Geist war mit ihm. Und ihm war eine Antwort<br />

gewor<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>m heiligen Geist, er solle <strong>de</strong>n Tod nicht sehen, er habe <strong>de</strong>nn zuvor <strong>de</strong>n Christ<br />

<strong>de</strong>s Herrn gesehen.“ Lukas 2,25.26.<br />

Als Simeon <strong>de</strong>n Tempel betrat, sah er ein Elternpaar ihren erstgeborenen Sohn <strong>de</strong>m Priester<br />

darreichen. Ihr Aussehen zeugte von Armut; Simeon aber verstand die Ankündigungen <strong>de</strong>s<br />

Geistes, und er war tief ergriffen, als er erkannte, daß dieses Kindlein, das jetzt <strong>de</strong>m Herrn<br />

geweiht wur<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r Trost Israels war, <strong>de</strong>n zu sehen er sich gesehnt hatte. Dem erstaunten<br />

Priester hingegen erschien Simeon wie von Sinnen. Als Maria das Kind zurückerhalten hatte,<br />

nahm Simeon es auf seine Arme und stellte es Gott dar. Dabei überkam ihn eine Freu<strong>de</strong>, wie er<br />

sie noch nie zuvor empfun<strong>de</strong>n hatte. Er hielt das Christuskindlein hoch und sprach: „‚Herr, nun<br />

lässest du <strong>de</strong>inen <strong>Die</strong>ner im Frie<strong>de</strong>n fahren, wie du gesagt hast; <strong>de</strong>nn meine Augen haben<br />

<strong>de</strong>inen Heiland gesehen‘, welchen du bereitet hast vor allen Völkern, ein Licht, zu erleuchten<br />

die Hei<strong>de</strong>n, und zum Preis <strong>de</strong>ines Volks Israel.“ Lukas 2,29-32.<br />

Der Geist <strong>de</strong>r Weissagung erfüllte diesen Gottesmann, und während Maria und Joseph sich<br />

über seine Worte wun<strong>de</strong>rten, segnete er das Paar und sprach zu Maria: „Siehe, dieser wird<br />

gesetzt zum Fall und Aufstehen vieler in Israel und zu einem Zeichen, <strong>de</strong>m wi<strong>de</strong>rsprochen wird<br />

— und auch durch <strong>de</strong>ine Seele wird ein Schwert dringen —, auf daß vieler Herzen Gedanken<br />

offenbar wer<strong>de</strong>n.“ Lukas 2,34.35. Auch die Prophetin Hanna kam hinzu und bestätigte Simeons<br />

Zeugnis über Jesus. Während Simeon noch re<strong>de</strong>te, erstrahlte ihr Angesicht von <strong>de</strong>m Glanz <strong>de</strong>r<br />

Herrlichkeit Gottes, und sie dankte aus vollem Herzen dafür, daß sie noch Christus, <strong>de</strong>n Herrn,<br />

hatte schauen dürfen.<br />

<strong>Die</strong>se <strong>de</strong>mütigen Anbeter hatten nicht vergeblich in <strong>de</strong>n heiligen Schriften geforscht. <strong>Die</strong><br />

aber Oberste und Priester in Israel waren, wan<strong>de</strong>lten nicht in <strong>de</strong>n Wegen <strong>de</strong>s Herrn, obgleich<br />

auch sie die köstlichen Aussprüche <strong>de</strong>r Propheten kannten. Darum vermochten ihre Augen nicht<br />

das Licht <strong>de</strong>s Lebens zu schauen. So ist es noch heute. Es fin<strong>de</strong>n Ereignisse statt, auf die <strong>de</strong>r<br />

ganze Himmel seine Aufmerksamkeit richtet; aber bei <strong>de</strong>n geistlichen Führern und <strong>de</strong>n<br />

Anbeten<strong>de</strong>n im Hause Gottes fin<strong>de</strong>n sie kein Verständnis — nicht einmal ihr Auftreten wird<br />

beachtet. Man läßt wohl einen historischen Christus gelten, wen<strong>de</strong>t sich aber von <strong>de</strong>m<br />

lebendigen ab. Der Christus, <strong>de</strong>r sowohl durch sein Wort als auch durch die Armen und<br />

Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n, die um Hilfe flehen, und durch die gerechte Sache, die Armut, Mühsal und Schmach<br />

27


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

einschließt, zur Selbstverleugnung auffor<strong>de</strong>rt, wird heute ebensowenig aufgenommen wie vor<br />

zweitausend Jahren.<br />

Maria bewegte die vielsagen<strong>de</strong> und tiefgründige Weissagung Simeons in ihrem Herzen.<br />

Sooft sie beim Anblick <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s in ihren Armen <strong>de</strong>r Worte <strong>de</strong>r Hirten von Bethlehem<br />

gedachte, erfüllte sie dankbare Freu<strong>de</strong> und frohe Hoffnung. Nun riefen Simeons Worte ihr die<br />

Prophezeiung Jesajas ins Gedächtnis: „Es wird ein Reis hervorgehen aus <strong>de</strong>m Stamm Isais und<br />

ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. Auf ihm wird ruhen <strong>de</strong>r Geist <strong>de</strong>s Herrn, <strong>de</strong>r Geist<br />

<strong>de</strong>r Weisheit und <strong>de</strong>s Verstan<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>r Geist <strong>de</strong>s Rates und <strong>de</strong>r Stärke, <strong>de</strong>r Geist <strong>de</strong>r Erkenntnis<br />

und <strong>de</strong>r Furcht <strong>de</strong>s Herrn ... Gerechtigkeit wird <strong>de</strong>r Gurt seiner Len<strong>de</strong>n sein und die Treue <strong>de</strong>r<br />

Gurt seiner Hüften.“ Jesaja 11,1.2.5. „Das Volk, das im Finstern wan<strong>de</strong>lt, sieht ein großes Licht,<br />

und über <strong>de</strong>nen, die da wohnen im finstern Lan<strong>de</strong>, scheint es hell ... Denn uns ist ein Kind<br />

geboren ... und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter; und er heißt Wun<strong>de</strong>r-Rat, Gott-Held,<br />

Ewig-Vater, Frie<strong>de</strong>-Fürst.“ Jesaja 9,1.5.<br />

Und doch begriff Maria die Sendung <strong>Christi</strong> nicht. Simeon hatte von ihm geweissagt, daß er<br />

ein Licht sei, das die Hei<strong>de</strong>n erleuchten und gleichzeitig Israel zum Preis gereichen sollte. In<br />

diesem Sinne hatten die Engel die Geburt <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s als eine Freu<strong>de</strong>nbotschaft für alle<br />

Völker verkündigt. Gott wollte die Ju<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>r engstirnigen Vorstellung, die sie von <strong>de</strong>r<br />

Aufgabe <strong>de</strong>s Messias hatten, abbringen und sie dazu befähigen, ihn nicht nur als <strong>de</strong>n Befreier<br />

Israels, son<strong>de</strong>rn auch als <strong>de</strong>n Erlöser <strong>de</strong>r Welt zu betrachten. Doch viele Jahre mußten erst noch<br />

vergehen, ehe selbst die Mutter Jesu seine Aufgabe erkannte.<br />

Wohl erwartete Maria die Herrschaft <strong>de</strong>s Messias auf <strong>de</strong>m Thron Davids, doch erkannte sie<br />

nicht, daß er erst über eine Lei<strong>de</strong>nstaufe dazu gelangen sollte. Durch Simeon wur<strong>de</strong> offenbar,<br />

daß <strong>de</strong>r Messias einen beschwerlichen Lebensweg vor sich hatte. In <strong>de</strong>n Worten an Maria:<br />

„Durch <strong>de</strong>ine Seele wird ein Schwert dringen“ (Lukas 2,34.35) <strong>de</strong>utete Gott <strong>de</strong>shalb<br />

rücksichtsvoll und barmherzig <strong>de</strong>r Mutter Jesu an, welche Pein sie seinetwegen zu erlei<strong>de</strong>n<br />

haben wür<strong>de</strong>. Simeon hatte gesagt: „Siehe, dieser wird gesetzt zum Fall und Aufstehen vieler in<br />

Israel und zu einem Zeichen, <strong>de</strong>m wi<strong>de</strong>rsprochen wird.“ Lukas 2,34.35. Ein Aufstehen ist erst<br />

nach einem Fall möglich. Wir alle müssen auf <strong>de</strong>n Fels <strong>de</strong>s Heils fallen und zerbrechen, ehe wir<br />

durch Christus erhöht wer<strong>de</strong>n können. Unser Ich muß entthront und unser Stolz ge<strong>de</strong>mütigt<br />

wer<strong>de</strong>n, wenn wir die Herrlichkeit <strong>de</strong>s geistlichen Reiches erfahren wollen. <strong>Die</strong> Ju<strong>de</strong>n wiesen<br />

diese Ehre von sich, die man erlangt, in<strong>de</strong>m man sich <strong>de</strong>mütig hält; <strong>de</strong>shalb wollten sie ihren<br />

Erlöser nicht aufnehmen. Er erwies sich als das Zeichen, <strong>de</strong>m wi<strong>de</strong>rsprochen wur<strong>de</strong>.<br />

„Daß vieler Herzen Gedanken offenbar wer<strong>de</strong>n.“ Lukas 2,34.35. Im Lichte <strong>de</strong>s Lebens<br />

<strong>Christi</strong> wer<strong>de</strong>n die Herzen aller, selbst vom Schöpfer bis zum Fürsten <strong>de</strong>r Finsternis, offenbar.<br />

Satan hat Gott als eigennützig und gewalttätig hingestellt, als einen Herrn, <strong>de</strong>r alles für sich<br />

verlange und nichts gebe, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n <strong>Die</strong>nst seiner Geschöpfe zu seiner eigenen Verherrlichung<br />

beanspruche, selber aber um ihretwillen keine Opfer bringe. Doch die Gabe <strong>Christi</strong> offenbart,<br />

was im Herzen <strong>de</strong>s Vaters ist; sie bezeugt, daß Gott nur „Gedanken <strong>de</strong>s Frie<strong>de</strong>ns und nicht <strong>de</strong>s<br />

Lei<strong>de</strong>s“ (Jeremia 29,11) für uns hat. Sie bekun<strong>de</strong>t, daß Gottes Abscheu gegen die Sün<strong>de</strong> zwar<br />

stark ist wie <strong>de</strong>r Tod, seine Liebe zum Sün<strong>de</strong>r aber noch stärker. Er wird, nach<strong>de</strong>m er die<br />

28


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Aufgabe, uns zu erlösen, in Angriff genommen hat, alles daransetzen, koste es, was es wolle,<br />

um diese Aufgabe zu vollen<strong>de</strong>n. Er wird uns die ganze zu unserem Heil notwendige Wahrheit<br />

kundtun, alle Barmherzigkeit erweisen und alle Hilfe von oben gewähren, die wir brauchen. Er<br />

häuft Wohltat auf Wohltat, Gabe auf Gabe. <strong>Die</strong> Schatzkammer <strong>de</strong>s Himmels steht <strong>de</strong>nen offen,<br />

die bereit sind, sich von ihm retten zu lassen. Alle Schätze <strong>de</strong>s Weltalls und alles Vermögen<br />

seiner unbegrenzten Macht stellt er Christus zur Verfügung mit <strong>de</strong>r Erklärung, daß alles für <strong>de</strong>n<br />

Menschen sei, und er solle diese Gaben benutzen, ihn zu überzeugen, daß es we<strong>de</strong>r im Himmel<br />

noch auf Er<strong>de</strong>n größere Liebe gebe als die seine. Der Mensch solle erkennen, daß es kein<br />

größeres Glück für ihn gebe, als Gott immer zu lieben.<br />

Am Kreuz von Golgatha stan<strong>de</strong>n Liebe und Selbstsucht einan<strong>de</strong>r gegenüber. Hier<br />

offenbarten sich bei<strong>de</strong> am <strong>de</strong>utlichsten. Christus hatte nur gelebt, um zu trösten und zu segnen;<br />

Satan dagegen bekun<strong>de</strong>te die ganze Bosheit seines Hasses gegen Gott, in<strong>de</strong>m er <strong>de</strong>n Herrn<br />

tötete. Er ließ <strong>de</strong>utlich wer<strong>de</strong>n, daß die von ihm entfachte Empörung nur <strong>de</strong>m einen Zweck<br />

dienen sollte, Gott zu stürzen und <strong>de</strong>n zu vernichten, durch <strong>de</strong>n die Liebe Gottes offenbar<br />

wur<strong>de</strong>. Durch <strong>Christi</strong> Leben und Sterben wer<strong>de</strong>n auch die Gedanken <strong>de</strong>r Menschen enthüllt.<br />

Von <strong>de</strong>r Krippe bis zum Kreuz war das Leben Jesu eine beständige Auffor<strong>de</strong>rung, uns selbst zu<br />

verleugnen und an seinen Lei<strong>de</strong>n teilzuhaben. An ihm wur<strong>de</strong>n die Absichten <strong>de</strong>r Menschen<br />

offenbar. Jesus kam mit <strong>de</strong>r Wahrheit <strong>de</strong>s Himmels und zog alle zu sich, die <strong>de</strong>r Stimme <strong>de</strong>s<br />

Heiligen Geistes Gehör schenkten, wohingegen sich die Anbeter <strong>de</strong>s eigenen Ich‘s zum Reiche<br />

Satans bekannten. Ihre Haltung gegenüber Christus erwies bei allen, auf wessen Seite sie<br />

stan<strong>de</strong>n. So spricht sich je<strong>de</strong>r selbst sein Urteil.<br />

Am Tage <strong>de</strong>s Weltgerichts wird sich je<strong>de</strong> verlorene Seele über die Schwere ihrer<br />

Verwerfung <strong>de</strong>r Wahrheit klar sein. Je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r bis dahin durch die Übertretungen abgestumpft<br />

war, wird angesichts <strong>de</strong>s Kreuzes <strong>de</strong>ssen wahre Be<strong>de</strong>utung erkennen. Vor seinem inneren Auge<br />

wird Golgatha mit seinem geheimnisvollen Opfer erstehen, und die Sün<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n sich<br />

verdammt sehen. Je<strong>de</strong> lügenhafte Ausflucht bricht dort zusammen, und <strong>de</strong>r Abfall <strong>de</strong>s<br />

Menschen kommt in seiner ganzen Abscheulichkeit ans Licht. Je<strong>de</strong>r sieht dann, welche Wahl er<br />

getroffen hat. Je<strong>de</strong> Frage nach Wahrheit und Irrtum während <strong>de</strong>s langandauern<strong>de</strong>n Kampfes<br />

wird beantwortet sein. Gott wird gerechtfertigt dastehen und frei sein von <strong>de</strong>m Vorwurf, für das<br />

Vorhan<strong>de</strong>nsein o<strong>de</strong>r die Fortdauer <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> die Verantwortung zu tragen. Es wird sich zeigen,<br />

daß die göttlichen Verordnungen nicht zur Sün<strong>de</strong> geführt haben. Es wird sich weiterhin<br />

erweisen, daß <strong>de</strong>r Herrschaft Gottes kein Makel anhaftete und daß sie keinen Anlaß zur<br />

Unzufrie<strong>de</strong>nheit gegeben hat. Wenn dann die Gedanken und Herzen aller offenbar gewor<strong>de</strong>n<br />

sind, wer<strong>de</strong>n die Getreuen und die Empörer gemeinsam ausrufen: „Gerecht und wahrhaftig sind<br />

<strong>de</strong>ine Wege, du König <strong>de</strong>r Völker. Wer sollte dich nicht fürchten, Herr, und <strong>de</strong>inen Namen<br />

preisen: ... <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>ine gerechten Gerichte sind offenbar gewor<strong>de</strong>n.“ Offenbarung 15,3.4.<br />

29


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

30


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

„Da Jesus geboren war zu Bethlehem im jüdischen Lan<strong>de</strong> zur Zeit <strong>de</strong>s Königs Hero<strong>de</strong>s,<br />

siehe, da kamen Weise vom Morgenland nach Jerusalem und sprachen: Wo ist <strong>de</strong>r neugeborene<br />

König <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n: Wir haben seinen Stern gesehen im Morgenland und sind gekommen, ihn<br />

anzubeten.“ Matthäus 2,1.2. <strong>Die</strong> Weisen aus <strong>de</strong>m Osten waren Philosophen. Sie gehörten einer<br />

großen und einflußreichen Schicht an, die viele Edle, Wohlhaben<strong>de</strong> und Gebil<strong>de</strong>te zu <strong>de</strong>n Ihren<br />

zählte. Unter diesen nutzten viele die Leichtgläubigkeit <strong>de</strong>s Volkes aus; an<strong>de</strong>re hingegen waren<br />

aufrichtige Männer, die auf die Zeichen <strong>de</strong>r Vorsehung in <strong>de</strong>r Natur achteten und die wegen<br />

ihrer Rechtschaffenheit und Weisheit großes Ansehen genossen. Dazu gehörten auch die<br />

Weisen, die zu Jesus kamen.<br />

Zu allen Zeiten ließ Gott sein Licht in die Finsternis <strong>de</strong>r Hei<strong>de</strong>nwelt hineinleuchten. So<br />

durften diese Magier, als sie <strong>de</strong>n gestirnten Himmel beobachteten und das leuchten<strong>de</strong><br />

Geheimnis <strong>de</strong>s Schöpfers zu ergrün<strong>de</strong>n suchten, die Herrlichkeit <strong>de</strong>s Herrn schauen. Auf <strong>de</strong>r<br />

Suche nach größerer Erkenntnis wandten sie sich <strong>de</strong>n hebräischen Schriften zu. Ihr eigenes<br />

Land barg Schätze <strong>de</strong>r Weissagung, die von <strong>de</strong>m einstigen Kommen eines göttlichen Lehrers<br />

Kun<strong>de</strong> gaben. Hatte doch ein Bileam, obwohl eine Zeitlang Prophet <strong>de</strong>s lebendigen Gottes,<br />

ebenfalls zu <strong>de</strong>n Magiern gehört. Er hatte durch <strong>de</strong>n Heiligen Geist das Ge<strong>de</strong>ihen Israels und<br />

das Erscheinen <strong>de</strong>s Messias vorhergesagt, und seine Weissagungen waren durch Überlieferung<br />

von Jahrhun<strong>de</strong>rt zu Jahrhun<strong>de</strong>rt weitergetragen wor<strong>de</strong>n. Im Alten Testament aber war das<br />

Kommen <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s noch <strong>de</strong>utlicher angekündigt. Mit Freu<strong>de</strong>n ersahen daher die Magier,<br />

daß seine Ankunft nahe bevorstehe und die ganze Welt von <strong>de</strong>r Erkenntnis <strong>de</strong>r Herrlichkeit<br />

Gottes erfüllt wer<strong>de</strong>.<br />

In jener Nacht, da die Herrlichkeit Gottes die Höhen von Bethlehem überflutete, sahen die<br />

Weisen ein geheimnisvolles Licht am Himmel. Als es verblaßte, erschien ein leuchten<strong>de</strong>r Stern<br />

und blieb am Himmelsgewölbe stehen. Es war we<strong>de</strong>r ein Fixstern noch ein Planet; <strong>de</strong>shalb<br />

erweckte diese Erscheinung die größte Aufmerksamkeit. Davon, daß jener Stern eine weit<br />

entfernte Gruppe strahlen<strong>de</strong>r Engel war, konnten die Weisen natürlich nichts wissen. Doch sie<br />

gewannen <strong>de</strong>n Eindruck, daß dieser Stern von beson<strong>de</strong>rer Wichtigkeit für sie sei. Sie befragten<br />

daraufhin Priester und Philosophen und durchforschten auch selbst die alten Schriften. Dabei<br />

fan<strong>de</strong>n sie die Weissagung Bileams: „Es wird ein Stern aus Jakob aufgehen und ein Zepter aus<br />

Israel aufkommen.“ 4.Mose 24,17. Konnte nicht dieser fremdartige Stern als Vorbote <strong>de</strong>s<br />

Verheißenen gesandt sein? Sie, die das Licht <strong>de</strong>r Wahrheit vom Himmel schon freudig begrüßt<br />

hatten, erhielten es nun in noch größerem Maße und wur<strong>de</strong>n durch Träume angewiesen, <strong>de</strong>n<br />

neugeborenen Fürsten zu suchen.<br />

Wie Abraham einst auf <strong>de</strong>n Ruf Gottes hin gläubig auszog, ohne zu wissen, „wo er hinkäme“<br />

(Hebräer 11,8), und wie Israel gläubig <strong>de</strong>r Wolkensäule nach <strong>de</strong>m verheißenen Lan<strong>de</strong> folgte, so<br />

zogen auch diese Hei<strong>de</strong>n aus, <strong>de</strong>n verheißenen Heiland zu suchen. <strong>Die</strong> Län<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Ostens waren<br />

reich an Kostbarkeiten, und so traten auch die Magier ihre Reise nicht mit leeren Hän<strong>de</strong>n an.<br />

Der Sitte entsprechend, Fürsten o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren hochgestellten Persönlichkeiten zum Zeichen <strong>de</strong>r<br />

Huldigung Geschenke zu überreichen, nahmen sie die erlesensten Erzeugnisse <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s mit<br />

31


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

als Weihegabe an <strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>m alle Geschlechter <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> gesegnet wer<strong>de</strong>n sollten. Um <strong>de</strong>n<br />

Stern im Auge behalten zu können, mußten die Weisen <strong>de</strong>s Nachts reisen. <strong>Die</strong> Zeit verkürzten<br />

sie sich mit einem Gedankenaustausch über die mündlichen und schriftlichen Aussprüche <strong>de</strong>r<br />

alten Propheten bezüglich <strong>de</strong>s Einen, <strong>de</strong>n sie suchten. Während je<strong>de</strong>r Ruhepause durchforschten<br />

sie die Prophezeiungen, und darüber verstärkte sich in ihnen immer mehr die Überzeugung, daß<br />

sie von oben geleitet wur<strong>de</strong>n. So gesellte sich zu <strong>de</strong>m Stern als äußerem Zeichen von innen das<br />

Zeugnis <strong>de</strong>s Heiligen Geistes, <strong>de</strong>r ihre Herzen beeinflußte und ihre Hoffnung belebte. Dadurch<br />

wur<strong>de</strong> die lange Reise für sie zu einem frohen Erlebnis, das sie <strong>de</strong>n mühsamen, langwierigen<br />

Weg vergessen ließ.<br />

Als sie endlich das Land Israel erreichten und, Jerusalem vor ihren Blicken, <strong>de</strong>n Ölberg<br />

hinabstiegen, da verweilte <strong>de</strong>r Stern, <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m beschwerlichen Weg vor ihnen hergezogen<br />

war, über <strong>de</strong>m Tempel, um nach einiger Zeit ihren Blicken zu entschwin<strong>de</strong>n. Eilen<strong>de</strong>n Schrittes<br />

gingen sie nun vorwärts in <strong>de</strong>r zuversichtlichen Erwartung, daß die Kun<strong>de</strong> von <strong>de</strong>r Geburt <strong>de</strong>s<br />

Messias überall Begeisterung ausgelöst hatte. Aber alle ihre Nachforschungen blieben ohne<br />

Erfolg. Unmittelbar nach<strong>de</strong>m sie die Stadt betreten hatten, begaben sie sich zum Tempel. Doch<br />

zu ihrem Erstaunen fan<strong>de</strong>n sie nieman<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r etwas von <strong>de</strong>m neugeborenen König zu wissen<br />

schien. Ihre Fragen riefen keine Freu<strong>de</strong>nausbrüche hervor, eher das Gefühl einer unangenehmen<br />

Überraschung und Furcht, bisweilen sogar ein Gefühl <strong>de</strong>r Geringschätzung.<br />

<strong>Die</strong> Priester vergruben sich in die Überlieferung. Ihre religiöse Auffassung und ihre Art <strong>de</strong>r<br />

Frömmigkeit ging ihnen über alles, während sie die Griechen und Römer als überaus sündige<br />

Hei<strong>de</strong>n bezeichneten. Auch die Weisen galten, obschon sie keine Götzendiener waren und in<br />

Gottes Augen weit höher stan<strong>de</strong>n als diese seine angeblichen Anbeter, bei <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n als<br />

Hei<strong>de</strong>n. Selbst bei <strong>de</strong>n berufenen Hütern <strong>de</strong>r heiligen Schriften fand ihr eifriges Fragen keine<br />

Gegenliebe. <strong>Die</strong> Ankunft <strong>de</strong>r Weisen wur<strong>de</strong> in Jerusalem schnell bekannt. Ihre ungewöhnliche<br />

Botschaft brachte viel Aufregung unter das Volk, die bis in <strong>de</strong>n Palast <strong>de</strong>s Königs Hero<strong>de</strong>s<br />

drang. Der listige Edomiter erschrak schon bei <strong>de</strong>r bloßen Erwähnung eines möglichen<br />

Nebenbuhlers. Ungezählte Mordtaten hatten seinen Weg zum Thron besu<strong>de</strong>lt. Dazu war er<br />

fremdstämmig und beim Volk, das er regierte, verhaßt. Seine einzige Sicherheit war die Gunst<br />

Roms. <strong>Die</strong>ser neue Fürst aber hatte sich auf mehr zu berufen; er war geboren, das Reich<br />

einzunehmen. Hero<strong>de</strong>s hatte die Priester in Verdacht, daß sie mit <strong>de</strong>n Fremdlingen gemeinsame<br />

Sache machten, um einen Volksaufstand heraufzubeschwören und ihn zu entthronen. Zwar<br />

verbarg er sein Mißtrauen, doch er beschloß, sie bei <strong>de</strong>r Ausführung ihrer Pläne zu überlisten.<br />

Er ließ die Hohenpriester und Schriftgelehrten zu sich rufen und erkundigte sich bei ihnen, was<br />

ihre heiligen Bücher über <strong>de</strong>n Ort lehrten, wo <strong>de</strong>r Messias geboren wer<strong>de</strong>n sollte.<br />

<strong>Die</strong>se Erkundigungen <strong>de</strong>s Thronräubers, noch dazu durch die Frem<strong>de</strong>n angeregt, verletzten<br />

<strong>de</strong>n Stolz <strong>de</strong>r jüdischen Lehrer. <strong>Die</strong> offenkundige Gleichgültigkeit wie<strong>de</strong>r, mit <strong>de</strong>r sie sich an<br />

die Durchsicht <strong>de</strong>r prophetischen Schriften begaben, erregte die Eifersucht <strong>de</strong>s Herrschers,<br />

glaubte er doch, sie suchten nur zu verbergen, was sie von dieser Sache wußten. Mit einer<br />

Bestimmtheit, über die sie sich nicht hinwegzusetzen wagten, befahl er ihnen <strong>de</strong>shalb, genaue<br />

Nachforschungen anzustellen und ihm <strong>de</strong>n Geburtsort <strong>de</strong>s von ihnen erwarteten Königs zu<br />

nennen. „Sie sagten ihm: Zu Bethlehem im jüdischen Lan<strong>de</strong>; <strong>de</strong>nn also steht geschrieben durch<br />

32


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

<strong>de</strong>n Propheten: ‚Und du Bethlehem im jüdischen Land bist mitnichten die kleinste unter <strong>de</strong>n<br />

Städten in Juda; <strong>de</strong>nn aus dir soll mir kommen <strong>de</strong>r Herzog, <strong>de</strong>r über mein Volk Israel ein Herr<br />

sei.‘“ Matthäus 2,5.6.<br />

Hierauf lud Hero<strong>de</strong>s die Weisen zu einer vertraulichen Unterredung ein. Obgleich Zorn und<br />

Furcht sein Inneres durchtobten, bewahrte er nach außen seine Ruhe und empfing die Frem<strong>de</strong>n<br />

freundlich. Er erkundigte sich, zu welcher Zeit <strong>de</strong>r Stern ihnen erschienen sei, und gab sich <strong>de</strong>n<br />

Anschein, als begrüße er freudig die Nachricht von <strong>de</strong>r Geburt <strong>Christi</strong>. Schließlich gebot er <strong>de</strong>n<br />

Weisen: „Ziehet hin und forschet fleißig nach <strong>de</strong>m Kindlein; und wenn ihr‘s fin<strong>de</strong>t, so sagt<br />

mir‘s wie<strong>de</strong>r, daß ich auch komme und es anbete.“ Matthäus 2,8. Mit diesen Worten entließ er<br />

sie, damit sie nach Bethlehem zögen.<br />

<strong>Die</strong> Priester und Ältesten von Jerusalem waren nicht so unwissend hinsichtlich <strong>de</strong>r Geburt<br />

<strong>Christi</strong>, wie sie vorgaben. <strong>Die</strong> Nachricht von <strong>de</strong>m Besuch <strong>de</strong>r Engel bei <strong>de</strong>n Hirten war auch<br />

nach Jerusalem gedrungen, nur hatten sie die Rabbiner nicht beachtet. So mußten, obwohl sie<br />

selber hätten Jesus fin<strong>de</strong>n und die Magier nach seinem Geburtsort bringen können, erst die<br />

Weisen kommen und sie auf die Geburt <strong>de</strong>s Messias aufmerksam machen. Sie sprachen: „Wo<br />

ist <strong>de</strong>r neugeborene König <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n? Wir haben seinen Stern gesehen im Morgenland und sind<br />

gekommen, ihn anzubeten.“ Matthäus 2,2.<br />

Doch aus Stolz und Neid verschlossen die Priester und Rabbiner <strong>de</strong>m Licht die Tür. Hätten<br />

sie <strong>de</strong>m Bericht <strong>de</strong>r Hirten und Weisen geglaubt, so wären sie dadurch in eine wenig<br />

angenehme Lage gebracht wor<strong>de</strong>n: sie hätten ihre eigene Behauptung, Vertreter <strong>de</strong>r Wahrheit<br />

Gottes zu sein, wi<strong>de</strong>rlegt. Auch brachten es diese gebil<strong>de</strong>ten Lehrer nicht fertig, von <strong>de</strong>nen<br />

Belehrungen anzunehmen, die sie Hei<strong>de</strong>n nannten. Es war nach ihrer Meinung nicht möglich,<br />

daß Gott sie übergangen hätte, um sich dafür unwissen<strong>de</strong>n Hirten und unbeschnittenen Hei<strong>de</strong>n<br />

zu offenbaren. So beschlossen sie, diese Nachrichten, die <strong>de</strong>n König Hero<strong>de</strong>s und ganz<br />

Jerusalem in Aufregung versetzt hatten, mit Verachtung zu strafen. Sie wollten sich nicht<br />

einmal nach Bethlehem begeben, um festzustellen, wie sich die Dinge verhielten. Gleichzeitig<br />

verleiteten sie das Volk, die Anteilnahme an <strong>de</strong>m Jesuskind für schwärmerische Überspanntheit<br />

zu halten. Hierdurch bereits begannen die Priester und Rabbiner, Christus zu verwerfen. Ihr<br />

Stolz und ihre Hartnäckigkeit steigerten sich schließlich zu bitterem Haß gegen <strong>de</strong>n Heiland. So<br />

geschah es, daß Gott <strong>de</strong>n Hei<strong>de</strong>n die Tür öffnete, die die Führer <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n sich selbst<br />

verschlossen.<br />

Einsam verließen die Weisen Jerusalem. Als sie aber im Dunkel <strong>de</strong>s Abends die Tore<br />

Jerusalems hinter sich ließen, da sahen sie zu ihrer großen Freu<strong>de</strong> wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Stern, <strong>de</strong>r sie nach<br />

Bethlehem führte. Sie hatten nicht wie die Hirten einen Hinweis erhalten, unter welch ärmlichen<br />

Verhältnissen sie Jesus fin<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>n. Nach <strong>de</strong>r langen Reise waren sie von <strong>de</strong>r<br />

Gleichgültigkeit <strong>de</strong>r jüdischen Obersten sehr enttäuscht wor<strong>de</strong>n und hatten Jerusalem weniger<br />

zuversichtlich verlassen, als sie es betreten hatten. In Bethlehem fan<strong>de</strong>n sie keine Wache, um<br />

<strong>de</strong>n neugeborenen König zu schützen, und niemand von <strong>de</strong>n weltlichen Fürsten bil<strong>de</strong>te seinen<br />

Hofstaat. Jesus lag in eine Krippe gebettet. Seine Eltern, ungebil<strong>de</strong>te Landleute, waren seine<br />

einzigen Hüter. Konnte dieser es sein, von <strong>de</strong>m geschrieben stand, daß er bestimmt sei, „die<br />

33


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Stämme Jakobs aufzurichten und die Zerstreuten Israels wie<strong>de</strong>rzubringen“, ein „Licht <strong>de</strong>r<br />

Hei<strong>de</strong>n“ zum „Heil bis an die En<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>“? Jesaja 49,6.<br />

Sie aber „gingen in das Haus und fan<strong>de</strong>n das Kindlein mit Maria, seiner Mutter, und fielen<br />

nie<strong>de</strong>r und beteten es an“. Matthäus 2,11. Auch unter <strong>de</strong>r unscheinbaren Hülle erkannten sie die<br />

Gottheit Jesu. So gaben sie ihm, als ihrem Heiland, ihre Herzen und „taten ihre Schätze auf und<br />

schenkten ihm Gold, Weihrauch und Myrrhe“. Matthäus 2,11. Welch einen Glauben bewiesen<br />

sie damit! Auch von diesen Männern <strong>de</strong>s Ostens hätte Jesus sagen können, was er später von<br />

<strong>de</strong>m römischen Hauptmann feststellte: „Solchen Glauben habe ich in Israel bei keinem<br />

gefun<strong>de</strong>n!“ Matthäus 8,10.<br />

<strong>Die</strong> Weisen erkannten nicht die Absicht <strong>de</strong>s Hero<strong>de</strong>s. Deshalb schickten sie sich an, als sie<br />

<strong>de</strong>n Zweck ihrer Reise erreicht hatten, wie<strong>de</strong>r nach Jerusalem zurückzukehren und <strong>de</strong>n König<br />

von ihrem Erfolg zu unterrichten. Doch in einem Traum empfingen sie die göttliche<br />

Anweisung, keine weitere Verbindung mit Hero<strong>de</strong>s aufzunehmen. So mie<strong>de</strong>n sie Jerusalem und<br />

gingen auf einem an<strong>de</strong>ren Weg in ihre Heimat zurück. In <strong>de</strong>r gleichen Weise wur<strong>de</strong> Joseph<br />

aufgefor<strong>de</strong>rt, mit Maria und <strong>de</strong>m Kin<strong>de</strong> nach Ägypten zu fliehen. „Bleib allda, bis ich dir‘s<br />

sage; <strong>de</strong>nn Hero<strong>de</strong>s geht damit um, daß er das Kindlein suche, es umzubringen.“ Matthäus 2,13.<br />

Joseph gehorchte ohne Zögern, trat aber <strong>de</strong>r größeren Sicherheit wegen die Reise erst in <strong>de</strong>r<br />

Nacht an.<br />

Durch die Weisen hatte Gott die Aufmerksamkeit <strong>de</strong>s jüdischen Volkes auf die Geburt seines<br />

Sohnes gelenkt. Ihre Nachforschungen in Jerusalem, die dadurch allgemein erweckte<br />

Anteilnahme und selbst die Eifersucht <strong>de</strong>s Hero<strong>de</strong>s, die die Aufmerksamkeit <strong>de</strong>r Priester und<br />

Rabbiner erzwang, veranlaßte viele, <strong>de</strong>n Weissagungen über <strong>de</strong>n Messias und zugleich <strong>de</strong>m<br />

großen Ereignis, das eben erst geschehen war, Beachtung zu schenken. Satan aber war<br />

entschlossen, das göttliche Licht aus <strong>de</strong>r Welt auszuschließen und unter Anwendung äußerster<br />

List <strong>de</strong>n Heiland zu vernichten. Aber Er, <strong>de</strong>r niemals schläft noch schlummert, wachte über<br />

seinen geliebten Sohn. Wie er einst Israel mit Manna vom Himmel versorgt und Elia zur Zeit<br />

<strong>de</strong>r Hungersnot gespeist hatte, so bereitete er nun Maria und <strong>de</strong>m Jesuskind in einem<br />

heidnischen Land einen Zufluchtsort. Durch die Gaben <strong>de</strong>r heidnischen Magier hatte <strong>de</strong>r Herr<br />

ihnen die Mittel für die Reise nach Ägypten und für <strong>de</strong>n Aufenthalt in einem frem<strong>de</strong>n Land<br />

verschafft.<br />

<strong>Die</strong> Weisen hatten zu <strong>de</strong>n ersten gehört, die <strong>de</strong>n Erlöser begrüßten; ihre Gabe war die erste<br />

gewesen, die ihm zu Füßen gelegt wur<strong>de</strong>. Welch unvergleichlichen <strong>Die</strong>nst durften sie damit<br />

versehen! <strong>Die</strong> Gabe eines lieben<strong>de</strong>n Herzens pflegt Gott wohlgefällig zu ehren, in<strong>de</strong>m er sie die<br />

höchste Wirksamkeit in seinem <strong>Die</strong>nst fin<strong>de</strong>n läßt. Wenn wir Jesus unser Herz gegeben haben,<br />

wer<strong>de</strong>n wir ihm auch unsere Gaben darbringen. Bereitwillig wer<strong>de</strong>n wir ihm, <strong>de</strong>r uns liebt und<br />

sich selbst für uns dahingegeben hat, unser Gold und Silber, unsere köstlichsten irdischen<br />

Güter, unsere besten geistigen und geistlichen Fähigkeiten weihen. Hero<strong>de</strong>s wartete inzwischen<br />

in Jerusalem ungeduldig auf die Rückkehr <strong>de</strong>r Weisen. Als die Zeit verstrich, ohne daß sie<br />

erschienen, wur<strong>de</strong> sein Argwohn aufs neue wach. <strong>Die</strong> Abneigung <strong>de</strong>r Rabbiner, ihm <strong>de</strong>n<br />

Geburtsort <strong>de</strong>s Messias zu nennen, ließ ihn jetzt vermuten, daß sie seine Pläne durchschaut und<br />

34


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

daß die Magier ihn absichtlich gemie<strong>de</strong>n hatten. Bei diesem Gedanken geriet er außer sich vor<br />

Wut. Nach<strong>de</strong>m er mit seiner Verschlagenheit nichts ausgerichtet hatte, blieb ihm als letztes<br />

Mittel nur noch die Gewalt. So sollte das Geschick dieses jungen Königs <strong>de</strong>nn zum<br />

abschrecken<strong>de</strong>n Beispiel wer<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> hochmütigen Ju<strong>de</strong>n sollten sehen, was ihrer wartete,<br />

wenn sie versuchten, gegen ihn einen Aufruhr anzuzetteln und an seiner Statt einen an<strong>de</strong>ren<br />

Herrscher einzusetzen.<br />

Sofort sandte Hero<strong>de</strong>s Kriegsknechte nach Bethlehem mit <strong>de</strong>m Befehl, alle Kin<strong>de</strong>r im Alter<br />

von zwei Jahren und darunter zu töten. <strong>Die</strong> stillen Behausungen <strong>de</strong>r Stadt Davids wur<strong>de</strong>n zum<br />

Schauplatz jener Schreckensszenen, die sechshun<strong>de</strong>rt Jahre zuvor <strong>de</strong>m Propheten kundgetan<br />

wor<strong>de</strong>n waren: „Zu Rama hat man ein Geschrei gehört, viel Weinen und Heulen; Rahel<br />

beweinte ihre Kin<strong>de</strong>r und wollte sich nicht trösten lassen.“ Matthäus 2,18.<br />

<strong>Die</strong>ses Unheil hatten die Ju<strong>de</strong>n selbst über sich gebracht. Wären sie gläubig und <strong>de</strong>mütig vor<br />

Gott gewan<strong>de</strong>lt, dann hätte er in sehr <strong>de</strong>utlicher Weise <strong>de</strong>m Zorn <strong>de</strong>s Königs wehren können.<br />

Doch sie hatten sich durch ihre Sün<strong>de</strong>n von Gott getrennt und <strong>de</strong>n Heiligen Geist, ihren<br />

einzigen Schutz, verworfen. Sie hatten die Schrift nicht studiert in <strong>de</strong>m Verlangen, <strong>de</strong>m Willen<br />

Gottes nachzukommen. Sie hatten lediglich nach Weissagungen gesucht, die sich für sie günstig<br />

auslegen ließen und dafür zu sprechen schienen, daß Gott alle übrigen Völker verachtete. Stolz<br />

hatten sie damit geprahlt, daß <strong>de</strong>r Messias als König kommen, seine Fein<strong>de</strong> besiegen und in<br />

seinem Zorn die Hei<strong>de</strong>n zerstampfen wer<strong>de</strong>. Dadurch war <strong>de</strong>r Haß ihrer Herrscher<br />

hervorgerufen wor<strong>de</strong>n. Vor allem aber hatte Satan die Ju<strong>de</strong>n zu einer solchen falschen<br />

Darstellung <strong>de</strong>r Sendung <strong>Christi</strong> verleitet in <strong>de</strong>r Absicht, <strong>de</strong>n Untergang <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s<br />

herbeizuführen. Nun aber fiel alles auf ihr eigenes Haupt zurück.<br />

<strong>Die</strong>ses grausame Vorgehen sollte eine <strong>de</strong>r letzten Handlungen sein, mit <strong>de</strong>nen Hero<strong>de</strong>s seine<br />

Herrschaft besu<strong>de</strong>lte. Nicht lange nach <strong>de</strong>m abscheulichen Kin<strong>de</strong>rmord in Bethlehem wur<strong>de</strong> er<br />

selbst ein Opfer <strong>de</strong>s Schicksals, <strong>de</strong>m niemand entkommt: er mußte sterben. Und er starb einen<br />

schrecklichen Tod! Joseph, <strong>de</strong>r immer noch in Ägypten weilte, erhielt jetzt von einem Engel<br />

Gottes die Auffor<strong>de</strong>rung, nach Israel zurückzukehren. In <strong>de</strong>r Annahme, daß Jesus <strong>de</strong>r Erbe <strong>de</strong>s<br />

Thrones Davids sei, wollte er erst Bethlehem zu seinem Wohnort machen; als er aber erfuhr,<br />

daß Archelaus an seines Vaters Statt über Judäa regierte, fürchtete er, daß nun <strong>de</strong>r Sohn die<br />

Absichten <strong>de</strong>s Vaters gegen Christus ausführen könnte. Von allen Söhnen <strong>de</strong>s Hero<strong>de</strong>s glich<br />

Archelaus diesem in seinem Wesen am meisten. Seine Thronbesteigung bereits war von einem<br />

Aufruhr in Jerusalem und <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rmetzelung Tausen<strong>de</strong>r von Ju<strong>de</strong>n durch die römischen<br />

Wachen begleitet gewesen.<br />

Abermals erhielt Joseph einen Zufluchtsort angewiesen. Er kehrte nach Nazareth zurück,<br />

seinem früheren Wohnsitz, wo Jesus dreißig Jahre seines Lebens zubringen sollte, „auf daß<br />

erfüllt wür<strong>de</strong>, was da gesagt ist durch die Propheten: Er soll Nazarener heißen“. Matthäus 2,23.<br />

Galiläa stand ebenfalls unter <strong>de</strong>r Herrschaft eines Sohnes <strong>de</strong>s Hero<strong>de</strong>s, doch wies seine<br />

Bevölkerung einen viel größeren Einschlag frem<strong>de</strong>n Volkstums auf als Judäa, so daß rein<br />

jüdische Fragen in Galiläa weniger Beachtung fan<strong>de</strong>n als in Judäa. Das berechtigte zu <strong>de</strong>r<br />

Annahme, daß auch die Son<strong>de</strong>rstellung Jesu nicht so leicht <strong>de</strong>n Neid <strong>de</strong>r maßgeben<strong>de</strong>n Kreise<br />

35


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

erregen wür<strong>de</strong>. Derart war die Aufnahme, die <strong>de</strong>r Heiland fand, als er zur Er<strong>de</strong> kam. Kaum<br />

schien es einen Ruheort, eine Zufluchtsstätte für <strong>de</strong>n noch unmündigen Erlöser zu geben. Gott<br />

konnte seinen geliebten Sohn nicht <strong>de</strong>n Menschen anvertrauen, selbst nicht zu <strong>de</strong>r Zeit, da er<br />

sich um ihr Heil bemühte. Deshalb beauftragte er Engel damit, Jesus zu geleiten und zu<br />

schützen, bis er seine Aufgabe auf Er<strong>de</strong>n vollbracht hätte und durch die Hän<strong>de</strong> <strong>de</strong>rer, die zu<br />

retten er gekommen war, sterben wür<strong>de</strong>.<br />

36


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 7: Jesu Kindheit<br />

Jesus verbrachte seine Kindheit und Jugend in einem kleinen Gebirgsort. Doch es gab keinen<br />

Platz auf Er<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>m seine Gegenwart nicht zur Ehre gereicht hätte. Selbst Königspalästen wäre<br />

es ein Vorrecht gewesen, ihn als Gast zu beherbergen. Er aber ging an <strong>de</strong>n Häusern <strong>de</strong>r<br />

Reichen, <strong>de</strong>n Höfen <strong>de</strong>r Könige, <strong>de</strong>n berühmten Stätten <strong>de</strong>r Gelehrsamkeit vorüber und ließ sich<br />

in <strong>de</strong>m unbe<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n, verachteten Nazareth nie<strong>de</strong>r. Wun<strong>de</strong>rbar in seiner Be<strong>de</strong>utung ist <strong>de</strong>r<br />

kurze Bericht über die ersten Lebensjahre Jesu: „Das Kind wuchs und ward stark, voller<br />

Weisheit, und Gottes Gna<strong>de</strong> war bei ihm.“ Lukas 2,40. In <strong>de</strong>m Sonnenglanz, <strong>de</strong>r vom Angesicht<br />

seines Vaters ausging, nahm Jesus zu „an Weisheit, Alter und Gna<strong>de</strong> bei Gott und <strong>de</strong>n<br />

Menschen“. Lukas 2,52. Sein Verstand war rege und scharf und an Überlegung und Weisheit<br />

seinen Jahren voraus; <strong>de</strong>nnoch war sein Wesen wun<strong>de</strong>rvoll ausgeglichen, und die Entwicklung<br />

<strong>de</strong>r Geistes- und Körperkräfte erfolgte entsprechend seines Alters.<br />

Als Kind schon erwies sich Jesus als überaus liebenswürdig veranlagt. Stets war er bereit,<br />

an<strong>de</strong>ren mit willigen Hän<strong>de</strong>n zu dienen. Dazu bewies er eine Geduld, die unerschütterlich war,<br />

aber auch eine Wahrheitsliebe, die sich unbestechlich für das Rechte einsetzte. So paarten sich<br />

in seinem Leben felsenfeste Grundsatztreue mit <strong>de</strong>r Tugend selbstloser Gefälligkeit. Mit großer<br />

Sorgfalt beobachtete die Mutter Jesu, wie sich die Gaben <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s entfalteten und seine<br />

Anlagen sich vervollkommneten. Voller Freu<strong>de</strong> suchte sie seinen munteren, empfänglichen<br />

Sinn zu begeistern. Der Heilige Geist gab ihr Weisheit, gemeinsam mit <strong>de</strong>m Himmel die<br />

Entwicklung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s zu för<strong>de</strong>rn, <strong>de</strong>ssen Vater Gott war.<br />

Von jeher hatten die treuen Israeliten große Sorgfalt auf die Erziehung ihrer Jugend<br />

verwandt. Der Herr hatte sie unterwiesen, die Kin<strong>de</strong>r schon von klein auf über seine Güte und<br />

über seine Größe zu belehren, wie sie sich beson<strong>de</strong>rs in seinem Gesetz offenbart und in <strong>de</strong>r<br />

Geschichte Israels kundgetan haben. Sie sollten dabei Gesang, Gebet und die Betrachtung <strong>de</strong>r<br />

Schrift <strong>de</strong>m kindlichen Verständnis anpassen. Väter und Mütter mußten ihre Kin<strong>de</strong>r darüber<br />

unterrichten, daß das Gesetz Gottes ein Ausdruck seiner Gesinnung sei und daß sich mit <strong>de</strong>r<br />

Annahme seiner Grundsätze das Bild Gottes auf <strong>de</strong>n Geist und auf die Seele übertrage. Ein<br />

Großteil dieser Belehrung erfolgte mündlich; daneben aber lernte die Jugend auch die<br />

hebräischen Schriften lesen, so daß sie sich mit <strong>de</strong>m Inhalt <strong>de</strong>r auf Pergament geschriebenen<br />

alttestamentlichen Zeugnisse vertraut machen konnte.<br />

Zur Zeit <strong>Christi</strong> wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Ort o<strong>de</strong>r die Stadt, die nichts für die religiöse Erziehung <strong>de</strong>r<br />

Jugend tat, angesehen als stän<strong>de</strong> sie unter <strong>de</strong>m Fluch Gottes. Dennoch war <strong>de</strong>r Unterricht immer<br />

mehr verflacht, und die Überlieferungen hatten in weitem Ausmaß die heiligen Schriften<br />

verdrängt. Rechte Erziehung muß die Jugend veranlassen, daß sie <strong>de</strong>n Herrn „suchen ... ob sie<br />

wohl ihn fühlen und fin<strong>de</strong>n möchten“. Apostelgeschichte 17,27. <strong>Die</strong> Lehrer <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n wandten<br />

ihre Aufmerksamkeit äußeren Dingen zu. Sie suchten <strong>de</strong>n Verstand mit einem Stoff zu belasten,<br />

<strong>de</strong>r für die Schüler wertlos war und erst recht vor <strong>de</strong>r höheren Schule <strong>de</strong>s Himmels nichts galt.<br />

So hatte die Erfahrung, die man durch die Annahme <strong>de</strong>s Wortes Gottes erlangt, keinen Raum in<br />

ihrem Erziehungswesen. Vor lauter Äußerlichkeiten fan<strong>de</strong>n die Schüler keine Gelegenheit, in<br />

37


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

stillen Stun<strong>de</strong>n mit Gott zu verkehren. Sie vernahmen nicht, daß seine Stimme zu ihren Herzen<br />

re<strong>de</strong>te. Auf ihrer Suche nach Erkenntnis kehrten sie <strong>de</strong>m Quell <strong>de</strong>r Weisheit <strong>de</strong>n Rücken. Das<br />

Wichtigste im Gottesdienst vernachlässigten sie, die For<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s Gesetzes wur<strong>de</strong>n entstellt.<br />

Man machte dadurch die höhere Bildung zum größten Hin<strong>de</strong>rnis für eine rechte Entwicklung.<br />

<strong>Die</strong> Erziehungsweise <strong>de</strong>r Rabbiner hemmte die Kraft <strong>de</strong>r Jugend. Sie wur<strong>de</strong> schwerfällig und<br />

einseitig im Denken.<br />

Der junge Jesus wur<strong>de</strong> nicht in <strong>de</strong>n Schulen <strong>de</strong>r Synagoge unterrichtet. Seine Mutter war<br />

seine erste Lehrerin. So erfuhr er aus ihrem Mun<strong>de</strong> und aus <strong>de</strong>n Schriften <strong>de</strong>r Propheten die<br />

himmlischen Dinge. <strong>Die</strong> Worte, die er selber durch Mose zu Israel gesprochen hatte, mußte er<br />

nun zu <strong>de</strong>n Füßen seiner Mutter hören und lernen. Auch als er vom Knaben zum Jüngling<br />

heranwuchs, kümmerte sich Jesus nicht um die Rabbinerschulen. Er hatte Bildung aus solcher<br />

Quelle nicht nötig; <strong>de</strong>nn Gott war sein Lehrer.<br />

<strong>Die</strong> während <strong>de</strong>r Ausübung seines Lehramtes aufgeworfene Frage: „Wie kennt dieser die<br />

Schrift, obwohl er sie doch nicht gelernt hat?“ (Johannes 7,15) <strong>de</strong>utet daher auch nicht an, daß<br />

Jesus etwa nicht lesen konnte, son<strong>de</strong>rn nur, daß er keine Ausbildung durch berufene Rabbiner<br />

erhalten hatte. Da er sein Wissen in <strong>de</strong>r gleichen Weise erwerben mußte wie wir, beweist seine<br />

innige Vertrautheit mit <strong>de</strong>r Schrift, wie fleißig er sich in seinen Jugendjahren mit <strong>de</strong>m Wort<br />

Gottes befaßt hat. Dazu lag das große Buch <strong>de</strong>r Natur ausgebreitet vor ihm. Er, <strong>de</strong>r Schöpfer<br />

aller Dinge, vertiefte sich nun selbst in die Lehren, die er mit eigener Hand in Er<strong>de</strong>, Meer und<br />

Himmel gezeichnet hatte. Er hielt sich fern von allen unheiligen Dingen <strong>de</strong>r Welt und sammelte<br />

eine Fülle von wissenschaftlichen Erkenntnissen aus <strong>de</strong>r Natur. Zu diesem Zweck beobachtete<br />

er das Leben <strong>de</strong>r Pflanzen, <strong>de</strong>r Tiere und <strong>de</strong>r Menschen. Von frühester Kindheit an aber behielt<br />

er das eine Ziel im Auge: an<strong>de</strong>rn zum Segen zu leben! Hierzu wur<strong>de</strong> er durch die ganze<br />

Schöpfung ermuntert; sie war ihm eine gute und vielseitige Lehrmeisterin. Ständig trachtete er,<br />

<strong>de</strong>m Sichtbaren Bil<strong>de</strong>r zur Veranschaulichung <strong>de</strong>s lebendigen Wortes Gottes abzugewinnen.<br />

<strong>Die</strong> Gleichnisse, in die er während seines Wirkens seine Belehrungen gern einklei<strong>de</strong>te, zeigen<br />

<strong>de</strong>utlich, in welch hohem Maße sein Gemüt für die Einflüsse <strong>de</strong>r Natur empfänglich war und er<br />

Unterweisungen hinsichtlich <strong>de</strong>s geistlichen Lebens <strong>de</strong>r Alltagswelt entnommen hatte.<br />

Während Jesus so die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Dinge zu erfassen suchte, entfaltete sich ihm das<br />

Wesen <strong>de</strong>s Wortes und <strong>de</strong>r Werke Gottes. Von Engeln <strong>de</strong>s Himmels begleitet, hegte er heilige<br />

Gedanken und pflegte heilige Zwiesprache. Vom ersten Aufdämmern seines Verständnisses an<br />

nahm er ständig zu an geistlichen Tugen<strong>de</strong>n und in <strong>de</strong>r Erkenntnis <strong>de</strong>r Wahrheit.<br />

Gleich Jesus kann je<strong>de</strong>s Kind Erkenntnis erlangen. Wenn wir versuchen, durch Gottes Wort<br />

mit unserem himmlischen Vater bekannt zu wer<strong>de</strong>n, dann wer<strong>de</strong>n uns Engel nahe sein, und<br />

unser Geist wird gestärkt, unser Wesen geläutert und verfeinert wer<strong>de</strong>n. Damit wer<strong>de</strong>n wir<br />

unserem Heiland ähnlicher. Angesichts all <strong>de</strong>s Schönen und Großartigen in <strong>de</strong>r Natur wen<strong>de</strong>t<br />

sich unser Herz Gott zu. In <strong>de</strong>r Berührung mit <strong>de</strong>m Ewigen durch seine Werke wird <strong>de</strong>r Geist<br />

erbaut und die Seele belebt. Der Verkehr mit Gott im Gebet bringt die geistigen und sittlichen<br />

Fähigkeiten zur Entfaltung, und die tiefe Betrachtung geistlicher Dinge för<strong>de</strong>rt das geistliche<br />

Leben.<br />

38


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Das Leben Jesu stand in völligem Einklang mit <strong>de</strong>m Willen Gottes. Zwar dachte und re<strong>de</strong>te<br />

er, solange er Kind war, wie ein Kind; aber kein Makel entstellte das Ebenbild Gottes. Dabei<br />

war er nicht frei von Versuchungen. <strong>Die</strong> Gottlosigkeit <strong>de</strong>r Einwohner von Nazareth war fast<br />

sprichwörtlich gewor<strong>de</strong>n. Nathanels Frage: „Was kann von Nazareth Gutes kommen?“<br />

(Johannes 1,46), zeigt, <strong>de</strong>utlich, wie wenig Achtung sie im allgemeinen genossen. Jesus aber<br />

erhielt seinen Platz unter ihnen, damit durch sie sein Verhalten auf die Probe gestellt wür<strong>de</strong>. Er<br />

mußte, wollte er seine Reinheit bewahren, unablässig auf <strong>de</strong>r Hut sein. Kein Kampf, <strong>de</strong>n auch<br />

wir zu bestehen haben, blieb ihm erspart, damit er uns unser Leben lang ein Beispiel sein<br />

könne: in Kindheit, Jugend und Mannesalter.<br />

Satan war unermüdlich in seinen Anstrengungen, das Kind von Nazareth zu überwin<strong>de</strong>n.<br />

Wenn Jesus auch von frühester Jugend an von <strong>de</strong>n Engeln <strong>de</strong>s Himmels behütet wur<strong>de</strong>, so war<br />

sein Leben <strong>de</strong>nnoch ein Kampf gegen die Mächte <strong>de</strong>r Finsternis. Daß jemand auf Er<strong>de</strong>n frei von<br />

sündiger Befleckung leben sollte, das war <strong>de</strong>m Fürsten <strong>de</strong>r Finsternis ein Ärgernis und eine<br />

Ursache zur Beunruhigung. Nichts ließ er darum unversucht, Jesus in seine Schlingen zu<br />

verstricken. Kein Menschenkind wird je berufen, ein heiliges Leben inmitten solch grimmiger<br />

Kämpfe gegen Versuchungen zu führen wie unser Heiland.<br />

<strong>Die</strong> Eltern Jesu waren arm und auf <strong>de</strong>n Ertrag ihrer Hän<strong>de</strong> Arbeit angewiesen. So wur<strong>de</strong><br />

auch er mit Armut, Selbstverleugnung und Entbehrung vertraut. <strong>Die</strong>se Erfahrung war ein<br />

sicherer Schutz für ihn. In seinem arbeitsamen Leben gab es keine müßigen Stun<strong>de</strong>n, die die<br />

Versuchung herausgefor<strong>de</strong>rt hätten. Er fand keine Zeit für schlechte Gesellschaft. Soweit es ihm<br />

möglich war, verschloß er <strong>de</strong>m Versucher die Tür. Keine Rücksicht auf Gewinn o<strong>de</strong>r<br />

Vergnügen, Beifall o<strong>de</strong>r Ta<strong>de</strong>l konnte ihn dazu verleiten, Unrecht gutzuheißen. Er war klug, das<br />

Böse zu erkennen, und stark genug, ihm zu wi<strong>de</strong>rstehen.<br />

Jesus war <strong>de</strong>r einzige Sündlose, <strong>de</strong>r je auf Er<strong>de</strong>n gelebt hat, obwohl er doch fast dreißig Jahre<br />

lang unter <strong>de</strong>n gottlosen Einwohnern von Nazareth wohnte. <strong>Die</strong>se Tatsache muß alle diejenigen<br />

beschämen, die meinen, daß die Gunst <strong>de</strong>s Ortes, <strong>de</strong>s Besitzes o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Erfolges darüber<br />

entschei<strong>de</strong>, ob jemand ein unta<strong>de</strong>liges Leben führen könne o<strong>de</strong>r nicht. Vielmehr erziehen uns<br />

gera<strong>de</strong> Anfechtung, Not und Unheil zu Reinheit und Standhaftigkeit.<br />

Jesus lebte mit seinen Eltern in einem beschei<strong>de</strong>nen Häuschen und trug treulich und freudig<br />

seinen Anteil an <strong>de</strong>n Lasten <strong>de</strong>s Haushaltes. Der einst Gebieter <strong>de</strong>s Himmels gewesen und<br />

<strong>de</strong>ssen Wort die Engel mit Freu<strong>de</strong>n befolgten, war jetzt ein williger <strong>Die</strong>ner, ein liebevoller und<br />

gehorsamer Sohn. Er erlernte ein Handwerk und arbeitete mit Joseph zusammen in <strong>de</strong>ssen<br />

Zimmermannswerkstatt. In <strong>de</strong>r einfachen Tracht eines gewöhnlichen Arbeitsmannes ging er<br />

durch die Straßen <strong>de</strong>r kleinen Stadt zu seiner beschei<strong>de</strong>nen Arbeit und wie<strong>de</strong>r zurück. Er<br />

benutzte seine göttliche Kraft nicht, um seine Lasten zu verringern o<strong>de</strong>r sich die Arbeit zu<br />

erleichtern.<br />

<strong>Die</strong> Arbeit, die Jesus als Jüngling und als Mann ausübte, war <strong>de</strong>r Entwicklung von Körper<br />

und Geist sehr dienlich. Er arbeitete nicht einfach drauflos, son<strong>de</strong>rn setzte seine Kräfte ein, daß<br />

sie gesund blieben, damit er in je<strong>de</strong>r Weise das Beste leisten konnte. Er war ohne Ta<strong>de</strong>l in<br />

39


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

seinem Wesen, selbst in seiner Arbeit verschmähte er fehlerhafte Leistungen. Er war als<br />

Handwerker ebenso vollkommen, wie sein Charakter vollkommen war. Durch sein Beispiel<br />

lehrte er, daß wir die Pflicht haben, fleißig zu sein und unsere Arbeit genau und sorgfältig<br />

auszuführen, und daß solche Arbeit ehrbar ist. Nützliche Handarbeit gewöhnt nicht nur die<br />

Jugend daran, ihren Anteil an <strong>de</strong>n Lasten <strong>de</strong>s Lebens zu tragen, son<strong>de</strong>rn dient auch <strong>de</strong>r<br />

Kräftigung ihres Körpers und <strong>de</strong>r Ausbildung ihrer Fähigkeiten. Je<strong>de</strong>r sollte sich mit etwas<br />

beschäftigen, was ihm selbst und auch an<strong>de</strong>rn nützt. Gott hat die Arbeit uns zum Segen<br />

gegeben; und nur <strong>de</strong>r Fleißige kann die wahre Schönheit und Freu<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Lebens verspüren. Nur<br />

die Kin<strong>de</strong>r und jungen Menschen erlangen Gottes Wohlgefallen, die frohgemut die häuslichen<br />

Pflichten erfüllen und <strong>de</strong>n Eltern ihre Last tragen helfen. Solche Kin<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n, wenn sie das<br />

Heim verlassen, auch nützliche Glie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Gesellschaft sein.<br />

Während seines ganzen Er<strong>de</strong>nlebens war Jesus eifrig und beständig am Wirken. Weil er viel<br />

erwartete, unternahm er auch viel. Nach<strong>de</strong>m er sein Lehramt angetreten hatte, erklärte er: „Ich<br />

muß wirken die Werke <strong>de</strong>s, <strong>de</strong>r mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da<br />

niemand wirken kann.“ Johannes 9,4. Jesus scheute entgegen vielen seiner angeblichen<br />

Nachfolger we<strong>de</strong>r Sorge noch Verantwortung. Gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>shalb aber, weil sie sich dieser Zucht<br />

entziehen wollen, sind viele schwach und unfähig. Mögen sie auch vortreffliche und<br />

liebenswerte Eigenschaften aufweisen, so sind sie dabei doch kraftlos und nahezu unbrauchbar,<br />

wenn es gilt Schwierigkeiten entgegenzutreten o<strong>de</strong>r Hin<strong>de</strong>rnisse zu überwin<strong>de</strong>n. Wir brauchen<br />

die Zuverlässigkeit und Tatkraft, die Gediegenheit und Lauterkeit, die Christus bewies, und wir<br />

müssen sie in <strong>de</strong>r gleichen Schule lernen, die er durchzustehen hatte. Dann wird auch die<br />

Gna<strong>de</strong>, die er empfing, unser sein!<br />

Solange unser Heiland unter <strong>de</strong>n Menschen weilte, teilte er das Los <strong>de</strong>r Armen. Da er ihre<br />

Sorgen und Nöte aus eigener Erfahrung kannte, vermochte er sie zu trösten und zu ermutigen.<br />

Wer wirklich begriffen hat, was Jesu Leben uns lehrt, wird nie daran <strong>de</strong>nken, irgendwelche<br />

Klassenunterschie<strong>de</strong> zu machen, er wird einen Reichen nicht höher achten als einen würdigen<br />

Armen. Geschickt und mit frohem Mut ging Jesus seiner Arbeit nach. Es verlangt viel Geduld<br />

und Geisteskraft, die Lehren <strong>de</strong>r Heiligen Schrift zu Hause und am Arbeitsplatz zur Geltung zu<br />

bringen und bei aller Anspannung durch irdische Geschäfte die Ehre Gottes im Auge zu<br />

behalten. Darin wird uns Christus zum Helfer. Er ließ sich von weltlichen Sorgen nie so weit in<br />

Anspruch nehmen, daß er keine Zeit mehr gehabt hätte, über ewige Dinge nachzu<strong>de</strong>nken. Oft<br />

brachte er die Freu<strong>de</strong> seines Herzens zum Ausdruck, in<strong>de</strong>m er Psalmen und geistliche Lie<strong>de</strong>r<br />

sang. Dann wie<strong>de</strong>r hörten die Einwohner Nazareths seine Stimme sich in Lobpreis und<br />

Danksagung zu Gott erheben. Durch seinen Gesang hielt er Verbindung mit <strong>de</strong>m Himmel, und<br />

wenn seine Gefährten von ihrer Arbeit mü<strong>de</strong> wur<strong>de</strong>n und klagten, ermunterte er sie durch die<br />

lieblichen Weisen aus seinem Mun<strong>de</strong>. Sein Lobpreis schien die bösen Geister zu bannen und<br />

seine Umgebung wie <strong>de</strong>r Weihrauch mit Wohlgeruch zu erfüllen. <strong>Die</strong> Gedanken seiner Zuhörer<br />

wur<strong>de</strong>n aus ihrer irdischen Gebun<strong>de</strong>nheit in die himmlische Heimat versetzt.<br />

Jesus war <strong>de</strong>r Quell heilsamer Gna<strong>de</strong> für die Welt, und auch während <strong>de</strong>r Zeit seiner<br />

Zurückgezogenheit in Nazareth gingen von seinem Leben Ströme <strong>de</strong>s Mitgefühls und <strong>de</strong>r<br />

40


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Zärtlichkeit aus. <strong>Die</strong> Betagten und Bekümmerten, die Schuldbela<strong>de</strong>nen, die fröhlich-harmlosen<br />

Kin<strong>de</strong>r, die schwache Kreatur in <strong>de</strong>n Hainen und die geduldigen Lasttiere, sie alle wur<strong>de</strong>n<br />

glücklicher durch seine Gegenwart. Er, <strong>de</strong>ssen Machtwort die Welten trug, beugte sich herab,<br />

einem verwun<strong>de</strong>ten Vöglein zu helfen. Es gab nichts, was nicht seiner Beachtung wert o<strong>de</strong>r<br />

seines <strong>Die</strong>nstes würdig gewesen wäre.<br />

Während Jesus so an Weisheit und körperlicher Größe zunahm, nahm er auch zu an Gna<strong>de</strong><br />

bei Gott und <strong>de</strong>n Menschen. Weil er mit allen zu fühlen vermochte, erwarb er sich auch die<br />

Liebe aller. <strong>Die</strong> Atmosphäre von Hoffnung und Mut, die ihn umgab, ließ ihn in je<strong>de</strong>m Heim<br />

zum Segen wer<strong>de</strong>n. Oft for<strong>de</strong>rte man ihn am Sabbat in <strong>de</strong>r Synagoge auf, <strong>de</strong>n vorgeschriebenen<br />

Abschnitt aus <strong>de</strong>n Schriften <strong>de</strong>r Propheten zu lesen. Während er las, wur<strong>de</strong>n die Herzen <strong>de</strong>r<br />

Zuhörer ergriffen, da ihnen ein neues Licht aus <strong>de</strong>n altvertrauten Worten <strong>de</strong>s heiligen Textes<br />

entgegenstrahlte.<br />

Doch Jesus vermied es, Aufsehen zu erregen. Während <strong>de</strong>r vielen Jahre seines Aufenthaltes<br />

in Nazareth ließ er seine Wun<strong>de</strong>r wirken<strong>de</strong> Macht nicht offenbar wer<strong>de</strong>n. Er trachtete we<strong>de</strong>r<br />

nach einer angesehenen Stellung, noch legte er sich hochklingen<strong>de</strong> Namen bei. Still und<br />

beschei<strong>de</strong>n lebte er dahin. Selbst die Schrift schweigt über seine Jugendjahre. Damit erteilt sie<br />

uns eine wichtige Lehre. Je mehr sich das Leben eines Kin<strong>de</strong>s in <strong>de</strong>r Stille und<br />

Zurückgezogenheit — frei von aller vorsätzlichen Beunruhigung und möglichst im Einklang<br />

mit <strong>de</strong>r Natur — abspielt, <strong>de</strong>sto günstiger sind die Aussichten für seine körperliche Erstarkung<br />

und geistige Entwicklung.<br />

Jesus ist unser Vorbild. Doch während sich viele Menschen gern mit <strong>de</strong>r Zeit seines<br />

öffentlichen Wirkens befassen, lassen sie die Lehren seiner Jugendjahre meist unbeachtet. Aber<br />

gera<strong>de</strong> mit seinem Verhalten im häuslichen Kreise ist er <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn und <strong>de</strong>r Jugend ein<br />

Vorbild. Der Heiland wur<strong>de</strong> arm, um uns zu lehren, wie wir auch unter beschei<strong>de</strong>nen<br />

Verhältnissen ein Leben inniger Gemeinschaft mit Gott führen können. Er lebte, seinen Vater<br />

im Getriebe <strong>de</strong>s Alltags zu erfreuen, ihn zu ehren und zu verherrlichen. Er begann seine<br />

Aufgabe damit, daß er <strong>de</strong>m Stan<strong>de</strong> <strong>de</strong>s kleinen Handwerkers, <strong>de</strong>r sich schwer für sein tägliches<br />

Brot abmühen muß, beson<strong>de</strong>re Weihe verlieh. Er diente Gott gera<strong>de</strong>so gut, wenn er an <strong>de</strong>r<br />

Hobelbank schaffte, als wenn er unter <strong>de</strong>r Volksmenge Wun<strong>de</strong>r wirkte. Welches junge<br />

Menschenkind nach <strong>de</strong>m Beispiel Jesu treu und gehorsam <strong>de</strong>n Pflichten seiner einfachen<br />

Häuslichkeit nachkommt, darf daher auch jenes Zeugnis für sich in Anspruch nehmen, das <strong>de</strong>r<br />

Vater durch <strong>de</strong>n Heiligen Geist Jesus ausstellte: „Siehe, das ist mein Knecht — ich halte ihn —<br />

und mein Auserwählter, an <strong>de</strong>m meine Seele Wohlgefallen hat.“ Jesaja 42,1.<br />

41


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 8: Auf <strong>de</strong>m Passahfest<br />

<strong>Die</strong> Ju<strong>de</strong>n betrachteten das zwölfte Lebensjahr als Grenze zwischen Kindheit und Jugend.<br />

Der hebräische Knabe wur<strong>de</strong> nach Vollendung dieses Lebensjahres ein Sohn <strong>de</strong>s Gesetzes und<br />

auch ein Sohn Gottes genannt. Er konnte sich während dieser Zeit beson<strong>de</strong>rs viel mit <strong>de</strong>n<br />

jüdischen Lehren beschäftigen, wie man auch eine rege Beteiligung an <strong>de</strong>n heiligen Festen und<br />

Gebräuchen von ihm erwartete. Es stand also völlig mit <strong>de</strong>n üblichen Gewohnheiten in<br />

Einklang, daß Jesus im Knabenalter das Passahfest in Jerusalem besuchte. Wie alle andächtigen<br />

Israeliten gingen Joseph und Maria je<strong>de</strong>s Jahr nach <strong>de</strong>r Hauptstadt, um <strong>de</strong>r Passahfeier<br />

beizuwohnen. Und als Jesus das gefor<strong>de</strong>rte Alter erreicht hatte, nahmen sie ihn mit. Es waren<br />

jährlich drei Feste, zu <strong>de</strong>nen alle männlichen Israeliten in Jerusalem vor <strong>de</strong>m Herrn erscheinen<br />

mußten: zum Passahfest, zum Pfingstfest und zum Laubhüttenfest. Von diesen großen Festen<br />

wur<strong>de</strong> das Passahfest am meisten besucht. Aus allen Län<strong>de</strong>rn, in <strong>de</strong>nen Ju<strong>de</strong>n verstreut lebten,<br />

kamen sie. Auch aus <strong>de</strong>n einzelnen Gegen<strong>de</strong>n Palästinas strömten die Anbeten<strong>de</strong>n zum Fest.<br />

<strong>Die</strong> Reise von Galiläa nach Jerusalem nahm mehrere Tage in Anspruch; die jüdischen Pilger<br />

schlossen sich unterwegs zu Gruppen zusammen, damit sie nicht allein zu wan<strong>de</strong>rn brauchten<br />

und sich so besser schützen konnten. Frauen und Greise legten <strong>de</strong>n oft steilen und felsigen Weg<br />

auf Ochsen o<strong>de</strong>r Eseln zurück. <strong>Die</strong> kräftigeren Männer und die Jugend reisten zu Fuß. Nach<br />

unserer Jahresrechnung fiel das Passahfest in die Frühlingszeit, En<strong>de</strong> März o<strong>de</strong>r Anfang April;<br />

das ganze Land blühte und duftete, und <strong>de</strong>r Gesang <strong>de</strong>r Vögel verlieh allem einen heiteren<br />

Glanz. Den ganzen Reiseweg entlang trafen sie auf immer neue <strong>de</strong>nkwürdige Orte aus <strong>de</strong>r<br />

Geschichte Israels. <strong>Die</strong> Eltern erzählten dann ihren Kin<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>ren Geschichte und berichteten<br />

von <strong>de</strong>n Wun<strong>de</strong>rtaten Gottes an seinem Volk in <strong>de</strong>r Vergangenheit. Auch verkürzten sie sich die<br />

Reise durch Gesang und Musik. Und als sie schließlich in <strong>de</strong>r Ferne die Türme Jerusalems<br />

auftauchen sahen, erscholl froh begeistert ihr Triumphgesang: „Nun stehen unsere Füße in<br />

<strong>de</strong>inen Toren, Jerusalem ... Es möge Frie<strong>de</strong> sein in <strong>de</strong>inen Mauern<br />

und Glück in <strong>de</strong>inen Palästen!“ Psalm 122,2.7.<br />

Von <strong>de</strong>r Zeit an, da die Hebräer ein selbständiges Volk wur<strong>de</strong>n, begingen sie alljährlich das<br />

Passahfest. Gott hatte ihnen in <strong>de</strong>r letzten Nacht ihrer Gefangenschaft in Ägypten, da nichts auf<br />

die Stun<strong>de</strong> ihrer Befreiung hinzu<strong>de</strong>uten schien, geboten, <strong>de</strong>n sofortigen Auszug vorzubereiten.<br />

Er hatte Pharao vor <strong>de</strong>m Strafgericht, das über die Ägypter kommen sollte, gewarnt und die<br />

Hebräer angewiesen, sich in ihren Häusern zu versammeln, ihre Türpfosten mit <strong>de</strong>m Blut eines<br />

geschlachteten Lammes zu besprengen und das gebratene Lamm mit ungesäuertem Brot und<br />

bitteren Kräutern zu essen. „So sollt ihr‘s aber essen: Um eure Len<strong>de</strong>n sollt ihr gegürtet sein<br />

und eure Schuhe an euren Füßen haben und <strong>de</strong>n Stab in <strong>de</strong>r Hand und sollt es essen als die, die<br />

hinwegeilen; es ist <strong>de</strong>s Herrn Passa.“ 2.Mose 12,11. Und als die Mitternacht über Ägypten<br />

heraufzog, wur<strong>de</strong> alle Erstgeburt <strong>de</strong>r Ägypter erschlagen, und <strong>de</strong>r Pharao sandte die Botschaft<br />

an Israel: „Macht euch auf und ziehet weg aus meinem Volk ... Geht hin und dienet <strong>de</strong>m Herrn,<br />

wie ihr gesagt habt.“ 2.Mose 12,31.<br />

<strong>Die</strong> Hebräer verließen als selbständiges und unabhängiges Volk das Land ihrer Knechtschaft.<br />

Zum Ge<strong>de</strong>nken aber an ihre wun<strong>de</strong>rbare Befreiung gebot ihnen Gott, alljährlich das Passahfest<br />

42


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

zu feiern. „Und wenn eure Kin<strong>de</strong>r zu euch sagen wer<strong>de</strong>n: Was habt ihr da für einen Brauch?,<br />

sollt ihr sagen: Es ist das Passahopfer <strong>de</strong>s Herrn, <strong>de</strong>r an <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn Israel vorüberging in<br />

Ägypten, als er die Ägypter schlug.“ 2.Mose 12,26.27. Allen nachfolgen<strong>de</strong>n Geschlechtern<br />

sollte diese wun<strong>de</strong>rbare Befreiungstat Gottes weitergegeben wer<strong>de</strong>n. Auf das Passahopfer folgte<br />

das sieben Tage dauern<strong>de</strong> Fest <strong>de</strong>r ungesäuerten Brote. Am zweiten Tag dieses Festes wur<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>m Herrn die Erstlingsfrucht <strong>de</strong>r Jahresernte, und zwar eine Garbe Gerste, dargebracht. Alle<br />

Gebräuche dieses Festes versinnbil<strong>de</strong>ten das Werk <strong>Christi</strong>. <strong>Die</strong> Befreiung Israels aus Ägypten<br />

veranschaulichte die Erlösungstat, die durch das Passahfest im Gedächtnis behalten wer<strong>de</strong>n<br />

sollte. Das geschlachtete Lamm, das ungesäuerte Brot und auch die Erstlingsgabe wiesen auf<br />

<strong>de</strong>n Erlöser. Zur Zeit <strong>Christi</strong> war die Feier <strong>de</strong>s Passahfestes bei <strong>de</strong>n meisten Ju<strong>de</strong>n zu einem<br />

bloßen Formendienst herabgesunken. Wie groß aber war die Be<strong>de</strong>utung dieses Festes für <strong>de</strong>n<br />

Sohn Gottes!<br />

Zum erstenmal schaute Jesus <strong>de</strong>n Tempel. Er sah die weißgeklei<strong>de</strong>ten Priester ihren<br />

feierlichen <strong>Die</strong>nst versehen, gewahrte das bluten<strong>de</strong> Opfer auf <strong>de</strong>m Altar und beugte sich mit <strong>de</strong>n<br />

Gläubigen im Gebet, während die Wolke <strong>de</strong>s Weihrauchs zu Gott emporstieg. Jesus erlebte<br />

bewußt die eindrucksvollen Gebräuche <strong>de</strong>s Passahgottesdienstes, <strong>de</strong>ren Be<strong>de</strong>utung ihm von Tag<br />

zu Tag klarer wur<strong>de</strong>. Je<strong>de</strong> Handlung schien mit seinem eigenen Leben in innigstem<br />

Zusammenhang zu stehen. Das alles weckte neue Gedanken in ihm. Still und in sich gekehrt<br />

schien er einem beson<strong>de</strong>ren Problem nachzu<strong>de</strong>nken. Das Geheimnis seiner Sendung wur<strong>de</strong> ihm<br />

bewußt. Überwältigt von <strong>de</strong>n Erlebnissen, die ihm hier begegneten, hatte er sich von <strong>de</strong>r Seite<br />

seiner Eltern entfernt. Er wollte allein sein. <strong>Die</strong> gottesdienstlichen Handlungen waren längst<br />

been<strong>de</strong>t, da hielt er sich noch immer in <strong>de</strong>n Vorhöfen <strong>de</strong>s Tempels auf, und als die jüdischen<br />

Festbesucher Jerusalem wie<strong>de</strong>r verließen, blieb er in <strong>de</strong>r Stadt zurück.<br />

Bei diesem Besuch in Jerusalem wollten Jesu Eltern ihn mit <strong>de</strong>n großen Lehrern Israels<br />

zusammenbringen. Während er in je<strong>de</strong>r Einzelheit <strong>de</strong>m Worte Gottes gehorsam war, richtete er<br />

sich jedoch nicht nach <strong>de</strong>n Bräuchen und Gewohnheiten <strong>de</strong>r Schriftgelehrten. Joseph und Maria<br />

hofften, er wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>n gelehrten Rabbinern mit achtungsvoller Ehrerbietung gegenübertreten<br />

und ihre For<strong>de</strong>rungen mit größerer Sorgfalt beachten. Doch Jesus war im Tempel durch Gott<br />

selbst unterrichtet wor<strong>de</strong>n, und das, was er auf diese Weise empfangen hatte, begann er sogleich<br />

mitzuteilen. Eine mit <strong>de</strong>m Tempel verbun<strong>de</strong>ne Halle diente zu jener Zeit als „Heilige Schule“.<br />

Sie wur<strong>de</strong> nach <strong>de</strong>r Art <strong>de</strong>r alten Prophetenschulen benutzt; die Rabbiner versammelten hier<br />

ihre Schüler um sich. Auch Jesus kam in diese Halle und lauschte, zu <strong>de</strong>n Füßen <strong>de</strong>r<br />

ehrwürdigen und gelehrten Männer sitzend, <strong>de</strong>ren Belehrungen. Als einer, <strong>de</strong>r nach Weisheit<br />

suchte, wollte er von <strong>de</strong>n Rabbinern Aufschluß haben über die alten Weissagungen und über die<br />

gegenwärtigen Ereignisse, die auf das Kommen <strong>de</strong>s Messias hinwiesen.<br />

Sein Verlangen nach Erkenntnis war groß, und seine Fragen rührten an tiefe Wahrheiten, die<br />

seit langem verborgen waren und doch für das Heil <strong>de</strong>r Menschen so große Be<strong>de</strong>utung hatten.<br />

Er zeigte, wie begrenzt und oberflächlich im Grun<strong>de</strong> doch die ganze Weisheit <strong>de</strong>r<br />

Schriftgelehrten war. Je<strong>de</strong> Frage enthielt eine göttliche Lehre und ließ die Wahrheit in einem<br />

neuen Licht erscheinen. <strong>Die</strong> Rabbiner sprachen von <strong>de</strong>r wun<strong>de</strong>rbaren Erhöhung, die das<br />

43


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Erscheinen <strong>de</strong>s Messias <strong>de</strong>m jüdischen Volk bringen wür<strong>de</strong>; Jesus aber verwies auf die<br />

Weissagungen Jesajas und fragte nach <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung jener Schriftstellen, die vom Lei<strong>de</strong>n und<br />

Sterben <strong>de</strong>s Gotteslammes kün<strong>de</strong>ten.<br />

<strong>Die</strong> Schriftgelehrten erwi<strong>de</strong>rten mit Gegenfragen und konnten ihr Erstaunen über seine<br />

Antworten nicht verbergen. Mit <strong>de</strong>r Demut eines Kin<strong>de</strong>s wie<strong>de</strong>rholte Jesus die Worte <strong>de</strong>r<br />

Schrift und gab ihnen eine so tiefe Be<strong>de</strong>utung, daß sie sich davon keine Vorstellung machen<br />

konnten. Hätten sich die Schriftgelehrten zu diesen göttlichen Wahrheiten bekannt, wür<strong>de</strong> das<br />

eine Erneuerung <strong>de</strong>s geistlichen Lebens und eine Wie<strong>de</strong>rgeburt <strong>de</strong>s Glaubens zur Folge gehabt<br />

haben. Bei Jesu Lehrantritt wären dann viele vorbereitet gewesen, ihn anzunehmen. <strong>Die</strong><br />

Rabbiner wußten, daß Jesus nicht in ihren Schulen unterrichtet wor<strong>de</strong>n war; und doch übertraf<br />

er sie in seinem Verständnis <strong>de</strong>r heiligen Schriften bei weitem. <strong>Die</strong>ses Bewußtsein ließ sie<br />

wünschen, daß dieser begabte, nach<strong>de</strong>nkliche Knabe, <strong>de</strong>r zu <strong>de</strong>n schönsten Hoffnungen<br />

berechtigte, ihr Schüler und ein Lehrer in Israel wür<strong>de</strong>. Sie wollten seine weitere Erziehung<br />

übernehmen, da sie nur sich die Fähigkeit zutrauten, einen so schöpferischen Geist richtig<br />

auszubil<strong>de</strong>n.<br />

Jesu Worte waren in die Herzen <strong>de</strong>r Rabbiner gedrungen. Noch nie zuvor hatten Worte aus<br />

menschlichem Mund solche Wirkung auf sie auszuüben vermocht. Gott versuchte diesen<br />

geistigen Führern seines Volkes Licht zu geben; er benutzte dazu das einzige Mittel, durch das<br />

sie erreicht wer<strong>de</strong>n konnten. Stolz wie sie waren, hätten sie sich nie dazu verstehen können,<br />

Belehrungen durch irgendwelche an<strong>de</strong>re anzuerkennen. Und hätten Jesu Worte <strong>de</strong>n Anschein<br />

gehabt, daß er sie belehren wollte, wür<strong>de</strong>n sie ihm gar nicht zugehört haben. So aber<br />

schmeichelten sie sich, ihn zu lehren o<strong>de</strong>r wenigstens seine Kenntnisse in <strong>de</strong>n Schriften zu<br />

prüfen. Jesu Beschei<strong>de</strong>nheit und Anmut entwaffnete ihre Vorurteile. Unbewußt wur<strong>de</strong> so ihr<br />

Verständnis für das Wort Gottes geöffnet, und <strong>de</strong>r Heilige Geist sprach zu ihren Herzen.<br />

<strong>Die</strong> Schriftgelehrten mußten einsehen, daß ihre Erwartungen hinsichtlich <strong>de</strong>s Messias durch<br />

das Wort <strong>de</strong>r Weissagung nicht gestützt wur<strong>de</strong>n. Sie wollten jedoch die Lehrpunkte, die ihrem<br />

Ehrgeiz falsche Hoffnungen erweckt hatten, nicht wi<strong>de</strong>rrufen. Sie wollten nicht zugeben, daß<br />

ihre Auslegung <strong>de</strong>r heiligen Schriften auf Irrtum aufgebaut war. Sie fragten sich gegenseitig:<br />

Woher hat dieser Jüngling sein Wissen, da er doch keine Schule besuchte? Ja, das Licht schien<br />

in <strong>de</strong>r Finsternis, die Finsternis aber „hat‘s nicht ergriffen“. Johannes 1,5.<br />

Unter<strong>de</strong>ssen befan<strong>de</strong>n sich Maria und Joseph in großer Sorge und Unruhe. Beim Verlassen<br />

Jerusalems hatten sie Jesus aus <strong>de</strong>n Augen verloren; sie wußten nicht, daß er in <strong>de</strong>r Stadt<br />

zurückgeblieben war. Das Land war damals dicht bevölkert, und die Karawanen aus Galiläa<br />

waren sehr groß. Es gab viel Durcheinan<strong>de</strong>r, als sie die Stadt verließen. Auf <strong>de</strong>m Wege nahm<br />

die Freu<strong>de</strong>, mit Freun<strong>de</strong>n und Bekannten zu reisen, ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch,<br />

und erst bei Anbruch <strong>de</strong>s Abends bemerkten sie seine Abwesenheit; <strong>de</strong>nn als sie zur Rast<br />

anhielten, vermißten sie die helfen<strong>de</strong> Hand ihres Jungen. Doch sie waren immer noch<br />

unbesorgt, da sie ihn unter ihrer Reisegesellschaft vermuteten. Jung wie er war, hatten sie ihm<br />

blind vertraut, und sie hatten erwartet, daß er, wenn nötig, bereit wäre, ihnen zu helfen, in<strong>de</strong>m<br />

er ihre Wünsche vorausahnte, so wie er es stets getan hatte. Doch nun erwachten ihre Ängste.<br />

44


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Sie suchten ihn überall unter ihrer Reisegesellschaft, aber vergebens. Schau<strong>de</strong>rnd fiel ihnen ein,<br />

wie Hero<strong>de</strong>s versucht hatte, das Jesuskindlein zu töten. Trübe Ahnungen erfüllten ihre Herzen,<br />

und sie machten sich wegen ihrer Sorglosigkeit große Vorwürfe.<br />

Sie kehrten nach Jerusalem zurück und setzten hier ihr Suchen fort. Als sie am nächsten Tag<br />

auch <strong>de</strong>n Tempel aufsuchten und sich unter die Gläubigen mischten, fesselte eine vertraute<br />

Stimme ihre Aufmerksamkeit. Sie konnten sich nicht irren; keine Stimme war <strong>de</strong>r seinen gleich,<br />

so feierlich, ernst und <strong>de</strong>nnoch angenehm klang sie. Sie fan<strong>de</strong>n Jesus in <strong>de</strong>r Schule <strong>de</strong>r<br />

Rabbiner. Trotz ihrer großen Freu<strong>de</strong> konnten sie doch ihre Angst und Sorge nicht gleich<br />

verwin<strong>de</strong>n. Als sie miteinan<strong>de</strong>r allein waren, sagte Maria zu <strong>de</strong>m Knaben, und ein leiser<br />

Vorwurf schwang in ihren Worten: „Mein Sohn, warum hast du uns das getan? Siehe, <strong>de</strong>in<br />

Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht.“ Lukas 2,48.<br />

„Was ist‘s, daß ihr mich gesucht habt?“ erwi<strong>de</strong>rte Jesus. „Wisset ihr nicht, daß ich sein muß<br />

in <strong>de</strong>m, das meines Vaters ist?“ Lukas 2,49. Dabei zeigte er nach oben, weil er sah, daß Maria<br />

und Joseph seine Worte nicht verstan<strong>de</strong>n. Sein Angesicht glänzte, so daß die Eltern sich<br />

wun<strong>de</strong>rten. <strong>Die</strong> Gottheit Jesu durchleuchtete <strong>de</strong>n Menschensohn. Als sie ihn im Tempel fan<strong>de</strong>n,<br />

hatten auch sie <strong>de</strong>m gelauscht, was sich zwischen ihm und <strong>de</strong>n Schriftgelehrten abspielte, und<br />

sie hatten sich über seine Fragen und Antworten gewun<strong>de</strong>rt. Seine Worte weckten in ihnen eine<br />

Reihe von Gedanken, die sie niemals wie<strong>de</strong>r vergessen konnten.<br />

Seine Frage an sie erteilte ihnen eine Lektion. „Wisset ihr nicht, daß ich sein muß in <strong>de</strong>m,<br />

das meines Vaters ist?“ Lukas 2,49. Jesus war dabei, das zu erfüllen, wozu er in die Welt<br />

gekommen war, doch Joseph und Maria hatten ihre Aufgabe vernachlässigt. Gott hatte ihnen<br />

große Ehre erwiesen, in<strong>de</strong>m er ihnen seinen Sohn anvertraute. Heilige Engel hatten <strong>de</strong>n<br />

Lebensweg Josephs gelenkt, um Jesu Leben zu schützen. Dennoch hatten Joseph und Maria für<br />

einen ganzen Tag <strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>n Augen verloren, <strong>de</strong>n sie doch keinen Augenblick vergessen<br />

sollten. Und als ihre Besorgnis sich endlich als grundlos erwies, haben sie nicht etwa sich selbst<br />

Vorwürfe gemacht, son<strong>de</strong>rn ihm die Schuld gegeben. Es war verständlich, daß Maria und<br />

Joseph Jesus als ihr eigenes Kind betrachteten. Er war täglich bei ihnen, sein Leben glich in<br />

vieler Hinsicht <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Kin<strong>de</strong>r, so daß es ihnen schwer fiel, in ihm <strong>de</strong>n Sohn Gottes zu<br />

sehen. Sie liefen Gefahr, die ihnen gewährte Segnung <strong>de</strong>r Gegenwart <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r Welt zu<br />

unterschätzen. Der Schmerz, <strong>de</strong>n sie bei <strong>de</strong>r Trennung von ihm empfan<strong>de</strong>n, und <strong>de</strong>r gelin<strong>de</strong><br />

Vorwurf, <strong>de</strong>n seine Worte enthielten, sollte ihnen die Heiligkeit <strong>de</strong>s ihnen Anvertrauten<br />

eindringlich nahebringen.<br />

In <strong>de</strong>r Antwort an seine Mutter zeigte Jesus zum ersten Mal, daß ihm seine enge Beziehung<br />

zu Gott bewußt war. Vor seiner Geburt hatte <strong>de</strong>r Engel zu Maria gesagt: „Der wird groß sein<br />

und ein Sohn <strong>de</strong>s Höchsten genannt wer<strong>de</strong>n; und Gott <strong>de</strong>r Herr wird ihm <strong>de</strong>n Thron seines<br />

Vaters David geben, und er wird ein König sein über das Haus Jakob ewiglich.“ Lukas 1,32.33.<br />

<strong>Die</strong>se Worte hatte Maria in ihrem Herzen hin und her bewegt; doch während sie daran glaubte,<br />

daß ihr Kind <strong>de</strong>r Messias Israels sein sollte, blieb ihr seine Sendung unverständlich. Auch jetzt<br />

begriff sie seine Worte nicht, doch sie wußte, daß er auf seine verwandtschaftliche Bindung zu<br />

Joseph verzichtet und sich als Sohn Gottes bekannt hatte.<br />

45


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Jesus verleugnete keineswegs seine enge Beziehung zu seinen irdischen Eltern. Er kehrte mit<br />

ihnen von Jerusalem nach Hause zurück und half ihnen auch bei ihren Alltagspflichten. Das<br />

Geheimnis seines Auftrags verbarg er in seinem Herzen und wartete gehorsam auf <strong>de</strong>n<br />

vorgesehenen Zeitpunkt, um sein Werk aufzunehmen. Achtzehn Jahre lang, seit er sich als <strong>de</strong>r<br />

Sohn Gottes zu erkennen gegeben hatte, achtete er die Bindung, die ihn eng mit <strong>de</strong>m Zuhause in<br />

Nazareth verband, und erfüllte gewissenhaft die Pflichten eines Sohnes, Bru<strong>de</strong>rs, Freun<strong>de</strong>s und<br />

Bürgers.<br />

Als Jesus im Tempel mit seiner Aufgabe vertraut gemacht wor<strong>de</strong>n war, zog er sich von <strong>de</strong>r<br />

Menge zurück. Er wünschte ohne Aufhebens mit jenen von Jerusalem nach Hause<br />

zurückzukehren, die das Geheimnis seines Lebens kannten. Durch <strong>de</strong>n Passahgottesdienst<br />

wollte Gott sein Volk von seinen irdischen Sorgen ablenken und sie an sein wun<strong>de</strong>rbares<br />

Eingreifen erinnern, als er sie aus <strong>de</strong>r Hand <strong>de</strong>r Ägypter befreite. In diesem Geschehen sollten<br />

sie eine Verheißung <strong>de</strong>r Befreiung von <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> erkennen. Wie das Blut <strong>de</strong>s getöteten<br />

Lammes ihre Häuser in Ägypten geschützt hatte, so sollte auch das Blut <strong>Christi</strong> ihre Seelen<br />

bewahren. Doch sie konnten durch Christus nur gerettet wer<strong>de</strong>n, in<strong>de</strong>m sie wahrhaft seinem<br />

Leben nacheiferten. Das war <strong>de</strong>r Sinn <strong>de</strong>s symbolischen <strong>Die</strong>nstes, <strong>de</strong>r die<br />

Gottesdienstteilnehmer zu Christus als ihrem persönlichen Heiland wies. Gott wollte, daß sie<br />

dahin kommen sollten, über <strong>Christi</strong> Sendung voller Andacht nachzu<strong>de</strong>nken. Doch sobald die<br />

Menge Jerusalem verließ, nahmen die Aufregung <strong>de</strong>r Reise und <strong>de</strong>r gesellige Umgang allzuoft<br />

ihre ganze Aufmerksamkeitin Anspruch, so daß <strong>de</strong>r Gottesdienst, <strong>de</strong>n sie erlebt hatten, bald<br />

vergessen war. Der Heiland war für ihre Gesellschaft nicht interessant genug.<br />

Da Joseph und Maria mit Jesus allein von Jerusalem zurückkehren wür<strong>de</strong>n, hoffte er ihre<br />

Gedanken auf die Weissagungen von <strong>de</strong>m lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Heiland lenken zu können. Auf Golgatha<br />

suchte er <strong>de</strong>n Schmerz seiner Mutter zu lin<strong>de</strong>rn. Jetzt nun mußte er beson<strong>de</strong>rs an sie <strong>de</strong>nken.<br />

Maria wür<strong>de</strong> Zeugin seines letzten Ringens sein, und Jesus wollte, daß sie seine Sendung<br />

verstand, damit sie darin bestärkt wür<strong>de</strong>, auszuharren, wenn das Schwert ihre Seele<br />

durchdringen wür<strong>de</strong>. Lukas 2,35. Wie Jesus von ihr getrennt wor<strong>de</strong>n war, und sie ihn mit<br />

Schmerzen drei Tage gesucht hatte, so wäre er auch dann wie<strong>de</strong>r für sie drei Tage<br />

verlorengegangen, wenn er für die Sün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Welt geopfert wür<strong>de</strong>. Und wenn er aus <strong>de</strong>m Grab<br />

käme, wür<strong>de</strong> sich ihre Trauer wie<strong>de</strong>r in Freu<strong>de</strong> verwan<strong>de</strong>ln. Doch wieviel besser wür<strong>de</strong> sie <strong>de</strong>n<br />

Schmerz über seinen Tod ertragen haben, wenn sie die Texte verstan<strong>de</strong>n hätte, auf die er jetzt<br />

ihre Gedanken zu lenken suchte!<br />

Hätten sich Maria und Joseph durch ein eifriges und innigeres Gebetsleben mit Gott<br />

verbun<strong>de</strong>n, so wür<strong>de</strong>n sie die Heiligkeit <strong>de</strong>s ihnen anvertrauten Jünglings besser erkannt haben,<br />

und sie hätten Jesus nimmermehr aus <strong>de</strong>n Augen verloren. Durch die Nachlässigkeit eines<br />

Tages verloren sie <strong>de</strong>n Heiland, und sie mußten drei Tage mit Kummer und Sorgen suchen, ehe<br />

sie ihn wie<strong>de</strong>rfan<strong>de</strong>n. So ergeht es auch uns. Durch unnützes, törichtes Geschwätz o<strong>de</strong>r durch<br />

Vernachlässigen <strong>de</strong>s Gebets können wir in kurzer Zeit die Gegenwart <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s verlieren,<br />

und es mögen dann viele Tage schmerzlichen Suchens vergehen, ehe wir ihn wie<strong>de</strong>rfin<strong>de</strong>n und<br />

auch <strong>de</strong>n verlorenen Frie<strong>de</strong>n wie<strong>de</strong>r gewinnen.<br />

46


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Wir müssen auch in unserem Verkehr miteinan<strong>de</strong>r darauf bedacht sein, Jesus nicht aus <strong>de</strong>n<br />

Augen zu verlieren o<strong>de</strong>r ganz zu vergessen. Lassen wir uns von <strong>de</strong>n irdischen Dingen so sehr in<br />

Anspruch nehmen, daß wir keine Gedanken mehr für ihn haben, in <strong>de</strong>m doch unsere ganze<br />

Hoffnung auf ein ewiges Leben gipfelt, trennen wir uns von <strong>de</strong>m Herrn und seinen himmlischen<br />

Heerscharen. <strong>Die</strong>se heiligen Wesen können nicht sein, wo <strong>de</strong>r Heiland unerwünscht ist und wo<br />

seine Abwesenheit nicht bemerkt wird. Darum ist auch bei <strong>de</strong>n Namenschristen häufig eine so<br />

überaus große geistliche Entmutigung zu fin<strong>de</strong>n. Viele wohnen einer gottesdienstlichen<br />

Handlung bei und wer<strong>de</strong>n durch das Wort Gottes erfrischt und belebt. Weil sie aber zuwenig<br />

nach<strong>de</strong>nken, zuwenig „wachen und beten“, verlieren sie bald wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Segen und fühlen sich<br />

verlassener als je zuvor. Oft glauben sie dann, Gott behandle sie zu hart; sie sehen nicht, daß die<br />

Schuld allein bei ihnen liegt. In<strong>de</strong>m sie sich von <strong>de</strong>m Heiland trennten, haben sie auch das Licht<br />

seiner Gegenwart ausgeschlossen.<br />

Es wür<strong>de</strong> für uns gut sein, täglich eine stille Stun<strong>de</strong> über das Leben Jesu nachzu<strong>de</strong>nken. Wir<br />

sollten das ganze Erleben Jesu auf Er<strong>de</strong>n in allen Einzelheiten, beson<strong>de</strong>rs aber die letzten Tage,<br />

an unserem inneren Auge vorüberziehen lassen. Wenn wir in dieser Weise bei <strong>de</strong>m Opfer<br />

verweilen, das er für uns gebracht hat, wird unser Vertrauen zu ihm wachsen, unsere Liebe zu<br />

ihm lebendiger wer<strong>de</strong>n, und am En<strong>de</strong> wer<strong>de</strong>n wir tiefer mit seinem guten Geist erfüllt sein.<br />

Wenn wir gerettet wer<strong>de</strong>n wollen, müssen wir am Fuße <strong>de</strong>s Kreuzes Reue und wahre Demut<br />

lernen. In<strong>de</strong>m wir miteinan<strong>de</strong>r verbun<strong>de</strong>n sind, wer<strong>de</strong>n wir uns gegenseitig zum Segen sein.<br />

Wenn wir Christus angehören, wer<strong>de</strong>n unsere lieblichsten Gedanken von seinem Geist erfüllt<br />

sein. Wir wer<strong>de</strong>n gern von ihm sprechen, und in<strong>de</strong>m wir einan<strong>de</strong>r von seiner Liebe erzählen,<br />

wer<strong>de</strong>n unsere Herzen durch göttlichen Einfluß angerührt wer<strong>de</strong>n . In<strong>de</strong>m wir die Schönheit<br />

seines Wesens betrachten, wer<strong>de</strong>n wir „verklärt in sein Bild von einer Herrlichkeit zur<br />

an<strong>de</strong>rn“. 2.Korinther 3,18.<br />

47


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 9: Tage <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung<br />

Von klein auf war das jüdische Kind von <strong>de</strong>n For<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Rabbiner gleichsam<br />

eingeschlossen. Strenge Vorschriften regelten je<strong>de</strong> Handlung bis zu <strong>de</strong>n geringfügigsten Dingen<br />

<strong>de</strong>s Lebens. In <strong>de</strong>n Synagogen unterrichteten Lehrer die Jugend in <strong>de</strong>n zahllosen Satzungen,<br />

<strong>de</strong>ren Befolgung von ihr als rechtgläubige Ju<strong>de</strong>n erwartet wur<strong>de</strong>. Doch Jesus konnte <strong>de</strong>m nichts<br />

abgewinnen. Von Kindheit an han<strong>de</strong>lte er unabhängig von <strong>de</strong>n Gesetzen <strong>de</strong>r Rabbiner. Sein<br />

ständiges Studium galt <strong>de</strong>n Schriften <strong>de</strong>s Alten Testaments, und die Worte: „So spricht <strong>de</strong>r<br />

Herr“ führte er stets im Mun<strong>de</strong>.<br />

Als ihm die Lage seines Volkes zum Bewußtsein kam, stellte er fest, daß die Erfor<strong>de</strong>rnisse<br />

<strong>de</strong>r Gesellschaft und die Gebote Gottes in ständigem Wi<strong>de</strong>rspruch miteinan<strong>de</strong>r stan<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong><br />

Menschen wandten sich vom Worte Gottes ab und begeisterten sich für selbsterfun<strong>de</strong>ne Lehren.<br />

Sie richteten sich nach traditionellen Bräuchen, die keinerlei Wert besaßen. Ihr Gottesdienst<br />

bestand lediglich aus Zeremonien; doch die heiligen Wahrheiten, die diese lehren sollten,<br />

blieben <strong>de</strong>n Anbeten<strong>de</strong>n verborgen. Jesus erkannte, daß die Menschen bei diesem glaubenslosen<br />

Gottesdienst keinen Frie<strong>de</strong>n fan<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> Freiheit <strong>de</strong>s Geistes, die ihnen zuteil wür<strong>de</strong>, wenn sie<br />

Gott in Wahrheit dienten, war ihnen unbekannt. Jesus war gekommen, um die Menschen zu<br />

lehren, was Anbetung Gottes be<strong>de</strong>utet. Er konnte <strong>de</strong>shalb <strong>de</strong>r Vermengung menschlicher<br />

Vorschriften mit <strong>de</strong>n göttlichen Geboten nicht zustimmen. Zwar griff er die Weisungen und<br />

Handlungen <strong>de</strong>r gelehrten Lehrer nicht an, wur<strong>de</strong> er aber wegen seiner eigenen schlichten<br />

Gewohnheiten geta<strong>de</strong>lt, dann rechtfertigte er sein Verhalten durch Gottes Wort.<br />

<strong>Die</strong> Menschen, mit <strong>de</strong>nen Jesus in Berührung kam, versuchte er durch ein ruhiges und<br />

entgegenkommen<strong>de</strong>s Verhalten zu erfreuen. Wegen seines sanftmütigen und zurückhalten<strong>de</strong>n<br />

Wesens meinten die Schriftgelehrten und Ältesten ihn leicht durch ihre Lehren beeinflussen zu<br />

können. Sie drängten ihn, doch die Lehren und Überlieferungen anzunehmen, die von <strong>de</strong>n<br />

Schriftgelehrten aus alter Zeit übermittelt wor<strong>de</strong>n waren; er aber fragte nach <strong>de</strong>ren Grund in <strong>de</strong>r<br />

Heiligen Schrift. Er war stets gewillt, auf je<strong>de</strong>s Wort zu hören, das aus <strong>de</strong>m Mun<strong>de</strong> Gottes kam,<br />

er wollte aber keinen menschlichen Überlieferungen gehorchen. Jesus schien die gesamte<br />

Heilige Schrift zu kennen, und er bot sie ihnen in ihrer wahren Be<strong>de</strong>utung dar. <strong>Die</strong><br />

Schriftgelehrten waren beschämt, daß ein Kind sie belehrte. Sie erklärten, daß es ihres Amtes<br />

sei, die Schrift auszulegen, und daß er verpflichtet sei, ihre Auslegung anzunehmen. Sie waren<br />

unwillig darüber, daß er ihren Worten Wi<strong>de</strong>rstand entgegensetzte.<br />

Sie wußten, daß ihre Traditionen in <strong>de</strong>r Schrift nicht begrün<strong>de</strong>t waren, und sie erkannten<br />

wohl, daß Jesus ihnen mit seinem geistlichen Verständnis weit voraus war. Dennoch waren sie<br />

verärgert, weil er ihren Satzungen nicht gehorchte. Als sie ihn nicht zu überzeugen vermochten,<br />

suchten sie Joseph und Maria auf und teilten diesen mit, daß Jesus sich weigere, ihren<br />

Vorstellungen zu folgen. Also wur<strong>de</strong> er geta<strong>de</strong>lt und gerügt. Schon sehr bald hatte Jesus seine<br />

Charakterbildung in die eigene Hand genommen. Selbst die Achtung vor seinen Eltern und die<br />

Liebe zu ihnen brachte ihn nicht vom Gehorsam gegenüber <strong>de</strong>m Worte Gottes ab. Han<strong>de</strong>lte er<br />

an<strong>de</strong>rs, als es sonst in <strong>de</strong>r Familie üblich war, so begrün<strong>de</strong>te er dies mit einem „Es steht<br />

48


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

geschrieben“. Der Einfluß <strong>de</strong>r Rabbiner erschwerte jedoch sein Leben. Bereits in jungen Jahren<br />

mußte er die harte Lektion lernen, zu schweigen und geduldig auszuharren.<br />

Seine Brü<strong>de</strong>r, wie die Söhne Josephs genannt wur<strong>de</strong>n, stellten sich auf die Seite <strong>de</strong>r<br />

Rabbiner. Sie bestan<strong>de</strong>n darauf, daß die Überlieferungen ebenso befolgt wer<strong>de</strong>n müßten wie die<br />

Gebote Gottes. Ja, sie schätzten diese Vorschriften sogar höher als Gottes Wort. Jesu klare<br />

Unterscheidung zwischen falsch und wahr empfan<strong>de</strong>n sie als großes Ärgernis; seinen strikten<br />

Gehorsam gegenüber <strong>de</strong>m göttlichen Gesetz verurteilten sie als Eigensinn. Sie waren allerdings<br />

überrascht, welche Kenntnis und welches Wissen er an <strong>de</strong>n Tag legte, wenn er <strong>de</strong>n Rabbinern<br />

antwortete, wußten sie doch, daß er von diesen weisen Männern nicht unterwiesen wor<strong>de</strong>n war.<br />

Es war vielmehr offensichtlich, daß er selbst sie belehrte. Daß Jesu Ausbildung besser war als<br />

ihre eigene, erkannten sie wohl, doch nahmen sie nicht wahr, daß er Zugang zum Lebensbaum<br />

besaß, zu einer Erkenntnisquelle, die ihnen fremd war.<br />

Christus son<strong>de</strong>rte sich nicht ab und hatte gera<strong>de</strong> dadurch <strong>de</strong>n Pharisäern erheblichen Anstoß<br />

gegeben, daß er in dieser Beziehung von ihren strengen Regeln abwich. Er stellte fest, daß <strong>de</strong>r<br />

Bereich <strong>de</strong>r Religion von hohen Mauern umschlossen war, als sei er zu heilig für das<br />

Alltagsleben. <strong>Die</strong>se Trennmauern riß er nie<strong>de</strong>r; <strong>de</strong>nn wenn er mit Menschen in Berührung kam,<br />

fragte er nicht: „Was glaubst du? Welcher Religionsgemeinschaft gehörst du an?“ Er half<br />

vielmehr allen, die Hilfe brauchten. Statt sich wie ein Einsiedler abzuson<strong>de</strong>rn, um dadurch sein<br />

frommes Wesen sehen zu lassen, wirkte er ernsthaft zum Wohle <strong>de</strong>r Menschen. Er schärfte<br />

ihnen <strong>de</strong>n Grundsatz ein, daß schriftgemäße Religion nicht in <strong>de</strong>r Abtötung <strong>de</strong>s Leibes bestehe<br />

und daß reine und unbefleckte Religion nicht nur zu beson<strong>de</strong>ren Zeiten und bei beson<strong>de</strong>ren<br />

Anlässen ausgeübt wer<strong>de</strong>n sollte. Immer und überall bekun<strong>de</strong>te er sein liebevolles Interesse für<br />

die Menschen und verbreitete das Licht einer heiteren Frömmigkeit um sich. Den Pharisäern<br />

war all dies anstößig; <strong>de</strong>nn es brachte an <strong>de</strong>n Tag, daß Religion nicht aus Selbstsucht besteht<br />

und daß ihre krankhafte pharisäische Hingabe an das eigene Interesse weit von wahrer<br />

Frömmigkeit entfernt ist. Das hatte ihre Feindschaft gegen Jesus geweckt, <strong>de</strong>nn sie wollten ihn<br />

unbedingt zum Gehorsam gegenüber ihren Satzungen zwingen.<br />

Je<strong>de</strong>s Leid, das Jesus sah, versuchte er zu lin<strong>de</strong>rn. Er konnte zwar nur wenig Geld spen<strong>de</strong>n,<br />

dafür verzichtete er häufig auf Nahrung, um <strong>de</strong>nen zu helfen, die bedürftiger zu sein schienen<br />

als er. Seine Brü<strong>de</strong>r spürten, daß sein Einfluß <strong>de</strong>n ihrigen bei weitem aufwog. Er verfügte über<br />

ein Taktgefühl wie niemand von ihnen, ja, keiner trug danach Verlangen. Wenn sie arme und<br />

nie<strong>de</strong>rgedrückte Menschen barsch angefahren hatten, dann suchte Jesus gera<strong>de</strong> sie mit<br />

ermutigen<strong>de</strong>n Worten wie<strong>de</strong>r aufzurichten. Wer in Not war, <strong>de</strong>n erquickte er mit einem Trunk<br />

kühlen Wassers und gab wie selbstverständlich für ihn die eigene Mahlzeit hin. Wenn er Leid<br />

lin<strong>de</strong>rte, dann paßten die Wahrheiten, die er verkün<strong>de</strong>te, genau zu seinen Liebestaten und<br />

prägten sich so <strong>de</strong>m Gedächtnis fest ein.<br />

<strong>Die</strong>s alles mißfiel seinen Brü<strong>de</strong>rn. Weil sie älter waren als er, meinten sie, er müsse ihnen<br />

gehorchen. Deshalb warfen sie ihm vor, er bil<strong>de</strong> sich ein, ihnen überlegen zu sein, und ta<strong>de</strong>lten<br />

ihn, er stelle sich über ihre Lehrer, die Priester und die Oberen <strong>de</strong>s Volkes. Oft bedrohten sie<br />

ihn und versuchten sogar, ihn einzuschüchtern. Er aber ließ sich nicht darin beirren, nur <strong>de</strong>n<br />

49


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

heiligen Schriften zu folgen.Jesus liebte seine Brü<strong>de</strong>r und war gleichbleibend freundlich zu<br />

ihnen. Sie jedoch waren eifersüchtig auf ihn und zeigten ihm offen ihren Unglauben und ihre<br />

Verachtung. Sie konnten sein Verhalten einfach nicht begreifen, spürten sie doch die großen<br />

Gegensätze in seinem Leben. Einmal war er als Sohn Gottes göttlichen Wesens, an<strong>de</strong>rerseits<br />

aber war er ein hilfloses Kind. Ihm als Weltenschöpfer gehörte die Er<strong>de</strong>, an<strong>de</strong>rerseits war die<br />

Armut sein ständiger Lebensbegleiter. Seine Wür<strong>de</strong> und sein Persönlichkeitsbewußtsein hatten<br />

nichts mit irdischem Stolz und Hochmut zu tun. Er strebte nicht nach weltlicher Größe, son<strong>de</strong>rn<br />

war mit <strong>de</strong>r niedrigsten Stellung zufrie<strong>de</strong>n. Auch darüber ärgerten sich seine Brü<strong>de</strong>r. Sie<br />

konnten sich seine heitere Ruhe bei allen Prüfungen und Entbehrungen nicht erklären, wußten<br />

sie doch nicht, daß er unserthalben arm gewor<strong>de</strong>n war, damit wir „durch seine Armut reich“<br />

wür<strong>de</strong>n. 2.Korinther 8,9. Das Geheimnis seiner Sendung konnten sie nicht besser verstehen als<br />

die Freun<strong>de</strong> Hiobs <strong>de</strong>ssen Erniedrigung und Lei<strong>de</strong>n.<br />

Jesus wur<strong>de</strong> von seinen Brü<strong>de</strong>rn mißverstan<strong>de</strong>n, weil er an<strong>de</strong>rs war als sie. Sein Maßstab war<br />

nicht <strong>de</strong>r ihrige. Weil sie auf Menschen schauten, hatten sie sich von Gott abgekehrt, <strong>de</strong>ssen<br />

Kraft ihrem Leben ermangelte. <strong>Die</strong> religiösen Formen, die sie beachteten, vermochten <strong>de</strong>n<br />

Charakter nicht zu än<strong>de</strong>rn. Zwar verzehnteten sie „Minze, Dill und Kümmel“, ließen aber „das<br />

Wichtigste im Gesetz, nämlich das Recht, die Barmherzigkeit und <strong>de</strong>n Glauben“,<br />

dahinten. Matthäus 23,23. Jesu Beispiel war ihnen ein ständiges Ärgernis; <strong>de</strong>nn er haßte nur<br />

eines auf <strong>de</strong>r Welt — die Sün<strong>de</strong>. Wur<strong>de</strong> er Zeuge eines Unrechts, so konnte er <strong>de</strong>n Schmerz,<br />

<strong>de</strong>n er darüber empfand, nicht verbergen. Unübersehbar war <strong>de</strong>r Gegensatz zwischen <strong>de</strong>n nur<br />

äußerlich Frommen, die hinter <strong>de</strong>m Schein <strong>de</strong>r Heiligkeit die Liebe zur Sün<strong>de</strong> versteckten, und<br />

einem Charakter, <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Eifer um die Ehre Gottes über alles ging. Weil durch sein Leben das<br />

Böse verurteilt wur<strong>de</strong>, stieß Jesus innerhalb und außerhalb seiner Familie auf Wi<strong>de</strong>rspruch.<br />

Seiner Selbstlosigkeit und Rechtschaffenheit wegen wur<strong>de</strong> er verhöhnt. Seine Nachsicht und<br />

Freundlichkeit wur<strong>de</strong> als Feigheit ge<strong>de</strong>utet.<br />

Von all <strong>de</strong>r Bitternis, die das Los <strong>de</strong>r meisten Menschen ist, blieb Christus nichts erspart. Es<br />

gab Menschen, die ihn wegen seiner Geburt verachteten. Schon als Kind bedachten sie ihn mit<br />

verächtlichen Blicken und übler Nachre<strong>de</strong>. Hätte er auch nur mit einem einzigen ungeduldigen<br />

Wort o<strong>de</strong>r Blick darauf reagiert o<strong>de</strong>r hätte er seinen Brü<strong>de</strong>rn gegenüber durch ein einziges<br />

Unrecht nachgegeben, dann wäre er kein makelloses Vorbild mehr gewesen. Dann aber hätte er<br />

<strong>de</strong>n Plan zu unserer Erlösung nicht durchführen können. Hätte er eingeräumt, daß es für die<br />

Sün<strong>de</strong> eine Entschuldigung gäbe, dann wäre Satan Sieger gewor<strong>de</strong>n und die Welt<br />

verlorengegangen. Aus diesem Grun<strong>de</strong> gestaltete <strong>de</strong>r Versucher Jesu Leben so schwierig wie<br />

möglich, um ihn zur Sün<strong>de</strong> zu verführen.<br />

Auf je<strong>de</strong> Versuchung antwortete Jesus jedoch: „Es steht geschrieben!“ Selten ta<strong>de</strong>lte er das<br />

Unrecht seiner Brü<strong>de</strong>r, es sei <strong>de</strong>nn, er hatte ihnen ein Wort Gottes auszurichten. Oft wur<strong>de</strong> er<br />

<strong>de</strong>r Feigheit bezichtigt, weil er sich weigerte, in bösen Dingen mit ihnen gemeinsame Sache zu<br />

machen. Auch dann lautete seine Antwort: Es steht geschrieben: „Siehe, die Furcht <strong>de</strong>s Herrn,<br />

das ist Weisheit, und mei<strong>de</strong>n das Böse, das ist Einsicht.“ Hiob 28,28. Manche suchten seine<br />

Gesellschaft; <strong>de</strong>nn sie fühlten sich bei ihm geborgen. Viele jedoch mie<strong>de</strong>n ihn, weil sie sich<br />

50


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

durch sein makelloses Leben geta<strong>de</strong>lt vorkamen. Seine jugendlichen Kamera<strong>de</strong>n drängten ihn,<br />

so zu leben wie sie. Sie hielten sich gern in seiner Nähe auf, weil er heiter und fröhlich war, und<br />

sie freuten sich über seine Anregungen. Seine Gewissensbe<strong>de</strong>nken wiesen sie jedoch mit<br />

Ungeduld zurück und behaupteten, er sei engherzig und verbohrt. Auch darauf lautete Jesu<br />

Antwort: Es steht geschrieben: „Wie wird ein junger Mann seinen Weg unsträflich gehen?<br />

Wenn er sich hält an <strong>de</strong>ine Worte ... Ich behalte <strong>de</strong>in Wort in meinem Herzen, damit ich nicht<br />

wi<strong>de</strong>r dich sündige.“ Psalm 119,9.11.<br />

Oft fragte man ihn: Warum willst du eigentlich in allen Dingen unbedingt an<strong>de</strong>rs sein als<br />

wir? Es steht geschrieben, entgegnete er: „Wohl <strong>de</strong>nen, die ohne Ta<strong>de</strong>l leben, die im Gesetz <strong>de</strong>s<br />

Herrn wan<strong>de</strong>ln! Wohl <strong>de</strong>nen, die sich an seine Mahnungen halten, die ihn von ganzem Herzen<br />

suchen, die auf seinen Wegen wan<strong>de</strong>ln und kein Unrecht tun.“ Psalm 119,1-3. Fragte man ihn,<br />

weshalb er nicht an <strong>de</strong>n Possen <strong>de</strong>r jungen Leute von Nazareth teilnahm, antwortete er: Es steht<br />

geschrieben: „Ich freue mich über <strong>de</strong>n Weg, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>ine Mahnungen zeigen, wie über großen<br />

Reichtum. Ich re<strong>de</strong> von <strong>de</strong>m, was du befohlen hast, und schaue auf <strong>de</strong>ine Wege. Ich habe<br />

Freu<strong>de</strong> an <strong>de</strong>inen Satzungen und vergesse <strong>de</strong>ine Worte nicht.“ Psalm 119,14-16. Jesus kämpfte<br />

nicht um sein Recht. Oft wur<strong>de</strong> ihm seine Arbeit unnötig erschwert, weil er entgegenkommend<br />

war und sich nicht beklagte. Er gab aber we<strong>de</strong>r auf, noch ließ er sich entmutigen. Er war über<br />

solche Schwierigkeiten erhaben, als lebte er im Licht <strong>de</strong>s Angesichtes Gottes. Er rächte sich<br />

auch nicht, wenn man ihn grob behan<strong>de</strong>lte, son<strong>de</strong>rn ertrug alle Beleidigungen mit Geduld.<br />

Immer wie<strong>de</strong>r wollte man von ihm wissen: Weshalb läßt du dich eigentlich so schlecht<br />

behan<strong>de</strong>ln, und das sogar von <strong>de</strong>inen Brü<strong>de</strong>rn? Er antwortete, daß geschrieben steht: „Mein<br />

Sohn, vergiß meine Weisungen nicht, und <strong>de</strong>in Herz behalte meine Gebote, <strong>de</strong>nn sie wer<strong>de</strong>n dir<br />

langes Leben bringen und gute Jahre und Frie<strong>de</strong>n; Gna<strong>de</strong> und Treue sollen dich nicht verlassen.<br />

Hänge meine Gebote an <strong>de</strong>inen Hals und schreibe sie auf die Tafel <strong>de</strong>ines Herzens, so wirst du<br />

Freundlichkeit und Klugheit erlangen, die Gott und <strong>de</strong>n Menschen gefallen.“ Sprüche 3,1-<br />

4. Seit Jesu Eltern ihn im Tempel gefun<strong>de</strong>n hatten, war ihnen sein Verhalten ein Rätsel. Er ließ<br />

sich nicht auf Streitereien ein, sein Verhalten aber war eine ständige Belehrung. Er schien<br />

abseits von <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn zu leben. Glückliche Stun<strong>de</strong>n erlebte er, wenn er in <strong>de</strong>r Natur und mit<br />

Gott allein war. Sobald es möglich war, verließ er seinen Arbeitsplatz, um durch die Fel<strong>de</strong>r zu<br />

streifen, in grünen Tälern frommen Gedanken nachzusinnen o<strong>de</strong>r am Berghang unter<br />

Wal<strong>de</strong>sbäumen Gemeinschaft mit Gott zu pflegen. Oft weilte er bereits am frühen Morgen in<br />

<strong>de</strong>r Einsamkeit, in Nachsinnen versunken, die Schrift durchforschend o<strong>de</strong>r auch im Gebet. Nach<br />

solchen Stun<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Ruhe kehrte er nach Hause zurück, nahm seine Pflichten wie<strong>de</strong>r auf und<br />

gab ein Beispiel geduldiger Pflichterfüllung.<br />

Merkmale <strong>de</strong>s Lebens Jesu waren seine Ehrerbietung und Liebe zu seiner Mutter. Maria<br />

glaubte in ihrem Herzen, daß das heilige Kind, das sie zur Welt gebracht hatte, <strong>de</strong>r<br />

langverheißene Messias sei, wagte es aber nicht, dies laut zu sagen. Während seines<br />

Er<strong>de</strong>ndaseins nahm sie an all seinen Lei<strong>de</strong>n teil. Sorgenvoll erlebte sie die Heimsuchungen in<br />

seiner Kindheit und Jugend mit. Verteidigte sie sein Verhalten, das sie für richtig hielt, so setzte<br />

sie sich selbst Unannehmlichkeiten aus. <strong>Die</strong> häusliche Gemeinschaft und die liebevolle<br />

51


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

mütterliche Betreuung ihrer Kin<strong>de</strong>r war in ihren Augen lebenswichtig für <strong>de</strong>ren<br />

Charakterbildung. Josephs Söhne und Töchter wußten das, und sie benutzten die mütterliche<br />

Sorge, um zu versuchen, Jesu Han<strong>de</strong>ln nach ihren Maßstäben zu korrigieren.<br />

Maria machte Jesus oftmals Vorhaltungen und drängte ihn, sich <strong>de</strong>n Bräuchen <strong>de</strong>r<br />

Schriftgelehrten anzupassen. Er aber konnte nicht dazu überre<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n, seine Art, über die<br />

Werke Gottes nachzusinnen o<strong>de</strong>r die Lei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Menschen und sogar <strong>de</strong>r Tiere zu lin<strong>de</strong>rn, zu<br />

än<strong>de</strong>rn. Als die Lehrer und Priester Maria um Hilfe bei <strong>de</strong>r Beaufsichtigung Jesu baten, war sie<br />

sehr bekümmert. Frie<strong>de</strong> zog erst wie<strong>de</strong>r in ihr Herz ein, als Jesus ihr die Schriftworte zeigte, die<br />

sein Verhalten rechtfertigten. Manchmal schwankte Maria zwischen Jesus und seinen Brü<strong>de</strong>rn,<br />

die nicht glaubten, daß er <strong>de</strong>r Gottgesandte sei. Es gab jedoch reichliche Beweise dafür, daß er<br />

göttlicher Natur war. So stellte sie fest, daß er sich für das Wohl an<strong>de</strong>rer Menschen aufopferte.<br />

Schon seine bloße Anwesenheit übte daheim einen saubereren Einfluß aus, und sein Leben<br />

wirkte innerhalb <strong>de</strong>r Gesellschaft wie ein Sauerteig. Schuld- und makellos lebte er inmitten<br />

gedankenloser, grober und unhöflicher Menschen, unter betrügerischen Zöllnern, ver<strong>de</strong>rbten<br />

verlorenen Söhnen, unreinen Samaritern, heidnischen Soldaten, grobschlächtigen Bauern und<br />

<strong>de</strong>m zusammengewürfelten Pöbel. Hier und da sprach er ein Wort <strong>de</strong>s Mitgefühls, wenn er sah,<br />

wie die Menschen trotz Erschöpfung ihre schweren Lasten weitertragen mußten. Er teilte ihre<br />

Last mit ihnen und wie<strong>de</strong>rholte so die Lehren von <strong>de</strong>r Liebe, Freundlichkeit und Güte Gottes,<br />

die er in <strong>de</strong>r Natur gelernt hatte.<br />

Er lehrte die Menschen, die köstlichen Gaben zu erkennen, die ihnen verliehen wor<strong>de</strong>n<br />

waren und die, richtig eingesetzt, ihnen ewigen Reichtum zusicherten. Jegliche Eitelkeit<br />

verbannte er aus seinem Leben und lehrte durch sein Beispiel, daß je<strong>de</strong>r Augenblick sich in <strong>de</strong>r<br />

Ewigkeit auswirken wird. Deshalb soll man ihn als einen Schatz erkennen und ihn nur für<br />

heilige Ziele einsetzen. Keinen Menschen hielt er für wertlos, son<strong>de</strong>rn versuchte je<strong>de</strong>s<br />

Menschenherz zu retten. Wo immer er war, stets hatte er eine Lektion bereit, die <strong>de</strong>r Zeit und<br />

<strong>de</strong>n Umstän<strong>de</strong>n angemessen war. Auch sehr grobe Menschen, die gera<strong>de</strong>zu aussichtslose Fälle<br />

waren, versuchte er dadurch mit Hoffnung zu erfüllen, daß er ihnen vor Augen führte, auch sie<br />

könnten frei von Ta<strong>de</strong>l und Schuld sein und ein Wesen erlangen, das sie als Kin<strong>de</strong>r Gottes<br />

ausweist. Oft begegnete er Menschen, die völlig unter die Herrschaft Satans geraten waren und<br />

keine Kraft besaßen, seine Ban<strong>de</strong> zu zerreißen. Solchen entmutigten, kranken, versuchten und<br />

gefallenen Menschen pflegte Jesus mit zartestem Mitgefühl zu begegnen und Worte zu ihnen zu<br />

sagen, die für sie gera<strong>de</strong> nötig waren und die sie auch verstehen konnten. An<strong>de</strong>re wie<strong>de</strong>rum<br />

befan<strong>de</strong>n sich gera<strong>de</strong>zu in einem Handgemenge mit <strong>de</strong>m Seelenfeind. Sie ermunterte Jesus zum<br />

Ausharren und versicherte ihnen, sie wür<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Kampf gewinnen, weil Gottes Engel ihnen bis<br />

zum Siege zur Seite stün<strong>de</strong>n. Wem er auf diese Weise half, war hinfort davon überzeugt, daß<br />

man sich auf Jesus voll und ganz verlassen könne, da er die ihm anvertrauten Geheimnisse nicht<br />

verraten wer<strong>de</strong>.<br />

Jesus heilte Leib und Seele. Je<strong>de</strong>m Zustand <strong>de</strong>s Lei<strong>de</strong>ns, <strong>de</strong>n er bemerkte, galt seine<br />

Anteilnahme, und je<strong>de</strong>m Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n brachte er Hilfe, wobei seine freundlichen Worte wie<br />

lin<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>r Balsam wirkten. Niemand konnte behaupten, daß Jesus ein Wun<strong>de</strong>r an ihnen<br />

52


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

vollbracht habe; doch von ihm strömte eine Kraft — die heilen<strong>de</strong> Kraft <strong>de</strong>r Liebe — aus hin zu<br />

<strong>de</strong>n Kranken und Bekümmerten. So wirkte er für die Menschen auf eine unaufdringliche Weise<br />

seit seiner Kindheit. Aus diesem Grun<strong>de</strong> hörten ihn so viele Menschen frohen Herzens an, als er<br />

mit seiner öffentlichen Tätigkeit begann. Als Kind, als Jüngling und auch als Mann ging Jesus<br />

seinen Weg allein. Makellos und gläubig trat er die Weinkelter allein, und niemand half ihm<br />

dabei. Auf ihm lastete das ungeheure Gewicht <strong>de</strong>r Verantwortung für die Errettung <strong>de</strong>s<br />

Menschengeschlechts. Er wußte, daß alle, die ihre Grundsätze und Ziele nicht völlig än<strong>de</strong>rten,<br />

verlorengehen wür<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong>ses Wissen lastete auf seiner Seele, doch niemand ahnte etwas<br />

davon. Zielbewußt widmete er sich <strong>de</strong>m Sinn seines Lebens, das Licht <strong>de</strong>r Welt zu sein.<br />

53


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 10: <strong>Die</strong> Stimme in <strong>de</strong>r Wüste<br />

Aus <strong>de</strong>r Schar <strong>de</strong>r gläubigen Israeliten, die sehnsüchtig auf das Kommen <strong>de</strong>s Messias<br />

warteten, erschien <strong>de</strong>r Vorläufer <strong>Christi</strong>. Zacharias, ein betagter Priester, und sein Weib<br />

Elisabeth waren „bei<strong>de</strong> fromm vor Gott“ (Lukas 1,6); ihr ruhiger und heiliger Wan<strong>de</strong>l<br />

offenbarte das Licht <strong>de</strong>s Glaubens. Wie ein Stern leuchtete ihr Leben in <strong>de</strong>r geistlichen<br />

Finsternis jener Tage. <strong>Die</strong>ses gottesfürchtige Paar empfing die Verheißung eines Sohnes, <strong>de</strong>r<br />

vor <strong>de</strong>m Herrn hergehen und ihm <strong>de</strong>n Weg bereiten sollte. Zacharias wohnte „auf <strong>de</strong>m ...<br />

Gebirge Judäas“, aber er war nach Jerusalem hinaufgegangen, um eine Woche lang im Tempel<br />

zu dienen. <strong>Die</strong> Priester je<strong>de</strong>r Ordnung waren verpflichtet, dies zweimal im Jahr zu tun. „Und es<br />

begab sich, da er <strong>de</strong>s Priesteramts waltete vor Gott, als seine Ordnung an <strong>de</strong>r Reihe war, traf ihn<br />

nach <strong>de</strong>m Brauch <strong>de</strong>r Priesterschaft das Los, zu räuchern; und er ging in <strong>de</strong>n Tempel <strong>de</strong>s<br />

Herrn.“ Lukas 1,8.9.<br />

Er stand vor <strong>de</strong>m gol<strong>de</strong>nen Altar im Heiligen, <strong>de</strong>r ersten Abteilung <strong>de</strong>s Heiligtums. <strong>Die</strong><br />

Weihrauchwolke mit <strong>de</strong>n Gebeten Israels stieg zu Gott empor. Plötzlich wur<strong>de</strong> er sich <strong>de</strong>r<br />

Gegenwart eines göttlichen Wesens bewußt. Ein Engel <strong>de</strong>s Herrn „stand zur rechten Hand am<br />

Räucheraltar“. Lukas 1,11. <strong>Die</strong> Stellung <strong>de</strong>s Engels war ein Zeichen <strong>de</strong>r Gunst, doch Zacharias<br />

nahm dies gar nicht wahr. Seit vielen Jahren hatte er um das Kommen <strong>de</strong>s Erlösers gebetet; nun<br />

endlich sandte Gott einen Boten mit <strong>de</strong>r Nachricht, daß seine Gebete Erhörung fin<strong>de</strong>n sollten.<br />

Aber diese Gna<strong>de</strong> erschien Zacharias zu groß, um an sie glauben zu können; Furcht und<br />

Selbstanklagen erfüllten ihn.<br />

Ihm wur<strong>de</strong> die frohe Versicherung zugerufen: „Fürchte dich nicht, Zacharias, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>in<br />

Gebet ist erhört, und <strong>de</strong>in Weib Elisabeth wird dir einen Sohn gebären, <strong>de</strong>s Namen sollst du<br />

Johannes heißen. Und du wirst Freu<strong>de</strong> und Wonne haben, und viele wer<strong>de</strong>n sich seiner Geburt<br />

freuen.“ Lukas 1,13.14. „Denn er wird groß sein vor <strong>de</strong>m Herrn; Wein und starkes Getränk wird<br />

er nicht trinken und wird ... erfüllt wer<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>m heiligen Geist. Und er wird <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r Israel<br />

viele zu Gott, ihrem Herrn, bekehren. Und er wird vor ihm hergehen in Geist und Kraft <strong>de</strong>s Elia,<br />

zu bekehren die Herzen <strong>de</strong>r Väter zu <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn und die Ungehorsamen zu <strong>de</strong>r Klugheit <strong>de</strong>r<br />

Gerechten, zuzurichten <strong>de</strong>m Herrn ein bereitet Volk. Und Zacharias sprach zu <strong>de</strong>m Engel:<br />

Woran soll ich das erkennen? Denn ich bin alt, und mein Weib ist betagt.“ Lukas 1,15-18.<br />

Zacharias wußte sehr gut, wie <strong>de</strong>m Abraham noch in hohem Alter ein Kind geschenkt wur<strong>de</strong>,<br />

weil dieser <strong>de</strong>m aufrichtig vertraute, <strong>de</strong>r es verheißen hatte. Doch <strong>de</strong>r betagte Priester <strong>de</strong>nkt<br />

einen Augenblick über die Schwachheit <strong>de</strong>s Menschengeschlechts nach. Er vergißt, daß Gott<br />

das, was er verheißen hat, auch erfüllen kann. Welch ein Gegensatz zwischen diesem<br />

Unglauben und <strong>de</strong>m reinen kindlichen Glauben Marias, jenes Mädchens aus Nazareth, das <strong>de</strong>m<br />

Engel auf seine wun<strong>de</strong>rbare Ankündigung antwortete: „Siehe, ich bin <strong>de</strong>s Herrn Magd; mir<br />

geschehe, wie du gesagt hast.“ Lukas 1,38. Daß <strong>de</strong>m Zacharias, wie einst <strong>de</strong>m Abraham und<br />

auch <strong>de</strong>r Maria, ein Sohn geboren wur<strong>de</strong>, darin liegt eine große geistliche Wahrheit: eine Lehre,<br />

die wir nur langsam lernen und so schnell wie<strong>de</strong>r vergessen. Wir sind unfähig, aus uns selbst<br />

etwas Gutes hervorzubringen; doch was wir nicht tun können, wird durch die Macht Gottes in<br />

54


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

je<strong>de</strong>r <strong>de</strong>mütigen und gläubigen Seele bewirkt. Durch <strong>de</strong>n Glauben wur<strong>de</strong> das Kind <strong>de</strong>r<br />

Verheißung gegeben; durch <strong>de</strong>n Glauben wird auch geistliches Leben geboren, und wir wer<strong>de</strong>n<br />

befähigt, Werke <strong>de</strong>r Gerechtigkeit zu tun.<br />

Auf die Frage <strong>de</strong>s Zacharias erwi<strong>de</strong>rte <strong>de</strong>r Engel: „Ich bin Gabriel, <strong>de</strong>r vor Gott steht, und<br />

bin gesandt, um mit dir zu re<strong>de</strong>n und dir diese frohe Botschaft zu bringen.“ Lukas 1,19<br />

(Zürcher). Fünfhun<strong>de</strong>rt Jahre früher hatte Gabriel Daniel <strong>de</strong>n prophetischen Zeitabschnitt<br />

angegeben, <strong>de</strong>r bis zum Kommen <strong>Christi</strong> reichen sollte. Das Bewußtsein, daß das En<strong>de</strong> dieses<br />

Zeitabschnitts bevorstand, hatte Zacharias veranlaßt, um die Ankunft <strong>de</strong>s Messias zu beten. Und<br />

jetzt gera<strong>de</strong> war <strong>de</strong>r Bote, <strong>de</strong>r die Prophezeiung ausgesprochen hatte, gekommen, um <strong>de</strong>ren<br />

Erfüllung anzukündigen.<br />

<strong>Die</strong> Worte <strong>de</strong>s Engels: „Ich bin Gabriel, <strong>de</strong>r vor Gott steht“, zeigen, daß er in <strong>de</strong>n<br />

himmlischen Höfen eine hohe Stellung innehat. Als er mit einer Botschaft zu Daniel kam, sagte<br />

er: „Es ist keiner, <strong>de</strong>r mir hilft gegen jene, außer eurem Engelfürsten Michael .“ Daniel 10,21.<br />

Von Gabriel spricht <strong>de</strong>r Heiland in <strong>de</strong>r Offenbarung, in<strong>de</strong>m er sagt: „Er hat sie durch seinen<br />

Engel gesandt und ge<strong>de</strong>utet seinem Knecht Johannes.“ Offenbarung 1,1. Und Johannes<br />

gegenüber erklärte <strong>de</strong>r Engel: „Ich bin <strong>de</strong>in Mitknecht und <strong>de</strong>iner Brü<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r<br />

Propheten.“ Offenbarung 22,9. Welch ein wun<strong>de</strong>rbarer Gedanke — <strong>de</strong>r Engel, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Sohn<br />

Gottes an Ansehen am nächsten steht, ist es, <strong>de</strong>r berufen wur<strong>de</strong>, Gottes Absichten sündhaften<br />

Menschen zu offenbaren!<br />

Zacharias hatte hinsichtlich <strong>de</strong>r Worte <strong>de</strong>s Engels Zweifel geäußert. Er sollte nichts mehr<br />

sprechen, bis sie erfüllt wür<strong>de</strong>n. „Siehe“, sagte <strong>de</strong>r Engel, „du wirst verstummen ... bis auf <strong>de</strong>n<br />

Tag, da dies geschehen wird, darum daß du meinen Worten nicht geglaubt hast, welche sollen<br />

erfüllt wer<strong>de</strong>n zu ihrer Zeit.“ Lukas 1,20. Es war die Pflicht <strong>de</strong>r Priester, in ihrem <strong>Die</strong>nst um<br />

Vergebung für allgemeine und nationale Sün<strong>de</strong>n und für die Ankunft <strong>de</strong>s Messias zu beten;<br />

doch als Zacharias dies tun wollte, brachte er kein Wort heraus. Er erschien, um das Volk zu<br />

segnen, „und er winkte ihnen und blieb stumm“. Lukas 1,22. Sie hatten lange gewartet und<br />

schon zu fürchten begonnen, er sei, von Gottes Gericht getroffen, umgekommen. Doch als er<br />

aus <strong>de</strong>m Heiligen heraustrat, leuchtete auf seinem Antlitz die Herrlichkeit Gottes, „und sie<br />

merkten, daß er ein Gesicht gesehen hatte im Tempel“. Lukas 1,22. Zacharias teilte ihnen mit,<br />

was er gesehen und gehört hatte, und „da die Zeit seines <strong>Die</strong>nstes um war, ging er heim in sein<br />

Haus“. Lukas 1,23. Bald nach <strong>de</strong>r Geburt <strong>de</strong>s verheißenen Kin<strong>de</strong>s konnte er wie<strong>de</strong>r sprechen,<br />

„und er re<strong>de</strong>te und lobte Gott. Und es kam eine Furcht über alle Nachbarn; und diese ganze<br />

Geschichte ward kund auf <strong>de</strong>m ganzen Gebirge Judäas. Und alle, die es hörten, nahmen‘s zu<br />

Herzen und sprachen: Was, meinest du, will aus <strong>de</strong>m Kindlein wer<strong>de</strong>n?“ Lukas 1,64-66. Alles<br />

das trug dazu bei, die Aufmerksamkeit auf die Ankunft <strong>de</strong>s Messias zu lenken, für <strong>de</strong>n Johannes<br />

<strong>de</strong>n Weg bereiten sollte.<br />

Der Heilige Geist ruhte auf Zacharias, und in folgen<strong>de</strong>n herrlichen Worten weissagte er von<br />

<strong>de</strong>r Bestimmung seines Sohnes: „Du, Kindlein, wirst ein Prophet <strong>de</strong>s Höchsten heißen. Du<br />

wirst vor <strong>de</strong>m Herrn hergehen, daß du seinen Weg bereitest und Erkenntnis <strong>de</strong>s Heils gebest<br />

seinem Volk in Vergebung ihrer Sün<strong>de</strong>n, durch die herzliche Barmherzigkeit unsres<br />

55


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Gottes, durch welche uns besucht hat <strong>de</strong>r Aufgang aus <strong>de</strong>r Höhe, auf daß er erscheine <strong>de</strong>nen,<br />

die da sitzen in Finsternis und Schatten <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s, und richte unsre Füße auf <strong>de</strong>n Weg <strong>de</strong>s<br />

Frie<strong>de</strong>ns.“ Lukas 1,76-79.<br />

„Und das Kindlein wuchs und ward stark im Geist. Und er war in <strong>de</strong>r Wüste, bis daß er sollte<br />

hervortreten vor das Volk Israel.“ Lukas 1,80. Vor <strong>de</strong>r Geburt <strong>de</strong>s Johannes hatte <strong>de</strong>r Engel<br />

gesagt: „Er wird groß sein vor <strong>de</strong>m Herrn; Wein und starkes Getränk wird er nicht trinken und<br />

wird ... erfüllt wer<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>m heiligen Geist.“ Lukas 1,15. Gott hatte <strong>de</strong>n Sohn <strong>de</strong>s Zacharias<br />

zu einer großen Aufgabe berufen, zu <strong>de</strong>r größten, die je einem Menschen anvertraut wur<strong>de</strong>. Um<br />

diese Aufgabe ausführen zu können, mußte <strong>de</strong>r Herr mit ihm zusammenwirken. Und <strong>de</strong>r Geist<br />

Gottes wollte bei ihm sein, wenn er <strong>de</strong>n Anweisungen <strong>de</strong>s Engels nachkäme.<br />

Johannes sollte als ein Bote Gottes hinausgehen und das göttliche Licht zu <strong>de</strong>n Menschen<br />

bringen. Es galt, die Gedanken <strong>de</strong>r Menschen richtungän<strong>de</strong>rnd zu beeinflussen. Er mußte ihnen<br />

die Heiligkeit <strong>de</strong>r For<strong>de</strong>rungen Gottes einprägen sowie die Notwendigkeit, seiner<br />

vollkommenen Gerechtigkeit zu bedürfen. Wer solch Botenamt ausführen wollte, mußte selbst<br />

heilig sein. Er mußte <strong>de</strong>r Tempel <strong>de</strong>s Geistes Gottes sein. Um seine Mission erfüllen zu können,<br />

brauchte er einen starken und gesun<strong>de</strong>n Körper sowie große seelische und geistige Stärke.<br />

Deshalb mußte es für ihn notwendig sein, seine Neigungen und Lei<strong>de</strong>nschaften zu beherrschen.<br />

Er mußte in <strong>de</strong>r Lage sein, sich so in <strong>de</strong>r Gewalt zu haben, daß er ungerührt von <strong>de</strong>n ihn<br />

umgeben<strong>de</strong>n Verhältnissen wie die Felsen und Berge in <strong>de</strong>r Wildnis unter <strong>de</strong>n Menschen<br />

bestehen konnte.<br />

Zur Zeit Johannes <strong>de</strong>s Täufers waren die Habsucht, die Liebe zu Luxus und Pomp weit<br />

verbreitet. Sinnenfrohe Vergnügen, Schwelgereien und Trinkgelage lösten körperliche<br />

Krankheit und Entartung aus, schwächten das geistliche Wahrnehmungsvermögen und<br />

vermin<strong>de</strong>rten die Fähigkeit, die Sün<strong>de</strong> als sündhaft zu empfin<strong>de</strong>n. Johannes sollte ein<br />

Reformator sein. Durch sein asketisches Leben und seine einfache Kleidung sollte er die<br />

Ausschweifungen seiner Zeit ta<strong>de</strong>ln. Darum wur<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Eltern <strong>de</strong>s Johannes die<br />

entsprechen<strong>de</strong>n Anweisungen gegeben — eine Lektion bezüglich <strong>de</strong>r Mäßigkeit, erteilt durch<br />

einen Engel vom Thron <strong>de</strong>s Himmels.<br />

In <strong>de</strong>r Kindheit und in <strong>de</strong>r Jugend ist <strong>de</strong>r Charakter am leichtesten zu beeinflussen. <strong>Die</strong><br />

Fähigkeit, sich zu beherrschen, sollte in jener Zeit erlernt wer<strong>de</strong>n. Im häuslichen Kreis und am<br />

Familientisch wird ein Einfluß ausgeübt, <strong>de</strong>ssen Auswirkungen bis in die Ewigkeit reichen. <strong>Die</strong><br />

Gewohnheiten, die in <strong>de</strong>n frühen Kin<strong>de</strong>rjahren angenommen wer<strong>de</strong>n, entschei<strong>de</strong>n mehr als<br />

irgen<strong>de</strong>ine natürliche Begabung darüber, ob ein Mensch im Lebenskampf siegen o<strong>de</strong>r<br />

unterliegen wird. Das Jugendalter ist die Zeit <strong>de</strong>s Säens. Sie bestimmt darüber, welcher Art die<br />

Ernte sein wird, sowohl in diesem als auch im zukünftigen Leben.<br />

Als Prophet sollte Johannes „bekehren die Herzen <strong>de</strong>r Väter zu <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn und die<br />

Ungehorsamen zu <strong>de</strong>r Klugheit <strong>de</strong>r Gerechten, zuzurichten <strong>de</strong>m Herrn ein bereitet Volk“. Lukas<br />

1,17. In<strong>de</strong>m er <strong>de</strong>n Weg für <strong>Christi</strong> erstes Kommen bahnte, ist er allen jenen ein Vorbild, die ein<br />

Volk auf die Wie<strong>de</strong>rkunft unseres Herrn vorbereiten sollen. <strong>Die</strong> Welt hat sich <strong>de</strong>r Genußsucht<br />

56


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

hingegeben. Es wimmelt von Irrlehren und Unwahrheiten. Satans Fallstricke, um Seelen<br />

zugrun<strong>de</strong> zu richten, mehren sich. Alle Menschen, die in <strong>de</strong>r Furcht Gottes die vollkommene<br />

Heiligkeit erlangen wollen, müssen Enthaltsamkeit und Selbstbeherrschung lernen. <strong>Die</strong> Lüste<br />

und Lei<strong>de</strong>nschaften müssen <strong>de</strong>n höheren Kräften <strong>de</strong>s Geistes unterworfen bleiben. <strong>Die</strong>se<br />

Selbstdisziplin ist lebenswichtig, wenn wir die geistige Kraft und die geistliche Erkenntnis<br />

erhalten wollen, die uns befähigen, die geheiligten Wahrheiten <strong>de</strong>s Wortes Gottes zu verstehen<br />

und in die Tat umzusetzen. Aus diesem Grund hat die Mäßigkeit ihren Platz bei <strong>de</strong>r<br />

Vorbereitung auf die Wie<strong>de</strong>rkunft <strong>Christi</strong>.<br />

Hätten die Dinge ihren gewohnten Lauf genommen, dann wäre <strong>de</strong>r Sohn <strong>de</strong>s Zacharias als<br />

Priester ausgebil<strong>de</strong>t wor<strong>de</strong>n. Aber die Ausbildung in <strong>de</strong>n rabbinischen Schulen hätte ihn für<br />

seine Aufgabe untauglich gemacht. Gott sandte ihn nicht zu <strong>de</strong>n Lehrern <strong>de</strong>r Theologie, um die<br />

Auslegung <strong>de</strong>r Schrift zu lernen. Er rief ihn in die Wüste, damit er von <strong>de</strong>r Natur und <strong>de</strong>m Gott<br />

<strong>de</strong>r Natur lerne.<br />

Er fand seine Wohnstätte in einer einsamen Gegend inmitten von kahlen Hügeln, wil<strong>de</strong>n<br />

Schluchten und felsigen Höhlen. Es war sein freiwilliger Entschluß, auf die Freu<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>n<br />

Luxus <strong>de</strong>s Lebens zugunsten <strong>de</strong>r harten Schulung in <strong>de</strong>r Wüste zu verzichten. Dort begünstigte<br />

die Umgebung das einfache Leben und die Selbstverleugnung. Da er vom Lärm <strong>de</strong>r Welt nicht<br />

gestört wur<strong>de</strong>, konnte er dort die Lehren <strong>de</strong>r Natur, <strong>de</strong>r Offenbarung und <strong>de</strong>r Vorsehung<br />

studieren. Seine gottesfürchtigen Eltern hatten ihm die an seinen Vater gerichteten Worte <strong>de</strong>s<br />

Engels oft wie<strong>de</strong>rholt. Schon von seiner Kindheit an war ihm seine Aufgabe vor Augen geführt<br />

wor<strong>de</strong>n, und er hatte <strong>de</strong>n heiligen Auftrag angenommen. Für ihn war die Einsamkeit <strong>de</strong>r Wüste<br />

eine willkommene Zuflucht vor einer Gesellschaft, die fast gänzlich von Mißtrauen, Unglaube<br />

und Unanständigkeit beherrscht war. Er vertraute nicht auf seine eigene Kraft, um <strong>de</strong>r<br />

Versuchung zu wi<strong>de</strong>rstehen, und schreckte vor <strong>de</strong>r anhalten<strong>de</strong>n Berührung mit <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong><br />

zurück, damit er nicht das Bewußtsein ihrer außeror<strong>de</strong>ntlichen Sündhaftigkeit verliere.<br />

Johannes war von Geburt an ein Nasiräer, ein Gottgeweihter. Er hatte sich selbst später für<br />

sein ganzes Leben <strong>de</strong>m Herrn geweiht. Seine Kleidung glich <strong>de</strong>rjenigen <strong>de</strong>r alten Propheten: ein<br />

Gewand aus Kamelhaaren, gehalten von einem le<strong>de</strong>rnen Gürtel. Er aß Heuschrecken und<br />

wil<strong>de</strong>n Honig (Matthäus 3,4), wie die Wüste es ihm darbot. Dazu trank er das klare Wasser, das<br />

von <strong>de</strong>n Hügeln floß.<br />

Doch Johannes verbrachte sein Leben nicht in Untätigkeit, in asketischem Trübsinn o<strong>de</strong>r in<br />

selbstsüchtiger Abgeschie<strong>de</strong>nheit. Von Zeit zu Zeit ging er hinaus, um sich unter die Menschen<br />

zu mischen, und stets war er ein aufmerksamer Beobachter <strong>de</strong>ssen, was in <strong>de</strong>r Welt vorging.<br />

Von seinem stillen Zufluchtsort aus beobachtete er, wie sich die Ereignisse entwickelten. Mit<br />

einem durch göttlichen Geist erleuchteten geistigen Sehvermögen studierte er die Charaktere<br />

<strong>de</strong>r Menschen, um besser zu verstehen, wie er ihre Herzen mit <strong>de</strong>r Botschaft <strong>de</strong>s Himmels<br />

erreichen könnte. Er spürte die Last seines Auftrages und suchte sich in <strong>de</strong>r Einsamkeit durch<br />

tiefes Nach<strong>de</strong>nken und durch das Gebet für sein vor ihm liegen<strong>de</strong>s Lebenswerk innerlich zu<br />

sammeln.<br />

57


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Obgleich er in <strong>de</strong>r Wüste lebte, blieb er nicht frei von Versuchungen. Nach bestem<br />

Vermögen verschloß er Satan je<strong>de</strong>n Zugang, ohne jedoch <strong>de</strong>ssen Angriffe verhin<strong>de</strong>rn zu<br />

können. Sein geistliches Empfin<strong>de</strong>n aber war rein; er hatte Charakterstärke und Entschie<strong>de</strong>nheit<br />

gelernt und war imstan<strong>de</strong>, die Schleichwege Satans mit Hilfe <strong>de</strong>s Heiligen Geistes aufzuspüren<br />

und <strong>de</strong>r teuflischen Macht zu wi<strong>de</strong>rstehen.<br />

In <strong>de</strong>r Wüste fand Johannes seine Schule und seinen Tempel. Wie einst Mose von <strong>de</strong>n<br />

Hügeln Midians, so war er eingeschlossen von <strong>de</strong>r Gegenwart Gottes und umgeben von <strong>de</strong>n<br />

Zeugnissen seiner Macht. Es war ihm nicht vergönnt, sich wie Israels großer Führer mitten in<br />

<strong>de</strong>r erhabenen Majestät <strong>de</strong>r einsamen Bergwelt aufzuhalten; doch vor ihm, auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite<br />

<strong>de</strong>s Jordans, lagen die Höhen Moabs. Sie sprachen zu ihm von <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r die Berge gegrün<strong>de</strong>t<br />

und sie stark gemacht hat. Was in seiner Wildnis düster und schrecklich aussah,<br />

veranschaulichte ihm auf lebendige Weise <strong>de</strong>n Zustand Israels. Der fruchtbare Weinberg <strong>de</strong>s<br />

Herrn war eine trostlose Einö<strong>de</strong> gewor<strong>de</strong>n. Aber über <strong>de</strong>r Wüste spannte sich <strong>de</strong>r klare, schöne<br />

Himmel. <strong>Die</strong> finsteren Wolken, die sich zum Gewitter sammelten, wur<strong>de</strong>n durch <strong>de</strong>n<br />

Regenbogen <strong>de</strong>r Verheißung überwölbt. Gleicherweise strahlte über <strong>de</strong>r Erniedrigung Israels<br />

die verheißene Herrlichkeit <strong>de</strong>r Herrschaft <strong>de</strong>s Messias. <strong>Die</strong> Wolken <strong>de</strong>s Zornes waren vom<br />

Regenbogen seiner im Bun<strong>de</strong> verwirklichten Gna<strong>de</strong> umgeben.<br />

In <strong>de</strong>n stillen Stun<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Nacht las er die Verheißungen Gottes an Abraham, <strong>de</strong>ssen<br />

Nachkommen zahllos sein sollten wie die Sterne. Und wenn das Licht <strong>de</strong>s anbrechen<strong>de</strong>n<br />

Morgens das Gebirge Moab vergol<strong>de</strong>te, wirkte es auf ihn wie <strong>de</strong>r, von <strong>de</strong>m gesagt ist, daß er sei<br />

„wie das Licht <strong>de</strong>s Morgens, wenn die Sonne aufgeht, am Morgen ohne Wolken“. 2.Samuel<br />

23,4. Der helle Mittag verkündigte ihm <strong>de</strong>n Glanz <strong>de</strong>r Offenbarung Gottes; „<strong>de</strong>nn die<br />

Herrlichkeit <strong>de</strong>s Herrn soll offenbart wer<strong>de</strong>n, und alles Fleisch miteinan<strong>de</strong>r wird es<br />

sehen“. Jesaja 40,5.<br />

Ehrfürchtig und doch mit jubeln<strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong> forschte er in <strong>de</strong>n prophetischen Schriften nach<br />

<strong>de</strong>n Offenbarungen über das Kommen <strong>de</strong>s Messias — <strong>de</strong>s verheißenen Samens, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />

Schlange <strong>de</strong>n Kopf zertreten sollte, <strong>de</strong>s Hel<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>s Frie<strong>de</strong>nsbringers, <strong>de</strong>r erscheinen sollte, ehe<br />

ein König aufhören wür<strong>de</strong>, auf <strong>de</strong>m Thron Davids zu regieren. Jetzt war diese Zeit gekommen.<br />

Ein römischer Herrscher regierte im Palast auf <strong>de</strong>m Berge Zion. Gemäß <strong>de</strong>m untrüglichen Wort<br />

<strong>de</strong>s Herrn war <strong>de</strong>r Christus bereits geboren. <strong>Die</strong> glanzvolle Schil<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Jesaja von <strong>de</strong>r<br />

Herrlichkeit <strong>de</strong>s Messias war seine Lieblingsbetrachtung; immer wie<strong>de</strong>r las er über <strong>de</strong>n Zweig<br />

von <strong>de</strong>r Wurzel Isais, von <strong>de</strong>m König, <strong>de</strong>r in Gerechtigkeit regieren wür<strong>de</strong> und ein „rechtes<br />

Urteil sprechen <strong>de</strong>n Elen<strong>de</strong>n im Lan<strong>de</strong>“ (Jesaja 11,4), <strong>de</strong>r „ein Schutz vor <strong>de</strong>m Platzregen ... <strong>de</strong>r<br />

Schatten eines großen Felsens im trockenen Lan<strong>de</strong>“ (Jesaja 32,2) wäre. Israel sollte nicht länger<br />

„die Verlassene“ heißen noch sein Land „Einsame“, son<strong>de</strong>rn es sollte vom Herrn genannt<br />

wer<strong>de</strong>n „meine Lust“ und sein Land „liebes Weib“. Jesaja 62,4. Das Herz <strong>de</strong>s einsamen<br />

Johannes war erfüllt von diesem großartigen Bild.<br />

Er blickte auf <strong>de</strong>n König in seiner Zier<strong>de</strong> und vergaß sich selbst. Er sah die Majestät <strong>de</strong>r<br />

messianischen Heiligkeit und fühlte sich selbst kraftlos und unwürdig. Er war bereit, als Bote<br />

<strong>de</strong>s Himmels hinauszugehen, ohne Scheu vor irdischen Dingen; <strong>de</strong>nn er hatte das Göttliche<br />

58


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

geschaut. Er konnte aufrecht und ohne Furcht vor weltlichen Königen stehen; <strong>de</strong>nn er hatte sich<br />

vor <strong>de</strong>m König aller Könige gebeugt. Johannes verstand das Wesen <strong>de</strong>s messianischen Reiches<br />

nicht völlig. Er erwartete zwar, daß Israel als Staat von seinen Fein<strong>de</strong>n befreit wür<strong>de</strong>; doch das<br />

Kommen eines Königs, <strong>de</strong>r gerecht regieren wür<strong>de</strong>, und die Aufrichtung Israels als eine heilige<br />

Nation war das große Ziel seiner Hoffnung. Er glaubte, daß auf diese Weise die bei seiner<br />

Geburt gegebene Prophezeiung erfüllt wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>: „Und gedächte an seinen heiligen Bund<br />

..., daß wir, erlöset aus <strong>de</strong>r Hand unsrer Fein<strong>de</strong>, ihm dieneten ohne Furcht unser Leben lang in<br />

Heiligkeit und Gerechtigkeit.“ Lukas 1,72-75.<br />

Er sah sein Volk betrogen, selbstzufrie<strong>de</strong>n und in seinen Sün<strong>de</strong>n eingeschlafen. Er sehnte<br />

sich danach, es zu einem heiligeren Leben aufzurütteln. <strong>Die</strong> Botschaft, die Gott ihm gegeben<br />

hatte, sollte die Israeliten aus ihrer Trägheit aufschrecken und sie wegen ihrer großen Bosheit<br />

erzittern lassen. Bevor <strong>de</strong>r Same <strong>de</strong>s Evangeliums Platz fin<strong>de</strong>n konnte, mußte erst <strong>de</strong>r<br />

Herzensbo<strong>de</strong>n aufgebrochen wer<strong>de</strong>n. Bevor sie bei Jesus Heilung suchten, mußten sie sich ihrer<br />

Gefährdung durch die Wun<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> bewußt wer<strong>de</strong>n. Gott sen<strong>de</strong>t seine Boten nicht, um<br />

<strong>de</strong>m Sün<strong>de</strong>r zu schmeicheln. Er sen<strong>de</strong>t keine Frie<strong>de</strong>nsbotschaft, um nicht die Ungeheiligten in<br />

tödliche Sicherheit zu wiegen. Er legt schwere Lasten auf das Gewissen <strong>de</strong>s Missetäters und<br />

durchdringt die Seele mit Pfeilen, die ihm die Sün<strong>de</strong> bewußt machen. <strong>Die</strong> Engel weisen ihn auf<br />

die schrecklichen Gottesgerichte hin, um ihn die Notwendigkeit erkennen zu lassen, daß er<br />

Hilfe braucht, und ihn zu <strong>de</strong>m Ausruf zu bewegen: „Was muß ich tun, um gerettet zu wer<strong>de</strong>n?“<br />

Dann wird dieselbe Hand, die bis in <strong>de</strong>n Staub <strong>de</strong>mütigte, <strong>de</strong>n Bußfertigen erhöhen. <strong>Die</strong><br />

Stimme, die die Sün<strong>de</strong> ta<strong>de</strong>lte und <strong>de</strong>n Stolz und das selbstsüchtige Streben als unwürdig<br />

verurteilte, fragt nun mit liebevollster Teilnahme: „Was willst du, daß ich dir tun soll?“<br />

Als Johannes mit seiner Aufgabe begann, befand sich das ganze Volk in einem Zustand <strong>de</strong>r<br />

Erregung und <strong>de</strong>r Unzufrie<strong>de</strong>nheit, <strong>de</strong>r an Aufruhr grenzte. Mit <strong>de</strong>r Amtsenthebung <strong>de</strong>s<br />

Archelaus war Judäa unmittelbar unter die Herrschaft Roms gekommen. <strong>Die</strong> Tyrannei und<br />

Erpressung <strong>de</strong>r römischen Statthalter und ihre entschlossenen Anstrengungen, heidnische<br />

Symbole und Sitten einzuführen, hatten Aufstän<strong>de</strong> ausgelöst, die im Blut von Tausen<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r<br />

Mutigsten in Israel erstickt wor<strong>de</strong>n waren. All dies verstärkte <strong>de</strong>n nationalen Haß gegen Rom<br />

und erhöhte die Sehnsucht, von <strong>de</strong>r Gewalt <strong>de</strong>r Römer frei zu wer<strong>de</strong>n.<br />

Inmitten von Zwietracht und Streit erscholl eine Stimme aus <strong>de</strong>r Wüste, Aufsehen erregend<br />

und ernst, aber voller Hoffnung: „Tut Buße, <strong>de</strong>nn das Himmelreich ist nahe<br />

herbeigekommen!“ Matthäus 3,2. Alle, die diesen Ruf hörten, wur<strong>de</strong>n von einer nie gekannten,<br />

zwingen<strong>de</strong>n Macht bewegt. <strong>Die</strong> Propheten hatten die Ankunft <strong>de</strong>s Messias als ein Ereignis<br />

vorhergesagt, das noch in weiter Ferne läge; hier aber erscholl die Botschaft, daß das große<br />

Ereignis nahe bevorstehe. <strong>Die</strong> eigenartige Erscheinung <strong>de</strong>s Täufers erinnerte seine Zuhörer an<br />

die alten Seher. Er ähnelte in seinem Auftreten und in seiner Kleidung <strong>de</strong>m Propheten Elia, in<br />

<strong>de</strong>ssen Geist und Kraft auch er das allgemeine Ver<strong>de</strong>rben ankündigte und die vorherrschen<strong>de</strong>n<br />

Sün<strong>de</strong>n verdammte. Seine Worte waren klar, bestimmt und überzeugend. Viele nahmen an, er<br />

sei einer <strong>de</strong>r alten Propheten, auferstan<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>n Toten. Das Volk war aufgerüttelt;<br />

scharenweise zog es hinaus in die Wüste.<br />

59


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Hier verkündigte Johannes das Kommen <strong>de</strong>s Messias und rief die Menschen zur Buße. Er<br />

taufte die Gläubigen im Jordan als Sinnbild <strong>de</strong>r Reinigung von <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>. So erklärte er<br />

anschaulich, daß diejenigen, die sich Gottes auserwähltes Volk nannten, mit Sün<strong>de</strong> befleckt<br />

waren und daß sie ohne Reinigung <strong>de</strong>s Herzens keinen Anteil am Reich <strong>de</strong>s Messias haben<br />

können. Fürsten und Rabbiner, Soldaten, Zöllner und Bauern kamen, um <strong>de</strong>m Propheten<br />

zuzuhören. Eine Zeitlang beunruhigte sie die ernste Warnungsbotschaft Gottes. Viele taten<br />

Buße und ließen sich taufen. Menschen aus allen Schichten unterwarfen sich <strong>de</strong>n For<strong>de</strong>rungen<br />

<strong>de</strong>s Täufers, um an <strong>de</strong>m Königreich teilzuhaben, das er ankündigte. Viele Schriftgelehrte und<br />

Pharisäer kamen, bekannten ihre Sün<strong>de</strong>n und baten um die Taufe. Sie hatten sich für besser<br />

gehalten als an<strong>de</strong>re Menschen und das Volk dazu gebracht, von ihrer Frömmigkeit eine hohe<br />

Meinung zu haben; jetzt aber wur<strong>de</strong> die geheime Schuld ihres Lebens aufge<strong>de</strong>ckt. Doch<br />

Johannes wur<strong>de</strong> durch <strong>de</strong>n Heiligen Geist gezeigt, daß viele von diesen Männern sich ihrer<br />

Sün<strong>de</strong> nicht wirklich bewußt waren. Sie waren nur Opportunisten. Sie hofften, daß sie als<br />

Freun<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Propheten beim kommen<strong>de</strong>n Fürsten gut angeschrieben sein wür<strong>de</strong>n. Und sie<br />

dachten, sie vermehrten ihren Einfluß auf das Volk, in<strong>de</strong>m sie sich von diesem beliebten jungen<br />

Lehrer taufen ließen. Johannes begegnete ihnen mit <strong>de</strong>r alles durchdringen<strong>de</strong>n Frage: „Ihr<br />

Otterngezüchte, wer hat <strong>de</strong>nn euch gewiesen, daß ihr <strong>de</strong>m künftigen Zorn entrinnen wer<strong>de</strong>t?<br />

Sehet zu, tut rechtschaffene Frucht <strong>de</strong>r Buße! Denket nur nicht, daß ihr bei euch wollt sagen:<br />

Wir haben Abraham zum Vater. Ich sage euch: Gott vermag <strong>de</strong>m Abraham aus diesen Steinen<br />

Kin<strong>de</strong>r zu erwecken.“ Matthäus 3,7-9.<br />

Gott hatte Israel verheißen: „So spricht <strong>de</strong>r Herr, <strong>de</strong>r die Sonne <strong>de</strong>m Tage zum Licht gibt und<br />

<strong>de</strong>n Mond und die Sterne <strong>de</strong>r Nacht zum Licht bestellt; <strong>de</strong>r das Meer bewegt, daß seine Wellen<br />

brausen — Herr Zebaoth ist sein Name —: Wenn jemals diese Ordnungen vor mir ins Wanken<br />

kämen, spricht <strong>de</strong>r Herr, so müßte auch das Geschlecht Israels aufhören, ein Volk zu sein vor<br />

mir ewiglich. So spricht <strong>de</strong>r Herr: Wenn man <strong>de</strong>n Himmel oben messen könnte und <strong>de</strong>n Grund<br />

<strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> unten erforschen, dann wür<strong>de</strong> ich auch verwerfen das ganze Geschlecht Israels für all<br />

das, was sie getan haben, spricht <strong>de</strong>r Herr.“ Jeremia 31,35-37. <strong>Die</strong>se Verheißung ewiger Gunst<br />

hatten die Ju<strong>de</strong>n falsch ausgelegt. Sie betrachteten ihre natürliche Herkunft von Abraham als<br />

Anspruch auf diese Verheißung. Doch sie übersahen die Bedingungen, die Gott gestellt hatte.<br />

Bevor er ihnen die Verheißung gab, hatte er gesagt: „Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben<br />

und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein, und ich will ihr Gott sein ... <strong>de</strong>nn ich<br />

will ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Sün<strong>de</strong> nimmermehr ge<strong>de</strong>nken.“ Jeremia 31,33.34.<br />

Einem Volk, in <strong>de</strong>ssen Herzen sein Gesetz geschrieben steht, ist das Wohlwollen Gottes<br />

zugesichert. Es ist eins mit ihm. Aber die Ju<strong>de</strong>n hatten sich von Gott getrennt. Wegen ihrer<br />

Sün<strong>de</strong>n kam das göttliche Strafgericht über sie. <strong>Die</strong>s war auch die Ursache, daß sie unter die<br />

Knechtschaft einer heidnischen Nation gerieten. Ihre Sinne wur<strong>de</strong>n durch Übertretung<br />

verdunkelt, und weil <strong>de</strong>r Herr ihnen in <strong>de</strong>r Vergangenheit solch große Gunst erwiesen hatte,<br />

beurteilten sie ihre Sün<strong>de</strong>n nur mil<strong>de</strong>. Sie bil<strong>de</strong>ten sich ein, daß sie besser seien als an<strong>de</strong>re<br />

Menschen und Gottes Segnungen verdienten. <strong>Die</strong>se Dinge wur<strong>de</strong>n „geschrieben uns zur<br />

Warnung, auf welche das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Welt gekommen ist“. 1.Korinther 10,11. Wie oft legen wir<br />

die Segnungen Gottes falsch aus und bil<strong>de</strong>n uns ein, daß wir wegen irgen<strong>de</strong>iner Tugend<br />

60


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

begünstigt wer<strong>de</strong>n! Gott kann für uns nicht das tun, was er gerne tun möchte. Seine Gaben<br />

wer<strong>de</strong>n benutzt, um unsere Selbstzufrie<strong>de</strong>nheit zu vergrößern und unsere Herzen in Unglaube<br />

und Sün<strong>de</strong> zu verhärten.<br />

Johannes erklärte <strong>de</strong>n Lehrern Israels, daß sie sich durch ihren Stolz, ihre Selbstsucht und<br />

Grausamkeit als Otterngezücht ausgewiesen hätten — als tödlichen Fluch für das Volk, statt<br />

Kin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s gerechten und gehorsamen Abraham zu sein. Angesichts <strong>de</strong>s Lichtes, das sie von<br />

Gott empfangen hatten, waren sie noch schlimmer als die Hei<strong>de</strong>n, über die sie sich so erhaben<br />

fühlten. Sie hatten <strong>de</strong>n Felsen vergessen, aus <strong>de</strong>m sie gehauen, und <strong>de</strong>s Brunnens Schacht, aus<br />

<strong>de</strong>m sie gegraben wor<strong>de</strong>n waren. Gott war nicht auf sie angewiesen, um seine Absicht zu<br />

verwirklichen. Wie er Abraham aus einem heidnischen Volk herausgerufen hatte, so konnte er<br />

auch an<strong>de</strong>re zu seinem <strong>Die</strong>nst berufen. Ihre Herzen mochten jetzt so leblos erscheinen wie die<br />

Steine in <strong>de</strong>r Wüste, aber sein Geist wäre imstan<strong>de</strong>, sie neu zu beleben, daß sie nach seinem<br />

Willen han<strong>de</strong>lten und die Erfüllung seiner Verheißung erlebten.<br />

„Es ist schon die Axt <strong>de</strong>n Bäumen an die Wurzel gelegt“, sagt <strong>de</strong>r Prophet. „Darum, welcher<br />

Baum nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen.“ Matthäus 3,10. Der<br />

Wert eines Baumes wird nicht nach seinem Namen bestimmt, son<strong>de</strong>rn nach seinen Früchten.<br />

Wenn die Früchte nichts wert sind, dann kann <strong>de</strong>r Name <strong>de</strong>n Baum nicht davor bewahren,<br />

umgehauen zu wer<strong>de</strong>n. Johannes erklärte <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n, daß ihr Ansehen vor Gott durch ihren<br />

Charakter und ihr Leben bestimmt wür<strong>de</strong>. Ein Bekenntnis allein war wertlos. Wenn ihr Leben<br />

und ihr Charakter nicht mit Gottes Gesetz übereinstimmte, dann waren sie nicht sein<br />

Volk. Seine herzbewegen<strong>de</strong>n Worte überführten seine Zuhörer. Sie kamen zu ihm und fragten:<br />

„Was sollen wir <strong>de</strong>nn tun?“ Lukas 3,10. Er antwortete: „Wer zwei Röcke hat, <strong>de</strong>r gebe <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r<br />

keinen hat; und wer Speise hat, tue auch also.“ Lukas 3,11. Und er warnte die Zöllner,<br />

ungerecht zu han<strong>de</strong>ln, und die Soldaten, gewalttätig zu sein.<br />

Alle, die im Reiche <strong>Christi</strong> leben wollten, müßten Glauben und Reue beweisen. In ihrem<br />

Wan<strong>de</strong>l müßten Güte, Rechtschaffenheit und Treue offenbar wer<strong>de</strong>n. Solche Gläubigen wür<strong>de</strong>n<br />

<strong>de</strong>n Bedürftigen helfen und Gott ihre Gaben darbringen. Sie wür<strong>de</strong>n die Wehrlosen beschützen<br />

und ihrer Umgebung ein Beispiel praktischer Nächstenliebe sein. So wer<strong>de</strong>n auch die wahren<br />

Nachfolger <strong>Christi</strong> von <strong>de</strong>r umgestalten<strong>de</strong>n Macht <strong>de</strong>s Heiligen Geistes Zeugnis geben. In ihrem<br />

täglichen Leben wer<strong>de</strong>n sie Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und göttliche Liebe zeigen;<br />

an<strong>de</strong>rnfalls glichen sie <strong>de</strong>r Spreu, die <strong>de</strong>m Feuer übergeben wer<strong>de</strong>n wird.<br />

„Ich taufe euch mit Wasser zur Buße; <strong>de</strong>r aber nach mir kommt, ist stärker als ich, und ich<br />

bin nicht genug, ihm die Schuhe abzunehmen; <strong>de</strong>r wird euch mit <strong>de</strong>m heiligen Geist und mit<br />

Feuer taufen.“ Matthäus 3,11. Der Prophet Jesaja hatte erklärt, <strong>de</strong>r Herr wer<strong>de</strong> sein Volk „durch<br />

<strong>de</strong>n Geist, <strong>de</strong>r richten und ein Feuer anzün<strong>de</strong>n wird“, von seinen Übertretungen reinigen. Das<br />

Wort <strong>de</strong>s Herrn an Israel lautete: „Und will meine Hand wi<strong>de</strong>r dich kehren und wie mit Lauge<br />

ausschmelzen, was Schlacke ist, und all <strong>de</strong>in Zinn ausschei<strong>de</strong>n.“ Jesaja 4,4; Jesaja 1,25. Für die<br />

Sün<strong>de</strong> ist „unser Gott ... ein verzehrend Feuer“ (Hebräer 12,29), ganz gleich, wo sie<br />

vorgefun<strong>de</strong>n wird. In allen, die sich ihm unterwerfen, wird <strong>de</strong>r Geist Gottes die Sün<strong>de</strong><br />

verzehren. Aber wenn Menschen an <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> hängen, i<strong>de</strong>ntifizieren sie sich mit ihr. Dann wird<br />

61


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

die Herrlichkeit Gottes, welche die Sün<strong>de</strong> vernichtet, sie selbst vernichten. Jakob rief nach <strong>de</strong>r<br />

Nacht <strong>de</strong>s Ringens mit <strong>de</strong>m Engel: „Ich habe Gott von Angesicht gesehen, und doch wur<strong>de</strong><br />

mein Leben gerettet.“ 1.Mose 32,31. Jakob hatte sich an Esau schwer versündigt; doch er hatte<br />

Reue gezeigt. Seine Übertretung war vergeben und seine Sün<strong>de</strong> gesühnt; darum war er<br />

imstan<strong>de</strong>, die Offenbarung <strong>de</strong>r Gegenwart Gottes zu ertragen. Aber wo immer Menschen vor<br />

Gott traten, während sie absichtlich an Bösem festhielten, mußten sie sterben. Bei <strong>de</strong>r<br />

Wie<strong>de</strong>rkunft <strong>Christi</strong> wer<strong>de</strong>n die sündigen Menschen verzehrt wer<strong>de</strong>n „mit <strong>de</strong>m Hauch seines<br />

Mun<strong>de</strong>s“, und er wird mit ihnen „ein En<strong>de</strong> machen durch seine Erscheinung, wenn er<br />

kommt“. 2.Thessalonicher 2,8. Das Licht <strong>de</strong>r göttlichen Herrlichkeit, das <strong>de</strong>n Gerechten Leben<br />

gibt, wird die Sün<strong>de</strong>r töten.<br />

Zur Zeit Johannes <strong>de</strong>s Täufers stand Jesus im Begriff, als <strong>de</strong>r zu erscheinen, <strong>de</strong>r das Wesen<br />

Gottes offenbart. Schon durch seine Gegenwart wür<strong>de</strong>n die Menschen ihrer Sün<strong>de</strong>n bewußt<br />

wer<strong>de</strong>n. Aber nur, wer willens war, sich von seiner Sündhaftigkeit reinigen zu lassen, konnte in<br />

seine Gemeinschaft aufgenommen wer<strong>de</strong>n. Nur wer reines Herzens war, vermochte in seiner<br />

Gegenwart zu bestehen. So erklärte <strong>de</strong>r Täufer die Botschaft Gottes an Israel. Viele achteten auf<br />

seine Lehre. Sie opferten alles, um <strong>de</strong>r Botschaft gehorsam zu sein. In Scharen folgten sie<br />

Johannes von Ort zu Ort; es waren sogar etliche unter ihnen, die hofften, daß er <strong>de</strong>r Messias sei.<br />

Als Johannes bemerkte, daß sich die Herzen seiner Zuhörer ihm zuwandten, benutzte er je<strong>de</strong><br />

Gelegenheit, ihren Glauben auf <strong>de</strong>n zu lenken, <strong>de</strong>ssen Kommen er vorbereitete.<br />

62


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 11: <strong>Die</strong> Taufe<br />

<strong>Die</strong> Kun<strong>de</strong> von <strong>de</strong>m Wüstenprediger und seiner wun<strong>de</strong>rbaren Botschaft verbreitete sich über<br />

ganz Galiläa. Sie erreichte die Bauern in <strong>de</strong>n entlegensten Gebirgsorten, drang zu <strong>de</strong>n Fischern<br />

am See und fand in diesen einfachen, ernsten Herzen ehrlichen Wi<strong>de</strong>rhall. Auch in Nazareth,<br />

auch in <strong>de</strong>r Werkstatt Josephs wur<strong>de</strong> von ihr gesprochen, und einer erkannte <strong>de</strong>n Ruf. Seine Zeit<br />

war gekommen. Er verließ seine tägliche Arbeit, nahm Abschied von seiner Mutter und folgte<br />

seinen Landsleuten, die zum Jordan hinströmten. Jesus und Johannes <strong>de</strong>r Täufer waren<br />

verwandt und durch die Umstän<strong>de</strong> ihrer Geburt eng miteinan<strong>de</strong>r verbun<strong>de</strong>n; <strong>de</strong>nnoch kannten<br />

sie sich nicht persönlich. Jesus hatte sich bisher in Nazareth aufgehalten, Johannes dagegen in<br />

<strong>de</strong>r Wüste von Judäa. Bei<strong>de</strong> hatten, obgleich in völlig verschie<strong>de</strong>ner Umgebung, in größter<br />

Abgeschlossenheit gelebt und keine Verbindung miteinan<strong>de</strong>r gehabt. <strong>Die</strong> Vorsehung hatte es so<br />

bestimmt. Es sollte nicht <strong>de</strong>r Verdacht aufkommen, bei<strong>de</strong> hätten sich zusammengetan, um<br />

einan<strong>de</strong>r ihren Anspruch zu stützen und sich gegenseitig zu bestätigen.<br />

Johannes kannte die Ereignisse, die <strong>Christi</strong> Geburt begleitet hatten. Er wußte auch von Jesu<br />

Besuch als Knabe in Jerusalem, von <strong>de</strong>m Vorgang in <strong>de</strong>r Schule <strong>de</strong>r Rabbiner und von seinem<br />

sündlosen Leben. Er glaubte, daß Jesus <strong>de</strong>r Messias sei, wenn ihm auch keine ausdrückliche<br />

Gewißheit darüber gegeben war. <strong>Die</strong> Tatsache, daß Jesus so viele Jahre zurückgezogen gelebt<br />

hatte, ohne einen Hinweis auf seine Bestimmung zu geben, hätte Zweifel hervorrufen können,<br />

ob er <strong>de</strong>r Verheißene sei. Der Täufer aber wartete voller Glaubenszuversicht, daß Gott zu seiner<br />

Zeit alles klärte. Es war ihm offenbart wor<strong>de</strong>n, daß <strong>de</strong>r Messias begehren wür<strong>de</strong>, von ihm<br />

getauft zu wer<strong>de</strong>n, und daß hierbei ein Zeichen seines göttlichen Wesens gegeben wer<strong>de</strong>n sollte,<br />

wodurch es ihm möglich wür<strong>de</strong>, ihn <strong>de</strong>m Volke vorzustellen.<br />

Als Jesus zur Taufe kam, erkannte Johannes in ihm eine Reinheit <strong>de</strong>s Charakters, wie er sie<br />

bisher noch bei keinem Menschen wahrgenommen hatte. Etwas Heiliges umgab ihn und flößte<br />

Ehrfurcht ein. Viele, die zu Johannes an <strong>de</strong>n Jordan gekommen waren, hatten schwere Schuld<br />

auf sich gela<strong>de</strong>n und erschienen nie<strong>de</strong>rgebeugt von <strong>de</strong>r Last ihrer zahllosen Sün<strong>de</strong>n. Es war aber<br />

noch keiner bei ihm gewesen, von <strong>de</strong>m solch göttlicher Einfluß ausging wie von Jesus. <strong>Die</strong>s<br />

stimmte damit überein, was ihm über <strong>de</strong>n Messias geweissagt wor<strong>de</strong>n war. Und <strong>de</strong>nnoch<br />

zögerte er, die Bitte Jesu zu erfüllen. Wie konnte er als sündiger Mensch <strong>de</strong>n Sündlosen taufen!<br />

Und warum sollte dieser, <strong>de</strong>r keiner Buße bedurfte, sich einer Handlung unterziehen, die als<br />

Sinnbild dafür galt, daß eine Schuld abzuwaschen war?<br />

Als Jesus um die Taufe bat, wehrte ihm Johannes, in<strong>de</strong>m er ausrief: „Ich bedarf wohl, daß<br />

ich von dir getauft wer<strong>de</strong>, und du kommst zu mir?“ Jesus antwortete: „Laß es jetzt also<br />

geschehen, <strong>de</strong>nn so gebührt es uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen.“ Da gab Johannes nach,<br />

führte Jesus hinein in <strong>de</strong>n Jordan und tauchte ihn unter. Als Jesus heraufstieg „aus <strong>de</strong>m Wasser<br />

... siehe, da tat sich <strong>de</strong>r Himmel auf, und er sah <strong>de</strong>n Geist Gottes wie eine Taube herabfahren<br />

und über sich kommen“. Matthäus 3,14-16. Jesus empfing die Taufe nicht im Sinne eines<br />

Schuldbekenntnisses. Er stellte sich aber <strong>de</strong>n Sün<strong>de</strong>rn gleich und tat alles, was auch wir tun<br />

63


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

müssen. Sein Leben <strong>de</strong>s Lei<strong>de</strong>ns und <strong>de</strong>s geduldigen Ausharrens nach seiner Taufe ist ein<br />

Beispiel für uns.<br />

Nach seiner Taufe beugte sich <strong>de</strong>r Heiland am Ufer im Gebet vor Gott, <strong>de</strong>m Vater. Ein neuer<br />

und wichtiger Lebensabschnitt öffnete sich vor ihm. Er ging jetzt, auf einer höheren Ebene,<br />

seinem Lebenskampf entgegen. Wohl war er <strong>de</strong>r Fürst <strong>de</strong>s Frie<strong>de</strong>ns, doch sein Kommen war<br />

eher eine Kampfansage. Das Reich nämlich, das er aufrichten wollte, war das Gegenteil von<br />

<strong>de</strong>m, was sich die Ju<strong>de</strong>n wünschten. Er, <strong>de</strong>r die Grundlage aller gottesdienstlichen Handlungen<br />

Israels war, wür<strong>de</strong> als <strong>de</strong>ren Feind und Zerstörer angesehen wer<strong>de</strong>n. Er, <strong>de</strong>r auf Sinai das<br />

Gesetz verkündigt hatte, wür<strong>de</strong> als Gesetzesübertreter verdammt wer<strong>de</strong>n. Er, <strong>de</strong>r gekommen<br />

war, die Macht Satans zu brechen, wür<strong>de</strong> als Beelzebub angeklagt wer<strong>de</strong>n. Niemand auf Er<strong>de</strong>n<br />

hatte ihn verstan<strong>de</strong>n; noch während seines <strong>Die</strong>nstes mußte er allein wan<strong>de</strong>ln. Seine Mutter und<br />

seine Brü<strong>de</strong>r hatten seiner Aufgabe kein Verständnis entgegenbringen können. Selbst seine<br />

Jünger begriffen ihn nicht. Er hatte im ewigen Licht gewohnt, eins mit Gott; in seinem irdischen<br />

Leben jedoch mußte er einsam und allein gehen.<br />

Schicksalsverbun<strong>de</strong>n mußte er die Last unserer Schuld und unseres Elends mit uns tragen.<br />

Der Sündlose mußte die ganze Schmach <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> fühlen. Der Friedfertige mußte inmitten von<br />

Zank und Streit leben; die Wahrheit mußte bei <strong>de</strong>r Falschheit, die Reinheit bei <strong>de</strong>m Laster<br />

wohnen. Je<strong>de</strong> Sün<strong>de</strong>, je<strong>de</strong>r Mißklang, je<strong>de</strong>s ver<strong>de</strong>rbliche Verlangen, das die Übertretung mit<br />

sich brachte, quälte ihn. Der Heiland mußte seinen Weg allein wan<strong>de</strong>ln; allein mußte er die<br />

schwere Last tragen. Auf ihm ruhte die Erlösung <strong>de</strong>r Welt, obwohl er seiner göttlichen<br />

Herrlichkeit entklei<strong>de</strong>t war und die schwache menschliche Natur angenommen hatte. Er sah und<br />

empfand alles und blieb doch seiner Aufgabe treu. Von ihm hing das Heil <strong>de</strong>s gefallenen<br />

Menschengeschlechts ab, und er streckte die Hand aus, um die allmächtige Liebe Gottes zu<br />

ergreifen.<br />

Jesu Blick schien <strong>de</strong>n Himmel zu durchdringen, während er betete. Er wußte, wie sehr die<br />

Sün<strong>de</strong> die Herzen <strong>de</strong>r Menschen verhärtet hat und wie schwer es für sie sein wür<strong>de</strong>, seine<br />

Mission zu erkennen und die Heilsgabe anzunehmen. Er bat <strong>de</strong>n Vater um Kraft, ihren<br />

Unglauben zu überwin<strong>de</strong>n, die Fesseln zu sprengen, die Satan um sie gelegt hat, und um<br />

ihretwillen <strong>de</strong>n Ver<strong>de</strong>rber zu besiegen. Er bat um einen Beweis, daß Gott die Menschen durch<br />

<strong>de</strong>n Menschensohn wie<strong>de</strong>r in Gna<strong>de</strong>n annehmen wolle. Nie zuvor hatten die Engel ein solches<br />

Gebet gehört. Sie verlangten danach, ihrem Herrn eine Botschaft tröstlicher Gewißheit zu<br />

bringen. Aber <strong>de</strong>r Vater selbst wollte die Bitte seines Sohnes beantworten. Vom Throne Gottes<br />

her leuchtete strahlend seine Herrlichkeit. Der Himmel öffnete sich, und eine Lichtgestalt „wie<br />

eine Taube“ ließ sich auf <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s Haupt herab als ein Sinnbild für ihn, <strong>de</strong>n Sanftmütigen<br />

und Demütigen.<br />

Außer Johannes sahen nur wenige aus <strong>de</strong>r gewaltigen Menschenmenge am Jordan die<br />

himmlische Erscheinung. Dennoch ruhte <strong>de</strong>r feierliche Ernst <strong>de</strong>r Gegenwart Gottes auf <strong>de</strong>r<br />

großen Versammlung. Alle schauten schweigend auf Christus. Seine Gestalt war in Licht<br />

gehüllt, wie es stets <strong>de</strong>n Thron Gottes umgibt. Sein nach oben gewandtes Angesicht war<br />

verklärt, wie sie vor ihm noch keines Menschen Antlitz gesehen hatten. Vom geöffneten<br />

64


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Himmel herab sprach eine Stimme: „<strong>Die</strong>s ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen<br />

habe.“ Matthäus 3,17. <strong>Die</strong>se bestätigen<strong>de</strong>n Worte wur<strong>de</strong>n <strong>de</strong>nen, die diesem Ereignis<br />

beiwohnten, gegeben, um ihren Glauben anzufachen und <strong>de</strong>n Heiland für seine Aufgabe zu<br />

stärken. Ungeachtet <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>n einer schuldigen Welt, die auf Christus gelegt waren,<br />

ungeachtet auch <strong>de</strong>r Erniedrigung, die sündige, menschliche Natur angenommen zu haben,<br />

nannte die Stimme vom Himmel ihn <strong>de</strong>n Sohn <strong>de</strong>s Ewigen.<br />

Johannes war tief bewegt, als er sah, wie Jesus sich als Bitten<strong>de</strong>r beugte und unter Tränen<br />

seinen Vater um ein Zeichen <strong>de</strong>r Übereinstimmung mit seinem Willen anflehte. Als die<br />

Herrlichkeit Gottes ihn umgab und die Stimme vom Himmel zu hören war, da erkannte<br />

Johannes das von Gott verheißene Zeichen. Jetzt war es ihm zur Gewißheit gewor<strong>de</strong>n, daß er<br />

<strong>de</strong>n Erlöser <strong>de</strong>r Welt getauft hatte. Der Heilige Geist ruhte auf ihm, und mit ausgestreckter<br />

Hand auf Jesus zeigend, rief er: „Siehe, das ist Gottes Lamm, welches <strong>de</strong>r Welt Sün<strong>de</strong><br />

trägt!“ Johannes 1,29.<br />

Keiner <strong>de</strong>r Zuhörer — auch nicht Johannes — begriff die wahre Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Worte „das<br />

Lamm Gottes“. Auf <strong>de</strong>m Berge Morija hatte Abraham die Frage seines Sohnes gehört: „Mein<br />

Vater ... wo ist aber das Schaf zum Brandopfer?“ Der Vater hatte geantwortet: „Mein Sohn,<br />

Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer.“ 1.Mose 22,7.8. Und in <strong>de</strong>m Wid<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>n<br />

Gott an Stelle Isaaks sandte, sah Abraham ein Sinnbild <strong>de</strong>ssen, <strong>de</strong>r für die Sün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r<br />

Menschen sterben sollte. In diesem Bil<strong>de</strong> sprach auch Jesaja durch <strong>de</strong>n Heiligen Geist von<br />

Christus: „Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein<br />

Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem<br />

Scherer ... <strong>de</strong>r Herr warf unser aller Sün<strong>de</strong> auf ihn.“ Jesaja 53,7.6. Aber das Volk Israel hatte die<br />

Lehre nicht verstan<strong>de</strong>n. Viele betrachteten die Sühnopfer nicht an<strong>de</strong>rs als die Hei<strong>de</strong>n ihre<br />

Opfer; nämlich als Gaben, durch die sie selbst die Gottheit versöhnen könnten. Doch <strong>de</strong>r Herr<br />

wollte die Israeliten lehren, daß nur seine eigene Liebe es ist, die sie mit ihm versöhnen kann.<br />

<strong>Die</strong> Worte, die zu Jesus am Jordan gesprochen wur<strong>de</strong>n: „Siehe, das ist mein lieber Sohn, an<br />

welchem ich Wohlgefallen habe“, schließen das ganze Menschengeschlecht ein. Gott sprach zu<br />

Jesus, <strong>de</strong>n er als unseren Stellvertreter sah. Wir wer<strong>de</strong>n trotz unserer Sün<strong>de</strong>n und Schwächen<br />

nicht von Gott als Unwürdige verworfen; <strong>de</strong>nn er hat uns „begna<strong>de</strong>t ... in <strong>de</strong>m<br />

Geliebten“. Epheser 1,6. <strong>Die</strong> Herrlichkeit, die auf Christus ruhte, ist ein Pfand <strong>de</strong>r Liebe Gottes<br />

für uns. Sie gibt uns auch einen Hinweis auf die Macht <strong>de</strong>s Gebets und lehrt uns, wie unsere<br />

Stimme das Ohr Gottes erreichen kann und wie unsere Bitten in <strong>de</strong>n himmlischen Höfen<br />

Erhörung fin<strong>de</strong>n können. Durch die Sün<strong>de</strong> wur<strong>de</strong> die Verbindung <strong>de</strong>s Himmels mit <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong><br />

unterbrochen, und die Menschen wur<strong>de</strong>n <strong>de</strong>m Himmel entfrem<strong>de</strong>t; nun hatte Jesus sie wie<strong>de</strong>r<br />

mit <strong>de</strong>m Reich <strong>de</strong>r Herrlichkeit verbun<strong>de</strong>n. Seine Liebe umschloß alle Menschen und reichte bis<br />

an <strong>de</strong>n höchsten Himmel. Das Licht, das aus <strong>de</strong>m geöffneten Himmel auf das Haupt <strong>de</strong>s<br />

Heilan<strong>de</strong>s fiel, wird auch uns scheinen, wenn wir ernstlich um Hilfe bitten, <strong>de</strong>r Versuchung zu<br />

wi<strong>de</strong>rstehen. <strong>Die</strong> gleiche göttliche Stimme spricht zu je<strong>de</strong>r gläubigen Seele: Du bist mein Kind,<br />

an <strong>de</strong>m ich Wohlgefallen habe!<br />

65


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

„Wir sind nun Gottes Kin<strong>de</strong>r; und es ist noch nicht erschienen, was wir sein wer<strong>de</strong>n. Wir<br />

wissen aber, wenn es erscheinen wird, daß wir ihm gleich sein wer<strong>de</strong>n; <strong>de</strong>nn wir wer<strong>de</strong>n ihn<br />

sehen, wie er ist.“ 1.Johannes 3,2. Der Heiland hat <strong>de</strong>n Weg bereitet, damit auch <strong>de</strong>r<br />

Sündhafteste, <strong>de</strong>r Bedürftigste, <strong>de</strong>r Unterdrückteste und <strong>de</strong>r Allerverachtetste Zutritt zum Vater<br />

fin<strong>de</strong>n kann. Alle können ihren Platz haben in <strong>de</strong>n herrlichen Wohnungen, die Jesus hinging zu<br />

bereiten. „Das sagt <strong>de</strong>r Heilige, <strong>de</strong>r Wahrhaftige, <strong>de</strong>r da hat <strong>de</strong>n Schlüssel Davids, <strong>de</strong>r auftut,<br />

und niemand schließt zu, <strong>de</strong>r zuschließt, und niemand tut auf: ... Siehe, ich habe vor dir gegeben<br />

eine offene Tür, und niemand kann sie zuschließen.“ Offenbarung 3,7.8.<br />

66


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 12: <strong>Die</strong> Versuchung<br />

„Jesus aber, voll heiligen Geistes, kam wie<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>m Jordan und ward vom Geist in die<br />

Wüste geführt.“ Lukas 4,1. <strong>Die</strong> Worte im Markusevangelium sind noch be<strong>de</strong>utsamer; es heißt<br />

dort: „Alsbald trieb ihn <strong>de</strong>r Geist in die Wüste; und er war in <strong>de</strong>r Wüste vierzig Tage und ward<br />

versucht von <strong>de</strong>m Satan und war bei <strong>de</strong>n Tieren.“ „Und er aß nichts in diesen Tagen.“ Markus<br />

1,12.13. Der Geist Gottes leitete <strong>de</strong>n Heiland, als er in die Wüste geführt wur<strong>de</strong>, um versucht zu<br />

wer<strong>de</strong>n. Jesus hatte die Versuchung nicht gesucht; er ging in die Wüste, um allein zu sein, um<br />

über seine Aufgabe, seine Mission, nachzu<strong>de</strong>nken und um sich für <strong>de</strong>n Dornenweg, <strong>de</strong>r vor ihm<br />

lag, durch Beten und Fasten Kraft und Stärke zu holen. Satan aber wußte, daß Jesus in die<br />

Wüste gegangen war und hielt die Zeit für günstig, sich ihm zu nähern.<br />

In diesem Kampf zwischen <strong>de</strong>m Fürsten <strong>de</strong>s Lebens und <strong>de</strong>m Fürsten dieser Welt stand<br />

Gewaltiges auf <strong>de</strong>m Spiele. Nach<strong>de</strong>m Satan die Menschen zur Sün<strong>de</strong> verleitet hatte,<br />

beanspruchte er die Er<strong>de</strong> als sein Eigentum und nannte sich ihren Herrn. Da er das erste<br />

Elternpaar nach seinem eigenen Wesen beeinflußt und umgewan<strong>de</strong>lt hatte, gedachte er hier sein<br />

Reich zu grün<strong>de</strong>n. Er behauptete, die Menschen hätten ihn zu ihrem Oberhaupt gewählt. Durch<br />

seine Macht über sie behielt er die Herrschaft über die Welt. Christus aber war gekommen,<br />

diesen Anspruch Satans zu wi<strong>de</strong>rlegen. Als Menschensohn wür<strong>de</strong> er Gott treu bleiben und<br />

dadurch beweisen, daß <strong>de</strong>r Teufel nicht die vollständige Herrschaft über das<br />

Menschengeschlecht gewonnen hätte und daß seine Ansprüche auf die Welt unbegrün<strong>de</strong>t<br />

wären. Alle sollten frei wer<strong>de</strong>n, die von Satans Einfluß loskommen wollten. <strong>Die</strong> Herrschaft, die<br />

Adam verloren hatte, sollte wie<strong>de</strong>rhergestellt wer<strong>de</strong>n.<br />

Seit <strong>de</strong>r Ankündigung an die Schlange: „Ich will Feindschaft setzen zwischen dir und <strong>de</strong>m<br />

Weibe und zwischen <strong>de</strong>inem Nachkommen und ihrem Nachkommen“ (1.Mose 3,15) wußte<br />

Satan, daß er keine unumschränkte Gewalt über die Welt hatte. Im Menschen war das Wirken<br />

einer Kraft spürbar, die seiner Herrschaft wi<strong>de</strong>rstand. Gespannt beobachtete er die von Adam<br />

und seinen Söhnen dargebrachten Opfer. Er erkannte in diesen Handlungen eine sinnbildliche<br />

Verbindung zwischen Himmel und Er<strong>de</strong> und nahm sich vor, diese Gemeinschaft zu stören. Er<br />

stellte Gott in ein falsches Licht und miß<strong>de</strong>utete die gottesdienstlichen Handlungen, die auf<br />

Christus hinwiesen. <strong>Die</strong> Menschen wur<strong>de</strong>n dahin gebracht, Gott als ein Wesen zu fürchten, das<br />

an ihrem Ver<strong>de</strong>rben Gefallen habe. <strong>Die</strong> Opfer, die Gottes Liebe hätten offenbaren sollen,<br />

wur<strong>de</strong>n dargebracht, um seinen Zorn zu besänftigen. Satan erregte die bösen Lei<strong>de</strong>nschaften <strong>de</strong>r<br />

Menschen, um seine Herrschaft über sie zu festigen. Als das geschriebene Wort Gottes gegeben<br />

wur<strong>de</strong>, erforschte Satan die Prophezeiungen vom Kommen <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s. Von Geschlecht zu<br />

Geschlecht bemühte er sich, die Menschen gegen diese Weissagungen blind zu machen, damit<br />

sie <strong>de</strong>n Messias bei seinem Kommen verwürfen.<br />

Mit <strong>de</strong>r Geburt Jesu wußte Satan, daß <strong>de</strong>r Eine gekommen war mit <strong>de</strong>m göttlichen Auftrag,<br />

ihm seinen Herrschaftsanspruch streitig zu machen. Er zitterte bei <strong>de</strong>r Botschaft <strong>de</strong>s Engels, <strong>de</strong>r<br />

die Autorität <strong>de</strong>s neugeborenen Königs bezeugte. Ihm war wohl bekannt, welche bevorzugte<br />

Stellung Jesus als <strong>de</strong>r Geliebte <strong>de</strong>s Vaters im Himmel innegehabt hatte. Daß dieser Sohn Gottes<br />

67


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

als Mensch auf die Er<strong>de</strong> kommen sollte, erfüllte ihn mit Bestürzung und Furcht. Er konnte das<br />

Geheimnis dieses großen Opfers nicht fassen. Seine selbstsüchtige Seele konnte eine solche<br />

Liebe zu <strong>de</strong>m irregeleiteten Geschlecht nicht verstehen. <strong>Die</strong> Menschen selbst begriffen die<br />

Herrlichkeit und <strong>de</strong>n Frie<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Himmels und die Freu<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Gemeinschaft mit Gott nur<br />

unklar; Luzifer, <strong>de</strong>m schirmen<strong>de</strong>n Cherub, waren diese Segnungen gut bekannt. Seit<strong>de</strong>m er <strong>de</strong>n<br />

Himmel verloren hatte, war er zur Rache entschlossen. Er veranlaßte an<strong>de</strong>re, seinen Sturz mit<br />

ihm zu teilen. Und dies gelang ihm am besten dadurch, daß er die Menschen beeinflußte, die<br />

himmlischen Dinge zu unterschätzen und ihre Herzen an irdische Dinge zu hängen.<br />

Nur sehr schwer konnte <strong>de</strong>r Herr <strong>de</strong>s Himmels Menschenseelen für sein Reich gewinnen.<br />

Von <strong>de</strong>r Zeit seiner Geburt in Bethlehem an stellte Satan ihm unaufhörlich nach. Das Bild<br />

Gottes war in Jesus geoffenbart, und Satan hatte beschlossen, <strong>de</strong>n Heiland zu überwin<strong>de</strong>n. Noch<br />

kein menschliches Wesen war auf Er<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Macht <strong>de</strong>s Betrügers entronnen. Alle Mächte <strong>de</strong>s<br />

Bösen vereinigten sich, Jesu Weg zu verfolgen, um wi<strong>de</strong>r ihn zu streiten und ihn nach<br />

Möglichkeit zu besiegen. Bei <strong>de</strong>r Taufe <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s war auch <strong>de</strong>r Teufel unter <strong>de</strong>n<br />

Augenzeugen. Er sah, wie die Herrlichkeit Gottes <strong>de</strong>n Sohn umhüllte. Er hörte, wie die Stimme<br />

<strong>de</strong>s Herrn die Gottheit Jesu bezeugte. Seit <strong>de</strong>m Fall Adams hatte <strong>de</strong>r persönliche Verkehr <strong>de</strong>r<br />

Menschen mit Gott aufgehört; die Verbindung zwischen Himmel und Er<strong>de</strong> war nun durch<br />

Christus wie<strong>de</strong>rhergestellt wor<strong>de</strong>n. Aber nun, da Jesus „in <strong>de</strong>r Gestalt <strong>de</strong>s sündlichen Fleisches“<br />

(Römer 8,3) gekommen war, sprach <strong>de</strong>r Vater jetzt wie<strong>de</strong>r selbst. Einst hatte er durch Christus<br />

mit <strong>de</strong>n Menschen gere<strong>de</strong>t, jetzt verkehrte er mit ihnen in Christus. Satan hatte damit gerechnet,<br />

daß die Abneigung Gottes gegen das Böse eine ewige Trennung zwischen Himmel und Er<strong>de</strong><br />

herbeiführen wür<strong>de</strong>. <strong>Die</strong>se Hoffnung erfüllte sich nicht; <strong>de</strong>nn es wur<strong>de</strong> offenbar, daß durch <strong>de</strong>n<br />

Mittler Jesus Christus nun wie<strong>de</strong>r eine Verbindung zwischen Gott und <strong>de</strong>n Menschen<br />

hergestellt war.<br />

Satan erkannte, daß es für ihn darum ging, zu siegen o<strong>de</strong>r aber besiegt zu wer<strong>de</strong>n. Von <strong>de</strong>m<br />

Ausgang <strong>de</strong>s Kampfes hing zuviel ab, um ihn seinen Verbün<strong>de</strong>ten, <strong>de</strong>n Geistern in <strong>de</strong>r Luft, zu<br />

überlassen; er mußte selbst die Führung in diesem Streit übernehmen. Alle Mächte <strong>de</strong>s Abfalls<br />

wur<strong>de</strong>n gegen <strong>de</strong>n Sohn Gottes aufgeboten. Christus wur<strong>de</strong> zur Zielscheibe aller teuflischen<br />

Waffen. Viele betrachten diesen Kampf zwischen Christus und Satan so, als hätte er keine<br />

beson<strong>de</strong>re Tragweite für ihr eigenes Leben. Sie nehmen darum auch wenig inneren Anteil an<br />

ihm. Und doch wie<strong>de</strong>rholt sich dieser Kampf in je<strong>de</strong>m Menschenherzen. Keiner verläßt die<br />

Reihen Satans, um in <strong>de</strong>n <strong>Die</strong>nst Gottes zu treten, <strong>de</strong>r nicht <strong>de</strong>n schärfsten Angriffen <strong>de</strong>s Bösen<br />

ausgesetzt wäre. <strong>Die</strong> Verlockungen, <strong>de</strong>nen Christus wi<strong>de</strong>rstand, waren <strong>de</strong>rselben Art, wie sie<br />

auch an uns herantreten und von uns so schwer überwun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. Sie wur<strong>de</strong>n ihm in so viel<br />

stärkerem Maße aufgezwungen, wie sein Charakter erhabener war als <strong>de</strong>r unsrige. Mit <strong>de</strong>r<br />

furchtbaren Sün<strong>de</strong>nlast <strong>de</strong>r Welt, die auf ihm lag, wi<strong>de</strong>rstand <strong>de</strong>r Heiland <strong>de</strong>n fleischlichen<br />

Lüsten, <strong>de</strong>r Welt- und <strong>de</strong>r Eigenliebe, die nur zu Vermessenheit führt. In diesen Versuchungen<br />

unterlagen Adam und Eva, und auch wir wer<strong>de</strong>n leicht von ihnen überwun<strong>de</strong>n.<br />

Satan verwies auf die Sün<strong>de</strong> Adams, um zu beweisen, daß Gottes Gesetz ungerecht sei und<br />

nicht gehalten wer<strong>de</strong>n könne. Angetan mit unserer menschlichen Natur, sollte Christus Adams<br />

68


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Übertretungen wie<strong>de</strong>rgutmachen. Doch hatte die Sün<strong>de</strong> noch keine Wirkung auf Adam gehabt,<br />

als er von <strong>de</strong>m Versucher angegriffen wur<strong>de</strong>; er stand in <strong>de</strong>r Kraft vollkommener Männlichkeit,<br />

im Besitz völliger körperlicher und geistiger Gesundheit. Dazu war er noch von <strong>de</strong>r Herrlichkeit<br />

<strong>de</strong>s Gartens E<strong>de</strong>n umgeben und genoß <strong>de</strong>n täglichen Umgang mit himmlischen Wesen. Unter<br />

ganz an<strong>de</strong>ren Verhältnissen betrat Jesus die Wüste, um sich mit Satan zu messen. Schon<br />

viertausend Jahre lang hatte das Menschengeschlecht an Körperkraft, Seelenstärke und sittlicher<br />

Tugend abgenommen; <strong>de</strong>nnoch nahm <strong>de</strong>r Heiland alle Schwachheiten <strong>de</strong>r entarteten<br />

Menschheit auf sich. Nur so vermochte er die Menschen aus <strong>de</strong>r tiefsten Erniedrigung zu<br />

erretten.<br />

Viele behaupten, daß es für <strong>de</strong>n Heiland unmöglich war, in <strong>de</strong>r Versuchung zu fallen. Sie<br />

haben unrecht; <strong>de</strong>nn wie hätte Jesus sonst an Stelle <strong>de</strong>s sündigen Menschen stehen können! Er<br />

hätte dann auch nicht <strong>de</strong>n Sieg, zu <strong>de</strong>m Adam sich nicht durchrang, erkämpfen können. Wür<strong>de</strong>n<br />

wir in irgen<strong>de</strong>iner Weise einen schwierigeren Kampf zu bestehen haben als Christus, dann<br />

könnte er nicht imstan<strong>de</strong> sein, uns zu helfen. Der Heiland nahm die menschliche Natur an mit<br />

all ihren schuldhaften Verstrickungen, selbst mit <strong>de</strong>r Möglichkeit, in <strong>de</strong>n Versuchungen zu<br />

unterliegen. Wir haben nichts zu tragen, was nicht auch er erdul<strong>de</strong>t hätte.<br />

Sowohl bei <strong>de</strong>m Herrn als auch bei <strong>de</strong>m ersten Menschenpaar war die Eßlust <strong>de</strong>r Grund zur<br />

ersten großen Versuchung. Gera<strong>de</strong> hierbei, womit das Ver<strong>de</strong>rben seinen Anfang genommen<br />

hatte, mußte auch das Erlösungswerk beginnen. Wie Adam durch die Befriedigung <strong>de</strong>r Eßlust in<br />

Sün<strong>de</strong> fiel, so mußte Christus durch die Verleugnung <strong>de</strong>r Eßlust überwin<strong>de</strong>n. „Da er vierzig<br />

Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, hungerte ihn. Und <strong>de</strong>r Versucher trat zu ihm und sprach:<br />

Bist du Gottes Sohn, so sprich, daß diese Steine Brot wer<strong>de</strong>n. Und er antwortete und sprach: Es<br />

steht geschrieben: ‚Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, son<strong>de</strong>rn von einem jeglichen Wort,<br />

das durch <strong>de</strong>n Mund Gottes geht.‘“ Matthäus 4,2-4.<br />

Von Adams Zeit an bis in die Tage Jesu hatte die Genußsucht die Macht <strong>de</strong>r Eßlust und <strong>de</strong>r<br />

Lei<strong>de</strong>nschaften so gestärkt, bis sie fast unumschränkt herrschte. Dadurch waren die Menschen<br />

ver<strong>de</strong>rbt und krank gewor<strong>de</strong>n. Es war ihnen daher auch unmöglich, sich selbst zu überwin<strong>de</strong>n.<br />

Ihretwegen bestand <strong>de</strong>r Heiland die härteste Prüfung. Um unsertwillen übte er eine<br />

Selbstbeherrschung, die noch stärker war als Hunger und Tod. <strong>Die</strong>ser erste Sieg umschloß noch<br />

manches, was in unseren Kämpfen gegen die Mächte <strong>de</strong>r Finsternis von Be<strong>de</strong>utung ist. Als<br />

Jesus die Wüste betrat, umhüllte ihn die Herrlichkeit seines Vaters. Er pflegte so innige<br />

Zwiesprache mit Gott, daß er <strong>de</strong>r menschlichen Schwäche gar nicht achtete. Doch die<br />

Herrlichkeit <strong>de</strong>s Vaters wich von ihm, und <strong>de</strong>r Heiland war <strong>de</strong>r stärksten Versuchung<br />

ausgesetzt. Je<strong>de</strong>n Augenblick konnte sie sich seiner bemächtigen. Seine menschliche Natur<br />

schreckte vor <strong>de</strong>m Kampf zurück, <strong>de</strong>r ihn erwartete. Vierzig Tage lang fastete und betete er.<br />

Schwach und abgezehrt vor Hunger, erschöpft und verhärmt durch größten Seelenschmerz, war<br />

„seine Gestalt häßlicher ... als die an<strong>de</strong>rer Leute und sein Aussehen als das <strong>de</strong>r<br />

Menschenkin<strong>de</strong>r“. Jesaja 52,14. Jetzt bot sich Satan die ersehnte Gelegenheit. Jetzt glaubte er<br />

Christus überwin<strong>de</strong>n zu können.<br />

69


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Er erschien <strong>de</strong>m Heiland in <strong>de</strong>r Gestalt eines Himmelsboten und gab vor, auf seine Gebete<br />

hin von Gott gesandt zu sein, um ihm das En<strong>de</strong> seines Fastens mitzuteilen. Wie einst Abrahams<br />

Hand durch einen Engel von <strong>de</strong>r Opferung seines Sohnes Isaak zurückgehalten wor<strong>de</strong>n war, so<br />

sei er jetzt zu seiner Befreiung gesandt; <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Vater habe sich schon mit seiner Bereitschaft,<br />

<strong>de</strong>n blutgetränkten Lei<strong>de</strong>nsweg zu beschreiten, zufrie<strong>de</strong>ngegeben. <strong>Die</strong>se Botschaft brachte er<br />

Jesus. Christus war durch das lange Fasten körperlich geschwächt und lechzte nach einer<br />

Stärkung, als Satan ihn plötzlich überfiel. Der Versucher zeigte auf die wüst umherliegen<strong>de</strong>n,<br />

Brotlaiben ähneln<strong>de</strong>n Steine und sagte: „Bist du Gottes Sohn, so sprich, daß diese Steine Brot<br />

wer<strong>de</strong>n.“ Matthäus 4,3.<br />

Obgleich <strong>de</strong>r Versucher als Engel <strong>de</strong>s Lichts erschien, mit <strong>de</strong>n Worten „Bist du Gottes Sohn“<br />

verriet er seinen wahren Charakter. Hierin lag <strong>de</strong>r Versuch, Mißtrauen in das Herz Jesu zu säen.<br />

Hätte Jesus <strong>de</strong>m Versucher nachgegeben, wäre sein Herz von Zweifeln erfüllt wor<strong>de</strong>n. Und<br />

damit hätte <strong>de</strong>r Teufel erreicht, was er wollte: <strong>de</strong>n Heiland durch das gleiche Mittel zu<br />

überwin<strong>de</strong>n, wodurch er schon von Anfang an Erfolge bei <strong>de</strong>n Menschen erzielt hatte. Wie<br />

schlau hatte Satan sich einst <strong>de</strong>r Eva im Paradies genähert! „Ja, sollte Gott gesagt haben? ihr<br />

sollt nicht essen von allen Bäumen im Garten?“ 1.Mose 3,1. Wohl sprach <strong>de</strong>r Versucher von<br />

Gott; aber <strong>de</strong>r Tonfall seiner Stimme verriet seine heimliche Verachtung <strong>de</strong>s Wortes Gottes. Es<br />

lag eine schlecht verhehlte Verneinung, ein Zweifeln an <strong>de</strong>r göttlichen Wahrheit darin.<br />

Satan war bestrebt, auch in Eva Mißtrauen gegen die Lauterkeit <strong>de</strong>r göttlichen Worte zu<br />

erwecken, und versuchte ihr verständlich zu machen, daß es unmöglich <strong>de</strong>r Liebe und Güte<br />

Gottes entsprechen könne, die schönen Früchte <strong>de</strong>s Baumes <strong>de</strong>r Erkenntnis <strong>de</strong>n Menschen<br />

vorzuenthalten. Auch jetzt versuchte Satan <strong>de</strong>m Heiland seine eigenen argen Gedanken<br />

einzuflüstern. Aus <strong>de</strong>r Bitterkeit seines Herzens kamen die Worte: „Bist du Gottes Sohn ...“ Der<br />

Klang seiner Stimme enthüllte seine völlige Ungläubigkeit. Wür<strong>de</strong> Gott seinen eingeborenen<br />

Sohn so behan<strong>de</strong>ln? Wür<strong>de</strong> er ihn in <strong>de</strong>r Wüste unter wil<strong>de</strong>n Tieren, ohne Nahrung, ohne<br />

Gesellschaft und ohne Trost lassen? Satan gab zu verstehen, daß Gott niemals seinen Sohn in<br />

einer <strong>de</strong>rartigen Lage ließe, und wollte Jesus veranlassen, so er Gottes Sohn wäre, sich durch<br />

seine göttliche Macht selbst zu helfen. Jesus sollte gebieten, daß die Steine Brot wür<strong>de</strong>n.<br />

<strong>Die</strong> Worte vom Himmel „<strong>Die</strong>s ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe“<br />

(Matthäus 3,17) hatte auch Satan gut im Gedächtnis behalten. Doch er wollte <strong>de</strong>n Heiland dahin<br />

bringen, diesen Worten zu mißtrauen. Gottes Wort war für Christus das Zeugnis seiner<br />

geheiligten Mission. Er war gekommen, als Mensch unter <strong>de</strong>n Menschen zu wohnen, es war<br />

Gottes Wort, das seine Verbindung mit <strong>de</strong>m Himmel bezeugte. Satan wollte ihn mit Zweifel<br />

gegen das Wort seines Vaters erfüllen. Er wußte, daß <strong>de</strong>r Sieg in <strong>de</strong>m großen Streit ihm gehören<br />

wür<strong>de</strong>, gelänge es ihm, Jesu Vertrauen zu Gott zu erschüttern. Er konnte Jesus überwin<strong>de</strong>n. So<br />

hoffte er, daß Jesus unter <strong>de</strong>m Einfluß von Verzagtheit und quälen<strong>de</strong>m Hunger <strong>de</strong>n Glauben an<br />

seinen Vater verlöre und ein Wun<strong>de</strong>r zu seinen Gunsten wirkte. Hätte Jesus <strong>de</strong>n Willen <strong>de</strong>s<br />

Versuchers erfüllt, wäre <strong>de</strong>r ganze Erlösungsplan vereitelt wor<strong>de</strong>n.<br />

Als sich Satan und <strong>de</strong>r Sohn Gottes zum erstenmal als Gegner gegenüberstan<strong>de</strong>n, war<br />

Christus noch <strong>de</strong>r Herr <strong>de</strong>r himmlischen Heerscharen; Satan dagegen wur<strong>de</strong> wegen seiner<br />

70


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Empörung aus <strong>de</strong>m Himmel ausgestoßen. Jetzt schien die Lage umgekehrt zu sein, und Satan<br />

wollte seinen scheinbaren Vorteil gut ausnutzen. Einer <strong>de</strong>r mächtigsten Engel, sagte er, sei aus<br />

<strong>de</strong>m Himmel verbannt wor<strong>de</strong>n, und seine Lage <strong>de</strong>ute an, daß er dieser gefallene Engel sei —<br />

von Gott vergessen und von <strong>de</strong>n Menschen verlassen. Ein göttliches Wesen aber wäre imstan<strong>de</strong>,<br />

sein Anrecht durch ein Wun<strong>de</strong>r zu beweisen. „Bist du Gottes Sohn, so sprich, daß diese Steine<br />

Brot wer<strong>de</strong>n.“ Matthäus 4,3. Eine solche schöpferische Tat, drängte <strong>de</strong>r Versucher, wäre ein<br />

unumstößlicher Beweis <strong>de</strong>r Göttlichkeit und wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Streit been<strong>de</strong>n.<br />

Nicht ohne inneren Kampf vermochte Jesus <strong>de</strong>m Erzverführer zuzuhören. Er wollte aber<br />

trotz<strong>de</strong>m Satan keinen Beweis seiner Gottheit geben o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Grund seiner Erniedrigung<br />

erklären. Er wußte, daß es we<strong>de</strong>r zur Ehre Gottes noch zum Besten <strong>de</strong>r Menschen gewesen<br />

wäre, hätte er <strong>de</strong>n Wunsch <strong>de</strong>s Verführers erfüllt. Wäre er auf die Einflüsterungen Satans<br />

eingegangen, so hätte dieser wie<strong>de</strong>r sagen können: Gib mir ein Zeichen, damit ich glauben<br />

kann, daß du <strong>de</strong>r Sohn Gottes bist. Je<strong>de</strong>r Beweis aber wäre zu kraftlos gewesen, die<br />

aufrührerische Macht in Satans Herzen zu brechen. Und Christus durfte ja seine göttliche Kraft<br />

nicht zu seinem eigenen Vorteil einsetzen. Er war gekommen, um Prüfungen standzuhalten, wie<br />

auch wir Prüfungen bestehen müssen; er wollte uns durch sein Leben ein Beispiel <strong>de</strong>s Glaubens<br />

und <strong>de</strong>r Ergebenheit hinterlassen. We<strong>de</strong>r jetzt noch später wirkte <strong>de</strong>r Heiland in seinem<br />

irdischen Leben Wun<strong>de</strong>r um seiner selbst willen. Seine gewaltigen Werke und Wun<strong>de</strong>rtaten<br />

geschahen ausschließlich zum Wohle an<strong>de</strong>rer. Obgleich Jesus von Anfang an Satan erkannte,<br />

ließ er sich doch nicht herausfor<strong>de</strong>rn, um sich mit ihm in Streitfragen einzulassen. Gestärkt<br />

durch die Erinnerung an die Stimme vom Himmel, fand er inneren Frie<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Liebe seines<br />

Vaters. Mit <strong>de</strong>m Versucher wollte er keinerlei Verhandlungen aufnehmen.<br />

Jesus begegnete Satan mit <strong>de</strong>n Worten <strong>de</strong>r Heiligen Schrift: „Es steht<br />

geschrieben.“ Matthäus 4,4. In je<strong>de</strong>r Versuchung war die Waffe seiner Ritterschaft das Wort<br />

Gottes. Satan verlangte von Christus ein Wun<strong>de</strong>r als Zeichen seiner Göttlichkeit. Größer aber<br />

als je<strong>de</strong>s Wun<strong>de</strong>r ist das feste Vertrauen auf ein „So spricht <strong>de</strong>r Herr“. Das ist ein Zeichen, das<br />

nicht angefochten wer<strong>de</strong>n kann. Solange Christus diese Haltung einnahm, konnte <strong>de</strong>r Versucher<br />

ihm nichts anhaben.<br />

In <strong>de</strong>r Zeit größter menschlicher Schwäche überfielen die heftigsten Versuchungen <strong>de</strong>n<br />

Heiland. So hoffte Satan, <strong>de</strong>n Herrn zu überwin<strong>de</strong>n; waren es doch die gleichen Ränke, durch<br />

die er die Menschen unter seinen Einfluß gebracht hatte. Wenn die Kräfte versagten, <strong>de</strong>r Wille<br />

geschwächt war und <strong>de</strong>r Glaube aufhörte, in Gott zu ruhen, dann wur<strong>de</strong>n selbst diejenigen<br />

besiegt, die lange und mutig um das Recht gekämpft hatten. Mose war ermü<strong>de</strong>t von <strong>de</strong>r<br />

vierzigjährigen Wan<strong>de</strong>rschaft mit Israel durch die Wüste, als sein Glaube für einen Augenblick<br />

an <strong>de</strong>r unendlichen Macht <strong>de</strong>s Herrn zweifelte. Er unterlag unmittelbar an <strong>de</strong>r Grenze <strong>de</strong>s<br />

verheißenen Lan<strong>de</strong>s. So erging es auch Elia, <strong>de</strong>r unerschrocken vor <strong>de</strong>m König Ahab gestan<strong>de</strong>n<br />

hatte und <strong>de</strong>m ganzen Volk Israel mit seinen vierhun<strong>de</strong>rtfünfzig Baalspropheten an <strong>de</strong>r Spitze<br />

entgegengetreten war. Nach <strong>de</strong>m schrecklichen Tag auf <strong>de</strong>m Karmel, da die falschen Propheten<br />

getötet wor<strong>de</strong>n waren und das Volk seinen Bund mit Gott erneuert hatte, floh Elia, um sein<br />

Leben zu retten, vor <strong>de</strong>n Drohungen <strong>de</strong>r abgöttischen Königin Isebel.<br />

71


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

So hat Satan stets aus <strong>de</strong>r menschlichen Schwäche Vorteil gezogen, und er wirkt auch<br />

weiterhin in <strong>de</strong>r gleichen Weise. Befin<strong>de</strong>t sich jemand durch beson<strong>de</strong>re Umstän<strong>de</strong> in Not,<br />

Krankheit o<strong>de</strong>r sonstigen schwierigen Verhältnissen, so ist Satan sofort da, ihn zu versuchen<br />

und zu reizen. Er kennt unsere schwachen Seiten und benutzt sie gegen uns. Er sucht unser<br />

Vertrauen zu Gott mit <strong>de</strong>m Hinweis zu erschüttern, warum ein guter Gott <strong>de</strong>rartige Dinge<br />

überhaupt zulasse. Er veranlaßt uns, Gott zu mißtrauen und seine Liebe zu uns anzuzweifeln.<br />

Oft tritt <strong>de</strong>r Versucher an uns heran, wie er auch an Jesus herangetreten war, und zeigt uns<br />

unsere Schwächen und Unzulänglichkeiten. Er hofft dadurch die Seele zu entmutigen und<br />

unsern Halt an Gott zu brechen. Dann ist er seines Opfers sicher. Träten wir ihm aber entgegen<br />

wie Christus, wir wür<strong>de</strong>n mancher Nie<strong>de</strong>rlage entfliehen. In<strong>de</strong>m wir uns aber mit <strong>de</strong>m Feind in<br />

Unterhaltungen einlassen, verschaffen wir ihm einen Vorteil. Als Christus <strong>de</strong>m Versucher sagte:<br />

„Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, son<strong>de</strong>rn von einem jeglichen Wort, das durch <strong>de</strong>n<br />

Mund Gottes geht“ (Matthäus 4,4), wie<strong>de</strong>rholte er die Worte, die er mehr als vierzehnhun<strong>de</strong>rt<br />

Jahre vorher zu Israel gesprochen hatte. „Ge<strong>de</strong>nke <strong>de</strong>s ganzen Weges, <strong>de</strong>n dich <strong>de</strong>r Herr, <strong>de</strong>in<br />

Gott, geleitet hat diese vierzig Jahre in <strong>de</strong>r Wüste ... Er <strong>de</strong>mütigte dich und ließ dich hungern<br />

und speiste dich mit Manna, das du und <strong>de</strong>ine Väter nie gekannt hatten, auf daß er dir kundtäte,<br />

daß <strong>de</strong>r Mensch nicht lebt vom Brot allein, son<strong>de</strong>rn von allem, was aus <strong>de</strong>m Mund <strong>de</strong>s Herrn<br />

geht.“ 5.Mose 8,2.3.<br />

Als die Israeliten in <strong>de</strong>r Wüste waren, sandte ihnen Gott Manna vom Himmel. Er speiste sein<br />

Volk gera<strong>de</strong> zu <strong>de</strong>r Zeit reichlich, als alle Nahrungsmittel fehlten. Aus dieser Erfahrung sollte<br />

Israel erkennen, daß <strong>de</strong>r Herr sich in je<strong>de</strong>r Lebenslage zu <strong>de</strong>m bekennt, <strong>de</strong>r ihm vertraut und in<br />

seinen Wegen wan<strong>de</strong>lt. Der Heiland bewies jetzt durch die Tat die Erfüllung <strong>de</strong>r göttlichen<br />

Verheißungen. Durch das Wort Gottes war <strong>de</strong>n Israeliten Hilfe zuteil gewor<strong>de</strong>n, und durch<br />

dasselbe Wort erwartete <strong>de</strong>r Heiland gläubig Hilfe in <strong>de</strong>r Not. Er wartete auf <strong>de</strong>n Augenblick,<br />

<strong>de</strong>r ihm <strong>de</strong>s Vaters Hilfe bringen wür<strong>de</strong>. Aus Gehorsam gegen <strong>de</strong>n Willen seines Vaters befand<br />

er sich in <strong>de</strong>r Wüste, und er wollte keine Nahrung annehmen, die er <strong>de</strong>n Einflüsterungen Satans<br />

zu verdanken gehabt hätte. Vor <strong>de</strong>m ganzen Weltall bezeugte er, daß es ein weniger großes<br />

Unglück sei, irgen<strong>de</strong>in Lei<strong>de</strong>n zu ertragen, als auch nur im geringsten von <strong>de</strong>n Wegen und <strong>de</strong>m<br />

Willen Gottes abzuweichen.<br />

„Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, son<strong>de</strong>rn von einem jeglichen Wort Gottes.“ Oft<br />

kommt <strong>de</strong>r Christ in Verhältnisse, in <strong>de</strong>nen er nicht gleichzeitig Gott dienen und seine irdischen<br />

Belange wahrnehmen kann. Dann scheint es vielleicht, als nähme <strong>de</strong>r Gehorsam gegen manche<br />

klaren For<strong>de</strong>rungen Gottes ihm jeglichen Lebensunterhalt. Satan versucht ihm einzure<strong>de</strong>n, daß<br />

es nötig sei, seiner Überzeugung ein Opfer zu bringen. <strong>Die</strong> Erfahrung aber wird uns lehren, daß<br />

wir uns in dieser Welt allein auf das Wort Gottes verlassen können. „Trachtet am ersten nach<br />

<strong>de</strong>m Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen.“ Matthäus<br />

6,33. Schon für das irdische Leben ist es das Beste, niemals von <strong>de</strong>m Willen unseres<br />

himmlischen Vaters abzuweichen. Wenn wir die Kraft seines Wortes kennen, wer<strong>de</strong>n wir nicht<br />

<strong>de</strong>n Einflüsterungen Satans erliegen, um Speise zu erhalten o<strong>de</strong>r unser Leben zu retten. Unsere<br />

einzige Frage wird sein: Was ist Gottes Wille? Was verheißt er uns? Mit diesem Wissen wer<strong>de</strong>n<br />

wir seinem Willen folgen und uns auf seine Verheißung verlassen.<br />

72


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

In <strong>de</strong>r letzten großen Auseinan<strong>de</strong>rsetzung <strong>de</strong>s Kampfes mit Satan wer<strong>de</strong>n die Menschen, die<br />

Gott treu sind, es erleben, daß sie von je<strong>de</strong>r irdischen Hilfe abgeschnitten wer<strong>de</strong>n. Weil sie sich<br />

weigern, Gottes Gesetz zu übertreten, um irdischen Mächten zu gehorchen, wird es ihnen<br />

verboten wer<strong>de</strong>n, zu kaufen o<strong>de</strong>r zu verkaufen. Ein Erlaß wird schließlich ergehen, daß sie<br />

umgebracht wer<strong>de</strong>n sollen. Offenbarung 13,11-17. Doch <strong>de</strong>n Gehorsamen ist die Verheißung<br />

gegeben: „Der wird in <strong>de</strong>r Höhe wohnen, und Felsen wer<strong>de</strong>n seine Feste und Schutz sein. Sein<br />

Brot wird ihm gegeben, sein Wasser hat er gewiß.“ Jesaja 33,16. Durch diese Verheißung<br />

wer<strong>de</strong>n die Kin<strong>de</strong>r Gottes leben. Wenn die Er<strong>de</strong>, von Hungersnot heimgesucht, verö<strong>de</strong>t, wer<strong>de</strong>n<br />

sie gespeist wer<strong>de</strong>n. „Sie wer<strong>de</strong>n nicht zuschan<strong>de</strong>n in böser Zeit, und in <strong>de</strong>r Hungersnot wer<strong>de</strong>n<br />

sie genug haben.“ Psalm 37,19. Auf jene Zeit <strong>de</strong>r Not blickte <strong>de</strong>r Prophet Habakuk voraus, und<br />

seine Worte drücken <strong>de</strong>n Glauben <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong> aus: „Da wird <strong>de</strong>r Feigenbaum nicht grünen,<br />

und es wird kein Gewächs sein an <strong>de</strong>n Weinstöcken. Der Ertrag <strong>de</strong>s Ölbaums bleibt aus, und die<br />

Äcker bringen keine Nahrung; Schafe wer<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>n Hür<strong>de</strong>n gerissen, und in <strong>de</strong>n Ställen<br />

wer<strong>de</strong>n keine Rin<strong>de</strong>r sein. Aber ich will mich freuen <strong>de</strong>s Herrn und fröhlich sein in Gott,<br />

meinem Heil.“ Habakuk 3,17.18.<br />

<strong>Die</strong> wichtigste <strong>de</strong>r Lehren, die uns die Heilige Schrift aus <strong>de</strong>r Versuchungsgeschichte Jesu<br />

vermittelt, ist sein Sieg über die menschlichen Triebe und Begier<strong>de</strong>n. Zu allen Zeiten haben<br />

gera<strong>de</strong> die Versuchungen in mancherlei Lei<strong>de</strong>nschaften das Menschengeschlecht am meisten<br />

verdorben und herabgewürdigt. Durch <strong>de</strong>n Reiz zur Unmäßigkeit ist Satan bemüht, die<br />

geistlichen und sittlichen Kräfte zu vernichten, die Gott <strong>de</strong>n Menschen als unschätzbare Gaben<br />

verliehen hat. Denn dadurch wird es <strong>de</strong>m Menschen unmöglich, die geistlichen Dinge zu<br />

würdigen. Durch Befriedigung fleischlicher Lüste versucht Satan, das Ebenbild Gottes in <strong>de</strong>r<br />

Seele <strong>de</strong>s Menschen auszulöschen.<br />

Unbeherrschte Genußsucht und die dadurch entstehen<strong>de</strong>n Krankheiten sowie die Entartung,<br />

wie sie bei <strong>Christi</strong> erstem Kommen vorhan<strong>de</strong>n waren, wer<strong>de</strong>n in gesteigerter Form auch bei<br />

seiner Wie<strong>de</strong>rkunft festzustellen sein. Der Heiland wies darauf hin, daß <strong>de</strong>r Zustand <strong>de</strong>r Welt<br />

dann sein wird wie in <strong>de</strong>n Tagen <strong>de</strong>r Sintflut und wie zur Zeit Sodoms und Gomorras. Das<br />

Dichten und Trachten <strong>de</strong>s menschlichen Herzens wird böse sein immerdar. Wir leben heute in<br />

dieser gefahrvollen Zeit und sollten die große Lehre <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s, die er uns durch sein Fasten<br />

gab, beherzigen. Nur nach <strong>de</strong>r unaussprechlichen Qual, die <strong>de</strong>r Heiland erlitt, können wir das<br />

Sündhafte unbeherrschter Genußsucht ermessen. Sein Beispiel lehrt uns, daß wir nur dann<br />

Hoffnung auf ein ewiges Leben haben können, wenn wir unsere Begier<strong>de</strong>n und unsere<br />

Lei<strong>de</strong>nschaften <strong>de</strong>m Willen Gottes unterwerfen.<br />

Aus eigener Kraft können wir <strong>de</strong>n Begier<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Fleisches nicht wi<strong>de</strong>rstehen. Satan wird<br />

gera<strong>de</strong> diese Schwächen benutzen, um uns in Versuchung zu führen. Christus wußte, daß <strong>de</strong>r<br />

Feind sich je<strong>de</strong>m Menschen nahen wür<strong>de</strong>, um aus <strong>de</strong>ssen ererbten Schwächen Vorteile zu<br />

ziehen und alle, die kein Gottvertrauen besitzen, durch seine Einflüsterungen zu umgarnen.<br />

Unser Herr hat dadurch, daß er uns auf unserem Pilgerpfad vorangeschritten ist, <strong>de</strong>n Weg <strong>de</strong>r<br />

Überwindung gebahnt. Es ist nicht sein Wille, daß wir im Kampf mit Satan irgendwie<br />

benachteiligt sein sollten. Er will, daß wir uns durch die Angriffe <strong>de</strong>r Schlange nicht<br />

73


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

einschüchtern o<strong>de</strong>r entmutigen lassen. „Seid getrost“, sagt er, „ich habe die Welt<br />

überwun<strong>de</strong>n.“ Johannes 16,33.<br />

Wer gegen die Macht <strong>de</strong>r Eßlust anzukämpfen hat, schaue auf <strong>de</strong>n Heiland in <strong>de</strong>r Wüste <strong>de</strong>r<br />

Versuchung. Er blicke auf ihn, wie er am Kreuz To<strong>de</strong>squalen litt, wie er ausrief: „Mich<br />

dürstet!“ Jesus hat alles ertragen, was Menschen je auferlegt wer<strong>de</strong>n könnte. Sein Sieg ist auch<br />

unser Sieg. Christus verließ sich auf die Weisheit und Kraft seines himmlischen Vaters. Er<br />

sagte: „Gott <strong>de</strong>r Herr hilft mir, darum wer<strong>de</strong> ich nicht zuschan<strong>de</strong>n. Darum hab ich mein<br />

Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; <strong>de</strong>nn ich weiß, daß ich nicht zuschan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>.<br />

Er ist nahe, <strong>de</strong>r mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? ... Siehe, Gott <strong>de</strong>r Herr hilft<br />

mir.“ Jesaja 50,7-9. Auf sein vorgelebtes Beispiel hinweisend, fragt er uns: „Wer ist unter euch,<br />

<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Herrn fürchtet ... <strong>de</strong>r im Finstern wan<strong>de</strong>lt und <strong>de</strong>m kein Licht scheint: Der hoffe auf <strong>de</strong>n<br />

Namen <strong>de</strong>s Herrn und verlasse sich auf seinen Gott!“ Jesaja 50,10.<br />

Jesus sagte: „Es kommt <strong>de</strong>r Fürst <strong>de</strong>r Welt. Er hat keine Macht über mich.“ Johannes 14,30.<br />

Satan vermochte mit seinen Spitzfindigkeiten bei ihm nichts auszurichten. Jesus gab <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong><br />

nicht nach. Nicht mit einem Gedanken überließ er sich <strong>de</strong>r Versuchung. So soll es auch mit uns<br />

<strong>de</strong>r Fall sein. Das Menschliche in Christus war mit <strong>de</strong>m Göttlichen vereint; <strong>de</strong>r ihm<br />

innewohnen<strong>de</strong> göttliche Geist hatte ihn für <strong>de</strong>n Kampf ausgerüstet. Und Jesus kam, um uns zu<br />

Teilhabern <strong>de</strong>r göttlichen Natur zu machen. Solange wir durch <strong>de</strong>n Glauben mit ihm verbun<strong>de</strong>n<br />

sind, hat die Sün<strong>de</strong> keine Gewalt über uns. Gott faßt unsere Hand <strong>de</strong>s Glaubens und will uns<br />

leiten, damit wir einen festen Halt an <strong>de</strong>r Gottheit <strong>Christi</strong> haben und einen vollkommenen<br />

Charakter entfalten können.<br />

Christus hat uns gezeigt, wie wir dies erreichen können. Wodurch blieb er im Streit gegen<br />

Satan siegreich? Durch das Wort Gottes! Nur dadurch konnte er <strong>de</strong>r Versuchung wi<strong>de</strong>rstehen.<br />

„Es steht geschrieben“, sagte er. Und uns sind „die teuren und allergrößten Verheißungen<br />

geschenkt ... daß ihr dadurch teilhaftig wer<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r göttlichen Natur, die ihr entronnen seid <strong>de</strong>r<br />

ver<strong>de</strong>rblichen Lust in <strong>de</strong>r Welt“. 2.Petrus 1,4. Je<strong>de</strong> Verheißung in Gottes Wort gehört uns. „Von<br />

einem jeglichen Wort, das durch <strong>de</strong>n Mund Gottes geht“ (Matthäus 4,4), sollen wir leben. Wenn<br />

Versuchungen an uns herantreten, sollen wir nicht auf die äußeren Umstän<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r auf unsere<br />

Schwächen blicken, son<strong>de</strong>rn auf die Macht <strong>de</strong>s Wortes, <strong>de</strong>ssen ganze Kraft uns gehört. Der<br />

Psalmist sagt: „Ich behalte <strong>de</strong>in Wort in meinem Herzen, damit ich nicht wi<strong>de</strong>r dich sündige.<br />

Gelobet seist du, Herr! Lehre mich <strong>de</strong>ine Gebote! Ich will mit meinen Lippen erzählen alle<br />

Weisungen <strong>de</strong>ines Mun<strong>de</strong>s. Ich freue mich über <strong>de</strong>n Weg, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>ine Mahnungen zeigen, wie<br />

über großen Reichtum. Ich re<strong>de</strong> von <strong>de</strong>m, was du befohlen hast, und schaue auf <strong>de</strong>ine Wege.<br />

Ich habe Freu<strong>de</strong> an <strong>de</strong>inen Satzungen und vergesse <strong>de</strong>ine Worte nicht.“ Psalm 119,11-16. „Im<br />

Treiben <strong>de</strong>r Menschen bewahre ich mich vor gewaltsamen Wegen durch das Wort <strong>de</strong>iner<br />

Lippen.“ Psalm 17,4.<br />

74


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 13: Der Sieg<br />

„Da führte ihn <strong>de</strong>r Teufel mit sich in die heilige Stadt und stellte ihn auf die Zinne <strong>de</strong>s<br />

Tempels und sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so wirf dich hinab; <strong>de</strong>nn es steht geschrieben:<br />

‚Er wird seinen Engeln über dir Befehl tun, und sie wer<strong>de</strong>n dich auf <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n tragen, auf daß<br />

du <strong>de</strong>inen Fuß nicht an einen Stein stoßest.‘“ Matthäus 4,5.6. Satan glaubt <strong>de</strong>n Herrn in seinem<br />

eigenen Bereich getroffen zu haben. Er bedient sich heuchlerisch göttlicher Worte. Immer noch<br />

erscheint er als Engel <strong>de</strong>s Lichts und beweist, daß er mit <strong>de</strong>r Schrift vertraut ist und das<br />

Geschriebene versteht. Wie Jesus das Wort <strong>de</strong>r Schrift anwandte, um seinen Glauben zu<br />

begrün<strong>de</strong>n, so gebraucht Satan es jetzt, um seinen Betrug zu unterstützen. Er betont, daß er nur<br />

die Treue <strong>de</strong>s Herrn habe erproben wollen, und lobt <strong>de</strong>ssen Beharrlichkeit. Da <strong>de</strong>r Heiland<br />

Gottvertrauen bekun<strong>de</strong>t hat, veranlaßt Satan ihn zu einem erneuten Beweis seines<br />

Glaubens. Doch gleich die nächste Versuchung leitet er ein, in<strong>de</strong>m er Mißtrauen sät. „Wenn du<br />

Gottes Sohn bist ...“ Christus wur<strong>de</strong> versucht, auf dieses „Wenn“ einzugehen; aber er enthielt<br />

sich <strong>de</strong>s geringsten Zweifels. Er wollte sein Leben nicht gefähr<strong>de</strong>n, nur um Satan einen Beweis<br />

seiner Göttlichkeit zu geben.<br />

Der Versucher gedachte aus <strong>de</strong>m Menschsein <strong>Christi</strong> Vorteil zu ziehen und nötigte ihn zur<br />

Anmaßung. Wenn Satan auch zur Sün<strong>de</strong> reizen kann, so kann er doch niemand zwingen, zu<br />

sündigen. Er sagte zu Jesus: „Wirf dich hinab“, weil er genau wußte, daß er ihn nicht<br />

hinabstürzen konnte; <strong>de</strong>nn Gott hätte es nicht zugelassen. Auch konnte <strong>de</strong>r Teufel Jesus nicht<br />

zwingen, sich selbst hinabzustürzen. Nur wenn <strong>de</strong>r Heiland <strong>de</strong>r Versuchung erlegen wäre, hätte<br />

Satans Bemühen Erfolg gehabt. Doch alle Mächte <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> und <strong>de</strong>r Hölle vermochten ihn nicht<br />

dazu zu bestimmen, auch nur im geringsten vom Willen seines himmlischen Vaters<br />

abzuweichen. Der Versucher kann auch uns niemals zwingen, etwas Böses zu tun. Er kann die<br />

Gemüter nicht beherrschen, wenn sie sich nicht selbst seiner Herrschaft unterwerfen. Der Wille<br />

muß seine Zustimmung geben, und <strong>de</strong>r Glaube muß seinen Halt an Christus lassen, ehe Satan<br />

seine Macht über uns ausüben kann. Doch mit je<strong>de</strong>m sündhaften Verlangen kommen wir ihm<br />

entgegen. Sooft wir uns <strong>de</strong>m göttlichen Gebot wi<strong>de</strong>rsetzen, öffnen wir <strong>de</strong>m Versucher eine Tür,<br />

durch die er eintreten kann, uns zu versuchen und zu ver<strong>de</strong>rben. Und je<strong>de</strong> Nie<strong>de</strong>rlage und je<strong>de</strong>s<br />

Versagen unserseits gibt ihm willkommene Gelegenheit, Christus zu schmähen.<br />

Als Satan die Verheißung anführte: „Er wird seinen Engeln über dir Befehl tun, und sie<br />

wer<strong>de</strong>n dich auf <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n tragen“ (Matthäus 4,6), ließ er die Worte aus, „daß sie dich<br />

behüten auf allen <strong>de</strong>inen Wegen“ — auf allen Wegen nämlich, die Gott erwählt hat. Jesus<br />

weigerte sich, <strong>de</strong>n Pfad <strong>de</strong>s Gehorsams zu verlassen. Er bekun<strong>de</strong>te völliges Vertrauen zu seinem<br />

himmlischen Vater und wollte sich nicht ungeheißen in eine Lage bringen, die Gottes helfen<strong>de</strong>s<br />

Eingreifen erfor<strong>de</strong>rt hätte, um ihn vor <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> zu bewahren. Er wollte die Vorsehung nicht<br />

zwingen, zu seiner Rettung einzuschreiten, und dadurch versäumen, <strong>de</strong>n Menschen ein Beispiel<br />

<strong>de</strong>s Vertrauens und <strong>de</strong>s Glaubensgehorsams zu geben.<br />

Der Heiland erklärte Satan: „Wie<strong>de</strong>rum steht auch geschrieben: ‚Du sollst Gott, <strong>de</strong>inen<br />

Herrn, nicht versuchen.‘“ Matthäus 4,7. <strong>Die</strong>se Worte sprach einst Mose zu <strong>de</strong>n Israeliten, als sie<br />

75


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

in <strong>de</strong>r Wüste Durst litten und verlangten, daß Mose ihnen zu trinken gäbe, in<strong>de</strong>m sie riefen: „Ist<br />

<strong>de</strong>r Herr unter uns o<strong>de</strong>r nicht?“ 2.Mose 17,7. Gott hatte wun<strong>de</strong>rbar für sie gewirkt; <strong>de</strong>nnoch<br />

zweifelten sie an ihm, als Schwierigkeiten kamen. Sie verlangten einen Beweis, daß Gott unter<br />

ihnen weilte. In ihrem Unglauben wollten sie ihn auf die Probe stellen. Satan wollte <strong>de</strong>n<br />

Heiland auch veranlassen, die gleiche Sün<strong>de</strong> zu begehen. Gott hatte bereits bezeugt, daß Jesus<br />

sein Sohn sei. Nun nochmals einen Beweis für die Sohnschaft <strong>Christi</strong> zu for<strong>de</strong>rn, war ein<br />

ungerechter Zweifel an Gottes Wort und eine sündhafte Versuchung <strong>de</strong>s Herrn. Dasselbe<br />

können wir sagen, wenn wir um etwas beten, was Gottes Verheißung wi<strong>de</strong>rspricht. Es wür<strong>de</strong><br />

Mißtrauen bekun<strong>de</strong>n; wir wür<strong>de</strong>n dadurch Gott auf die Probe stellen o<strong>de</strong>r ihn versuchen. Wir<br />

sollten Gott nie um etwas bitten, nur um zu sehen, ob er sein Wort wahrmachen wird; vielmehr<br />

sollen wir bitten, weil er es erfüllen wird. Wir sollten nicht beten, um zu erfahren, ob er uns<br />

liebt, son<strong>de</strong>rn darum, weil er uns liebt. „Ohne Glauben ist‘s unmöglich, Gott zu gefallen; <strong>de</strong>nn<br />

wer zu Gott kommen will, <strong>de</strong>r muß glauben, daß er sei und <strong>de</strong>nen, die ihn suchen, ein Vergelter<br />

sein wer<strong>de</strong>.“ Hebräer 11,6.<br />

Der Glaube ist in keiner Weise mit Vermessenheit zu vergleichen. Der wahre Glaube ist frei<br />

davon. <strong>Die</strong> Vermessenheit ist eine satanische Verfälschung <strong>de</strong>s Glaubens. Der Glaube ergreift<br />

Gottes Verheißungen und bringt Frucht im Gehorsam. <strong>Die</strong> Vermessenheit erhebt auch<br />

Anspruch auf die Verheißungen, gebraucht sie aber, um Übertretungen zu entschuldigen, wie<br />

Satan es tat. Der wahre Glaube hätte das erste Elternpaar im Garten E<strong>de</strong>n veranlaßt, <strong>de</strong>r Liebe<br />

Gottes zu vertrauen und seinen Geboten zu gehorchen; die Vermessenheit aber verleitete sie,<br />

sein Gesetz zu übertreten in <strong>de</strong>r Annahme, seine große Liebe wür<strong>de</strong> sie vor <strong>de</strong>n Folgen <strong>de</strong>r<br />

Sün<strong>de</strong> bewahren. Das ist kein Glaube, <strong>de</strong>r die Gunst <strong>de</strong>s Himmels beansprucht, ohne die<br />

Bedingungen zu erfüllen, unter <strong>de</strong>nen die Gna<strong>de</strong> gewährt wird. Glaube grün<strong>de</strong>t sich auf die<br />

Verheißungen und Verordnungen <strong>de</strong>r Heiligen Schrift.<br />

Oft erreicht Satan, wenn es ihm nicht gelang, unser Mißtrauen zu erregen, sein Ziel dadurch,<br />

daß er uns zur Vermessenheit verleitet. Wenn er uns veranlassen kann, uns selbst ohne<br />

Notwendigkeit einer Versuchung auszusetzen, dann weiß er, daß <strong>de</strong>r Sieg ihm gehören wird.<br />

Gott wird alle bewahren, die auf <strong>de</strong>m Weg <strong>de</strong>s Gehorsams wan<strong>de</strong>ln; wer aber davon abweicht,<br />

begibt sich auf Satans Gebiet. Dort aber wird er gewiß untergehen. Der Heiland hat uns<br />

geboten: „Wachet und betet, daß ihr nicht in Versuchung fallet!“ Markus 14,38. Ernstes<br />

Nach<strong>de</strong>nken und Beten bewahren uns davor, uns unaufgefor<strong>de</strong>rt auf <strong>de</strong>n Weg <strong>de</strong>r Gefahr zu<br />

begeben; auf diese Weise entgehen wir mancher Nie<strong>de</strong>rlage.<br />

Dennoch dürfen wir nicht <strong>de</strong>n Mut verlieren, wenn uns Versuchungen überfallen. Oft<br />

bezweifeln wir Gottes Leitung und Führung, wenn wir in eine schwierige Lage kommen. Aber<br />

es war die Leitung <strong>de</strong>s Geistes, die <strong>de</strong>n Heiland in die Wüste führte, um von Satan versucht zu<br />

wer<strong>de</strong>n. Wenn Gott Prüfungen über uns kommen läßt, dann ist es seine Absicht, daß sie zu<br />

unserem Besten dienen. Jesus mißbrauchte die Verheißungen Gottes nicht, in<strong>de</strong>m er sich<br />

unnötig in Versuchung begab; als aber die Versuchung <strong>de</strong>nnoch über ihn kam, gab er sich<br />

keiner Verzagtheit hin. Lernen wir daraus! „Gott ist getreu, <strong>de</strong>r euch nicht läßt versuchen über<br />

euer Vermögen, son<strong>de</strong>rn macht, daß die Versuchung so ein En<strong>de</strong> gewinne, daß ihr‘s könnet<br />

76


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

ertragen.“ 1.Korinther 10,13. Darum: „Opfere Gott Dank und erfülle <strong>de</strong>m Höchsten <strong>de</strong>ine<br />

Gelüb<strong>de</strong> und rufe mich an in <strong>de</strong>r Not, so will ich dich erretten.“ Psalm 50,14.15.<br />

Jesus war auch aus <strong>de</strong>r zweiten Versuchung als Sieger hervorgegangen, und nun zeigte sich<br />

Satan in seinem wahren Charakter: nicht als furchterregen<strong>de</strong>s Ungeheuer mit Pfer<strong>de</strong>hufen und<br />

Fle<strong>de</strong>rmausflügeln, son<strong>de</strong>rn als mächtiger Engel, <strong>de</strong>r er trotz seines Abfalls noch immer war. Er<br />

bekannte sich nun offen als Empörer und als Gott dieser Welt. Er zeigte Jesus, <strong>de</strong>n er auf einen<br />

hohen Berg geführt hatte, alle Reiche <strong>de</strong>r Welt in ihrer ganzen Herrlichkeit. Sonnenlicht lag<br />

über <strong>de</strong>r weiten Flur und schien auf die mit Tempeln und Marmorpalästen geschmückten<br />

Städte, auf fruchttragen<strong>de</strong> Fel<strong>de</strong>r und auf riesige Weinberge. <strong>Die</strong> Spuren <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> waren<br />

verborgen. Jesu Augen, die soeben nur Verwüstung und ö<strong>de</strong> Flächen gesehen hatten, wur<strong>de</strong>n<br />

jetzt beim Anblick von so viel unvergleichlicher Schönheit gefesselt. Dazu erklang <strong>de</strong>s<br />

Versuchers Stimme: „Alle diese Macht will ich dir geben und ihre Herrlichkeit; <strong>de</strong>nn sie ist mir<br />

übergeben, und ich gebe sie, welchem ich will. Wenn du nun mich willst anbeten, so soll es<br />

alles <strong>de</strong>in sein.“ Lukas 4,6.7.<br />

<strong>Die</strong> Mission <strong>Christi</strong> konnte nur durch Lei<strong>de</strong>n erfüllt wer<strong>de</strong>n. Vor ihm lag ein Leben voller<br />

Kummer und Entbehrung; auf ihn warteten schwere Kämpfe und ein schimpflicher Tod. Er<br />

mußte die Sün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r ganzen Welt tragen und die Trennung von <strong>de</strong>r Liebe seines Vaters<br />

erdul<strong>de</strong>n. Jetzt erbot sich Satan sogar, auf die ganze Macht, die er sich angemaßt hatte, zu<br />

verzichten. Es gab für Christus die Möglichkeit, <strong>de</strong>r furchtbaren Zukunft zu entgehen, wenn er<br />

die Oberhoheit Satans anerkannte. Das wäre jedoch gleichbe<strong>de</strong>utend gewesen mit einer<br />

Nie<strong>de</strong>rlage in diesem Kampf. Satan hatte im Himmel gesündigt, in<strong>de</strong>m er versuchte, sich über<br />

<strong>de</strong>n Sohn Gottes zu erheben. Wür<strong>de</strong> er jetzt siegen, dann hätte die Empörung <strong>de</strong>n Triumph<br />

davongetragen.<br />

Als Satan erklärte, daß das Reich und die Herrlichkeit <strong>de</strong>r Welt ihm übertragen seien und er<br />

sie geben könne, wem er wolle, sagte er nur teilweise die Wahrheit, um seinem Ziel<br />

näherzukommen. Einst hatte er Adam sein Reich entrissen; dieser aber war <strong>de</strong>r Statthalter <strong>de</strong>s<br />

Schöpfers auf Er<strong>de</strong>n. Er war kein unabhängiger Regent. <strong>Die</strong> Er<strong>de</strong> ist <strong>de</strong>s Herrn, und er hat alle<br />

Dinge seinem Sohn übergeben; unter <strong>de</strong>ssen Gewalt sollte Adam herrschen. Als dieser seine<br />

Herrschaft in Satans Hän<strong>de</strong> geraten ließ, blieb Christus <strong>de</strong>nnoch <strong>de</strong>r rechtmäßige König. So<br />

hatte <strong>de</strong>r Herr auch <strong>de</strong>m König Nebukadnezar gesagt, daß „<strong>de</strong>r Höchste Gewalt hat über die<br />

Königreiche <strong>de</strong>r Menschen und sie geben kann, wem er will“. Daniel 4,14. Satan kann seine<br />

angemaßte Gewalt nur soweit ausüben, wie Gott es zuläßt.<br />

Als Satan das Reich und die Herrlichkeit <strong>de</strong>r Welt Christus anbot, beabsichtigte er, daß<br />

Christus sein Herrscherrecht als König <strong>de</strong>r Welt aufgeben und die Herrschaft nur unter Satan<br />

ausüben sollte. Auf eine solche Herrschaft war auch die Hoffnung <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n gerichtet. Sie<br />

verlangten nach <strong>de</strong>m Reich dieser Welt. Hätte Christus eingewilligt, ihnen ein solches Reich zu<br />

geben, dann wäre er von ihnen mit Freu<strong>de</strong>n aufgenommen wor<strong>de</strong>n. So aber ruhte <strong>de</strong>r Fluch <strong>de</strong>r<br />

Sün<strong>de</strong> mit all seinem Elend darauf. Christus gebot <strong>de</strong>m Versucher: „Hebe dich weg von mir,<br />

Satan! <strong>de</strong>nn es steht geschrieben: ‚Du sollst anbeten Gott, <strong>de</strong>inen Herrn, und ihm allein<br />

dienen.‘“ Matthäus 4,10.<br />

77


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Satan, <strong>de</strong>r sich im Himmel empört hatte, bot <strong>de</strong>m Herrn die Reiche dieser Welt an, um<br />

dadurch <strong>de</strong>ssen Huldigung für die Grundsätze <strong>de</strong>s Bösen zu erkaufen. Der Herr Jesus aber ließ<br />

sich nicht betören. Er war gekommen, ein Reich zu grün<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>m Gerechtigkeit herrscht.<br />

<strong>Die</strong>sen Vorsatz war er nicht gewillt aufzugeben. An die Menschen tritt Satan mit <strong>de</strong>n gleichen<br />

Versuchungen heran, nur hat er bei ihnen mehr Erfolg als bei Christus. Den Menschen bietet er<br />

das Reich dieser Welt an unter <strong>de</strong>r Bedingung, daß sie seine Oberhoheit anerkennen. Er<br />

verlangt von ihnen, ihre Rechtschaffenheit zu opfern, das Gewissen zu mißachten und <strong>de</strong>r<br />

Selbstsucht nachzugeben. Christus gebietet ihnen, zuerst nach <strong>de</strong>m Reich Gottes und nach<br />

seiner Gerechtigkeit zu trachten; doch <strong>de</strong>r Teufel nähert sich <strong>de</strong>n Menschen und flüstert ihnen<br />

zu: „Ihr müßt mir dienen! Ganz gleich, was hinsichtlich <strong>de</strong>s ewigen Lebens wahr ist. Ihr müßt<br />

mir dienen, wenn ihr in dieser Welt Erfolg haben wollt. Ich halte eure Wohlfahrt in meiner<br />

Hand. Ich kann euch Reichtum, Vergnügen, Ehre und Glück geben. Hört auf meinen Rat! Laßt<br />

euch nicht von <strong>de</strong>n eigenartigen Ansichten über Ehrlichkeit und Selbstverleugnung<br />

beherrschen! Ich will euch euren Weg bahnen.“ — Mit solchen Einflüsterungen wer<strong>de</strong>n die<br />

Menschen verführt. Sie sind bereit, nur <strong>de</strong>m eigenen Ich zu dienen, und Satan ist zufrie<strong>de</strong>n.<br />

Während er sie mit <strong>de</strong>r Hoffnung auf weltliche Gewalt lockt, gewinnt er die Herrschaft über<br />

ihre Seelen. Er bietet ihnen etwas an, was ihm gar nicht gehört und was ihm bald genommen<br />

wer<strong>de</strong>n wird. Er betrügt die Menschen um ihren Anspruch auf die Erbschaft <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r Gottes.<br />

Satan hatte bezweifelt, daß Jesus <strong>de</strong>r Sohn Gottes sei. In <strong>de</strong>n kurzen Zurückweisungen <strong>de</strong>s<br />

Herrn erhielt er jedoch Beweise, die er nicht wegleugnen konnte. <strong>Die</strong> Gottheit brach aus <strong>de</strong>m<br />

lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Menschensohn hervor. Satan vermochte <strong>de</strong>m Befehl nicht zu wi<strong>de</strong>rstehen. Obwohl er<br />

sich ge<strong>de</strong>mütigt fühlte und sich im Zorn dagegen aufbäumte, war er gezwungen, sich aus <strong>de</strong>r<br />

Gegenwart <strong>de</strong>s Weltheilan<strong>de</strong>s zurückzuziehen. <strong>Christi</strong> Sieg war ebenso vollständig, wie einst<br />

die Nie<strong>de</strong>rlage Adams vollständig war. So können auch wir <strong>de</strong>r Versuchung wi<strong>de</strong>rstehen und<br />

Satan zwingen, von uns zu weichen. Jesus behielt <strong>de</strong>n Sieg durch seinen Gehorsam und<br />

Glauben Gott gegenüber. Durch <strong>de</strong>n Mund <strong>de</strong>r Apostel wird uns gesagt: „So seid nun Gott<br />

untertänig. Wi<strong>de</strong>rstehet <strong>de</strong>m Teufel, so flieht er von euch. Nahet euch zu Gott, so nahet er sich<br />

zu euch.“ Jakobus 4,7.8. Wir können uns nicht selbst vor <strong>de</strong>r Macht <strong>de</strong>s Versuchers retten; er<br />

hat die Menschheit besiegt, und wenn wir versuchen, aus eigener Kraft zu bestehen, wer<strong>de</strong>n wir<br />

eine Beute seiner Anschläge; aber „<strong>de</strong>r Name <strong>de</strong>s Herrn ist eine feste Burg; <strong>de</strong>r Gerechte läuft<br />

dorthin und wird beschirmt“. Sprüche 18,10. Satan zittert und flieht vor <strong>de</strong>r schwächsten Seele,<br />

die ihre Zuflucht in jenem mächtigen Namen fin<strong>de</strong>t. Der Apostel Johannes hörte bei seiner<br />

Schau <strong>de</strong>s Jüngsten Gerichts eine große Stimme im Himmel: „Nun ist das Heil und die Kraft<br />

und das Reich unsres Gottes gewor<strong>de</strong>n und die Macht seines Christus, weil <strong>de</strong>r Verkläger unsrer<br />

Brü<strong>de</strong>r verworfen ist, <strong>de</strong>r sie verklagte Tag und Nacht vor unsrem Gott. Und sie haben ihn<br />

überwun<strong>de</strong>n durch <strong>de</strong>s Lammes Blut und durch das Wort ihres Zeugnisses und haben ihr Leben<br />

nicht geliebt bis an <strong>de</strong>n Tod“. Offenbarung 12,10.11.<br />

Nach<strong>de</strong>m sich Satan entfernt hatte, fiel Jesus erschöpft zu Bo<strong>de</strong>n, To<strong>de</strong>sblässe auf seinem<br />

Angesicht. <strong>Die</strong> Engel <strong>de</strong>s Himmels hatten <strong>de</strong>n Kampf beobachtet, sie hatten gesehen, wie ihr<br />

geliebter Herr durch dieses namenlose Leid gehen mußte, um für uns Menschen einen Weg zu<br />

bahnen, <strong>de</strong>r uns Rettung bringen kann. Er hatte eine größere Probe bestan<strong>de</strong>n, als sie je an uns<br />

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<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

herantreten wird. Jetzt, da Christus wie tot dalag, kamen die Engel und dienten ihm. Sie stärkten<br />

ihn durch Nahrung und durch die Botschaft von <strong>de</strong>r Liebe seines Vaters und trösteten ihn durch<br />

die Versicherung, daß <strong>de</strong>r Himmel über seinen Sieg frohlockte. Nach<strong>de</strong>m sich <strong>de</strong>r Heiland<br />

gekräftigt hatte, fühlte sein Herz Mitleid mit <strong>de</strong>n Menschen, und er ging, seine begonnene<br />

Aufgabe zu vollen<strong>de</strong>n und nicht zu ruhen, bis <strong>de</strong>r Feind überwun<strong>de</strong>n und unser gefallenes<br />

Geschlecht erlöst wäre.<br />

Niemand kann <strong>de</strong>n Preis unserer Erlösung wirklich begreifen, bis die Erlösten mit <strong>de</strong>m<br />

Heiland vor <strong>de</strong>m Thron Gottes stehen wer<strong>de</strong>n. Dann, da die Herrlichkeiten <strong>de</strong>r ewigen Heimat<br />

plötzlich unseren entzückten Sinnen sichtbar wer<strong>de</strong>n, wer<strong>de</strong>n wir daran erinnert, daß Jesus all<br />

das für uns verließ, daß ihm nicht nur die himmlischen Vorhöfe verschlossen waren, son<strong>de</strong>rn er<br />

für uns auch das Wagnis <strong>de</strong>s Mißlingens und <strong>de</strong>r ewigen Verlorenheit auf sich nahm. Dann<br />

wer<strong>de</strong>n wir unsere Kronen zu seinen Füßen nie<strong>de</strong>rlegen und in das Lied einstimmen: „Das<br />

Lamm, das erwürget ist, ist würdig, zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke<br />

und Ehre und Preis und Lob.“ Offenbarung 5,11.<br />

79


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Johannes <strong>de</strong>r Täufer predigte und taufte bei Bethabara jenseits <strong>de</strong>s Jordans. Nicht weit von<br />

dieser Stelle hatte Gott einst <strong>de</strong>n Lauf <strong>de</strong>s Flusses aufgehalten, bis das Volk Israel<br />

hindurchgegangen war. In <strong>de</strong>r Nähe dieses Ortes war auch die Feste Jericho durch himmlische<br />

Heere gestürmt wor<strong>de</strong>n. Alle diese Erinnerungen wur<strong>de</strong>n wie<strong>de</strong>r wachgerufen und verliehen <strong>de</strong>r<br />

Botschaft <strong>de</strong>s Täufers aufsehenerregen<strong>de</strong> Be<strong>de</strong>utung. Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Gott, <strong>de</strong>r in vergangenen<br />

Zeiten so wun<strong>de</strong>rbar gewirkt hatte, wie<strong>de</strong>rum seine Macht für die Befreiung Israels offenbaren?<br />

<strong>Die</strong>se Gedanken bewegten die Herzen <strong>de</strong>s Volkes, das sich täglich in großer Zahl an <strong>de</strong>n Ufern<br />

<strong>de</strong>s Jordans versammelte.<br />

<strong>Die</strong> Predigten <strong>de</strong>s Täufers hatten einen so tiefen Eindruck auf das Volk gemacht, daß die<br />

geistlichen Oberen nicht mehr darauf verzichten konnten, sich mit ihnen zu beschäftigen. Je<strong>de</strong><br />

öffentliche Versammlung wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>n Römern, unter <strong>de</strong>ren Herrschaft die Ju<strong>de</strong>n stan<strong>de</strong>n,<br />

mit Argwohn betrachtet, weil sie darin die Gefahr einer Empörung erblickten, und je<strong>de</strong>s<br />

mögliche Anzeichen eines Volksaufstan<strong>de</strong>s erregte die Befürchtungen <strong>de</strong>r jüdischen Obrigkeit.<br />

Johannes hatte die Autorität <strong>de</strong>s Hohen Rates nicht anerkannt und diesen nicht um Erlaubnis für<br />

sein Wirken gefragt. Auch hatte er ohne Ansehen <strong>de</strong>r Person sowohl das Volk als auch seine<br />

Obersten, Pharisäer und Sadduzäer, geta<strong>de</strong>lt. Das Volk folgte ihm <strong>de</strong>nnoch mit Eifer und, wie<br />

es schien, mit wachsen<strong>de</strong>r Anteilnahme. Obgleich Johannes beim Hohen Rat nie darum<br />

nachgesucht hatte, rechnete ihn dieser als öffentlichen Lehrer unter seine Gerichtsbarkeit.<br />

<strong>Die</strong>ser Körperschaft gehörten gewählte Mitglie<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m Priesterstand, aus <strong>de</strong>n Obersten<br />

und Lehrern <strong>de</strong>s Volkes an. Der Hohepriester war gewöhnlich <strong>de</strong>r Vorsitzen<strong>de</strong>. Alle Mitglie<strong>de</strong>r<br />

dieses Rates mußten Männer im besten Alter sein; gelehrte Männer, die nicht allein in <strong>de</strong>r<br />

jüdischen Religion und Geschichte, son<strong>de</strong>rn auch in <strong>de</strong>n allgemeinen Wissenschaften bewan<strong>de</strong>rt<br />

waren. Sie durften keine körperlichen Gebrechen haben, mußten verheiratet sein und Kin<strong>de</strong>r<br />

besitzen, um sich mehr als an<strong>de</strong>re menschlich und rücksichtsvoll benehmen zu können. Ihr<br />

Versammlungsort war ein mit <strong>de</strong>m Tempel verbun<strong>de</strong>ner Raum. Zur Zeit <strong>de</strong>r jüdischen<br />

Unabhängigkeit vertrat <strong>de</strong>r Hohe Rat o<strong>de</strong>r Sanhedrin, <strong>de</strong>r sowohl weltliche als auch geistliche<br />

Gewalt besaß, die höchste Gerichtsbarkeit <strong>de</strong>s Volkes. Obgleich er jetzt <strong>de</strong>n römischen<br />

Statthaltern untergeordnet war, übte er <strong>de</strong>nnoch einen großen Einfluß in bürgerlichen und<br />

religiösen Fragen aus.<br />

Der Hohe Rat konnte nicht gut umhin, eine Untersuchung über das Wirken <strong>de</strong>s Täufers<br />

einzuleiten. Einige besannen sich auf die Offenbarung <strong>de</strong>s alten Zacharias im Tempel und<br />

erinnerten sich <strong>de</strong>r Weissagung, die <strong>de</strong>n jungen Johannes als Vorläufer <strong>de</strong>s Messias<br />

gekennzeichnet hatte. In <strong>de</strong>n Unruhen und Wechselfällen <strong>de</strong>r letzten dreißig Jahre hatte man<br />

diese Hinweise nahezu vergessen; nun aber gedachte man ihrer in <strong>de</strong>r Erregung, die durch die<br />

Predigt <strong>de</strong>s Täufers entstan<strong>de</strong>n war.<br />

Es war schon geraume Zeit her, seit in Israel ein Prophet gewirkt und das Volk eine<br />

Umwandlung erlebt hatte, wie sie sich jetzt wie<strong>de</strong>r vorbereitete. Das Gebot, die Sün<strong>de</strong>n zu<br />

bekennen, schien neu und überraschend. <strong>Die</strong> meisten Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Hohen Rates scheuten sich<br />

80


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

hinzugehen und die Warnrufe und Anklagen <strong>de</strong>s Täufers selbst anzuhören. Sie fürchteten, von<br />

Johannes ihres sündhaften Lebens überführt zu wer<strong>de</strong>n. Unverkennbar war die Predigt <strong>de</strong>s<br />

Täufers eine unmittelbare Ankündigung <strong>de</strong>s Messias. Es war wohl bekannt, daß die siebzig<br />

Wochen aus <strong>de</strong>r Weissagung Daniels, welche die Ankunft <strong>de</strong>s Messias einschlossen, fast<br />

verflossen waren, und je<strong>de</strong>r wollte an <strong>de</strong>m Zeitalter <strong>de</strong>r nationalen Herrlichkeit, das dann<br />

erwartet wur<strong>de</strong>, Anteil haben. <strong>Die</strong> Begeisterung <strong>de</strong>s Volkes war <strong>de</strong>rart, daß sich <strong>de</strong>r Hohe Rat<br />

veranlaßt sah, <strong>de</strong>m Wirken <strong>de</strong>s Johannes entwe<strong>de</strong>r zuzustimmen o<strong>de</strong>r es zu verwerfen. <strong>Die</strong><br />

Macht <strong>de</strong>s Rates über das Volk war schon be<strong>de</strong>nklich ins Wanken geraten, und es ergab sich die<br />

ernste Frage, wie seine Autorität gewahrt wer<strong>de</strong>n konnte. In <strong>de</strong>r Hoffnung, zu irgen<strong>de</strong>inem<br />

Entschluß zu kommen, sandte man eine Abordnung von Priestern und Leviten an <strong>de</strong>n Jordan,<br />

um sich mit <strong>de</strong>m neuen Lehrer zu befassen.<br />

Eine große Volksmenge lauschte <strong>de</strong>n Worten <strong>de</strong>s Johannes, als die Abgeordneten <strong>de</strong>s Hohen<br />

Rates sich <strong>de</strong>m Jordan näherten. <strong>Die</strong> hochmütigen Rabbiner trugen ein betont vornehmes<br />

Wesen zur Schau, um das Volk zu beeindrucken und die Ehrerbietung <strong>de</strong>s Propheten<br />

herauszufor<strong>de</strong>rn. Respektvoll, ja gera<strong>de</strong>zu furchtsam teilte sich die Menge beim Herannahen <strong>de</strong>r<br />

Priester, um sie vorbeizulassen. <strong>Die</strong> großen Männer in ihren prächtigen Gewän<strong>de</strong>rn, in ihrem<br />

selbstbewußten Stolz und in ihrer Wür<strong>de</strong> stan<strong>de</strong>n jetzt vor <strong>de</strong>m „Prediger in <strong>de</strong>r Wüste“.<br />

„Wer bist du?“ wollten sie wissen.<br />

Johannes, <strong>de</strong>r ihre Gedanken erriet, erwi<strong>de</strong>rte: „Ich bin nicht <strong>de</strong>r Christus.“<br />

Sie fragten ihn: „Was <strong>de</strong>nn? Bist du Elia?“<br />

Er sprach: „Ich bin‘s nicht.“<br />

„Bist du <strong>de</strong>r Prophet?“<br />

„Nein.“<br />

Da sprachen sie zu ihm: „Was bist du <strong>de</strong>nn? daß wir Antwort geben <strong>de</strong>nen, die uns gesandt<br />

haben. Was sagst du von dir selbst?“<br />

„Ich bin eine Stimme eines Predigers in <strong>de</strong>r Wüste: Richtet <strong>de</strong>n Weg <strong>de</strong>s Herrn! wie <strong>de</strong>r<br />

Prophet Jesaja gesagt hat.“ Johannes 1,19-23.<br />

<strong>Die</strong> Schriftstelle, auf die Johannes hier verwies, war jene herrliche Weissagung: „Tröstet,<br />

tröstet mein Volk! spricht euer Gott. Re<strong>de</strong>t mit Jerusalem freundlich und prediget ihr, daß ihre<br />

Knechtschaft ein En<strong>de</strong> hat, daß ihre Schuld vergeben ist ... Es ruft eine Stimme: In <strong>de</strong>r Wüste<br />

bereitet <strong>de</strong>m Herrn <strong>de</strong>n Weg, macht in <strong>de</strong>r Steppe eine ebene Bahn unserm Gott! Alle Täler<br />

sollen erhöht wer<strong>de</strong>n, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt wer<strong>de</strong>n, und was uneben ist,<br />

soll gera<strong>de</strong>, und was hügelig ist, soll eben wer<strong>de</strong>n; <strong>de</strong>nn die Herrlichkeit <strong>de</strong>s Herrn soll<br />

offenbart wer<strong>de</strong>n, und alles Fleisch miteinan<strong>de</strong>r wird es sehen; <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>s Herrn Mund hat‘s<br />

gere<strong>de</strong>t.“ Jesaja 40,1-5.<br />

Sie dachten auch, daß vor <strong>de</strong>m Kommen <strong>de</strong>s Messias Elia persönlich erscheinen wür<strong>de</strong>.<br />

<strong>Die</strong>ser Erwartung begegnete Johannes in seiner verneinen<strong>de</strong>n Antwort, doch hatten seine Worte<br />

81


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

eine sehr viel tiefere Be<strong>de</strong>utung. Jesus sagte später, in<strong>de</strong>m er auf Johannes verwies: „So ihr‘s<br />

wollt annehmen: er ist <strong>de</strong>r Elia, <strong>de</strong>r da kommen soll.“ Matthäus 11,14. Johannes kam im Geist<br />

und in <strong>de</strong>r Kraft <strong>de</strong>s Elia, die Werke zu tun, die auch Elia getan hatte. Hätten die Ju<strong>de</strong>n ihn<br />

angenommen, dann wür<strong>de</strong> er auch <strong>de</strong>ssen Werk für sie ausgeführt haben. Doch sie nahmen<br />

seine Botschaft nicht an; <strong>de</strong>nn, für sie war er nicht Elia. So konnte er für sie nicht die Aufgabe<br />

ausführen, die zu erfüllen er gekommen war.<br />

Viele von <strong>de</strong>nen, die sich am Jordan versammelten, waren bei <strong>de</strong>r Taufe Jesu dabeigewesen;<br />

doch das dort gegebene Zeichen war nur wenigen in seiner Be<strong>de</strong>utung bewußt gewor<strong>de</strong>n.<br />

Während <strong>de</strong>r vorangegangenen monatelangen Tätigkeit <strong>de</strong>s Täufers hatten viele es verschmäht,<br />

<strong>de</strong>n Bußruf zu beachten. Dadurch waren ihre Herzen verhärtet und ihr Verstand hatte sich<br />

verdunkelt. Als <strong>de</strong>r Himmel bei <strong>de</strong>r Taufe Jesu von ihm Zeugnis ablegte, verstan<strong>de</strong>n sie es<br />

nicht. Augen, die sich niemals voller Vertrauen ihm zugewandt hatten, blieb die Offenbarung<br />

<strong>de</strong>r Herrlichkeit Gottes verborgen. Ohren, die niemals seiner Stimme gelauscht hatten, hörten<br />

auch nicht die Worte <strong>de</strong>s Zeugnisses. So ist es auch heute. Häufig ist die Gegenwart <strong>Christi</strong> und<br />

<strong>de</strong>r Engel in <strong>de</strong>n Zusammenkünften <strong>de</strong>r Menschen offenbar gewor<strong>de</strong>n, und <strong>de</strong>nnoch gibt es<br />

viele, die nichts davon wissen. Sie nehmen nichts Ungewöhnliches wahr. Doch einigen ist die<br />

Gegenwart <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s offenbart, Frie<strong>de</strong>n und Freu<strong>de</strong> beleben ihre Herzen. Sie sind getröstet,<br />

ermutigt und gesegnet.<br />

<strong>Die</strong> Abgeordneten <strong>de</strong>s Hohen Rates hatten Johannes weiter gefragt: „Warum taufst du<br />

<strong>de</strong>nn?“, und sie warteten auf seine Antwort. Plötzlich, als sein Blick die Menge überflog,<br />

strahlten seine Augen, sein Antlitz leuchtete und sein ganzes Wesen war von tiefer Bewegung<br />

erfüllt. Mit ausgestreckten Hän<strong>de</strong>n rief er: „Ich taufe mit Wasser; aber er ist mitten unter euch<br />

getreten, <strong>de</strong>n ihr nicht kennet. Der ist‘s, <strong>de</strong>r nach mir kommen wird, <strong>de</strong>s ich nicht wert bin, daß<br />

ich seine Schuhriemen auflöse.“ Johannes 1,26.27.<br />

Das war eine klare, unzwei<strong>de</strong>utige Botschaft, die <strong>de</strong>m Hohen Rat gebracht wer<strong>de</strong>n sollte. <strong>Die</strong><br />

Worte <strong>de</strong>s Täufers konnten sich auf niemand an<strong>de</strong>rs als auf <strong>de</strong>n schon lange Verheißenen<br />

beziehen. Der Messias befand sich unter ihnen! Bestürzt blickten die Priester und Obersten um<br />

sich, um <strong>de</strong>n zu fin<strong>de</strong>n, von <strong>de</strong>m Johannes gesprochen hatte, aber es war unter <strong>de</strong>r großen<br />

Menschenmenge nichts von ihm zu sehen. Als Johannes bei <strong>de</strong>r Taufe Jesu auf ihn als das<br />

Lamm Gottes wies, fiel neues Licht auf die Aufgabe <strong>de</strong>s Messias. Der Sinn <strong>de</strong>s Propheten<br />

wur<strong>de</strong> auf die Worte <strong>de</strong>s Jesaja gelenkt, <strong>de</strong>r davon gesprochen hatte, daß er wäre „wie ein<br />

Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird“. Jesaja 53,7 (Bruns). Während <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>n<br />

Wochen studierte Johannes mit neuerwachter Aufmerksamkeit die Weissagungen und die<br />

Lehren <strong>de</strong>s Opferdienstes. Er unterschied zwar nicht klar die zwei Phasen <strong>de</strong>r Tätigkeit <strong>Christi</strong><br />

— einmal als lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>s Opfer, zum an<strong>de</strong>rn als obsiegen<strong>de</strong>r König —, doch er sah, daß <strong>de</strong>ssen<br />

Kommen eine tiefere Be<strong>de</strong>utung hatte, als von <strong>de</strong>n Priestern o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Volk erkannt wor<strong>de</strong>n<br />

war. Als er Jesus bei <strong>de</strong>ssen Rückkehr aus <strong>de</strong>r Wüste unter <strong>de</strong>r Menge erblickte, hoffte er<br />

zuversichtlich, daß er <strong>de</strong>m Volk irgen<strong>de</strong>in Zeichen seiner Göttlichkeit geben wür<strong>de</strong>. Fast<br />

ungeduldig wartete er darauf, daß <strong>de</strong>r Heiland seine Mission erklärte; doch kein Wort fiel, und<br />

kein Zeichen wur<strong>de</strong> gegeben. Jesus ging nicht auf die Ankündigung <strong>de</strong>s Täufers ein, son<strong>de</strong>rn<br />

82


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

mischte sich unter die Anhänger <strong>de</strong>s Johannes und gab we<strong>de</strong>r ein äußerliches Zeichen seiner<br />

beson<strong>de</strong>ren Aufgabe, noch unternahm er etwas, um die Aufmerksamkeit auf sich selbst zu<br />

lenken.<br />

Am nächsten Tag sah <strong>de</strong>r Täufer Jesus herankommen. Erfüllt von <strong>de</strong>r Herrlichkeit Gottes,<br />

streckte <strong>de</strong>r Prophet seine Hän<strong>de</strong> aus und rief: „‚Siehe, das ist Gottes Lamm, welches <strong>de</strong>r Welt<br />

Sün<strong>de</strong> trägt!‘ <strong>Die</strong>ser ist‘s, von <strong>de</strong>m ich gesagt habe: Nach mir kommt ein Mann, welcher vor<br />

mir gewesen ist, <strong>de</strong>nn er war eher als ich. Und ich kannte ihn nicht; son<strong>de</strong>rn auf daß er offenbar<br />

wür<strong>de</strong> in Israel, darum bin ich gekommen, zu taufen mit Wasser ... Ich sah, daß <strong>de</strong>r Geist<br />

herabfuhr wie eine Taube vom Himmel und blieb auf ihm, und ich kannte ihn nicht. Aber <strong>de</strong>r<br />

mich sandte, zu taufen mit Wasser, <strong>de</strong>r sprach zu mir: Über welchen du sehen wirst <strong>de</strong>n Geist<br />

herabfahren und auf ihm bleiben, <strong>de</strong>r ist‘s, <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m heiligen Geist tauft. Und ich sah es und<br />

bezeugte, daß dieser ist Gottes Sohn.“ Johannes 1,29-34.<br />

War dieser Christus? Mit heiliger Scheu und Verwun<strong>de</strong>rung sahen die Menschen auf <strong>de</strong>n,<br />

<strong>de</strong>r soeben als <strong>de</strong>r Sohn Gottes bezeichnet wor<strong>de</strong>n war. <strong>Die</strong> Worte <strong>de</strong>s Täufers hatten tiefen<br />

Eindruck auf sie gemacht; <strong>de</strong>nn sie waren im Namen Gottes zu ihnen gesprochen. Sie hatten<br />

ihm Tag für Tag zugehört, wenn er ihre Sün<strong>de</strong>n rügte, und sie waren täglich in <strong>de</strong>r<br />

Überzeugung bestärkt wor<strong>de</strong>n, daß er vom Himmel gesandt sei. Wer aber war dieser, <strong>de</strong>r größer<br />

als <strong>de</strong>r Täufer sein sollte? In seiner Kleidung und Haltung war nichts, was seinen beson<strong>de</strong>ren<br />

Rang gekennzeichnet hätte. Er schien ein gewöhnlicher Mensch zu sein, geklei<strong>de</strong>t mit <strong>de</strong>m<br />

einfachen Gewand <strong>de</strong>r Armen.<br />

Unter <strong>de</strong>r Menge waren etliche, die bei <strong>de</strong>r Taufe <strong>Christi</strong> die göttliche Herrlichkeit gesehen<br />

und die Stimme Gottes gehört hatten. Aber seit jener Zeit hatte sich das Aussehen <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s<br />

doch stark verän<strong>de</strong>rt. Bei <strong>de</strong>r Taufe war sein Angesicht durch das Licht vom Himmel verklärt,<br />

jetzt war es bleich, matt und abgezehrt; nur Johannes <strong>de</strong>r Täufer hatte ihn erkannt. Als aber das<br />

Volk ihn anschaute, sah es ein Angesicht, in <strong>de</strong>m sich göttliches Erbarmen mit bewußter Stärke<br />

verband. Je<strong>de</strong>r Blick, je<strong>de</strong>r Zug sprach von Demut und unermeßlicher Liebe. Ein starker<br />

geistlicher Einfluß ging von ihm aus. Während sein Benehmen sanft und anspruchslos war,<br />

gewannen die Menschen doch <strong>de</strong>n Eindruck, als sei in ihm eine Macht verborgen, die <strong>de</strong>nnoch<br />

nicht ganz unsichtbar bleiben konnte. War dies <strong>de</strong>r Verheißene, auf <strong>de</strong>n Israel so lange gewartet<br />

hatte?<br />

Jesus kam in Armut und Erniedrigung, damit er sowohl unser Vorbild als auch unser Erlöser<br />

sein konnte. Wenn er in königlicher Pracht erschienen wäre, wie hätte er Demut lehren, wie<br />

hätte er solch durchdringen<strong>de</strong> Wahrheiten wie in <strong>de</strong>r Bergpredigt äußern können? Wo wäre die<br />

Hoffnung <strong>de</strong>r Erniedrigten geblieben, wäre Jesus gekommen, um als König unter <strong>de</strong>n Menschen<br />

zu wohnen? Der Menge schien es <strong>de</strong>nnoch unmöglich, daß dieser Eine, von Johannes<br />

angekündigt, mit ihren hochfliegen<strong>de</strong>n Erwartungen im Zusammenhang stehen sollte. Dadurch<br />

wur<strong>de</strong>n viele enttäuscht und zutiefst verwirrt. <strong>Die</strong> Worte, die die Priester und Rabbiner so gern<br />

hören wollten, daß Jesus nun die Königsherrschaft in Israel wie<strong>de</strong>raufrichten wür<strong>de</strong>, blieben<br />

ungesprochen. Auf solch einen König hatten sie gewartet und nach ihm Ausschau gehalten.<br />

Solch einen König wollten sie gern empfangen. Doch einen, <strong>de</strong>r ein Königreich <strong>de</strong>r<br />

83


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Gerechtigkeit und <strong>de</strong>s Frie<strong>de</strong>ns nur in ihren Herzen errichten wollte, <strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>n sie nicht<br />

annehmen.<br />

Am nächsten Tag sah Johannes, in <strong>de</strong>ssen Nähe zwei Jünger stan<strong>de</strong>n, Jesus erneut unter <strong>de</strong>m<br />

Volk. Wie<strong>de</strong>rum hellte sich <strong>de</strong>r Blick <strong>de</strong>s Täufers auf von <strong>de</strong>r Herrlichkeit <strong>de</strong>s Unsichtbaren,<br />

und er rief aus: „Siehe, das ist Gottes Lamm!“ <strong>Die</strong>se Worte ergriffen die Herzen <strong>de</strong>r Jünger,<br />

obgleich sie <strong>de</strong>ren Sinn nicht ganz verstan<strong>de</strong>n. Was be<strong>de</strong>utete <strong>de</strong>r Name, <strong>de</strong>n Johannes ihm gab<br />

— „Gottes Lamm“? Der Täufer hatte ihn nicht erklärt. <strong>Die</strong> Jünger verließen <strong>de</strong>n Täufer und<br />

gingen, <strong>de</strong>n Heiland zu suchen. Einer dieser bei<strong>de</strong>n war Andreas, <strong>de</strong>r Bru<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Simon Petrus;<br />

<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re war Johannes, <strong>de</strong>r Evangelist. Sie wur<strong>de</strong>n die ersten Jünger Jesu. Getrieben von<br />

einem unwi<strong>de</strong>rstehlichen Gefühl, folgten sie ihm und begehrten mit ihm zu re<strong>de</strong>n und<br />

schwiegen <strong>de</strong>nnoch vor Ehrfurcht, überwältigt von <strong>de</strong>m Gedanken: Ist dieser <strong>de</strong>r Messias?<br />

Jesus wußte, daß ihm die Jünger folgten. Sie waren die Erstlingsfrucht seines Wirkens, und<br />

das Herz <strong>de</strong>s göttlichen Lehrers freute sich, als diese Seelen sich von seiner Gna<strong>de</strong> bewegen<br />

ließen. Dennoch wandte er sich um und fragte: „Was suchet ihr?“ Johannes 1,38.39. Er wollte<br />

ihnen die Freiheit lassen, umzukehren o<strong>de</strong>r ihren Wunsch auszusprechen. <strong>Die</strong> Jünger waren sich<br />

aber nur eines bewußt: seine Gegenwart erfüllte ihre Gedanken. Sie sprachen: „Rabbi, wo bist<br />

du zur Herberge?“ In einer kurzen Unterhaltung am Wege konnten sie nicht das empfangen,<br />

wonach sie sich sehnten. Sie wollten mit Jesus allein sein, zu seinen Füßen sitzen und seine<br />

Worte hören. Da sprach <strong>de</strong>r Herr zu ihnen: „Kommt und sehet! Sie kamen und sahen‘s und<br />

blieben <strong>de</strong>n Tag bei ihm.“ Johannes 1,38.39.<br />

Wären Johannes und Andreas so ungläubigen Geistes gewesen wie die Priester und<br />

Obersten, dann hätten sie nicht als willige Schüler zu <strong>de</strong>n Füßen <strong>de</strong>s Herrn gesessen. Sie hätten<br />

sich vielmehr Jesus als Kritiker genaht und über seine Worte gerechtet. So verschließen sich<br />

viele <strong>de</strong>n guten Gelegenheiten im geistlichen Leben. <strong>Die</strong>se Jünger <strong>Christi</strong> jedoch han<strong>de</strong>lten<br />

an<strong>de</strong>rs. Sie hatten <strong>de</strong>m Ruf <strong>de</strong>s Heiligen Geistes in <strong>de</strong>r Predigt <strong>de</strong>s Täufers Gehör geschenkt<br />

und erkannten nun auch die Stimme <strong>de</strong>s himmlischen Lehrers. Ihnen waren die Worte Jesu<br />

voller Frische, Wahrheit und Schönheit. Göttliche Erleuchtung erhellte die Lehren <strong>de</strong>r<br />

alttestamentlichen Schriften und ließ die mannigfaltigen Leitbil<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Wahrheit in einem ganz<br />

neuen Licht erscheinen.<br />

Es sind Reue, Glaube und Liebe, die die Seele befähigen, die Wahrheit Gottes zu erkennen.<br />

Der Glaube, <strong>de</strong>r durch die Liebe wirkt, ist <strong>de</strong>r Schlüssel <strong>de</strong>r Erkenntnis. Je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r liebt, kennt<br />

auch <strong>de</strong>n Schöpfer. Der Jünger Johannes war ein Mann von ernstem, tiefem Gemüt, heftig und<br />

<strong>de</strong>nnoch nach<strong>de</strong>nklich. Er hatte begonnen, die Herrlichkeit <strong>Christi</strong> zu erkennen — nicht <strong>de</strong>n<br />

weltlichen Prunk und die Macht, auf die zu hoffen er gelehrt wor<strong>de</strong>n war, son<strong>de</strong>rn „seine<br />

Herrlichkeit, eine Herrlichkeit, wie sie <strong>de</strong>r einzige von seinem Vater hat, voll Gna<strong>de</strong> und<br />

Wahrheit“. Johannes 1,14 (Zürcher). Er war von <strong>de</strong>m Gedanken an diese wun<strong>de</strong>rbare<br />

Erkenntnis ganz in Anspruch genommen.<br />

Andreas verlangte danach, die Freu<strong>de</strong>, die sein Herz erfüllte, mitzuteilen; er suchte seinen<br />

Bru<strong>de</strong>r Simon und rief: „Wir haben <strong>de</strong>n Messias gefun<strong>de</strong>n.“ Johannes 1,41. Simon bedurfte<br />

84


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

keiner weiteren Auffor<strong>de</strong>rung. Auch er hatte <strong>de</strong>r Predigt <strong>de</strong>s Täufers gelauscht und eilte zum<br />

Heiland. Christus sah ihn an, erkannte seinen Charakter und <strong>de</strong>n Lauf seines Lebens. Seine<br />

lei<strong>de</strong>nschaftliche Natur, sein lieben<strong>de</strong>s, teilnahmsvolles Herz, sein Ehrgeiz und sein<br />

Selbstvertrauen, die Geschichte seines Falls, seine Reue, sein Wirken und sein Märtyrertod —<br />

all das lag offen vor Jesu durchdringen<strong>de</strong>m Blick, und er sagte: „Du bist Simon, <strong>de</strong>s Johannes<br />

Sohn; du sollst Kephas heißen, das wird verdolmetscht: Fels.“ Johannes 1,42.<br />

„Des an<strong>de</strong>rn Tages wollte Jesus wie<strong>de</strong>r nach Galiläa ziehen und fin<strong>de</strong>t Philippus und spricht<br />

zu ihm: Folge mir nach!“ Johannes 1,43. Philippus gehorchte dieser Auffor<strong>de</strong>rung und bekannte<br />

sich sofort als ein Mitstreiter <strong>Christi</strong>. Philippus rief Nathanael. <strong>Die</strong>ser war unter <strong>de</strong>r Menge<br />

gewesen, als <strong>de</strong>r Täufer Jesus als Lamm Gottes bezeichnet hatte. Als Nathanael Jesus erblickte,<br />

war er enttäuscht. Konnte dieser Mann, <strong>de</strong>r die Spuren von Arbeit und Armut an sich trug, <strong>de</strong>r<br />

Messias sein? Doch Nathanael konnte sich nicht dazu entschließen, Jesus zu verwerfen; die<br />

Botschaft <strong>de</strong>s Johannes hatte ihn überzeugt.<br />

Als Philippus ihn suchte, hatte er sich gera<strong>de</strong> in einen stillen Hain zurückgezogen und dachte<br />

über die Ankündigung <strong>de</strong>s Johannes und über die Prophezeiung hinsichtlich <strong>de</strong>s Messias nach.<br />

Er betete zu Gott um die Gewißheit, ob <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>m Täufer Verkündigte <strong>de</strong>r Befreier Israels<br />

sei. <strong>Die</strong> Gegenwart <strong>de</strong>s Heiligen Geistes versicherte <strong>de</strong>m stillen Beter, daß Gott sein Volk<br />

besucht und ein „Horn <strong>de</strong>s Heils“ aufgerichtet habe. Philippus wußte, daß sein Freund die<br />

Weissagungen durchforschte, und während Nathanael gera<strong>de</strong> unter einem Feigenbaum betete,<br />

fand er ihn. Oft hatten sie an diesem entlegenen Ort, von Laubwerk verborgen, zusammen<br />

gebetet. <strong>Die</strong> Botschaft: „Wir haben <strong>de</strong>n gefun<strong>de</strong>n, von welchem Mose im Gesetz und die<br />

Propheten geschrieben haben“ schien Nathanael eine unmittelbare Antwort auf sein Gebet zu<br />

sein. Der Glaube <strong>de</strong>s Philippus war noch schwach, und er fügte seiner Botschaft mit leisem<br />

Zweifel hinzu: „Jesus, Josephs Sohn von Nazareth.“ Da wur<strong>de</strong> Nathanaels Vorurteil aufs neue<br />

wach, und er rief aus: „Was kann von Nazareth Gutes kommen?“<br />

Philippus ließ sich auf keinerlei Fragen ein. Er wies Nathanaels Fragen ab mit <strong>de</strong>n Worten:<br />

„Komm und sieh es!“ Johannes 1,45.46. „Jesus sah Nathanael kommen und spricht von ihm:<br />

Siehe, ein rechter Israelit, in welchem kein Falsch ist.“ Höchst überrascht sprach Nathanael:<br />

„Woher kennst du mich? Jesus antwortete und sprach zu ihm: Ehe <strong>de</strong>nn dich Philippus rief, da<br />

du unter <strong>de</strong>m Feigenbaum warst, sah ich dich.“ Das genügte. Der göttliche Geist, <strong>de</strong>r sich zu<br />

Nathanaels einsamem Gebet unter <strong>de</strong>m Feigenbaum bezeugt hatte, sprach jetzt zu ihm in <strong>de</strong>n<br />

Worten Jesu. Obwohl noch nicht frei von Vorurteil und Zweifel, war Nathanael mit <strong>de</strong>m<br />

aufrichtigen Verlangen nach Wahrheit zu Jesus gekommen, und nun wur<strong>de</strong> sein Verlangen<br />

gestillt. Sein Glaube übertraf noch <strong>de</strong>n Glauben <strong>de</strong>ssen, <strong>de</strong>r ihn zu Jesus gebracht hatte. Er<br />

antwortete <strong>de</strong>m Herrn: „Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist <strong>de</strong>r König von Israel!“ Johannes<br />

1,47-49. Hätte sich Nathanael <strong>de</strong>r Führung <strong>de</strong>r Rabbiner anvertraut, wür<strong>de</strong> er Jesus nie<br />

gefun<strong>de</strong>n haben. Aus eigener Erfahrung und Überzeugung wur<strong>de</strong> er ein Jünger Jesu. Noch heute<br />

lassen sich viele Menschen aus Vorurteil vom Guten fernhalten. Wie ganz an<strong>de</strong>rs gestaltete sich<br />

ihr Leben, wenn sie wie einst Nathanael kommen und sehen wür<strong>de</strong>n! Niemand wird zur<br />

erretten<strong>de</strong>n Erkenntnis <strong>de</strong>r Wahrheit gelangen, <strong>de</strong>r sich <strong>de</strong>r Führung menschlicher Autoritäten<br />

85


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

anvertraut. Wir müssen wie Nathanael das Wort Gottes selbst prüfen und um die Erleuchtung<br />

durch <strong>de</strong>n Heiligen Geist bitten. Er, <strong>de</strong>r Nathanael unter <strong>de</strong>m Feigenbaum sah, wird auch uns<br />

sehen, wo wir auch beten mögen. Himmlische Wesen sind <strong>de</strong>nen nahe, die <strong>de</strong>mütig nach<br />

göttlicher Führung verlangen.<br />

Mit <strong>de</strong>r Berufung von Johannes, Andreas, Simon, Philippus und Nathanael begann die<br />

Gründung <strong>de</strong>r christlichen Gemein<strong>de</strong>. Johannes <strong>de</strong>r Täufer wies zwei seiner Jünger zu Jesus.<br />

Der eine von diesen, Andreas, fand seinen Bru<strong>de</strong>r und führte ihn zum Heiland. Dann wur<strong>de</strong><br />

Philippus berufen, und dieser suchte und fand Nathanael. <strong>Die</strong>se Beispiele mögen uns die<br />

Wichtigkeit <strong>de</strong>r persönlichen Bemühungen an unseren Verwandten, Freun<strong>de</strong>n und Nachbarn<br />

zeigen. Es gibt viele, die angeblich in bester Verbindung mit Gott leben; <strong>de</strong>nnoch haben sie sich<br />

noch niemals persönlich darum bemüht, auch nur eine Seele zum Heiland zu führen. Sie<br />

überlassen diese Arbeit <strong>de</strong>m Geistlichen. <strong>Die</strong>ser kann für seine Aufgabe wohl befähigt sein; er<br />

kann aber nicht das tun, was Gott <strong>de</strong>n Glie<strong>de</strong>rn seiner Gemein<strong>de</strong> aufgetragen hat. Dann gibt es<br />

viele, die <strong>de</strong>s <strong>Die</strong>nstes lieben<strong>de</strong>r Herzen bedürfen. Schon mancher ist ins Ver<strong>de</strong>rben gekommen,<br />

<strong>de</strong>r gerettet wor<strong>de</strong>n wäre, wenn seine Freun<strong>de</strong>, Nachbarn und Bekannten sich um ihn<br />

gekümmert hätten. Viele warten sogar darauf, daß man sich persönlich an sie wen<strong>de</strong>t.<br />

Beson<strong>de</strong>rs in <strong>de</strong>r Familie, in <strong>de</strong>r Nachbarschaft und in <strong>de</strong>r weiteren Umgebung gibt es für uns<br />

als Missionare <strong>Christi</strong> viel zu tun. Wenn wir Christen sind, wird uns eine solche Arbeit Freu<strong>de</strong><br />

machen. Sobald jemand aufrichtig bekehrt ist, verlangt ihn danach, an<strong>de</strong>ren mitzuteilen,<br />

welchen köstlichen Freund er in Jesus gefun<strong>de</strong>n hat. <strong>Die</strong> erretten<strong>de</strong> und heiligen<strong>de</strong> Wahrheit<br />

läßt sich nicht im Herzen verschließen.<br />

Alle <strong>de</strong>m Herrn Geweihten wer<strong>de</strong>n seine Werkzeuge sein, um an<strong>de</strong>ren Licht zu bringen und<br />

ihnen von <strong>de</strong>m Reichtum seiner Gna<strong>de</strong> zu erzählen. „Ich will sie und alles, was um meinen<br />

Hügel her ist, segnen und auf sie regnen lassen zu rechter Zeit. Das sollen gnädige Regen<br />

sein.“ Hesekiel 34,26. Philippus sprach zu Nathanael: „Komm und sieh es!“ Er bat ihn nicht,<br />

das Zeugnis eines an<strong>de</strong>ren anzunehmen, son<strong>de</strong>rn Christus mit eigenen Augen zu sehen. Seit<br />

Jesus zum Himmel aufgefahren ist, sind seine Nachfolger seine Beauftragten unter <strong>de</strong>n<br />

Menschen; und einer <strong>de</strong>r wirksamsten Wege, Seelen für ihn zu gewinnen, besteht darin, seinen<br />

Charakter in unserem täglichen Leben beispielhaft zu veranschaulichen. Unser Einfluß, <strong>de</strong>n wir<br />

auf an<strong>de</strong>re ausüben, hängt nicht so sehr von <strong>de</strong>m ab, was wir sagen, als vielmehr von <strong>de</strong>m, was<br />

wir sind. <strong>Die</strong> Menschen mögen unser vernünftiges Denken bekämpfen und ihm die Stirn bieten,<br />

sie mögen unseren Auffor<strong>de</strong>rungen wi<strong>de</strong>rstehen, doch ein Leben selbstloser Liebe ist ein<br />

Argument, <strong>de</strong>m sie nicht wi<strong>de</strong>rsprechen können. Ein konsequentes Leben, das gekennzeichnet<br />

ist durch die Sanftmut <strong>Christi</strong>, ist eine Macht in <strong>de</strong>r Welt.<br />

<strong>Die</strong> Lehre <strong>Christi</strong> war <strong>de</strong>r Ausdruck einer tief innerlichen Überzeugung und Erfahrung, und<br />

jene, die von ihm lernen, wer<strong>de</strong>n Lehrer sein nach <strong>de</strong>r himmlischen Weise. Das Wort Gottes,<br />

durch jemand verkündigt, <strong>de</strong>r selbst durch das Wort geheiligt ist, hat eine lebenspen<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />

Kraft, die die Hörer fesselt und sie davon überzeugt, daß es eine lebendige Wirklichkeit ist.<br />

Wenn jemand die Wahrheit in Liebe empfangen hat, wird er dies durch die Überzeugungskraft<br />

seines Auftretens bekun<strong>de</strong>n und durch <strong>de</strong>n Klang seiner Stimme zum Ausdruck bringen. Er tut<br />

86


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

kund, daß das, was er selbst gehört und gesehen und was ihn berührt hat von <strong>de</strong>m Wort <strong>de</strong>s<br />

Lebens, an<strong>de</strong>re durch die Erkenntnis <strong>Christi</strong> zur Gemeinschaft mit ihm führen kann. Sein<br />

Zeugnis ist Wahrheit für empfängliche Herzen und heiligt <strong>de</strong>n Charakter, sofern es von Lippen<br />

kommt, die mit einer glühen<strong>de</strong>n Kohle vom Altar berührt wor<strong>de</strong>n sind. Jesaja 6,6.7.<br />

Wer an<strong>de</strong>ren Licht zu bringen sucht, wird selbst gesegnet wer<strong>de</strong>n. „Das sollen gnädige<br />

Regen sein.“ — „Wer reichlich tränkt, <strong>de</strong>r wird auch getränkt wer<strong>de</strong>n.“ Hesekiel 34,26; Sprüche<br />

11,25. Gott könnte sein Ziel, Sün<strong>de</strong>r zu retten, auch ohne unsere Mithilfe erreichen, doch damit<br />

wir einen Charakter entfalten können, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Charakter <strong>Christi</strong> gleichkommt, müssen wir zu<br />

seinem Werk beitragen. Um zu seiner Freu<strong>de</strong> einzugehen — <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong> nämlich, Seelen zu<br />

sehen, die durch sein Opfer erlöst wur<strong>de</strong>n —, müssen wir an seinem Wirken für ihre Erlösung<br />

teilhaben. Nathanaels erste Versicherung seines Glaubens — so hingebungsvoll, ernst und<br />

aufrichtig — war daher Musik in <strong>de</strong>n Ohren Jesu. Und er „antwortete und sprach zu ihm: Du<br />

glaubst, weil ich dir gesagt habe, daß ich dich gesehen habe unter <strong>de</strong>m Feigenbaum; du wirst<br />

noch Größeres als das sehen“. Johannes 1,50.<br />

Der Heiland schaute mit Freu<strong>de</strong>n auf die vor ihm liegen<strong>de</strong> Aufgabe, <strong>de</strong>n Armen das<br />

Evangelium zu predigen, die zerstoßenen Herzen zu heilen und <strong>de</strong>n Gefangenen Satans die<br />

Freiheit zu verkündigen. Einge<strong>de</strong>nk <strong>de</strong>r köstlichen Segnungen, die er <strong>de</strong>n Menschen gebracht<br />

hatte, fügte er hinzu: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr wer<strong>de</strong>t <strong>de</strong>n Himmel offen sehen<br />

und die Engel Gottes hinauf und herab fahren auf <strong>de</strong>s Menschen Sohn.“ Johannes 1,51. Dem<br />

Sinne nach sagte Christus: Am Ufer <strong>de</strong>s Jordans öffnete sich <strong>de</strong>r Himmel, und <strong>de</strong>r Heilige Geist<br />

kam auf mich herab gleich einer Taube. <strong>Die</strong>s geschah zum Zeugnis, daß ich Gottes Sohn bin.<br />

Und wer dies glaubt, <strong>de</strong>ssen Glaube wird lebendig sein, und er wird sehen, daß <strong>de</strong>r Himmel<br />

offen ist, um sich nie wie<strong>de</strong>r für ihn zu schließen; <strong>de</strong>nn ich habe ihn für die Gläubigen geöffnet.<br />

<strong>Die</strong> Engel Gottes steigen hinauf und tragen die Gebete <strong>de</strong>r Notlei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n und Bedrückten zum<br />

Vater empor und fahren herab, um <strong>de</strong>n Menschenkin<strong>de</strong>rn Segen und Hoffnung, Mut, Hilfe und<br />

Leben zu bringen.<br />

Unaufhörlich bewegen sich die Engel Gottes von <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> zum Himmel und vom Himmel<br />

zur Er<strong>de</strong>. Sie waren es auch, durch welche die Wun<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s an <strong>de</strong>n Kranken und<br />

Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n gewirkt wur<strong>de</strong>n. So gelangen auch die Segnungen Gottes zu uns, durch <strong>de</strong>n <strong>Die</strong>nst<br />

<strong>de</strong>r himmlischen Boten. In<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Heiland menschliche Natur annahm, verband er seine<br />

Belange mit <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>s gefallenen Menschengeschlechts, während er durch seine Göttlichkeit<br />

<strong>de</strong>n Thron Gottes in Anspruch nimmt. Dadurch ist Christus <strong>de</strong>r Mittler gewor<strong>de</strong>n zwischen Gott<br />

und <strong>de</strong>n Menschen — zwischen uns und <strong>de</strong>m himmlischen Vater.<br />

87


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 15: Auf <strong>de</strong>r Hochzeit zu Kana<br />

Jesus begann seinen <strong>Die</strong>nst nicht mit großen Worten vor <strong>de</strong>m Hohen Rat, son<strong>de</strong>rn bei einer<br />

häuslichen Familienfestlichkeit in einem kleinen galiläischen Dorf, und zwar anläßlich <strong>de</strong>r<br />

Hochzeit zu Kana. Hier offenbarte er seine Macht und bewies dadurch seine Anteilnahme am<br />

menschlichen Erleben. Er wollte dazu beitragen, das Leben <strong>de</strong>r Menschen froher und<br />

glücklicher zu machen. In <strong>de</strong>r Wüste hatte er selbst <strong>de</strong>n Lei<strong>de</strong>nskelch getrunken; nun kam er,<br />

um <strong>de</strong>n Menschen <strong>de</strong>n Kelch <strong>de</strong>r Segnungen zu vermitteln und durch seinen Segen auch die<br />

verwandtschaftlichen Beziehungen <strong>de</strong>r Menschen zu heiligen. Vom Jordan kehrte Jesus nach<br />

Galiläa zurück. In Kana, nicht weit von Nazareth, sollte bei Verwandten seiner Eltern eine<br />

Hochzeit stattfin<strong>de</strong>n. Jesus war mit seinen Jüngern zur Teilnahme am Fest eingela<strong>de</strong>n.<br />

Hier traf er nach längerer Trennung seine Mutter wie<strong>de</strong>r. Maria hatte von <strong>de</strong>n Ereignissen<br />

am Jordan anläßlich seiner Taufe gehört. Berichte waren bis nach Nazareth gedrungen, und<br />

diese Nachrichten hatten aufs neue alle in ihrem Herzen verborgenen Erinnerungen<br />

wachgerufen. Wie das ganze Israel war auch sie tief bewegt von <strong>de</strong>r Sendung <strong>de</strong>s Täufers. Sie<br />

erinnerte sich gut <strong>de</strong>r Verheißungen, die bei seiner Geburt gegeben wor<strong>de</strong>n waren. Jetzt wur<strong>de</strong>n<br />

ihre Hoffnungen abermals belebt durch <strong>de</strong>s Täufers innige Verbindung mit Jesus. Aber auch<br />

von Jesu seltsamem Verschwin<strong>de</strong>n in die Wüste hatte sie Kun<strong>de</strong> erhalten, und ihr Herz war<br />

daher von beunruhigen<strong>de</strong>n Ahnungen erfüllt.<br />

Von <strong>de</strong>m Tage an, da Maria die Ankündigung <strong>de</strong>s Engels in ihrem Heim zu Nazareth<br />

vernommen hatte, war je<strong>de</strong>s Zeugnis, das Jesus als Messias auswies, gewissenhaft von ihr<br />

bewahrt wor<strong>de</strong>n. Sein reines, selbstloses Leben gab ihr Gewißheit, daß er <strong>de</strong>r von Gott<br />

Gesandte war. Dennoch wur<strong>de</strong> sie oft von Zweifeln und Enttäuschungen heimgesucht, und sie<br />

sehnte sich nach <strong>de</strong>r Zeit, da seine Herrlichkeit offenbar wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>. Joseph, <strong>de</strong>r mit ihr das<br />

Geheimnis <strong>de</strong>r Geburt Jesu geteilt hatte, war schon gestorben, und Maria hatte niemand, mit<br />

<strong>de</strong>m sie über ihre Hoffnungen und Befürchtungen sprechen konnte. <strong>Die</strong> bei<strong>de</strong>n letzten Monate<br />

waren für sie recht traurig gewesen. Von Jesus, <strong>de</strong>ssen Mitgefühl ihr stets <strong>de</strong>n besten Trost<br />

gegeben hatte, war sie getrennt gewesen. Sie hatte viel über die Worte Simeons: „Auch durch<br />

<strong>de</strong>ine Seele wird ein Schwert dringen“ (Lukas 2,35) nach<strong>de</strong>nken müssen; ihr waren auch die<br />

drei Tage schwerer Seelenangst ins Gedächtnis gekommen, an <strong>de</strong>nen sie geglaubt hatte, Jesus<br />

für immer verloren zu haben. So hatte sie nun mit sorgen<strong>de</strong>m Herzen seine Rückkehr erwartet.<br />

Auf <strong>de</strong>r Hochzeit zu Kana trifft sie Jesus wie<strong>de</strong>r — <strong>de</strong>nselben liebevollen, pflichtgetreuen<br />

Sohn. Und doch ist Jesus nicht <strong>de</strong>rselbe geblieben. Sein Aussehen hat sich verän<strong>de</strong>rt. <strong>Die</strong><br />

Spuren seines seelischen Ringens in <strong>de</strong>r Wüste haben sich ihm eingegraben, und ein bisher<br />

nicht erkennbar gewesener Ausdruck von Wür<strong>de</strong> und Hoheit zeugt von seiner göttlichen<br />

Sendung. Um ihn ist eine Schar junger Männer, <strong>de</strong>ren Augen ehrfürchtig auf ihn sehen und die<br />

ihn Meister nennen. <strong>Die</strong>se Begleiter berichten Maria, was sie bei Jesu Taufe und auch bei<br />

an<strong>de</strong>ren Gelegenheiten gehört und gesehen haben, und schließen mit <strong>de</strong>m Zeugnis: „Wir haben<br />

<strong>de</strong>n gefun<strong>de</strong>n, von welchem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben.“ Johannes<br />

1,45.<br />

88


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Während die Gäste sich versammeln, scheinen viele von ihnen durch eine Angelegenheit von<br />

beson<strong>de</strong>rer Be<strong>de</strong>utung in Anspruch genommen zu sein. Eine schlecht unterdrückte Erregung<br />

herrscht unter <strong>de</strong>n Anwesen<strong>de</strong>n. Kleine Gruppen stehen zusammen und unterhalten sich mit<br />

lebhafter aber leiser Stimme und richten ihre verwun<strong>de</strong>rten Blicke auf <strong>de</strong>n Sohn <strong>de</strong>r Maria. Als<br />

Maria <strong>de</strong>r Jünger Zeugnis über Jesus gehört hatte, war ihr Herz von <strong>de</strong>r freudigen Gewißheit<br />

erfüllt, daß ihre langgehegten Hoffnungen sich nun bald erfüllen wür<strong>de</strong>n. In menschlich<br />

begreiflicher Weise mischte sich in die heilige Freu<strong>de</strong> auch <strong>de</strong>r natürliche Stolz einer lieben<strong>de</strong>n<br />

Mutter. Als sie die vielen auf Jesus gerichteten Blicke bemerkte, sehnte sie sich danach, ihr<br />

Sohn möge <strong>de</strong>r Hochzeitsgesellschaft einen Beweis geben, daß er wirklich <strong>de</strong>r Geehrte Gottes<br />

wäre. Sie hoffte, Jesus fän<strong>de</strong> eine Gelegenheit, für sie ein Wun<strong>de</strong>r zu wirken.<br />

Eine Hochzeitsfeier in jener Zeit dauerte gewöhnlich mehrere Tage. Bei diesem Fest stellte<br />

sich heraus, daß <strong>de</strong>r Vorrat an Wein nicht ausreichte, und diese Wahrnehmung verursachte<br />

Sorge und Bedauern. Es war Sitte, bei festlichen Gelegenheiten reichlich Wein zu spen<strong>de</strong>n; ein<br />

Verstoß gegen diese Regel wäre ein Mangel an Gastfreundschaft gewesen. Maria hatte bei <strong>de</strong>n<br />

Vorbereitungen zum Fest mitgeholfen und sagte jetzt zu Jesus: „Sie haben nicht Wein.“ <strong>Die</strong>se<br />

Worte sollten ein Wink für ihn sein, <strong>de</strong>m Mangel abzuhelfen. Aber Jesus antwortete: „Weib,<br />

was geht‘s dich an, was ich tue? Meine Stun<strong>de</strong> ist noch nicht gekommen.“ Johannes 2,3.4.<br />

<strong>Die</strong>se uns schroff erscheinen<strong>de</strong> Antwort drückte jedoch keine Kälte o<strong>de</strong>r Unhöflichkeit aus.<br />

Sie entsprach durchaus <strong>de</strong>r damaligen orientalischen Gepflogenheit. Man bediente sich dieser<br />

Anre<strong>de</strong> bei Personen, <strong>de</strong>nen man Achtung erweisen wollte. Je<strong>de</strong> Handlung <strong>Christi</strong> auf Er<strong>de</strong>n<br />

entsprach <strong>de</strong>m von ihm selbst gegebenen Gebot: „Du sollst <strong>de</strong>inen Vater und <strong>de</strong>ine Mutter<br />

ehren!“ Als er am Kreuz seiner Mutter die letzte Fürsorge erwies, in<strong>de</strong>m er sie <strong>de</strong>r Obhut seines<br />

Lieblingsjüngers Johannes anbefahl, re<strong>de</strong>te er sie in <strong>de</strong>r gleichen Weise an. Sowohl auf <strong>de</strong>r<br />

Hochzeit zu Kana als auch am Kreuz erklärte die in seinem Tonfall, seinem Blick und seinem<br />

Verhalten zum Ausdruck kommen<strong>de</strong> Liebe die Be<strong>de</strong>utung seiner Worte.<br />

Bei seinem Besuch als Knabe im Tempel, als das Geheimnis seiner Lebensaufgabe sich ihm<br />

enthüllte, hatte er zu Maria gesagt: „Wisset ihr nicht, daß ich sein muß in <strong>de</strong>m, das meines<br />

Vaters ist?“ Lukas 2,49. <strong>Die</strong>se Worte enthüllen <strong>de</strong>n Grundton seines ganzen Lebens und<br />

Wirkens auf dieser Er<strong>de</strong>. Alles mußte sich seiner hohen Aufgabe, die zu erfüllen er gekommen<br />

war, unterordnen. Jetzt wie<strong>de</strong>rholte er diese Lehre. <strong>Die</strong> Gefahr lag nahe, daß Maria durch ihre<br />

Verwandtschaft mit Jesus ein beson<strong>de</strong>res Anrecht auf ihn geltend machen wollte und zugleich<br />

<strong>de</strong>n Anspruch, ihn in seiner Aufgabe bis zu einem gewissen Gra<strong>de</strong> zu leiten. Dreißig Jahre lang<br />

war er ihr ein lieben<strong>de</strong>r und gehorsamer Sohn gewesen, und an seiner Liebe zu ihr hatte sich<br />

nichts geän<strong>de</strong>rt; doch nun mußte er das Werk seines himmlischen Vaters beginnen. Als<br />

Sohn <strong>de</strong>s Allerhöchsten und als Heiland <strong>de</strong>r Welt durften ihn keine irdischen Ban<strong>de</strong> bei <strong>de</strong>r<br />

Erfüllung seiner Aufgabe beeinflussen. Er mußte bei <strong>de</strong>r Ausübung <strong>de</strong>s göttlichen Willens frei<br />

und unbehin<strong>de</strong>rt sein. Hierin liegt eine Lehre für uns. Gottes Ansprüche stehen höher als die<br />

Ban<strong>de</strong> menschlicher Verwandtschaft. Nichts Irdisches darf so anziehend für uns sein, daß<br />

unsere Füße sich von <strong>de</strong>m Pfad abwen<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n Gott uns gehen heißt.<br />

89


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

<strong>Die</strong> einzige Hoffnung auf Erlösung <strong>de</strong>s gefallenen Menschengeschlechts liegt in Christus;<br />

selbst Maria konnte nur durch das Lamm Gottes Erlösung fin<strong>de</strong>n. Sie besaß keinerlei<br />

Verdienste bei sich selbst. Ihre Verbindung mit Jesus brachte sie in kein an<strong>de</strong>res geistliches<br />

Verhältnis zu ihm als irgen<strong>de</strong>ine an<strong>de</strong>re menschliche Seele. <strong>Die</strong>s war auch in Jesu Worten<br />

ange<strong>de</strong>utet. Er wollte einen Unterschied gewahrt wissen in seinem Verhältnis zu ihr als<br />

Menschensohn und als Gottessohn. Das Band <strong>de</strong>r irdischen Verwandtschaft rückte sie<br />

keineswegs auf die gleiche Stufe mit ihm.<br />

<strong>Die</strong> Worte „Meine Stun<strong>de</strong> ist noch nicht gekommen“ wiesen auf die Tatsache hin, daß je<strong>de</strong><br />

Handlung <strong>Christi</strong> auf Er<strong>de</strong>n in Erfüllung <strong>de</strong>s Planes geschah, <strong>de</strong>r schon von Ewigkeit her<br />

bestan<strong>de</strong>n hatte. Bevor Jesus auf diese Er<strong>de</strong> kam, lag <strong>de</strong>r ganze Plan in allen Einzelheiten vor<br />

ihm. Als er aber unter <strong>de</strong>n Menschen wan<strong>de</strong>lte, wur<strong>de</strong> er Schritt für Schritt von <strong>de</strong>m Willen <strong>de</strong>s<br />

Vaters geleitet. Er zögerte nicht, zur bestimmten Zeit zu han<strong>de</strong>ln; in <strong>de</strong>m gleichen Gehorsam<br />

wartete er jedoch auch, bis seine Zeit gekommen war. In<strong>de</strong>m Jesus <strong>de</strong>r Maria sagte, daß seine<br />

Stun<strong>de</strong> noch nicht gekommen sei, antwortete er auf ihren unausgesprochenen Gedanken — auf<br />

die Erwartung, die sie gemeinsam mit ihrem Volk hegte. Sie hoffte, er wür<strong>de</strong> sich als Messias<br />

offenbaren und in Israel <strong>de</strong>n Thron besteigen. Doch die Zeit war dafür noch nicht reif. Jesus<br />

hatte das Schicksal <strong>de</strong>r Menschheit geteilt — nicht als König, son<strong>de</strong>rn als „Mann <strong>de</strong>r<br />

Schmerzen und vertraut mit Krankheit“. Jesaja 53,3 (Zürcher).<br />

Aber obwohl Maria von <strong>de</strong>r Sendung <strong>Christi</strong> nicht die richtige Vorstellung hatte, vertraute<br />

sie ihm blind. Auf diesen Glauben antwortete Jesus. Das erste Wun<strong>de</strong>r wur<strong>de</strong> vollbracht, um<br />

Marias Vertrauen zu ehren und <strong>de</strong>n Glauben seiner Jünger zu stärken. <strong>Die</strong> Jünger mußten damit<br />

rechnen, zahlreichen und großen Versuchungen zum Unglauben zu begegnen. Ihnen hatten es<br />

die Prophezeiungen unbestreitbar klargemacht, daß Jesus <strong>de</strong>r Messias war. Sie erwarteten, daß<br />

die religiösen Führer ihn mit noch größerem Vertrauen aufnehmen wür<strong>de</strong>n, als sie selbst ihm<br />

entgegengebracht hatten. Sie verkün<strong>de</strong>ten <strong>de</strong>m Volk die wun<strong>de</strong>rbaren Werke <strong>Christi</strong> und<br />

sprachen von ihrem eigenen Glauben an seine Sendung, aber sie waren über <strong>de</strong>n Unglauben,<br />

das tiefsitzen<strong>de</strong> Vorurteil und die Feindseligkeit, die die Priester und Rabbiner gegenüber Jesus<br />

zeigten, entsetzt und bitter enttäuscht. <strong>Die</strong> ersten Wun<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s machten <strong>de</strong>n Jüngern<br />

Mut, diesem Wi<strong>de</strong>rstand entschlossen zu begegnen.<br />

Maria hatte sich durch die Worte Jesu in keiner Weise aus <strong>de</strong>r Fassung bringen lassen und<br />

sagte nun zu <strong>de</strong>nen, die bei Tisch aufwarteten: „Was er euch sagt, das tut.“ Johannes 2,5. So tat<br />

sie selbst alles, was in ihrer Macht stand, um <strong>de</strong>n Weg für das Werk <strong>Christi</strong> vorzubereiten. An<br />

<strong>de</strong>r Tür stan<strong>de</strong>n sechs große steinerne Wasserkrüge, und Jesus gebot <strong>de</strong>n <strong>Die</strong>nern, diese mit<br />

Wasser zu füllen. Es geschah. Da <strong>de</strong>r Wein sofort gebraucht wur<strong>de</strong>, sagte Jesus: „Schöpfet nun<br />

und bringet‘s <strong>de</strong>m Speisemeister!“ Johannes 2,8. Statt <strong>de</strong>s Wassers, womit die Krüge gefüllt<br />

wor<strong>de</strong>n waren, floß Wein heraus. We<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Gastgeber noch die Gäste hatten überhaupt einen<br />

Mangel bemerkt. Als aber <strong>de</strong>r Speisemeister <strong>de</strong>n Wein, <strong>de</strong>n die <strong>Die</strong>ner ihm brachten, kostete,<br />

fand er ihn be<strong>de</strong>utend besser als je<strong>de</strong>n Wein, <strong>de</strong>n er jemals getrunken hatte, und im Geschmack<br />

auch ganz an<strong>de</strong>rs als <strong>de</strong>n bisher ausgeschenkten. Er wandte sich an <strong>de</strong>n Bräutigam und sagte:<br />

90


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

„Je<strong>de</strong>rmann gibt zuerst <strong>de</strong>n guten Wein und, wenn sie trunken gewor<strong>de</strong>n sind, alsdann <strong>de</strong>n<br />

geringern; du hast <strong>de</strong>n guten Wein bisher behalten.“ Johannes 2,10.<br />

So wie die Menschen zuerst <strong>de</strong>n besten Wein servieren und nachher <strong>de</strong>n min<strong>de</strong>rwertigeren,<br />

so tut es die Welt mit ihren Gaben. Was sie anbietet, mag <strong>de</strong>m Auge gefallen und die Sinne<br />

fesseln, aber es erweist sich als unbefriedigend. Der Wein verwan<strong>de</strong>lt sich in Bitternis, die<br />

Fröhlichkeit in Trübsinn. Das, was mit Gesang und Heiterkeit begann, en<strong>de</strong>t in Müdigkeit und<br />

Abscheu. Aber die Gaben Jesu sind immer frisch und neu. Das Fest, das er <strong>de</strong>r Seele bereitet,<br />

hört nie auf, Befriedigung und Freu<strong>de</strong> zu schenken. Je<strong>de</strong> neue Gabe vergrößert die Fähigkeit<br />

<strong>de</strong>s Empfängers, die Segnungen <strong>de</strong>s Herrn zu schätzen und zu genießen. Er gibt Gna<strong>de</strong> um<br />

Gna<strong>de</strong>. Daran wird kein Mangel sein. Wenn du in ihm bleibst, verbürgt dir die Tatsache, daß du<br />

heute eine reiche Gabe erhältst, für morgen ein noch köstlicheres Geschenk. <strong>Die</strong> Worte Jesu an<br />

Nathanael ver<strong>de</strong>utlichen die Richtschnur, nach <strong>de</strong>r Gott mit <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>s Glaubens verfährt.<br />

Mit je<strong>de</strong>r neuen Offenbarung seiner Liebe erklärt er <strong>de</strong>m aufnahmebereiten Herzen: „Du<br />

glaubst ... du wirst noch Größeres als das sehen.“ Johannes 1,50.<br />

<strong>Christi</strong> Gabe zum Hochzeitsfest war ein Sinnbild. Das Wasser stellte die Taufe in seinen Tod<br />

dar, <strong>de</strong>r Wein das Vergießen seines Blutes für die Sün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Welt. Das Wasser zum Füllen <strong>de</strong>r<br />

Krüge wur<strong>de</strong> von menschlichen Hän<strong>de</strong>n gebracht; aber nur das Wort <strong>Christi</strong> konnte ihm die<br />

lebenspen<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Kraft verleihen. So ist es auch mit <strong>de</strong>n Bräuchen, die auf <strong>de</strong>n Tod <strong>de</strong>s<br />

Heilan<strong>de</strong>s hinweisen. Nur durch die Kraft <strong>Christi</strong>, die durch <strong>de</strong>n Glauben wirkt, sind sie<br />

imstan<strong>de</strong>, die Seele zu erhalten. Das Wort <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s trug reichlich Sorge für das<br />

Hochzeitsfest. Ebenso reichlich ist die Gabe seiner Gna<strong>de</strong>, um alle Sün<strong>de</strong>n auszutilgen und die<br />

Seele zu erneuern und zu stärken. Auf <strong>de</strong>m ersten Fest, das Christus mit seinen Jüngern<br />

besuchte, reichte er ihnen <strong>de</strong>n Kelch, <strong>de</strong>r sein Werk für ihre Seligkeit symbolisierte. Bei <strong>de</strong>m<br />

letzten Aben<strong>de</strong>ssen gab er ihn wie<strong>de</strong>r, bei <strong>de</strong>r Einsetzung jenes heiligen Mahles, durch das sein<br />

Tod verkündigt wer<strong>de</strong>n soll, „bis daß er kommt“. Der Schmerz <strong>de</strong>r Jünger beim Schei<strong>de</strong>n von<br />

ihrem Herrn wur<strong>de</strong> durch die Verheißung einer Wie<strong>de</strong>rvereinigung gemil<strong>de</strong>rt. Jesus sagte<br />

ihnen: „Ich wer<strong>de</strong> von nun an nicht mehr von diesem Gewächs <strong>de</strong>s Weinstocks trinken bis an<br />

<strong>de</strong>n Tag, da ich‘s neu trinken wer<strong>de</strong> mit euch in meines Vaters Reich.“ Matthäus 26,29.<br />

Der Wein, mit <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Herr die Gäste versorgte, und jener, <strong>de</strong>n er <strong>de</strong>n Jüngern als Sinnbild<br />

seines Blutes gab, war reiner Traubensaft. Das läßt auch <strong>de</strong>r Prophet Jesaja anklingen, wenn er<br />

von <strong>de</strong>m Most „in <strong>de</strong>r Traube“ spricht und sagt: „Verdirb es nicht, <strong>de</strong>nn es ist ein Segen<br />

darin!“ Jesaja 65,8. Es war Christus, <strong>de</strong>r im Alten Testament Israel warnte: „Der Wein macht<br />

Spötter, und starkes Getränk macht wild; wer davon taumelt, wird niemals weise.“ Sprüche<br />

20,1. Und er selber beschaffte auch kein solches Getränk. Satan versucht die Menschen dahin<br />

zu bringen, sich <strong>de</strong>r Befriedigung <strong>de</strong>r Lei<strong>de</strong>nschaften hinzugeben, die <strong>de</strong>n Verstand verdunkeln<br />

und die geistliche Wahrnehmungsfähigkeit betäuben; aber Christus lehrt uns, die nie<strong>de</strong>ren<br />

Triebe zu beherrschen. Sein gesamtes Leben war ein Beispiel <strong>de</strong>r Selbstverleugnung. Um die<br />

Macht <strong>de</strong>r Begier<strong>de</strong>n zu brechen, nahm er an unserer Statt die schwerste Prüfung auf sich, die<br />

die menschliche Natur ertragen konnte. Es war Christus, <strong>de</strong>r Johannes <strong>de</strong>n Täufer anwies,<br />

we<strong>de</strong>r Wein noch starkes Getränk zu trinken. Er war es auch, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Frau von Manoah ein<br />

91


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

ähnliches Gebot gab, enthaltsam zu sein. Und er sprach einen Fluch über <strong>de</strong>n Menschen aus, <strong>de</strong>r<br />

seinem Nächsten die Flasche an die Lippen hebt. Christus wi<strong>de</strong>rsprach seiner eigenen Lehre<br />

nicht. Der unvergorene Wein, <strong>de</strong>n er für die Hochzeitsgäste beschaffte, war ein gesun<strong>de</strong>s und<br />

erfrischen<strong>de</strong>s Getränk. Es wirkte so, daß <strong>de</strong>r Geschmackssinn mit einem <strong>de</strong>r Gesundheit<br />

zuträglichen Appetit in Übereinstimmung gebracht wur<strong>de</strong>.<br />

Als die Gäste auf <strong>de</strong>m Fest von <strong>de</strong>r Güte <strong>de</strong>s Weines sprachen, wur<strong>de</strong>n Nachforschungen<br />

angestellt, die schließlich <strong>de</strong>n <strong>Die</strong>nern entlockten, welches Wun<strong>de</strong>r hier geschehen war. Eine<br />

Zeitlang war die Hochzeitsgesellschaft viel zu überrascht, als daß sie an <strong>de</strong>n gedacht hätte, <strong>de</strong>r<br />

das wun<strong>de</strong>rbare Werk vollbracht hatte. Als die Leute ihn schließlich suchten, stellte es sich<br />

heraus, daß er sich so still zurückgezogen hatte, daß es selbst von seinen Jüngern unbemerkt<br />

geblieben war. <strong>Die</strong> Aufmerksamkeit <strong>de</strong>r Gesellschaft richtete sich nun auf die Jünger. Zum<br />

ersten Mal hatten sie Gelegenheit, ihren Glauben an Jesus zu bekennen. Sie berichteten, was sie<br />

am Jordan gesehen und gehört hatten, und in vielen Herzen wur<strong>de</strong> die Hoffnung wach, daß Gott<br />

seinem Volk einen Befreier habe erstehen lassen. <strong>Die</strong> Nachricht von <strong>de</strong>m Wun<strong>de</strong>r breitete sich<br />

durch jene ganze Gegend aus und wur<strong>de</strong> auch nach Jerusalem getragen. Mit neuem Interesse<br />

erforschten die Priester und Ältesten die Prophezeiungen, die auf <strong>Christi</strong> Kommen hinwiesen.<br />

Man war sehr darauf bedacht, Näheres über die Sendung dieses neuen Lehrers zu erfahren, <strong>de</strong>r<br />

unter <strong>de</strong>m Volk auf eine so unauffällige Weise auftrat.<br />

Der <strong>Die</strong>nst <strong>Christi</strong> unterschied sich sehr stark von <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r jüdischen Ältesten. Ihr Respekt<br />

vor <strong>de</strong>r Tradition und <strong>de</strong>m äußerlichen Formenwesen hatte die ganze Freiheit, zu <strong>de</strong>nken und zu<br />

han<strong>de</strong>ln, zerstört. Sie lebten in ständiger Angst, sich zu verunreinigen. Um die Berührung mit<br />

<strong>de</strong>m „Unreinen“ zu vermei<strong>de</strong>n, hielten sie sich nicht nur von <strong>de</strong>n Hei<strong>de</strong>n fern, son<strong>de</strong>rn auch von<br />

<strong>de</strong>n meisten Angehörigen ihres eigenen Volkes. Sie versuchten nicht, ihnen zum Segen zu sein<br />

o<strong>de</strong>r sie als Freun<strong>de</strong> zu gewinnen. In<strong>de</strong>m sie sich ständig mit diesen Dingen befaßten, ließen sie<br />

ihren Geist verkümmern und engten ihren Lebensbereich ein. Ihr Beispiel ermutigte Menschen<br />

aller Schichten zur Selbstsucht und zur Unduldsamkeit.<br />

Jesus begann das Werk <strong>de</strong>r Erneuerung, in<strong>de</strong>m er <strong>de</strong>r Menschheit nahekam. Während er <strong>de</strong>m<br />

Gesetz Gottes größte Ehrfurcht erwies, ta<strong>de</strong>lte er die angeberische Frömmigkeit <strong>de</strong>r Pharisäer<br />

und suchte das Volk von <strong>de</strong>n sinnlosen Vorschriften, die auf ihm lasteten, frei zu machen. Er<br />

suchte die Schranken nie<strong>de</strong>rzureißen, die die verschie<strong>de</strong>nen Klassen <strong>de</strong>r Gesellschaft<br />

voneinan<strong>de</strong>r trennten, um alle Menschen als Kin<strong>de</strong>r einer einzigen Familie<br />

zusammenzubringen. Seine Anwesenheit auf <strong>de</strong>m Hochzeitsfest sollte ein Schritt in diese<br />

Richtung sein. Gott hatte Johannes <strong>de</strong>n Täufer angewiesen, in <strong>de</strong>r Wüste zu leben, damit er vor<br />

<strong>de</strong>m Einfluß <strong>de</strong>r Priester und Rabbiner bewahrt und auf seine beson<strong>de</strong>re Aufgabe vorbereitet<br />

wür<strong>de</strong>. Aber die strenge Einfachheit und die Abgeschie<strong>de</strong>nheit seines Lebens waren nicht als<br />

Beispiel für das Volk gedacht. Johannes hatte seine Zuhörer nicht aufgefor<strong>de</strong>rt, ihre bisherige<br />

Tätigkeit aufzugeben. Er verlangte von ihnen Beweise ihrer Sinnesän<strong>de</strong>rung auf <strong>de</strong>m Platz, auf<br />

<strong>de</strong>n Gott sie gerufen hatte.<br />

Jesus ta<strong>de</strong>lte die Genußsucht in allen ihren Formen; <strong>de</strong>nnoch hatte er ein umgängliches,<br />

geselliges Wesen. Er nahm die Gastfreundschaft aller Volksschichten an und war in <strong>de</strong>n<br />

92


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Häusern <strong>de</strong>r Armen ebenso zu Gast wie in <strong>de</strong>n Palästen <strong>de</strong>r Reichen. Er verkehrte mit Gelehrten<br />

und Ungebil<strong>de</strong>ten und versuchte ihre Gedanken von alltäglichen Dingen auf Fragen <strong>de</strong>s<br />

geistlichen und <strong>de</strong>s ewigen Lebens zu lenken. Ausschweifen<strong>de</strong>s Leben verurteilte er, und kein<br />

Schatten von weltlichem Leichtsinn verdunkelte sein Verhalten. Er fand Gefallen an harmlosem<br />

Vergnügen; er billigte durch seine Gegenwart auch geselliges Beisammensein. Eine jüdische<br />

Hochzeit bot dazu eine eindrucksvolle Gelegenheit, und die Fröhlichkeit <strong>de</strong>s Festes machte<br />

auch <strong>de</strong>m Herrn Freu<strong>de</strong>. Durch seine Teilnahme an <strong>de</strong>r Hochzeit ehrte Jesus die Ehe als eine<br />

göttliche Einrichtung.<br />

Sowohl im Alten als auch im Neuen Testament wird das Ehebündnis benutzt, um die<br />

liebevolle und heilige Verbindung zwischen Christus und seiner Gemein<strong>de</strong> darzustellen. Jesu<br />

Gedanken wur<strong>de</strong>n durch die frohe Hochzeitsfeier vorwärts gerichtet auf die Freu<strong>de</strong> jenes Tages,<br />

an <strong>de</strong>m er seine Braut heimführen wird in seines Vaters Haus und an <strong>de</strong>m die Erlösten sich mit<br />

ihrem Erlöser zum Hochzeitsmahl <strong>de</strong>s Lammes vereinigen wer<strong>de</strong>n. Er sagt: „Wie sich ein<br />

Bräutigam freut über die Braut, so wird sich <strong>de</strong>in Gott über dich freuen.“ — „Man soll dich<br />

nicht mehr nennen ‚Verlassene‘ ..., son<strong>de</strong>rn du sollst heißen ‚Meine Lust‘...; <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Herr hat<br />

Lust an dir.“ — „Er wird sich über dich freuen und dir freundlich sein, er wird dir vergeben in<br />

seiner Liebe und wird über dich mit Jauchzen fröhlich sein.“ Jesaja 62,5.4; Zephanja 3,17. Als<br />

<strong>de</strong>m Apostel Johannes ein Einblick in das Geschehen im Himmel gewährt wur<strong>de</strong>, schrieb er:<br />

„Und ich hörte, und es war wie eine Stimme einer großen Schar und wie eine Stimme großer<br />

Wasser und wie eine Stimme starker Donner, die sprachen: Halleluja! <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Herr, unser<br />

Gott, <strong>de</strong>r Allmächtige, hat das Reich eingenommen! Lasset uns freuen und fröhlich sein und<br />

ihm die Ehre geben, <strong>de</strong>nn die Hochzeit <strong>de</strong>s Lammes ist gekommen, und seine Braut hat sich<br />

bereitet!“ — „Selig sind, die zum Abendmahl <strong>de</strong>s Lammes berufen sind.“ Offenbarung<br />

19,6.7.9.<br />

Jesus sah in je<strong>de</strong>r Seele einen Menschen, <strong>de</strong>r aufgefor<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n soll, seinem Reich<br />

anzugehören. Er erreichte die Herzen <strong>de</strong>r Menschen, in<strong>de</strong>m er sich als einer unter sie mischte,<br />

<strong>de</strong>r um ihr Wohlergehen besorgt war. Er suchte sie auf <strong>de</strong>n Straßen, in ihren Heimen, auf <strong>de</strong>n<br />

Booten, in <strong>de</strong>r Synagoge, am Seeufer und auf <strong>de</strong>m Hochzeitsfest. Er traf sie bei ihrer täglichen<br />

Arbeit und interessierte sich für ihre weltlichen Geschäfte. Er trug seine Lehre in die<br />

Wohnungen und brachte die Familien in ihren eigenen Heimen unter <strong>de</strong>n Einfluß seiner<br />

göttlichen Gegenwart. Seine starke persönliche Anteilnahme half ihm, Herzen zu gewinnen. Er<br />

zog sich oft zum stillen Gebet ins Gebirge zurück, doch dies war eine Vorbereitung für sein<br />

Wirken unter Menschen, die im tätigen Leben stan<strong>de</strong>n. Von diesen Zeiten <strong>de</strong>s Gebets kehrte er<br />

zurück, um <strong>de</strong>n Kranken Lin<strong>de</strong>rung zu bringen, die Unwissen<strong>de</strong>n zu unterweisen und die Ketten<br />

<strong>de</strong>r von Satan Gefangenen zu sprengen.<br />

Jesus lehrte seine Jünger durch persönliche Verbindung und durch <strong>de</strong>n Umgang mit ihm.<br />

Manchmal lehrte er sie, in<strong>de</strong>m er am Berghang mitten unter ihnen saß; manchmal offenbarte er<br />

ihnen die Geheimnisse <strong>de</strong>s Reiches Gottes am Seeufer o<strong>de</strong>r während er mit ihnen <strong>de</strong>s<br />

Weges zog. Er hielt ihnen keine langen Moralpredigten, wie es die Menschen heute tun. Wo<br />

immer Herzen geöffnet waren, um die göttliche Botschaft aufzunehmen, legte er die<br />

93


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Wahrheiten <strong>de</strong>s Heils dar. Er verlangte von seinen Jüngern nicht, dies o<strong>de</strong>r jenes zu tun,<br />

son<strong>de</strong>rn sagte nur: „Folge mir nach.“ Auf seinen Reisen durch Land und Städte nahm er sie mit<br />

sich, damit sie sehen könnten, wie er das Volk lehrte. Er verband ihre Interessen mit <strong>de</strong>n seinen,<br />

und sie schlossen sich ihm bei seiner Tätigkeit an.<br />

Das Beispiel <strong>Christi</strong>, die Angelegenheiten <strong>de</strong>r Menschen zu seinen eigenen zu machen, sollte<br />

von allen, die sein Wort predigen, und von allen, die das Evangelium seiner Gna<strong>de</strong><br />

angenommen haben, befolgt wer<strong>de</strong>n. Wir dürfen uns einem geselligen Verkehr nicht entziehen<br />

und uns nicht von an<strong>de</strong>ren abschließen. Um alle Menschenklassen zu erreichen, müssen wir<br />

ihnen dort begegnen, wo sie sich befin<strong>de</strong>n. Sie wer<strong>de</strong>n uns selten aus eigenem Antrieb<br />

aufsuchen. Nicht allein von <strong>de</strong>r Kanzel aus wer<strong>de</strong>n Menschenherzen von <strong>de</strong>r göttlichen<br />

Wahrheit berührt; es gibt noch ein an<strong>de</strong>res Arbeitsfeld, das wohl geringer, aber ebenso<br />

vielversprechend ist. Man fin<strong>de</strong>t es im Heim <strong>de</strong>r Niedrigen wie im Palast <strong>de</strong>r Reichen, an <strong>de</strong>r<br />

gastfreien Tafel und auch beim harmlosen geselligen Zusammensein.<br />

Nicht aus Liebe zum Vergnügen dürfen wir als <strong>Christi</strong> Jünger <strong>de</strong>n Verkehr mit <strong>de</strong>r Welt<br />

pflegen; wir sollen uns nicht mit weltlichen Torheiten befreun<strong>de</strong>n; <strong>de</strong>nn solche Gesellschaft<br />

wird uns scha<strong>de</strong>n. Auch soll <strong>de</strong>r Christ niemals Unrecht durch Worte o<strong>de</strong>r Taten, durch<br />

Stillschweigen o<strong>de</strong>r durch seine Gegenwart gutheißen. Wohin wir auch gehen, müssen wir<br />

Jesus mit uns nehmen und <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren verkündigen, wie wert uns unser Heiland gewor<strong>de</strong>n ist.<br />

Wer aber danach trachtet, seinen Glauben zu verheimlichen, läßt viele wertvolle Gelegenheiten,<br />

Gutes zu tun, ungenützt vorübergehen. Durch Geselligkeit und Gastfreundschaft kommt die<br />

ganze Welt mit <strong>de</strong>r Evangeliumsbotschaft in Berührung, und je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>m göttlichen<br />

Licht berührt wur<strong>de</strong>, muß <strong>de</strong>n Pfad jener zu erhellen suchen, die nichts von <strong>de</strong>m Licht <strong>de</strong>s<br />

Lebens wissen.<br />

Wir alle sollten Zeugen für Jesus wer<strong>de</strong>n. Unser Einfluß muß, durch die Gna<strong>de</strong> <strong>Christi</strong><br />

geheiligt, verstärkt wer<strong>de</strong>n, um Seelen für <strong>de</strong>n Heiland zu gewinnen. <strong>Die</strong> Welt soll sehen, daß<br />

wir nicht selbstsüchtig nur in unseren eigenen Belangen aufgehen, son<strong>de</strong>rn wünschen, daß auch<br />

an<strong>de</strong>re die gleichen Segnungen und Vorrechte genießen wie wir. Sie sollen sehen, daß unsere<br />

Religion uns nicht unfreundlich o<strong>de</strong>r streng macht. Mögen alle, die bekennen, Christus<br />

gefun<strong>de</strong>n zu haben, wie er <strong>de</strong>m Wohl <strong>de</strong>r Menschen dienen. Wir sollten <strong>de</strong>r Welt nie <strong>de</strong>n<br />

falschen Eindruck vermitteln, daß Christen verdrießliche, unglückliche Menschen sind. Wenn<br />

wir unsere Augen auf Jesus richten, wer<strong>de</strong>n wir einen mitleidsvollen Erlöser sehen und Licht<br />

von seinem Angesicht wird auf uns fallen. Wo immer sein Geist regiert, ist Frie<strong>de</strong>. Und auch<br />

Freu<strong>de</strong> wird sein, <strong>de</strong>nn es herrscht ein ruhiges, heiliges Vertrauen auf Gott. Christus freut sich<br />

über seine „Nachfolger“, wenn sie zeigen, daß sie auch als Menschen Teilhaber <strong>de</strong>r göttlichen<br />

Natur sind. Sie sind nicht Statuen, son<strong>de</strong>rn lebendige Männer und Frauen. Ihre durch <strong>de</strong>n Tau<br />

<strong>de</strong>r göttlichen Gna<strong>de</strong> erfrischten Herzen öffnen und weiten sich für die Sonne <strong>de</strong>r Gerechtigkeit.<br />

Das Licht, das auf sie scheint, lassen sie durch Taten, die von <strong>de</strong>r Liebe <strong>Christi</strong> erfüllt sind, auf<br />

an<strong>de</strong>re zurückstrahlen.<br />

94


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 16: In seinem Tempel<br />

„Danach zog er hinab nach Kapernaum, er, seine Mutter, seine Brü<strong>de</strong>r und seine Jünger, und<br />

blieben nicht lange daselbst. Und <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n Ostern war nahe, und Jesus zog hinauf nach<br />

Jerusalem.“ Johannes 2,12.13. Auf dieser Reise schloß sich Jesus einer <strong>de</strong>r großen Gruppen an,<br />

die sich auf <strong>de</strong>m Wege nach <strong>de</strong>r Hauptstadt befan<strong>de</strong>n. Er hatte von seiner Aufgabe noch nicht<br />

öffentlich gesprochen, so daß er sich unbeachtet unter die Menge mischen konnte. Dabei war<br />

das Kommen <strong>de</strong>s Messias, auf das die Predigt <strong>de</strong>s Täufers in beson<strong>de</strong>rer Weise die<br />

Aufmerksamkeit gelenkt hatte, oft Thema <strong>de</strong>r Unterhaltung. Mit großer Begeisterung sprach<br />

man von <strong>de</strong>r Hoffnung auf die kommen<strong>de</strong> nationale Größe. Jesus wußte, daß diese Hoffnung<br />

trügerisch war, <strong>de</strong>nn sie beruhte auf einer falschen Auslegung <strong>de</strong>r Schrift. Mit tiefem Ernst<br />

erklärte er die Weissagungen und versuchte die Menschen zu einem gründlicheren Erforschen<br />

<strong>de</strong>s Wortes Gottes anzuregen.<br />

<strong>Die</strong> Lehrer <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n hatten das Volk unterwiesen, daß es in Jerusalem lernen wür<strong>de</strong>, wie<br />

man Gott anbetet. Dort versammelten sich während <strong>de</strong>r Passahwoche große Scharen aus allen<br />

Teilen <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s und sogar aus entfernten Gegen<strong>de</strong>n, so daß eine bunte Volksmenge die<br />

Tempelhöfe füllte. Viele konnten das Opfer, das als Sinnbild <strong>de</strong>s einen großen Opfers<br />

dargebracht wer<strong>de</strong>n sollte, nicht mitbringen. Um <strong>de</strong>ren Bequemlichkeit entgegenzukommen,<br />

wur<strong>de</strong>n auch Opfertiere in <strong>de</strong>m äußeren Vorhof <strong>de</strong>s Tempels gekauft und verkauft. Hier kamen<br />

alle Klassen von Menschen zusammen, um ihre Opfergaben zu kaufen und alles frem<strong>de</strong> Geld in<br />

die Münze <strong>de</strong>s Heiligtums umzuwechseln.<br />

Je<strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong> mußte jährlich einen halben Silberling für „die Versöhnung seiner Seele“ zahlen,<br />

und <strong>de</strong>r auf diese Weise gesammelte Betrag diente zum Unterhalt <strong>de</strong>s Tempels. Außer<strong>de</strong>m<br />

wur<strong>de</strong>n große Summen als freiwillige Spen<strong>de</strong> aufgebracht, die in die Schatzkammer <strong>de</strong>s<br />

Tempels flossen. Es wur<strong>de</strong> erwartet, daß alles frem<strong>de</strong> Geld eingewechselt wür<strong>de</strong> in die Münze,<br />

die man Sekel <strong>de</strong>s Heiligtums nannte und für <strong>de</strong>n <strong>Die</strong>nst im Tempel annahm. <strong>Die</strong>ser<br />

Geldwechsel bot Gelegenheit zu Betrug und Wucher und war zu einem entehren<strong>de</strong>n Gewerbe<br />

gewor<strong>de</strong>n, das aber eine gute Einnahmequelle für die Priester bil<strong>de</strong>te. <strong>Die</strong> Händler verlangten<br />

ungewöhnlich hohe Preise für die Opfertiere und teilten ihren Gewinn mit <strong>de</strong>n Priestern und<br />

Obersten, die sich dadurch auf Kosten <strong>de</strong>s Volkes bereicherten. <strong>Die</strong> Anbeten<strong>de</strong>n waren gelehrt<br />

wor<strong>de</strong>n zu glauben, daß <strong>de</strong>r Segen Gottes nicht auf ihren Kin<strong>de</strong>rn und auf ihrem Acker ruhte,<br />

wenn sie keine Opfer brächten. Auf diese Weise konnte ein hoher Preis für die Opfertiere<br />

gefor<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n; <strong>de</strong>nn wer einen weiten Weg zurückgelegt hatte, wollte nicht in die Heimat<br />

zurückkehren, ohne <strong>de</strong>n Opferdienst erfüllt zu haben, zu <strong>de</strong>m er herbeigeeilt war.<br />

Zur Zeit <strong>de</strong>s Passahfestes wur<strong>de</strong>n viele Opfer dargebracht, und <strong>de</strong>r Verkauf im Vorhof war<br />

äußerst rege. <strong>Die</strong> dadurch entstehen<strong>de</strong> Unruhe ließ eher auf einen lärmen<strong>de</strong>n Viehmarkt als auf<br />

<strong>de</strong>n heiligen Tempel Gottes schließen. Man hörte erregtes Feilschen, das Brüllen <strong>de</strong>s Rindviehs,<br />

das Blöken <strong>de</strong>r Schafe und das Girren <strong>de</strong>r Tauben, vermischt mit <strong>de</strong>m Geräusch klingen<strong>de</strong>r<br />

Münzen und <strong>de</strong>m Lärm zorniger Wortgefechte. <strong>Die</strong> Unruhe war so groß, daß es die<br />

Andächtigen störte, und ihre Gebete wur<strong>de</strong>n übertönt von <strong>de</strong>m Tumult, <strong>de</strong>r bis in <strong>de</strong>n Tempel<br />

95


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

drang. <strong>Die</strong> Ju<strong>de</strong>n waren außeror<strong>de</strong>ntlich stolz auf ihre Frömmigkeit. Sie bewun<strong>de</strong>rten ihren<br />

Tempel und empfan<strong>de</strong>n je<strong>de</strong>s Wort, das gegen ihn gesprochen wur<strong>de</strong>, als Lästerung. Sie hielten<br />

auch sehr streng auf die Beachtung <strong>de</strong>r mit ihm verbun<strong>de</strong>nen gottesdienstlichen Handlungen;<br />

aber ihre Liebe zum Geld hatte alle Be<strong>de</strong>nken überwun<strong>de</strong>n. Sie waren sich kaum bewußt, wie<br />

weit sie von <strong>de</strong>r ursprünglichen Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s <strong>Die</strong>nstes abgewichen waren, <strong>de</strong>n Gott selbst<br />

eingesetzt hatte.<br />

Als <strong>de</strong>r Herr sich einst auf <strong>de</strong>n Berg Sinai herabließ, wur<strong>de</strong> dieser Ort durch seine Gegenwart<br />

geheiligt. Mose erhielt <strong>de</strong>n Auftrag, <strong>de</strong>n Berg einzuzäunen und ihn zu heiligen. Gott erhob<br />

warnend seine Stimme und sagte: „Hütet euch, auf <strong>de</strong>n Berg zu steigen o<strong>de</strong>r seinen Fuß<br />

anzurühren; <strong>de</strong>nn wer <strong>de</strong>n Berg anrührt, <strong>de</strong>r soll <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s sterben. Keine Hand soll ihn<br />

anrühren, son<strong>de</strong>rn er soll gesteinigt o<strong>de</strong>r erschossen wer<strong>de</strong>n; es sei Tier o<strong>de</strong>r Mensch, sie sollen<br />

nicht leben bleiben.“ 2.Mose 19,12.13. So wur<strong>de</strong> gelehrt, daß je<strong>de</strong>r Ort, an <strong>de</strong>m Gott seine<br />

Gegenwart offenbart, ein heiliger Ort ist. <strong>Die</strong> Vorhöfe <strong>de</strong>s Tempels hätten allen heilig sein<br />

müssen; aber Geldgier machte alle Be<strong>de</strong>nken zunichte.<br />

<strong>Die</strong> Priester und Obersten waren berufen, für das Volk Stellvertreter Gottes zu sein; sie<br />

hätten <strong>de</strong>n Mißbrauch <strong>de</strong>s Tempelhofes nicht erlauben dürfen. Sie hätten vielmehr <strong>de</strong>m Volk<br />

ein Beispiel <strong>de</strong>r Rechtschaffenheit und <strong>de</strong>r Barmherzigkeit geben sollen. Statt ihren eigenen<br />

Vorteil im Auge zu haben, waren sie aufgerufen, die Lage und die Bedürfnisse <strong>de</strong>r Gläubigen<br />

zu be<strong>de</strong>nken und <strong>de</strong>nen beizustehen, die nicht imstan<strong>de</strong> waren, die erfor<strong>de</strong>rlichen Opfertiere zu<br />

kaufen. Nichts davon geschah; die Habsucht hatte ihre Herzen verhärtet. Zum Fest kamen<br />

Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>, Bedürftige und Bedrückte, Blin<strong>de</strong>, Lahme und Taube. Manche wur<strong>de</strong>n sogar auf<br />

Betten hingebracht. Es kamen viele, die zu arm waren, um auch nur die geringste Opfergabe für<br />

<strong>de</strong>n Herrn zu kaufen; zu arm selbst, sich Nahrung zu besorgen, um <strong>de</strong>n eigenen Hunger zu<br />

stillen. <strong>Die</strong>se wur<strong>de</strong>n durch die For<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Priester sehr bekümmert, die dabei auf ihre<br />

Frömmigkeit noch sehr stolz waren und behaupteten, die Belange <strong>de</strong>s Volkes wahrzunehmen.<br />

In Wirklichkeit aber kannten sie we<strong>de</strong>r Mitgefühl noch Erbarmen. <strong>Die</strong> Armen, die Kranken und<br />

die Betrübten baten vergeblich um irgen<strong>de</strong>ine Vergünstigung. Ihre Not erweckte kein Mitleid in<br />

<strong>de</strong>n Herzen <strong>de</strong>r Priester.<br />

Als Jesus <strong>de</strong>n Tempel betrat, überschaute er alles mit einem Blick. Er sah die unredlichen<br />

Geschäfte, sah das Elend <strong>de</strong>r Armen, die da glaubten, ohne Blutvergießen keine Vergebung <strong>de</strong>r<br />

Sün<strong>de</strong>n zu erlangen; er sah <strong>de</strong>n äußeren Vorhof seines Tempels in einen Ort ruchlosen<br />

Schacherns verwan<strong>de</strong>lt. <strong>Die</strong> heilige Stätte glich einem großen Markt. Christus erkannte, daß<br />

hier etwas geschehen mußte. Zahlreiche gottesdienstliche Formen waren <strong>de</strong>m Volk auferlegt,<br />

ohne daß es <strong>de</strong>ren genaue Be<strong>de</strong>utung kannte. <strong>Die</strong> Gläubigen brachten ihre Opfer, ohne zu<br />

wissen, daß diese ein Sinnbild <strong>de</strong>s einzigen vollkommenen Opfers waren. Nun stand er, auf <strong>de</strong>n<br />

<strong>de</strong>r ganze Gottesdienst hinwies, unerkannt und unbeachtet unter ihnen. Er hatte die<br />

Anordnungen bezüglich <strong>de</strong>r Opfer gegeben; er kannte ihren symbolhaften Charakter und<br />

sah nun, daß sie verfälscht und mißverstan<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> Anbetung im Geiste war nahezu<br />

geschwun<strong>de</strong>n. Es bestand keinerlei Verbindung zwischen <strong>de</strong>n Priestern und Obersten mit ihrem<br />

Gott. Es war <strong>Christi</strong> Aufgabe, eine gänzlich neue Form <strong>de</strong>s Gottesdienstes einzuführen.<br />

96


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Mit durchdringen<strong>de</strong>m Blick erfaßt er von <strong>de</strong>n Stufen <strong>de</strong>s Tempelhofes aus das Bild, das sich<br />

ihm bietet. Mit prophetischem Auge schaut er in die Zukunft und überblickt nicht nur Jahre,<br />

son<strong>de</strong>rn ganze Jahrhun<strong>de</strong>rte und Zeitalter. Er sieht, daß die Priester und Obersten <strong>de</strong>s Volkes<br />

das Recht <strong>de</strong>r Bedürftigen beugen und daß sie verbieten, das Evangelium <strong>de</strong>n Armen zu<br />

predigen; er sieht, wie die Liebe Gottes <strong>de</strong>n Sün<strong>de</strong>rn verborgen bleibt und wie die Menschen<br />

seine Gna<strong>de</strong> zum Han<strong>de</strong>lsgut stempeln. Jesu Blick drückt Empörung, Macht und Autorität aus,<br />

als er auf dieses Treiben schaut. <strong>Die</strong> Aufmerksamkeit <strong>de</strong>s Volkes richtet sich auf ihn. <strong>Die</strong><br />

Augen <strong>de</strong>rer, die sich mit <strong>de</strong>m unehrlichen Han<strong>de</strong>l befassen, blicken starr auf <strong>de</strong>n Herrn; sie<br />

können ihren Blick nicht abwen<strong>de</strong>n. Es wird ihnen bewußt, daß dieser Mann ihre geheimsten<br />

Gedanken liest und ihre verborgensten Absichten durchschaut. Einige versuchen, ihre Gesichter<br />

zu verbergen, als ob ihre bösen Taten darauf geschrieben stün<strong>de</strong>n.<br />

Da verebbt <strong>de</strong>r Lärm. <strong>Die</strong> Stimmen <strong>de</strong>r Händler und Käufer verstummen. Eine peinliche<br />

Stille tritt ein, die ein Gefühl <strong>de</strong>s Schreckens auslöst. Es ist, als ob alle vor <strong>de</strong>m Richterstuhl<br />

Gottes stehen, um von ihren Taten Rechenschaft abzulegen. Sie schauen auf Christus und sehen<br />

die Gottheit durch seine menschliche Gestalt hindurchleuchten. <strong>Die</strong> Majestät <strong>de</strong>s Himmels steht<br />

als Richter <strong>de</strong>s Jüngsten Tages vor ihnen, zwar nicht umgeben von <strong>de</strong>r Herrlichkeit, die sie dann<br />

begleiten wird, aber mit <strong>de</strong>r Macht, die das Innerste durchschaut. Jesu Auge blickt über die<br />

Menge, je<strong>de</strong>n einzelnen erfassend. Seine Gestalt scheint sich in gebieten<strong>de</strong>r Wür<strong>de</strong> über alle<br />

Anwesen<strong>de</strong>n zu erheben — und göttliches Licht verklärt sein Angesicht. Er spricht, und seine<br />

klare, klangvolle Stimme — dieselbe Stimme, die einst auf <strong>de</strong>m Sinai das Gesetz verkündigte,<br />

das die Priester und Obersten jetzt so freventlich übertreten — ertönt und hallt im Tempel<br />

wi<strong>de</strong>r: „Traget das von dannen und machet nicht meines Vaters Haus zum<br />

Kaufhause!“ Johannes 2,16<br />

Dann steigt er langsam die Stufen hinab, erhebt die Geißel aus Stricken, die er bei seinem<br />

Eintritt in <strong>de</strong>n Hof aufgenommen hat, und gebietet <strong>de</strong>n Händlern, <strong>de</strong>n Tempelbereich zu<br />

verlassen. Mit einem Eifer und einer Strenge, wie er sie niemals vor<strong>de</strong>m geübt hat, stößt er die<br />

Tische <strong>de</strong>r Geldwechsler um. <strong>Die</strong> Münzen fallen hell aufklingend auf <strong>de</strong>n marmornen Bo<strong>de</strong>n.<br />

Niemand wagt, Jesu Autorität in Frage zu stellen; niemand hat <strong>de</strong>n Mut, seinen Wuchergewinn<br />

vom Bo<strong>de</strong>n aufzulesen. Obwohl Jesus mit <strong>de</strong>r Geißel nicht zuschlägt, erscheint sie doch in<br />

seiner hoch erhobenen Hand wie ein flammen<strong>de</strong>s Schwert. Tempeldiener, schachern<strong>de</strong> Priester,<br />

Geldwechsler und Viehhändler mit ihren Schafen und Ochsen eilen davon, getrieben von <strong>de</strong>m<br />

einen Gedanken, <strong>de</strong>m verzehren<strong>de</strong>n Feuer <strong>de</strong>r Gegenwart Jesu so schnell wie möglich zu<br />

entfliehen.<br />

Furcht ergreift die Menge, die von <strong>de</strong>r Göttlichkeit Jesu berührt wird. Hun<strong>de</strong>rte bleicher<br />

Lippen stoßen Schreckensrufe aus, selbst die Jünger zittern. Jesu Worte und sein Auftreten<br />

entsetzen sie um so mehr, da es nicht nur ungewöhnlich, son<strong>de</strong>rn auch ungewohnt ist. Sie<br />

erinnern sich, daß von ihm geschrieben steht: „Der Eifer um <strong>de</strong>in Haus hat mich<br />

gefressen.“ Johannes 2,17. Bald ist die lärmen<strong>de</strong> Menge mit ihren Waren aus <strong>de</strong>r Nähe <strong>de</strong>s<br />

Tempels verschwun<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> Höfe sind frei von unheiligem Han<strong>de</strong>l, und eine tiefe, feierliche<br />

97


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Stille legt sich über die Stätte <strong>de</strong>r Verwirrung. <strong>Die</strong> Gegenwart <strong>de</strong>s Herrn, die vor alters <strong>de</strong>n Berg<br />

heiligte, hat jetzt <strong>de</strong>n zu seiner Ehre erbauten Tempel geheiligt.<br />

In <strong>de</strong>r Reinigung <strong>de</strong>s Tempels kündigte <strong>de</strong>r Herr seine Aufgabe als Messias an und begann<br />

damit sein Werk auf Er<strong>de</strong>n. Jener Tempel, errichtet als Wohnstätte Gottes, sollte für Israel und<br />

für die Welt die Wahrheiten Gottes veranschaulichen. Von Ewigkeit her war es die Absicht <strong>de</strong>s<br />

Schöpfers, daß je<strong>de</strong>s geschaffene Wesen — vom glänzen<strong>de</strong>n Seraph bis zum Menschen — ein<br />

Tempel Gottes sein sollte. Infolge <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> verlor <strong>de</strong>r Mensch dazu die Bereitschaft. Durch<br />

das Böse ver<strong>de</strong>rbt und verfinstert, vermochte das Herz nicht mehr die Herrlichkeit <strong>de</strong>s<br />

Schöpfers zu offenbaren. Durch die Menschwerdung <strong>de</strong>s Sohnes Gottes jedoch ist die Absicht<br />

<strong>de</strong>s Himmels erfüllt. Gott wohnt im Menschen, und durch seine erretten<strong>de</strong> Gna<strong>de</strong> wird das Herz<br />

<strong>de</strong>s Menschen wie<strong>de</strong>r zu einem Tempel <strong>de</strong>s Herrn. Es war Gottes Wille, daß <strong>de</strong>r Tempel in<br />

Jerusalem ein beständiger Zeuge sein sollte von <strong>de</strong>r hohen Bestimmung, zu <strong>de</strong>r je<strong>de</strong> Seele<br />

berufen war. Aber die Ju<strong>de</strong>n hatten die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Hauses Gottes, das sie mit großem Stolz<br />

betrachteten, nicht erfassen können. Sie bereiteten sich selbst nicht zu einem heiligen Tempel<br />

für <strong>de</strong>n Geist Gottes.<br />

<strong>Die</strong> Höfe <strong>de</strong>s Tempels zu Jerusalem, erfüllt von <strong>de</strong>m Lärm unheiligen Schacherns,<br />

versinnbil<strong>de</strong>ten nur zu getreu <strong>de</strong>n Tempel ihres Herzens, <strong>de</strong>r durch Begier<strong>de</strong>n und ver<strong>de</strong>rbte<br />

Gedanken verunreinigt war. Durch die Säuberung <strong>de</strong>s Tempels von weltlichen Käufern und<br />

Verkäufern offenbarte er seine Aufgabe, das menschliche Herz von <strong>de</strong>r Verunreinigung durch<br />

die Sün<strong>de</strong> — von <strong>de</strong>n irdischen Wünschen, <strong>de</strong>n eigennützigen Lüsten, <strong>de</strong>n schlechten<br />

Gewohnheiten, die die Seele ver<strong>de</strong>rben — zu reinigen. „Bald wird kommen zu seinem Tempel<br />

<strong>de</strong>r Herr, <strong>de</strong>n ihr sucht; und <strong>de</strong>r Engel <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>n ihr begehrt, siehe, er kommt! spricht <strong>de</strong>r<br />

Herr Zebaoth. Wer wird aber <strong>de</strong>n Weg seines Kommens ertragen können, und wer wird<br />

bestehen, wenn er erscheint? Denn er ist wie das Feuer eines Schmelzers und wie die Lauge <strong>de</strong>r<br />

Wäscher. Er wird sitzen und schmelzen und das Silber reinigen, er wird die Söhne Levi reinigen<br />

und läutern wie Gold und Silber.“ Maleachi 3,1-3.<br />

„Wisset ihr nicht, daß ihr Gottes Tempel seid und <strong>de</strong>r Geist Gottes in euch wohnt? Wenn<br />

jemand <strong>de</strong>n Tempel Gottes verdirbt, <strong>de</strong>n wird Gott ver<strong>de</strong>rben, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Tempel Gottes ist<br />

heilig; <strong>de</strong>r seid ihr.“ 1.Korinther 3,16.17. Kein Mensch kann aus eigener Kraft das Böse<br />

ausstoßen, das sich in seinem Herzen eingenistet hat; nur Christus vermag <strong>de</strong>n Tempel <strong>de</strong>r Seele<br />

zu reinigen. Aber er erzwingt sich nicht <strong>de</strong>n Eingang. Er dringt nicht in das Herz ein wie einst<br />

in <strong>de</strong>n Tempel, son<strong>de</strong>rn er sagt: „Ich stehe vor <strong>de</strong>r Tür und klopfe an. So jemand meine Stimme<br />

hören wird und die Tür auftun, zu <strong>de</strong>m wer<strong>de</strong> ich eingehen.“ Offenbarung 3,20. Er will nicht<br />

nur für einen Tag kommen; <strong>de</strong>nn er sagt: „Ich will unter euch wohnen und wan<strong>de</strong>ln ..., und sie<br />

sollen mein Volk sein.“ 2.Korinther 6,16. Er wird „unsere Schuld unter die Füße treten und alle<br />

unsere Sün<strong>de</strong>n in die Tiefen <strong>de</strong>s Meeres werfen“. Micha 7,19. Seine Gegenwart wird die Seele<br />

reinigen und heiligen, damit sie ein heiliger Tempel und eine „Behausung Gottes im Geist“<br />

(Epheser 2,22) sein möge.<br />

<strong>Die</strong> Priester und Obersten waren schreckerfüllt vor <strong>de</strong>m durchdringen<strong>de</strong>n Blick Jesu, <strong>de</strong>r in<br />

ihren Herzen las, aus <strong>de</strong>m Tempelhof geflohen. Auf ihrer Flucht begegneten sie an<strong>de</strong>ren, <strong>de</strong>nen<br />

98


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

sie zur Umkehr rieten und <strong>de</strong>nen sie berichteten, was sie gehört und gesehen hatten. Christus<br />

schaute <strong>de</strong>n Davoneilen<strong>de</strong>n nach. Sie jammerten ihn in ihrer Furcht und in ihrer Unkenntnis <strong>de</strong>s<br />

wahren Gottesdienstes. Er sah in diesem Geschehen die Zerstreuung <strong>de</strong>s ganzen jüdischen<br />

Volkes durch <strong>de</strong>ssen eigene Bosheit und Unbußfertigkeit versinnbil<strong>de</strong>t. Christus sprach mit <strong>de</strong>r<br />

Autorität eines Königs, und in seinem Auftreten und in <strong>de</strong>m Klang seiner Stimme lag etwas,<br />

<strong>de</strong>m sie nicht wi<strong>de</strong>rstehen konnten. Jesu gebieten<strong>de</strong> Worte offenbarten ihnen ihren wirklichen<br />

Zustand als Heuchler und <strong>Die</strong>be. Als göttliches Wesen durch die Menschheit <strong>Christi</strong><br />

hindurchleuchtete, sahen sie nicht nur Entrüstung auf seinem Angesicht, sie begriffen auch die<br />

Be<strong>de</strong>utung seiner Worte. Sie hatten das Empfin<strong>de</strong>n, vor <strong>de</strong>m Thron <strong>de</strong>s ewigen Richters zu<br />

stehen und ihr Urteil für Zeit und Ewigkeit zu hören. Eine Zeitlang waren sie überzeugt, daß<br />

Christus ein Prophet sei. Viele hielten ihn sogar für <strong>de</strong>n Messias. Der Heilige Geist erinnerte sie<br />

an die Aussprüche <strong>de</strong>r Propheten über Christus. Wür<strong>de</strong>n sie sich zu dieser Überzeugung<br />

bekennen?<br />

Sie wollten nicht Buße tun. Sie kannten <strong>Christi</strong> Mitleid mit <strong>de</strong>n Armen; sie wußten, daß sie<br />

sich durch ihr Verhalten <strong>de</strong>m Volk gegenüber <strong>de</strong>r Erpressung schuldig gemacht hatten, und weil<br />

Christus ihre Gedanken erkannte, haßten sie ihn. Sein öffentlicher Ta<strong>de</strong>l <strong>de</strong>mütigte ihren Stolz,<br />

und seinem wachsen<strong>de</strong>n Einfluß auf das Volk begegneten sie mit eifersüchtigen Empfindungen.<br />

Sie beschlossen <strong>de</strong>shalb, ihn zur Re<strong>de</strong> zu stellen hinsichtlich <strong>de</strong>r Macht, in <strong>de</strong>ren Namen er sie<br />

hinausgetrieben hatte, und ihn zu fragen, wer ihm diese Macht gegeben habe.<br />

Langsam und nach<strong>de</strong>nklich, aber mit Haß im Herzen, kehrten sie zum Tempel zurück. Aber<br />

welch eine Verän<strong>de</strong>rung war in <strong>de</strong>r Zwischenzeit vor sich gegangen! Als sie die Flucht ergriffen<br />

hatten, waren die Armen zurückgeblieben. Sie blickten jetzt Jesus an, <strong>de</strong>ssen Angesicht Liebe<br />

und Mitgefühl ausdrückte. Mit Tränen in <strong>de</strong>n Augen sagte er zu <strong>de</strong>n Zittern<strong>de</strong>n, die ihn<br />

umstan<strong>de</strong>n: Fürchtet euch nicht! Ich will euch erlösen, und ihr sollt mich preisen; <strong>de</strong>nn dazu bin<br />

ich in die Welt gekommen. Sie drängten sich immer näher an <strong>de</strong>n Heiland und baten: Meister,<br />

segne uns! Und Jesus vernahm je<strong>de</strong> Bitte. Mit <strong>de</strong>m Erbarmen einer liebevollen Mutter beugte er<br />

sich über die lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Kleinen. Allen schenkte er Aufmerksamkeit. Welche Krankheit ein<br />

Armer auch haben mochte, je<strong>de</strong>r wur<strong>de</strong> geheilt. <strong>Die</strong> Stummen öffneten ihren Mund zum Lobe,<br />

die Blin<strong>de</strong>n sahen das Angesicht ihres Erlösers, und die Herzen <strong>de</strong>r Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>n froh.<br />

Welch eine Offenbarung wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Priestern und Beamten <strong>de</strong>s Tempels durch die Stimmen<br />

zuteil, die an ihr Ohr drangen und ihnen Wun<strong>de</strong>rbares verkündigten! <strong>Die</strong> Versammelten<br />

erzählten von <strong>de</strong>n Schmerzen, die sie erlitten hatten, von enttäuschten Hoffnungen, von<br />

kummervollen Tagen und schlaflosen Nächten. Ehe aber <strong>de</strong>r letzte Hoffnungsfunke <strong>de</strong>r<br />

Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n zu verlöschen drohte, hatte <strong>de</strong>r Heiland sie geheilt. <strong>Die</strong> Last war so schwer, sagte<br />

einer, und doch habe ich einen Helfer gefun<strong>de</strong>n. Er ist <strong>de</strong>r Christus Gottes, und ich will mein<br />

Leben seinem <strong>Die</strong>nste weihen. Eltern sagten zu ihren Kin<strong>de</strong>rn: Er hat euer Leben gerettet;<br />

erhebt eure Stimmen und preist ihn. <strong>Die</strong> Stimmen <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r und Jugendlichen, <strong>de</strong>r Väter und<br />

Mütter, <strong>de</strong>r Freun<strong>de</strong> und Zuschauer vereinigten sich in Lob- und Dankeslie<strong>de</strong>rn; Hoffnung und<br />

Freu<strong>de</strong> erfüllte die Herzen, und Frie<strong>de</strong> zog in ihre Gemüter ein. Geheilt an Leib und Seele,<br />

kehrten sie heim und verkündigten die unvergleichliche Liebe <strong>Christi</strong>.<br />

99


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Bei <strong>de</strong>r Kreuzigung Jesu schlossen sich jene Menschen, die selbst geheilt wor<strong>de</strong>n waren,<br />

nicht <strong>de</strong>r pöbeln<strong>de</strong>n Menge an, die fortgesetzt schrie: „Kreuzige ihn! Kreuzige ihn!“ Ihre<br />

Anteilnahme galt Jesus, weil sie selbst seine große Barmherzigkeit und wun<strong>de</strong>rbare Macht<br />

erfahren hatten. Sie waren sich bewußt, daß er ihr Heiland war, hatte er sie doch an Leib und<br />

Seele gesund gemacht. Einige Tage später lauschten sie <strong>de</strong>r Verkündigung <strong>de</strong>r Apostel, und als<br />

Gottes Wort in ihre Herzen drang, kamen sie zur Klarheit. So wur<strong>de</strong>n sie zu Mittlern <strong>de</strong>r Güte<br />

Gottes und seiner Erlösung.<br />

<strong>Die</strong> Menge, die aus <strong>de</strong>m Tempelhof geflohen war, kam nach einiger Zeit zögernd wie<strong>de</strong>r<br />

zurück. <strong>Die</strong> Leute hatten sich zum Teil von <strong>de</strong>m Schrecken, <strong>de</strong>r sie erfaßt hatte, erholt; doch<br />

war in ihren Gesichtern noch Unentschlossenheit und Furchtsamkeit zu lesen. Sie blickten mit<br />

Erstaunen auf die Taten Jesu und waren überzeugt davon, daß sich in ihm die Weissagungen auf<br />

<strong>de</strong>n Messias erfüllt hätten. Für die Sün<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Tempelentweihung trugen die Priester die größte<br />

Verantwortung. Auf Grund ihrer Anordnung war <strong>de</strong>r Tempelhof zu einem Marktplatz<br />

gewor<strong>de</strong>n. Das Volk war daran ziemlich unschuldig. Es hatte sich von <strong>de</strong>r göttlichen Autorität<br />

Jesu beeindrucken lassen, doch noch war <strong>de</strong>r Einfluß <strong>de</strong>r Priester und Obersten auf das Volk<br />

stärker. Jene betrachteten <strong>Christi</strong> Wirken als etwas gänzlich Neues und bezweifelten sein Recht,<br />

sich gegen das zu stellen, was von <strong>de</strong>n für <strong>de</strong>n Tempel Verantwortlichen gestattet wor<strong>de</strong>n war.<br />

Sie waren zu<strong>de</strong>m verärgert, weil ihre Geschäftemacherei unterbrochen wor<strong>de</strong>n war, und<br />

unterdrückten somit das Mahnen <strong>de</strong>s Heiligen Geistes.<br />

Wenn überhaupt jemand, dann hätten die Priester und Obersten in Jesus <strong>de</strong>n Gesalbten<br />

Gottes erkennen müssen; <strong>de</strong>nn sie besaßen ja die heiligen Schriftrollen, die sein Wirken<br />

beschrieben, und sie wußten, daß sich in <strong>de</strong>r Reinigung <strong>de</strong>s Tempels eine be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>re Macht<br />

bekun<strong>de</strong>te als die von Menschen. So sehr sie auch Jesus haßten, konnten sie sich <strong>de</strong>nnoch nicht<br />

<strong>de</strong>m Gedanken entziehen, daß er ein von Gott gesandter Prophet sei, <strong>de</strong>r die Heiligkeit <strong>de</strong>s<br />

Tempels wie<strong>de</strong>rherzustellen habe. Mit aller aus dieser Befürchtung geborenen Achtung wandten<br />

sie sich an ihn mit <strong>de</strong>r Frage: „Was zeigst du uns für ein Zeichen, daß du solches tun<br />

darfst?“ Johannes 2,18. Jesus hatte ihnen bereits ein Zeichen gegeben. In<strong>de</strong>m er blitzartig ihren<br />

Sinn erhellte und vor ihren Augen jene Werke vollbrachte, die vom Messias erwartet wur<strong>de</strong>n,<br />

hatte er einen überzeugen<strong>de</strong>n Nachweis seiner Persönlichkeit erbracht. Deshalb antwortete er<br />

auf ihre Frage nach einem Zeichen mit einer Bildre<strong>de</strong> und <strong>de</strong>ckte damit auf, daß er ihre Bosheit<br />

erkannt hatte und voraussah, wohin sie durch diese geführt wür<strong>de</strong>n, „Brechet diesen Tempel<br />

ab“, sagte er, „und in drei Tagen will ich ihn aufrichten.“ Johannes 2,19.<br />

<strong>Die</strong>ses Wort hat zwiefache Be<strong>de</strong>utung. Jesus bezog es nicht nur auf die Zerstörung <strong>de</strong>s<br />

jüdischen Tempels und Kultdienstes, son<strong>de</strong>rn auch auf seinen eigenen Tod — die Zerstörung<br />

<strong>de</strong>s Tempels seines Leibes. Das aber planten die Ju<strong>de</strong>n bereits. Als nämlich die Priester und<br />

Obersten zum Tempel zurückkehrten, hatten sie beschlossen, Jesus umzubringen und sich<br />

dadurch selbst von <strong>de</strong>m Störenfried zu befreien. Als er ihnen jedoch ihre Absicht vor Augen<br />

führte, begriffen sie ihn nicht. Sie faßten sein Wort so auf, als bezöge es sich allein auf <strong>de</strong>n<br />

Tempel in Jerusalem. Darum erklärten sie unwillig: „<strong>Die</strong>ser Tempel ist in sechsundvierzig<br />

Jahren erbaut; und du willst ihn in drei Tagen aufrichten?“ Johannes 2,20. Dabei empfan<strong>de</strong>n sie,<br />

100


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

daß Jesus ihren Unglauben bestätigt habe, und sie fühlten sich nur noch mehr darin bestärkt, ihn<br />

zu verwerfen.<br />

Christus hatte nicht beabsichtigt, daß diese seine Worte von <strong>de</strong>n ungläubigen Ju<strong>de</strong>n und auch<br />

nicht von seinen Jüngern zu jener Zeit verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n sollten. Er war sich vielmehr darüber<br />

im klaren, daß sie von seinen Fein<strong>de</strong>n falsch ausgelegt und gegen ihn selbst gerichtet wür<strong>de</strong>n.<br />

Während seines Verhörs sollten sie als Anklage formuliert und auf Golgatha als Verhöhnung<br />

gegen ihn gewandt wer<strong>de</strong>n. Hätte er seine Worte erklärt, wür<strong>de</strong>n die Jünger von seinem Lei<strong>de</strong>n<br />

erfahren haben, und dies hätte ihnen in einem Ausmaß Kummer bereitet, <strong>de</strong>n sie bis dahin noch<br />

nicht zu ertragen vermochten. Ferner hätte eine Erklärung <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n vorzeitig enthüllt, welche<br />

Auswirkungen ihre Vorurteile und ihr Unglaube einmal haben wür<strong>de</strong>n. Schon hatten sie einen<br />

Weg eingeschlagen, <strong>de</strong>n sie beharrlich so lange verfolgen wür<strong>de</strong>n, bis man Jesus als Lamm zur<br />

Schlachtbank führte.<br />

Christus sprach diese Worte zum Wohle <strong>de</strong>rer, die in späterer Zeit an ihn glaubten, wußte er<br />

doch, daß sie wie<strong>de</strong>rholt wür<strong>de</strong>n. Während <strong>de</strong>s Passahfestes sollten sie Tausen<strong>de</strong>n zu Ohren<br />

kommen und in alle Teile <strong>de</strong>r Welt getragen wer<strong>de</strong>n. Nach seiner Auferstehung von <strong>de</strong>n Toten<br />

wür<strong>de</strong> dann ihre Be<strong>de</strong>utung offenkundig sein und für viele zu einem schlüssigen Beweis seiner<br />

Göttlichkeit wer<strong>de</strong>n.Selbst Jesu Jünger konnten seine Lehren oft nicht begreifen, weil sie sich in<br />

geistlicher Finsternis bewegten. Doch wur<strong>de</strong>n ihnen viele seiner Aussagen durch die<br />

nachfolgen<strong>de</strong>n Ereignisse verständlich gemacht. Als er sich nicht mehr bei ihnen befand,<br />

wurzelten seine Worte fest in ihren Herzen.<br />

Auf <strong>de</strong>n Jerusalemer Tempel bezogen, hatten Jesu Worte „Brechet diesen Tempel ab, und in<br />

drei Tagen will ich ihn aufrichten“ einen tieferen Sinn, als seine Hörer erfaßten. Christus war<br />

Grundlage und Leben <strong>de</strong>s Tempels. Der darin vollzogene <strong>Die</strong>nst versinnbil<strong>de</strong>te das Opfer <strong>de</strong>s<br />

Sohnes Gottes. Das Priesteramt war einst eingesetzt wor<strong>de</strong>n, um die Vermittlertätigkeit <strong>Christi</strong><br />

ihrem Wesen nach darzustellen. Der gesamte Ablauf <strong>de</strong>s Opferdienstes wies im voraus auf <strong>de</strong>n<br />

Tod <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s zur Erlösung <strong>de</strong>r Welt hin. Jene Opfer wür<strong>de</strong>n ohne je<strong>de</strong>n Nutzen sein,<br />

sobald das große Ereignis geschehen wäre, auf das sie seit Jahrhun<strong>de</strong>rten voraus<strong>de</strong>uteten.<br />

Der gesamte Zeremonial- und Kultdienst wies sinnbildlich auf Christus hin und besaß<br />

<strong>de</strong>shalb ohne ihn keinen Wert. Als die Ju<strong>de</strong>n ihre Verwerfung <strong>Christi</strong> besiegelten, in<strong>de</strong>m sie ihn<br />

<strong>de</strong>m To<strong>de</strong> überantworteten, verwarfen sie zugleich all das, was <strong>de</strong>m Tempel und <strong>de</strong>m darin<br />

vollzogenen <strong>Die</strong>nst Be<strong>de</strong>utung gab. Der Tempel war nicht länger mehr heilig, er war <strong>de</strong>m<br />

Untergang geweiht. Von jenem Tage an war <strong>de</strong>r mit ihm verbun<strong>de</strong>ne Opfer- und Kultdienst<br />

be<strong>de</strong>utungslos gewor<strong>de</strong>n. Wie das Opfer <strong>de</strong>s Kain, waren jene Opfer fortan nicht Ausdruck <strong>de</strong>s<br />

Glaubens an <strong>de</strong>n Erlöser. Als sie Christus töteten, zerstörten die Ju<strong>de</strong>n in Wahrheit ihren<br />

Tempel. Zur Stun<strong>de</strong>, da Christus verschied, zerriß <strong>de</strong>r innere Vorhang <strong>de</strong>s Tempels von oben<br />

bis unten in zwei Hälften — ein Zeichen dafür, daß das einzigartige, endgültige Opfer gebracht<br />

wor<strong>de</strong>n war und das ganze Opfersystem damit für immer ein En<strong>de</strong> gefun<strong>de</strong>n hatte.<br />

„In drei Tagen will ich ihn aufrichten.“ Johannes 2,19. Mit <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s schienen<br />

die Mächte <strong>de</strong>r Finsternis die Oberhand gewonnen zu haben, und sie jubelten über ihren<br />

101


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Triumph. Jesus aber ging aus <strong>de</strong>m von Joseph von Arimathia überlassenen Grab als Sieger<br />

hervor. „Er hat die Reiche und die Gewaltigen ihrer Macht entklei<strong>de</strong>t und sie öffentlich zur<br />

Schau gestellt und hat einen Triumph aus ihnen gemacht in Christus.“ Kolosser 2,15. Auf<br />

Grund seines To<strong>de</strong>s und seiner Auferstehung wur<strong>de</strong> er ein „<strong>Die</strong>ner am Heiligtum und an <strong>de</strong>r<br />

wahren Stiftshütte, welche Gott aufgerichtet hat und kein Mensch“. Hebräer 8,2. Menschen<br />

errichteten das israelitische Heiligtum, sie bauten auch <strong>de</strong>n jüdischen Tempel, doch das<br />

Heiligtum droben im Himmel, von <strong>de</strong>m das irdische ein Abbild war, wur<strong>de</strong> von keinem<br />

irdischen Baumeister erbaut. „Siehe, ein Mann, sein Name ist Sproß ... er wird <strong>de</strong>n Tempel<br />

Jehovas bauen, und er wird Herrlichkeit tragen; und er wird auf seinem Throne sitzen und<br />

herrschen und wird Priester sein auf seinem Throne.“ Sacharja 6,12.13 (EB).<br />

Der auf Christus hinweisen<strong>de</strong> Opferdienst verging; statt <strong>de</strong>ssen wur<strong>de</strong>n die Augen <strong>de</strong>r<br />

Menschen auf das wahre Opfer, das für die Sün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Welt gebracht wor<strong>de</strong>n war, gelenkt. Das<br />

irdische Priestertum hörte auf; nun schauen wir auf zu Jesus, <strong>de</strong>m Mittler <strong>de</strong>s Neuen Bun<strong>de</strong>s,<br />

und „zu <strong>de</strong>m Blut <strong>de</strong>r Besprengung, das da besser re<strong>de</strong>t als Abels Blut“. Hebräer 12,24. Der<br />

„Weg zum Heiligen“ war noch nicht offenbart, „solange die vor<strong>de</strong>re Hütte stün<strong>de</strong> ... Christus<br />

aber ist gekommen, daß er sei ein Hoherpriester <strong>de</strong>r zukünftigen Güter, und ist durch die<br />

größere und vollkommenere Hütte eingegangen, die nicht mit Hän<strong>de</strong>n gemacht, das heißt: die<br />

nicht von dieser Schöpfung ist ... durch sein eigen Blut ein für allemal ... und hat eine ewige<br />

Erlösung erworben.“ Hebräer 9,8.11.12.<br />

„Daher kann er auch auf ewig selig machen, die durch ihn zu Gott kommen; <strong>de</strong>nn er lebt<br />

immerdar und bittet für sie.“ Hebräer 7,25. Obschon <strong>de</strong>r Mittlerdienst vom irdischen auf <strong>de</strong>n<br />

himmlischen Tempel übertragen wer<strong>de</strong>n sollte und das Heiligtum und unser großer<br />

Hoherpriester für irdische Blicke unsichtbar wäre, wür<strong>de</strong>n die Jünger dadurch <strong>de</strong>nnoch keinen<br />

Nachteil erlei<strong>de</strong>n. Ihre Verbindung zu Gott erfuhr keinen Bruch, und ihre Kraft wur<strong>de</strong> infolge<br />

<strong>de</strong>r Abwesenheit <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s nicht geringer. Während er im himmlischen Heiligtum dient, ist<br />

Jesus durch Gottes Geist ein <strong>Die</strong>ner auch <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong> auf Er<strong>de</strong>n. Er ist <strong>de</strong>m sinnlichen<br />

Wahrnehmungsvermögen entrückt, aber seine beim Abschied gegebene Verheißung „Siehe, ich<br />

bin bei euch alle Tage bis an <strong>de</strong>r Welt En<strong>de</strong>“ (Matthäus 28,20) hat sich erfüllt. Er gibt seine<br />

Kraft an schwächere Helfer weiter und ist zugleich mit seiner beleben<strong>de</strong>n Gegenwart unter<br />

seiner Gemein<strong>de</strong>. „Weil wir <strong>de</strong>nn einen großen Hohenpriester haben, Jesus, <strong>de</strong>n Sohn Gottes ...,<br />

so lasset uns halten an <strong>de</strong>m Bekenntnis. Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, <strong>de</strong>r nicht<br />

könnte mitlei<strong>de</strong>n mit unsrer Schwachheit, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r versucht ist allenthalben gleichwie wir,<br />

doch ohne Sün<strong>de</strong>. Darum lasset uns hinzutreten mit Freudigkeit zu <strong>de</strong>m Thron <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong>, auf<br />

daß wir Barmherzigkeit empfangen und Gna<strong>de</strong> fin<strong>de</strong>n auf die Zeit, wenn uns Hilfe not sein<br />

wird.“ Hebräer 4,14-16.<br />

102


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 17: Niko<strong>de</strong>mus<br />

Niko<strong>de</strong>mus beklei<strong>de</strong>te ein hohes Amt im jüdischen Lan<strong>de</strong>. Er galt als hoch gebil<strong>de</strong>t, besaß<br />

große Gaben und war ein angesehenes Mitglied <strong>de</strong>s hohen Rates. Auch er war durch Jesu<br />

Lehren angerührt wor<strong>de</strong>n und fühlte sich trotz seiner bevorzugten Stellung zu <strong>de</strong>m einfachen<br />

Nazarener hingezogen. <strong>Die</strong> Unterweisungen Jesu hatten ihn außeror<strong>de</strong>ntlich beeindruckt, und er<br />

wollte mehr von diesen wun<strong>de</strong>rbaren Wahrheiten hören.<br />

<strong>Die</strong> Tatsache, daß Christus seine Vollmacht in <strong>de</strong>r Säuberung <strong>de</strong>s Tempel ausgeübt hatte,<br />

erweckte gezielten Haß auf Seiten <strong>de</strong>r Priester und Obersten. Sie fürchteten die Macht dieses<br />

Fremdlings. Man durfte eine solche Kühnheit von einem unbekannten Galiläer keinesfalls<br />

dul<strong>de</strong>n. So waren sie darauf aus, seiner Tätigkeit ein En<strong>de</strong> zu setzen. Nicht alle aber stimmten<br />

diesem Vorhaben zu. Es gab einzelne, die nicht einem Manne entgegentreten wollten, <strong>de</strong>r so<br />

offensichtlich durch Gottes Geist geleitet wur<strong>de</strong>. Sie erinnerten sich, wie Propheten getötet<br />

wor<strong>de</strong>n waren, nur weil sie die Sün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Führer Israels geta<strong>de</strong>lt hatten. Sie waren sich auch<br />

darüber im klaren, daß die Unterdrückung <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n durch eine heidnische Nation eine Folge<br />

<strong>de</strong>r Hartnäckigkeit war, mit <strong>de</strong>r sie die göttlichen Ermahnungen zurückgewiesen hatten. So<br />

befürchteten sie, daß die Priester und Obersten wegen ihrer gegen Jesus gerichteten Anschläge<br />

in die Fußtapfen ihrer Väter treten und neues Unheil über das ganze Volk bringen wür<strong>de</strong>n.<br />

Auch Niko<strong>de</strong>mus teilte diese Be<strong>de</strong>nken. Als in einer Ratssitzung <strong>de</strong>s Sanhedriums besprochen<br />

wur<strong>de</strong>, welche Haltung man Jesus gegenüber einnehmen wolle, mahnte er zu Vorsicht und<br />

Mäßigung. Mit Nachdruck wies er darauf hin, daß es gefährlich sei, seine Warnungen in <strong>de</strong>n<br />

Wind zu schlagen, wenn dieser Jesus tatsächlich mit göttlicher Autorität ausgestattet wäre. <strong>Die</strong><br />

Priester wagten es nicht, diesen Rat zu mißachten, und so ergriffen sie eine Zeitlang keine<br />

öffentlichen Maßnahmen gegen <strong>de</strong>n Heiland.<br />

Niko<strong>de</strong>mus studierte, seit er Jesus gehört hatte, mit beson<strong>de</strong>rer Sorgfalt jene Weissagungen,<br />

die sich auf <strong>de</strong>n Messias beziehen. Je mehr er darin forschte, <strong>de</strong>sto fester wur<strong>de</strong> er davon<br />

überzeugt, daß jener Mann <strong>de</strong>r Eine war, <strong>de</strong>r kommen sollte. Wie viele an<strong>de</strong>re Israeliten war<br />

auch er sehr betrübt gewesen über die Entweihung <strong>de</strong>s Tempels. Dann aber wur<strong>de</strong> er Zeuge<br />

jenes Geschehens, als Jesus die Käufer und Verkäufer vertrieb; er nahm die erstaunlichen<br />

Bekundungen göttlicher Macht wahr; er beobachtete, wie <strong>de</strong>r Heiland mit <strong>de</strong>n Armen umging<br />

und die Kranken heilte, er sah ihre frohen Blicke und hörte ihre jubeln<strong>de</strong>n Dankesworte. Da<br />

konnte er nicht mehr daran zweifeln, daß Jesus von Nazareth <strong>de</strong>r von Gott Gesandte war.<br />

Darum suchte er eifrig nach einer Gelegenheit, mit Jesus zu sprechen. Er scheute sich aber,<br />

ihn öffentlich und am Tage aufzusuchen; <strong>de</strong>nn es wäre für einen Obersten <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n zu<br />

<strong>de</strong>mütigend gewesen, wenn seine Sympathie für einen noch so wenig bekannten Lehrer<br />

offenbar gewor<strong>de</strong>n wäre. Und wäre solch Besuch <strong>de</strong>m Hohen Rat zur Kenntnis gekommen,<br />

dann hätte er zweifellos <strong>de</strong>ssen Verachtung und Verurteilung auf sich gela<strong>de</strong>n. So entschloß er<br />

sich zu einem unauffälligen Besuch bei Nacht und entschuldigte dies damit, daß, ginge er am<br />

Tage, auch an<strong>de</strong>re seinem Beispiel folgen könnten. Er hatte in Erfahrung gebracht, daß <strong>de</strong>r<br />

103


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Heiland sich gern am Ölberg aufhielt, und nun besuchte er ihn an dieser einsamen Stätte, als<br />

alles schon schlief.<br />

In <strong>de</strong>r Gegenwart Jesu befiel <strong>de</strong>n großen jüdischen Lehrer eine eigenartige Schüchternheit,<br />

die er durch einen Anschein von Gelassenheit und Wür<strong>de</strong> zu verbergen suchte. „Meister“,<br />

sprach er Jesus an, „wir wissen, daß du bist ein Lehrer von Gott gekommen; <strong>de</strong>nn niemand kann<br />

die Zeichen tun, die du tust, es sei <strong>de</strong>nn Gott mit ihm.“ Johannes 3,2. In<strong>de</strong>m er <strong>Christi</strong><br />

einzigartige Lehrgabe und seine überwältigen<strong>de</strong> Wun<strong>de</strong>rmacht hervorhob, hoffte Niko<strong>de</strong>mus,<br />

sich die Möglichkeit zu einem Gespräch zu bahnen. Seine Worte sollten Vertrauen zum<br />

Ausdruck bringen, offenbarten in Wirklichkeit aber nur Unglauben. Er anerkannte Jesus nicht<br />

als Messias, son<strong>de</strong>rn sah in ihm nur einen von Gott gesandten Lehrer.<br />

Statt diesen Gruß zu erwi<strong>de</strong>rn, richtete Jesus seine Augen auf <strong>de</strong>n Sprecher, als wollte er in<br />

<strong>de</strong>ssen Seele lesen. In seiner unendlichen Weisheit erkannte er in ihm einen nach Wahrheit<br />

suchen<strong>de</strong>n Menschen. Er wußte <strong>de</strong>n Grund seines Besuches, und er wollte die Überzeugung, die<br />

<strong>de</strong>r Besucher schon besaß, noch vertiefen und kam <strong>de</strong>shalb gleich zum Kern <strong>de</strong>r Sache, in<strong>de</strong>m<br />

er diesem ernst, aber freundlich sagte: „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei <strong>de</strong>nn, daß<br />

jemand von neuem geboren wer<strong>de</strong>, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.“ Johannes<br />

3,3. Niko<strong>de</strong>mus war in <strong>de</strong>r Erwartung zum Herrn gekommen, eine angeregte Diskussion mit<br />

ihm zu führen. Jesus aber breitete vor ihm die Grundlagen <strong>de</strong>r Wahrheit aus. Er sagte zu<br />

Niko<strong>de</strong>mus, daß er mehr <strong>de</strong>r geistlichen Erneuerung bedürfe als <strong>de</strong>s theoretischen Wissens, daß<br />

er ein neues Herz brauche und nicht nur die Befriedigung seiner Wißbegier<strong>de</strong>, daß er ein neues<br />

Leben von oben her empfangen müsse, bevor er himmlische Dinge wertschätzen könne.<br />

Solange nicht diese alles erneuern<strong>de</strong> Wandlung eingetreten sei, habe es keinen Nutzen für<br />

Niko<strong>de</strong>mus, mit ihm über die ihm innewohnen<strong>de</strong> Vollmacht und seine Aufgabe zu re<strong>de</strong>n.<br />

Niko<strong>de</strong>mus hatte gehört, was Johannes <strong>de</strong>r Täufer über Bekehrung und Taufe verkündigt und<br />

wie er die Leute auf <strong>de</strong>n einen hingewiesen hatte, <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m Heiligen Geist taufen wer<strong>de</strong>.<br />

Auch er empfand, daß es <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n an geistlicher Gesinnung mangelte und daß sie in hohem<br />

Maße von Frömmelei und weltlichem Ehrgeiz geleitet wur<strong>de</strong>n. So hatte er gehofft, daß sich mit<br />

<strong>de</strong>m Kommen <strong>de</strong>s Messias diese Dinge zum Guten wen<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>n. An<strong>de</strong>rseits hatte die<br />

herzergreifen<strong>de</strong> Botschaft <strong>de</strong>s Täufers ihn doch nicht von seiner eigenen Schuld überzeugt. Er<br />

war ein auf Genauigkeit bedachter Pharisäer und stolz auf seine guten Werke. Auch wur<strong>de</strong> er<br />

von vielen hoch geachtet wegen seiner wohltätigen und großzügigen Gesinnung hinsichtlich <strong>de</strong>r<br />

Unterhaltung <strong>de</strong>s Tempeldienstes. Er war sich <strong>de</strong>s göttlichen Wohlwollens gewiß und <strong>de</strong>shalb<br />

erschreckt von <strong>de</strong>m Gedanken an ein Reich, das für ihn in seiner gegenwärtigen Verfassung zu<br />

rein wäre. Das Bild von <strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rgeburt, das Christus hier gebrauchte, war Niko<strong>de</strong>mus nicht<br />

ganz unbekannt. <strong>Die</strong> vom Hei<strong>de</strong>ntum zum Glauben Israels Bekehrten wur<strong>de</strong>n oft mit<br />

neugeborenen Kin<strong>de</strong>rn verglichen. Darum mußte Niko<strong>de</strong>mus auch begriffen haben, daß Jesu<br />

Worte nicht buchstäblich gemeint sein konnten. Durch seine israelitische Herkunft aber glaubte<br />

er seines Platzes im Reiche Gottes sicher zu sein und vermochte nicht einzusehen, warum er<br />

dazu noch einer Bekehrung bedürfe. Deshalb überraschten ihn die Worte <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s.<br />

Außer<strong>de</strong>m verstimmte ihn die unmittelbare Anwendung dieses Bil<strong>de</strong>s auf ihn. Der Stolz <strong>de</strong>s<br />

104


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Pharisäers kämpfte in ihm mit <strong>de</strong>m aufrichtigen Verlangen einer nach Wahrheit suchen<strong>de</strong>n<br />

Seele. Er wun<strong>de</strong>rte sich, daß Christus so ohne je<strong>de</strong> Rücksicht auf ihn als Obersten in Israel<br />

sprechen konnte.<br />

Verwun<strong>de</strong>rt über seine Selbstbeherrschung, antwortete er <strong>de</strong>m Herrn ironisch: „Wie kann ein<br />

Mensch geboren wer<strong>de</strong>n, wenn er alt ist?“ Johannes 3,4. Damit offenbarte er gleich vielen<br />

an<strong>de</strong>ren, <strong>de</strong>nen die gehörte Wahrheit ins Gewissen dringt, die Tatsache, daß <strong>de</strong>r natürliche<br />

Mensch nichts vom Geiste Gottes vernimmt. In ihm ist nichts, was auf geistliche Dinge<br />

anspricht; <strong>de</strong>nn geistliche Dinge müssen geistlich gerichtet sein. Der Heiland aber ging auf<br />

keine langatmige Beweisführung ein. Mit ernster, ruhiger Wür<strong>de</strong> erhob er seine Hand und<br />

wie<strong>de</strong>rholte mit Nachdruck: „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei <strong>de</strong>nn, daß jemand geboren<br />

wer<strong>de</strong> aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen.“ Johannes 3,5.<br />

Niko<strong>de</strong>mus verstand, daß Christus sich hier auf die Wassertaufe bezog und auf die Erneuerung<br />

<strong>de</strong>s Herzens durch <strong>de</strong>n Geist Gottes. Ihm wur<strong>de</strong> bewußt, daß er sich in <strong>de</strong>r Gegenwart <strong>de</strong>ssen<br />

befand, <strong>de</strong>n Johannes <strong>de</strong>r Täufer vorausgesagt hatte.<br />

Jesus fuhr fort: „Was vom Fleisch geboren wird, das ist Fleisch; und was vom Geist geboren<br />

wird, das ist Geist.“ Von Natur aus ist das Herz böse. „Kann wohl ein Reiner kommen von<br />

Unreinen? Auch nicht einer!“ Johannes 3,6; Hiob 14,4. Keine menschliche Erfindung kann eine<br />

mit Sün<strong>de</strong>n bela<strong>de</strong>ne Seele heilen. „Denn fleischlich gesinnt sein ist Feindschaft wi<strong>de</strong>r Gott,<br />

weil das Fleisch <strong>de</strong>m Gesetz Gottes nicht untertan ist; <strong>de</strong>nn es vermag‘s auch nicht.“ Römer 8,7.<br />

„Aus <strong>de</strong>m Herzen kommen arge Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, <strong>Die</strong>berei, falsch<br />

Zeugnis, Lästerung.“ Matthäus 15,19. <strong>Die</strong> Quelle <strong>de</strong>s Herzens muß gereinigt wer<strong>de</strong>n, ehe <strong>de</strong>r<br />

Strom klar wer<strong>de</strong>n kann. Wer versucht, <strong>de</strong>n Himmel durch seine eigenen Werke, durch das<br />

Halten <strong>de</strong>r Gebote zu erreichen, versucht Unmögliches. Es gibt keine Sicherheit für <strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r nur<br />

eine gesetzliche Religion, eine äußere Frömmigkeit besitzt. Das Christenleben ver- bessert o<strong>de</strong>r<br />

verän<strong>de</strong>rt nicht das alte Wesen, son<strong>de</strong>rn gestaltet es völlig um. Das Ich und die Sün<strong>de</strong> müssen<br />

sterben; ein neues Leben muß beginnen! <strong>Die</strong>ser Wechsel kann nur durch das kräftige Wirken<br />

<strong>de</strong>s Heiligen Geistes geschehen. Niko<strong>de</strong>mus konnte es immer noch nicht begreifen, was <strong>de</strong>r<br />

Herr ihm be<strong>de</strong>uten wollte. Darum benutzte nun Jesus das Bild vom Wehen <strong>de</strong>s Win<strong>de</strong>s, um<br />

verständlicher zu wer<strong>de</strong>n: „Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du<br />

weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist ein jeglicher, <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m Geist geboren<br />

ist.“ Johannes 3,8.<br />

Man hört <strong>de</strong>n Wind in <strong>de</strong>n Zweigen <strong>de</strong>r Bäume, in <strong>de</strong>m Rascheln <strong>de</strong>r Blätter und Blüten.<br />

Und doch ist er unsichtbar. Niemand weiß, woher er kommt und wohin er geht, So geschieht<br />

auch das Wirken <strong>de</strong>s Heiligen Geistes am Herzen <strong>de</strong>s Menschen. <strong>Die</strong>ser Vorgang kann<br />

ebensowenig erklärt wer<strong>de</strong>n wie das Brausen <strong>de</strong>s Win<strong>de</strong>s. Es mag jemand außerstan<strong>de</strong> sein,<br />

genaue Zeit, Ort und einzelne Umstän<strong>de</strong> seiner Bekehrung anzugeben, und <strong>de</strong>nnoch ist er<br />

bekehrt. So unsichtbar wie <strong>de</strong>r Wind weht, wirkt Christus beständig auf das Herz ein. Nach und<br />

nach, <strong>de</strong>m einzelnen vielleicht ganz unbewußt, wer<strong>de</strong>n Eindrücke hervorgerufen, die die Seele<br />

zu Christus ziehen. <strong>Die</strong>se Eindrücke mögen dadurch empfangen wer<strong>de</strong>n, daß man über ihn<br />

nach<strong>de</strong>nkt, in <strong>de</strong>r Heiligen Schrift liest o<strong>de</strong>r das Wort Gottes von seinen <strong>Die</strong>nern hört. Dann<br />

105


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

plötzlich, wenn <strong>de</strong>r göttliche Einfluß immer stärker und unmittelbarer gewor<strong>de</strong>n ist, ergibt sich<br />

die Seele freudig <strong>de</strong>m Herrn. Viele nennen dies eine plötzliche Bekehrung, und doch war es nur<br />

die Folge <strong>de</strong>s langen, geduldigen Werbens <strong>de</strong>s Geistes Gottes.<br />

Während <strong>de</strong>r Wind selbst unsichtbar ist, erzeugt er Wirkungen, die man sehen und spüren<br />

kann. So offenbart sich das Wirken <strong>de</strong>s Heiligen Geistes in je<strong>de</strong>r Handlung <strong>de</strong>r bekehrten Seele.<br />

Sobald <strong>de</strong>r Geist Gottes in das Herz einzieht, gestaltet er das Leben um. Sündhafte Gedanken<br />

wer<strong>de</strong>n verbannt, böse Taten vermie<strong>de</strong>n; Liebe, Demut und Frie<strong>de</strong>n nehmen die Stelle von<br />

Ärger, Neid und Zank ein. Traurigkeit verwan<strong>de</strong>lt sich in Freu<strong>de</strong>, und auf <strong>de</strong>m Angesicht<br />

spiegelt sich das Licht <strong>de</strong>s Himmels. Keiner sieht die Hand, die die Last aufhebt, o<strong>de</strong>r erblickt<br />

das Licht, das von <strong>de</strong>n himmlischen Vorhöfen herableuchtet. Der Segen stellt sich ein, wenn ein<br />

Mensch sich im Glauben <strong>de</strong>m Herrn ergibt. Dann schafft die <strong>de</strong>m menschlichen Auge<br />

unsichtbare Kraft ein neues, <strong>de</strong>m Bil<strong>de</strong> Gottes ähnliches Wesen.<br />

Es ist <strong>de</strong>m irdischen Geist unmöglich, das Werk <strong>de</strong>r Erlösung zu verstehen. <strong>Die</strong>ses<br />

Geheimnis übersteigt je<strong>de</strong> menschliche Erkenntnis! Wer jedoch vom To<strong>de</strong> zum Leben<br />

durchdringt, <strong>de</strong>r nimmt wahr, daß es sich dabei um eine göttliche Tatsache han<strong>de</strong>lt. <strong>Die</strong> ersten<br />

Früchte unserer Erlösung lernen wir bereits auf Er<strong>de</strong>n über die persönliche Erfahrung kennen.<br />

<strong>Die</strong> endgültigen Auswirkungen reichen bis in die Ewigkeit. Während Jesus re<strong>de</strong>te, drang etwas<br />

von <strong>de</strong>m göttlichen Licht <strong>de</strong>r Wahrheit in <strong>de</strong>s Obersten Seele. Der mil<strong>de</strong>, besänftigen<strong>de</strong> Einfluß<br />

<strong>de</strong>s Heiligen Geistes beeindruckte sein Herz. Und <strong>de</strong>nnoch verstand er die Worte <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s<br />

nicht völlig. <strong>Die</strong> Notwendigkeit <strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rgeburt war ihm nicht so wichtig wie die Art und<br />

Weise ihres Zustan<strong>de</strong>kommens, und er fragte mit äußerster Verwun<strong>de</strong>rung: „Wie kann solches<br />

zugehen?“<br />

„Jesus antwortete und sprach zu ihm: Bist du ein Meister in Israel und weißt das<br />

nicht?“ Johannes 3,9.10. Wem die geistliche Erziehung seines Volkes anvertraut war, sollte<br />

gewiß nicht in Unkenntnis über diese wichtigen Wahrheiten sein. Seine Worte enthielten für<br />

Niko<strong>de</strong>mus die Lehre, daß er wegen seiner geistlichen Unwissenheit lieber sehr beschei<strong>de</strong>n von<br />

sich hätte <strong>de</strong>nken sollen, statt sich wegen <strong>de</strong>r klaren Botschaft <strong>de</strong>r Wahrheit zu erregen.<br />

Allerdings gab Christus ihm das mit einer solchen Wür<strong>de</strong> und einer in Blick und Sprache<br />

aufrichtigen Liebe zu verstehen, daß Niko<strong>de</strong>mus angesichts seiner <strong>de</strong>mütigen<strong>de</strong>n Lage nicht<br />

beleidigt sein konnte. Als Jesus erklärte, daß seine Aufgabe auf Er<strong>de</strong>n nicht darin bestehe, ein<br />

zeitliches, son<strong>de</strong>rn ein ewiges Reich zu errichten, war sein Zuhörer doch beunruhigt. Jesus<br />

spürte das und fügte hinzu: „Glaubt ihr nicht, wenn ich euch von irdischen Dingen sage, wie<br />

wer<strong>de</strong>t ihr glauben, wenn ich euch von himmlischen Dingen sage?“ Johannes 3,12. Konnte<br />

Niko<strong>de</strong>mus die Lehre <strong>Christi</strong>, die das Wirken <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong> am Herzen veranschaulichte, nicht<br />

verstehen, wie sollte er dann die Natur seines herrlichen himmlischen Reiches erfassen!<br />

Vermochte er <strong>Christi</strong> Wirken auf Er<strong>de</strong>n nicht zu begreifen, dann konnte er auch sein Werk im<br />

Himmel nicht verstehen.<br />

<strong>Die</strong> Ju<strong>de</strong>n, die Jesus aus <strong>de</strong>m Tempel getrieben hatte, nahmen für sich in Anspruch, Kin<strong>de</strong>r<br />

Abrahams zu sein. Dennoch waren sie vor Jesus geflohen, weil sie die sich in ihm offenbaren<strong>de</strong><br />

Herrlichkeit Gottes nicht ertragen konnten. Mit diesem Verhalten bewiesen sie nur, daß sie von<br />

106


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Gottes Gna<strong>de</strong> noch nicht zubereitet waren, an <strong>de</strong>m geheiligten <strong>Die</strong>nst im Tempel Anteil zu<br />

haben. Sie waren eifrig darauf bedacht, stets <strong>de</strong>n Anschein <strong>de</strong>r Heiligkeit zu erwecken, dabei<br />

vernachlässigten sie jedoch die Heiligkeit <strong>de</strong>s Herzens. Während sie pedantisch <strong>de</strong>n Buchstaben<br />

<strong>de</strong>s Gesetzes verfochten, übertraten sie es beständig <strong>de</strong>m Geist nach. So bedurften sie in ganz<br />

beson<strong>de</strong>rer Weise jener Umwandlung, die Christus <strong>de</strong>m Niko<strong>de</strong>mus vor Augen geführt hatte —<br />

einer geistlichen Neugeburt also, einer Reinigung von Sün<strong>de</strong>n und einer Erneuerung <strong>de</strong>r<br />

Erkenntnis und <strong>de</strong>r Frömmigkeit.<br />

Im Hinblick auf diese Erneuerung gab es für die Blindheit Israels keine Entschuldigung.<br />

Unter <strong>de</strong>m Einfluß <strong>de</strong>s Heiligen Geistes hatte schon Jesaja geschrieben: „Nun sind wir alle wie<br />

die Unreinen, und alle unsre Gerechtigkeit ist wie ein beflecktes Kleid.“ Jesaja 64,5. David<br />

betete: „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz, und gib mir einen neuen, beständigen<br />

Geist.“ Psalm 51,12. Und durch Hesekiel ist uns die Verheißung geschenkt wor<strong>de</strong>n: „Ich will<br />

euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euch geben und will das steinerne Herz aus eurem<br />

Fleisch wegnehmen und euch ein fleischernes Herz geben. Ich will meinen Geist in euch geben<br />

und will solche Leute aus euch machen, die in meinen Geboten wan<strong>de</strong>ln.“ Hesekiel 36,26.27.<br />

Bisher hatte Niko<strong>de</strong>mus diese Schriftstellen mit nur geringem Verständnis gelesen; nun aber<br />

begann er ihre Be<strong>de</strong>utung zu begreifen. Er erkannte, daß jemand selbst dann, wenn er das<br />

Gesetz <strong>de</strong>m Wortlaut nach strengstens befolgte und es rein äußerlich ins Leben übertrüge, noch<br />

kein Recht hätte, das Königreich <strong>de</strong>s Himmels zu betreten. Nach menschlichem Urteil war sein<br />

Leben gerecht und ehrenhaft verlaufen, in <strong>de</strong>r Gegenwart <strong>Christi</strong> aber empfand er, daß sein<br />

Herz unrein und sein Leben nicht Gott wohlgefällig war. Niko<strong>de</strong>mus fühlte sich zu Christus<br />

hingezogen. Als <strong>de</strong>r Heiland mit ihm über die Wie<strong>de</strong>rgeburt sprach, verlangte es ihn danach,<br />

diese Umwandlung an sich selbst zu erfahren. Wie konnte dies geschehen? Jesus beantwortete<br />

die unausgesprochene Frage mit <strong>de</strong>n Worten: „Wie Mose in <strong>de</strong>r Wüste die Schlange erhöht hat,<br />

so muß <strong>de</strong>s Menschen Sohn erhöht wer<strong>de</strong>n, auf daß alle, die an ihn glauben, das ewige Leben<br />

haben.“ Johannes 3,14.15.<br />

Jetzt konnte Niko<strong>de</strong>mus <strong>de</strong>n Herrn verstehen; <strong>de</strong>nn dieses Bild <strong>de</strong>r erhöhten Schlange war<br />

ihm vertraut. Es machte ihm die Aufgabe <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s auf Er<strong>de</strong>n <strong>de</strong>utlich. Als seinerzeit die<br />

Israeliten durch <strong>de</strong>n Biß <strong>de</strong>r feurigen Schlangen starben, befahl Gott, eine eherne Schlange zu<br />

gießen und sie inmitten <strong>de</strong>s Volkes aufzurichten. Dann wur<strong>de</strong> im ganzen Lager verkün<strong>de</strong>t, daß<br />

alle, die auf diese Schlange schauen wür<strong>de</strong>n, leben sollten. Wohl wußte das Volk, daß in <strong>de</strong>r<br />

Schlange selbst keine Macht war, die helfen konnte; sie war nur ein Sinnbild auf Christus. Wie<br />

dieses Bildnis, nach <strong>de</strong>m Ebenbild <strong>de</strong>r todbringen<strong>de</strong>n Schlangen gemacht, zu ihrem Heil<br />

aufgerichtet wur<strong>de</strong>, so sollte ein Wesen „in <strong>de</strong>r Gestalt <strong>de</strong>s sündlichen Fleisches“ (Römer 8,3)<br />

ihr Erlöser sein.<br />

Viele Israeliten betrachteten <strong>de</strong>n Opferdienst so, als wäre er in <strong>de</strong>r Lage, sie von ihren<br />

Sün<strong>de</strong>n zu befreien. Gott wollte sie lehren, daß <strong>de</strong>r Opferdienst nicht mehr Nutzen zu stiften<br />

vermochte als die eherne Schlange; doch ihre Gedanken sollten dadurch auf Christus gerichtet<br />

wer<strong>de</strong>n. Sie konnten zur Heilung ihrer Wun<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r zur Vergebung ihrer Sün<strong>de</strong>n nichts an<strong>de</strong>res<br />

aus sich selbst tun, als ihren Glauben an die Gabe Gottes zu bekun<strong>de</strong>n: sie sollten aufblicken<br />

107


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

und — leben! Wer nun von <strong>de</strong>n Schlangen gebissen wor<strong>de</strong>n war, hätte zögern können<br />

aufzublicken, hätte bezweifeln können, daß in <strong>de</strong>m ehernen Bil<strong>de</strong> eine Kraft wirksam sei, hätte<br />

eine wissenschaftliche Begründung for<strong>de</strong>rn können — aber keinerlei Erklärung wur<strong>de</strong> gegeben.<br />

Sie mußten <strong>de</strong>m Worte Gottes, das durch Mose zu ihnen kam, gehorchen und vertrauen. Je<strong>de</strong><br />

Weigerung, das Bild zu schauen, hätte ihren Untergang besiegelt.<br />

We<strong>de</strong>r durch Streitfragen noch durch lange Erörterungen gelangt eine Seele zur Erkenntnis<br />

<strong>de</strong>r Wahrheit. Wir müssen aufblicken zum Heiland — und wer<strong>de</strong>n leben! Niko<strong>de</strong>mus nahm<br />

diese Lehre gläubig an. Er forschte in <strong>de</strong>r Schrift, an<strong>de</strong>rs als bisher; <strong>de</strong>nn er suchte nicht mehr<br />

theoretisches Wissen, son<strong>de</strong>rn göttliches Leben für die Seele. Er begann das Königreich <strong>de</strong>s<br />

Himmels zu erkennen, als er sich willig <strong>de</strong>r Leitung <strong>de</strong>s Heiligen Geistes unterwarf. Tausen<strong>de</strong><br />

müßten heute die gleiche Wahrheit verstehen lernen, die Niko<strong>de</strong>mus im Bil<strong>de</strong> <strong>de</strong>r erhöhten<br />

Schlange gelehrt wor<strong>de</strong>n war. Sie verlassen sich darauf, daß sie ihr Gesetzesgehorsam <strong>de</strong>r<br />

Gna<strong>de</strong> Gottes empfiehlt. Wer<strong>de</strong>n sie aufgefor<strong>de</strong>rt, auf Jesus zu schauen und zu glauben, daß er<br />

sie allein durch seine Gna<strong>de</strong> errette, rufen sie erstaunt: „Wie kann solches zugehen?“ Johannes<br />

3,9.10.<br />

Wie Niko<strong>de</strong>mus müssen wir bereit sein, das Leben unter <strong>de</strong>n gleichen Bedingungen noch<br />

einmal zu beginnen wie <strong>de</strong>r größte aller Sün<strong>de</strong>r. Denn außer Christus ist „kein andrer Name<br />

unter <strong>de</strong>m Himmel <strong>de</strong>n Menschen gegeben, darin wir sollen selig wer<strong>de</strong>n“. Apostelgeschichte<br />

4,12. Im Glauben empfangen wir die Gna<strong>de</strong> Gottes; <strong>de</strong>r Glaube selbst aber ist nicht unser Heil.<br />

Er bringt nichts ein, son<strong>de</strong>rn ist gewissermaßen nur die Hand, mit <strong>de</strong>r wir Christus festhalten<br />

und <strong>de</strong>ssen Verdienste, das Heilmittel gegen die Sün<strong>de</strong>, in Anspruch nehmen. Ohne die Hilfe<br />

<strong>de</strong>s Geistes Gottes können wir ja nicht einmal bereuen. In diesem Sinne sagt die Schrift von<br />

Christus: „Den hat Gott durch seine rechte Hand erhöht zum Fürsten und Heiland, zu geben<br />

Israel Buße und Vergebung <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>n.“ Apostelgeschichte 5,31. Christus führt ebenso zur<br />

Buße, wie er Schuld vergibt.<br />

Auf welche Weise wer<strong>de</strong>n wir nun errettet: „Wie Mose in <strong>de</strong>r Wüste die Schlange erhöht<br />

hat“ (Johannes 3,14.15), so ist <strong>de</strong>s Menschen Sohn erhöht wor<strong>de</strong>n, und wer von <strong>de</strong>r Schlange<br />

betrogen und gebissen wur<strong>de</strong>, kann aufschauen und leben. „Siehe, das ist Gottes Lamm,<br />

welches <strong>de</strong>r Welt Sün<strong>de</strong> trägt!“ Johannes 1,29. Das Licht, das uns vom Kreuz entgegenstrahlt,<br />

offenbart die Liebe Gottes. Seine Liebe zieht uns zu sich. Wi<strong>de</strong>rstreben wir dieser Zugkraft<br />

nicht, wer<strong>de</strong>n wir zum Fuße <strong>de</strong>s Kreuzes geführt, um dort die Sün<strong>de</strong>n zu bereuen, die <strong>de</strong>n<br />

Heiland ans Kreuz brachten. Dann erneuert <strong>de</strong>r Heilige Geist durch <strong>de</strong>n Glauben <strong>de</strong>n<br />

inwendigen Menschen. <strong>Die</strong> Gedanken und Wünsche wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>m Willen <strong>Christi</strong> untergeordnet.<br />

Herz und Gemüt wer<strong>de</strong>n neu geschaffen zum Bil<strong>de</strong> <strong>de</strong>ssen, <strong>de</strong>r in uns wirkt, um sich alle Dinge<br />

untertan zu machen. Dann ist das Gesetz Gottes in Herz und Sinn geschrieben, und wir können<br />

mit Christus bekennen: „Deinen Willen, mein Gott, tue ich gern.“ Psalm 40,9.<br />

In <strong>de</strong>r Unterredung mit Niko<strong>de</strong>mus gab Jesus Aufschluß über <strong>de</strong>n Erlösungsplan und über<br />

seine Mission. In keiner seiner späteren Re<strong>de</strong>n hat er so völlig, Schritt für Schritt, das Werk<br />

erklärt, das in <strong>de</strong>n Herzen aller geschehen muß, die das Himmelreich ererben wollen. Gleich<br />

zu Beginn seines irdischen <strong>Die</strong>nstes öffnete <strong>de</strong>r Herr einem Mitglied <strong>de</strong>s Hohen Rates das<br />

108


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Verständnis <strong>de</strong>r Wahrheit. <strong>Die</strong>ser Mann hatte ein sehr empfängliches Gemüt und war ein<br />

verordneter Lehrer Israels. Im allgemeinen aber nahmen die geistigen Führer <strong>de</strong>s Volkes die<br />

göttliche Wahrheit nicht an. Niko<strong>de</strong>mus verbarg die Evangeliumsbotschaft drei Jahre in seinem<br />

Herzen, und sie trug anscheinend wenig Frucht. Aber <strong>de</strong>r Heiland kannte <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n, auf <strong>de</strong>m er<br />

<strong>de</strong>n Samen ausgestreut hatte. Seine Worte, die er zur Nachtzeit auf <strong>de</strong>m einsamen Berge zu nur<br />

einem Zuhörer gesprochen hatte, gingen nicht verloren. Eine Zeitlang bekannte sich Niko<strong>de</strong>mus<br />

nicht öffentlich zu Jesus, aber er beobachtete sein Leben und dachte über seine Lehren nach. In<br />

<strong>de</strong>n Sitzungen <strong>de</strong>s Hohen Rates vereitelte er wie<strong>de</strong>rholt manchen Anschlag <strong>de</strong>r Priester, <strong>de</strong>r<br />

Jesus ver<strong>de</strong>rben sollte. Als schließlich <strong>de</strong>r Heiland am Kreuz erhöht wur<strong>de</strong>, erinnerte sich<br />

Niko<strong>de</strong>mus <strong>de</strong>r Worte auf <strong>de</strong>m Ölberg: „Wie Mose in <strong>de</strong>r Wüste die Schlange erhöht hat, so<br />

muß <strong>de</strong>s Menschen Sohn erhöht wer<strong>de</strong>n, auf daß alle, die an ihn glauben, das ewige Leben<br />

haben.“ Johannes 3,14.15. Das Licht jener verschwiegenen Unterredung umleuchtete das Kreuz<br />

von Golgatha, und Niko<strong>de</strong>mus sah in Jesus <strong>de</strong>n Erlöser <strong>de</strong>r Welt.<br />

Als nach <strong>de</strong>r Himmelfahrt <strong>de</strong>s Herrn die Jünger durch die Verfolgungen zerstreut wur<strong>de</strong>n,<br />

trat Niko<strong>de</strong>mus unerschrocken in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund. Er verwandte sein ganzes Vermögen zur<br />

Unterstützung <strong>de</strong>r jungen Gemein<strong>de</strong>, die die Ju<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> <strong>Christi</strong> als ausgetilgt<br />

betrachteten. In <strong>de</strong>n gefahrvollen Zeiten stand er, <strong>de</strong>r sich vorher so überaus vorsichtig und<br />

abwartend verhalten hatte, fest und unerschüttert wie ein Fels im Meer; er ermutigte <strong>de</strong>n<br />

Glauben <strong>de</strong>r Jünger und gab seine Mittel zur Ausbreitung <strong>de</strong>s Evangeliums. Er wur<strong>de</strong> von<br />

<strong>de</strong>nen, die ihn in früheren Jahren geehrt und geachtet hatten, verhöhnt und verfolgt. Er verlor<br />

seine irdische Habe; doch sein Glaube, <strong>de</strong>r in jener nächtlichen Unterredung mit Jesus<br />

begonnen hatte, schwankte nicht. Niko<strong>de</strong>mus erzählte Johannes die Geschichte jenes<br />

Gespräches, und dieser schrieb sie zur Lehre aller Menschen nie<strong>de</strong>r. Noch heute sind diese<br />

Wahrheiten ebenso wichtig wie in jener ernsten Nacht auf <strong>de</strong>m von Finsternis eingehüllten<br />

Berg, in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r jüdische Oberste kam, um von <strong>de</strong>m einfachen Lehrer aus Galiläa <strong>de</strong>n Weg <strong>de</strong>s<br />

Lebens kennenzulernen.<br />

109


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Der Einfluß <strong>de</strong>s Täufers auf das Volk war zeitweise größer als <strong>de</strong>r seiner Herrscher, Priester<br />

o<strong>de</strong>r Fürsten. Hätte er sich als Messias ausgegeben und einen Aufstand gegen Rom angezettelt<br />

— Priester und Volk wären in Scharen seinem Ruf gefolgt. Je<strong>de</strong>s Ansinnen, auf das <strong>de</strong>r Ehrgeiz<br />

von Welteroberern anspricht, hielt Satan für Johannes <strong>de</strong>n Täufer wie eine Nötigung bereit.<br />

Aber seiner Vollmacht gewiß, wi<strong>de</strong>rstand Johannes unerschütterlich <strong>de</strong>m bestechen<strong>de</strong>n<br />

Angebot. Er lenkte die ihm zugedachte Aufmerksamkeit auf einen an<strong>de</strong>ren.<br />

Von nun an mußte er mitansehen, wie sich die Woge <strong>de</strong>r Volksgunst nicht mehr ihm,<br />

son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>m Erlöser zuwandte. <strong>Die</strong> Menge um Johannes schmolz mit je<strong>de</strong>m Tage zusammen.<br />

Als Jesus von Jerusalem in die Gegend <strong>de</strong>s Jordan kam, sammelte sich viel Volk, um ihn zu<br />

hören. <strong>Die</strong> Anzahl seiner Nachfolger wuchs beständig. Viele kamen, um sich taufen zu lassen.<br />

Da Christus selbst nicht taufte, erlaubte er seinen Jüngern, die Taufhandlung auszuführen,<br />

womit er die göttliche Sendung seines Vorläufers voll bestätigte. <strong>Die</strong> Jünger <strong>de</strong>s Johannes<br />

jedoch blickten mit Argwohn auf die wachsen<strong>de</strong> Beliebtheit Jesu. Sie brauchten auf eine<br />

Gelegenheit, sein Wirken zu kritisieren, nicht lange zu warten. Zwischen ihnen und <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n<br />

erhob sich die Frage, ob die Taufe die Reinigung <strong>de</strong>s Menschen von <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> bewerkstelligen<br />

könne. Sie behaupteten, daß sich die Jesustaufe erheblich von <strong>de</strong>r Johannestaufe unterschei<strong>de</strong>.<br />

Bald darauf gerieten sie mit <strong>de</strong>n Jüngern Jesu in eine Auseinan<strong>de</strong>rsetzung über die bei <strong>de</strong>r Taufe<br />

zu sprechen<strong>de</strong> Formel. Schließlich stritten sie Christus überhaupt das Recht zu taufen ab.<br />

<strong>Die</strong> Jünger <strong>de</strong>s Johannes kamen mit ihren Klagen zu ihm und sprachen: „Meister, <strong>de</strong>r bei dir<br />

war jenseits <strong>de</strong>s Jordans, von <strong>de</strong>m du zeugtest, siehe, <strong>de</strong>r tauft, und je<strong>de</strong>rmann kommt zu<br />

ihm.“ Johannes 3,26. Durch diese Worte brachte Satan Johannes in Versuchung. Obwohl seine<br />

Aufgabe fast been<strong>de</strong>t schien, wäre es <strong>de</strong>m Täufer doch noch möglich gewesen, das Wirken<br />

<strong>Christi</strong> zu behin<strong>de</strong>rn. Hätte er sich selbst bemitlei<strong>de</strong>t und Sorge und Enttäuschung darüber<br />

geäußert, jetzt überflüssig zu sein, dann hätte er Zwietracht gesät, Neid und Eifersucht genährt<br />

und <strong>de</strong>n Fortgang <strong>de</strong>s Evangeliums ernstlich erschwert.<br />

Johannes besaß von Natur aus die allen Menschen gemeinsamen Fehler und Schwächen,<br />

doch die Berührung durch die göttliche Liebe hatte ihn umgestaltet. Er lebte in einer<br />

Atmosphäre — unbefleckt von Selbstsucht und Ehrgeiz und völlig erhaben über die<br />

anstecken<strong>de</strong> Eifersucht. Er brachte <strong>de</strong>r Unzufrie<strong>de</strong>nheit seiner Jünger kein Verständnis<br />

entgegen, er ließ vielmehr erkennen, wie ungetrübt er seine Beziehung zum Messias auffaßte<br />

und wie freudig er <strong>de</strong>n Einen willkommen hieß, <strong>de</strong>ssen Weg er bereitet hatte. Er sprach: „Ein<br />

Mensch kann nichts nehmen, es wer<strong>de</strong> ihm <strong>de</strong>nn gegeben vom Himmel. Ihr selbst seid meine<br />

Zeugen, daß ich gesagt habe, ich sei nicht <strong>de</strong>r Christus, son<strong>de</strong>rn vor ihm her gesandt. Wer die<br />

Braut hat, <strong>de</strong>r ist <strong>de</strong>r Bräutigam; <strong>de</strong>r Freund aber <strong>de</strong>s Bräutigams steht und hört ihm zu und<br />

freut sich hoch über <strong>de</strong>s Bräutigams Stimme.“ Johannes 3,27-29. Johannes stellte sich als „<strong>de</strong>r“<br />

Freund vor, <strong>de</strong>r die Rolle eines Boten zwischen <strong>de</strong>n Verlobten — Braut und Bräutigam —<br />

spielte und <strong>de</strong>r Wegbereiter zur Hochzeit war. Sobald die Braut <strong>de</strong>m Bräutigam zugeführt war,<br />

hatte <strong>de</strong>r Freund seinen Auftrag erfüllt. Er hatte die Verbindung <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n geför<strong>de</strong>rt und freute<br />

110


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

sich ihres Glückes. Genauso sah Johannes seine Berufung darin, <strong>de</strong>m Volk <strong>de</strong>n Weg zu Jesus zu<br />

zeigen, und es be<strong>de</strong>utete ihm Freu<strong>de</strong>, Zeuge <strong>de</strong>s erfolgreichen Wirkens <strong>de</strong>s Erlösers zu sein. Er<br />

sagte: „<strong>Die</strong>se meine Freu<strong>de</strong> ist nun erfüllt. Er muß wachsen, ich aber muß<br />

abnehmen!“ Johannes 3,29.30.<br />

Johannes blickte im Glauben auf <strong>de</strong>n Heiland, so daß er <strong>de</strong>n Gipfel <strong>de</strong>r Selbstverleugnung<br />

erklimmen konnte. Er erstrebte nicht, Menschen an sich zu fesseln, son<strong>de</strong>rn er wollte ihre<br />

Gedanken höher und immer höher führen, bis sie beim Lamm Gottes Ruhe fän<strong>de</strong>n. Er selbst<br />

war nur eine Stimme, ein lauter Ruf in <strong>de</strong>r Wüste gewesen. Jetzt nahm er freudig Schweigen<br />

und Vergessenwer<strong>de</strong>n in Kauf, damit aller Augen auf das Licht <strong>de</strong>s Lebens schauten. Boten<br />

Gottes, die treu zu ihrer Berufung stehen, suchen nicht die eigene Ehre. <strong>Die</strong> Liebe zu sich selbst<br />

geht auf in <strong>de</strong>r Liebe zu Christus. Kein Konkurrenz<strong>de</strong>nken wird <strong>de</strong>n köstlichen Urgrund <strong>de</strong>r<br />

Evangeliumsarbeit beeinträchtigen. Wie Johannes <strong>de</strong>r Täufer haben sie <strong>de</strong>n Sinn ihres Wirkens<br />

erkannt und verkündigen: „Siehe, das ist Gottes Lamm, welches <strong>de</strong>r Welt Sün<strong>de</strong><br />

trägt!“ Johannes 1,29. Sie wer<strong>de</strong>n Jesus erhöhen und mit ihm die menschliche Natur. „Denn so<br />

spricht <strong>de</strong>r Hohe und Erhabene, <strong>de</strong>r ewig wohnt, <strong>de</strong>ssen Name heilig ist: Ich wohne in <strong>de</strong>r Höhe<br />

und im Heiligtum und bei <strong>de</strong>nen, die zerschlagenen und <strong>de</strong>mütigen Geistes sind, auf daß ich<br />

erquicke <strong>de</strong>n Geist <strong>de</strong>r Ge<strong>de</strong>mütigten und das Herz <strong>de</strong>r Zerschlagenen.“ Jesaja 57,15.<br />

<strong>Die</strong> von aller Selbstsucht freie Seele <strong>de</strong>s Propheten war von göttlichem Licht erfüllt. Als er<br />

sein Zeugnis zur Verherrlichung <strong>de</strong>s Erlösers ablegte, waren seine Worte gera<strong>de</strong>zu ein<br />

Gegenstück zu jenem Gespräch, das Christus selbst mit Niko<strong>de</strong>mus geführt hatte. Johannes<br />

sagte: „Der von oben her kommt, ist über alle. Wer von <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> ist, <strong>de</strong>r ist von <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> und<br />

re<strong>de</strong>t von <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>. Der vom Himmel kommt, <strong>de</strong>r ist über alle ... Denn welchen Gott gesandt<br />

hat, <strong>de</strong>r re<strong>de</strong>t Gottes Worte; <strong>de</strong>nn Gott gibt <strong>de</strong>n Geist nicht nach <strong>de</strong>m Maß.“ Johannes 3,31.34.<br />

Christus konnte von sich sagen: „Ich suche nicht meinen Willen, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>n Willen <strong>de</strong>s, <strong>de</strong>r<br />

mich gesandt hat.“ Johannes 5,30. Ihm wird erklärt: „Du hast geliebt die Gerechtigkeit und<br />

gehaßt die Ungerechtigkeit; darum hat dich, o Gott, gesalbt <strong>de</strong>in Gott mit <strong>de</strong>m Öl <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong><br />

wie keinen an<strong>de</strong>rn neben dir.“ Hebräer 1,9. Der Vater „gibt <strong>de</strong>n Geist nicht nach <strong>de</strong>m<br />

Maß“. Johannes 3,34.<br />

Genauso verhält es sich mit <strong>de</strong>n Nachfolgern <strong>Christi</strong>. Wir können das Licht <strong>de</strong>s Himmels nur<br />

in <strong>de</strong>m Maße empfangen, in <strong>de</strong>m wir bereit sind, unserem Ich zu entsagen. Wir können we<strong>de</strong>r<br />

das Wesen Gottes erkennen noch Christus im Glauben annehmen — es sei <strong>de</strong>nn, wir „nehmen<br />

gefangen alle Gedanken unter <strong>de</strong>n Gehorsam <strong>Christi</strong>“. 2.Korinther 10,5. Wer dies tut, erhält <strong>de</strong>n<br />

Heiligen Geist in reichem Maße. In Christus „wohnt die ganze Fülle <strong>de</strong>r Gottheit leibhaftig, und<br />

ihr habt diese Fülle in ihm“. Kolosser 2,9.10. <strong>Die</strong> Jünger <strong>de</strong>s Johannes hatten erklärt, daß<br />

je<strong>de</strong>rmann zu Christus komme — aber Johannes sah klarer, er urteilte: „Sein Zeugnis nimmt<br />

niemand an.“ Johannes 3,32. So wenige waren <strong>de</strong>mnach bereit, Jesus als <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>r Heiland<br />

anzunehmen. „Wer es aber annimmt, <strong>de</strong>r besiegelt‘s,daß Gott wahrhaftig ist.“ Johannes 3,33.<br />

„Wer an <strong>de</strong>n Sohn glaubt, <strong>de</strong>r hat das ewige Leben.“ Johannes 3,36. Der Streit ist müßig, ob die<br />

Christus- o<strong>de</strong>r die Johannestaufe von Sün<strong>de</strong>n reinige. Allein die Gna<strong>de</strong> <strong>Christi</strong> verleiht <strong>de</strong>r<br />

111


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Seele Leben. Ohne Christus ist die Taufe wie je<strong>de</strong> an<strong>de</strong>re religiöse Handlung eine wertlose<br />

Form. „Wer <strong>de</strong>m Sohn nicht glaubt, <strong>de</strong>r wird das Leben nicht sehen.“ Johannes 3,36.<br />

Der Erfolg <strong>de</strong>s Wirkens <strong>Christi</strong>, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Täufer mit solcher Freu<strong>de</strong> anerkannte, wur<strong>de</strong> auch<br />

<strong>de</strong>n Behör<strong>de</strong>n in Jerusalem berichtet. Priester und Rabbiner waren auf <strong>de</strong>n Einfluß <strong>de</strong>s Johannes<br />

eifersüchtig gewesen, <strong>de</strong>nn sie mußten mitansehen, wie das Volk die Synagogen verließ und in<br />

die Wüste strömte. Aber hier war einer, <strong>de</strong>r mit noch größerer Macht die Massen anzog. <strong>Die</strong>se<br />

Obersten in Israel waren nicht willens, mit Johannes zu sagen: „Er muß wachsen, ich aber muß<br />

abnehmen.“ Johannes 3,30. Mit fester Entschlossenheit machten sie sich daran, jenem Werk ein<br />

En<strong>de</strong> zu bereiten, das ihnen das Volk abspenstig machte. Jesus wußte, sie wür<strong>de</strong>n keine<br />

Anstrengung scheuen, um eine Spaltung zwischen seinen und <strong>de</strong>n Jüngern <strong>de</strong>s Johannes<br />

herbeizuführen. Ebenso spürte er, daß <strong>de</strong>r Sturm sich bereits zusammenballte, <strong>de</strong>r einen <strong>de</strong>r<br />

größten Propheten, <strong>de</strong>r je in diese Welt gesandt wor<strong>de</strong>n war, hinwegfegen wür<strong>de</strong>. Um nun<br />

keinerlei Mißverständnisse o<strong>de</strong>r Unstimmigkeiten aufkommen zu lassen, brach er unauffällig<br />

seine Tätigkeit in Judäa ab und zog sich nach Galiläa zurück. Auch wir sollten, <strong>de</strong>r Wahrheit in<br />

Treue zugetan, alles unternehmen, um aufkommen<strong>de</strong> Mißtöne und Mißverständnisse von<br />

vornherein zu vermei<strong>de</strong>n; <strong>de</strong>nn wann immer sich solche einstellen, wer<strong>de</strong>n Seelen dabei<br />

verlorengehen. Wenn Umstän<strong>de</strong> eintreten, die eine Spaltung befürchten lassen könnten, sollten<br />

wir <strong>de</strong>m Beispiel Jesu und Johannes <strong>de</strong>s Täufers folgen.<br />

Johannes war zum Reformator berufen wor<strong>de</strong>n. Deshalb befan<strong>de</strong>n sich seine Jünger in <strong>de</strong>r<br />

Gefahr, alle ihre Aufmerksamkeit ihm zu schenken in <strong>de</strong>r Annahme, daß <strong>de</strong>r Erfolg seines<br />

Werkes von seinen Bemühungen abhinge. Leicht konnten sie die Tatsache übersehen, daß er<br />

lediglich ein Werkzeug war, durch das Gott wirkte. Das Werk <strong>de</strong>s Johannes reichte jedoch für<br />

die Gründung <strong>de</strong>r christlichen Gemein<strong>de</strong> nicht aus. Nach<strong>de</strong>m er seinen Auftrag durchgeführt<br />

hatte, mußte eine an<strong>de</strong>re Arbeit vollbracht wer<strong>de</strong>n, die durch sein Zeugnis nicht<br />

zustan<strong>de</strong>kommen konnte. Das begriffen seine Jünger nicht. Als sie sahen, wie Jesus auftrat und<br />

das Werk fortführte, reagierten sie eifersüchtig und verdrossen. <strong>Die</strong> gleichen Gefahren bestehen<br />

noch heute. Gott ruft jemand in eine bestimmte Arbeit. Hat dieser sie dann seiner Befähigung<br />

entsprechen vorangetrieben, ersetzt <strong>de</strong>r Herr ihn durch an<strong>de</strong>re, um durch sie das Werk noch<br />

weiter auszu<strong>de</strong>hnen. Aber wie bei <strong>de</strong>n Jüngern <strong>de</strong>s Johannes meinen viele, daß <strong>de</strong>r Erfolg vom<br />

ersten Arbeiter abhängt. <strong>Die</strong> Aufmerksamkeit beschränkt sich auf das Menschliche statt auf das<br />

Göttliche, Eifersucht wird geweckt, und Gottes Werk nimmt Scha<strong>de</strong>n. Derjenige, <strong>de</strong>r so zu<br />

unverdienter Ehre gelangt, steht in <strong>de</strong>r Versuchung, allzuviel Selbstvertrauen zu entwickeln. Er<br />

vergegenwärtigt sich nicht seine Abhängigkeit von Gott. <strong>Die</strong> Menschen wer<strong>de</strong>n unterwiesen,<br />

sich auf ihresgleichen zu verlassen. Auf diese Weise verfallen sie <strong>de</strong>m Irrtum und geraten in<br />

Gottesferne.<br />

Damit Gottes Werk auf keinen Fall we<strong>de</strong>r Bild noch Aufschrift <strong>de</strong>s Menschen trägt, läßt <strong>de</strong>r<br />

Herr von Zeit zu Zeit verschie<strong>de</strong>ne Unternehmen wirksam wer<strong>de</strong>n, durch die sich seine<br />

Absichten am besten erfüllen. Selig sind jene, die gewillt sind, Demütigungen hinzunehmen und<br />

mit Johannes <strong>de</strong>m Täufer sprechen: „Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen.“ Johannes<br />

3,30.<br />

112


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

113


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 19: Am Jakobsbrunnen<br />

Auf <strong>de</strong>m Wege nach Galiläa gelangte Jesus auch nach Samaria. Es war mittags, als er das<br />

schöne Tal Sichem erreichte, an <strong>de</strong>ssen Eingang <strong>de</strong>r Jakobsbrunnen lag. Ermü<strong>de</strong>t von <strong>de</strong>r Reise,<br />

ließ sich <strong>de</strong>r Heiland zur Rast nie<strong>de</strong>r, während die Jünger hingingen, um Speise zu kaufen. <strong>Die</strong><br />

Ju<strong>de</strong>n und die Samariter waren bittere Fein<strong>de</strong> und vermie<strong>de</strong>n es, so gut es möglich war,<br />

miteinan<strong>de</strong>r in Berührung zu kommen. <strong>Die</strong> Rabbiner erlaubten nur für <strong>de</strong>n Notfall, in<br />

Han<strong>de</strong>lsverbindung mit <strong>de</strong>n Samaritern zu treten; je<strong>de</strong>r gesellige Umgang mit ihnen aber war<br />

verpönt. Je<strong>de</strong> Freundlichkeit o<strong>de</strong>r gefällige Handlung, selbst einen Trunk Wasser o<strong>de</strong>r ein Stück<br />

Brot, lehnte <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong> ab. Durchaus in Übereinstimmung mit dieser Sitte ihres Volkes kauften<br />

die Jünger lediglich die notwendige Speise. Weiter gingen sie nicht. Von einem Samariter<br />

irgen<strong>de</strong>ine Gunst zu erbitten o<strong>de</strong>r nach einer Wohltat zu trachten, lag selbst <strong>de</strong>n Jüngern <strong>Christi</strong><br />

fern.<br />

Jesus saß durch Hunger und Durst ermattet am Brunnen. Er hatte mit seinen Jüngern seit<br />

<strong>de</strong>m Morgen eine lange Wan<strong>de</strong>rung hinter sich, dazu schien jetzt die heiße Mittagssonne voll<br />

hernie<strong>de</strong>r. Sein Durstgefühl verstärkte sich bei <strong>de</strong>m Gedanken, daß kühles, erfrischen<strong>de</strong>s<br />

Wasser ihm so nahe und doch unerreichbar war, da er we<strong>de</strong>r Strick noch Krug hatte und <strong>de</strong>r<br />

Brunnen eine erhebliche Tiefe besaß. Er teilte das Los aller menschlichen Kreatur, und er<br />

wartete, bis jemand käme, um Wasser zu schöpfen.<br />

Da kam eine Frau aus Samaria zum Brunnen und füllte ihren Krug mit Wasser; aber sie<br />

schien Jesu Gegenwart nicht zu bemerken. Als sie sich wie<strong>de</strong>r zum Gehen wandte, bat <strong>de</strong>r<br />

Heiland sie um einen Trunk. Eine solche Bitte wür<strong>de</strong> kein Orientale abschlagen. Im<br />

Morgenland galt das Wasser als Gottesgabe. Dem durstigen Wan<strong>de</strong>rer einen Trunk zu reichen,<br />

wur<strong>de</strong> als eine so heilige Pflicht angesehen, daß die Araber <strong>de</strong>r Wüste keine Mühe scheuten, um<br />

sie zu erfüllen. <strong>Die</strong> Feindschaft, die zwischen Ju<strong>de</strong>n und Samaritern bestand, hielt jedoch die<br />

Frau davon ab, Jesus eine Freundlichkeit zu erweisen; doch <strong>de</strong>r Heiland suchte das Herz dieser<br />

Frau zu gewinnen, in<strong>de</strong>m er mit allem Feingefühl, aus göttlicher Liebe heraus, um eine Gunst<br />

bat, statt eine zu gewähren. Ein Anerbieten hätte abgeschlagen wer<strong>de</strong>n können, Zutrauen aber<br />

erweckt Zutrauen. Der König <strong>de</strong>s Himmels kam zu dieser ausgestoßenen Seele und bat um<br />

einen <strong>Die</strong>nst von ihrer Hand. Er, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Ozean wer<strong>de</strong>n ließ, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Wasser <strong>de</strong>r großen Tiefe<br />

gebot; er, <strong>de</strong>r die Quellen <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> öffnete, ruhte mü<strong>de</strong> am Jakobsbrunnen und war selbst um<br />

einen Trunk Wasser auf die Freundlichkeit einer Frem<strong>de</strong>n angewiesen.<br />

<strong>Die</strong> Frau sah, daß Jesus ein Ju<strong>de</strong> war. In ihrer Überraschung vergaß sie, <strong>de</strong>n Wunsch <strong>de</strong>s<br />

Heilan<strong>de</strong>s zu erfüllen, versuchte jedoch, <strong>de</strong>ssen Ursache zu erfahren. „Wie bittest du von mir zu<br />

trinken, <strong>de</strong>r du ein Ju<strong>de</strong> bist, und ich ein samaritisch Weib?“ Jesus antwortete: „Wenn du<br />

erkenntest die Gabe Gottes und wer <strong>de</strong>r ist, <strong>de</strong>r zu dir sagt: Gib mir zu trinken!, du bätest ihn,<br />

und er gäbe dir lebendiges Wasser.“ Johannes 4,9.10. Du wun<strong>de</strong>rst dich, daß ich dich um eine<br />

so geringe Gunst wie um einen Trunk Wasser aus <strong>de</strong>m Brunnen zu unsern Füßen bitte; hättest<br />

du mich gebeten, wür<strong>de</strong> ich dir von <strong>de</strong>m Wasser <strong>de</strong>s ewigen Lebens gegeben haben.<br />

114


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Das Weib verstand Jesu Worte nicht; aber sie fühlte <strong>de</strong>ren ernste Be<strong>de</strong>utung. Ihr leichtes,<br />

herausfor<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>s Wesen än<strong>de</strong>rte sich. Sie sagte, in <strong>de</strong>r Annahme, Jesus spräche von <strong>de</strong>m<br />

Wasser dieses Brunnens: „Herr, hast du doch nichts, womit du schöpfest, und <strong>de</strong>r Brunnen ist<br />

tief; woher hast du <strong>de</strong>nn lebendiges Wasser? Bist du mehr als unser Vater Jakob, <strong>de</strong>r uns diesen<br />

Brunnen gegeben hat? Und er hat daraus getrunken ...“ Johannes 4,11.12. Sie sah nur einen<br />

mü<strong>de</strong>n Wan<strong>de</strong>rer vor sich, verstaubt und durstig, und verglich ihn in Gedanken mit <strong>de</strong>m<br />

verehrten Patriarchen Jakob. Sie glaubte, und das ist ja ein ganz natürliches Gefühl, daß kein<br />

an<strong>de</strong>rer Brunnen <strong>de</strong>m gleichen könnte, <strong>de</strong>n die Vorväter gebaut hatten. Sie sah zurück in die<br />

Zeit <strong>de</strong>r Väter und schaute vorwärts auf das Kommen <strong>de</strong>s Messias. Und dabei stand die<br />

Hoffnung <strong>de</strong>r Väter — <strong>de</strong>r Messias — bei ihr, und sie kannte ihn nicht. Wie viele durstige<br />

Seelen befin<strong>de</strong>n sich heute in unmittelbarer Nähe <strong>de</strong>r lebendigen Quelle, <strong>de</strong>nnoch suchen sie die<br />

Lebensquelle in <strong>de</strong>r Ferne! „Sprich nicht in <strong>de</strong>inem Herzen: ‚Wer will hinauf gen Himmel<br />

fahren?‘ — nämlich Christus herabzuholen — o<strong>de</strong>r: ‚Wer will hinab in die Tiefe fahren?‘ —<br />

nämlich Christus von <strong>de</strong>n Toten heraufzuholen —, son<strong>de</strong>rn was sagt sie: ‚Das Wort ist dir nahe,<br />

in <strong>de</strong>inem Mun<strong>de</strong> und in <strong>de</strong>inem Herzen.‘ Denn so du mit <strong>de</strong>inem Mun<strong>de</strong> bekennst Jesus, daß er<br />

<strong>de</strong>r Herr sei, und glaubst in <strong>de</strong>inem Herzen, daß ihn Gott von <strong>de</strong>n Toten auferweckt hat, so wirst<br />

du gerettet.“ Römer 10,6-9.<br />

Jesus beantwortete die ihn betreffen<strong>de</strong> Frage nicht sofort, son<strong>de</strong>rn sagte mit feierlichem<br />

Ernst: „Wer von diesem Wasser trinkt, <strong>de</strong>n wird wie<strong>de</strong>r dürsten; wer aber von <strong>de</strong>m Wasser<br />

trinken wird, das ich ihm gebe, <strong>de</strong>n wird ewiglich nicht dürsten, son<strong>de</strong>rn das Wasser, das ich<br />

ihm geben wer<strong>de</strong>, das wird in ihm ein Brunnen <strong>de</strong>s Wassers wer<strong>de</strong>n, das in das ewige Leben<br />

quillt.“ Johannes 4,13.14. Wer seinen Durst an <strong>de</strong>n Quellen dieser Welt stillen will, wird immer<br />

wie<strong>de</strong>r durstig wer<strong>de</strong>n; die Menschen bleiben unbefriedigt. Es verlangt sie nach etwas, das ihre<br />

Seele beruhigt. <strong>Die</strong>ses Verlangen kann nur einer stillen. Christus ist das Bedürfnis <strong>de</strong>r Welt und<br />

die Sehnsucht <strong>de</strong>r Völker. <strong>Die</strong> göttliche Gna<strong>de</strong>, die er allein mitteilen kann, ist wie lebendiges<br />

Wasser, das die Seele belebt, reinigt und erfrischt.<br />

Jesus sagte nicht, daß ein einziger Trunk von <strong>de</strong>m Wasser <strong>de</strong>s Lebens genügte. Wer von <strong>de</strong>r<br />

Liebe Jesu schmeckt, verlangt beständig nach mehr; er sucht nichts an<strong>de</strong>res. <strong>Die</strong> Reichtümer,<br />

Ehren und Vergnügungen <strong>de</strong>r Welt haben keinerlei Anziehungskraft mehr für ihn, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r<br />

beständige Ruf seines Herzens lautet: Mehr von dir! Und er, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Seele ihre Bedürftigkeit<br />

offenbart, wartet darauf, <strong>de</strong>n geistlichen Hunger und Durst zu stillen; <strong>de</strong>nn menschliche Mittel<br />

und Wege vermögen es nicht. <strong>Die</strong> Wasserbehälter können leer wer<strong>de</strong>n, die Teiche austrocknen,<br />

aber unser Erlöser ist eine unversiegbare Quelle. Wir können trinken und immer wie<strong>de</strong>r<br />

schöpfen und fin<strong>de</strong>n beständig frischen Vorrat. Wer in Christus wohnt, hat die Quelle <strong>de</strong>s<br />

Segens in sich, hat „Brunnen <strong>de</strong>s Wassers ... das in das ewige Leben quillt“. Aus dieser Quelle<br />

kann er genügend Kraft und Gna<strong>de</strong> schöpfen, um alle Bedürfnisse zu befriedigen.<br />

Als Jesus von <strong>de</strong>m lebendigen Wasser sprach, sah ihn das Weib verwun<strong>de</strong>rt an. Er erregte<br />

ihre Teilnahme und erweckte in ihr ein Verlangen nach jener Gabe, von <strong>de</strong>r er sprach. Sie<br />

erkannte, daß er nicht das Wasser <strong>de</strong>s Jakobsbrunnens meinte; <strong>de</strong>nn davon trank sie täglich und<br />

115


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

wur<strong>de</strong> doch immer wie<strong>de</strong>r durstig. „Herr“, sagte sie zu ihm, „gib mir solches Wasser, auf daß<br />

mich nicht dürste!“<br />

Plötzlich gab <strong>de</strong>r Herr <strong>de</strong>r Unterhaltung eine an<strong>de</strong>re Wendung. Ehe diese Frau die Gabe<br />

empfangen konnte, die er ihr gern schenken wollte, mußte sie nicht nur ihre Sün<strong>de</strong> bekennen,<br />

son<strong>de</strong>rn auch ihren Heiland erkennen. Er sprach zu ihr: „Gehe hin, rufe <strong>de</strong>inen Mann und komm<br />

her!“ Sie sprach: „Ich habe keinen Mann.“ Mit dieser Antwort hoffte sie alle weiteren Fragen zu<br />

umgehen. Doch <strong>de</strong>r Heiland fuhr fort: „Du hast recht gesagt: Ich habe keinen Mann. Fünf<br />

Männer hast du gehabt, und <strong>de</strong>n du hast, <strong>de</strong>r ist nicht <strong>de</strong>in Mann; da hast du recht<br />

gesagt.“ Johannes 4,15-18.<br />

<strong>Die</strong> Samariterin zitterte. Eine geheimnisvolle Hand wen<strong>de</strong>te die Blätter ihrer<br />

Lebensgeschichte um und brachte das zum Vorschein, was sie für immer zu verbergen gehofft<br />

hatte. Wer war dieser Mann, <strong>de</strong>r die Geheimnisse ihres Lebens so genau kannte? Sie mußte<br />

zwangsläufig an die Ewigkeit <strong>de</strong>nken, an das zukünftige Gericht, da alles, was jetzt verborgen<br />

ist, offenbar wer<strong>de</strong>n wird. In diesem Bewußtsein erwachte das Gewissen. Leugnen konnte sie<br />

nicht, aber sie versuchte, diesem unangenehmen Gesprächsstoff auszuweichen. Mit großer<br />

Ehrerbietung sagte sie: „Herr, ich sehe, daß du ein Prophet bist.“ Johannes 4,19. Dann brachte<br />

sie die Re<strong>de</strong> auf religiöse Streitfragen, um ihr Gewissen zu beruhigen. Wenn dieser Mann ein<br />

Prophet war, dann konnte er ihr auch sicherlich alles erklären, was ihr bisher so strittig schien.<br />

Geduldig ließ <strong>de</strong>r Heiland <strong>de</strong>r Samariterin bei <strong>de</strong>r Führung <strong>de</strong>s Gesprächs völlig freie Hand.<br />

Inzwischen wartete er auf eine Gelegenheit, ihrem Herzen aufs neue die Wahrheit<br />

nahezubringen. „Unsere Väter haben auf diesem Berge angebetet“, sprach die samaritische<br />

Frau, „und ihr sagt, zu Jerusalem sei die Stätte, da man anbeten solle.“ Vor ihren Blicken lag<br />

<strong>de</strong>r Berg Garizim, <strong>de</strong>ssen Tempel verwüstet war. Nur <strong>de</strong>r Altar stand noch. Um <strong>de</strong>n Ort <strong>de</strong>r<br />

Anbetung hatte es zwischen Ju<strong>de</strong>n und Samaritern Streit gegeben. Einige <strong>de</strong>r samaritischen<br />

Vorfahren waren einst zu Israel gezählt wor<strong>de</strong>n; aber ihrer Sün<strong>de</strong>n wegen hatte es <strong>de</strong>r Herr<br />

zugelassen, daß sie von einem heidnischen Volk überwun<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>n. Schon viele<br />

Generationen hindurch lebten sie mit Götzenanbetern zusammen, <strong>de</strong>ren Religion ihre eigene<br />

allmählich entstellt hatte. Sie behaupteten allerdings, daß ihre Götzen sie nur an <strong>de</strong>n lebendigen<br />

Gott, <strong>de</strong>n Herrscher <strong>de</strong>s ganzen Weltalls, erinnern sollten, nichts<strong>de</strong>stoweniger waren sie soweit<br />

gekommen, sich vor Götzenbil<strong>de</strong>rn zu beugen.<br />

Als <strong>de</strong>r Tempel in Jerusalem zur Zeit Esras wie<strong>de</strong>r gebaut wur<strong>de</strong>, wollten sich die Samariter<br />

<strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n bei seinem Aufbau anschließen. <strong>Die</strong>ses Vorrecht wur<strong>de</strong> ihnen aber verweigert, und es<br />

entstand bittere Feindschaft zwischen bei<strong>de</strong>n Völkern. <strong>Die</strong> Samariter bauten sich <strong>de</strong>shalb ihren<br />

Tempel auf <strong>de</strong>m Berge Garizim. Hier beteten sie Gott an in Übereinstimmung mit <strong>de</strong>n<br />

mosaischen Gebräuchen, obgleich sie <strong>de</strong>n Götzendienst nicht völlig aufgegeben hatten. Aber<br />

das Unglück verfolgte sie. Ihr Tempel wur<strong>de</strong> von Fein<strong>de</strong>n zerstört; sie schienen unter einem<br />

Fluch zu stehen. Dennoch hielten sie an ihren Überlieferungen und an ihrer Form <strong>de</strong>s<br />

Gottesdienstes fest. Sie wollten <strong>de</strong>n Tempel zu Jerusalem nicht als Haus Gottes anerkennen und<br />

auch nicht zugeben, daß die jüdische Religion <strong>de</strong>r ihren überlegen war.<br />

116


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Auf die Frage <strong>de</strong>r Samariterin antwortete Jesus: „Glaube mir, es kommt die Zeit, daß ihr<br />

we<strong>de</strong>r auf diesem Berge noch zu Jerusalem wer<strong>de</strong>t <strong>de</strong>n Vater anbeten. Ihr wisset nicht, was ihr<br />

anbetet; wir wissen aber, was wir anbeten; <strong>de</strong>nn das Heil kommt von <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n.“ Johannes<br />

4,21.22. Jesus hatte damit bewiesen, daß er frei war von <strong>de</strong>m jüdischen Vorurteil gegen die<br />

Samariter. Er versuchte sogar das Vorurteil <strong>de</strong>r Samariterin gegen die Ju<strong>de</strong>n zu beseitigen.<br />

Während er darauf verwies, daß <strong>de</strong>r Glaube <strong>de</strong>r Samariter durch <strong>de</strong>n Götzendienst verdorben<br />

war, erklärte er, daß die großen Wahrheiten über die Erlösung <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n anvertraut seien und<br />

daß aus ihrem Volk auch <strong>de</strong>r Messias kommen sollte. In <strong>de</strong>n heiligen Schriften hatten sie eine<br />

klare Darstellung vom Wesen Gottes und von <strong>de</strong>n Grundsätzen seiner Regierung. Jesus rechnete<br />

sich selbst zu <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nen Gott die Erkenntnis über seine Person gegeben hatte.<br />

Er wünschte die Gedanken seiner Zuhörerin über alles Äußere und über alle Streitfragen<br />

hinauszuheben. „Es kommt die Zeit und ist schon jetzt, daß die wahrhaftigen Anbeter wer<strong>de</strong>n<br />

<strong>de</strong>n Vater anbeten im Geist und in <strong>de</strong>r Wahrheit; <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Vater will haben, die ihn also<br />

anbeten. Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in <strong>de</strong>r Wahrheit<br />

anbeten.“ Johannes 4,23.24.<br />

Mit diesen Worten ist die gleiche Wahrheit ausgesprochen, die Jesus schon Niko<strong>de</strong>mus<br />

offenbart hatte, als er sagte: „Es sei <strong>de</strong>nn, daß jemand von neuem geboren wer<strong>de</strong>, so kann er das<br />

Reich Gottes nicht sehen.“ Johannes 3,3. Menschen wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>m Himmel nicht nähergebracht,<br />

in<strong>de</strong>m sie einen heiligen Berg o<strong>de</strong>r einen geweihten Tempel aufsuchen. <strong>Die</strong> Religion ist nicht<br />

auf lediglich äußere Formen und Handlungen beschränkt. <strong>Die</strong> Religion, die von Gott kommt, ist<br />

auch die einzige Religion, die zu Gott führt. Um ihm in <strong>de</strong>r richtigen Weise zu dienen, müssen<br />

wir durch <strong>de</strong>n Geist Gottes neu geboren wer<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong>ser wird unsere Herzen reinigen und<br />

unseren Sinn erneuern und uns die Fähigkeit schenken, Gott zu erkennen und zu lieben. Er wird<br />

in uns die Bereitschaft wecken, allen seinen Anfor<strong>de</strong>rungen gehorsam zu sein. <strong>Die</strong>s allein ist<br />

wahre Anbetung. Sie ist die Frucht <strong>de</strong>r Wirksamkeit <strong>de</strong>s Geistes Gottes. Je<strong>de</strong>s aufrichtige Gebet<br />

ist durch <strong>de</strong>n Geist eingegeben, und ein solches Gebet ist Gott angenehm. Wo immer eine Seele<br />

nach Gott verlangt, dort bekun<strong>de</strong>t sich das Wirken <strong>de</strong>s Geistes, und Gott wird sich jener Seele<br />

offenbaren. Nach solchen Anbetern sucht er. Er wartet darauf, sie anzunehmen und sie zu<br />

seinen Söhnen und Töchtern zu machen.<br />

Jesu Worte machten schon während ihrer Unterhaltung großen Eindruck auf die Samariterin.<br />

We<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>n Priestern ihres Volkes noch von <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n hatte sie jemals solche Gedanken<br />

gehört. Als <strong>de</strong>r Heiland ihr vergangenes Leben vor ihr enthüllt hatte, war sie sich ihres großen<br />

Mangels bewußt gewor<strong>de</strong>n. Sie erkannte <strong>de</strong>n Durst ihrer Seele, <strong>de</strong>n die Wasser <strong>de</strong>s Brunnens<br />

von Sichar nimmer zu stillen vermochten. Sie war bisher nie mit etwas in Berührung<br />

gekommen, das ihr Verlangen nach Höherem geweckt hatte. Jesus hatte sie überzeugt, daß er<br />

ihr Leben genau kannte. Dennoch fühlte sie, daß er ihr Freund war, <strong>de</strong>r Mitleid mit ihr hatte und<br />

<strong>de</strong>r sie liebte. Obgleich sie sich durch seine reine Gegenwart in ihrer Sün<strong>de</strong> verdammt fühlte,<br />

hatte er kein Wort <strong>de</strong>s Ta<strong>de</strong>ls gesprochen, son<strong>de</strong>rn ihr von seiner Gna<strong>de</strong> erzählt, die ihre Seele<br />

erneuern könnte. Sie wur<strong>de</strong> von seinem Charakter überzeugt, und sie fragte sich, ob dieser<br />

Mann nicht <strong>de</strong>r langersehnte Messias sei. Sie sagte zu ihm: „Ich weiß, daß <strong>de</strong>r Messias kommt,<br />

117


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

<strong>de</strong>r da Christus heißt. Wenn <strong>de</strong>rselbe kommen wird, so wird er‘s uns alles verkündigen. Jesus<br />

spricht zu ihr: Ich bin‘s, <strong>de</strong>r mit dir re<strong>de</strong>t.“ Johannes 4,25.26.<br />

Als sie diese Worte hörte, glaubte sie in ihrem Herzen; sie nahm die wun<strong>de</strong>rbare<br />

Verkündigung aus <strong>de</strong>m Mun<strong>de</strong> <strong>de</strong>s göttlichen Lehrers an. Das Gemüt dieser Frau war<br />

empfänglich; sie war bereit, diese herrliche Offenbarung zu erfassen. <strong>Die</strong> heiligen Schriften<br />

waren ihr lieb und wert, und <strong>de</strong>r Heilige Geist hatte ihre Seele auf eine größere Erkenntnis<br />

vorbereitet. Sie kannte die Verheißung <strong>de</strong>s Alten Testamentes: „Einen Propheten wie mich wird<br />

dir <strong>de</strong>r Herr, <strong>de</strong>in Gott, erwecken aus dir und aus <strong>de</strong>inen Brü<strong>de</strong>rn; <strong>de</strong>m sollt ihr<br />

gehorchen.“ 5.Mose 18,15. Sie hatte sich immer schon danach gesehnt, diese Verheißung zu<br />

verstehen. Nun fiel ein Lichtstrahl in ihre Seele. Das Wasser <strong>de</strong>s Lebens — das geistliche Leben<br />

—, das Christus je<strong>de</strong>r dürsten<strong>de</strong>n Seele gibt, war ihrem Herzen geschenkt wor<strong>de</strong>n. Gottes Geist<br />

wirkte an ihr. <strong>Die</strong> schlichte Darstellung, die Jesus dieser Frau gab, hätte er <strong>de</strong>n selbstgerechten<br />

Ju<strong>de</strong>n nicht geben können. Christus war zurückhalten<strong>de</strong>r, wenn er mit ihnen sprach. Was <strong>de</strong>n<br />

Ju<strong>de</strong>n vorenthalten wur<strong>de</strong>, was auch die Jünger mit Zurückhaltung behan<strong>de</strong>ln sollten, offenbarte<br />

er dieser Samariterin. Jesus sah, daß sie diese Erkenntnis benutzen wür<strong>de</strong>, an<strong>de</strong>re an seiner<br />

Gna<strong>de</strong> teilhaben zu lassen.<br />

<strong>Die</strong> von ihrem Auftrag zurückkommen<strong>de</strong>n Jünger waren überrascht, ihren Meister im<br />

Gespräch mit <strong>de</strong>r Samariterin zu fin<strong>de</strong>n. Er hatte <strong>de</strong>n erfrischen<strong>de</strong>n und so sehr begehrten Trunk<br />

nicht genommen und fand auch nicht die Zeit, die von <strong>de</strong>n Jüngern gebrachte Speise zu sich zu<br />

nehmen. Nach <strong>de</strong>m Fortgang <strong>de</strong>r Frau baten die Jünger ihn, zu essen. Der Heiland aber saß still<br />

und nach<strong>de</strong>nklich; sein Angesicht strahlte von einem inneren Licht, und sie fürchteten, seine<br />

Gemeinschaft mit Gott zu stören. Sie wußten, daß er hungrig und matt war, und sie fühlten sich<br />

verpflichtet, ihn an seine leiblichen Bedürfnisse zu erinnern. Jesus anerkannte ihre liebevolle<br />

Fürsorge und sagte: „Ich habe eine Speise zu essen, von <strong>de</strong>r ihr nicht wisset.“<br />

Verwun<strong>de</strong>rt fragten sich die Jünger, wer ihm Speise gebracht haben konnte. Doch <strong>de</strong>r Herr<br />

erklärte ihnen: „Meine Speise ist die, daß ich tue <strong>de</strong>n Willen <strong>de</strong>s, <strong>de</strong>r mich gesandt hat, und<br />

vollen<strong>de</strong> sein Werk.“ Johannes 4,34. Jesus freute sich, daß seine Worte das Gewissen <strong>de</strong>r<br />

Samariterin geweckt hatten. Er sah, daß diese Seele von <strong>de</strong>m Wasser <strong>de</strong>s Lebens gläubig trank,<br />

und sein eigener Hunger und Durst waren gestillt. <strong>Die</strong> Erfüllung seiner Aufgabe, um<br />

<strong>de</strong>rentwillen er <strong>de</strong>n Himmel verlassen hatte, stärkte ihn für seine Arbeit und erhob ihn über die<br />

menschlichen Bedürfnisse. Es war ihm wichtiger, einer hungern<strong>de</strong>n und dürsten<strong>de</strong>n Seele mit<br />

<strong>de</strong>r Wahrheit zu dienen, als selbst leibliche Nahrung zu genießen. Wohlzutun war sein Leben!<br />

Unser Heiland dürstet danach, angenommen zu wer<strong>de</strong>n; er hungert nach <strong>de</strong>m Mitgefühl und<br />

<strong>de</strong>r Liebe <strong>de</strong>rer, die er mit seinem eigenen Blut erkauft hat. Mit innigem Verlangen sehnt er sich<br />

danach, daß sie zu ihm kommen und das Wasser <strong>de</strong>s Lebens empfangen. Wie eine Mutter auf<br />

das erste erkennen<strong>de</strong> Lächeln ihres Kin<strong>de</strong>s achtet, das dadurch sein erwachen<strong>de</strong>s Verständnis<br />

anzeigt, so wartet Christus auf <strong>de</strong>n Ausdruck dankbarer Liebe, <strong>de</strong>r ihm zeigt, daß das geistliche<br />

Leben in <strong>de</strong>n Herzen <strong>de</strong>r Menschen erwacht ist.<br />

118


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

<strong>Die</strong> Worte Jesu hatten die Samariterin mit Freu<strong>de</strong> erfüllt. <strong>Die</strong> wun<strong>de</strong>rbare Offenbarung<br />

überwältigte sie fast. Sie ließ ihren Krug stehen und eilte in die Stadt, um <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn diese<br />

Botschaft zu bringen. Jesus wußte, warum sie gegangen war; <strong>de</strong>r zurückgelassene Wasserkrug<br />

sprach unmißverständlich von <strong>de</strong>r Wirkung seiner Worte. Das samaritische Weib verlangte<br />

nach <strong>de</strong>m lebendigen Wasser. Sie vergaß <strong>de</strong>n Zweck ihres Kommens, vergaß auch <strong>de</strong>s<br />

Heilan<strong>de</strong>s Durst, <strong>de</strong>n sie doch stillen wollte. Sie eilte mit freudig erregtem Herzen in die Stadt<br />

zurück, um <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn das köstliche Licht mitzuteilen, das sie empfangen hatte.<br />

„Kommt, sehet einen Menschen, <strong>de</strong>r mir gesagt hat alles, was ich getan habe, ob er nicht <strong>de</strong>r<br />

Christus sei!“ So rief sie <strong>de</strong>n Leuten in <strong>de</strong>r Stadt zu. Und ihre Worte machten tiefen Eindruck;<br />

die Gesichter hellten sich auf und bekamen einen an<strong>de</strong>ren Ausdruck, ihre ganze Erscheinung<br />

verän<strong>de</strong>rte sich. Sie verlangten danach, Jesus zu sehen, und sie gingen „aus <strong>de</strong>r Stadt und<br />

kamen zu ihm“. Johannes 4,29.30.<br />

Jesus saß noch auf <strong>de</strong>m Brunnenrand; sein Blick wan<strong>de</strong>rte über die sich vor ihm<br />

ausbreiten<strong>de</strong>n reifen<strong>de</strong>n Kornfel<strong>de</strong>r, auf <strong>de</strong>nen die leuchten<strong>de</strong> Sonne lag. Er machte seine<br />

Jünger auf dieses Bild aufmerksam und knüpfte eine Belehrung daran: „Saget ihr nicht: Es sind<br />

noch vier Monate, dann kommt die Ernte? Siehe, ich sage euch: Hebet eure Augen auf und<br />

sehet in das Feld, <strong>de</strong>nn es ist weiß zur Ernte.“ Johannes 4,35. Während er so sprach, blickte er<br />

auf die Schar, die raschen Schrittes <strong>de</strong>m Brunnen zueilte. Es waren noch vier Monate bis zur<br />

Erntezeit <strong>de</strong>s Getrei<strong>de</strong>s; aber hier war schon eine Ernte reif für <strong>de</strong>n Schnitter.<br />

„Schon empfängt Lohn“, sagte er, „<strong>de</strong>r da schnei<strong>de</strong>t, und sammelt Frucht zum ewigen<br />

Leben, auf daß sich miteinan<strong>de</strong>r freuen, <strong>de</strong>r da sät und <strong>de</strong>r da schnei<strong>de</strong>t. Denn hier ist <strong>de</strong>r<br />

Spruch wahr: <strong>Die</strong>ser sät, <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re schnei<strong>de</strong>t.“ Johannes 4,36.37. Hiermit kennzeichnete Jesus<br />

die hohe Aufgabe, die die Verkündiger <strong>de</strong>s Evangeliums Gott gegenüber zu erfüllen haben. Sie<br />

sollen seine lebendigen Werkzeuge sein; <strong>de</strong>nn Gott verlangt ihren persönlichen <strong>Die</strong>nst. Ob wir<br />

nun säen o<strong>de</strong>r ernten, wir arbeiten für <strong>de</strong>n Herrn. Einer streut <strong>de</strong>n Samen aus, <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re birgt<br />

die Ernte; bei<strong>de</strong> aber empfangen ihren Lohn. Sie erfreuen sich gemeinsam <strong>de</strong>s Erfolges ihrer<br />

Arbeit.<br />

Jesus sprach zu <strong>de</strong>n Jüngern: „Ich habe euch gesandt, zu schnei<strong>de</strong>n, was ihr nicht gearbeitet<br />

habt; an<strong>de</strong>re haben gearbeitet, und ihr seid in ihre Arbeit gekommen.“ Johannes 4,38. Der<br />

Heiland schaute hier schon voraus auf die große Ernte am Pfingsttage. <strong>Die</strong> Jünger sollten dies<br />

keineswegs als Ergebnis ihrer eigenen Bemühungen betrachten. Sie setzten lediglich die Arbeit<br />

an<strong>de</strong>rer fort. Seit <strong>de</strong>m Fall Adams hatte Christus fortwährend die Saat <strong>de</strong>s Wortes an seine<br />

erwählten <strong>Die</strong>ner weitergegeben, damit sie in die Herzen <strong>de</strong>r Menschen gesenkt wür<strong>de</strong>. Und ein<br />

unsichtbarer Mittler, ja eine allgegenwärtige Macht war in aller Stille, aber wirksam tätig<br />

gewesen, um die Ernte hervorzubringen. Der Tau, <strong>de</strong>r Regen und <strong>de</strong>r Sonnenschein <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong><br />

Gottes waren gegeben wor<strong>de</strong>n, um die ausgestreute Saat zu erfrischen und zu hegen. Christus<br />

war nun im Begriff, die Saat mit seinem eigenen Blut zu tränken. Seinen Jüngern wur<strong>de</strong> das<br />

Vorrecht eingeräumt, mit Gott zusammenzuarbeiten. Sie waren Mitarbeiter <strong>Christi</strong> und darin<br />

Nachfolger <strong>de</strong>r heiligen Männer von alters her. Durch die Ausgießung <strong>de</strong>s Heiligen Geistes zu<br />

119


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Pfingsten wur<strong>de</strong>n Tausen<strong>de</strong> an einem Tag gläubig. Das war das Ergebnis <strong>de</strong>r Aussaat <strong>Christi</strong>,<br />

die Ernte seines Wirkens.<br />

Jesu Worte, die er zur Samariterin am Brunnen gesprochen hatte, waren auf fruchtbaren<br />

Bo<strong>de</strong>n gefallen. Wie schnell reifte die Ernte heran! <strong>Die</strong> Samariter kamen, hörten Jesus und<br />

glaubten an ihn. Sie scharten sich um ihn, überhäuften ihn mit Fragen und nahmen seine<br />

Erklärungen über alles, was ihnen bisher unverständlich gewesen war, aufmerksam entgegen.<br />

Während sie ihm lauschten, begann ihre Unruhe zu weichen. Sie waren gleich einem Volke, das<br />

in großer Dunkelheit einem plötzlich aufleuchten<strong>de</strong>n Lichte nachging, bis es <strong>de</strong>n hellen Tag<br />

fand. Sie wur<strong>de</strong>n nicht mü<strong>de</strong>, <strong>de</strong>m Herrn zuzuhören, und wollten sich nicht mit einem kurzen<br />

Gespräch begnügen. Sie wollten mehr hören und wünschten auch, daß ihre Freun<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Stadt<br />

diesen wun<strong>de</strong>rbaren Lehrer hören möchten. So lu<strong>de</strong>n sie <strong>de</strong>n Herrn ein, mit ihnen zu kommen<br />

und in ihrer Stadt zu bleiben. Zwei Tage weilte Jesus in Samarien, und viele Samariter wur<strong>de</strong>n<br />

gläubig.<br />

<strong>Die</strong> Pharisäer verachteten die Einfachheit Jesu. Sie leugneten seine Wun<strong>de</strong>r, for<strong>de</strong>rten aber<br />

ein Zeichen, daß er <strong>de</strong>r Sohn Gottes sei. <strong>Die</strong> Samariter for<strong>de</strong>rten kein Zeichen. Jesus wirkte<br />

auch keine Wun<strong>de</strong>r unter ihnen — nur <strong>de</strong>r Samariterin hatte er am Brunnen das Geheimnis ihres<br />

Lebens offenbart —, und doch erkannten viele in ihm ihren Heiland. In großer Freu<strong>de</strong> sagten sie<br />

zum Weibe: „Wir glauben hinfort nicht um <strong>de</strong>iner Re<strong>de</strong> willen; wir haben selber gehört und<br />

erkannt, daß dieser ist wahrlich <strong>de</strong>r Welt Heiland.“ Johannes 4,42.<br />

<strong>Die</strong> Samariter glaubten, daß <strong>de</strong>r Messias als Erlöser nicht nur <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r ganzen<br />

Welt gekommen war. Der Heilige Geist hatte ihn durch Mose als einen von Gott gesandten<br />

Propheten vorausgesagt. Jakob hatte erklärt, daß diesem alle Völker anhangen wer<strong>de</strong>n, und<br />

Abraham ließ erkennen, daß in jenem Einen alle Völker gesegnet wer<strong>de</strong>n sollen. 1.Mose<br />

49,10; 1.Mose 22,18; 1.Mose 12,3; 1.Mose 26,4; Galater 3,16. Auf diese Schriften grün<strong>de</strong>ten<br />

die Samariter ihren Glauben an <strong>de</strong>n Messias. <strong>Die</strong> Tatsache, daß die Ju<strong>de</strong>n die späteren<br />

Propheten miß<strong>de</strong>utet haben, in<strong>de</strong>m sie <strong>de</strong>m ersten Kommen Jesu allen Glanz und alle<br />

Herrlichkeit seines zweiten Kommens zuschrieben, hatte die Samariter veranlaßt, alle heiligen<br />

Schriften bis auf die von Mose gegebenen beiseite zu legen. Doch als <strong>de</strong>r Heiland diese<br />

falschen Auslegungen hinwegwischte, nahmen viele die späteren Weissagungen an und auch<br />

die Worte von Christus selbst, die sich auf das Reich Gottes bezogen.<br />

Jesus hatte begonnen, die Schei<strong>de</strong>wand zwischen Ju<strong>de</strong>n und Hei<strong>de</strong>n nie<strong>de</strong>rzureißen und <strong>de</strong>r<br />

ganzen Welt die Heilsbotschaft zu verkün<strong>de</strong>n. Obgleich er ein Ju<strong>de</strong> war, verkehrte er<br />

unbefangen mit <strong>de</strong>n Samaritern und beachtete nicht im geringsten <strong>de</strong>n pharisäischen Brauch<br />

seines Volkes. Trotz aller Vorurteile nahm er die Gastfreundschaft dieser verachteten Menschen<br />

an. Er schlief unter ihrem Dach, aß mit ihnen an ihrem Tisch die Speise, die ihre Hän<strong>de</strong> bereitet<br />

und aufgetragen hatten, lehrte auf ihren Straßen und behan<strong>de</strong>lte sie äußerst freundlich und<br />

höflich.<br />

Im Tempel zu Jerusalem trennte eine niedrige Mauer <strong>de</strong>n äußeren Hof von allen an<strong>de</strong>ren<br />

Teilen <strong>de</strong>r geweihten Stätte. An dieser Mauer stand in mehreren Sprachen zu lesen, daß es nur<br />

120


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

<strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n erlaubt sei, diese Abgrenzung zu überschreiten. Wür<strong>de</strong> ein Hei<strong>de</strong> es gewagt haben,<br />

<strong>de</strong>n umgrenzten Bereich zu betreten, hätte er <strong>de</strong>n Tempel entweiht und diesen Frevel mit<br />

seinem Leben bezahlen müssen. Doch Jesus, <strong>de</strong>r Schöpfer <strong>de</strong>s Tempels und zugleich auch<br />

<strong>de</strong>ssen <strong>Die</strong>ner, zog die Hei<strong>de</strong>n zu sich durch das Band seiner Zuneigung, während seine<br />

göttliche Gna<strong>de</strong> ihnen das Heil brachte, das die Ju<strong>de</strong>n verwarfen.<br />

Der Aufenthalt in Samaria sollte für seine Jünger, die noch unter <strong>de</strong>m Einfluß <strong>de</strong>s jüdischen<br />

Fanatismus stan<strong>de</strong>n, ein beson<strong>de</strong>rer Segen sein. Sie waren <strong>de</strong>r Auffassung, daß die Treue zum<br />

eigenen Volk von ihnen verlangte, Feindschaft gegen die Samariter zu hegen. Sie wun<strong>de</strong>rten<br />

sich <strong>de</strong>shalb über das Verhalten Jesu. Sie konnten es jedoch nicht ablehnen, seinem Beispiel zu<br />

folgen, und während <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Tage in Samaria trug ihre Loyalität ihm gegenüber dazu bei,<br />

daß sie mit ihren Vorurteilen zurückhielten; <strong>de</strong>nnoch waren sie in ihrem Herzen unversöhnt.<br />

Nur langsam lernten sie, daß ihre Verachtung und ihre Feindseligkeit <strong>de</strong>r Barmherzigkeit und<br />

<strong>de</strong>m Mitgefühl weichen mußten. Doch nach <strong>de</strong>r Himmelfahrt <strong>de</strong>s Herrn sahen sie seine Lehren<br />

unter völlig neuem Vorzeichen. Nach <strong>de</strong>r Ausgießung <strong>de</strong>s Heiligen Geistes erinnerten sie sich<br />

<strong>de</strong>r Blicke <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s, seiner Worte, seines achtungsvollen und besorgten Verhaltens<br />

gegenüber diesen verachteten Frem<strong>de</strong>n. Als Petrus nach Samaria ging, das Wort zu<br />

verkündigen, war sein Wirken von <strong>de</strong>m gleichen Geist erfüllt. Als Johannes nach Ephesus und<br />

Smyrna gerufen wur<strong>de</strong>, erinnerte er sich <strong>de</strong>r Erfahrung am Brunnen zu Sichem, und er war<br />

voller Dankbarkeit gegenüber <strong>de</strong>m göttlichen Lehrer, <strong>de</strong>r, die Schwierigkeiten, die ihnen<br />

begegnen wür<strong>de</strong>n, voraussehend, ihnen durch sein eigenes Vorbild geholfen hatte.<br />

Der Heiland tut heute noch das gleiche wie damals, als er <strong>de</strong>r Samariterin das Wasser <strong>de</strong>s<br />

Lebens anbot. Jene, die sich seine Nachfolger nennen, mögen die Ausgestoßenen verachten und<br />

mei<strong>de</strong>n; aber keinerlei Umstän<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Herkunft o<strong>de</strong>r Nationalität, keinerlei Lebensumstän<strong>de</strong><br />

können <strong>de</strong>n Menschenkin<strong>de</strong>rn seine Liebe entziehen. Einer je<strong>de</strong>n Seele, wie sündig sie auch<br />

sein mag, sagt <strong>de</strong>r Herr: Hättest du mich gebeten, ich wür<strong>de</strong> dir lebendiges Wasser gegeben<br />

haben. <strong>Die</strong> Einladung <strong>de</strong>s Evangeliums soll nicht beschränkt o<strong>de</strong>r nur wenigen Auserwählten<br />

mitgeteilt wer<strong>de</strong>n, die uns durch seine Annahme zu ehren vermeinen. <strong>Die</strong> Botschaft soll allen<br />

Menschen zuteil wer<strong>de</strong>n. Wo immer Herzen für die Wahrheit offen stehen, ist Christus bereit,<br />

sie zu belehren. Er offenbart ihnen <strong>de</strong>n Vater und die Art <strong>de</strong>r Anbetung, die <strong>de</strong>m Herrn, <strong>de</strong>r in<br />

aller Menschen Herzen liest, angenehm ist. Zu ihnen spricht er nicht in Gleichnissen; zu ihnen<br />

spricht er wie damals zur Samariterin am Brunnen bei Sichar: „Ich bin‘s, <strong>de</strong>r mit dir re<strong>de</strong>t.“<br />

Als Jesus sich am Jakobsbrunnen nie<strong>de</strong>rließ, um zu ruhen, kam er aus Judäa, wo sein Wirken<br />

nur wenig Frucht gebracht hatte. Er war von <strong>de</strong>n Priestern und Rabbinern verworfen wor<strong>de</strong>n,<br />

und selbst jene, die seine Jünger sein wollten, hatten seinen göttlichen Charakter nicht erkannt.<br />

Obgleich <strong>de</strong>r Heiland mü<strong>de</strong> und matt war, benutzte er doch die Gelegenheit, mit <strong>de</strong>r Samariterin<br />

zu re<strong>de</strong>n, einer Frem<strong>de</strong>n und Abtrünnigen von Israel, die dazu in offenkundiger Sün<strong>de</strong> lebte.<br />

Der Heiland wartete nicht, bis sich eine ganze Schar von Zuhörern versammelt hatte. Oft<br />

begann er auch vor nur wenigen zu lehren; doch die Vorübergehen<strong>de</strong>n blieben einer nach <strong>de</strong>m<br />

an<strong>de</strong>rn stehen und hörten zu, bis eine große Menge verwun<strong>de</strong>rt und ehrfürchtig zugleich <strong>de</strong>n<br />

Worten <strong>de</strong>s göttlichen Lehrers lauschte. Der <strong>Die</strong>ner Gottes darf nicht glauben, zu wenigen<br />

121


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Menschen nicht mit <strong>de</strong>mselben Eifer re<strong>de</strong>n zu können wie zu einer großen Versammlung. Es<br />

mag nur eine Seele die Botschaft hören; doch wer kann sagen, wie weitreichend ihr Einfluß sein<br />

wird? Selbst die Jünger hielten es nicht für lohnend, daß sich <strong>de</strong>r Heiland mit <strong>de</strong>r Samariterin<br />

beschäftigte. Jesus aber sprach mit dieser Frau ernster und eifriger als mit Königen, Räten o<strong>de</strong>r<br />

Hohenpriestern. <strong>Die</strong> Lehren, die er ihr mitteilte, sind bis an die entferntesten En<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong><br />

gedrungen.<br />

Sobald die Samariterin <strong>de</strong>n Heiland gefun<strong>de</strong>n hatte, brachte sie an<strong>de</strong>re Seelen zu ihm. Sie<br />

war in ihrer Missionsarbeit wirksamer als die Jünger <strong>de</strong>s Herrn. <strong>Die</strong>se erblickten in Samaria<br />

kein versprechen<strong>de</strong>s Arbeitsfeld, son<strong>de</strong>rn ihre Gedanken waren auf eine große Aufgabe<br />

gerichtet, die in <strong>de</strong>r Zukunft geschehen sollte. Darum sahen sie auch nicht die Ernte, die um sie<br />

herum zu bergen war. Durch das samaritische Weib, das sie verachteten, waren die Einwohner<br />

einer ganzen Stadt zum Heiland gekommen, um von ihm zu hören; sie brachte das empfangene<br />

Licht unverzüglich ihren Landsleuten. <strong>Die</strong>se Frau versinnbil<strong>de</strong>t das Wirken <strong>de</strong>s praktischen<br />

Glaubens. Je<strong>de</strong>r wahre Jünger wird für das Reich Gottes geboren, um ein Missionar zu sein.<br />

Wer von <strong>de</strong>m lebendigen Wasser trinkt, wird selbst eine Quelle <strong>de</strong>s Lebens; <strong>de</strong>r Empfänger<br />

wird zum Geber. <strong>Die</strong> Gna<strong>de</strong> <strong>Christi</strong> in <strong>de</strong>r Seele ist gleich einer Quelle in <strong>de</strong>r Wüste, die<br />

hervorspru<strong>de</strong>lt, um alle zu erfrischen, und die in allen, die <strong>de</strong>m Verschmachten nahe sind, das<br />

Verlangen nach <strong>de</strong>m Lebenswasser weckt.<br />

122


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

<strong>Die</strong> Galiläer, die vom Passahfest zurückkehrten, berichteten über die wun<strong>de</strong>rbaren Werke<br />

Jesu. Das Urteil, das die Wür<strong>de</strong>nträger in Jerusalem über seine Taten fällten, bereitete ihm in<br />

Galiläa <strong>de</strong>n Weg. Viele Menschen beklagten <strong>de</strong>n Mißbrauch, <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m Tempel getrieben<br />

wur<strong>de</strong>, sowie die Habgier und Überheblichkeit <strong>de</strong>r Priester. Sie hofften, daß dieser Mensch, <strong>de</strong>r<br />

ihre Obersten in die Flucht geschlagen hatte, <strong>de</strong>r ersehnte Befreier sei. Jetzt erreichten sie<br />

Nachrichten, die ihre größten Erwartungen zu bestätigen schienen. Es wur<strong>de</strong> berichtet, daß <strong>de</strong>r<br />

Prophet erklärt habe, er sei <strong>de</strong>r Messias.<br />

Aber die Bevölkerung von Nazareth glaubte nicht an ihn. Aus diesem Grun<strong>de</strong> ging Jesus auf<br />

<strong>de</strong>m Wege nach Kana an <strong>de</strong>r Stadt Nazareth vorüber. Der Heiland erklärte seinen Jüngern, daß<br />

ein Prophet in seiner eigenen Heimat nichts gelte. <strong>Die</strong> Menschen bewerten <strong>de</strong>n Charakter von<br />

ihresgleichen nach <strong>de</strong>m, was sie selbst zu erkennen fähig sind. <strong>Die</strong> Kurzsichtigen und weltlich<br />

Denken<strong>de</strong>n beurteilten Jesus nach seiner nie<strong>de</strong>ren Herkunft, seiner einfachen Kleidung und<br />

seiner täglichen Arbeit. Sie waren nicht imstan<strong>de</strong>, die Reinheit jenes Geistes zu würdigen, <strong>de</strong>r<br />

von keiner Sün<strong>de</strong> befleckt war.<br />

<strong>Die</strong> Nachricht von <strong>de</strong>r Rückkehr <strong>Christi</strong> nach Kana verbreitete sich bald über ganz Galiläa<br />

und brachte <strong>de</strong>n Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n und Bedrückten viel Hoffnung. In Kapernaum erregte diese Kun<strong>de</strong><br />

die Aufmerksamkeit eines jüdischen E<strong>de</strong>lmannes, <strong>de</strong>r in königlichen <strong>Die</strong>nsten stand und <strong>de</strong>ssen<br />

Sohn offenbar an einer unheilbaren Krankheit litt. <strong>Die</strong> Ärzte hatten ihn schon gänzlich<br />

aufgegeben. Als <strong>de</strong>r Vater von Jesus hörte, entschloß er sich, bei ihm Hilfe zu suchen. Das Kind<br />

war sehr schwach, und er befürchtete, daß es seine Rückkehr nicht mehr erleben wer<strong>de</strong>.<br />

Dennoch wollte <strong>de</strong>r Vater selbst zu Jesus gehen und ihm seine Bitte vortragen. Er hoffte, mit<br />

seinem innigen Wunsch das Mitgefühl <strong>de</strong>s großen Arztes zu fin<strong>de</strong>n.<br />

Als er Kana erreichte, fand er <strong>de</strong>n Herrn inmitten einer großen Menschenmenge. Besorgten<br />

Herzens drängte er sich in die Nähe <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s. Sein Glaube begann aber doch wankend zu<br />

wer<strong>de</strong>n, als er nur einen schlicht geklei<strong>de</strong>ten Mann erkannte, <strong>de</strong>r zu<strong>de</strong>m von seiner Wan<strong>de</strong>rung<br />

noch staubbe<strong>de</strong>ckt und angegriffen aussah. Er zweifelte, daß dieser Mann seine Bitte erfüllen<br />

könnte, verschaffte sich aber <strong>de</strong>nnoch die Gelegenheit einer Unterredung mit Jesus, teilte ihm<br />

sein Anliegen mit und bat ihn, daß er mit in sein Haus käme. Jesus kannte seinen Kummer<br />

bereits; <strong>de</strong>nn ehe jener Beamte sein Haus verließ, hatte <strong>de</strong>r Herr seine Nie<strong>de</strong>rgeschlagenheit<br />

schon gesehen.<br />

Er wußte aber auch, daß <strong>de</strong>r Vater seinen Glauben an ihn, <strong>de</strong>n Messias, von <strong>de</strong>r Erfüllung<br />

seiner Bitte abhängig gemacht hatte. Darum sagte er <strong>de</strong>m ängstlich Warten<strong>de</strong>n: „Wenn ihr nicht<br />

Zeichen und Wun<strong>de</strong>r seht, so glaubt ihr nicht.“ Johannes 4,48. Ungeachtet aller Beweise, daß<br />

Jesus <strong>de</strong>r Christus war, hatte sich <strong>de</strong>r Bittsteller entschlossen, nur dann an ihn zu glauben, wenn<br />

er seine Bitte erfüllen wür<strong>de</strong>. Der Heiland verglich diesen zweifeln<strong>de</strong>n Unglauben mit <strong>de</strong>m<br />

einfachen Glauben <strong>de</strong>r Samariter, die kein Wun<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r Zeichen erbeten hatten. Sein Wort, das<br />

immer gegenwärtige Zeugnis seiner Göttlichkeit, hatte eine Überzeugungskraft, die ihre Herzen<br />

123


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

berührte. Christus litt darunter, daß sein eigenes Volk, <strong>de</strong>m die Weissagungen Gottes anvertraut<br />

wor<strong>de</strong>n waren, es versäumte, auf die Stimme <strong>de</strong>s Herrn zu hören, die durch seinen Sohn zu<br />

ihnen sprach.<br />

Dennoch hatte <strong>de</strong>r königliche Beamte ein bestimmtes Maß an Glauben; er war gekommen,<br />

um <strong>de</strong>n ihm am kostbarsten erscheinen<strong>de</strong>n Segen zu erbitten. Jesus aber hatte ein größeres<br />

Geschenk für ihn bereit. Er wollte nicht nur das Kind heilen, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>n Beamten und seine<br />

Familie an <strong>de</strong>n Segnungen <strong>de</strong>s Heils teilhaben lassen und in Kapernaum, das bald sein eigenes<br />

Arbeitsfeld wer<strong>de</strong>n sollte, ein Licht anzün<strong>de</strong>n. Aber <strong>de</strong>r Beamte mußte sich zuerst bewußt<br />

wer<strong>de</strong>n, daß er Hilfe brauchte, bevor ihn nach <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong> verlangte. <strong>Die</strong>ser E<strong>de</strong>lmann stand für<br />

viele in seinem Lan<strong>de</strong>. Sie interessierten sich nur aus selbstsüchtigen Beweggrün<strong>de</strong>n für<br />

Christus. Sie hofften, durch seine Macht irgen<strong>de</strong>inen beson<strong>de</strong>ren Nutzen zu haben, und sie<br />

machten ihren Glauben davon abhängig, daß er ihnen diese weltliche Gunst gewähre; aber sie<br />

waren sich ihrer geistlichen Krankheit nicht bewußt und erkannten nicht, daß sie <strong>de</strong>r göttlichen<br />

Gna<strong>de</strong> bedurften.<br />

Blitzartig erhellten diese Worte Jesu <strong>de</strong>m königlichen Beamten aus Kapernaum seine<br />

innerste Einstellung; er sah, daß er aus eigennützigen Grün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Heiland aufgesucht hatte.<br />

Sein schwanken<strong>de</strong>r Glaube erschien ihm in seiner wahren Natur, und mit großem Schmerz<br />

erkannte er, daß sein Zweifel seinem Sohn das Leben kosten könnte. Er wußte, daß er sich in<br />

<strong>de</strong>r Gegenwart <strong>de</strong>ssen befand, <strong>de</strong>r die Gedanken lesen konnte und <strong>de</strong>m alle Dinge möglich<br />

waren. In seiner Herzensangst flehte er: „Herr, komm hinab, ehe <strong>de</strong>nn mein Kind<br />

stirbt!“ Johannes 4,49. Sein Glaube ergriff Jesus, <strong>de</strong>r an Jakob dachte, wie dieser, mit <strong>de</strong>m<br />

Engel ringend, einst ausgerufen hatte: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich <strong>de</strong>nn.“ 1.Mose<br />

32,27.<br />

Gleich Jakob gewann auch dieser <strong>de</strong>n Sieg. Der Heiland konnte sich <strong>de</strong>r Seele nicht<br />

entziehen, die sich an ihn klammerte und ihm ihre große Not bekannte. „Gehe hin“, sagte er,<br />

„<strong>de</strong>in Sohn lebt.“ Da verließ <strong>de</strong>r Mann aus Kapernaum mit freudigem Herzen und einem noch<br />

nie gekannten Frie<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Heiland. Er glaubte nicht nur, daß sein Sohn gesund wür<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn<br />

er war auch <strong>de</strong>r festen Überzeugung, in Christus <strong>de</strong>n Erlöser gefun<strong>de</strong>n zu haben. Um diese<br />

gleiche Stun<strong>de</strong> erlebten alle, die in Kapernaum am Bett <strong>de</strong>s sterben<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>s weilten, eine<br />

plötzliche, rätselvolle Verän<strong>de</strong>rung. <strong>Die</strong> To<strong>de</strong>sschatten wichen von <strong>de</strong>r Stirn <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s, das<br />

Fieber ließ nach, die ersten Anzeichen beginnen<strong>de</strong>r Genesung machten sich bemerkbar; in die<br />

trüben Augen kam wie<strong>de</strong>r Glanz und Verständnis, und <strong>de</strong>n schwachen, abgemagerten Körper<br />

erfüllte neue Kraft. Das Kind zeigte keinerlei Anzeichen einer Erkrankung mehr. <strong>Die</strong> Familie<br />

war aufs höchste erstaunt und erfreut.<br />

<strong>Die</strong> Entfernung zwischen Kana und Kapernaum war nicht so groß. Der jüdische Oberste<br />

hätte noch am gleichen Abend nach <strong>de</strong>r Unterredung mit Jesus sein Heim erreichen können. Er<br />

beeilte sich aber nicht und erreichte erst am nächsten Morgen wie<strong>de</strong>r Kapernaum. Welch eine<br />

Heimkehr war das! Als er ausgegangen war, Jesus zu suchen, hatten Sorgen sein Herz erfüllt;<br />

<strong>de</strong>r Sonnenschein schien ihm grausam, und <strong>de</strong>r Gesang <strong>de</strong>r Vögel blanker Hohn. Wie ganz<br />

an<strong>de</strong>rs ist es heute! <strong>Die</strong> Natur erscheint ihm verwan<strong>de</strong>lt zu sein, so neu kommt ihm alles vor.<br />

124


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Als er sich in <strong>de</strong>r Stille <strong>de</strong>s frühen Morgens auf die Reise begibt, scheint die ganze Schöpfung<br />

mit ihm <strong>de</strong>n Herrn zu loben. Kurz vor Kapernaum kommen ihm einige seiner <strong>Die</strong>ner entgegen,<br />

die ihn aus <strong>de</strong>r Ungewißheit befreien wollen. Doch er zeigt zu ihrer großen Verwun<strong>de</strong>rung kein<br />

Erstaunen über die Nachricht, die sie ihm bringen. Sie wun<strong>de</strong>rn sich noch mehr, als er nach <strong>de</strong>r<br />

genauen Zeit fragt, zu <strong>de</strong>r sich <strong>de</strong>r Zustand <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s zu bessern begann. Sie antworteten:<br />

„Gestern um die siebente Stun<strong>de</strong> verließ ihn das Fieber.“ Johannes 4,52. Im gleichen<br />

Augenblick, da <strong>de</strong>s Vaters Glaube die Zusage ergriff: „Dein Sohn lebt“, berührte die göttliche<br />

Liebe das sterben<strong>de</strong> Kind. Nun eilte <strong>de</strong>r Vater, sein Kind zu begrüßen. Er drückte es an sich,<br />

und jubeln<strong>de</strong>r Dank gegen Gott für diese wun<strong>de</strong>rbare Genesung erfüllte sein Herz.<br />

Der jüdische Oberste wollte mehr von Christus hören. Als er einige Zeit später <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s<br />

Lehren vernahm, wur<strong>de</strong>n er und alle seine Hausgenossen Jesu Jünger. <strong>Die</strong> ausgestan<strong>de</strong>ne<br />

Trübsal hatte zur Bekehrung <strong>de</strong>r ganzen Familie geführt. <strong>Die</strong> Nachricht von <strong>de</strong>m Wun<strong>de</strong>r aber<br />

breitete sich aus und half mit, in Kapernaum, wo danach so viele seiner großartigen Taten<br />

geschahen, <strong>de</strong>n Weg für das persönliche Wirken Jesu zu öffnen. Er, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n königlichen<br />

Beamten in Kapernaum segnete, möchte uns gleicherweise segnen; aber wie <strong>de</strong>r betrübte Vater<br />

fühlen wir uns oft durch unser Verlangen nach irgen<strong>de</strong>inem irdischen Nutzen veranlaßt, Jesus<br />

zu suchen. Und wenn er uns dann das Erbetene gewährt, vertrauen wir ganz auf seine Liebe.<br />

Der Heiland sehnt sich danach, uns einen größeren Segen zu geben als <strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n wir erbitten,<br />

und er zögert die Antwort auf unsere Bitte hinaus, um uns das Böse in unseren eigenen Herzen<br />

zu offenbaren und uns zu zeigen, wie sehr wir seiner Gna<strong>de</strong> bedürfen. Er möchte, daß wir die<br />

Selbstsucht aufgeben, die uns veranlaßt, ihn zu suchen. In<strong>de</strong>m wir unsere Hilflosigkeit und<br />

unsere bittere Not bekennen, sollen wir uns ganz auf seine Liebe verlassen.<br />

Der königliche Beamte wollte die Erfüllung seiner Bitte sehen, ehe er glauben konnte; aber<br />

er mußte Jesu Wort glauben, daß seine Bitte erhört und <strong>de</strong>r Segen gewährt wor<strong>de</strong>n sei. Hieraus<br />

müssen wir lernen. Nicht weil wir sehen o<strong>de</strong>r empfin<strong>de</strong>n, daß Gott uns hört, sollen wir glauben.<br />

Wir müssen vor allem seinen Verheißungen vertrauen. Kommen wir im Glauben zu ihm, dann<br />

dringt auch je<strong>de</strong> Bitte in Gottes Herz. Haben wir ihn um seinen Segen gebeten, dann müssen<br />

wir glauben, daß wir ihn auch empfangen wer<strong>de</strong>n, und müssen ihm danken, daß wir ihn<br />

empfangen haben; wir müssen unseren Pflichten in <strong>de</strong>r Gewißheit nachgehen, daß wir <strong>de</strong>n<br />

Segen Gottes dann empfangen, wenn wir seiner am meisten bedürfen. Haben wir das gelernt,<br />

dann wissen wir auch, daß unsere Gebete erhört sind. Gott will „überschwenglich tun“ nach<br />

<strong>de</strong>m „Reichtum seiner Herrlichkeit“ und nach <strong>de</strong>r „Macht seiner Stärke“. Epheser<br />

3,20.16; Epheser 1,19.<br />

125


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 21: Bethesda und <strong>de</strong>r Hohe Rat<br />

„Es ist aber zu Jerusalem bei <strong>de</strong>m Schaftor ein Teich, <strong>de</strong>r heißt auf hebräisch Bethesda und<br />

hat fünf Hallen, in welchen lagen viele Kranke, Blin<strong>de</strong>, Lahme, Ausgezehrte, die warteten,<br />

wann sich das Wasser bewegte.“ Johannes 5,2. Zu bestimmten Zeiten geriet das Wasser dieses<br />

Teiches in Bewegung, und es wur<strong>de</strong> allgemein angenommen, daß das auf das Einwirken einer<br />

übernatürlichen Kraft zurückzuführen war und daß <strong>de</strong>rjenige, <strong>de</strong>r nach <strong>de</strong>m Aufwallen <strong>de</strong>s<br />

Wassers als erster in <strong>de</strong>n Teich stieg, von je<strong>de</strong>r Krankheit, an <strong>de</strong>r er litt, geheilt wür<strong>de</strong>.<br />

Hun<strong>de</strong>rte von Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n suchten diesen Ort auf, und die Menge war so groß, daß sie, sobald<br />

das Wasser sich bewegte, vorwärts stürmte und dabei Männer, Frauen und Kin<strong>de</strong>r, die<br />

schwächer waren als sie selber, nie<strong>de</strong>rtrat. Viele konnten <strong>de</strong>n Teich nicht erreichen. An<strong>de</strong>re, die<br />

es geschafft hatten, starben an seinem Ufer. Man hatte Hallen errichtet, damit die Kranken sich<br />

gegen die Hitze <strong>de</strong>s Tages und die Kälte <strong>de</strong>r Nacht schützen konnten. Gar mancher verbrachte<br />

die Nacht in diesen Räumen und schleppte sich Tag für Tag an <strong>de</strong>n Rand <strong>de</strong>s Teiches in <strong>de</strong>r<br />

vergeblichen Hoffnung auf Hilfe.<br />

Erneut war Jesus in Jerusalem. Er ging allein, offensichtlich in Gedanken und Gebet<br />

versunken, und kam zu <strong>de</strong>m Teich. Er sah, wie die unglücklichen Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n auf das warteten,<br />

was sie für ihre einzige Möglichkeit <strong>de</strong>r Heilung hielten. Er sehnte sich danach, seine heilen<strong>de</strong><br />

Kraft zu betätigen und je<strong>de</strong>n Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n gesund zu machen. Doch es war Sabbat. <strong>Die</strong> Menge<br />

ging zum Tempelgottesdienst, und er wußte, daß eine <strong>de</strong>rartige Heilungstat die<br />

Voreingenommenheit <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n stark erregen und dadurch sein Wirken beeinträchtigen wür<strong>de</strong>.<br />

Doch <strong>de</strong>r Heiland wur<strong>de</strong> Zeuge eines furchtbaren Elen<strong>de</strong>s. Da lag ein Mann, <strong>de</strong>r seit<br />

achtunddreißig Jahren ein hilfloser Krüppel war. Seine Krankheit galt zum großen Teil als<br />

Folge eigener Sün<strong>de</strong> und wur<strong>de</strong> als Gottesgericht angesehen. Verlassen, ohne Freun<strong>de</strong> und<br />

unter <strong>de</strong>m Eindruck, von <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong> Gottes ausgeschlossen zu sein, hatte <strong>de</strong>r Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> viele<br />

Jahre <strong>de</strong>s Elends durchlebt. Zu <strong>de</strong>r Zeit, da man das Aufwallen <strong>de</strong>s Wassers erwartete, trugen<br />

ihn an<strong>de</strong>re, die sich seiner Hilflosigkeit erbarmten, zu <strong>de</strong>n Hallen. Im günstigen Augenblick<br />

jedoch hatte er nieman<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r ihm hineinhalf. Er hatte zwar gesehen, wie das Wasser Wellen<br />

schlug, war aber niemals in <strong>de</strong>r Lage gewesen, weiter zu gelangen als bis ans Ufer <strong>de</strong>s Teiches.<br />

Stärkere als er stürzten sich stets vor ihm hinein. Den Wettlauf mit <strong>de</strong>r selbstsüchtigen, sich<br />

balgen<strong>de</strong>n Menge konnte er nicht gewinnen. Sein beharrliches Bemühen um das eine Ziel sowie<br />

seine Angst und anhalten<strong>de</strong> Enttäuschung zehrten <strong>de</strong>n Rest seiner Kräfte auf.<br />

Der kranke Mann lag auf seiner Matte und hob dann und wann sein Haupt, um auf <strong>de</strong>n Teich<br />

zu schauen, als sich ein gütiges, mitleidvolles Antlitz über ihn beugte und die Worte „Willst du<br />

gesund wer<strong>de</strong>n?“ seine Aufmerksamkeit weckten. Johannes 5,6. Sein Herz wur<strong>de</strong> von Hoffnung<br />

erfüllt. Er fühlte, daß er in irgen<strong>de</strong>iner Weise Hilfe erwarten durfte. Aber <strong>de</strong>r Schimmer <strong>de</strong>r<br />

Ermutigung schwand schnell. Er dachte daran, wie oft er vergebens versucht hatte, <strong>de</strong>n Teich zu<br />

erreichen, und rechnete kaum noch damit, am Leben zu sein, wenn das Wasser wie<strong>de</strong>r in<br />

Bewegung geriete. Mü<strong>de</strong> wandte er sich ab und sagte: „Herr, ich habe keinen Menschen, <strong>de</strong>r<br />

126


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

mich in <strong>de</strong>n Teich trägt, wenn das Wasser sich bewegt. Wenn ich hingehe, steigt schon ein<br />

an<strong>de</strong>rer vor mir hinein.“ Johannes 5,7 (Bruns).<br />

Jesus for<strong>de</strong>rt diesen Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n nicht auf, an ihn zu glauben, son<strong>de</strong>rn sagt schlicht: „Stehe<br />

auf, nimm <strong>de</strong>in Bett und geh!“ Johannes 5,8 (Bruns). An dieses Wort nun klammert sich <strong>de</strong>r<br />

Glaube <strong>de</strong>s Mannes. Je<strong>de</strong>r Nerv und je<strong>de</strong>r Muskel erbebt von neuem Leben, und heilsame<br />

Bewegung erfaßt seine verkrüppelten Glie<strong>de</strong>r. Ohne lange zu fragen, entschließt er sich, <strong>de</strong>r<br />

Weisung <strong>Christi</strong> zu folgen, und alle seine Muskeln gehorchen seinem Willen. Er springt auf<br />

seine Füße und stellt fest, daß er ein rüstiger Mann ist. Jesus hatte ihm keineswegs göttliche<br />

Hilfe zugesichert. Der Mann hätte im Zweifel verharren und seine einzige Möglichkeit, geheilt<br />

zu wer<strong>de</strong>n, einbüßen können. Doch er glaubte <strong>de</strong>m Wort <strong>Christi</strong>, han<strong>de</strong>lte danach und empfing<br />

Kraft.<br />

Durch <strong>de</strong>n gleichen Glauben können wir geistlich geheilt wer<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> Sün<strong>de</strong> hat uns vom<br />

göttlichen Leben getrennt. Unsere Seelen sind gelähmt. Aus uns selbst sind wir ebensowenig<br />

fähig, ein geheiligtes Leben zu führen, wie jener gebrechliche Mann ohne Hilfe gehen konnte.<br />

Viele sind sich ihrer Hilflosigkeit bewußt und sehnen sich nach jenem geistlichen Leben, das sie<br />

in Einklang mit Gott bringt; sie mühen sich jedoch vergeblich, es zu erringen. Voller<br />

Verzweiflung rufen sie aus: „Ich elen<strong>de</strong>r Mensch! Wer wird mich erlösen von <strong>de</strong>m Leibe dieses<br />

To<strong>de</strong>s?“ Römer 7,24. Solche verzweifelten und ringen<strong>de</strong>n Menschen dürfen aufschauen. Der<br />

Heiland neigt sich über die mit seinem Blut Erkauften und fragt mit unaussprechlicher Güte und<br />

herzlichem Erbarmen: „Willst du gesund wer<strong>de</strong>n?“ Er gebietet dir, in Gesundheit und Frie<strong>de</strong>n<br />

aufzustehen. Warte nicht, bis du fühlst, daß du gesund gewor<strong>de</strong>n bist. Traue seinem Wort, und<br />

es wird sich an dir erfüllen. Übergib <strong>de</strong>inen Willen Christus. Entschließe dich, ihm zu dienen.<br />

Sobald du auf sein Wort hin han<strong>de</strong>lst, wirst du Kraft erhalten. Was immer du falsch gemacht<br />

haben magst und welche schwere Sün<strong>de</strong> auch durch lange Duldung <strong>de</strong>inen Leib und <strong>de</strong>ine Seele<br />

gefangenhält. Christus kann und will dich frei machen. Er will <strong>de</strong>r Seele, die „tot“ ist in<br />

„Übertretungen“ (Epheser 2,1), Leben verleihen. Er will <strong>de</strong>n Gefangenen, <strong>de</strong>r durch<br />

Schwachheit, Unglück und Ketten <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> gebun<strong>de</strong>n ist, frei machen.<br />

Nach seiner Heilung bückte sich <strong>de</strong>r Gelähmte, um sein Bett aufzunehmen, das lediglich aus<br />

einer Matte und einer Decke bestand. Er empfand tiefe Freu<strong>de</strong>, als er sich wie<strong>de</strong>r aufrichtete<br />

und nach <strong>de</strong>m umblickte, <strong>de</strong>r ihn geheilt hatte. Doch Jesus war in <strong>de</strong>r Menge untergetaucht. Der<br />

Mann fürchtete, ihn nicht zu erkennen, wenn er ihn wie<strong>de</strong>rsehen wür<strong>de</strong>. Als er nun mit festem,<br />

freiem Schritt davoneilte, Gott lobte und sich seiner neugefun<strong>de</strong>nen Kraft freute, begegnete er<br />

mehreren Pharisäern, <strong>de</strong>nen er unverzüglich von seiner Heilung erzählte. Er war betroffen von<br />

<strong>de</strong>r Kälte, mit <strong>de</strong>r sie ihm zuhörten.<br />

Mit finsteren Mienen unterbrachen sie ihn mit <strong>de</strong>r Frage, warum er am Sabbat sein Bett<br />

trage. Streng erinnerten sie ihn daran, daß es nicht <strong>de</strong>m Gesetz entspreche, am Tage <strong>de</strong>s Herrn<br />

Lasten zu tragen. Vor lauter Freu<strong>de</strong> hatte <strong>de</strong>r Mann vergessen, daß es Sabbat war.<br />

Gleichwohl empfand er keinerlei Gewissensbisse, war er doch nur <strong>de</strong>r Weisung jenes Mannes<br />

nachgekommen, <strong>de</strong>r eine solche Kraft von Gott besaß. Mutig antwortete er: „Der Mann, <strong>de</strong>r<br />

mich gesund gemacht hat, <strong>de</strong>r hat zu mir gesagt: Nimm <strong>de</strong>in Bett und geh!“ Johannes 5,11<br />

127


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

(Albrecht). Sie fragten, wer das getan habe, doch er vermochte es nicht zu sagen. <strong>Die</strong>se<br />

Obersten wußten genau, daß nur einer sich als mächtig erwiesen hatte, solch ein Wun<strong>de</strong>r zu<br />

wirken. Sie suchten aber einen ganz ein<strong>de</strong>utigen Beweis, daß es Jesus gewesen war, um ihn als<br />

Sabbatschän<strong>de</strong>r verurteilen zu können. Ihrer Meinung nach hatte er das Gesetz nicht nur<br />

dadurch übertreten, daß er <strong>de</strong>n kranken Mann am Sabbat heilte, son<strong>de</strong>rn auch noch durch das<br />

frevelhafte Gebot, sein Bett fortzutragen.<br />

<strong>Die</strong> Ju<strong>de</strong>n hatten das Gesetz so entstellt, daß daraus ein knechtisches Joch gewor<strong>de</strong>n war.<br />

Ihre sinnlosen Vorschriften boten an<strong>de</strong>ren Völkern Anlaß zum Spott. Beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>r Sabbat war<br />

durch allerlei sinnlose Verbote so eingeengt wor<strong>de</strong>n, daß sie für ihn als <strong>de</strong>n heiligen,<br />

ehrwürdigen Tag <strong>de</strong>s Herrn keine Freu<strong>de</strong> mehr empfan<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> Schriftgelehrten und Pharisäer<br />

hatten seine Befolgung zu einer unerträglichen Last gemacht. Einem Ju<strong>de</strong>n war es z.B. nicht<br />

erlaubt, am Sabbat ein Feuer o<strong>de</strong>r auch nur eine Kerze anzuzün<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> Folge war, daß die<br />

Bevölkerung für zahlreiche <strong>Die</strong>nstleistungen, die ihr selber durch die bestehen<strong>de</strong>n Vorschriften<br />

verboten waren, Hei<strong>de</strong>n zu Hilfe nehmen mußte. Es wur<strong>de</strong> nicht bedacht, daß <strong>de</strong>rjenige, <strong>de</strong>r<br />

an<strong>de</strong>re mit unerlaubten Arbeiten beauftragt, sich ebenso schuldig macht, als hätte er sie selbst<br />

ausgeführt. <strong>Die</strong> Ju<strong>de</strong>n meinten, das Heil sei nur ihnen vorbehalten und die bereits hoffnungslose<br />

Lage aller Nichtju<strong>de</strong>n könne durch nichts verschlimmert wer<strong>de</strong>n. Gott hat jedoch keine Gebote<br />

gegeben, <strong>de</strong>nen nicht alle gehorchen sollten. Sein Gesetz erlaubt keine unvernünftigen und<br />

eigennützigen Einschränkungen.<br />

Im Tempel begegnete Jesus erneut <strong>de</strong>m Geheilten, <strong>de</strong>r gekommen war, für die ihm erwiesene<br />

große Gna<strong>de</strong> ein Sündopfer und ein Dankopfer darzubringen. Als Jesus ihn unter <strong>de</strong>n<br />

Anbeten<strong>de</strong>n fand, gab er sich ihm mit <strong>de</strong>n mahnen<strong>de</strong>n Worten zu erkennen: „Siehe, du bist<br />

gesund gewor<strong>de</strong>n; sündige hinfort nicht mehr, daß dir nicht etwas Ärgeres<br />

wi<strong>de</strong>rfahre.“ Johannes 5,14. Der Geheilte war überglücklich, <strong>de</strong>n getroffen zu haben, <strong>de</strong>r ihn<br />

gerettet hatte. Von <strong>de</strong>r Feindschaft gegen Jesus nichts wissend, erzählte er <strong>de</strong>n Pharisäern, die<br />

ihn gefragt hatten, daß dieser es war, <strong>de</strong>r ihn geheilt hatte. „Weil Jesus solche Werke am Sabbat<br />

tat, begannen ihn die Ju<strong>de</strong>n zu verfolgen.“ Johannes 5,16 (Albrecht).<br />

Um sich wegen <strong>de</strong>r Anklage <strong>de</strong>r Sabbatschändung zu verantworten, wur<strong>de</strong> Jesus vor <strong>de</strong>n<br />

Hohen Rat gebracht. Wären die Ju<strong>de</strong>n damals eine unabhängige Nation gewesen, dann hätte<br />

eine solche Anklage ausgereicht, ihn zum To<strong>de</strong> zu verurteilen. Ihre Abhängigkeit von <strong>de</strong>n<br />

Römern verhin<strong>de</strong>rte dies jedoch. Den Ju<strong>de</strong>n war strikt untersagt, die To<strong>de</strong>sstrafe zu verhängen,<br />

und die gegen Christus vorgebrachten Anklagen hatten vor einem römischen Gericht kein<br />

Gewicht. <strong>Die</strong> Pharisäer hofften jedoch, an<strong>de</strong>re Grün<strong>de</strong> zu fin<strong>de</strong>n. Ungeachtet ihrer<br />

Bemühungen, seine Aufgabe zu behin<strong>de</strong>rn, gewann Jesus sogar in Jerusalem größeren Einfluß<br />

auf das Volk als sie. Zahlreiche Menschen, die kein Gefallen an <strong>de</strong>n Tira<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Rabbiner<br />

fan<strong>de</strong>n, wur<strong>de</strong>n durch seine Lehren angezogen. Was er sagte, konnten sie verstehen, und es<br />

erwärmte und tröstete ihre Herzen. Er schil<strong>de</strong>rte ihnen Gott nicht als rächen<strong>de</strong>n Richter, son<strong>de</strong>rn<br />

als barmherzigen Vater und offenbarte das Wesen Gottes dadurch, daß er es in seinem Wesen<br />

wi<strong>de</strong>rspiegelte. Seine Worte wirkten wie Balsam für eine verwun<strong>de</strong>te Seele. Durch Worte und<br />

128


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Taten <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong> zerbrach er die drücken<strong>de</strong> Gewalt <strong>de</strong>r alten Überlieferungen und<br />

Menschengebote und stellte die Liebe Gottes in ihrer unausschöpflichen Fülle dar.<br />

In einer <strong>de</strong>r ältesten Weissagungen auf Christus heißt es: „Es wird das Zepter von Juda nicht<br />

weichen noch <strong>de</strong>r Stab <strong>de</strong>s Herrschers von seinen Füßen, bis daß <strong>de</strong>r Held komme, und ihm<br />

wer<strong>de</strong>n die Völker anhangen.“ 1.Mose 49,10. <strong>Die</strong> Menschen sammelten sich um Christus.<br />

Aufgeschlossenen Herzens sprachen sie eher auf seine Lehren <strong>de</strong>r Liebe und <strong>de</strong>s Wohlwollens<br />

an als auf die von <strong>de</strong>n Priestern gefor<strong>de</strong>rten strengen Kulthandlungen. Wären die Priester und<br />

Rabbiner nicht dazwischengetreten, so hätte Jesu Lehre eine Reformation herbeigeführt, wie die<br />

Welt sie nie erlebt hatte. Aber um ihre eigene Macht aufrechtzuerhalten, waren diese Obersten<br />

fest entschlossen, seinen Einfluß zu brechen. <strong>Die</strong> Anklageerhebung vor <strong>de</strong>m Hohen Rat und<br />

eine öffentliche Verurteilung seiner Lehren sollten dies bewirken helfen; <strong>de</strong>nn noch besaß das<br />

Volk große Hochachtung vor seinen religiösen Führern. Wer immer es wagte, sich von <strong>de</strong>n<br />

For<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Priester loszusagen o<strong>de</strong>r die <strong>de</strong>m Volk von ihnen auferlegten Lasten zu<br />

erleichtern, wur<strong>de</strong> sowohl <strong>de</strong>r Gotteslästerung als auch <strong>de</strong>s Verrats für schuldig befun<strong>de</strong>n. Mit<br />

dieser Begründung hofften die Rabbiner, Verdacht gegen Christus wecken zu können. Sie<br />

unterstellten ihm, er versuche die überkommenen Sitten abzuschaffen und dadurch Zwietracht<br />

im Volk zu säen, um <strong>de</strong>n Weg zu einer völligen Unterjochung durch die Römer zu ebnen.<br />

Doch die Pläne, an <strong>de</strong>ren Verwirklichung die Rabbiner so eifrig arbeiteten, hatten einen<br />

an<strong>de</strong>ren Urheber als <strong>de</strong>n Hohen Rat. Nach<strong>de</strong>m Satan vergeblich versucht hatte, Jesus in <strong>de</strong>r<br />

Wüste zu überwin<strong>de</strong>n, faßte er alle seine Kräfte zusammen, um ihn in seinem <strong>Die</strong>nst zu<br />

behin<strong>de</strong>rn und nach Möglichkeit seine Aufgabe zum Scheitern zu bringen. Was er nicht durch<br />

direktes, persönliches Bemühen vollbringen konnte, wollte er durch List erreichen. Dazu war er<br />

fest entschlossen. Von <strong>de</strong>m Ringen in <strong>de</strong>r Wüste hatte er sich erst zurückgezogen, nach<strong>de</strong>m er<br />

gemeinsam mit <strong>de</strong>n ihm verbün<strong>de</strong>ten Engeln reiflich erwogen hatte, wie sie auch weiterhin <strong>de</strong>n<br />

Verstand <strong>de</strong>s jüdischen Volkes so mit Blindheit schlagen könnten, daß es seinen Erlöser nicht<br />

erkennte. Dabei wollte er sich in <strong>de</strong>r religiösen Welt menschlicher Mitarbeiter bedienen, <strong>de</strong>nen<br />

er seinen eigenen Haß auf <strong>de</strong>n Verfechter <strong>de</strong>r Wahrheit einflößte. Er wollte sie verleiten,<br />

Christus zu verwerfen und ihm das Leben so unerträglich wie möglich zu machen in <strong>de</strong>r<br />

Hoffnung, ihn in seiner Sendung zu entmutigen. Und tatsächlich wur<strong>de</strong>n die führen<strong>de</strong>n Männer<br />

Israels Werkzeuge Satans im Kampf gegen <strong>de</strong>n Erlöser.<br />

Jesus war gekommen, „daß er sein Gesetz herrlich und groß mache“. Jesaja 42,21. Er sollte<br />

<strong>de</strong>ssen Wür<strong>de</strong> nicht herabsetzen, son<strong>de</strong>rn erhöhen. <strong>Die</strong> Schrift sagt: „Er selbst wird nicht<br />

verlöschen und nicht zerbrechen, bis er auf Er<strong>de</strong>n das Recht aufrichte.“ Jesaja 42,4. Er war<br />

gekommen, <strong>de</strong>n Sabbat von jenen drücken<strong>de</strong>n Vorschriften zu befreien, die ihn zu einem Fluch<br />

statt zu einem Segen gemacht hatten.<br />

Aus diesem Grun<strong>de</strong> hatte Jesus bewußt am Sabbat das Heilungswun<strong>de</strong>r zu Bethesda gewirkt.<br />

Er hätte <strong>de</strong>n Kranken ebensogut an einem an<strong>de</strong>ren Tage <strong>de</strong>r Woche heilen können, o<strong>de</strong>r er hätte<br />

es tun können, ohne ihm zu gebieten, sein Bett fortzutragen. Doch das hätte ihm nicht die von<br />

ihm gewünschte Gelegenheit verschafft. Weise Absicht lag je<strong>de</strong>m Han<strong>de</strong>ln Jesu während seines<br />

Er<strong>de</strong>nlebens zugrun<strong>de</strong>. Was immer er auch tat, es war an sich schon wichtig und wichtig auch<br />

129


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

in seiner Aussage. Unter <strong>de</strong>n Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n am Teich wählte er jenen aus, <strong>de</strong>n es am ärgsten<br />

getroffen hatte, um an ihm seine heilen<strong>de</strong> Macht zu bezeugen. Und er gebot <strong>de</strong>m Mann, sein<br />

Bett durch die Stadt zu tragen, um die an ihm gewirkte große Tat bekanntzumachen. Dadurch<br />

sollte die Frage aufgeworfen wer<strong>de</strong>n, was am Sabbat zu tun erlaubt sei, und dies sollte ihm die<br />

Möglichkeit geben, die Einschränkungen <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n bezüglich <strong>de</strong>s Tages <strong>de</strong>s Herrn öffentlich<br />

anzuprangern und ihre Überlieferungen für nichtig zu erklären.<br />

Jesus erklärte ihnen, daß die Heilung <strong>de</strong>s Kranken mit <strong>de</strong>m Sabbatgebot übereinstimmte. Sie<br />

entsprach auch <strong>de</strong>m <strong>Die</strong>nst <strong>de</strong>r Engel Gottes, die ohne Unterlaß zwischen Himmel und Er<strong>de</strong><br />

hinab- und hinaufsteigen, um <strong>de</strong>r lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Menschheit beizustehen. Jesus erklärte: „Mein<br />

Vater wirket bis auf diesen Tag, und ich wirke auch.“ Johannes 5,17. Alle Tage gehören Gott,<br />

um an ihnen seinen Plan für die Menschheit zu verwirklichen. Deuteten die Ju<strong>de</strong>n das Gesetz<br />

richtig, dann irrte sich <strong>de</strong>r Herr, <strong>de</strong>r durch sein Wirken je<strong>de</strong>s Lebewesen erquickte und trug, seit<br />

er <strong>de</strong>n Grund <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> gelegt hat. Dann hätte <strong>de</strong>rjenige, <strong>de</strong>r sein Schöpfungswerk als gut<br />

bezeichnet und <strong>de</strong>n Sabbat zum Ge<strong>de</strong>nken an <strong>de</strong>ssen Vollendung eingesetzt hatte, seinem<br />

Wirken ein En<strong>de</strong> setzen und <strong>de</strong>n nie en<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Lauf <strong>de</strong>s Universums anhalten müssen.<br />

Sollte Gott <strong>de</strong>r Sonne verbieten, ihre Funktion am Sabbat zu erfüllen, und ihre beleben<strong>de</strong>n<br />

Strahlen daran hin<strong>de</strong>rn, die Er<strong>de</strong> zu erwärmen und die Pflanzenwelt zu erhalten? Müssen die<br />

Gestirne an diesem heiligen Tag auf ihren Bahnen stillstehen? Soll <strong>de</strong>r Herr etwa <strong>de</strong>n Bächen<br />

gebieten, <strong>de</strong>n Fel<strong>de</strong>rn und Wäl<strong>de</strong>rn kein Wasser zu spen<strong>de</strong>n, und <strong>de</strong>n Meeren, ihren<br />

unaufhörlichen Wechsel zwischen Ebbe und Flut zu unterbrechen? Müssen Weizen und Korn<br />

ihr Wachstum einstellen, und soll die reifen<strong>de</strong> Traube das Wachstum ihrer Purpurblüte<br />

aufschieben? Dürfen Bäume und Blumen am Sabbat keine Knospen und Blüten treiben?<br />

Falls das so wäre, entgingen <strong>de</strong>m Menschen die Früchte <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> und die Segnungen, die das<br />

Leben lebenswert machen. <strong>Die</strong> Natur muß <strong>de</strong>shalb in ihrem unwan<strong>de</strong>lbaren Lauf fortfahren.<br />

Wollte Gott seine Hand auch nur für einen Augenblick zurückziehen, wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />

Mensch ohnmächtig wer<strong>de</strong>n und sterben. Aber auch <strong>de</strong>r Mensch darf an diesem Tage nicht<br />

untätig sein. <strong>Die</strong> Bedürfnisse <strong>de</strong>s Lebens müssen beachtet, die Kranken versorgt und die<br />

dringendsten Wünsche erfüllt wer<strong>de</strong>n. Wer es am Sabbat unterläßt, Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n zu helfen, wird<br />

nicht als unschuldig gelten können. Gottes heiliger Ruhetag wur<strong>de</strong> für <strong>de</strong>n Menschen<br />

geschaffen, und Werke <strong>de</strong>r Barmherzigkeit stehen in voller Übereinstimmung mit seiner<br />

Bestimmung. Gott will nicht, daß seine Geschöpfe auch nur eine Stun<strong>de</strong> lang von Schmerzen<br />

geplagt wer<strong>de</strong>n, die am Sabbat o<strong>de</strong>r einem an<strong>de</strong>ren Tag gelin<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n können.<br />

<strong>Die</strong> Erwartungen an Gott sind am Sabbat eher noch größer als an <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Tagen. Sein<br />

Volk läßt dann alle gewöhnliche Arbeit ruhen und verbringt die Zeit in Andacht und Anbetung.<br />

Es erbittet von Gott am Sabbat mehr Gna<strong>de</strong>nerweise als an an<strong>de</strong>ren Tagen, verlangt nach seiner<br />

beson<strong>de</strong>ren Aufmerksamkeit und fleht um seinen reichsten Segen. Gott läßt <strong>de</strong>n Sabbat nicht<br />

erst verstreichen, ehe er diese Bitten erhört. Im Himmel ruht die Arbeit nie, und auch <strong>de</strong>r<br />

Mensch sollte unaufhörlich Gutes tun. Der Sabbat ist nicht als eine Zeit nutzloser Untätigkeit zu<br />

verstehen. Gewiß, das Gesetz verbietet alle weltliche Arbeit am Ruhetag <strong>de</strong>s Herrn. Je<strong>de</strong><br />

Plackerei zum Erwerb <strong>de</strong>s Lebensunterhalts muß aufhören. Nichts, was weltlichem Vergnügen<br />

130


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

o<strong>de</strong>r eigenem Nutzen dient, ist an diesem Tage erlaubt; aber wie Gott sein Schöpfungswerk<br />

been<strong>de</strong>te, am Sabbat ruhte und diesen Tag segnete, so soll <strong>de</strong>r Mensch mit <strong>de</strong>n Beschäftigungen<br />

seines täglichen Lebens aufhören und diese heiligen Stun<strong>de</strong>n zu heilsamer Ruhe, Andacht und<br />

guten Werken verwen<strong>de</strong>n. <strong>Christi</strong> Werk, <strong>de</strong>n Kranken zu heilen, stimmte völlig mit <strong>de</strong>m Gesetz<br />

überein. Es erwies <strong>de</strong>m Sabbat Ehre.<br />

Jesus nahm für sich die gleichen Rechte wie Gott in Anspruch, in<strong>de</strong>m er Taten von gleicher<br />

Heiligkeit und Art vollbrachte wie sein Vater im Himmel. Aber die Pharisäer wur<strong>de</strong>n immer<br />

erzürnter. Ihrer Meinung nach hatte er nicht nur das Gesetz gebrochen, son<strong>de</strong>rn sich selbst Gott<br />

gleichgesetzt, weil er erklärte, „Gott sei sein Vater“. Johannes 5,18. Das ganze Volk <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n<br />

nannte Gott seinen Vater. Hätte Jesus sein Verhältnis zu Gott in ähnlicher Weise beschrieben,<br />

dann wür<strong>de</strong>n sie sich nicht so erregt haben. Doch sie beschuldigten ihn <strong>de</strong>r Gotteslästerung und<br />

zeigten damit, daß sie ihn sehr wohl verstan<strong>de</strong>n, als er diesen Anspruch im höchsten Sinne<br />

erhob.<br />

<strong>Die</strong> Wi<strong>de</strong>rsacher <strong>Christi</strong> konnten <strong>de</strong>n Wahrheiten, die er ihren Gewissen nahebrachte,<br />

keinerlei Einwän<strong>de</strong> entgegenhalten. Lediglich auf ihre Gewohnheiten und Überlieferungen<br />

vermochten sie zu verweisen. Doch im Vergleich mit <strong>de</strong>n Beweisgrün<strong>de</strong>n, die Jesus aus <strong>de</strong>m<br />

Worte Gottes und aus <strong>de</strong>m unwan<strong>de</strong>lbaren Lauf <strong>de</strong>r Natur ableitete, erschienen sie schwach und<br />

fad. Hätten die Rabbiner ein echtes Verlangen nach Licht verspürt, dann wären sie zu <strong>de</strong>r<br />

Überzeugung gelangt, daß Jesus die Wahrheit gesprochen hatte. Statt <strong>de</strong>ssen entzogen sie sich<br />

<strong>de</strong>n Hauptfragen, auf die Jesus bezüglich <strong>de</strong>s Sabbats Wert legte, und suchten Haß gegen ihn zu<br />

schüren mit <strong>de</strong>r Begründung, er beanspruche, Gott gleich zu sein. <strong>Die</strong> Wut <strong>de</strong>r Obersten kannte<br />

keine Grenzen. Hätten sie nicht das Volk gefürchtet, wür<strong>de</strong>n die Priester und Rabbiner Jesus auf<br />

<strong>de</strong>r Stelle umgebracht haben. Doch die Zuneigung <strong>de</strong>s Volkes zu ihm war stark. Viele<br />

erblickten in Jesus <strong>de</strong>n Freund, <strong>de</strong>r ihre Krankheiten geheilt und sie in ihren Sorgen getröstet<br />

hatte. Sie verteidigten nun auch seine Heilung <strong>de</strong>s Kranken am Teich zu Bethesda. Deshalb<br />

mußten die Obersten vorläufig ihren Haß zügeln.<br />

Jesus wies die Beschuldigung <strong>de</strong>r Gotteslästerung zurück. Er erklärte: Meine Vollmacht zu<br />

<strong>de</strong>m Werk, um <strong>de</strong>ssentwillen ihr mich anklagt, beruht darauf, daß ich <strong>de</strong>r Sohn Gottes bin, eins<br />

mit ihm in Wesen, Willen und Absicht. In allen seinen Werken <strong>de</strong>r Schöpfung und <strong>de</strong>r<br />

Vorsehung wirke ich zusammen mit Gott. „Der Sohn kann nichts von sich selber tun, son<strong>de</strong>rn<br />

nur was er sieht <strong>de</strong>n Vater tun.“ Johannes 5,19. <strong>Die</strong> Priester und Rabbiner stellten <strong>de</strong>n Sohn<br />

Gottes gera<strong>de</strong> um <strong>de</strong>s Werkes willen zur Re<strong>de</strong>, zu <strong>de</strong>ssen Durchführung er in die Welt gesandt<br />

wor<strong>de</strong>n war. Durch ihre Sün<strong>de</strong>n hatten sie sich von Gott getrennt, und in ihrem Hochmut gingen<br />

sie ihre eigenen Wege. Sie meinten, aus sich selbst zu allen Dingen befähigt zu sein, und sahen<br />

keine Notwendigkeit, ihr Han<strong>de</strong>ln von göttlicher Weisheit leiten zu lassen. Der Sohn Gottes<br />

aber war <strong>de</strong>m Willen <strong>de</strong>s Vaters untertan und von seiner Macht abhängig. So weitgehend hatte<br />

Christus sein Ich aufgegeben, daß er selber keine Pläne machte. Er unterwarf sich bereitwillig<br />

<strong>de</strong>n Plänen, die Gott mit ihm vorhatte und die <strong>de</strong>r Vater ihm Tag für Tag enthüllte. Genauso<br />

sollten auch wir uns auf Gott verlassen. Unser Leben wird dann nur noch die Ausführung seines<br />

Willens sein.<br />

131


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Als Mose daranging, ein Heiligtum als Wohnstätte für Gott zu errichten, wur<strong>de</strong> er<br />

angewiesen, alles nach <strong>de</strong>m Muster zu machen, das ihm auf <strong>de</strong>m Berge gezeigt wor<strong>de</strong>n war.<br />

Mose erfüllte voller Eifer Gottes Auftrag. <strong>Die</strong> begabtesten und geschicktesten Männer wur<strong>de</strong>n<br />

gerufen, seine Anweisungen auszuführen. Je<strong>de</strong> Schelle, je<strong>de</strong>r Granatapfel, je<strong>de</strong> Quaste, je<strong>de</strong>r<br />

Saum, je<strong>de</strong>r Vorhang und je<strong>de</strong>s Gefäß im Heiligtum sollte genau <strong>de</strong>m ihm gezeigten Mo<strong>de</strong>ll<br />

nachgefertigt wer<strong>de</strong>n. Gott <strong>de</strong>r Herr rief ihn auf <strong>de</strong>n Berg und ließ ihn die himmlischen Dinge<br />

sehen. Er schützte ihn mit seiner Herrlichkeit und befähigte ihn dadurch, das Vorbild zu sehen.<br />

In Übereinstimmung damit ließ er alles anfertigen. So offenbarte er Israel, das er zu seinem<br />

Wohnplatz machen wollte, sein herrliches I<strong>de</strong>al von einem Charakter. Das Vorbild zeigte er<br />

ihnen auf <strong>de</strong>m Berge, als er das Gesetz vom Sinai gab und er an Mose vorüberging mit <strong>de</strong>m<br />

Ruf: „Herr, Herr, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gna<strong>de</strong> und Treue,<br />

<strong>de</strong>r da Tausen<strong>de</strong>n Gna<strong>de</strong> bewahrt und vergibt Missetat, Übertretung und Sün<strong>de</strong>.“ 2.Mose<br />

34,6.7.<br />

Israel hat jedoch seinen eigenen Weg gewählt und nicht nach <strong>de</strong>m Vorbild gebaut. Christus<br />

dagegen, <strong>de</strong>r Tempel, in <strong>de</strong>m Gott wahrhaftig wohnte, formte je<strong>de</strong> Einzelheit seines irdischen<br />

Lebens nach <strong>de</strong>m Bil<strong>de</strong> Gottes. Er sprach: „Deinen Willen, mein Gott, tue ich gern, und <strong>de</strong>in<br />

Gesetz hab ich in meinem Herzen.“ Psalm 40,9. So soll auch unser Charakter „zu einer<br />

Behausung Gottes im Geist“ (Epheser 2,22) erbaut wer<strong>de</strong>n. Wir sollen „alles nach <strong>de</strong>m Bil<strong>de</strong> ...<br />

auf <strong>de</strong>m Berge“ (Hebräer 8,5) und in Übereinstimmung mit Jesus machen, <strong>de</strong>r „euch ein<br />

Vorbild gelassen, daß ihr sollt nachfolgen seinen Fußtapfen“. 1.Petrus 2,21. <strong>Christi</strong> Worte<br />

lehren, daß wir uns unlösbar an unseren Vater im Himmel gebun<strong>de</strong>n fühlen sollen. Wer immer<br />

wir auch sein mögen, wir sind von Gott abhängig. Er hält das Schicksal aller in seinen Hän<strong>de</strong>n.<br />

Er hat uns unsere Aufgabe zugewiesen und uns mit Fähigkeiten und Gaben für diese Aufgabe<br />

ausgestattet. Wenn wir <strong>de</strong>n Willen Gott unterwerfen und seiner Stärke und Weisheit vertrauen,<br />

wer<strong>de</strong>n wir auf sicheren Pfa<strong>de</strong>n geleitet wer<strong>de</strong>n, so daß wir <strong>de</strong>n uns zugewiesenen Anteil an<br />

seinem großen Plan zu erfüllen vermögen. Wer sich jedoch auf seine eigene Weisheit und Kraft<br />

verläßt, trennt sich selber von Gott. Statt im Einklang mit Christus zu wirken, führt er die<br />

Absicht <strong>de</strong>s Fein<strong>de</strong>s Gottes und <strong>de</strong>r Menschheit aus.<br />

Der Heiland fährt fort: „Was dieser tut, das tut gleicherweise auch <strong>de</strong>r Sohn ... Wie <strong>de</strong>r<br />

Vater die Toten auferweckt und macht sie lebendig, so macht auch <strong>de</strong>r Sohn lebendig, welche er<br />

will.“ Johannes 5,19.21. <strong>Die</strong> Sadduzäer meinten, es gäbe keine Auferstehung <strong>de</strong>s Leibes; Jesus<br />

aber versichert ihnen, daß eine <strong>de</strong>r größten Taten seines Vaters die Auferweckung <strong>de</strong>r Toten sei<br />

und er selber auch die Macht habe, diese Tat zu vollbringen. „Es kommt die Stun<strong>de</strong> und ist<br />

schon jetzt, daß die Toten wer<strong>de</strong>n die Stimme <strong>de</strong>s Sohnes Gottes hören, und die sie hören<br />

wer<strong>de</strong>n, die wer<strong>de</strong>n leben.“ Johannes 5,25. <strong>Die</strong> Pharisäer glaubten an die Auferstehung <strong>de</strong>r<br />

Toten. Christus erklärte, daß die Kraft, die <strong>de</strong>n Toten Leben verleiht, sich gera<strong>de</strong> jetzt unter<br />

ihnen befin<strong>de</strong> und daß sie ausersehen seien, ihre Wirksamkeit zu schauen. Es ist dieselbe<br />

Auferweckungskraft, die einer Seele, welche „tot“ ist in „Übertretungen und Sün<strong>de</strong>n“ (Epheser<br />

2,1), Leben spen<strong>de</strong>t. <strong>Die</strong>ser lebenspen<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Geist in Christus Jesus, „die Kraft seiner<br />

Auferstehung“ (Philipper 3,10), macht Menschen „frei ... von <strong>de</strong>m Gesetz <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> und <strong>de</strong>s<br />

To<strong>de</strong>s“. Römer 8,2. <strong>Die</strong> Herrschaft <strong>de</strong>s Bösen ist gebrochen, und durch <strong>de</strong>n Glauben wird die<br />

132


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Seele vor <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> bewahrt. Wer sein Herz <strong>de</strong>m Geist <strong>Christi</strong> öffnet, wird Teilhaber jener<br />

mächtigen Kraft, die seinen Leib aus <strong>de</strong>m Grabe hervorkommen läßt.<br />

Der <strong>de</strong>mütige Nazarener macht seine wahre Größe geltend. Er erhebt sich über alles<br />

Menschliche, streift die Gestalt <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> und Schmach ab und steht sichtbar vor aller Augen,<br />

<strong>de</strong>r Ruhm <strong>de</strong>r Engel, <strong>de</strong>r Sohn Gottes, eins mit <strong>de</strong>m Schöpfer <strong>de</strong>s Weltalls. Seine Zuhörer sind<br />

fasziniert. Niemand hat je solche Worte gesprochen wie er o<strong>de</strong>r ist mit solch königlicher Wür<strong>de</strong><br />

aufgetreten. Was er sagte, war <strong>de</strong>utlich und klar und erklärte voll und ganz seinen Auftrag<br />

sowie die Pflicht <strong>de</strong>r Welt. „Denn <strong>de</strong>r Vater richtet niemand; son<strong>de</strong>rn alles Gericht hat er <strong>de</strong>m<br />

Sohn gegeben, damit sie alle <strong>de</strong>n Sohn ehren, wie sie <strong>de</strong>n Vater ehren. Wer <strong>de</strong>n Sohn nicht ehrt,<br />

<strong>de</strong>r ehrt <strong>de</strong>n Vater nicht, <strong>de</strong>r ihn gesandt hat ... Denn wie <strong>de</strong>r Vater das Leben hat in sich selber,<br />

so hat er auch <strong>de</strong>m Sohn gegeben, das Leben zu haben in sich selber, und hat ihm Macht<br />

gegeben, das Gericht zu halten, weil er <strong>de</strong>s Menschen Sohn ist.“ Johannes 5,22.23.26.27.<br />

<strong>Die</strong> Priester und Obersten hatten sich zu Richtern gesetzt, um das Werk <strong>Christi</strong> zu<br />

verdammen, er aber erklärte, er sei ihr und <strong>de</strong>r ganzen Er<strong>de</strong> Richter. <strong>Die</strong> Welt ist Christus<br />

übergeben wor<strong>de</strong>n, und durch ihn ist jeglicher Segen von Gott auf die gefallene Menschheit<br />

gekommen. Sowohl vor wie nach seiner Menschwerdung war er <strong>de</strong>r Erlöser. Sobald die Sün<strong>de</strong><br />

kam, gab es schon einen Erlöser. Er schenkte einem je<strong>de</strong>n Licht und Leben, und nach <strong>de</strong>m Maß<br />

<strong>de</strong>s verliehenen Lichtes wird ein je<strong>de</strong>r gerichtet wer<strong>de</strong>n. Christus, <strong>de</strong>r dieses Licht schenkte,<br />

je<strong>de</strong>r Seele mit innigstem Flehen nachging und sich bemühte, sie aus <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> heraus zur<br />

Heiligung zu führen, ist ihr Anwalt und Richter zugleich. Seit Beginn <strong>de</strong>s großen Streites im<br />

Himmel hat Satan seine Sache auf betrügerische Weise verfochten. Christus dagegen hat alles<br />

getan, Satans Pläne aufzu<strong>de</strong>cken und <strong>de</strong>ssen Macht zu brechen. Er ist <strong>de</strong>m Betrüger<br />

entgegengetreten und hat durch alle Zeiten hindurch darauf hingewirkt, die in Sün<strong>de</strong><br />

Gefangenen <strong>de</strong>m Zugriff <strong>de</strong>ssen zu entwin<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r das Verdammungsurteil über je<strong>de</strong> Seele<br />

bringen will.<br />

Und Gott „hat ihm Macht gegeben, das Gericht zu halten, weil er <strong>de</strong>s Menschen Sohn<br />

ist“. Johannes 5,27. Christus hat die Anfechtungen und Versuchungen <strong>de</strong>s Menschen bis zur<br />

Neige gekostet und versteht die Schwächen und Sün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Menschen; er hat um unsertwillen<br />

<strong>de</strong>n Verlockungen Satans wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong>n und wird gerecht und barmherzig mit <strong>de</strong>n Seelen<br />

umgehen, die zu erretten er sein eigenes Blut vergossen hat. Aus diesen Grün<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />

Sohn <strong>de</strong>s Menschen dazu bestimmt, das Gericht zu halten. Doch <strong>de</strong>r Auftrag <strong>Christi</strong> galt nicht<br />

<strong>de</strong>m Gericht, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Erlösung. „Gott hat seinen Sohn nicht gesandt in die Welt, daß er die<br />

Welt richte, son<strong>de</strong>rn daß die Welt durch ihn gerettet wer<strong>de</strong>.“ Johannes 3,17. Und vor <strong>de</strong>m<br />

Hohen Rat erklärte Jesus: „Wer mein Wort hört und glaubet <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r mich gesandt hat, <strong>de</strong>r hat<br />

das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, son<strong>de</strong>rn er ist vom To<strong>de</strong> zum Leben<br />

hindurchgedrungen.“ Johannes 5,24.<br />

Mit <strong>de</strong>r Auffor<strong>de</strong>rung, nicht verwun<strong>de</strong>rt zu sein, eröffnete Christus seinen Zuhörern, noch<br />

weiter vorausblickend, das Geheimnis <strong>de</strong>r Zukunft: „Es kommt die Stun<strong>de</strong>, in welcher alle, die<br />

in <strong>de</strong>n Gräbern sind, wer<strong>de</strong>n seine Stimme hören, und wer<strong>de</strong>n hervorgehen, die da Gutes getan<br />

133


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

haben, zur Auferstehung <strong>de</strong>s Lebens, die aber Übles getan haben, zur Auferstehung <strong>de</strong>s<br />

Gerichts.“ Johannes 5,28.29.<br />

Auf diese Zusicherung <strong>de</strong>s künftigen Lebens hatte Israel so lange gewartet in <strong>de</strong>r Hoffnung,<br />

es beim Erscheinen <strong>de</strong>s Messias zu empfangen. Das einzige Licht, welches das Dunkel <strong>de</strong>s<br />

Grabes zu erleuchten vermochte, umstrahlte sie. Aber Eigensinn macht blind. Jesus hatte die<br />

Überlieferungen <strong>de</strong>r Rabbiner verletzt und ihre Autorität mißachtet. Nun wollten sie nicht<br />

glauben. Der Zeitpunkt, <strong>de</strong>r Ort, <strong>de</strong>r Anlaß, die Tiefe <strong>de</strong>r Empfindungen, welche die<br />

Versammlung erfüllten — das alles zusammen machte die Worte Jesu vor <strong>de</strong>m Hohen Rat noch<br />

eindrucksvoller. <strong>Die</strong> höchsten religiösen Wür<strong>de</strong>nträger <strong>de</strong>s Volkes trachteten <strong>de</strong>m nach <strong>de</strong>m<br />

Leben, <strong>de</strong>r sich selbst als <strong>de</strong>njenigen bezeichnete, <strong>de</strong>r Israel wie<strong>de</strong>rherstellen wollte. Der Herr<br />

<strong>de</strong>s Sabbats wur<strong>de</strong> vor ein irdisches Tribunal gestellt, um sich wegen <strong>de</strong>r Anschuldigung zu<br />

verantworten, das Sabbatgebot übertreten zu haben. Während Christus furchtlos seinen Auftrag<br />

darlegte, blickten seine Richter mit Erstaunen und Wut auf ihn; doch seine Worte waren nicht<br />

zu wi<strong>de</strong>rlegen. Sie konnten ihn nicht verurteilen. Er bestritt Priestern und Rabbinern das Recht,<br />

ihn zur Rechenschaft zu ziehen o<strong>de</strong>r seine Aufgabe zu stören. Dazu fehlte ihnen je<strong>de</strong><br />

Legitimation. Ihre <strong>de</strong>rartigen Ansprüche stützten sich auf ihren eigenen Hochmut und ihre<br />

eigene Überheblichkeit. Jesus lehnte es ab, sich ihrer Anklagen schuldig zu bekennen o<strong>de</strong>r sich<br />

von ihnen verhören zu lassen.<br />

Statt sich wegen <strong>de</strong>r ihm zur Last gelegten Tat zu rechtfertigen o<strong>de</strong>r seine damit verbun<strong>de</strong>ne<br />

Absicht zu erläutern, wandte sich Jesus gegen die Herrschen<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Volkes. Der Beschuldigte<br />

wur<strong>de</strong> zum Ankläger. Er ta<strong>de</strong>lte sie wegen ihrer Herzenshärtigkeit und Unkenntnis <strong>de</strong>r heiligen<br />

Schriften und behauptete, daß sie das Wort Gottes insofern verwarfen, als sie ihn, <strong>de</strong>n Gott<br />

gesandt hatte, zurückwiesen. „Ihr suchet in <strong>de</strong>r Schrift; <strong>de</strong>nn ihr meinet, ihr habt das ewige<br />

Leben darin; und sie ist es, die von mir zeuget.“ Johannes 5,39. Auf je<strong>de</strong>r Seite <strong>de</strong>r Geschichts-,<br />

Lehr- und prophetischen Bücher <strong>de</strong>s Alten Testaments erstrahlt die Herrlichkeit <strong>de</strong>s Sohnes<br />

Gottes. Soweit die jüdische Ordnung auf göttliche Anweisung zurückging, war sie eine<br />

gedrängte Weissagung <strong>de</strong>r Frohbotschaft. Von Christus „zeugen alle<br />

Propheten“. Apostelgeschichte 10,43. Angefangen mit <strong>de</strong>r Weissagung an Adam, über die Zeit<br />

<strong>de</strong>r Patriarchen und <strong>de</strong>r Gesetzgebung — immer ebnete das herrliche Licht <strong>de</strong>s Himmels <strong>de</strong>n<br />

Fußspuren <strong>de</strong>s Erlösers <strong>de</strong>n Weg. Seher schauten <strong>de</strong>n „Stern“ von Bethlehem, <strong>de</strong>n verheißenen<br />

„Hel<strong>de</strong>n“ (1.Mose 49,10), während künftige Ereignisse geheimnisvoll an ihnen vorüberzogen.<br />

Je<strong>de</strong>s Opfer <strong>de</strong>utete auf <strong>Christi</strong> Tod hin. Mit je<strong>de</strong>r Wolke <strong>de</strong>s Räuchopfers stieg seine<br />

Gerechtigkeit empor. Mit je<strong>de</strong>r Posaune <strong>de</strong>s „Erlaßjahres“ ertönte sein Name. 3.Mose 25,13. In<br />

<strong>de</strong>m ehrfurchtgebieten<strong>de</strong>n Geheimnis <strong>de</strong>s Allerheiligsten wohnte seine Herrlichkeit.<br />

<strong>Die</strong> Ju<strong>de</strong>n besaßen die heiligen Schriften und glaubten durch lediglich äußere Kenntnis <strong>de</strong>s<br />

Wortes das ewige Leben zu fin<strong>de</strong>n. Doch Jesus sagte: „Sein Wort habt ihr nicht in euch<br />

wohnen.“ Johannes 5,38. Dadurch, daß sie Christus in seinem Wort verworfen hatten,<br />

verwarfen sie ihn zugleich als Person. „Doch wollt ihr nicht zu mir kommen“, erklärte er, „daß<br />

ihr das Leben hättet.“ Johannes 5,40. <strong>Die</strong> jüdischen Obersten hatten zwar die Lehren <strong>de</strong>r<br />

Propheten über das Reich <strong>de</strong>s Messias studiert, jedoch nicht in <strong>de</strong>r aufrichtigen Absicht, die<br />

134


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Wahrheit zu erkennen, son<strong>de</strong>rn um Beweise zu fin<strong>de</strong>n, die ihre ehrgeizigen Hoffnungen<br />

stützten. Als Christus in einer Art kam, die ihren Erwartungen nicht entsprach, wollten sie ihn<br />

nicht annehmen. Und um sich zu rechtfertigen, versuchten sie nachzuweisen, daß er ein<br />

Betrüger sei. Nach<strong>de</strong>m sie sich einmal auf diesen Weg begeben hatten, fiel es Satan leicht, sie<br />

in ihrem Wi<strong>de</strong>rstand gegen Christus zu verhärten. Gera<strong>de</strong> die Worte, die sie als Beweis seiner<br />

Göttlichkeit hätten annehmen sollen, <strong>de</strong>uteten sie gegen ihn. So verwan<strong>de</strong>lten sie die Wahrheit<br />

Gottes in eine Lüge, und je unverhüllter <strong>de</strong>r Heiland in seinen Werken <strong>de</strong>r Barmherzigkeit zu<br />

ihnen sprach, <strong>de</strong>sto entschlossener wi<strong>de</strong>rsetzten sie sich <strong>de</strong>m Licht.<br />

Jesus sprach: „Ich nehme nicht Ehre von Menschen.“ Johannes 5,41. Er suchte we<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n<br />

Einfluß noch die Bestätigung <strong>de</strong>s Hohen Rates. Dessen Zustimmung konnte ihn nicht ehren. Er<br />

war mit <strong>de</strong>r Ehre und Vollmacht <strong>de</strong>s Himmels ausgestattet. Hätte er es gewollt, so wären Engel<br />

gekommen, um ihm zu huldigen, und <strong>de</strong>r Vater wür<strong>de</strong> erneut Jesu Göttlichkeit bezeugt haben.<br />

Aber um ihrer selbst und um <strong>de</strong>s Volkes willen, <strong>de</strong>ssen Führer sie waren, wünschte er, daß die<br />

jüdischen Oberen sein wahres Wesen erkennten und die Segnungen empfingen, die zu bringen<br />

er gekommen war.<br />

„Ich bin gekommen in meines Vaters Namen, und ihr nehmet mich nicht an. Wenn ein<br />

an<strong>de</strong>rer wird in seinem eignen Namen kommen, <strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>t ihr annehmen.“ Johannes 5,43.<br />

Jesus kam in <strong>de</strong>r Autorität Gottes. Er trug Gottes Bild an sich, erfüllte Gottes Wort und suchte<br />

Gottes Ehre. Dennoch nahmen die Herrscher Israels ihn nicht an. Wenn aber an<strong>de</strong>re kommen<br />

und <strong>Christi</strong> Wesen zur Schau stellen wür<strong>de</strong>n, in Wirklichkeit jedoch nach ihrem eigenen Willen<br />

han<strong>de</strong>lten und ihre eigene Ehre suchten, dann wür<strong>de</strong>n sie diese annehmen. Und warum? Weil<br />

<strong>de</strong>rjenige, <strong>de</strong>r seine eigene Ehre sucht, das Verlangen an<strong>de</strong>rer nach Selbsterhöhung anspricht.<br />

Auf solche Auffor<strong>de</strong>rungen konnten die Ju<strong>de</strong>n eingehen. Einen falschen Lehrer wür<strong>de</strong>n sie<br />

annehmen, weil er die von ihnen gehegten Meinungen und Überlieferungen guthieße und damit<br />

ihrem Stolz schmeichelte. <strong>Christi</strong> Lehre dagegen <strong>de</strong>ckte sich nicht mit ihren Vorstellungen. Sie<br />

war geistlich und for<strong>de</strong>rte Selbsthingabe. Aus diesem Grun<strong>de</strong> wür<strong>de</strong>n sie sie nicht annehmen.<br />

Sie kannten Gott nicht, und als er durch Christus zu ihnen sprach, war seine Stimme für sie die<br />

eines Frem<strong>de</strong>n.<br />

Wie<strong>de</strong>rholt sich dies nicht in unserer Zeit? Verhärten nicht viele führen<strong>de</strong> Männer, sogar<br />

religiöse, ihre Herzen gegen <strong>de</strong>n Heiligen Geist und berauben sie sich nicht dadurch <strong>de</strong>r<br />

Möglichkeit, die Stimme Gottes zu erkennen? Verwerfen sie nicht Gottes Wort um ihrer<br />

eigenen Überlieferungen willen? „Wenn ihr Mose glaubtet“, sprach Jesus, „so glaubtet ihr auch<br />

mir; <strong>de</strong>nn er hat von mir geschrieben. Wenn ihr aber seinen Schriften nicht glaubet, wie wer<strong>de</strong>t<br />

ihr meinen Worten glauben?“ Johannes 5,46.47. Christus hatte durch Mose zu <strong>de</strong>n Israeliten<br />

gere<strong>de</strong>t. Hätten sie auf die göttliche Stimme geachtet, die durch ihren großen Führer gesprochen<br />

hatte, dann wür<strong>de</strong>n sie sie in <strong>de</strong>n Lehren <strong>Christi</strong> wie<strong>de</strong>rerkannt haben. Hätten sie Mose<br />

geglaubt, so wür<strong>de</strong>n sie auch an <strong>de</strong>n geglaubt haben, von <strong>de</strong>m Mose schrieb.<br />

Jesus wußte, daß die Priester und Rabbiner entschlossen waren, ihm das Leben zu nehmen.<br />

Dennoch erklärte er ihnen in aller Deutlichkeit seine Einheit mit <strong>de</strong>m Vater und sein Verhältnis<br />

zur Welt. Sie erkannten, daß ihr Wi<strong>de</strong>rstand gegen ihn unentschuldbar war. Dennoch ließ ihr<br />

135


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

mör<strong>de</strong>rischer Haß nicht nach. Furcht bemächtigte sich ihrer, als sie Augenzeugen <strong>de</strong>r<br />

überwältigen<strong>de</strong>n Macht wur<strong>de</strong>n, die seinen <strong>Die</strong>nst begleitete. Dessenungeachtet wi<strong>de</strong>rsetzten<br />

sie sich seinem Ruf und lieferten sich <strong>de</strong>r Finsternis aus. Es war ihnen in keiner Weise<br />

gelungen, das Ansehen Jesu zu untergraben o<strong>de</strong>r ihm die Achtung und Aufmerksamkeit <strong>de</strong>s<br />

Volkes zu entziehen, im Gegenteil, viele von ihnen waren von seinen Worten überzeugt. <strong>Die</strong><br />

Obersten selber hatten tiefe Gewissensbisse gefühlt, als er ihnen mit Nachdruck ihre Schuld<br />

zum Bewußtsein brachte. Doch das ließ sie nur noch heftiger reagieren. Sie waren entschlossen,<br />

zu töten. Sie sandten <strong>de</strong>shalb Boten durch das ganze Land, die das Volk vor Jesus warnen<br />

sollten, <strong>de</strong>r ein Betrüger wäre. Beobachter wur<strong>de</strong>n ausgesandt, um ihn zu überwachen. Sie<br />

sollten berichten, was er re<strong>de</strong>te und tat. Der herrliche Erlöser stand nunmehr ganz <strong>de</strong>utlich unter<br />

<strong>de</strong>m Schatten <strong>de</strong>s Kreuzes.<br />

136


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 22: Gefangenschaft und Tod <strong>de</strong>s Johannes<br />

Johannes <strong>de</strong>r Täufer war <strong>de</strong>r erste, <strong>de</strong>r das Reich <strong>Christi</strong> verkündigte, und auch <strong>de</strong>r erste, <strong>de</strong>r<br />

dafür lei<strong>de</strong>n sollte. Aus <strong>de</strong>r freien Luft <strong>de</strong>r Wüste und weg von <strong>de</strong>r großen Menge, die an seinen<br />

Worten hing, wur<strong>de</strong> er in <strong>de</strong>n Kerker eines Burgverlieses eingeschlossen. Er war Gefangener in<br />

<strong>de</strong>r Festung <strong>de</strong>s Hero<strong>de</strong>s Antipas. In <strong>de</strong>m Gebiet östlich <strong>de</strong>s Jordan, das unter <strong>de</strong>r Herrschaft <strong>de</strong>s<br />

Antipas stand, hatte Johannes einen großen Teil seines Wirkens zugebracht. Hero<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>r<br />

zügellose König, hatte selber <strong>de</strong>r Predigt <strong>de</strong>s Täufers gelauscht und unter <strong>de</strong>ssen Bußruf<br />

gezittert. „Hero<strong>de</strong>s fürchtete <strong>de</strong>n Johannes, weil er wußte, daß er ein frommer und heiliger<br />

Mann war ... und wenn er ihn gehört hatte, ward er sehr unruhig; und doch hörte er ihn<br />

gerne.“ Markus 6,20. Johannes war aufrichtig zu ihm und ta<strong>de</strong>lte ihn wegen seiner unerlaubten<br />

Verbindung mit Herodias, <strong>de</strong>r Frau seines Bru<strong>de</strong>rs. Eine Zeitlang unternahm Hero<strong>de</strong>s einen<br />

schwachen Versuch, die Ketten <strong>de</strong>r Begier<strong>de</strong>, welche ihn ban<strong>de</strong>n, zu brechen; doch Herodias<br />

verstrickte ihn um so fester in ihrem Netz und rächte sich an <strong>de</strong>m Täufer dadurch, daß sie<br />

Hero<strong>de</strong>s veranlaßte, ihn ins Gefängnis zu werfen.<br />

Das Leben <strong>de</strong>s Johannes war voller emsiger Arbeit gewesen. Daher lasteten die Düsternis<br />

und die Untätigkeit seiner Gefangenschaft schwer auf ihm. Als Woche um Woche verstrich,<br />

ohne eine Än<strong>de</strong>rung zu bringen, kamen Verzagtheit und Zweifel über ihn. Seine Jünger ließen<br />

ihn nicht im Stich. Sie durften das Gefängnis betreten und berichteten ihm von <strong>de</strong>n Taten Jesu.<br />

Dabei erzählten sie ihm, wie das Volk sich um Jesus scharte, und sie fragten sich, warum dieser<br />

neue Lehrer, wenn er wirklich <strong>de</strong>r Messias war, nichts zur Freilassung <strong>de</strong>s Johannes unternahm.<br />

Wie konnte er es zulassen, daß sein treuer Vorläufer <strong>de</strong>r Freiheit und vielleicht gar <strong>de</strong>s Lebens<br />

beraubt wird?<br />

<strong>Die</strong>se Fragen blieben nicht ohne Wirkung. Zweifel, wie sie sonst niemals aufgekommen<br />

wären, wur<strong>de</strong>n Johannes eingeflüstert. Satan hatte seine Freu<strong>de</strong> daran, die Worte dieser Jünger<br />

zu hören und zu sehen, wie sie <strong>de</strong>n Boten <strong>de</strong>s Herrn tief innerlich verwun<strong>de</strong>ten. Wie oft<br />

erweisen sich doch gera<strong>de</strong> die guten Freun<strong>de</strong> eines Menschen, die ihm so gern ihre<br />

Verbun<strong>de</strong>nheit bekun<strong>de</strong>n, als seine gefährlichsten Fein<strong>de</strong>! Vielfach wirken ihre Worte<br />

nie<strong>de</strong>rdrückend und entmutigend, statt <strong>de</strong>n Glauben zu stärken.<br />

Johannes <strong>de</strong>m Täufer erging es wie <strong>de</strong>n Jüngern <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s: Auch er hatte das Wesen <strong>de</strong>s<br />

Reiches <strong>Christi</strong> nicht verstan<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn wartete darauf, daß Jesus <strong>de</strong>n Thron Davids<br />

einnehmen wer<strong>de</strong>. Als aber die Zeit verstrich und <strong>de</strong>r Heiland keinen Anspruch auf königliche<br />

Autorität geltend machte, zeigte sich Johannes bestürzt und beunruhigt. Er hatte <strong>de</strong>m Volk<br />

verkün<strong>de</strong>t, daß als Erfüllung <strong>de</strong>r Weissagung <strong>de</strong>s Jesaja <strong>de</strong>m Herrn <strong>de</strong>r Weg bereitet wer<strong>de</strong>n<br />

müsse. „Alle Berge und Hügel sollen erniedrigt wer<strong>de</strong>n, und was uneben ist, soll gera<strong>de</strong>, und<br />

was hügelig ist, soll eben wer<strong>de</strong>n.“ Jesaja 40,4; Jesaja 57,14. Er hatte nach <strong>de</strong>n Gipfeln<br />

menschlichen Hochmuts und menschlicher Macht Ausschau gehalten, die erniedrigt wer<strong>de</strong>n<br />

müßten. Und er hatte auf <strong>de</strong>n Messias als <strong>de</strong>njenigen hingewiesen, <strong>de</strong>r „seine Wurfschaufel<br />

schon in <strong>de</strong>r Hand“ hält und gründlich „seine Tenne fegen“, <strong>de</strong>r „seinen Weizen in die Scheune<br />

sammeln; aber die Spreu ... mit unauslöschlichem Feuer verbrennen“ wird. Matthäus 3,12<br />

137


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

(Bruns). Gleich <strong>de</strong>m Propheten Elia, in <strong>de</strong>ssen Geist und Kraft er zu Israel gekommen war,<br />

erwartete Johannes, daß <strong>de</strong>r Herr sich als ein Gott offenbaren wer<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r mit Feuer antwortet.<br />

Seinen <strong>Die</strong>nst hatte <strong>de</strong>r Täufer als ein Mann versehen, <strong>de</strong>r Unrecht vor hoch und niedrig<br />

furchtlos ta<strong>de</strong>lte. Er hatte gewagt, <strong>de</strong>m König Hero<strong>de</strong>s mit offener Mißbilligung <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong><br />

entgegenzutreten. Ja, er hatte sein eigenes Leben nicht geschont, wenn es galt, <strong>de</strong>n ihm erteilten<br />

Auftrag zu erfüllen. Und nun wartete er in seinem Verlies auf <strong>de</strong>n „Löwen“ aus <strong>de</strong>m Stamme<br />

Juda (1.Mose 49,4), <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Hochmut <strong>de</strong>s Unterdrückers dämpfen und die Armen und<br />

Jammern<strong>de</strong>n befreien sollte. Jesus hingegen schien sich damit zufrie<strong>de</strong>nzugeben, Jünger um<br />

sich zu sammeln und das Volk zu heilen und zu lehren. Er aß an <strong>de</strong>n Tischen <strong>de</strong>r Zöllner,<br />

während das Joch <strong>de</strong>r Römer je<strong>de</strong>n Tag schwerer auf Israel lastete, König Hero<strong>de</strong>s und seine<br />

nichtswürdige Buhlerin taten, was sie wollten, und die Schreie <strong>de</strong>r Armen und Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n zum<br />

Himmel aufstiegen.<br />

Dem einsamen Propheten schien all dies ein Geheimnis zu sein, das seine Fassungskraft<br />

überstieg. Es gab Stun<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>nen die Einflüsterungen teuflischer Mächte seinen Geist quälten<br />

und <strong>de</strong>r Schatten einer schrecklichen Furcht ihn beschlich. War <strong>de</strong>r seit langem erwartete<br />

Erlöser etwa noch gar nicht erschienen? Doch was be<strong>de</strong>utete dann die Botschaft, die<br />

hinauszutragen es ihn getrieben hatte? Das Ergebnis seines <strong>Die</strong>nstes hatte Johannes bitter<br />

enttäuscht. Er hatte erwartet, daß Gottes Botschaft die gleiche Wirkung haben wür<strong>de</strong> wie das<br />

öffentliche Lesen <strong>de</strong>s Gesetzes in <strong>de</strong>n Tagen <strong>de</strong>s Josia und <strong>de</strong>s Esra. 2.Chronik 34,14-<br />

33; Nehemia 8,9. Er hatte damit gerechnet, daß es zu einer tiefgehen<strong>de</strong>n Buße und Umkehr zum<br />

Herrn kommen wür<strong>de</strong>. Dem Erfolg dieses Auftrages hatte er sein ganzes Leben geweiht. Sollte<br />

nun alles umsonst gewesen sein?<br />

Johannes war betrübt, als er feststellte, daß seine eigenen Jünger aus Liebe zu ihm Jesus<br />

gegenüber Unglauben zeigten. Hatte er an ihnen fruchtlos gearbeitet? Hatte er seinen <strong>Die</strong>nst<br />

vielleicht nicht gewissenhaft genug erfüllt und wur<strong>de</strong> nun <strong>de</strong>shalb von <strong>de</strong>m Fortgang seines<br />

Auftrages ausgeschlossen? Hätte Jesus, <strong>de</strong>r verheißene und erschienene Erlöser, nicht die Macht<br />

<strong>de</strong>s Unterdrückers gebrochen und seinem Boten Johannes die Freiheit wie<strong>de</strong>rgegeben —<br />

vorausgesetzt, dieser wäre in seiner Berufung als treu erfun<strong>de</strong>n wor<strong>de</strong>n? Doch <strong>de</strong>r Täufer verlor<br />

nicht seinen Glauben an Christus. <strong>Die</strong> Erinnerung an die Stimme vom Himmel und das<br />

Hernie<strong>de</strong>rschweben <strong>de</strong>r Taube, die fleckenlose Reinheit Jesu, die Kraft <strong>de</strong>s Heiligen Geistes,<br />

die Johannes erfüllt hatte, als er in die Nähe <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s kam, und das Zeugnis <strong>de</strong>r<br />

prophetischen Schriften — das alles bezeugte ihm, daß Jesus von Nazareth <strong>de</strong>r Verheißene<br />

Gottes war. Matthäus 3,13-17; Markus 1,9-11; Lukas 3,21.22; Johannes 1,32-34.<br />

Johannes wollte über seine Zweifel und Besorgnisse nicht mit seinen Jüngern sprechen,<br />

son<strong>de</strong>rn beschloß, bei Jesus selbst nachfragen zu lassen. Damit betraute er zwei seiner Jünger.<br />

Er hoffte, daß ihr Gespräch mit <strong>de</strong>m Heiland ihren eigenen Glauben stärken und ihren Brü<strong>de</strong>rn<br />

Gewißheit bringen wür<strong>de</strong>. Und er selbst sehnte sich nach irgen<strong>de</strong>inem persönlichen Wort aus<br />

<strong>de</strong>m Mun<strong>de</strong> <strong>Christi</strong>. <strong>Die</strong> Jünger kamen zu Jesus mit <strong>de</strong>r Frage: „Bist du, <strong>de</strong>r da kommen soll,<br />

o<strong>de</strong>r sollen wir eines an<strong>de</strong>rn warten?“ Matthäus 11,3. Erst kurze Zeit war vergangen, seit <strong>de</strong>r<br />

Täufer auf Jesus hingewiesen und verkündigt hatte: „Siehe, das ist Gottes Lamm, welches <strong>de</strong>r<br />

138


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Welt Sün<strong>de</strong> trägt!“ Johannes 1,29. „Der ist‘s, <strong>de</strong>r nach mir kommen wird, <strong>de</strong>s ich nicht wert bin,<br />

daß ich seine Schuhriemen auflöse.“ Johannes 1,27. Und jetzt die Frage: „Bist du, <strong>de</strong>r da<br />

kommen soll?“ Für menschliches Denken war das überaus bitter und enttäuschend. Wenn selbst<br />

Johannes, <strong>de</strong>r treue Wegbereiter, nicht in <strong>de</strong>r Lage war, <strong>Christi</strong> Aufgabe richtig zu erkennen,<br />

wie konnte das dann von <strong>de</strong>r eigensüchtigen Menge erwartet wer<strong>de</strong>n?<br />

Der Heiland beantwortete die Frage <strong>de</strong>r Jünger nicht spontan. Während sie verwun<strong>de</strong>rt über<br />

sein Schweigen nachdachten, kamen Kranke und Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> zu ihm, um geheilt zu wer<strong>de</strong>n.<br />

Blin<strong>de</strong> ertasteten sich ihren Weg durch das Volk. Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> aller Art drängten sich, manche aus<br />

eigener Kraft, an<strong>de</strong>re von Freun<strong>de</strong>n getragen, voller Verlangen in die Nähe Jesu. <strong>Die</strong> Stimme<br />

<strong>de</strong>s mächtigen Arztes erreichte das taube Ohr. Ein Wort, ein Berühren mit seiner Hand öffnete<br />

die erblin<strong>de</strong>ten Augen, so daß sie das Licht <strong>de</strong>s Tages, die Schönheit <strong>de</strong>r Natur, die Gesichter<br />

ihrer Freun<strong>de</strong> und das Antlitz <strong>de</strong>s Erlösers schauen konnten. Jesus gebot <strong>de</strong>r Krankheit Einhalt<br />

und bannte das Fieber. Seine Stimme drang an die Ohren <strong>de</strong>r Sterben<strong>de</strong>n, und sie stan<strong>de</strong>n auf —<br />

gesund und kraftvoll. Besessene, die ihrer selbst nicht mächtig waren, gehorchten seinem Wort,<br />

<strong>de</strong>r Wahnsinn wich von ihnen, und sie beteten ihn an. Während er Krankheiten heilte, lehrte er<br />

das Volk. <strong>Die</strong> armen Bauern und Arbeiter, von <strong>de</strong>n Rabbinern als unrein gemie<strong>de</strong>n, drängten<br />

sich um ihn, und er sprach Worte <strong>de</strong>s ewigen Lebens zu ihnen.<br />

So verging <strong>de</strong>r Tag, und die Jünger <strong>de</strong>s Johannes sahen und hörten das alles. Schließlich rief<br />

Jesus sie zu sich und gebot ihnen, hinzugehen und Johannes zu berichten, was sie erlebt hatten.<br />

Dann fügte er hinzu: „Selig ist, <strong>de</strong>r nicht Ärgernis nimmt an mir.“ Matthäus 11,6; Lukas 7,23.<br />

Der Beweis seiner Göttlichkeit wur<strong>de</strong> darin sichtbar, daß er sich <strong>de</strong>r Nöte <strong>de</strong>r lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />

Menschheit annahm. Seine Herrlichkeit zeigte sich darin, daß er sich zu unserer Niedrigkeit<br />

herabließ.<br />

<strong>Die</strong> Jünger überbrachten ihre Botschaft, und Johannes war zufrie<strong>de</strong>n. Er erinnerte sich <strong>de</strong>r<br />

messianischen Weissagung: „Der Geist Gottes <strong>de</strong>s Herrn ist auf mir, weil <strong>de</strong>r Herr mich gesalbt<br />

hat. Er hat mich gesandt, <strong>de</strong>n Elen<strong>de</strong>n gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu<br />

verbin<strong>de</strong>n, zu verkündigen <strong>de</strong>n Gefangenen die Freiheit, <strong>de</strong>n Gebun<strong>de</strong>nen, daß sie frei und ledig<br />

sein sollen; zu verkündigen ein gnädiges Jahr <strong>de</strong>s Herrn.“ Jesaja 61,1.2. Durch seine Werke<br />

wies sich Christus nicht allein als Messias aus, son<strong>de</strong>rn er zeigte auch, wie sein Reich gegrün<strong>de</strong>t<br />

wer<strong>de</strong>n sollte. Johannes wur<strong>de</strong> dieselbe Wahrheit eröffnet wie einst <strong>de</strong>m Propheten Elia in <strong>de</strong>r<br />

Wüste, als „ein großer, starker Wind, <strong>de</strong>r die Berge zerriß und die Felsen zerbrach, kam vor<br />

<strong>de</strong>m Herrn her; <strong>de</strong>r Herr aber war nicht im Win<strong>de</strong>. Nach <strong>de</strong>m Wind aber kam ein Erdbeben;<br />

aber <strong>de</strong>r Herr war nicht im Erdbeben. Und nach <strong>de</strong>m Erdbeben kam ein Feuer; aber <strong>de</strong>r Herr<br />

war nicht im Feuer.“ 1.Könige 19,11.12. Doch nach <strong>de</strong>m Feuer re<strong>de</strong>te Gott zu <strong>de</strong>m Propheten<br />

durch eine stille, sanfte Stimme. Genauso sollte Jesus seine Aufgabe erfüllen, nicht mit<br />

Waffengeklirr und in<strong>de</strong>m er Throne und Königreiche stürzte. Er sollte vielmehr durch ein<br />

Leben <strong>de</strong>r Güte und Hingabe zu <strong>de</strong>n Herzen <strong>de</strong>r Menschen sprechen.<br />

Der Grundsatz <strong>de</strong>r Selbstverleugnung in <strong>de</strong>s Täufers eigenem Leben war auch eine<br />

Grundregel im Reiche <strong>de</strong>s Messias. Johannes wußte genau, wie fremd all dies <strong>de</strong>n Grundsätzen<br />

und Hoffnungen <strong>de</strong>r führen<strong>de</strong>n Männer Israels war. Was er für einen überzeugen<strong>de</strong>n Beweis <strong>de</strong>r<br />

139


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Göttlichkeit <strong>Christi</strong> hielt, wür<strong>de</strong> jene nicht überzeugen. Sie erwarteten einen Messias, wie er<br />

nicht verheißen wor<strong>de</strong>n war. Johannes verstand, daß die Sendung <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s bei ihnen nur<br />

Haß und Verdammung ernten konnte. Er als Wegbereiter mußte <strong>de</strong>n Kelch trinken, <strong>de</strong>n Christus<br />

selber bis zur Neige leeren sollte. <strong>Die</strong> Worte <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s „Selig ist, <strong>de</strong>r nicht Ärgernis nimmt<br />

an mir“ (Matthäus 11,6; Lukas 7,23), waren für Johannes ein mil<strong>de</strong>r Ta<strong>de</strong>l. Er stieß bei ihm<br />

nicht auf taube Ohren. Jetzt verstand er das Wesen <strong>de</strong>s <strong>Die</strong>nstes <strong>Christi</strong> besser und beugte sich<br />

vor Gott, bereit zu leben o<strong>de</strong>r zu sterben, was immer <strong>de</strong>r Sache, die er liebte, am meisten dienen<br />

konnte.<br />

Nach<strong>de</strong>m die Boten <strong>de</strong>s Johannes gegangen waren, sprach Jesus zu <strong>de</strong>m Volk über <strong>de</strong>n<br />

Täufer. Das Herz <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s wandte sich in tiefem Mitgefühl <strong>de</strong>m treuen Zeugen zu, <strong>de</strong>r im<br />

Burgverlies <strong>de</strong>s Hero<strong>de</strong>s lebendig begraben war. Er wollte das Volk nicht in <strong>de</strong>r Meinung<br />

bestärken, Gott habe Johannes im Stich gelassen, o<strong>de</strong>r Johannes hätte am Tage <strong>de</strong>r Prüfung im<br />

Glauben Schiffbruch erlitten. „Was seid ihr hinausgegangen in die Wüste zu sehen?“ fragte er.<br />

„Wolltet ihr ein Rohr sehen, das vom Wind bewegt wird?“ Lukas 7,24.<br />

Das hohe Schilf, das am Jordan wuchs und bei je<strong>de</strong>r Brise hin und her wogte, war ein<br />

treffen<strong>de</strong>s Bild für die Rabbiner, die sich zu Kritikern und Richtern über <strong>de</strong>s Täufers <strong>Die</strong>nst<br />

aufgeworfen hatten. Bei je<strong>de</strong>m Sturm <strong>de</strong>r öffentlichen Meinung schwankten sie bald in diese,<br />

bald in jene Richtung. Einerseits wollten sie die Botschaft <strong>de</strong>s Täufers nicht <strong>de</strong>mütig annehmen<br />

und ihre Herzen durchforschen, an<strong>de</strong>rseits wagten sie es jedoch aus Furcht vor <strong>de</strong>m Volk nicht,<br />

seinem Wirken offen entgegenzutreten. Aber <strong>de</strong>r Bote Gottes war kein Feigling. <strong>Die</strong><br />

Volksmenge, die sich um Christus scharte, war Zeuge <strong>de</strong>r Tätigkeit <strong>de</strong>s Johannes gewesen. Sie<br />

hatten gehört, wie furchtlos er die Sün<strong>de</strong> gegeißelt hatte. Mit <strong>de</strong>rselben Deutlichkeit hatte<br />

Johannes zu selbstgerechten Pharisäern, priesterlichen Sadduzäern, zu König Hero<strong>de</strong>s und<br />

seinem Hofstaat, zu Fürsten und Soldaten, Zöllnern und Bauern gesprochen. Er glich keinem<br />

schwanken<strong>de</strong>n Schilfrohr, das sich durch <strong>de</strong>n Luftzug menschlichen Lobes o<strong>de</strong>r Vorurteils<br />

bewegen ließ. Selbst im Gefängnis war er in seiner Treue zu Gott und seinem Streben nach<br />

Gerechtigkeit <strong>de</strong>rselbe geblieben, <strong>de</strong>r er bei <strong>de</strong>r Verkündigung <strong>de</strong>r Botschaft Gottes in <strong>de</strong>r<br />

Wüste gewesen war. In seiner Grundsatztreue stand er fest wie ein Fels.<br />

Jesus fuhr fort: „O<strong>de</strong>r was seid ihr hinausgegangen zu sehen? Wolltet ihr einen Menschen in<br />

weichen Klei<strong>de</strong>rn sehen? Siehe, die da weiche Klei<strong>de</strong>r tragen, sind in <strong>de</strong>r Könige<br />

Häusern.“ Matthäus 11,8. Johannes war berufen wor<strong>de</strong>n, die Sün<strong>de</strong>n und Auswüchse seiner Zeit<br />

zu ta<strong>de</strong>ln. Seine schlichte Kleidung wie auch sein entsagungsvolles Leben entsprachen genau<br />

<strong>de</strong>m Wesen seiner Botschaft. Reiche Gewän<strong>de</strong>r und luxuriöses Leben passen nicht zu <strong>Die</strong>nern<br />

Gottes, son<strong>de</strong>rn zu <strong>de</strong>nen, die „in <strong>de</strong>r Könige Häusern“ leben, zu <strong>de</strong>n Herrschern dieser Welt als<br />

Zeichen ihrer Macht und ihres Glanzes. Jesus hob bewußt <strong>de</strong>n Gegensatz zwischen <strong>de</strong>r<br />

Kleidung <strong>de</strong>s Johannes und <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Priester und <strong>de</strong>r Mächtigen hervor. <strong>Die</strong>se Wür<strong>de</strong>nträger<br />

hüllten sich in prächtige Gewän<strong>de</strong>r und trugen kostbaren Schmuck. Sie stellten sich gern zur<br />

Schau und hofften, dadurch das Volk zu blen<strong>de</strong>n und ihm mehr Achtung abzunötigen. Es ging<br />

ihnen mehr darum, von Menschen bewun<strong>de</strong>rt zu wer<strong>de</strong>n, als ein reines Herz zu erlangen, das<br />

140


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Gottes Wohlgefallen fin<strong>de</strong>t. Auf diese Weise taten sie kund, daß sie nicht Gott, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>m<br />

Reiche dieser Welt huldigten.<br />

„O<strong>de</strong>r was“, sprach Jesus, „seid ihr hinausgegangen? Wolltet ihr einen Propheten sehen? Ja,<br />

ich sage euch: er ist mehr als ein Prophet. <strong>Die</strong>ser ist‘s, von <strong>de</strong>m geschrieben steht: ‚Siehe, ich<br />

sen<strong>de</strong> meinen Boten vor dir her, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>inen Weg vor dir bereiten soll.‘ Wahrlich, ich sage euch:<br />

Unter allen, die vom Weibe geboren sind, ist keiner aufgestan<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r größer sei als Johannes<br />

<strong>de</strong>r Täufer.“ Matthäus 11,9-11; Maleachi 3,1. Bei <strong>de</strong>r Ankündigung <strong>de</strong>r Geburt <strong>de</strong>s Johannes<br />

hatte <strong>de</strong>r Engel <strong>de</strong>m Priester Zacharias erklärt: „Er wird groß sein vor <strong>de</strong>m Herrn.“ Lukas 1,15.<br />

Was ist Größe aber im Urteil <strong>de</strong>s Himmels? Nicht das, was die Welt für Größe hält; Reichtum,<br />

sozialer Stand, vornehme Herkunft o<strong>de</strong>r Intelligenz, für sich allein betrachtet, zählen nicht.<br />

Wenn überragen<strong>de</strong> Geisteskraft, losgelöst von je<strong>de</strong>r höheren Beziehung, Verehrung<br />

beansprucht, dann müßten wir auch Satan huldigen, <strong>de</strong>ssen Geistesschärfe noch nie ein Mensch<br />

erreicht hat. Es ist nun einmal so: Je größer eine Gabe ist, zu einem <strong>de</strong>sto größeren Fluch<br />

entartet sie, sobald sie zum Selbstzweck verfälscht wird. Gott schätzt allein sittliche Werte.<br />

Liebe und Reinheit sind die Eigenschaften, die er am höchsten bewertet. In <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>s<br />

Herrn war Johannes groß, als er vor <strong>de</strong>n Abgesandten <strong>de</strong>s Hohen Rates, vor <strong>de</strong>m Volk und vor<br />

seinen eigenen Jüngern keinerlei Ehre für sich selber suchte, son<strong>de</strong>rn sie alle auf Jesus als <strong>de</strong>n<br />

von Gott Verheißenen hinwies. Seine selbstlose Freu<strong>de</strong> im <strong>Die</strong>nst für Christus stellt die höchste<br />

Form edler Gesinnung dar, die je ein Mensch offenbaren kann.<br />

Alle jene, die sein Bekenntnis zu Jesus vernommen hatten, bezeugten nach seinem To<strong>de</strong>:<br />

„Johannes tat kein Zeichen; aber alles, was Johannes von diesem gesagt hat, das ist<br />

wahr.“ Johannes 10,41. Es war ihm nicht — wie Elia — gegeben, Feuer vom Himmel fallen zu<br />

lassen o<strong>de</strong>r Tote aufzuwecken o<strong>de</strong>r — Mose gleich — im Namen Gottes <strong>de</strong>n Wun<strong>de</strong>rstab zu<br />

schwingen. Er war gesandt, <strong>de</strong>n nahen<strong>de</strong>n Erlöser anzukündigen und das Volk aufzurufen, sich<br />

auf <strong>de</strong>ssen Ankunft vorzubereiten. Seinen Auftrag erfüllte er so gewissenhaft, daß das Volk in<br />

Erinnerung an das, was er sie über Jesus gelehrt hatte, bestätigte: „Alles, was Johannes von<br />

diesem gesagt hat, das ist wahr.“ Ein solches Zeugnis von Christus zu geben, ist je<strong>de</strong>r Jünger<br />

<strong>de</strong>s Meisters aufgerufen.<br />

Als Vorläufer <strong>de</strong>s Messias war Johannes „mehr als ein Prophet“. Matthäus 11,9-<br />

11; Maleachi 3,1. <strong>Die</strong> Propheten hatten das Kommen <strong>Christi</strong> ja nur aus <strong>de</strong>r Ferne schauen<br />

können; Johannes dagegen war es gegeben, ihn selber zu sehen, die Zustimmung <strong>de</strong>s Himmels<br />

zu Jesu Messianität zu hören und ihn vor Israel als <strong>de</strong>n von Gott Gesandten darzustellen.<br />

Gleichwohl erklärte Jesus: „Der aber <strong>de</strong>r Kleinste ist im Himmelreich, ist größer als<br />

er.“ Matthäus 11,11. Der Prophet Johannes war das Bin<strong>de</strong>glied zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n<br />

Heilsordnungen. Als Gottes Beauftragter trat er hervor und zeigte die Beziehung von Gesetz<br />

und Propheten zur christlichen Heilsordnung auf. Er war das geringere Licht, <strong>de</strong>m ein größeres<br />

folgen sollte. Das Verständnis <strong>de</strong>s Johannes war durch <strong>de</strong>n Heiligen Geist erleuchtet, so daß er<br />

Licht über sein Volk ausstrahlen konnte; aber kein an<strong>de</strong>res Licht schien jemals o<strong>de</strong>r wird jemals<br />

auf gefallene Menschen so klar scheinen wie jenes, das von <strong>de</strong>n Lehren und <strong>de</strong>m Beispiel Jesu<br />

ausging. Christus und seine Sendung waren in ihrer Darstellung durch die schattenhaften Opfer<br />

141


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

nur unklar verstan<strong>de</strong>n wor<strong>de</strong>n. Selbst Johannes besaß noch keine rechte Vorstellung vom<br />

künftigen unsterblichen Leben, das durch <strong>de</strong>n Heiland geschenkt wird.<br />

Abgesehen von <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong>, die Johannes in seiner Aufgabe fand, war sein Leben voller<br />

Sorge. Außer in <strong>de</strong>r Wüste wur<strong>de</strong> seine Stimme nur selten vernommen. Er trug das Los <strong>de</strong>r<br />

Einsamkeit. Und es war ihm nicht vergönnt, die Früchte seiner Arbeit zu schauen. Ihm wur<strong>de</strong><br />

nicht erlaubt, mit Christus zusammen zu sein und Zeuge <strong>de</strong>r Bekundungen göttlicher Macht zu<br />

wer<strong>de</strong>n, die das größere Licht begleiteten. Er durfte nicht sehen, wie Blin<strong>de</strong> das Augenlicht<br />

wie<strong>de</strong>rerhielten, wie Kranke geheilt und Tote zum Leben auferweckt wur<strong>de</strong>n. Das Licht, das in<br />

je<strong>de</strong>m Wort <strong>Christi</strong> aufstrahlte und seinen Glanz auf die Verheißungen <strong>de</strong>r Prophetie warf, hat<br />

er nicht geschaut. Der niedrigste Jünger, <strong>de</strong>r <strong>Christi</strong> machtvolle Werke sah und seine Worte<br />

hörte, war in dieser Hinsicht Johannes <strong>de</strong>m Täufer gegenüber bevorzugt und wur<strong>de</strong> daher von<br />

Jesus als „größer“ bezeichnet.<br />

Durch die großen Scharen, die <strong>de</strong>r Predigt <strong>de</strong>s Johannes gelauscht hatten, wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Täufer<br />

im ganzen Land bekannt. Alle nahmen tiefen Anteil am Ausgang seiner Gefangenschaft. Sein<br />

makelloses Leben und die ihn begünstigen<strong>de</strong> starke öffentliche Meinung führten zu <strong>de</strong>r<br />

Annahme, daß keine ernsten Maßnahmen gegen ihn ergriffen wür<strong>de</strong>n. Hero<strong>de</strong>s hielt Johannes<br />

für einen Propheten Gottes und war fest entschlossen, ihn freizulassen. Doch aus Furcht vor<br />

Herodias schob er seine Absicht auf. Herodias wußte, daß sie auf legale Weise niemals die<br />

Zustimmung <strong>de</strong>s Hero<strong>de</strong>s zum To<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Johannes erlangen wür<strong>de</strong>. So beschloß sie, ihr Ziel<br />

durch List zu erreichen. Am Geburtstag <strong>de</strong>s Königs sollte <strong>de</strong>n Wür<strong>de</strong>nträgern <strong>de</strong>s Staates und<br />

<strong>de</strong>n Hofbeamten ein Fest gegeben wer<strong>de</strong>n. Es wür<strong>de</strong> geschlemmt und getrunken wer<strong>de</strong>n.<br />

Dadurch wür<strong>de</strong> Hero<strong>de</strong>s nicht so auf <strong>de</strong>r Hut sein, und sie könnte ihn ihrem Willen gefügig<br />

machen.<br />

Als <strong>de</strong>r große Tag kam und <strong>de</strong>r König mit seinen Wür<strong>de</strong>nträgern aß und trank, sandte<br />

Herodias ihre Tochter in <strong>de</strong>n Festsaal, damit sie zur Unterhaltung <strong>de</strong>r Gäste tanzte. Salome<br />

befand sich im ersten Stadium <strong>de</strong>s Aufblühens ihrer Weiblichkeit, und ihre üppige Schönheit<br />

nahm die Sinne <strong>de</strong>r adligen Zecher gefangen. <strong>Die</strong> Damen <strong>de</strong>s Hofes pflegten bei solchen<br />

Festlichkeiten nicht zu erscheinen, und schmeichlerischer Applaus wur<strong>de</strong> Hero<strong>de</strong>s dargebracht,<br />

als diese Tochter israelitischer Priester und Fürsten zum Vergnügen seiner Gäste tanzte.<br />

Der König war vom Wein benommen. <strong>Die</strong> Lei<strong>de</strong>nschaft herrschte, die Vernunft war<br />

entthront. Er sah nur <strong>de</strong>n Festsaal mit <strong>de</strong>n schwelgen<strong>de</strong>n Gästen, die reichge<strong>de</strong>ckte Tafel, <strong>de</strong>n<br />

funkeln<strong>de</strong>n Wein, die blinken<strong>de</strong>n Lichter und das junge Mädchen, das vor ihm tanzte. In <strong>de</strong>r<br />

Unbesonnenheit <strong>de</strong>s Augenblicks wollte er irgend etwas tun, womit er vor <strong>de</strong>n Großen seines<br />

Reiches glänzen könnte. Mit einem Schwur gelobte er, <strong>de</strong>r Tochter <strong>de</strong>r Herodias zu geben, was<br />

immer sie erbitten mochte, und sei es die Hälfte seines Königreiches. Matthäus 14,6.7; Markus<br />

6,21-23.<br />

Salome eilte zu ihrer Mutter, um sich von ihr raten zu lassen, was sie sich wünschen sollte.<br />

<strong>Die</strong> Antwort kam schnell: das Haupt Johannes <strong>de</strong>s Täufers. Salome kannte nicht <strong>de</strong>n Rachedurst<br />

im Herzen ihrer Mutter, und es schau<strong>de</strong>rte sie, diese Bitte vorzutragen; doch die<br />

142


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Entschie<strong>de</strong>nheit <strong>de</strong>r Herodias gewann die Oberhand. Das Mädchen kehrte zurück mit <strong>de</strong>r<br />

entsetzlichen Bitte: „Gib mir her auf einer Schüssel das Haupt Johannes <strong>de</strong>s Täufers!“ Matthäus<br />

14,8.<br />

Hero<strong>de</strong>s war überrascht und bestürzt. <strong>Die</strong> ausgelassene Fröhlichkeit wich, und unheilvolles<br />

Schweigen legte sich über die Szene. Bei <strong>de</strong>m Gedanken, Johannes zu töten, wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r König<br />

von Entsetzen gepackt. Aber er hatte sein Wort verpfän<strong>de</strong>t und wollte nicht wankelmütig<br />

erscheinen o<strong>de</strong>r als hätte er übereilt gehan<strong>de</strong>lt. Zu Ehren seiner Gäste hatte er <strong>de</strong>n Eid<br />

geschworen. Wenn auch nur einer von ihnen ein Wort gegen die Einlösung seines Versprechens<br />

vorgebracht hätte, so wür<strong>de</strong> er <strong>de</strong>n Propheten liebend gern geschont haben. Er gab ihnen<br />

Gelegenheit, zugunsten <strong>de</strong>s Gefangenen zu sprechen. Sie waren weit gereist, um <strong>de</strong>r Predigt <strong>de</strong>s<br />

Johannes zu lauschen. Sie kannten ihn als Mann ohne Makel und als <strong>Die</strong>ner Gottes. Obschon<br />

die Bitte <strong>de</strong>s Mädchens sie empörte, waren sie doch zu betrunken, Einspruch zu erheben. Keine<br />

Stimme wur<strong>de</strong> laut, das Leben <strong>de</strong>s von Gott gesandten Boten zu retten. <strong>Die</strong>se Männer<br />

beklei<strong>de</strong>ten hohe Vertrauensämter im Lan<strong>de</strong>, und auf ihnen ruhte schwere Verantwortung;<br />

gleichwohl hatten sie sich <strong>de</strong>r Schwelgerei und <strong>de</strong>m Trunk hingegeben, bis ihre Sinne umnebelt<br />

waren. <strong>Die</strong> leichtfertigen Szenen aus Musik und Tanz hatten ihre Köpfe verwirrt und ihr<br />

Gewissen eingeschläfert. Durch ihr Schweigen sprachen sie das To<strong>de</strong>surteil über <strong>de</strong>n Propheten<br />

Gottes und stillten damit <strong>de</strong>n Rachedurst einer lasterhaften Frau.<br />

Hero<strong>de</strong>s wartete vergeblich darauf, von seinem Eid entbun<strong>de</strong>n zu wer<strong>de</strong>n. Dann erteilte er<br />

wi<strong>de</strong>rstrebend <strong>de</strong>n Befehl zur Hinrichtung <strong>de</strong>s Propheten. Bald wur<strong>de</strong> das Haupt <strong>de</strong>s Johannes<br />

vor <strong>de</strong>n König und seine Gäste gebracht. Für immer waren die Lippen <strong>de</strong>ssen verschlossen, <strong>de</strong>r<br />

Hero<strong>de</strong>s gewissenhaft vor <strong>de</strong>r Fortführung seines sündigen Lebens gewarnt hatte. Nie mehr<br />

sollte man hören, wie diese Stimme Menschen zur Umkehr rief. Das Gelage einer Nacht hatte<br />

das Leben eines <strong>de</strong>r größten Propheten gekostet.<br />

Wie oft schon fiel das Leben Unschuldiger <strong>de</strong>r Unmäßigkeit <strong>de</strong>rer zum Opfer, die eigentlich<br />

Wächter <strong>de</strong>s Rechtes hätten sein sollen! Wer <strong>de</strong>n berauschen<strong>de</strong>n Trank an seine Lippen führt,<br />

lädt sich damit die Verantwortung für alles Unrecht auf, das er unter <strong>de</strong>r betören<strong>de</strong>n Macht<br />

berauschen<strong>de</strong>r Getränke begehen kann. Durch die Betäubung seiner Sinne beraubt er sich <strong>de</strong>r<br />

Fähigkeit, ruhig zu urteilen sowie Recht und Unrecht klar zu unterschei<strong>de</strong>n. Er ermöglicht es<br />

Satan, durch ihn Unschuldige zu unterdrücken und zu vernichten. „Der Wein macht Spötter,<br />

und starkes Getränk macht wild; wer davon taumelt, wird niemals weise.“ Sprüche 20,1. Dann<br />

kann man sagen: „Das Recht ist zurückgewichen ... und wer vom Bösen weicht, muß sich<br />

ausplün<strong>de</strong>rn lassen.“ Jesaja 59,14.15. Menschen, in <strong>de</strong>ren Hän<strong>de</strong>n die Gerichtsbarkeit über das<br />

Leben ihrer Mitmenschen liegt, sollten eines Verbrechens für schuldig gesprochen wer<strong>de</strong>n,<br />

wenn sie sich <strong>de</strong>r Unmäßigkeit hingeben. Wer immer das Gesetz anwen<strong>de</strong>t, sollte selber das<br />

Gesetz halten. Er sollte stets die Kontrolle über sich behalten und im Vollbesitz seiner<br />

körperlichen, geistigen und sittlichen Kräfte bleiben, um je<strong>de</strong>rzeit über Geisteskraft und hohen<br />

Gerechtigkeitssinn verfügen zu können.<br />

Das Haupt Johannes <strong>de</strong>s Täufers wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Herodias gebracht, die es mit teuflischer<br />

Genugtuung entgegennahm. Sie triumphierte in ihrer Rache und gab sich <strong>de</strong>r irrigen Hoffnung<br />

143


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

hin, daß das Gewissen <strong>de</strong>s Hero<strong>de</strong>s nicht weiter beunruhigt sein wer<strong>de</strong>. Aber sie sollte ihrer<br />

Sün<strong>de</strong> nicht froh wer<strong>de</strong>n. Ihr Name wur<strong>de</strong> berüchtigt und verachtet, während Hero<strong>de</strong>s durch<br />

Gewissensbisse mehr gequält wur<strong>de</strong> als jemals durch die Warnungen <strong>de</strong>s Propheten. Der<br />

Einfluß <strong>de</strong>r Predigt <strong>de</strong>s Johannes war keineswegs zum Schweigen gebracht; er sollte für je<strong>de</strong><br />

Generation bis zum En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Zeit erhalten bleiben.<br />

Hero<strong>de</strong>s sah seine Sün<strong>de</strong> immer vor sich. Unaufhörlich suchte er von <strong>de</strong>n Anklagen seines<br />

schuldigen Gewissens frei zu wer<strong>de</strong>n. Sein Vertrauen zu Johannes blieb ungebrochen. Wenn er<br />

sich <strong>de</strong>ssen Leben <strong>de</strong>r Selbstverleugnung, seine ernsten und eindringlichen Vorhaltungen sowie<br />

sein gesun<strong>de</strong>s Urteil vor Augen hielt und dann daran dachte, unter welchen Umstän<strong>de</strong>n er ihn<br />

hatte töten lassen, konnte Hero<strong>de</strong>s keine Ruhe fin<strong>de</strong>n. Bei seinen Staatsgeschäften o<strong>de</strong>r wenn<br />

Menschen ihm huldigten, trug er zwar ein lächeln<strong>de</strong>s Antlitz und eine wür<strong>de</strong>volle Miene zur<br />

Schau, darunter aber verbarg sich ein verängstetes Herz, stets von <strong>de</strong>r Furcht bedrückt, auf ihm<br />

laste ein Fluch.<br />

<strong>Die</strong> Worte <strong>de</strong>s Johannes, daß vor Gott nichts verborgen bleibt, hatten Hero<strong>de</strong>s tief<br />

beeindruckt. Seiner Überzeugung nach war Gott an je<strong>de</strong>m Ort gegenwärtig. Somit war er auch<br />

Zeuge <strong>de</strong>r Schwelgerei im Festsaal gewesen, hatte <strong>de</strong>n Befehl zur Enthauptung <strong>de</strong>s Johannes<br />

gehört und das Frohlocken <strong>de</strong>r Herodias sowie <strong>de</strong>n Schimpf gesehen, welches <strong>de</strong>m abgetrennten<br />

Haupt <strong>de</strong>s Mannes galt, <strong>de</strong>r sie zurechtgewiesen hatte. Vieles von <strong>de</strong>m, was Hero<strong>de</strong>s von <strong>de</strong>n<br />

Lippen <strong>de</strong>s Propheten gehört hatte, sprach nun weit <strong>de</strong>utlicher zu seinem Gewissen als bei<br />

<strong>de</strong>ssen Predigt in <strong>de</strong>r Wüste.<br />

Als Hero<strong>de</strong>s von <strong>de</strong>n Werken <strong>Christi</strong> hörte, erschrak er aufs äußerste, dachte er doch, Gott<br />

habe Johannes von <strong>de</strong>n Toten auferweckt und mit noch größerer Macht ausgesandt, um die<br />

Sün<strong>de</strong> zu verdammen. Er lebte in anhalten<strong>de</strong>r Furcht, Johannes wür<strong>de</strong> sich für seinen Tod<br />

rächen und ihn und sein Haus verfluchen. Hero<strong>de</strong>s erntete genau das, was Gott als Folge eines<br />

sündigen Wan<strong>de</strong>ls genannt hatte: „Ein beben<strong>de</strong>s Herz ... und erlöschen<strong>de</strong> Augen und eine<br />

verzagen<strong>de</strong> Seele, und <strong>de</strong>in Leben wird immerdar in Gefahr schweben; Nacht und Tag wirst du<br />

dich fürchten und <strong>de</strong>ines Lebens nicht sicher sein. Morgens wirst du sagen: Ach daß es Abend<br />

wäre! und abends wirst du sagen: Ach daß es Morgen wäre! vor Furcht <strong>de</strong>ines Herzens, die dich<br />

schrecken wird, und vor <strong>de</strong>m, was du mit <strong>de</strong>inen Augen sehen wirst.“ 5.Mose 28,65-67. Den<br />

Sün<strong>de</strong>r klagen seine eigenen Gedanken an. Nichts kann quälen<strong>de</strong>r sein als <strong>de</strong>r Stachel eines<br />

schuldigen Gewissens, das ihn Tag und Nacht nicht zur Ruhe kommen läßt.<br />

Für viele birgt das Schicksal Johannes <strong>de</strong>s Täufers ein tiefes Geheimnis. Sie fragen sich,<br />

warum er wohl im Gefängnis hat schmachten und sterben müssen. Das Rätsel dieser dunklen<br />

Fügung vermag unser menschliches Denken nicht zu durchdringen. Es kann auch unser<br />

Vertrauen zu Gott nicht erschüttern, wenn wir uns vor Augen halten, daß Johannes nur teilhatte<br />

an <strong>de</strong>n Lei<strong>de</strong>n <strong>Christi</strong>. Alle Nachfolger <strong>Christi</strong> wer<strong>de</strong>n die Krone <strong>de</strong>s Opfers tragen. Von<br />

selbstsüchtigen Menschen wer<strong>de</strong>n sie sicher mißverstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, und Satan wird sie zum<br />

Ziel seiner heftigsten Angriffe machen. Dessen Reich hat es genau darauf abgesehen, <strong>de</strong>n<br />

Grundsatz <strong>de</strong>r Selbstaufopferung zu beseitigen, und wo immer dieser Grundsatz in Erscheinung<br />

tritt, wird Satan dagegen kämpfen.<br />

144


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kindheit, Jugend und Mannesalter <strong>de</strong>s Johannes zeichneten sich aus durch Festigkeit und<br />

sittliche Kraft. Als sein Aufruf in <strong>de</strong>r Wüste erklang: „Bereitet <strong>de</strong>m Herrn <strong>de</strong>n Weg und machet<br />

richtig seine Steige!“ (Matthäus 3,3) fürchtete Satan um <strong>de</strong>n Bestand seines Reiches. Das<br />

Verwerfliche <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> wur<strong>de</strong> mit solchem Nachdruck aufge<strong>de</strong>ckt, daß die Menschen<br />

erschraken. Satans Macht über viele Menschen, die bisher seiner Herrschaft unterworfen waren,<br />

wur<strong>de</strong> gebrochen. Unermüdlich hatte er sich bemüht, <strong>de</strong>n Täufer seinem Leben vorbehaltloser<br />

Hingabe an Gott abspenstig zu machen, jedoch vergeblich. Und auch Jesus hatte er nicht<br />

überwin<strong>de</strong>n können. <strong>Die</strong> Versuchung Jesu in <strong>de</strong>r Wüste war zu einer Nie<strong>de</strong>rlage Satans<br />

gewor<strong>de</strong>n. Deshalb war sein Zorn groß, und er beschloß, Christus dadurch zu treffen, daß er<br />

Johannes schlug. Dem einen, <strong>de</strong>n er nicht zur Sün<strong>de</strong> verleiten konnte, wollte er Scha<strong>de</strong>n<br />

zufügen.<br />

Jesus hat nichts zur Befreiung seines <strong>Die</strong>ners unternommen. Er wußte, daß Johannes die<br />

Prüfung bestehen wür<strong>de</strong>. Gern wäre <strong>de</strong>r Heiland zu Johannes gegangen, um das Dunkel <strong>de</strong>s<br />

Kerkers durch seine Gegenwart zu erhellen. Doch er durfte sich nicht in die Hand <strong>de</strong>r Fein<strong>de</strong><br />

begeben und dadurch seinen eigenen Auftrag gefähr<strong>de</strong>n. Mit Freu<strong>de</strong>n hätte er seinen treuen<br />

<strong>Die</strong>ner befreit. Doch um <strong>de</strong>r Tausen<strong>de</strong> willen, die in künftigen Jahren Gefängnis und Tod<br />

erlei<strong>de</strong>n mußten, sollte Johannes <strong>de</strong>n Kelch <strong>de</strong>s Lei<strong>de</strong>ns leeren. Wenn die Nachfolger Jesu von<br />

Gott und Menschen anscheinend verlassen in einsamen Zellen schmachten o<strong>de</strong>r durch Schwert,<br />

Folter o<strong>de</strong>r Scheiterhaufen umkommen müßten, wür<strong>de</strong>n ihre Herzen bei <strong>de</strong>m Gedanken gestärkt<br />

wer<strong>de</strong>n, daß Johannes <strong>de</strong>m Täufer, <strong>de</strong>ssen Treue Christus selber bezeugt hat, ein ähnliches<br />

Schicksal beschie<strong>de</strong>n war.<br />

Satan wur<strong>de</strong> gestattet, das irdische Leben <strong>de</strong>s Boten Gottes abzukürzen. Aber jenes Leben,<br />

welches „ist verborgen mit Christus in Gott“ (Kolosser 3,3), konnte <strong>de</strong>r Ver<strong>de</strong>rber nicht<br />

antasten. Er frohlockte, Christus Leid zugefügt zu haben. Doch Johannes zu Fall bringen, das<br />

vermochte er nicht. Der Tod hat ihn lediglich vor <strong>de</strong>r Macht weiterer Versuchung bewahrt. In<br />

diesem Streit hat Satan sein wirkliches Wesen offenbart. Nun war das ganze Universum Zeuge<br />

seiner Feindschaft gegen Gott und die Menschen gewor<strong>de</strong>n. Obgleich nichts Übernatürliches<br />

geschah, um Johannes zu befreien, war er doch nicht verlassen. Stets waren himmlische Engel<br />

bei ihm und öffneten ihm das Verständnis für die Weissagungen auf Christus und für die<br />

kostbaren Verheißungen <strong>de</strong>r Schrift. Sie boten ihm Halt, wie sie auch <strong>de</strong>m Volk Gottes in <strong>de</strong>n<br />

künftigen Jahrhun<strong>de</strong>rten eine Stütze sein sollten. Johannes <strong>de</strong>m Täufer wie auch allen, die nach<br />

ihm kamen, war zugesichert wor<strong>de</strong>n: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an <strong>de</strong>r Welt<br />

En<strong>de</strong>.“ Matthäus 28,20.<br />

Niemals führt Gott seine Kin<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rs, als sie es sich selbst wünschten, falls sie bereits am<br />

Anfang <strong>de</strong>n Ausgang sehen und die herrliche Frucht schauen könnten, die sie als Mitarbeiter<br />

Gottes wirken dürfen. We<strong>de</strong>r Henoch, <strong>de</strong>r verwan<strong>de</strong>lt in <strong>de</strong>n Himmel aufgenommen wur<strong>de</strong>,<br />

noch Elia, <strong>de</strong>r im Feuerwagen gen Himmel fuhr, war größer o<strong>de</strong>r wur<strong>de</strong> mehr geehrt als<br />

Johannes <strong>de</strong>r Täufer, <strong>de</strong>r einsam im Kerker umkam. „Euch ist die Gna<strong>de</strong> gegeben, um <strong>Christi</strong><br />

willen bei<strong>de</strong>s zu tun: daß ihr nicht allein an ihn glaubet, son<strong>de</strong>rn auch um seinetwillen<br />

145


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

lei<strong>de</strong>t.“ Philipper 1,29. Von allen Gaben, die <strong>de</strong>r Himmel Menschen verleihen kann, zeugt die<br />

<strong>de</strong>r Gemeinschaft mit Christus in seinem Lei<strong>de</strong>n von größtem Vertrauen und höchster Ehre.<br />

146


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

„Nach<strong>de</strong>m aber Johannes gefangengelegt war, kam Jesus nach Galiläa und predigte das<br />

Evangelium Gottes und sprach: <strong>Die</strong> Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist herbeigekommen.<br />

Tut Buße und glaubt an das Evangelium!“ Markus 1,14.15. Das Kommen <strong>de</strong>s Messias war<br />

zuerst in Judäa verkündigt wor<strong>de</strong>n. Als Zacharias im Tempel zu Jerusalem seinen <strong>Die</strong>nst am<br />

Altar versah, wur<strong>de</strong> ihm die Geburt <strong>de</strong>s Vorläufers vorhergesagt. Auf <strong>de</strong>n Hügeln von<br />

Bethlehem verkün<strong>de</strong>ten die Engel die Geburt Jesu, und nach Jerusalem kamen die Magier, um<br />

<strong>de</strong>n neugeborenen König zu suchen. Im Tempel bezeugten Simeon und Hanna seine<br />

Göttlichkeit. „Jerusalem und das ganze jüdische Land“ vernahm die Predigt <strong>de</strong>s Täufers<br />

Johannes, und die Abordnung <strong>de</strong>s Hohen Rates hörte zugleich mit <strong>de</strong>r Volksmenge <strong>de</strong>ssen<br />

Zeugnis über Jesus. In Judäa gewann Jesus seine ersten Jünger. Hier verbrachte er einen<br />

wesentlichen Teil seines ersten <strong>Die</strong>nstes. Das Aufleuchten seiner Göttlichkeit bei <strong>de</strong>r Reinigung<br />

<strong>de</strong>s Tempels, seine Heilungswun<strong>de</strong>r und die Predigt <strong>de</strong>r göttlichen Wahrheit aus seinem Mun<strong>de</strong><br />

— alles bekun<strong>de</strong>te das, was er nach <strong>de</strong>r Heilung in Bethesda vor <strong>de</strong>m Hohen Rat dargelegt<br />

hatte, nämlich daß er <strong>de</strong>r Sohn <strong>de</strong>s Ewigen war.<br />

Hätten die führen<strong>de</strong>n Männer Israels Christus angenommen, dann wür<strong>de</strong> er sie dadurch<br />

geehrt haben, daß sie als seine Boten das Evangelium in die Welt hinaustragen sollten. Ihnen<br />

wur<strong>de</strong> die erste Gelegenheit gegeben, Herol<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Reiches und <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong> Gottes zu wer<strong>de</strong>n.<br />

Das Volk Israel aber erkannte nicht die Zeit, in <strong>de</strong>r es heimgesucht wur<strong>de</strong>. Der Neid und das<br />

Mißtrauen <strong>de</strong>r jüdischen Führer wuchsen zu offenem Haß an, und die Herzen <strong>de</strong>s Volkes<br />

wandten sich von Jesus ab. Der Hohe Rat wies Jesu Botschaft zurück und war fest entschlossen,<br />

ihn zu töten. Deshalb verließ Jesus Jerusalem, die Priester, <strong>de</strong>n Tempel, die religiösen Führer<br />

und all die Leute, die im Gesetz unterwiesen waren, und wandte sich an<strong>de</strong>ren Menschen zu.<br />

Ihnen wollte er seine Botschaft verkündigen und aus ihnen jene ausson<strong>de</strong>rn, die sein<br />

Evangelium zu allen Völkern tragen sollten.<br />

Das Licht und Leben <strong>de</strong>r Menschen wur<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n Tagen <strong>Christi</strong> von <strong>de</strong>n religiösen<br />

Wür<strong>de</strong>nträgern verworfen. Genau dies wie<strong>de</strong>rholte sich in je<strong>de</strong>r nachfolgen<strong>de</strong>n Generation.<br />

Christus mußte sich gewissermaßen immer wie<strong>de</strong>r aus Judäa zurückziehen. Als die<br />

Reformatoren das Wort Gottes predigten, hatten sie nicht im Sinn, sich von <strong>de</strong>r bestehen<strong>de</strong>n<br />

Kirche zu trennen. Aber die geistlichen Führer dul<strong>de</strong>ten das Licht nicht. Dadurch wur<strong>de</strong>n die<br />

Lichtträger gezwungen, sich nach Menschen umzusehen, die sich nach <strong>de</strong>r Wahrheit sehnten. In<br />

unseren Tagen wer<strong>de</strong>n nur wenige, die sich als Nachfolger <strong>de</strong>r Reformatoren bekennen, von<br />

<strong>de</strong>ren Geist getrieben. Nur wenige lauschen <strong>de</strong>r Stimme Gottes und sind bereit, die Wahrheit<br />

anzunehmen, wie auch immer sie ihnen dargeboten wer<strong>de</strong>n mag. Oftmals wer<strong>de</strong>n Menschen,<br />

die wirklich <strong>de</strong>n Fußtapfen <strong>de</strong>r Reformatoren folgen, gezwungen, sich von <strong>de</strong>n Kirchen, an<br />

<strong>de</strong>nen sie sehr hängen, zu trennen, um die klare Lehre <strong>de</strong>s Wortes Gottes verkündigen zu<br />

können. Und häufig wer<strong>de</strong>n nach Licht suchen<strong>de</strong> Menschen durch dieselbe Lehre genötigt, die<br />

Kirche ihrer Väter aus Gehorsam gegenüber Gott zu verlassen.<br />

147


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

<strong>Die</strong> Einwohner von Galiläa wur<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>n Rabbinern in Jerusalem als ungesittet und<br />

ungebil<strong>de</strong>t verachtet, <strong>de</strong>m Heiland boten sie jedoch ein günstigeres Wirkungsfeld, <strong>de</strong>nn sie<br />

zeichneten sich durch Ernst und Aufrichtigkeit aus. Fanatismus war bei ihnen nur selten<br />

anzutreffen. Ihr Denken war für die Wahrheit aufgeschlossener. Jesus ging nicht nach Galiläa,<br />

weil er die Abgeschie<strong>de</strong>nheit o<strong>de</strong>r Einsamkeit suchte. Das Land war damals dicht bevölkert, mit<br />

einem weit höheren Anteil von Angehörigen an<strong>de</strong>rer Völker als in Judäa.<br />

Als Jesus lehrend und heilend durch Galiläa zog, sammelte sich eine große Menschenmenge<br />

aus <strong>de</strong>n Städten und Dörfern um ihn. Sogar aus Judäa und <strong>de</strong>n Nachbarprovinzen kamen viele.<br />

Oft mußte er sich vor <strong>de</strong>r Menge verbergen. <strong>Die</strong> Begeisterung wuchs so sehr an, daß<br />

Vorsichtsmaßnahmen erfor<strong>de</strong>rlich wur<strong>de</strong>n; <strong>de</strong>nn sonst hätten die römischen Behör<strong>de</strong>n vielleicht<br />

einen Aufstand befürchten können. Nie zuvor hatte es für die Welt eine solche Zeit gegeben.<br />

Der Himmel war zu <strong>de</strong>n Menschen herabgestiegen. Hungern<strong>de</strong> und dürsten<strong>de</strong> Seelen, die lange<br />

auf die Erlösung Israels gewartet hatten, labten sich jetzt an <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong> <strong>de</strong>s erbarmungsvollen<br />

Heilan<strong>de</strong>s.<br />

Der Schwerpunkt <strong>de</strong>r Predigt <strong>Christi</strong> lautete: „<strong>Die</strong> Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist<br />

herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium!“ Markus 1,14.15. <strong>Die</strong> vom Heiland<br />

gepredigte Frohbotschaft grün<strong>de</strong>te sich somit auf die Weissagungen. <strong>Die</strong> Zeit, die nach seinen<br />

Worten „erfüllt“ war, umfaßte <strong>de</strong>n Zeitabschnitt, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Engel Gabriel <strong>de</strong>m Propheten Daniel<br />

genannt hatte: „Siebzig Wochen sind verhängt über <strong>de</strong>in Volk und über <strong>de</strong>ine heilige Stadt;<br />

dann wird <strong>de</strong>m Frevel ein En<strong>de</strong> gemacht und die Sün<strong>de</strong> abgetan und die Schuld gesühnt, und es<br />

wird ewige Gerechtigkeit gebracht und Gesicht und Weissagung erfüllt und das Allerheiligste<br />

gesalbt wer<strong>de</strong>n.“ Daniel 9,24. Ein Tag be<strong>de</strong>utet in <strong>de</strong>r Weissagung ein Jahr. 4.Mose<br />

14,34; Hesekiel 4,6.<br />

<strong>Die</strong> siebzig Wochen o<strong>de</strong>r vierhun<strong>de</strong>rtundneunzig Tage stehen somit für<br />

vierhun<strong>de</strong>rtundneunzig Jahre. Für diesen Zeitabschnitt gilt als Anfangspunkt: „Wisse also und<br />

verstehe: Von <strong>de</strong>r Zeit, da das Wort ergeht, Jerusalem wie<strong>de</strong>r aufzubauen, bis <strong>de</strong>r Gesalbte, <strong>de</strong>r<br />

Fürst, ersteht, vergehen sieben Jahrwochen und zweiundsechzig Jahrwochen“ (Daniel 9,25;<br />

Henne), insgesamt also neunundsechzig Jahrwochen o<strong>de</strong>r vierhun<strong>de</strong>rtdreiundachtzig Jahre. Der<br />

Befehl zur Wie<strong>de</strong>rherstellung und zum Aufbau Jerusalems wur<strong>de</strong> durch einen Erlaß <strong>de</strong>s<br />

persischen Königs Artaxerxes Longimanus erteilt und im Herbst <strong>de</strong>s Jahres 457 v. Chr.<br />

wirksam. Esra 6,14; Esra 7,1.9. <strong>Die</strong> vierhun<strong>de</strong>rtdreiundachtzig Jahre wür<strong>de</strong>n somit im Jahre 27<br />

n. Chr. en<strong>de</strong>n. Gemäß <strong>de</strong>r Weissagung sollte dieser Zeitabschnitt bis auf <strong>de</strong>n Messias, <strong>de</strong>n<br />

„Gesalbten“, reichen. Im Jahre 27 n. Chr. empfing Jesus bei seiner Taufe die Salbung mit <strong>de</strong>m<br />

Heiligen Geist und begann kurze Zeit später mit seiner Tätigkeit. Von nun an hieß es: „<strong>Die</strong> Zeit<br />

ist erfüllt.“ Markus 1,14.15.<br />

Der Engel fuhr fort: „Mit vielen wird er während <strong>de</strong>r einen Jahrwoche einen festen Bund<br />

schließen.“ Daniel 9,27 (Henne). Sieben Jahre, nach<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Heiland seinen <strong>Die</strong>nst<br />

aufgenommen hatte, sollte das Evangelium beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n verkündigt wer<strong>de</strong>n: dreieinhalb<br />

Jahre durch Christus selber und anschließend durch die Apostel. „In <strong>de</strong>r Mitte <strong>de</strong>r Woche wird<br />

er Schlachtopfer und Speisopfer abschaffen.“ Daniel 9,27. Im Frühjahr <strong>de</strong>s Jahres 31 wur<strong>de</strong><br />

148


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Christus als das wahre Opferlamm auf Golgatha geopfert. Der Vorhang im Tempel zerriß, um<br />

anzuzeigen, daß die Heiligkeit und Sinngebung <strong>de</strong>s Opferdienstes ihr En<strong>de</strong> gefun<strong>de</strong>n hatten.<br />

<strong>Die</strong> Zeit war gekommen, daß irdische Opfer aufhörten.<br />

<strong>Die</strong> eine Woche — sieben Jahre — en<strong>de</strong>te im Jahre 34 n. Chr. Damals besiegelten die Ju<strong>de</strong>n<br />

durch die Steinigung <strong>de</strong>s Stephanus, daß sie das Evangelium endgültig verworfen hatten. <strong>Die</strong><br />

Jünger wur<strong>de</strong>n durch die Verfolgung „zerstreut“ und „zogen umher und predigten das<br />

Wort“. Apostelgeschichte 8,4. Kurze Zeit später bekehrte sich <strong>de</strong>r Verfolger Saulus und wur<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>r Hei<strong>de</strong>napostel Paulus.<br />

<strong>Die</strong> Zeit für <strong>Christi</strong> Kommen, für seine Salbung mit <strong>de</strong>m Heiligen Geist und für seinen Tod<br />

war ebenso genau festgelegt wie <strong>de</strong>r Zeitpunkt, da die Verkündigung <strong>de</strong>s Evangeliums an die<br />

Hei<strong>de</strong>n beginnen sollte. Es war ein Vorrecht für das jüdische Volk, diese Weissagungen<br />

verstehen und im Wirken Jesu ihre Erfüllung erkennen zu dürfen. Christus hob seinen Jüngern<br />

gegenüber mit Nachdruck die Wichtigkeit <strong>de</strong>s Studiums <strong>de</strong>r Weissagungen hervor. Er bezog<br />

sich auf die Weissagung Daniels über ihre Zeit mit <strong>de</strong>n Worten: „Wer das liest, <strong>de</strong>r merke<br />

auf!“ Matthäus 24,15. Nach seiner Auferstehung legte er seinen Jüngern aus, was in „allen<br />

Propheten ... von ihm gesagt war“. Lukas 24,27. Durch alle Propheten hatte <strong>de</strong>r Heiland selbst<br />

gere<strong>de</strong>t. „Der Geist <strong>Christi</strong> ... <strong>de</strong>r in ihnen war“, hat „zuvor bezeugt ... die Lei<strong>de</strong>n, die über<br />

Christus kommen sollten, und die Herrlichkeit danach“. 1.Petrus 1,11.<br />

Der Engel Gabriel, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Sohn Gottes rangmäßig am nächsten steht, überbrachte Daniel<br />

die göttliche Botschaft. Gabriel, „seinen Engel“, sandte Christus, um <strong>de</strong>m geliebten Johannes<br />

die Zukunft zu eröffnen. Und seliggesprochen wird, „<strong>de</strong>r da liest und die da hören die Worte <strong>de</strong>r<br />

Weissagung und behalten, was darin geschrieben ist“. Offenbarung 1,1-3. „Gott <strong>de</strong>r Herr tut<br />

nichts, er offenbare <strong>de</strong>nn seinen Ratschluß <strong>de</strong>n Propheten, seinen Knechten.“ Amos 3,7. „Was<br />

verborgen ist, ist <strong>de</strong>s Herrn, unseres Gottes; was aber offenbart ist, das gilt uns und unsern<br />

Kin<strong>de</strong>rn ewiglich.“ 5.Mose 29,28. Das, was offenbart ist, hat Gott uns gegeben. Sein Segen ist<br />

je<strong>de</strong>m zugesagt, <strong>de</strong>r die prophetischen Schriften mit Ehrfurcht und unter Gebet studiert.<br />

Wie die Botschaft vom ersten Kommen <strong>Christi</strong> das Reich seiner Gna<strong>de</strong> ankündigte, so<br />

kündigt die Botschaft von seinem zweiten Kommen das Reich seiner Herrlichkeit an. <strong>Die</strong>se<br />

zweite Botschaft grün<strong>de</strong>t sich ebenso wie die erste auf das prophetische Wort. Was <strong>de</strong>r Engel<br />

<strong>de</strong>m Daniel über die letzte Zeit ankündigte, soll erst in <strong>de</strong>r Zeit <strong>de</strong>s En<strong>de</strong>s verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n.<br />

Von dieser „Endzeit“ heißt es: „Viele wer<strong>de</strong>n es dann durchforschen und so wird die Erkenntnis<br />

zunehmen.“ — „Aber die Gottlosen wer<strong>de</strong>n gottlos han<strong>de</strong>ln; und kein Gottloser wird<br />

Verständnis dafür haben, während die Verständigen es verstehen wer<strong>de</strong>n.“ Daniel 12,4.10<br />

(Menge). Der Heiland selber hat Zeichen seines Kommens genannt, und er spricht: „Wenn ihr<br />

dies alles sehet angehen, so wisset, daß das Reich Gottes nahe ist ... Hütet euch aber, daß eure<br />

Herzen nicht beschwert wer<strong>de</strong>n mit Fressen und Saufen und mit Sorgen <strong>de</strong>r Nahrung und dieser<br />

Tag nicht schnell über euch komme wie ein Fallstrick ... So seid nun wach allezeit und betet,<br />

daß ihr stark wer<strong>de</strong>n möget, zu entfliehen diesem allem, was geschehen soll, und zu stehen vor<br />

<strong>de</strong>s Menschen Sohn.“ Lukas 21,31.34.36.<br />

149


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Wir leben in <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Schrift vorhergesagten Zeit. <strong>Die</strong> Zeit <strong>de</strong>s En<strong>de</strong>s ist angebrochen.<br />

<strong>Die</strong> Weissagungen <strong>de</strong>r Propheten sind enthüllt, und ihre ernsten Warnungen weisen uns darauf<br />

hin, daß das Kommen unseres Herrn in Herrlichkeit nahe bevorsteht. <strong>Die</strong> Ju<strong>de</strong>n hatten das Wort<br />

Gottes falsch ge<strong>de</strong>utet und falsch angewandt und kannten darum die Zeit ihrer Heimsuchung<br />

nicht. <strong>Die</strong> Jahre, in <strong>de</strong>nen Christus und seine Apostel ihnen dienten — die letzten köstlichen<br />

Gna<strong>de</strong>njahre für das auserwählte Volk —, verbrachten sie damit, Pläne zu entwickeln, wie sie<br />

die Boten <strong>de</strong>s Herrn vernichten könnten. Weltlicher Ehrgeiz nahm sie völlig in Anspruch.<br />

Vergeblich wur<strong>de</strong> ihnen das Reich <strong>de</strong>s Geistes angeboten. So geht auch heute das Denken <strong>de</strong>r<br />

Menschen völlig in weltlichen Dingen auf. Sie haben keinen Blick für die Erfüllung <strong>de</strong>r<br />

Weissagungen und für die Zeichen <strong>de</strong>s bald kommen<strong>de</strong>n Reiches Gottes. „Ihr aber, liebe<br />

Brü<strong>de</strong>r, seid nicht in <strong>de</strong>r Finsternis, daß <strong>de</strong>r Tag wie ein <strong>Die</strong>b über euch komme. Denn ihr alle<br />

seid Kin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Lichtes und Kin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Tages. Wir sind nicht von <strong>de</strong>r Nacht noch von <strong>de</strong>r<br />

Finsternis.“ Wir brauchen zwar nicht zu wissen, welche Stun<strong>de</strong> unser Herr wie<strong>de</strong>rkommt, wohl<br />

aber, wann sein Tag nahe ist. „So lasset uns nun nicht schlafen wie die an<strong>de</strong>rn, son<strong>de</strong>rn lasset<br />

uns wachen und nüchtern sein.“ 1.Thessalonicher 5,4-6.<br />

150


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Auf <strong>de</strong>n hellen Tagen <strong>de</strong>s <strong>Die</strong>nstes <strong>Christi</strong> in Galiläa lag ein Schatten. <strong>Die</strong> Bewohner<br />

Nazareths wiesen Jesus ab. „Ist er nicht <strong>de</strong>s Zimmermanns Sohn?“ meinten sie. „Heißt nicht<br />

seine Mutter Maria und seine Brü<strong>de</strong>r Jakobus und Joseph und Simon und Judas?“ Matthäus<br />

13,55. In seiner Kindheit und Jugendzeit hatte Jesus gemeinsam mit seinen Brü<strong>de</strong>rn an <strong>de</strong>n<br />

Gottesdiensten in <strong>de</strong>r Synagoge zu Nazareth teilgenommen. Seit er jedoch seinen <strong>Die</strong>nst<br />

aufgenommen hatte, war er nicht bei ihnen gewesen. Trotz<strong>de</strong>m war es ihnen nicht verborgen<br />

geblieben, was mit ihm geschehen war. Als er nun wie<strong>de</strong>r unter ihnen erschien, steigerten sich<br />

ihr Interesse und ihre Erwartung außeror<strong>de</strong>ntlich. Hier waren die vertrauten Gestalten und<br />

Gesichter <strong>de</strong>rer, die ihn von klein auf kannten. Hier lebten seine Mutter, seine Brü<strong>de</strong>r und seine<br />

Schwestern, und aller Augen richteten sich auf ihn, als er am Sabbat die Synagoge betrat und<br />

unter <strong>de</strong>n Andächtigen Platz nahm.<br />

Bei <strong>de</strong>n gewohnten Gottesdiensten verlas <strong>de</strong>r Älteste einen Abschnitt aus <strong>de</strong>n Propheten und<br />

ermahnte das Volk, weiter auf <strong>de</strong>n zu hoffen, <strong>de</strong>r da kommen, ein herrliches Reich grün<strong>de</strong>n und<br />

aller Unterdrückung ein En<strong>de</strong> bereiten sollte. Er suchte seine Hörer dadurch zu ermutigen, daß<br />

er die Beweise für das baldige Erscheinen <strong>de</strong>s Messias wie<strong>de</strong>rholte. Er schil<strong>de</strong>rte die<br />

Herrlichkeit seiner Ankunft und hob beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>n Gedanken hervor, daß <strong>de</strong>r Gesalbte als<br />

Heerführer kommen und Israel befreien wer<strong>de</strong>.<br />

Nahm ein Rabbiner am Gottesdienst in <strong>de</strong>r Synagoge teil, dann erwartete man, daß er die<br />

Andacht hielt. Den Prophetenabschnitt hingegen durfte je<strong>de</strong>r Israelit vorlesen. An diesem<br />

Sabbat nun wur<strong>de</strong> Jesus gebeten, <strong>de</strong>n Gottesdienst zu übernehmen. Er „stand auf und wollte<br />

lesen. Da ward ihm das Buch <strong>de</strong>s Propheten Jesaja gereicht“. Lukas 4,16.17. Der von ihm<br />

gelesene Schriftabschnitt gehörte zu <strong>de</strong>nen, die sich nach allgemeinem Verständnis auf <strong>de</strong>n<br />

Messias bezogen: „Der Geist <strong>de</strong>s Herrn ist bei mir, darum weil er mich gesalbt hat, zu<br />

verkündigen das Evangelium <strong>de</strong>n Armen; er hat mich gesandt, zu predigen <strong>de</strong>n Gefangenen,<br />

daß sie los sein sollen, und <strong>de</strong>n Blin<strong>de</strong>n, daß sie sehend wer<strong>de</strong>n, und <strong>de</strong>n Zerschlagenen, daß sie<br />

frei und ledig sein sollen, zu verkündigen das Gna<strong>de</strong>njahr <strong>de</strong>s Herrn.“ Lukas 4,18.19; Jesaja<br />

61,1.2.<br />

„Und als er das Buch zutat, gab er‘s <strong>de</strong>m <strong>Die</strong>ner ... Und aller Augen in <strong>de</strong>r Synagoge sahen<br />

auf ihn ... Und sie gaben alle Zeugnis von ihm und wun<strong>de</strong>rten sich, daß solche Worte <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong><br />

aus seinem Mun<strong>de</strong> gingen.“ Lukas 4,20.22. Jesus stand als lebendige Erfüllung <strong>de</strong>r<br />

Weissagungen, die sich auf ihn bezogen, vor <strong>de</strong>m Volk. Als er die Texte, die er gelesen hatte,<br />

erläuterte, sprach er vom Messias als einem, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Unterdrückten hilft, die Gefangenen<br />

befreit, die Kranken heilt, <strong>de</strong>n Blin<strong>de</strong>n das Augenlicht wie<strong>de</strong>rgibt und vor <strong>de</strong>r Welt das Licht<br />

<strong>de</strong>r Wahrheit offenbart. Seine eindrucksvolle Art und <strong>de</strong>r herrliche Inhalt seiner Worte ergriffen<br />

die Hörer mit einer nie zuvor empfun<strong>de</strong>nen Kraft. Der Strom <strong>de</strong>s göttlichen Einwirkens<br />

überwand je<strong>de</strong>s Hin<strong>de</strong>rnis. Gleich Mose sahen sie <strong>de</strong>n Unsichtbaren. Als ihre Herzen durch <strong>de</strong>n<br />

Geist Gottes bewegt wur<strong>de</strong>n, antworteten sie mit inbrünstigem Amen und priesen <strong>de</strong>n Herrn.<br />

151


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Doch als Jesus erklärte: „Heute ist dies Wort <strong>de</strong>r Schrift erfüllt vor euren Ohren“ (Lukas<br />

4,21), fühlten sie sich unvermittelt aufgerufen, über sich selber nachzu<strong>de</strong>nken, und über <strong>de</strong>n<br />

Anspruch <strong>de</strong>ssen, <strong>de</strong>r zu ihnen gesprochen hatte. Er hatte sie, die Israeliten, Nachkommen<br />

Abrahams, dargestellt, als lebten sie in Knechtschaft. Er hatte zu ihnen gesprochen wie zu<br />

Gefangenen, die von <strong>de</strong>r Macht <strong>de</strong>s Bösen erlöst wer<strong>de</strong>n müßten; wie zu Leuten, die in <strong>de</strong>r<br />

Finsternis lebten und das Licht <strong>de</strong>r Wahrheit benötigten. Sie waren in ihrem Stolz gekränkt, und<br />

Befürchtungen wur<strong>de</strong>n in ihnen wach. Jesu Worte <strong>de</strong>uteten an, daß sein Werk für sie ganz und<br />

gar nicht ihren Wünschen entsprechen wür<strong>de</strong>. Ihre Taten könnten zu genau untersucht wer<strong>de</strong>n.<br />

Obwohl sie <strong>de</strong>n frommen Schein sorgfältig wahrten, schau<strong>de</strong>rte sie doch vor <strong>de</strong>m prüfen<strong>de</strong>n<br />

Blick seiner klaren, forschen<strong>de</strong>n Augen.<br />

Wer ist dieser Jesus? fragten sie. Er, <strong>de</strong>r die Herrlichkeit <strong>de</strong>s Messias für sich in Anspruch<br />

nahm, war <strong>de</strong>r Sohn eines Zimmermanns und hatte gemeinsam mit seinem Vater Joseph sein<br />

Handwerk ausgeübt. <strong>Die</strong> Leute von Nazareth hatten gesehen, wie er sich bergauf und bergab<br />

plagte, sie kannten seine Brü<strong>de</strong>r und Schwestern und wußten über sein Leben und seine<br />

Tagesarbeit Bescheid. Sie hatten beobachtet, wie aus <strong>de</strong>m Kind ein Jugendlicher und aus <strong>de</strong>m<br />

Jugendlichen ein Mann wur<strong>de</strong>. Obgleich sein Leben makellos geblieben war, glaubten sie<br />

<strong>de</strong>nnoch nicht, daß er <strong>de</strong>r Verheißene war.<br />

Welch ein Gegensatz tat sich auf zwischen seiner Lehre vom neuen Reich und jener, die sie<br />

von ihren Ältesten gehört hatten! Jesus hatte nichts über eine Befreiung von <strong>de</strong>n Römern gesagt.<br />

Von seinen Wun<strong>de</strong>rn hatten sie gehört, und sie hatten gehofft, er wür<strong>de</strong> seine Macht zu ihrem<br />

Vorteil gebrauchen; doch sie hatten keinerlei Anzeichen einer solchen Absicht gesehen. Als sie<br />

<strong>de</strong>m Zweifel die Tür öffneten, verhärteten sich ihre Herzen so sehr, daß sie sich nicht einmal für<br />

einen Augenblick erweichen ließen. Satan war entschlossen, zu verhin<strong>de</strong>rn, daß an jenem Tage<br />

blin<strong>de</strong> Augen geöffnet o<strong>de</strong>r in Sklaverei gehaltene Seelen befreit wür<strong>de</strong>n. Mit aller Kraft<br />

bemühte er sich, sie in ihrem Unglauben zu bestärken. Zwar waren sie von <strong>de</strong>r Überzeugung<br />

aufgerüttelt wor<strong>de</strong>n, daß ihr Erlöser zu ihnen sprach; doch sie legten diesem ihnen gegebenen<br />

Zeichen kein Gewicht bei. Lukas 4,22.<br />

Nun enthüllte Jesus ihnen ihre geheimen Gedanken als Beweis seiner Göttlichkeit. „Und er<br />

sprach zu ihnen: Ihr wer<strong>de</strong>t freilich zu mir sagen dies Sprichwort: Arzt, hilf dir selber! Denn<br />

wie große Dinge haben wir gehört, zu Kapernaum geschehen! Tu so auch hier in <strong>de</strong>iner<br />

Vaterstadt. Er sprach aber: Wahrlich, ich sage euch: Kein Prophet gilt etwas in seinem<br />

Vaterlan<strong>de</strong>. Aber in Wahrheit sage ich euch: Es waren viele Witwen in Israel zu <strong>de</strong>s Elia Zeiten,<br />

da <strong>de</strong>r Himmel verschlossen war drei Jahre und sechs Monate und eine große Teuerung war im<br />

ganzen Lan<strong>de</strong>, und zu <strong>de</strong>ren keiner ward Elia gesandt als allein nach Sarepta im Lan<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />

Sidonier zu einer Witwe. Und viele Aussätzige waren in Israel zu <strong>de</strong>s Propheten Elisa Zeiten,<br />

und <strong>de</strong>ren keiner ward gereinigt als allein Naëman aus Syrien.“ Lukas 4,23-27.<br />

In<strong>de</strong>m sich Jesus auf Ereignisse aus <strong>de</strong>m Leben <strong>de</strong>r Propheten bezog, kam er <strong>de</strong>n Fragen<br />

seiner Hörer entgegen. Den von Gott zu einem beson<strong>de</strong>ren <strong>Die</strong>nst berufenen Männern wur<strong>de</strong><br />

nicht gestattet, etwas für ein hartherziges und ungläubiges Volk zu tun. Wer aber ein<br />

empfängliches Herz und die Bereitschaft zum Glauben besaß, erhielt bevorzugt durch die<br />

152


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Propheten Beweise seiner göttlichen Macht. In <strong>de</strong>n Tagen Elias hatten die Israeliten Gott <strong>de</strong>n<br />

Rücken gekehrt. Sie hielten an ihren Sün<strong>de</strong>n fest und verwarfen die durch die Boten <strong>de</strong>s Herrn<br />

gegebenen Mahnungen <strong>de</strong>s Geistes. So verließen sie selber <strong>de</strong>n Weg, auf <strong>de</strong>m Gottes Segen zu<br />

ihnen fließen konnte. Der Herr ging an <strong>de</strong>n Häusern Israels vorbei und fand für seinen <strong>Die</strong>ner<br />

eine Bleibe in einem heidnischen Land bei einer Frau, die nicht zu <strong>de</strong>m auserwählten Volk<br />

gehörte. Aber diese Frau fand Gna<strong>de</strong>, weil sie <strong>de</strong>m Licht, das sie empfing, gehorcht hatte und<br />

weil ihr Herz für das größere Licht, das Gott ihr durch seinen Propheten sandte, empfänglich<br />

war.<br />

Aus <strong>de</strong>m gleichen Grun<strong>de</strong> waren die Aussätzigen zu Elisas Zeit leer ausgegangen. Doch<br />

Naëman, ein heidnischer E<strong>de</strong>lmann, war in <strong>de</strong>n Dingen, die er als recht erkannt hatte, treu<br />

gewesen, und er war sich auch bewußt, wie sehr er <strong>de</strong>r Hilfe bedurfte. Bereit, die Gna<strong>de</strong>ngaben<br />

Gottes zu empfangen, wur<strong>de</strong> er nicht allein vom Aussatz geheilt, son<strong>de</strong>rn auch mit <strong>de</strong>r<br />

Erkenntnis <strong>de</strong>s wahren Gottes gesegnet. Unser Verhältnis zu Gott hängt nicht davon ab, wieviel<br />

Licht wir erhalten haben, son<strong>de</strong>rn davon, was wir aus <strong>de</strong>m machen, was wir empfangen haben.<br />

Deshalb stehen Hei<strong>de</strong>n, die nach bestem Vermögen und Verständnis das Rechte zu tun bemüht<br />

sind, Gott näher als Menschen, die großes Licht empfangen haben und angeblich Gott dienen,<br />

dieses Licht aber nicht beachten und durch ihr tägliches Leben ihrem Bekenntnis<br />

wi<strong>de</strong>rsprechen.<br />

Mit seinen Worten in <strong>de</strong>r Synagoge traf Jesus seine Hörer an <strong>de</strong>r Wurzel ihrer<br />

Selbstgerechtigkeit, in<strong>de</strong>m er ihnen nachdrücklich die bittere Wahrheit vor Augen führte, daß<br />

sie sich von Gott abgewandt und <strong>de</strong>n Anspruch, sein Volk zu sein, verspielt hatten. Je<strong>de</strong>s Wort<br />

schnitt tief in ihr Herz, als ihnen ihre wirkliche Lage <strong>de</strong>utlich gemacht wur<strong>de</strong>. Jetzt verhöhnten<br />

sie <strong>de</strong>n Glauben, <strong>de</strong>n Jesus erst in ihnen entfacht hatte. Sie wollten nicht zugeben, daß jener, <strong>de</strong>r<br />

aus Armut und Niedrigkeit hervorgegangen war, mehr darstellte als einen gewöhnlichen<br />

Menschen. Ihr Unglaube erzeugte Groll. Satan hatte sie in seiner Gewalt, und voller Wut<br />

erhoben sie ihre Stimme gegen <strong>de</strong>n Heiland. Sie hatten sich von <strong>de</strong>m abgewandt, <strong>de</strong>ssen <strong>Die</strong>nst<br />

darin bestand, zu heilen und wie<strong>de</strong>rherzustellen. Nunmehr zeigten sie die Eigenschaften <strong>de</strong>s<br />

Ver<strong>de</strong>rbers.<br />

Als Jesus die <strong>de</strong>n Hei<strong>de</strong>n gewährten Segnungen nannte, stachelte dies <strong>de</strong>n lei<strong>de</strong>nschaftlichen<br />

Nationalstolz seiner Hörer so sehr an, daß seine Worte im Tumult untergingen. <strong>Die</strong>se Leute<br />

bil<strong>de</strong>ten sich viel darauf ein, daß sie das Gesetz hielten; doch nun, da ihre Vorurteile angetastet<br />

wur<strong>de</strong>n, waren sie fähig, einen Mord zu begehen. <strong>Die</strong> Versammlung brach jäh ab. Jesus wur<strong>de</strong><br />

gepackt und aus <strong>de</strong>r Synagoge sowie aus <strong>de</strong>r Stadt gejagt. Alle schienen darauf zu brennen, ihn<br />

umzubringen. Sie trieben ihn an <strong>de</strong>n Rand eines Abgrunds, um ihn kopfüber hinabzustoßen.<br />

Geschrei und Verwünschungen erfüllten die Luft. Manche warfen gera<strong>de</strong> mit Steinen nach ihm,<br />

als er plötzlich aus ihrer Mitte entschwand. <strong>Die</strong> himmlischen Boten, die in <strong>de</strong>r Synagoge an<br />

seiner Seite gestan<strong>de</strong>n hatten, waren auch hier inmitten <strong>de</strong>r rasen<strong>de</strong>n Menge bei ihm. Sie<br />

schirmten ihn vor seinen Fein<strong>de</strong>n ab und brachten ihn an einen sicheren Ort.<br />

In gleicher Weise schützten Engel auch Lot und führten ihn sicher aus Sodom hinaus.<br />

Desgleichen behüteten sie Elisa in jenem kleinen Gebirgsort. Zwar wimmelten die umliegen<strong>de</strong>n<br />

153


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Berge von Pfer<strong>de</strong>n und Wagen <strong>de</strong>s Königs von Syrien und von <strong>de</strong>r großen Schar seiner<br />

bewaffneten Männer; Elisa aber sah die näher gelegenen Hänge be<strong>de</strong>ckt von <strong>de</strong>n Heerscharen<br />

Gottes — Rosse und Feuerwagen rings um <strong>de</strong>n <strong>Die</strong>ner <strong>de</strong>s Herrn. Zu allen Zeiten waren Engel<br />

<strong>de</strong>n treuen Nachfolgern <strong>Christi</strong> nahe. <strong>Die</strong> unermeßliche Verschwörung <strong>de</strong>s Bösen ist gegen alle<br />

Überwin<strong>de</strong>r aufgeboten. Doch Christus möchte, daß wir auf das Unsichtbare schauen, auf die<br />

Heere <strong>de</strong>s Himmels, die sich zu <strong>de</strong>ren Rettung um alle lagern, die Gott lieben. Vor welchen<br />

erkannten und unerkannten Gefahren wir durch das Eingreifen <strong>de</strong>r Engel bewahrt wor<strong>de</strong>n sind,<br />

wer<strong>de</strong>n wir nie erfahren. Erst im Licht <strong>de</strong>r Ewigkeit wer<strong>de</strong>n wir die Vorsehung Gottes<br />

erkennen. Dann wird uns bewußt wer<strong>de</strong>n, daß die ganze Familie <strong>de</strong>s Himmels Anteil an <strong>de</strong>r<br />

irdischen Familie nahm und daß Boten vom Throne Gottes ausgesandt wur<strong>de</strong>n, die Tag für Tag<br />

unsere Schritte begleiteten.<br />

Als Jesus in <strong>de</strong>r Synagoge einen Abschnitt aus <strong>de</strong>n Schriftrollen <strong>de</strong>s Propheten Jesaja vorlas,<br />

brach er vor <strong>de</strong>m letzten Teil <strong>de</strong>r Beschreibung <strong>de</strong>s messianischen Werkes plötzlich ab. Nach<br />

<strong>de</strong>n Worten „zu verkündigen ein gnädiges Jahr <strong>de</strong>s Herrn“ ließ er die Wendung „und einen Tag<br />

<strong>de</strong>r Vergeltung unsres Gottes“ fort. Jesaja 61,2. <strong>Die</strong>se Aussage ist ebensosehr wahr wie <strong>de</strong>r<br />

erste Teil <strong>de</strong>r Weissagung, und durch sein Schweigen hat Jesus diese Wahrheit keineswegs<br />

geleugnet. Doch gera<strong>de</strong> bei dieser letzten Aussage verweilten seine Hörer so gern, und sie<br />

sehnten <strong>de</strong>ren Erfüllung herbei. Sie verkündigten die Gerichte Gottes über die Hei<strong>de</strong>n, ohne zu<br />

be<strong>de</strong>nken, daß ihre eigene Schuld weit größer war als die <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren. Sie selber brauchten die<br />

Gna<strong>de</strong>, die sie <strong>de</strong>n Hei<strong>de</strong>n versagten, am nötigsten. Jener Tag in <strong>de</strong>r Synagoge, an <strong>de</strong>m Jesus<br />

unter ihnen stand, war ihre Gelegenheit, <strong>de</strong>n Ruf <strong>de</strong>s Himmels anzunehmen. Er, <strong>de</strong>r „Freu<strong>de</strong><br />

daran hat, gnädig zu sein“, wollte sie gern vor <strong>de</strong>m Ver<strong>de</strong>rben bewahren (Micha 7,18, Zürcher),<br />

das ihre Sün<strong>de</strong>n nach sich zogen.<br />

Ohne einen nochmaligen Ruf zur Buße konnte er sie jedoch nicht aufgeben. Gegen En<strong>de</strong><br />

seines <strong>Die</strong>nstes in Galiläa besuchte er erneut <strong>de</strong>n Ort seiner Kindheit. Seit man ihn damals<br />

abgewiesen hatte, sprach man von seiner Predigt und seinen Wun<strong>de</strong>rn im ganzen Lan<strong>de</strong>. Jetzt<br />

konnte niemand bestreiten, daß er mehr als menschliche Kraft besaß. <strong>Die</strong> Leute in Nazareth<br />

wußten, daß er umherzog, Gutes zu tun und alle zu heilen, die von Satan geknechtet waren.<br />

Ringsumher gab es ganze Ortschaften, in <strong>de</strong>nen in keinem Hause auch nur ein Klagelaut wegen<br />

Krankheit zu hören war; <strong>de</strong>nn Christus war hindurchgezogen und hatte alle ihre Krankheiten<br />

geheilt. <strong>Die</strong> in je<strong>de</strong>r Tat seines Lebens offenbargewor<strong>de</strong>ne Gna<strong>de</strong> bezeugte, daß er <strong>de</strong>r Gesalbte<br />

Gottes war.<br />

Wie<strong>de</strong>r lauschten die Nazarener seinen Worten und wur<strong>de</strong>n vom Geist Gottes bewegt. Doch<br />

selbst jetzt wollten sie nicht zugeben, daß dieser Mann, <strong>de</strong>r unter ihnen aufgewachsen war,<br />

an<strong>de</strong>rs o<strong>de</strong>r größer war als sie selber. Immer noch nagte die bittere Erinnerung an ihnen, daß er<br />

beansprucht hatte, <strong>de</strong>r Verheißene Gottes zu sein, gleichzeitig aber ihre Zugehörigkeit zu Israel<br />

in Abre<strong>de</strong> stellte; <strong>de</strong>nn er hatte ihnen ja <strong>de</strong>utlich gemacht, daß sie <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong> Gottes weniger<br />

würdig seien als heidnische Männer und Frauen. Deshalb lehnten sie ihn trotz <strong>de</strong>r Frage „Woher<br />

kommt diesem solche Weisheit und Taten?“ als <strong>de</strong>n Gesalbten Gottes ab. Matthäus 13,54. Um<br />

ihres Unglaubens willen konnte <strong>de</strong>r Heiland unter ihnen nicht viele Wun<strong>de</strong>r wirken. Nur einige<br />

154


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

wenige Herzen öffneten sich seinen Segnungen. Ungern zog er fort, um niemals<br />

zurückzukehren.<br />

Der einmal eingewurzelte Unglaube behielt die Herrschaft über die Menschen in Nazareth.<br />

Ebenso beherrschte er <strong>de</strong>n Hohen Rat und das jüdische Volk. Als die Priester und das Volk zum<br />

ersten Male die Offenbarung <strong>de</strong>r Macht <strong>de</strong>s Heiligen Geistes zurückwiesen, war dies <strong>de</strong>r<br />

Anfang <strong>de</strong>s En<strong>de</strong>s. Um zu beweisen, daß ihr erstes Wi<strong>de</strong>rstreben berechtigt war, kritisierten sie<br />

fortan immerzu die Worte <strong>Christi</strong>. Ihre Zurückweisung <strong>de</strong>s Heiligen Geistes erreichte ihren<br />

Höhepunkt am Kreuz auf Golgatha, in <strong>de</strong>r Zerstörung Jerusalems und in <strong>de</strong>r Zerstreuung <strong>de</strong>s<br />

Volkes in alle Himmelsrichtungen.<br />

Wie sehr hat Christus sich doch gesehnt, vor <strong>de</strong>n Israeliten die köstlichen Schätze <strong>de</strong>r<br />

Wahrheit zu entfalten! Aber sie waren geistlich so verblen<strong>de</strong>t, daß ihnen unmöglich die<br />

Wahrheiten seines Reiches enthüllt wer<strong>de</strong>n konnten. Sie klammerten sich an ihr<br />

Glaubensbekenntnis und an ihre nutzlosen kultischen Formen, als <strong>de</strong>r Himmel ihnen seine<br />

Wahrheit zur Annahme anbot. Ihr Geld gaben sie für Spreu und dürre Schalen aus; dabei lag das<br />

Brot <strong>de</strong>s Lebens zum Greifen nahe vor ihnen. Warum nahmen sie nicht das Wort Gottes zur<br />

Hand und forschten mit Fleiß, um zu erkennen, ob sie sich im Irrtum befan<strong>de</strong>n? <strong>Die</strong><br />

alttestamentlichen Schriften enthielten über je<strong>de</strong> Einzelheit <strong>de</strong>s <strong>Die</strong>nstes <strong>Christi</strong> klare Aussagen,<br />

und immer wie<strong>de</strong>r zitierte er Prophetenworte mit <strong>de</strong>m Hinweis: „Heute ist dies Wort <strong>de</strong>r Schrift<br />

erfüllt vor euren Ohren.“ Lukas 4,21; Lukas 21,22; Johannes 15,25; Johannes 18,9; u.a.<br />

Wür<strong>de</strong>n sie aufrichtig die Heilige Schrift durchforscht und ihre eigenen Lehrsätze am Worte<br />

Gottes geprüft haben, dann hätte Jesus we<strong>de</strong>r über ihre Unbußfertigkeit zu weinen, noch hätte er<br />

zu erklären brauchen: „Sehet, euer Haus soll euch wüste gelassen wer<strong>de</strong>n.“ Lukas 13,35. <strong>Die</strong><br />

Beweise, daß er <strong>de</strong>r Gesalbte war, hätten sie kennen, und das Elend, das ihre stolzen Städte in<br />

Trümmer legte, hätte abgewen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n können. Aber vernunftwidriger Fanatismus engte das<br />

Denken <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n ein. <strong>Christi</strong> Unterweisungen enthüllten ihre Charaktermängel und for<strong>de</strong>rten<br />

Umkehr. Wären sie seinen Lehren gefolgt, dann hätten sie ihr tägliches Verhalten än<strong>de</strong>rn und<br />

die von ihnen gehegten Hoffnungen aufgeben müssen. Wollten sie im Himmel geehrt wer<strong>de</strong>n,<br />

dann mußten sie auf die Ehre von Menschen verzichten. Der Gehorsam gegenüber <strong>de</strong>n Worten<br />

dieses neuen Rabbi hätte sie in Gegensatz zu <strong>de</strong>n Auffassungen <strong>de</strong>r großen Denker und Lehrer<br />

jener Zeit setzen müssen.<br />

In <strong>Christi</strong> Tagen war die Wahrheit unbeliebt. Sie ist es auch heute. Sie war es immer, seit<br />

Satan zum ersten Mal <strong>de</strong>m Menschen Abneigung gegen sie einflößte, in<strong>de</strong>m er ihnen Lügen<br />

darbot, die zur Selbsterhöhung führten. Stoßen wir nicht auch heute auf Theorien und Lehren,<br />

die nicht im Worte Gottes gegrün<strong>de</strong>t sind? <strong>Die</strong> Menschen hängen ihnen ebenso beharrlich an<br />

wie die Ju<strong>de</strong>n damals ihren Überlieferungen. <strong>Die</strong> jüdischen Führer waren voll geistlichem<br />

Hochmut. Ihr Streben nach eigener Ehre zeigte sich sogar bei ihrem <strong>Die</strong>nst im Tempel. In <strong>de</strong>r<br />

Synagoge beanspruchten sie die besten Plätze. Auf <strong>de</strong>n Märkten wollten sie gegrüßt wer<strong>de</strong>n,<br />

und es tat ihnen wohl, ihren Titel aus <strong>de</strong>m Mun<strong>de</strong> an<strong>de</strong>rer zu hören. Weil echte Frömmigkeit<br />

schwand, galt ihr Eifer mehr und mehr ihren Überlieferungen und religiösen Formen.<br />

155


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Ihr Verständnis war durch eigensüchtige Vorurteile getrübt; <strong>de</strong>shalb vermochten sie die<br />

Kraft <strong>de</strong>r überzeugen<strong>de</strong>n Worte <strong>Christi</strong> nicht mit seinem <strong>de</strong>mütigen Leben in Einklang zu<br />

bringen. Sie begriffen nicht die Tatsache, daß echte Größe auf äußere Zurschaustellung<br />

verzichten kann. <strong>Die</strong> Armut dieses Mannes hielten sie für völlig unvereinbar mit seinem<br />

Anspruch, <strong>de</strong>r Messias zu sein. Sie fragten sich, was seine Anspruchslosigkeit be<strong>de</strong>ute, wenn er<br />

tatsächlich <strong>de</strong>rjenige war, <strong>de</strong>r er zu sein vorgab. Was wür<strong>de</strong> aus ihrem Volk wer<strong>de</strong>n, wenn er<br />

wirklich auf je<strong>de</strong> bewaffnete Streitmacht verzichtete? Wie könnten die Macht und <strong>de</strong>r Glanz,<br />

welche so lange erwartet wor<strong>de</strong>n waren, die Völker veranlassen, sich <strong>de</strong>r Stadt <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n zu<br />

beugen? Hatten nicht die Priester gelehrt, daß Israel die Herrschaft über die ganze Er<strong>de</strong> ausüben<br />

sollte? Sollten sich die großen Religionslehrer etwa geirrt haben? Aber nicht nur <strong>de</strong>r Mangel an<br />

äußerem Glanz in seinem Leben veranlaßte die Ju<strong>de</strong>n, Jesus zu verwerfen. Er war die<br />

Verkörperung <strong>de</strong>r Reinheit, sie aber waren unrein. Er lebte als Beispiel makelloser<br />

Unbescholtenheit unter <strong>de</strong>n Menschen. Sein fleckenloses Leben ließ einen Lichtschein auf ihre<br />

Herzen fallen. Seine Aufrichtigkeit enthüllte ihre Unaufrichtigkeit. Sie offenbarte die Hohlheit<br />

ihrer anmaßen<strong>de</strong>n Frömmigkeit und <strong>de</strong>ckte vor ihnen das verabscheuungswürdige Wesen <strong>de</strong>s<br />

Unrechts auf. Ein solches Licht war unerwünscht.<br />

Hätte Christus die Aufmerksamkeit auf die Pharisäer gelenkt und ihre Gelehrsamkeit und<br />

Frömmigkeit gelobt, dann wür<strong>de</strong>n sie ihn mit Freu<strong>de</strong>n begrüßt haben. Als er aber vom<br />

Himmelreich als einem Reich <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong> für alle Menschen sprach, rückte er einen religiösen<br />

Gesichtspunkt ins Blickfeld, <strong>de</strong>n sie nicht hinnehmen wollten. Ihr Beispiel und ihre Lehre<br />

hatten nie vermocht, <strong>de</strong>n <strong>Die</strong>nst für Gott begehrenswert erscheinen zu lassen. Als sie sahen, wie<br />

Jesus sich gera<strong>de</strong> um die bemühte, welche sie haßten und von sich stießen, wühlte das die<br />

übelsten Lei<strong>de</strong>nschaften ihrer hochmütigen Herzen auf. Ungeachtet ihrer stolzen Erwartung,<br />

daß Israel als „<strong>de</strong>r Löwe, <strong>de</strong>r da ist vom Geschlecht Juda“ (Offenbarung 5,5), zur Vorherrschaft<br />

über alle Völker erhöht wer<strong>de</strong>n solle, vermochten sie das Fehlschlagen ihrer ehrgeizigen<br />

Hoffnungen leichter zu ertragen als die Verdammung ihrer Sün<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>m Mun<strong>de</strong> <strong>Christi</strong> und<br />

<strong>de</strong>n Vorwurf, <strong>de</strong>n sie allein schon durch das Vorhan<strong>de</strong>nsein seiner Reinheit auf sich ruhen<br />

fühlten.<br />

156


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 25: <strong>Die</strong> Berufung am See<br />

Über <strong>de</strong>m Galiläischen Meer dämmerte <strong>de</strong>r Morgen. <strong>Die</strong> Jünger Jesu hatten eine<br />

anstrengen<strong>de</strong>, erfolglose Nachtarbeit hinter sich und waren mü<strong>de</strong>. Sie befan<strong>de</strong>n sich mit ihren<br />

Fischerbooten noch draußen auf <strong>de</strong>m See. Christus war gekommen, um eine ruhige Stun<strong>de</strong> am<br />

Wasser zu verbringen. <strong>Die</strong> Frühe <strong>de</strong>s Tages ließ ihn auf diese Zeit <strong>de</strong>r Stille hoffen; <strong>de</strong>nn sonst<br />

folgte ihm stets eine große Menschenmenge. Doch bald sammelten sich auch hier am See<br />

immer mehr Menschen um ihn, und die Zahl wuchs so schnell, daß er von allen Seiten bedrängt<br />

wur<strong>de</strong>. Inzwischen waren auch seine Jünger an Land gekommen. Um <strong>de</strong>m Druck <strong>de</strong>r Menge zu<br />

entgehen, trat Jesus zu Petrus ins Boot und bat ihn, ein wenig vom Ufer abzustoßen. So konnte<br />

er besser von allen gesehen und gehört wer<strong>de</strong>n, und vom Boot aus lehrte er die am Strand<br />

versammelte Menge.<br />

Welch ein Bild bot sich hier <strong>de</strong>n Engeln! Ihr glorreicher Befehlshaber sitzt in einem<br />

Fischerboot, das von <strong>de</strong>n ruhelosen Wellen hin und herbewegt wird, und verkündigt <strong>de</strong>r<br />

Zuhörermenge, die auf das Seeufer zu drängt, die frohe Botschaft <strong>de</strong>s Heils. Er, <strong>de</strong>r vom<br />

Himmel Geehrte, verkündigte <strong>de</strong>m Volk im Freien die großen Tatsachen seines Reiches. Er<br />

hätte jedoch keinen passen<strong>de</strong>ren Rahmen für sein Wirken haben können. Der See, die Berge,<br />

die sich ausbreiten<strong>de</strong>n Fel<strong>de</strong>r, das Sonnenlicht, das die Er<strong>de</strong> überflutete — sie alle lieferten<br />

Beispiele, um seine Lehren zu veranschaulichen und <strong>de</strong>m Geist einzuprägen. Und keine Lehre<br />

<strong>Christi</strong> fiel auf unfruchtbaren Bo<strong>de</strong>n. Je<strong>de</strong> Botschaft von seinen Lippen erreichte diesen o<strong>de</strong>r<br />

jenen Menschen als Wort <strong>de</strong>s ewigen Lebens.<br />

Des Volkes am Ufer wur<strong>de</strong> immer mehr; es kamen Greise, die sich mühsam am Stock<br />

vorwärts bewegten, kräftige Landleute aus <strong>de</strong>n Bergen, Fischer, die ihre Arbeit auf <strong>de</strong>m See<br />

verlassen hatten, Kaufleute und Rabbiner, Reiche und Gelehrte, Alte und Junge; sie brachten<br />

ihre Kranken und Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n mit und drängten sich nach vorn, um die Worte <strong>de</strong>s göttlichen<br />

Lehrers zu hören. Solche Erlebnisse hatten die Propheten erwartet, und sie schrieben: „Das<br />

Land Sebulon und das Land Naphthali, die Straße am See, das Land jenseits <strong>de</strong>s Jordan, das<br />

heidnische Galiläa, das Volk, das in Finsternis saß, hat ein großes Licht gesehen; und die da<br />

saßen am Ort und Schatten <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>nen ist ein Licht aufgegangen.“ Matthäus 4,15.16.<br />

In seiner Predigt dachte Jesus nicht nur an die Menschenmenge am Ufer <strong>de</strong>s Sees<br />

Genezareth, son<strong>de</strong>rn auch an eine an<strong>de</strong>re Zuhörerschaft. In<strong>de</strong>m er die vor ihm liegen<strong>de</strong>n<br />

Zeitalter überblickte, sah er seine treuen <strong>Die</strong>ner im Gefängnis und vor Gericht, in Versuchung,<br />

Einsamkeit und Trauer. Je<strong>de</strong>s Bild <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung und <strong>de</strong>r Ratlosigkeit sah<br />

er vor sich. <strong>Die</strong> gleichen Worte, die er zu <strong>de</strong>n um ihn herum Versammelten sprach, waren auch<br />

an diese an<strong>de</strong>ren Menschen gerichtet, so daß sie in Zeiten <strong>de</strong>r Prüfung Hoffnung, im Leid Trost<br />

und in <strong>de</strong>r Finsternis himmlisches Licht empfingen. Durch <strong>de</strong>n Heiligen Geist sollte jene<br />

Stimme, die vom Fischerboot auf <strong>de</strong>m See Genezareth aus sprach, vernehmbar sein, in<strong>de</strong>m sie<br />

bis zum En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Zeit menschlichen Herzen Frie<strong>de</strong>n zuspricht.<br />

Nach seiner Re<strong>de</strong> ersuchte Jesus <strong>de</strong>n Petrus, auf <strong>de</strong>n See hinaus zu fahren und sein Netz zu<br />

einem Fang auszuwerfen. Aber Petrus war entmutigt; <strong>de</strong>nn er hatte die ganze Nacht nichts<br />

157


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

gefangen. Während <strong>de</strong>r stillen Stun<strong>de</strong>n hatte er an das Schicksal Johannes <strong>de</strong>s Täufers gedacht,<br />

<strong>de</strong>r einsam in seinem Kerker schmachtete. Er hatte dann weiter an die Zukunft Jesu und seiner<br />

Nachfolger <strong>de</strong>nken müssen und sich mit <strong>de</strong>m Mißerfolg <strong>de</strong>s Werkes in Judäa und mit <strong>de</strong>r<br />

Bosheit <strong>de</strong>r Priester und <strong>de</strong>r Rabbiner beschäftigt. Sogar sein eigener Beruf enttäuschte ihn<br />

jetzt, und während er bei <strong>de</strong>n leeren Netzen wachte, schien ihm die Zukunft dunkel und<br />

entmutigend. „Meister“, sagte er, „wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen;<br />

aber auf <strong>de</strong>in Wort will ich das Netz auswerfen.“ Lukas 5,5.<br />

<strong>Die</strong> Nacht war die günstigste Zeit für <strong>de</strong>n Fischfang mit Netzen in <strong>de</strong>m klaren Wasser <strong>de</strong>s<br />

Sees; darum erschien es auch als aussichtslos, nach <strong>de</strong>m Mißerfolg <strong>de</strong>r Jünger zur Nachtzeit nun<br />

am Tage das Netz auszuwerfen. Doch Jesus hatte es geboten, und sie gehorchten aus Liebe zu<br />

ihrem Meister. Simon und sein Bru<strong>de</strong>r warfen gemeinsam das Netz aus, und als sie es wie<strong>de</strong>r<br />

einholen wollten, war es so voller Fische, daß es zu zerreißen begann. Sie mußten Johannes und<br />

Jakobus zur Unterstützung herbeirufen. Als sie <strong>de</strong>n Fang gesichert hatten, waren bei<strong>de</strong> Boote<br />

randvoll bela<strong>de</strong>n, so daß sie zu sinken drohten.<br />

Petrus jedoch sorgte sich we<strong>de</strong>r um die Boote noch um ihre Ladung; das außergewöhnliche<br />

Geschehen offenbarte ihm mehr als alle vorher erlebten Wun<strong>de</strong>r die göttliche Macht Jesu. Er<br />

erkannte in ihm <strong>de</strong>n Gebieter über die ganze Schöpfung. <strong>Die</strong> Gegenwart <strong>de</strong>s göttlichen Meisters<br />

offenbarte ihm seine eigene Min<strong>de</strong>rwertigkeit. Liebe zu seinem Herrn, Scham über seinen<br />

Unglauben, Dankbarkeit über die Herablassung Jesu und beson<strong>de</strong>rs das Bewußtsein seiner<br />

Unreinheit in <strong>de</strong>r Gegenwart <strong>de</strong>r ewigen Reinheit überwältigten ihn. Während seine Kamera<strong>de</strong>n<br />

die gefangene Beute in Sicherheit brachten, fiel er <strong>de</strong>m Heiland zu Füßen und rief: „Herr, gehe<br />

von mir hinaus! Ich bin ein sündiger Mensch.“ Lukas 5,8.<br />

Es war die gleiche Gegenwart göttlicher Heiligkeit, die <strong>de</strong>n Propheten Daniel vor <strong>de</strong>m Engel<br />

Gottes wie tot zu Bo<strong>de</strong>n fallen ließ. Er sagte: „Je<strong>de</strong> Farbe wich aus meinem Antlitz, und ich<br />

hatte keine Kraft mehr.“ Daniel 10,8. Als Jesaja die Herrlichkeit <strong>de</strong>s Herrn schaute, rief er aus:<br />

„Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von<br />

unreinen Lippen; <strong>de</strong>nn ich habe <strong>de</strong>n König, <strong>de</strong>n Herrn Zebaoth, gesehen mit meinen<br />

Augen.“ Jesaja 6,5. Dem Menschlichen mit seiner Schwachheit und Sün<strong>de</strong> stand die<br />

Vollkommenheit <strong>de</strong>s Göttlichen gegenüber, und er fühlte sich äußerst unzulänglich und<br />

unwürdig. So ist es bei allen gewesen, die Gottes Größe und Erhabenheit schauen durften.<br />

Petrus bekannte: „Gehe von mir hinaus! Ich bin ein sündiger Mensch.“ Dennoch<br />

umklammerte er Jesu Füße, damit er nicht von ihm getrennt wür<strong>de</strong>. Der Heiland antwortete:<br />

„Fürchte dich nicht! <strong>de</strong>nn von nun an wirst du Menschen fangen.“ Lukas 5,10. So wur<strong>de</strong> einst<br />

auch <strong>de</strong>m Propheten Jesaja erst dann die göttliche Botschaft anvertraut, nach<strong>de</strong>m er die<br />

Herrlichkeit Gottes und zugleich seine eigene Unwürdigkeit erkannt hatte. Erst als Petrus<br />

eingesehen hatte, wie wenig er sich auf sein eigenes Können und wie sehr er sich auf Gott<br />

verlassen konnte, wur<strong>de</strong> er berufen, für <strong>de</strong>n Herrn zu wirken.<br />

Keiner <strong>de</strong>r Jünger hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt Jesus ganz als Mitarbeiter<br />

angeschlossen. Sie waren Zeugen vieler seiner Wun<strong>de</strong>r gewesen und hatten zugehört, als er<br />

158


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

lehrte; doch ihren Beruf hatten sie noch nicht völlig aufgegeben. <strong>Die</strong> Einkerkerung Johannes<br />

<strong>de</strong>s Täufers war für sie alle eine bittere Enttäuschung gewesen. Wenn das En<strong>de</strong>rgebnis <strong>de</strong>r<br />

Sendung <strong>de</strong>s Täufers so aussehen sollte, dann konnten sie für ihren Meister nur wenig Hoffnung<br />

haben, wo doch alle religiösen Führer sich gegen ihn verbün<strong>de</strong>ten. Unter diesen Umstän<strong>de</strong>n<br />

hatten sie es als Erleichterung empfun<strong>de</strong>n, für kurze Zeit wie<strong>de</strong>r ihrer Tätigkeit als Fischer<br />

nachgehen zu können. Aber nun verlangte Jesus von ihnen, ihr früheres Leben aufzugeben und<br />

seine Belange zu ihren eigenen zu machen. Petrus hatte <strong>de</strong>n Ruf angenommen. Als Jesus ans<br />

Ufer kam, for<strong>de</strong>rte er auch die drei an<strong>de</strong>ren Jünger auf: „Folget mir nach; ich will euch zu<br />

Menschenfischern machen.“ Matthäus 4,19. Sofort verließen sie alles und folgten ihm.<br />

Ehe <strong>de</strong>r Herr Petrus, Jakobus und Johannes auffor<strong>de</strong>rte, ihre Netze und Boote zu verlassen,<br />

hatte er ihnen die Versicherung gegeben, daß Gott für ihre Bedürfnisse sorgen wür<strong>de</strong>. Petrus<br />

war dafür, daß er sein Boot zur Verkündigung <strong>de</strong>s Evangeliums zur Verfügung gestellt hatte,<br />

reichlich entschädigt wor<strong>de</strong>n. Er, <strong>de</strong>r „reich ist gegenüber allen, die ihn anrufen“ (Römer 10,12,<br />

Bruns), hat gesagt: „Gebet, so wird euch gegeben. Ein voll, gedrückt, gerüttelt und überfließend<br />

Maß wird man in euren Schoß geben.“ Lukas 6,38. So hatte Jesus auch <strong>de</strong>n <strong>Die</strong>nst <strong>de</strong>s Petrus<br />

belohnt. Und je<strong>de</strong>s in seinem <strong>Die</strong>nst gebrachte Opfer wird belohnt wer<strong>de</strong>n nach <strong>de</strong>m<br />

„überschwenglichen Reichtum seiner Gna<strong>de</strong>“. Epheser 2,7.<br />

In jener traurigen Nacht auf <strong>de</strong>m See, in <strong>de</strong>r die Jünger von Jesus getrennt waren, wur<strong>de</strong>n sie<br />

durch Unglauben und Unwillen über die erfolglose Arbeit schwer bedrückt; aber Jesu<br />

Gegenwart belebte ihren Glauben und brachte ihnen Freu<strong>de</strong> und Erfolg. So ist es auch mit uns!<br />

Getrennt von Christus, ist unser Wirken fruchtlos, und es ist dann leicht, mißtrauisch zu sein<br />

und zu klagen. Ist er aber in unserer Nähe und arbeiten wir unter seiner Leitung, dann freuen<br />

wir uns <strong>de</strong>r Gewißheit seiner Macht. Satan will die Seele entmutigen, Christus aber stärkt sie<br />

mit Hoffnung und Glauben. Was <strong>de</strong>r Heiland <strong>de</strong>n Jüngern durch dieses Wun<strong>de</strong>r mitteilen<br />

wollte, ist auch eine tiefe Lehre für uns: Er, <strong>de</strong>ssen Machtwort selbst die Fische aus <strong>de</strong>r Tiefe<br />

sammelte, kann auch die menschlichen Herzen beeinflussen und sie durch das Band seiner<br />

Liebe zu sich ziehen, so daß seine <strong>Die</strong>ner „Menschenfischer“ wer<strong>de</strong>n.<br />

<strong>Die</strong>se Fischer von Galiläa waren einfache und ungelehrte Männer; doch Christus, das Licht<br />

<strong>de</strong>r Welt, befähigte sie zur Erfüllung <strong>de</strong>s <strong>Die</strong>nstes, zu <strong>de</strong>m er sie berufen hatte. Er verachtete<br />

keineswegs gute Erziehung, die unter göttlicher Leitung und seinem <strong>Die</strong>nst geweiht sich nur als<br />

segensreich erweisen kann. Er ging aber an <strong>de</strong>n Weisen seiner Zeit vorüber, weil sie zu sehr mit<br />

sich selbst beschäftigt waren, um mit <strong>de</strong>n Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Erbarmen haben und Mitarbeiter Gottes<br />

sein zu können. <strong>Die</strong>se Weisen verschmähten es in ihrem blin<strong>de</strong>n, heuchlerischen Eifer, sich von<br />

Jesus belehren zu lassen. Der Heiland sucht die Mitarbeit <strong>de</strong>rer, die offene Kanäle zur<br />

Mitteilung seiner Gna<strong>de</strong> sein wollen. Das Wichtigste, was alle lernen müssen, die mit Gott<br />

zusammenarbeiten wollen, ist, nicht so sehr von sich selbst eingenommen zu sein. Erst dann<br />

kann ihnen <strong>de</strong>r Charakter <strong>Christi</strong> nahegebracht wer<strong>de</strong>n. Eine solche Ausbildung ist nicht auf<br />

<strong>de</strong>n wissenschaftlichen Schulen dieser Welt zu erlangen, son<strong>de</strong>rn sie ist die Frucht jener<br />

Weisheit, die allein von <strong>de</strong>m göttlichen Lehrer vermittelt wird.<br />

159


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Jesus erwählte die einfachen Fischer, weil diese nicht in <strong>de</strong>n Traditionen und in <strong>de</strong>n irrigen<br />

Gewohnheiten ihrer Zeit unterwiesen wor<strong>de</strong>n waren. Sie waren unverbil<strong>de</strong>te Menschen mit<br />

natürlichen Anlagen, <strong>de</strong>mütig und gelehrig — sie waren Männer, die Christus zu seinem <strong>Die</strong>nst<br />

ausbil<strong>de</strong>n konnte. Im Alltagsleben steht so mancher einfache Mann, <strong>de</strong>r treu und geduldig<br />

seiner Tagesarbeit nachgeht und <strong>de</strong>r unbewußt eine große Kraft besitzt, die ihn, könnte er sie<br />

einsetzen, an die Seite hochgeehrter Männer stellen wür<strong>de</strong>. Es bedarf <strong>de</strong>s Anstoßes einer<br />

geschickten Hand, um diese schlummern<strong>de</strong>n Fähigkeiten zu wecken. Solche Männer berief<br />

Jesus zu seinen Mitarbeitern und gewährte ihnen <strong>de</strong>n Vorzug, mit ihm in unmittelbarer<br />

Verbindung zu stehen. Kein irdischer Großer hatte je solchen Lehrer. Als die Jünger die Schule<br />

<strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s verließen, waren sie nicht mehr unwissend o<strong>de</strong>r ungebil<strong>de</strong>t. Sie waren an Gemüt<br />

und Charakter ihm ähnlich gewor<strong>de</strong>n, und die Menschen erkannten an ihrem Wesen <strong>de</strong>n<br />

Einfluß Jesu.<br />

Es ist nicht die höchste Aufgabe <strong>de</strong>r Erziehung, bloße Kenntnisse mitzuteilen, son<strong>de</strong>rn<br />

vielmehr jene beleben<strong>de</strong> Tatkraft zu vermitteln, die durch eine Verbindung von Herz zu Herz<br />

und von Seele zu Seele empfangen wird. Nur Leben kann Leben erzeugen. Welch ein Vorrecht<br />

für die Jünger, die drei Jahre lang täglich mit <strong>de</strong>m göttlichen Leben in unmittelbarer<br />

Verbindung stan<strong>de</strong>n, von <strong>de</strong>m je<strong>de</strong>r lebenspen<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Anstoß ausging, <strong>de</strong>r die Welt gesegnet hat!<br />

Mehr als seine Gefährten gab sich Johannes, <strong>de</strong>r geliebte Jünger, <strong>de</strong>m Einfluß jenes<br />

wun<strong>de</strong>rbaren Lebens hin. Er sagte: „Das Leben ist erschienen, und wir haben gesehen und<br />

bezeugen und verkündigen euch das Leben, das ewig ist, welches war bei <strong>de</strong>m Vater und ist uns<br />

erschienen.“ 1.Johannes 1,2. „Von seiner Fülle haben wir alle genommen Gna<strong>de</strong> um<br />

Gna<strong>de</strong>.“ Johannes 1,16.<br />

<strong>Die</strong> Apostel <strong>Christi</strong> waren frei von je<strong>de</strong>m Selbstruhm. Sie schrieben <strong>de</strong>n Erfolg ihrer Arbeit<br />

allein Gott zu und bekun<strong>de</strong>ten dies allen Menschen. Das Leben dieser Männer, ihr Charakter,<br />

<strong>de</strong>n sie entwickelten, und die mächtige Aufgabe, die Gott durch sie vollbrachte, bezeugen, was<br />

Gott für alle jene tun will, die gelehrig und ihm gehorsam sind. Wer Christus am meisten liebt,<br />

wird auch am meisten Gutes tun. Ohne Grenzen ist <strong>de</strong>r Einfluß <strong>de</strong>ssen, <strong>de</strong>r, in<strong>de</strong>m er das eigene<br />

Ich beiseite stellt, <strong>de</strong>m Wirken <strong>de</strong>s Heiligen Geistes Raum gibt und ein gottgeweihtes Leben<br />

führt. Wer sich <strong>de</strong>r notwendigen Zucht unterwirft, ohne zu klagen o<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Wege zu<br />

verzagen, <strong>de</strong>n wird Gott stündlich und täglich unterweisen; <strong>de</strong>nn Gott sehnt sich danach, seine<br />

Gna<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Menschen kundzutun. Wenn seine Kin<strong>de</strong>r die Hin<strong>de</strong>rnisse aus <strong>de</strong>m Weg räumen,<br />

wird er das Wasser <strong>de</strong>s Heils in großen Strömen durch die menschlichen Kanäle fließen lassen.<br />

Wenn <strong>de</strong>mütige Menschen ermutigt wür<strong>de</strong>n, so viel Gutes zu tun, wie ihnen möglich ist, wenn<br />

ihr Eifer nicht immer gehemmt wür<strong>de</strong>, dann wären hun<strong>de</strong>rt Mitarbeiter für <strong>de</strong>n Herrn da, wo<br />

jetzt nur einer ist.<br />

Gott nimmt die Menschen, wie sie sind, und erzieht sie zu seinem <strong>Die</strong>nst, wenn sie sich ihm<br />

überlassen wollen. Der Geist Gottes belebt alle Fähigkeiten <strong>de</strong>r Seele, die ihn aufgenommen<br />

hat, und wenn sie sich bedingungslos Gott ergibt, wird sie sich unter <strong>de</strong>r Leitung <strong>de</strong>s Heiligen<br />

Geistes harmonisch entwickeln, und sie wird gestärkt wer<strong>de</strong>n, die For<strong>de</strong>rungen Gottes zu<br />

verstehen und zu erfüllen. Dann wird auch <strong>de</strong>r schwache, schwanken<strong>de</strong> Charakter stark und<br />

160


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

beharrlich, und eine beständige Zuneigung läßt ein so inniges Verhältnis zwischen Jesus und<br />

seinem Jünger entstehen, daß dieser ihm in seinem Wesen ähnlich wird. Durch die Verbindung<br />

mit <strong>de</strong>m Herrn wird sein Gesichtskreis weiter, sein Unterscheidungsvermögen schärfer, sein<br />

Urteil ausgewogener. Wen wirklich danach verlangt, Christus zu dienen, <strong>de</strong>r wird durch die<br />

lebenspen<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Kraft <strong>de</strong>r „Sonne <strong>de</strong>r Gerechtigkeit“ so gestärkt, daß er viel Frucht bringen<br />

kann zur Ehre Gottes. Menschen mit <strong>de</strong>r hervorragendsten Ausbildung in <strong>de</strong>n Künsten und<br />

Wissenschaften haben, was ein <strong>de</strong>mütig-beschei<strong>de</strong>nes Leben betrifft, gera<strong>de</strong> mit solchen<br />

Christen wertvolle Erfahrungen gemacht, die die Welt ungebil<strong>de</strong>t nennt. Doch diese<br />

unbedarften Jünger waren in <strong>de</strong>r besten aller Schulen ausgebil<strong>de</strong>t wor<strong>de</strong>n. Sie hatten zu <strong>de</strong>n<br />

Füßen <strong>de</strong>s Meisters gesessen, von <strong>de</strong>m es heißt, es habe „nie ein Mensch so gere<strong>de</strong>t wie<br />

dieser“. Johannes 7,46.<br />

161


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 26: In Kapernaum<br />

Jesus weilte während <strong>de</strong>r Pausen seines Hin- und Herwan<strong>de</strong>rns fast immer in Kapernaum.<br />

Darum nannte man Kapernaum „seine Stadt“. <strong>Die</strong> Stadt lag am Galiläischen Meer , nahe am<br />

Ran<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r sogar auf <strong>de</strong>r schönen Ebene von Genezareth. <strong>Die</strong> tiefe Lage <strong>de</strong>s Sees gibt <strong>de</strong>m<br />

ebenen Land, das seine Ufer säumt, das angenehme Klima <strong>de</strong>s Sü<strong>de</strong>ns. Hier gediehen in <strong>de</strong>n<br />

Tagen <strong>Christi</strong> Palmen und Ölbäume, es gab hier Obstgärten und Weinberge, grüne Fel<strong>de</strong>r und<br />

leuchtend blühen<strong>de</strong> Blumen in reicher Fülle, und alles wur<strong>de</strong> durch die Bäche bewässert, die<br />

von <strong>de</strong>n Felsen herabstürzten. <strong>Die</strong> Küsten <strong>de</strong>s Sees und die Hügel, die ihn in nur geringer<br />

Entfernung umgeben, waren mit Städten und Dörfern dicht besie<strong>de</strong>lt. Auf <strong>de</strong>m See lagen<br />

zahlreiche Fischerboote. Überall regte sich geschäftiges, aktives Leben.<br />

Kapernaum selbst eignete sich gut als Mittelpunkt für das Werk <strong>de</strong>s Heilands. Da es an <strong>de</strong>r<br />

Hauptstraße von Damaskus nach Jerusalem und Ägypten und auch nach <strong>de</strong>m Mittelländischen<br />

Meer lag, bil<strong>de</strong>te es einen Verkehrsknotenpunkt. Aus vielen Län<strong>de</strong>rn kamen Menschen durch<br />

diese Stadt o<strong>de</strong>r rasteten hier auf <strong>de</strong>r Hin- o<strong>de</strong>r Rückreise. Ein buntes Völkergemisch, alle<br />

Volksschichten, Hohe und Niedrige, Reiche und Arme, konnte Jesus hier antreffen, und seine<br />

Lehren wür<strong>de</strong>n in an<strong>de</strong>re Län<strong>de</strong>r und in viele Familien getragen wer<strong>de</strong>n. So gäbe es genügend<br />

Anregung zum Forschen in <strong>de</strong>n Prophezeiungen, die Aufmerksamkeit wür<strong>de</strong> auf <strong>de</strong>n Heiland<br />

gelenkt und seine Botschaft in die Welt getragen wer<strong>de</strong>n.<br />

Ungeachtet <strong>de</strong>ssen, daß <strong>de</strong>r Hohe Rat gegen Jesus vorging, wartete das Volk gespannt<br />

darauf, wie sich seine Mission entwickeln wür<strong>de</strong>. Der ganze Himmel war vor Anteilnahme in<br />

Bewegung. Engel bereiteten <strong>de</strong>n Weg für seinen <strong>Die</strong>nst, bewegten die Herzen <strong>de</strong>r Menschen<br />

und zogen sie zum Heiland hin. In Kapernaum war <strong>de</strong>r Sohn <strong>de</strong>s königlichen Beamten, <strong>de</strong>n<br />

Christus geheilt hatte, ein Zeuge seiner Macht. Und <strong>de</strong>r Beamte und seine Familie legten<br />

freudig von ihrem Glauben Zeugnis ab. Als bekannt war, daß <strong>de</strong>r große Lehrer selber unter<br />

ihnen weilte, wur<strong>de</strong> die ganze Stadt wach. Eine gewaltige Menschenmenge strömte zu ihm. Am<br />

Sabbat war die Synagoge überfüllt, so daß viele wie<strong>de</strong>r weggehen mußten, da sie keinen Platz<br />

mehr fan<strong>de</strong>n.<br />

Alle, die <strong>de</strong>n Heiland hörten, „verwun<strong>de</strong>rten sich seiner Lehre; <strong>de</strong>nn er predigte in<br />

Vollmacht“. Lukas 4,32. „Er lehrte mit Vollmacht und nicht wie ihre<br />

Schriftgelehrten.“ Matthäus 7,29. <strong>Die</strong> Lehre <strong>de</strong>r Schriftgelehrten und Ältesten war kalt und<br />

formell und hörte sich wie eine routinemäßig auswendig gelernte Lektion an. Für sie besaß das<br />

Wort Gottes keine Lebenskraft. Statt <strong>de</strong>ssen wur<strong>de</strong>n ihre eigenen I<strong>de</strong>en und Traditionen gelehrt.<br />

Sie taten ihren <strong>Die</strong>nst in gewohnter Weise und gaben vor, das Gesetz zu erklären, aber keine<br />

Eingebung von Gott bewegte ihre eigenen Herzen o<strong>de</strong>r die Herzen ihrer Zuhörer. Jesus gab sich<br />

nicht mit <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen, unter <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n strittigen Themen ab. Es war seine Aufgabe, die<br />

Wahrheit zu verkündigen. Seine Worte erhellten die Lehren <strong>de</strong>r Patriarchen und Propheten, und<br />

die heiligen Schriften kamen <strong>de</strong>n Menschen wie eine neue Offenbarung vor. Nie zuvor hatten<br />

seine Hörer im Worte Gottes einen solch tiefen Sinn wahrgenommen.<br />

162


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Jesus begegnete <strong>de</strong>n Menschen, in<strong>de</strong>m er sich in <strong>de</strong>ren Lage versetzte, als einer, <strong>de</strong>r mit<br />

ihren Nöten vertraut war. Er ließ die Schönheit <strong>de</strong>r Wahrheit hervortreten, in<strong>de</strong>m er sie auf die<br />

unmittelbarste und einfachste Weise darlegte. Seine Sprache war rein, gewählt und klar wie das<br />

Wasser eines spru<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Baches. Seine Stimme klang jenen, die <strong>de</strong>n eintönigen Re<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r<br />

Rabbiner zugehört hatten, wie Musik in <strong>de</strong>n Ohren. So einfach seine Lehre war, sprach er doch<br />

mit Vollmacht. <strong>Die</strong>ses Merkmal hob seine Art zu lehren ganz entschie<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>r aller an<strong>de</strong>ren<br />

ab. <strong>Die</strong> Rabbiner ließen Zweifel und ein Sowohl-Alsauch anklingen, als könnten die<br />

Schriftstellen auch völlig gegensätzlich ausgelegt wer<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> Zuhörer wur<strong>de</strong>n dadurch je<strong>de</strong>n<br />

Tag in immer größere Unsicherheit gestürzt. Für Jesus aber waren die Schriften, aus <strong>de</strong>nen er<br />

lehrte, von unbestreitbarer Autorität. Was auch immer das Anliegen sein mochte — er sprach<br />

davon mit Vollmacht, als wenn seinen Worten nicht wi<strong>de</strong>rsprochen wer<strong>de</strong>n könnte.<br />

Er sprach mit großem Ernst, ohne heftig zu wer<strong>de</strong>n. Er sprach als einer, <strong>de</strong>r eine bestimmte<br />

Absicht verfolgte. Er machte die Wirklichkeiten <strong>de</strong>r ewigen Welt sichtbar. In je<strong>de</strong>m Thema<br />

wur<strong>de</strong> Gott offenbart. Jesus suchte <strong>de</strong>n Bann zu brechen, <strong>de</strong>r die Menschen so stark an irdische<br />

Dinge bin<strong>de</strong>t. Er rückte die Angelegenheiten dieses Lebens in das richtige Verhältnis zu jenen<br />

Dingen, die die Ewigkeit betreffen, doch er übersah keineswegs ihre Be<strong>de</strong>utung. Er lehrte, daß<br />

Himmel und Er<strong>de</strong> miteinan<strong>de</strong>r verbun<strong>de</strong>n seien und daß eine Kenntnis <strong>de</strong>r göttlichen Wahrheit<br />

die Menschen besser darauf vorbereitet, ihre Alltagspflichten zu erfüllen. Er sprach als einer,<br />

<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m Himmel vertraut und sich seiner engen Beziehung zu Gott bewußt war. Dennoch<br />

anerkannte er seine Verbun<strong>de</strong>nheit mit je<strong>de</strong>m Glied <strong>de</strong>r menschlichen Familie.<br />

Seine Botschaften <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong> unterschie<strong>de</strong>n sich voneinan<strong>de</strong>r und waren auf seine Zuhörer<br />

zugeschnitten. Er wußte, wie „mit <strong>de</strong>n Mü<strong>de</strong>n zu rechter Zeit zu re<strong>de</strong>n“ war; <strong>de</strong>nn seine Lippen<br />

waren „voller Huld“ (Jesaja 50,4; Psalm 45,3), damit er <strong>de</strong>n Menschen die Schätze <strong>de</strong>r<br />

Wahrheit auf die anziehendste Weise mitteilen konnte. Er hatte Taktgefühl, um <strong>de</strong>n Menschen<br />

zu begegnen, die voreingenommen waren, und sie mit bildhaften Vergleichen zu überraschen,<br />

die ihre Aufmerksamkeit fesselten. Über die Vorstellungskraft erreichte er das Herz. Seine<br />

Beispiele zur Veranschaulichung fand er unter <strong>de</strong>n Dingen <strong>de</strong>s Alltags und obwohl sie einfach<br />

waren, lag in ihnen ein wun<strong>de</strong>rbarer tiefer Sinn. <strong>Die</strong> Vögel in <strong>de</strong>r Luft, die Lilien auf <strong>de</strong>m Feld,<br />

die Saat, <strong>de</strong>r Hirte und die Schafe — mit diesen Beispielen machte Christus unsterbliche<br />

Wahrheiten anschaulich. Wann immer sich seine Zuhörer später diesen Dingen aus <strong>de</strong>r Natur<br />

gegenübersahen, erinnerten sie sich seiner Worte. In <strong>de</strong>n von Christus benutzten<br />

Anschauungsobjekten spiegelten sich ohne Unterlaß seine Lehren wi<strong>de</strong>r.<br />

Nie schmeichelte Christus <strong>de</strong>n Menschen. Niemals sprach er etwas, um ihre Neigungen zu<br />

unterstützen und ihre Phantasie zu erregen, noch pries er sie wegen ihrer geschickten<br />

Erfindungsgabe; aber Menschen, die ohne Vorurteile waren und über die Dinge eindringlich<br />

nachdachten, nahmen seine Lehre an und ent<strong>de</strong>ckten, daß durch sie ihre Weisheit auf die Probe<br />

gestellt wür<strong>de</strong>. Sie staunten über die geistliche Wahrheit, die in <strong>de</strong>r einfachsten Sprache<br />

ausgedrückt war. <strong>Die</strong> Gebil<strong>de</strong>tsten waren von seinen Worten fasziniert, und auch <strong>de</strong>n<br />

Ungebil<strong>de</strong>ten waren sie nützlich. Er hatte eine Botschaft für die Analphabeten, und er machte<br />

sogar <strong>de</strong>n Hei<strong>de</strong>n verständlich, daß seine Botschaft auch für sie galt.<br />

163


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Sein liebevolles Mitgefühl wirkte heilsam auf mü<strong>de</strong> und beunruhigte Herzen. Sogar mitten<br />

im Tumult zorniger Fein<strong>de</strong> war er von einer Atmosphäre <strong>de</strong>s Frie<strong>de</strong>ns umgeben. <strong>Die</strong> Schönheit<br />

seines Antlitzes, seine umgängliche Wesensart und vor allem die Liebe, die sich in Blick und<br />

Ton äußerte, zog alle zu ihm hin, die nicht durch Unglauben verhärtet waren. Wäre nicht je<strong>de</strong>r<br />

Blick und je<strong>de</strong>s Wort von <strong>de</strong>m Geist <strong>de</strong>r Güte und <strong>de</strong>s Wohlwollens beherrscht gewesen, dann<br />

hätte er nicht die großen Zuhörerscharen angezogen, die zu ihm kamen. <strong>Die</strong> Geplagten, die zu<br />

ihm kamen, fühlten, daß er als treuer und hingebungsvoller Freund ihre Interessen zu <strong>de</strong>n seinen<br />

machte, und sie wünschten noch mehr von <strong>de</strong>n Wahrheiten kennenzulernen, die er lehrte. Der<br />

Himmel war nähergerückt. Sie sehnten sich danach, in Jesu Gegenwart zu bleiben, damit <strong>de</strong>r<br />

Trost seiner Liebe beständig bei ihnen sei.<br />

Jesus beobachtete mit tiefem Ernst, wie sich <strong>de</strong>r Gesichtsausdruck seiner Zuhörer verän<strong>de</strong>rte.<br />

<strong>Die</strong> Gesichter, die Interesse und Freu<strong>de</strong> ausdrückten, erfüllten ihn mit großer Befriedigung. Als<br />

die Pfeile <strong>de</strong>r Wahrheit in die Seele drangen, die Schranken <strong>de</strong>r Selbstsucht durchbrachen und<br />

Reue und schließlich Dankbarkeit bewirkten, wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Heiland froh. Wenn sein Auge über die<br />

Zuhörermenge schweifte und er darunter Gesichter erkannte, die er schon gesehen hatte, strahlte<br />

sein Angesicht vor Freu<strong>de</strong>. Er sah in ihnen hoffnungsvolle Bürger für sein Königreich. Wenn<br />

die klar ausgesprochene Wahrheit einen beliebten Götzen betraf, sah er die Verän<strong>de</strong>rung in <strong>de</strong>m<br />

Gesicht, <strong>de</strong>n kalten, drohen<strong>de</strong>n Blick, <strong>de</strong>r besagte, daß das Licht nicht willkommen war. Wenn<br />

er sah, wie Menschen die Botschaft <strong>de</strong>s Frie<strong>de</strong>ns nicht annehmen wollten, drang es ihm wie ein<br />

Stich tief ins Herz.<br />

Jesus sprach in <strong>de</strong>r Schule vom Reich Gottes, zu <strong>de</strong>ssen Aufrichtung er gekommen war, und<br />

von seiner Aufgabe, die Gefangenen Satans zu befreien. Seine Re<strong>de</strong> wur<strong>de</strong> durch laute Rufe<br />

unterbrochen. Ein Wahnsinniger drängte sich durch die Menge und schrie: „Was willst du<br />

von uns, Jesus von Nazareth? Du bist gekommen, uns zu ver<strong>de</strong>rben. Ich weiß, wer du bist: <strong>de</strong>r<br />

Heilige Gottes.“ Markus 1,24. Alles geriet in Aufregung und Bestürzung. <strong>Die</strong> Aufmerksamkeit<br />

<strong>de</strong>r Zuhörer wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>r Re<strong>de</strong> <strong>Christi</strong> abgelenkt, und seine Worte blieben unbeachtet. Zu<br />

diesem Zweck hatte Satan sein Opfer hierhergeführt. Aber Jesus bedrohte <strong>de</strong>n unsauberen Geist<br />

und sprach: „Verstumme und fahre aus von ihm! Und <strong>de</strong>r böse Geist warf ihn mitten unter sie<br />

und fuhr von ihm aus und tat ihm keinen Scha<strong>de</strong>n.“ Lukas 4,35.<br />

Der Verstand dieses Unglücklichen war von Satan verfinstert wor<strong>de</strong>n, aber in <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s<br />

Gegenwart hatte ein Lichtstrahl das Dunkel durchbrochen. In <strong>de</strong>m Kranken erwachte das<br />

Verlangen, von <strong>de</strong>r Herrschaft Satans freizukommen; doch <strong>de</strong>r Teufel wi<strong>de</strong>rstand <strong>de</strong>r göttlichen<br />

Macht. Als <strong>de</strong>r Unglückliche versuchte, Jesus um Hilfe zu bitten, legte <strong>de</strong>r Böse ihm jene üblen<br />

Worte in <strong>de</strong>n Mund, und er schrie vor Angst und Furcht. Er begriff ganz gut, daß er sich in <strong>de</strong>r<br />

Gegenwart <strong>de</strong>ssen befand, <strong>de</strong>r ihn befreien konnte. Als er aber versuchte, in <strong>de</strong>n Bereich <strong>de</strong>r<br />

göttlichen Hand zu kommen, hielt <strong>de</strong>r Wille eines an<strong>de</strong>ren ihn zurück, und die Worte eines<br />

an<strong>de</strong>ren wur<strong>de</strong>n von ihm ausgesprochen. Ein schrecklicher Kampf tobte zwischen <strong>de</strong>r Macht<br />

Satans und seinem Verlangen nach Freiheit.<br />

Jesus, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Wüste <strong>de</strong>n Versucher besiegt hatte, wur<strong>de</strong> hier abermals seinem Feind<br />

gegenübergestellt. Der Teufel wandte alle Kräfte an, sein Opfer in <strong>de</strong>r Gewalt zu behalten; <strong>de</strong>nn<br />

164


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

jetzt zu verlieren, hieße Jesus einen Sieg zu überlassen. Es schien, als ob <strong>de</strong>r Unglückliche im<br />

Kampf mit <strong>de</strong>m bösen Feind, <strong>de</strong>r ihm seine kostbarsten Kräfte geraubt hatte, sein Leben<br />

verlieren wür<strong>de</strong>. Aber <strong>de</strong>r Heiland sprach gewaltig und befreite <strong>de</strong>n Gefangenen Satans. Nun<br />

stand <strong>de</strong>r vorher Besessene glücklich, wie<strong>de</strong>r sich selbst gehörend, vor <strong>de</strong>r verwun<strong>de</strong>rten und<br />

staunen<strong>de</strong>n Menge. Selbst <strong>de</strong>r böse Geist hatte die göttliche Macht <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s bezeugt. Der<br />

Geheilte lobte Gott für seine Rettung. Das Auge, das eben noch im Feuer <strong>de</strong>s Irrsinns geglüht<br />

hatte, strahlte jetzt klar und vernünftig und floß über von Dankestränen. <strong>Die</strong> Anwesen<strong>de</strong>n waren<br />

stumm vor Staunen. Sobald sie ihre Sprache wie<strong>de</strong>rgefun<strong>de</strong>n hatten, rief einer <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>rn zu:<br />

„Was ist das für ein Ding? Er gebietet mit Vollmacht und Kraft <strong>de</strong>n unsaubern Geistern, und sie<br />

fahren aus.“ Lukas 4,36.<br />

<strong>Die</strong> wirkliche Ursache <strong>de</strong>s Lei<strong>de</strong>ns, das diesen Mann zu einem schrecklichen Schauspiel für<br />

seine Freun<strong>de</strong> und zu einer Last für sich selbst gemacht hatte, lag in seinem eigenen Leben<br />

begrün<strong>de</strong>t. Er war von <strong>de</strong>n Vergnügungen <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> verblen<strong>de</strong>t wor<strong>de</strong>n und wollte sein Leben<br />

in Lustbarkeiten verbringen. Er hatte nicht geahnt, welch ein Schrecken er <strong>de</strong>r Welt und welche<br />

Schan<strong>de</strong> er seiner Familie sein wür<strong>de</strong>. Er glaubte seine Zeit mit harmlos scheinen<strong>de</strong>n Torheiten<br />

zubringen zu können. Doch einmal auf einer abschüssigen Bahn, sank er rasch immer tiefer.<br />

Unmäßigkeit und Leichtfertigkeit verdarben seine guten Eigenschaften, und Satan bemächtigte<br />

sich seiner vollständig.<br />

<strong>Die</strong> Reue kam zu spät. Gern hätte er nun Wohlleben und Vergnügen darangegeben, um seine<br />

verlorenen Kräfte wie<strong>de</strong>rzuerlangen; aber er schmachtete hilflos in <strong>de</strong>n Fängen Satans. Er hatte<br />

sich in Fein<strong>de</strong>sland begeben, und alle seine Fähigkeiten waren von Satan in Besitz genommen<br />

wor<strong>de</strong>n. Der Versucher hatte ihn mit vielen bezaubern<strong>de</strong>n Vorstellungen gelockt, und als <strong>de</strong>r<br />

schwache Mann sich in seiner Macht befand, behan<strong>de</strong>lte er ihn grausam und unbarmherzig und<br />

verfolgte ihn mit schrecklichen Heimsuchungen. So ergeht es allen, die <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> nachgeben;<br />

das verlocken<strong>de</strong> Vergnügen am Anfang ihrer Laufbahn en<strong>de</strong>t in <strong>de</strong>r Finsternis <strong>de</strong>r Verzweiflung<br />

o<strong>de</strong>r im Wahnsinn einer zerrütteten Seele. Der gleiche böse Geist, <strong>de</strong>r Jesus in <strong>de</strong>r Wüste<br />

versuchte und <strong>de</strong>r sich <strong>de</strong>s Besessenen in Kapernaum bemächtigt hatte, beherrschte auch die<br />

ungläubigen Ju<strong>de</strong>n. Er ließ sie um sich eine Atmosphäre <strong>de</strong>r Frömmigkeit verbreiten, in<strong>de</strong>m er<br />

sie über ihre wahren Beweggrün<strong>de</strong>, die sie veranlassten, <strong>de</strong>n Heiland zu verwerfen,<br />

hinwegtäuschte. Ihr Zustand war weitaus heilloser als <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Besessenen, <strong>de</strong>nn sie fühlten<br />

keinerlei Bedürfnis, Christus kennenzulernen, und blieben <strong>de</strong>shalb fest unter <strong>de</strong>r Macht Satans.<br />

<strong>Die</strong> Zeit, in <strong>de</strong>r Christus <strong>de</strong>n Menschen persönlich diente, war auch eine Zeit eifrigster<br />

Tätigkeit <strong>de</strong>r Mächte <strong>de</strong>r Finsternis. Stets hatte Satan mit seinen bösen Engeln danach<br />

getrachtet, die Herrschaft über Leib und Seele <strong>de</strong>r Menschen zu gewinnen und Sün<strong>de</strong> und<br />

Krankheit über sie zu bringen, um dann Gott für alles Leid verantwortlich zu machen. Jesus<br />

offenbarte <strong>de</strong>n Menschen das Wesen Gottes; er brach die Macht Satans und befreite seine<br />

Gefangenen. Neues Leben, Liebe und himmlische Kraft bewegten die Herzen <strong>de</strong>r Menschen,<br />

und <strong>de</strong>r Fürst <strong>de</strong>s Bösen wur<strong>de</strong> veranlaßt, für die Herrschaft seines Reiches zu kämpfen. Satan<br />

sammelte alle seine Kräfte, um <strong>Christi</strong> Werk ständig anzugreifen. So wird es auch im letzten<br />

großen Kampf zwischen Gerechtigkeit und Sün<strong>de</strong> sein. Während die Jünger Jesu mit neuem<br />

165


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Leben, mit Macht und Kraft aus <strong>de</strong>r Höhe angetan wer<strong>de</strong>n, wird auch aus <strong>de</strong>r Tiefe neues Leben<br />

erwachen und die Werkzeuge Satans stärken. Großer Eifer wird alle irdischen Kreaturen<br />

erfassen. Mit einer in jahrhun<strong>de</strong>rtelangem Kampf erworbenen List wird <strong>de</strong>r Fürst dieser Welt in<br />

Gestalt eines Engels <strong>de</strong>s Lichts wirken, und große Scharen wer<strong>de</strong>n „betrügerischen Geistern<br />

und dämonischen Lehren“ (1.Timotheus 4,1, Bruns) anhangen.<br />

Zur Zeit <strong>Christi</strong> waren die Obersten und die Lehrer Israels nicht imstan<strong>de</strong>, <strong>de</strong>m Werk Satans<br />

zu wi<strong>de</strong>rstehen. Sie versäumten es, von <strong>de</strong>m einzigen Mittel Gebrauch zu machen, durch das sie<br />

bösen Geistern hätten wi<strong>de</strong>rstehen können. Jesus überwand <strong>de</strong>n Bösen durch das Wort Gottes.<br />

<strong>Die</strong> führen<strong>de</strong>n Männer Israels gaben vor, die Ausleger <strong>de</strong>s Wortes Gottes zu sein, aber sie<br />

hatten es nur erforscht, um ihre Überlieferungen zu stützen und ihre von Menschen ersonnenen<br />

Satzungen durchzusetzen. Durch ihre Deutung unterlegten sie <strong>de</strong>m Wort Gottes einen Sinn, <strong>de</strong>n<br />

Gott niemals gemeint hatte. Ihre geheimnisvollen Erklärungen ließen das verworren erscheinen,<br />

was er verständlich gemacht hatte. Sie stritten sich über unbe<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Einzelheiten und<br />

leugneten die wesentlichsten Wahrheiten. So wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Unglaube weit verbreitet. Gottes Wort<br />

wur<strong>de</strong> seiner Kraft beraubt, und böse Geister schalteten und walteten, wie sie wollten.<br />

<strong>Die</strong> Geschichte wie<strong>de</strong>rholt sich. Viele maßgeben<strong>de</strong> religiöse Männer unserer Zeit, die die<br />

geöffnete Bibel vor sich haben und angeblich ihre Lehren verehren, untergraben <strong>de</strong>n Glauben<br />

an die Heilige Schrift als das Wort Gottes. Sie sind damit beschäftigt, das Wort zu zerglie<strong>de</strong>rn,<br />

und setzen ihre eigenen Ansichten über <strong>de</strong>ssen klarste Aussagen. In ihrer Hand verliert Gottes<br />

Wort seine erneuern<strong>de</strong> Kraft. Darum wuchert <strong>de</strong>r Unglaube und nimmt die Ungerechtigkeit<br />

überhand. Wenn Satan <strong>de</strong>n Glauben an die Heilige Schrift untergraben hat, leitet er die<br />

Menschen zu an<strong>de</strong>ren Licht- und Kraftquellen. Dadurch dringt er bei vielen unbemerkt ein. Wer<br />

sich von <strong>de</strong>r klaren Lehre <strong>de</strong>r Heiligen Schrift und <strong>de</strong>r überzeugen<strong>de</strong>n Macht <strong>de</strong>s Heiligen<br />

Geistes abwen<strong>de</strong>t, öffnet dämonischen Einflüssen die Tür. Kritik und Spekulation an <strong>de</strong>r Schrift<br />

haben <strong>de</strong>m Spiritismus und <strong>de</strong>r Theosophie — diesen mo<strong>de</strong>rnen Formen <strong>de</strong>s alten Hei<strong>de</strong>ntums<br />

— <strong>de</strong>n Weg bereitet, selbst in <strong>de</strong>n erklärten Kirchen unsers Herrn Jesus Christus Bo<strong>de</strong>n zu<br />

gewinnen.<br />

Neben <strong>de</strong>r Evangeliumsverkündigung sind Kräfte am Wirken, die Werkzeuge <strong>de</strong>r<br />

lügenhaften Geister sind. Manch einer läßt sich nur aus Neugier<strong>de</strong> mit ihnen ein; doch nimmt er<br />

dann das Wirken übernatürlicher Kräfte wahr, so läßt er sich mehr und mehr verlocken, bis er<br />

von einem Willen beherrscht wird, <strong>de</strong>r stärker ist als sein eigener. Er kann sich <strong>de</strong>r<br />

geheimnisvollen Macht nicht mehr entziehen. <strong>Die</strong> Wi<strong>de</strong>rstandskraft seiner Seele ist gebrochen,<br />

und er hat keine Schutzwehr gegen die Sün<strong>de</strong>. Niemand kennt die Tiefen <strong>de</strong>r Erniedrigung, in<br />

die er sinken kann, wenn einmal die Schranken <strong>de</strong>s Wortes Gottes und <strong>de</strong>s Heiligen Geistes<br />

mißachtet sind. Geheime Sün<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r ihn beherrschen<strong>de</strong> Lei<strong>de</strong>nschaften können ihn zu einem<br />

ebenso hilflosen Gefangenen Satans machen, wie es <strong>de</strong>r Besessene zu Kapernaum war.<br />

Dennoch ist seine Lage nicht hoffnungslos.<br />

Das Mittel, durch das wir <strong>de</strong>n Bösen überwin<strong>de</strong>n können, ist dasselbe, durch das Christus<br />

überwand — die Macht <strong>de</strong>s Wortes! Gott beherrscht unser Gemüt nicht ohne unsere<br />

Einwilligung; wenn wir aber wünschen, seinen Willen zu kennen und zu tun, gelten uns seine<br />

166


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Verheißungen: Ihr „wer<strong>de</strong>t die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei<br />

machen“. Johannes 8,32. „Wenn jemand will <strong>de</strong>s Willen tun, <strong>de</strong>r wird innewer<strong>de</strong>n, ob diese<br />

Lehre von Gott sei, o<strong>de</strong>r ob ich von mir selbst re<strong>de</strong>.“ Johannes 7,17. Durch <strong>de</strong>n Glauben an<br />

diese Verheißungen kann sich je<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>n Schlingen <strong>de</strong>s Irrtums und von <strong>de</strong>r Herrschaft <strong>de</strong>r<br />

Sün<strong>de</strong> befreien.<br />

Je<strong>de</strong>r Mensch kann frei wählen, welche Macht ihn beherrschen soll. Keiner ist so tief<br />

gefallen, keiner ist so schlecht, daß er in Christus nicht Erlösung fin<strong>de</strong>n könnte. Der Besessene<br />

konnte statt eines Gebets nur die Worte Satans aussprechen; <strong>de</strong>nnoch wur<strong>de</strong> das<br />

unausgesprochene Flehen <strong>de</strong>s Herzens erhört. Kein Schrei einer notlei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Seele wird<br />

unbeachtet bleiben, wenn auch die Worte fehlen. Wer ein Bündnis mit Gott eingehen will,<br />

bleibt nicht <strong>de</strong>r Macht Satans o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Schwäche <strong>de</strong>r eigenen Natur überlassen, son<strong>de</strong>rn es wird<br />

die Zusicherung Gottes gelten: „Sie suchen Zuflucht bei mir und machen Frie<strong>de</strong>n mit mir, ja,<br />

Frie<strong>de</strong>n mit mir.“ Jesaja 27,5. <strong>Die</strong> Geister <strong>de</strong>r Finsternis wer<strong>de</strong>n um die Seelen streiten, die<br />

einmal unter ihre Herrschaft geraten sind. Aber die Engel im Himmel wer<strong>de</strong>n mit siegreicher<br />

Kraft für sie einstehen. Der Herr sagt: „Kann man auch einem Starken <strong>de</strong>n Raub wegnehmen?<br />

O<strong>de</strong>r kann man einem Gewaltigen seine Gefangenen entreißen? So aber spricht <strong>de</strong>r Herr: Nun<br />

sollen die Gefangenen <strong>de</strong>m Starken weggenommen wer<strong>de</strong>n, und <strong>de</strong>r Raub soll <strong>de</strong>m Gewaltigen<br />

entrissen wer<strong>de</strong>n. Ich selbst will <strong>de</strong>inen Gegnern entgegentreten und <strong>de</strong>inen Söhnen<br />

helfen.“ Jesaja 49,24.25.<br />

Während die Menge in <strong>de</strong>r Schule noch vor Schrecken wie gebannt war, zog sich Jesus in<br />

das Haus <strong>de</strong>s Petrus zurück, um ein wenig zu ruhen. Aber auch auf dieses Haus war ein<br />

Schatten gefallen. <strong>Die</strong> Schwiegermutter <strong>de</strong>s Petrus lag krank „in hohem Fieber“. Lukas 4,38.<br />

Jesus heilte sie, und die Frau stand auf und diente <strong>de</strong>m Meister und seinen Jüngern. <strong>Die</strong> Kun<strong>de</strong><br />

von <strong>de</strong>m Wirken Jesu verbreitete sich schnell in ganz Kapernaum. Aus Furcht vor <strong>de</strong>n<br />

Rabbinern wagte niemand am Sabbat zu kommen, um geheilt zu wer<strong>de</strong>n. Sobald aber die Sonne<br />

am Horizont verschwun<strong>de</strong>n war, entstand eine allgemeine Bewegung. Aus Wohnhäusern,<br />

Werkstätten und von <strong>de</strong>n Märkten strömten die Bewohner <strong>de</strong>r Stadt <strong>de</strong>r beschei<strong>de</strong>nen<br />

Wohnstätte zu, die Jesus beherbergte. <strong>Die</strong> Kranken wur<strong>de</strong>n auf ihren Betten gebracht, an<strong>de</strong>re<br />

schleppten sich an Krücken zu ihm o<strong>de</strong>r wur<strong>de</strong>n von ihren Freun<strong>de</strong>n gestützt, etliche<br />

schwankten schwachen Schrittes in die Nähe <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s.<br />

Stun<strong>de</strong>nlang gingen und kamen sie; <strong>de</strong>nn niemand wußte, ob <strong>de</strong>r Meister am nächsten Tage<br />

noch unter ihnen weilen wür<strong>de</strong>. Nie zuvor hatte Kapernaum einen Tag wie diesen gesehen. <strong>Die</strong><br />

Luft war erfüllt von <strong>de</strong>m Triumph und <strong>de</strong>m Jubel über die Heilungen, und <strong>de</strong>r Heiland selbst<br />

nahm Anteil an <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong>, die er hervorgerufen hatte. Als er die Lei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>rer sah, die zu ihm<br />

kamen, wur<strong>de</strong> sein Herz von Mitleid bewegt, und er half freudig, ihre Gesundheit und ihr Glück<br />

wie<strong>de</strong>rherzustellen. Er been<strong>de</strong>te seine Aufgabe nicht eher, als bis <strong>de</strong>m letzten Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />

geholfen war. <strong>Die</strong> Nacht war schon weit vorgeschritten, als die Menge sich wie<strong>de</strong>r verlaufen<br />

hatte und Stille sich auch über Simons Haus ausbreitete. Der lange, aufregen<strong>de</strong> Tag war vorbei<br />

— Jesus suchte nun endlich Ruhe. Doch als die Stadt noch im Schlummer lag, „vor Tage stand<br />

er auf und ging hinaus. Und er ging an eine einsame Stätte und betete daselbst“. Markus 1,35.<br />

167


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

So verbrachte Jesus seine Tage hier auf Er<strong>de</strong>n. Manchmal entließ er seine Jünger, damit sie<br />

ihr Heim aufsuchen und sich ausruhen konnten. Er selbst aber wi<strong>de</strong>rstand freundlich ihren<br />

Bemühungen, ihn von seinem Wirken wegzuziehen. Den ganzen Tag hindurch arbeitete er; er<br />

belehrte die Unwissen<strong>de</strong>n, heilte die Kranken, gab <strong>de</strong>n Blin<strong>de</strong>n ihr Augenlicht zurück, speiste<br />

die Menge, und am Abend o<strong>de</strong>r am frühen Morgen ging er in die heilige Stille <strong>de</strong>r Berge, um<br />

mit seinem himmlischen Vater Zwiesprache zu halten. Oft verbrachte er die ganze Nacht im<br />

Gebet und in ernstem Nach<strong>de</strong>nken und kehrte erst bei Tagesanbruch wie<strong>de</strong>r an seine Aufgabe<br />

unter <strong>de</strong>n Menschen zurück.<br />

In <strong>de</strong>n ersten Morgenstun<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s nächsten Tages kamen Petrus und seine Gefährten zu Jesus<br />

und berichteten ihm, daß er von <strong>de</strong>n Einwohnern Kapernaums gesucht wür<strong>de</strong>. <strong>Die</strong> Jünger waren<br />

schon über <strong>de</strong>n Empfang sehr enttäuscht gewesen, <strong>de</strong>r ihrem Herrn bisher zuteil gewor<strong>de</strong>n war.<br />

<strong>Die</strong> Behör<strong>de</strong>n in Jerusalem suchten ihn zu töten, selbst die Nazarener hatten sein Leben<br />

bedroht. Nun wur<strong>de</strong> er in Kapernaum mit freudiger Begeisterung willkommen geheißen. Das<br />

erfüllte die Jünger mit neuer Hoffnung. Vielleicht ließen sich unter <strong>de</strong>n freiheitslieben<strong>de</strong>n<br />

Galiläern die Stützen <strong>de</strong>s neuen Reiches fin<strong>de</strong>n. Mit Erstaunen hörten sie <strong>de</strong>shalb Jesu Worte:<br />

„Ich muß auch <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn Städten das Evangelium verkündigen vom Reich Gottes; <strong>de</strong>nn dazu<br />

bin ich gesandt.“ Lukas 4,43.<br />

In <strong>de</strong>r in Kapernaum herrschen<strong>de</strong>n Erregung lag die Gefahr, daß das Ziel seines Auftrags<br />

verlorenging. Es befriedigte Jesus nicht, die Aufmerksamkeit <strong>de</strong>r Menschen als Wun<strong>de</strong>rtäter<br />

o<strong>de</strong>r Wun<strong>de</strong>rheiler auf sich zu lenken. Er wollte sie vielmehr als ihr Heiland zu sich ziehen.<br />

Während das Volk begierig war zu glauben, daß er als König gekommen sei, um ein irdisches<br />

Reich zu grün<strong>de</strong>n, wünschte er ihre Gedankenvon <strong>de</strong>m Irdischen auf das Geistliche zu lenken.<br />

Ein rein weltlicher Erfolg hätte seine Aufgabe beeinträchtigt.<br />

<strong>Die</strong> Bewun<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r sorglosen Menge berührte ihn recht unangenehm. Sein Leben war frei<br />

von je<strong>de</strong>r Anmaßung. <strong>Die</strong> Huldigungen, die die Welt <strong>de</strong>n Hohen, Reichen und Begabten<br />

darbringt, waren <strong>de</strong>m Menschensohn fremd. Er bediente sich nicht <strong>de</strong>r Mittel, die Menschen so<br />

gern anwen<strong>de</strong>n, um Anhänger zu gewinnen und Huldigungen zu erringen. Jahrhun<strong>de</strong>rte vor<br />

seiner Geburt war von ihm geweissagt wor<strong>de</strong>n: „Er wird nicht schreien noch rufen, und seine<br />

Stimme wird man nicht hören auf <strong>de</strong>n Gassen. Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen,<br />

und <strong>de</strong>n glimmen<strong>de</strong>n Docht wird er nicht auslöschen. In Treue trägt er das Recht hinaus. Er<br />

selbst wird nicht verlöschen und nicht zerbrechen, bis er auf Er<strong>de</strong>n das Recht aufrichte.“ Jesaja<br />

42,2-4.<br />

<strong>Die</strong> Pharisäer versuchten durch genaue Ausführung <strong>de</strong>r vorgeschriebenen Gebräuche, durch<br />

die Pracht ihrer Gottesdienste und durch Wohltätigkeit sich auszuzeichnen. Sie bewiesen ihren<br />

Eifer für die Religion, in<strong>de</strong>m sie sich in ihren Gesprächen mit ihr beschäftigten. Über<br />

Streitfragen wur<strong>de</strong> unter <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Parteien ausgiebig verhan<strong>de</strong>lt, und es war nicht<br />

ungewöhnlich, auf <strong>de</strong>n Straßen die erregten, streiten<strong>de</strong>n Stimmen <strong>de</strong>r gelehrten Männer zu<br />

hören.<br />

168


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Das Leben Jesu stand zu diesem Benehmen in auffallen<strong>de</strong>m Gegensatz. Bei ihm fehlte je<strong>de</strong><br />

laute und aufdringliche Verhandlungsart, je<strong>de</strong>r schausüchtige Gottesdienst, je<strong>de</strong> Tat, die Beifall<br />

heischte. Christus war in Gott geborgen, und Gott war in <strong>de</strong>m Charakter seines Sohnes<br />

geoffenbart. Auf diese Offenbarung wollte Jesus die Gemüter <strong>de</strong>s Volkes und ihre Ehrfurcht<br />

lenken. <strong>Die</strong> „Sonne <strong>de</strong>r Gerechtigkeit“ brach nicht mit <strong>de</strong>m Glanz, <strong>de</strong>r die Sinne blen<strong>de</strong>t, über<br />

die Welt herein. Es steht von Christus geschrieben: „Er wird hervorbrechen wie die schöne<br />

Morgenröte.“ Hosea 6,3. Sanft und still ergießt sich das Tageslicht über die Er<strong>de</strong>, zerteilt die<br />

Schatten <strong>de</strong>r Finsternis und erweckt die Welt zu neuem Leben. So ging auch die „Sonne <strong>de</strong>r<br />

Gerechtigkeit“ auf mit „Heil unter ihren Flügeln“. Maleachi 3,20.<br />

169


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

willst, kannst du mich wohl<br />

Von allen im Orient bekannten Krankheiten wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Aussatz am meisten gefürchtet. Sein<br />

anstecken<strong>de</strong>r, unheilbarer Charakter und die schreckliche Wirkung auf seine Opfer entsetzten<br />

selbst <strong>de</strong>n Tapfersten. Unter <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n hielt man <strong>de</strong>n Aussatz für ein göttliches Strafgericht als<br />

Folge <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> und bezeichnete ihn <strong>de</strong>shalb als Schicksalsschlag o<strong>de</strong>r „Fingerzeig Gottes“. Da<br />

er chronisch, unheilbar und damit tödlich war, wur<strong>de</strong> er als ein Sinnbild <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> betrachtet.<br />

Das Zeremonialgesetz erklärte einen Aussätzigen für unrein. Wie ein bereits Toter war er von<br />

menschlichen Ansiedlungen ausgeschlossen. Was immer er berührte, wur<strong>de</strong> dadurch unrein;<br />

selbst die Luft wur<strong>de</strong> durch seinen Atem verdorben. Wer verdächtig war, unter dieser Krankheit<br />

zu lei<strong>de</strong>n, mußte sich <strong>de</strong>n Priestern vorstellen, die ihn zu untersuchen und seinen Fall zu<br />

entschei<strong>de</strong>n hatten. Erklärten sie ihn für aussätzig, wur<strong>de</strong> er von seiner Familie wie überhaupt<br />

von <strong>de</strong>m ganzen Volk getrennt und blieb fortan verurteilt, nur mit <strong>de</strong>nen zusammen zu leben,<br />

die in gleicher Weise heimgesucht wur<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> For<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s Gesetzes waren unerbittlich.<br />

Selbst für Könige und Oberste gab es keine Ausnahme. So mußte etwa ein Herrscher, <strong>de</strong>r von<br />

<strong>de</strong>r schrecklichen Krankheit erfaßt wur<strong>de</strong>, seine Regentschaft aufgeben und sich von <strong>de</strong>r<br />

Gesellschaft fernhalten.<br />

Von Freun<strong>de</strong>n und Verwandten getrennt, mußte <strong>de</strong>r Aussätzige <strong>de</strong>n Fluch seiner Krankheit<br />

tragen. Er war verpflichtet, sein Unglück offen bekanntzugeben, seine Gewän<strong>de</strong>r zu zerreißen<br />

und laute Warnrufe auszustoßen, damit je<strong>de</strong>r seine anstecken<strong>de</strong> Nähe mei<strong>de</strong>n konnte. Wenn<br />

einer jener einsamen Ausgestoßenen klagend <strong>de</strong>n Ruf „Unrein! Unrein!“ vernehmen ließ, galt<br />

dies als ein Signal, das man mit Furcht und Abscheu zur Kenntnis nahm.<br />

In <strong>de</strong>r Gegend, in welcher Jesus lebte und wirkte, gab es viele solcher Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n. Als die<br />

Kun<strong>de</strong> von Jesu Wirken diese Aussätzigen erreichte, erwachte in ihnen ein<br />

Hoffnungsschimmer. Seit <strong>de</strong>n Tagen <strong>de</strong>s Propheten Elisa war es nicht vorgekommen, daß ein<br />

Aussätziger geheilt wor<strong>de</strong>n war. Sie wagten darum nicht, ihrer Hoffnung nachzugehen und von<br />

Jesus etwas zu erwarten, was noch niemand je zuvor von ihm erfahren hatte. In <strong>de</strong>m Herzen<br />

eines dieser Aussätzigen war jedoch <strong>de</strong>r Glaube erwacht; nur wußte er nicht, wie er Jesus<br />

erreichen konnte. Wie sollte es für ihn, <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Verbindung mit seinen Mitmenschen<br />

ausgeschlossen war, möglich sein, zum Heiland zu kommen? Und wenn er es versuchte, wür<strong>de</strong><br />

Jesus ihn heilen? Wür<strong>de</strong> er sich herablassen, einen Menschen zu beachten, <strong>de</strong>r unter <strong>de</strong>m<br />

Gericht Gottes stand? Wür<strong>de</strong> er nicht gleich <strong>de</strong>n Pharisäern und Ärzten einen Fluch über ihn<br />

aussprechen und ihm befehlen, die Nähe <strong>de</strong>r Menschen zu fliehen? Er dachte an alles, was er<br />

von Jesus gehört hatte. Nicht einer, <strong>de</strong>r seine Hilfe erbeten hatte, war abgewiesen wor<strong>de</strong>n. Da<br />

entschloß sich <strong>de</strong>r Unglückliche, Jesus zu suchen. War ihm auch <strong>de</strong>r Zutritt zur Stadt verwehrt,<br />

so war es vielleicht doch möglich, daß er <strong>de</strong>m Herrn auf einer abgelegenen Gebirgsstraße<br />

begegnete, o<strong>de</strong>r er fän<strong>de</strong> ihn, wenn er außerhalb <strong>de</strong>r Stadt lehrte. <strong>Die</strong>se Hoffnung ließ ihn über<br />

alle Schwierigkeiten hinwegsehen.<br />

170


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Der Aussätzige wird in die Nähe <strong>de</strong>s Herrn geführt. Jesus lehrt am See, und das Volk hat<br />

sich um ihn versammelt. Aus einiger Entfernung hört <strong>de</strong>r Aussätzige <strong>de</strong>m Worte Jesu zu. Er<br />

sieht, daß dieser seine Hän<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Kranken auflegt; sieht, daß Lahme, Blin<strong>de</strong>, Gichtbrüchige und<br />

an<strong>de</strong>re Kranke sich nach <strong>de</strong>r Berührung gesund erheben und Gott für ihre Erlösung preisen. Der<br />

Glaube wächst im Herzen <strong>de</strong>s Aussätzigen; er nähert sich <strong>de</strong>r Menge immer mehr; er vergißt die<br />

ihm auferlegten Beschränkungen, die Gefährdung <strong>de</strong>r Gesun<strong>de</strong>n, übersieht die Furcht und das<br />

Entsetzen, womit ihn alle ansehen, und ist nur erfüllt von <strong>de</strong>r seligen Hoffnung, geheilt zu<br />

wer<strong>de</strong>n.<br />

Er selbst bietet einen ekelerregen<strong>de</strong>n Anblick. <strong>Die</strong> Krankheit hat seinen Leib völlig entstellt;<br />

sein verwesen<strong>de</strong>r Körper ist schrecklich anzusehen. Entsetzt weichen die Menschen vor ihm<br />

zurück. Sie bedrängen sich gegenseitig in ihrer Ungeduld, seine Nähe zu fliehen. Einige<br />

versuchen ihn davon abzuhalten, zu Jesus zu gelangen, aber vergebens. Er sieht und hört sie<br />

nicht; ihre Schreckensrufe fin<strong>de</strong>n kein Echo in ihm. Er sieht nur <strong>de</strong>n Sohn Gottes, er hört nur<br />

die Stimme, die <strong>de</strong>n Sterben<strong>de</strong>n Leben verkün<strong>de</strong>t. Nun er sich zu Jesus durchgedrückt hat, wirft<br />

er sich ihm zu Füßen und ruft: „Herr, so du willst, kannst du mich wohl reinigen.“<br />

Jesus erwi<strong>de</strong>rte: „Ich will‘s tun; sei gereinigt!“ Matthäus 8,2.3. Dabei legte er seine Hand auf<br />

<strong>de</strong>n Kranken. Sofort ging eine große Verän<strong>de</strong>rung in <strong>de</strong>m Aussätzigen vor: sein Fleisch wur<strong>de</strong><br />

gesund, seine Kraft belebte sich und seine Muskeln wur<strong>de</strong>n fest. <strong>Die</strong> rauhe, schuppige<br />

Hautoberfläche <strong>de</strong>s Aussätzigen verschwand, und eine gesun<strong>de</strong> Hautfarbe, gleich <strong>de</strong>r eines<br />

wohlgenährten Kin<strong>de</strong>s, stellte sich ein. Jesus befahl <strong>de</strong>m Mann, das an ihm vollzogene Wun<strong>de</strong>r<br />

nicht weiterzuberichten, son<strong>de</strong>rn sich sofort mit einer Opfergabe zum Tempel zu begeben. Eine<br />

solche Gabe wur<strong>de</strong> damals nur angenommen, wenn die Priester eine Untersuchung <strong>de</strong>s<br />

Opfern<strong>de</strong>n vorgenommen und ihn für völlig geheilt befun<strong>de</strong>n hatten. So unwillig sie auch dieser<br />

Aufgabe nachkommen mochten, sie konnten sich ihr nicht entziehen.<br />

<strong>Die</strong> Worte <strong>de</strong>r Schrift zeigen, wie nachdrücklich <strong>de</strong>r Heiland <strong>de</strong>m Geheilten gebot, streng zu<br />

schweigen und dafür rasch zu han<strong>de</strong>ln. „Jesus bedrohte ihn und trieb ihn alsbald von sich und<br />

sprach zu ihm: Siehe zu, daß du niemand davon sagest; son<strong>de</strong>rn gehe hin und zeige dich <strong>de</strong>m<br />

Priester und opfere für <strong>de</strong>ine Reinigung, was Mose geboten hat, ihnen zum Zeugnis.“ Markus<br />

1,43.44. Hätten die Priester die Einzelheiten <strong>de</strong>r Heilung <strong>de</strong>s Aussätzigen gekannt, dann wür<strong>de</strong><br />

ihr Haß sie vielleicht dazu verleitet haben, ein ungerechtes Urteil zu fällen. Jesus wünschte, daß<br />

<strong>de</strong>r Geheilte sich im Tempel vorstellte, ehe irgendwelche Gerüchte über das Wun<strong>de</strong>r die<br />

Priester erreichten. So allein konnte eine vorurteilsfreie Entscheidung gesichert und <strong>de</strong>m<br />

geheilten Aussätzigen erlaubt wer<strong>de</strong>n, sich aufs neue mit seiner Familie und seinen Freun<strong>de</strong>n zu<br />

vereinen.<br />

Christus hatte noch an<strong>de</strong>re Absichten im Sinn, als er <strong>de</strong>m Mann zu schweigen gebot. Der<br />

Heiland wußte, daß seine Fein<strong>de</strong> immer darauf aus waren, seine Aufgabe zu behin<strong>de</strong>rn und die<br />

Leute ihm abspenstig zu machen. Ihm war klar, daß sich an<strong>de</strong>re von dieser furchtbaren<br />

Krankheit Betroffene um ihn scharten, wenn die Heilung jenes Leprakranken überall gerühmt<br />

wür<strong>de</strong>. Dann aber wäre <strong>de</strong>r Vorwurf unvermeidlich, daß das Volk durch <strong>de</strong>n Kontakt mit ihm<br />

verunreinigt wür<strong>de</strong>. Auch wür<strong>de</strong>n viele ehe<strong>de</strong>m Leprakranke die Gabe <strong>de</strong>r Gesundheit nicht so<br />

171


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

nutzen, daß sie für an<strong>de</strong>re o<strong>de</strong>r für sich selbst segensreich wäre. Und wenn er die Aussätzigen<br />

um sich versammelte, gäbe er Anlaß zu <strong>de</strong>m Vorwurf, er übertrete die Verbote <strong>de</strong>s<br />

Zeremonialgesetzes. Das aber hätte eine Behin<strong>de</strong>rung seiner Evangeliumsverkündigung zur<br />

Folge gehabt.<br />

<strong>Die</strong> nachfolgen<strong>de</strong>n Ereignisse rechtfertigten Jesu warnen<strong>de</strong> Worte. Sehr viele Menschen<br />

hatten die Heilung jenes Aussätzigen miterlebt und warteten gespannt darauf, wie die<br />

Entscheidung <strong>de</strong>r Priester ausfallen wer<strong>de</strong>. Als dann <strong>de</strong>r Mann zu seinen Freun<strong>de</strong>n<br />

zurückkehrte, gab es große Aufregung. Obwohl er von Jesus zur Zurückhaltung ermahnt<br />

wor<strong>de</strong>n war, bemühte sich <strong>de</strong>r Geheilte nicht weiter, die Tatsache seiner Gesundung zu<br />

verbergen. <strong>Die</strong>s zu verheimlichen, wäre auch wirklich unmöglich gewesen; aber <strong>de</strong>r Mann tat<br />

ein übriges und posaunte seine Heilung überall aus. In <strong>de</strong>r Annahme, die ihm von Jesus<br />

auferlegte Zurückhaltung sei nur <strong>de</strong>ssen Beschei<strong>de</strong>nheit zuzuschreiben, verkün<strong>de</strong>te er auf all<br />

seinen Wegen die Vollmacht <strong>de</strong>s Wun<strong>de</strong>rheilers. Er konnte nicht begreifen, daß je<strong>de</strong><br />

Kundgebung dieser Art die Priester und Ältesten mehr in ihrer Absicht bestärkte, Jesus<br />

umzubringen. Er empfand nur die Wohltat <strong>de</strong>r wie<strong>de</strong>rgewonnenen Gesundheit als überaus<br />

kostbar und freute sich über die neuerwachte Lebenskraft; er war glücklich darüber, seiner<br />

Familie und <strong>de</strong>r Gemeinschaft wie<strong>de</strong>rgegeben zu sein, und konnte sich unmöglich dabei<br />

zurückhalten, <strong>de</strong>n Arzt zu preisen, <strong>de</strong>r ihn gesundgemacht hatte. Aber das Herausposaunen<br />

seiner Heilung hatte tatsächlich zur Folge, daß das Werk <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s behin<strong>de</strong>rt wur<strong>de</strong>. Es<br />

führte dazu, daß Menschen in Scharen zu Jesus pilgerten und er sich <strong>de</strong>shalb genötigt sah, eine<br />

Zeitlang seine Aufgabe zu unterbrechen.<br />

Je<strong>de</strong> Handlung <strong>Christi</strong> hatte weitreichen<strong>de</strong> Absichten. Sie umfaßte mehr, als man vom<br />

bloßen Geschehen her zunächst annehmen mochte. So auch im Fall <strong>de</strong>s geheilten Aussätzigen.<br />

Während Jesus allen half, die zu ihm kamen, sehnte er sich danach, auch <strong>de</strong>nen wohlzutun, die<br />

nicht gekommen waren. Er zog wohl die Zöllner, Hei<strong>de</strong>n und Samariter zu sich, wünschte aber<br />

genauso, die Priester und Schriftgelehrten zu erreichen, die in Vorurteil und Überlieferung<br />

befangen waren. Er ließ nichts unversucht, sie anzusprechen. Als er <strong>de</strong>n Geheilten Aussätzigen<br />

zu <strong>de</strong>n Priestern schickte, gab er ihnen ein Zeugnis, das ihre Vorurteile abbauen sollte.<br />

<strong>Die</strong> Pharisäer behaupteten, daß sich <strong>Christi</strong> Lehren gegen das Gesetz richteten, das Gott<br />

durch Mose mitgeteilt hatte. <strong>Die</strong>se Anschuldigung wi<strong>de</strong>rlegte Jesus mit <strong>de</strong>r Weisung an <strong>de</strong>n<br />

wie<strong>de</strong>r rein gewor<strong>de</strong>nen Aussätzigen, ein Opfer darzubringen, wie das Gesetz es verlangte. Das<br />

war ein ausreichen<strong>de</strong>r Beweis für alle, die sich überzeugen lassen wollten. <strong>Die</strong> führen<strong>de</strong>n<br />

Persönlichkeiten in Jerusalem hatten Späher ausgesandt, die irgen<strong>de</strong>inen Vorwand suchen<br />

sollten, um Christus töten zu können. <strong>Die</strong>ser antwortete darauf, in<strong>de</strong>m er ihnen einen Beweis<br />

seiner Liebe zur Menschheit gab, seiner Hochachtung vor <strong>de</strong>m Gesetz und seiner Macht, von<br />

Sün<strong>de</strong> und Tod zu erretten. So bezog er das Psalmwort auf sie: „Sie erweisen mir Böses für<br />

Gutes und Haß für Liebe.“ Psalm 109,5. Er, <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Berg <strong>de</strong>r Seligpreisungen die Weisung<br />

erteilt hatte: „Liebet eure Fein<strong>de</strong>“ (Matthäus 5,44), erläuterte nun durch sein Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>n<br />

Grundsatz: „Vergeltet nicht Böses mit Bösem o<strong>de</strong>r Scheltwort mit Scheltwort, son<strong>de</strong>rn dagegen<br />

segnet.“ 1.Petrus 3,9.<br />

172


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

<strong>Die</strong>selben Priester, die <strong>de</strong>n Aussätzigen verbannt hatten, bezeugten nun seine Heilung.<br />

<strong>Die</strong>ses Urteil, das öffentlich bekanntgemacht wer<strong>de</strong>n mußte und eingetragen wur<strong>de</strong>, war ein<br />

wirksames Zeugnis für Jesus. Und da <strong>de</strong>r Geheilte auf Grund <strong>de</strong>r priesterlichen Untersuchung,<br />

die keinerlei Krankheitszeichen an ihm feststellen konnte, wie<strong>de</strong>r in die Gemein<strong>de</strong> Israel<br />

aufgenommen wur<strong>de</strong>, war er selbst ein leben<strong>de</strong>r Zeuge für seinen Wohltäter. Mit Freu<strong>de</strong>n<br />

brachte er seine Opfergabe und verherrlichte <strong>de</strong>n Namen Jesu. <strong>Die</strong> Priester waren von <strong>de</strong>r<br />

göttlichen Kraft <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s überzeugt. Sie hatten Gelegenheit, die Wahrheit kennenzulernen<br />

und durch das Licht geför<strong>de</strong>rt zu wer<strong>de</strong>n. Verachteten sie dieses Licht, so wür<strong>de</strong> es von ihnen<br />

weichen, um nie wie<strong>de</strong>r zurückzukehren. Von vielen wur<strong>de</strong> das Licht verworfen. Dennoch war<br />

es nicht vergeblich gegeben! Manches Herz wur<strong>de</strong> bewegt, nur verbarg man es noch. Während<br />

<strong>Christi</strong> Lebenszeit auf Er<strong>de</strong>n schien sein Erlösungswerk bei <strong>de</strong>n Priestern und Lehrern <strong>de</strong>s<br />

Volkes auf nur wenig Gegenliebe zu stoßen; nach seiner Himmelfahrt aber „wur<strong>de</strong>n auch viele<br />

Priester <strong>de</strong>m Glauben gehorsam“. Apostelgeschichte 6,7.<br />

Jesu Wun<strong>de</strong>rtat an <strong>de</strong>m Aussätzigen veranschaulicht sein Wirken, die Seele von Sün<strong>de</strong>n zu<br />

reinigen. Der Mann, <strong>de</strong>r zu Jesus kam, war „voll Aussatz“, <strong>de</strong>ssen tödliches Gift seinen ganzen<br />

Körper durchdrang. <strong>Die</strong> Jünger suchten ihren Meister daran zu hin<strong>de</strong>rn, ihn anzurühren; <strong>de</strong>nn<br />

wer einen Aussätzigen berührte, verunreinigte sich selbst. Jesus aber wur<strong>de</strong> dadurch, daß er<br />

seine Hand auf <strong>de</strong>n Aussätzigen legte, nicht verunreinigt; seine Berührung übertrug<br />

lebenspen<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Kräfte, und <strong>de</strong>r Kranke wur<strong>de</strong> geheilt. So verhält es sich auch mit <strong>de</strong>m Aussatz<br />

<strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>. Er hat sich tief in <strong>de</strong>n Menschen eingefressen, ist tödlich und kann unmöglich durch<br />

menschliche Kraft geheilt wer<strong>de</strong>n. „Das ganze Haupt ist krank, das ganze Herz ist matt. Von<br />

<strong>de</strong>r Fußsohle bis zum Haupt ist nichts Gesun<strong>de</strong>s an euch, son<strong>de</strong>rn Beulen und Striemen und<br />

frische Wun<strong>de</strong>n.“ Jesaja 1,5.6. Wenn aber <strong>de</strong>r Herr im Herzen <strong>de</strong>s Menschen wohnt, wird kein<br />

Makel ihn je erreichen; seine Gegenwart übt eine heilen<strong>de</strong> Kraft auf <strong>de</strong>n Sün<strong>de</strong>r aus. Wer Jesus<br />

zu Füßen fällt und im Glauben sagt: „Herr, so du willst, kannst du mich wohl reinigen“, wird<br />

die Antwort hören: „Ich will‘s tun; sei gereinigt!“ Matthäus 8,2.3.<br />

In einigen Fällen gewährte Jesus nicht gleich <strong>de</strong>n gewünschten Segen; aber bei <strong>de</strong>m Aussatz<br />

wur<strong>de</strong> die Bitte sofort erfüllt. Bitten wir um irdische Segnungen, so mag die Erhörung unseres<br />

Gebets verzögert wer<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r Gott mag uns etwas an<strong>de</strong>res geben als das Erbetene. Wenn wir<br />

aber um Befreiung von <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> bitten, hilft er sofort. Es ist sein Wille, uns von <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> zu<br />

befreien, uns zu seinen Kin<strong>de</strong>rn zu machen und uns zu befähigen, ein gerechtes Leben zu<br />

führen. Christus hat „sich selbst für unsre Sün<strong>de</strong>n gegeben ... daß er uns errette von dieser<br />

gegenwärtigen, argen Welt nach <strong>de</strong>m Willen Gottes, unsres Vaters“. Galater 1,4. „Und das ist<br />

die Zuversicht, die wir haben zu ihm, daß, wenn wir etwas bitten nach seinem Willen, so hört er<br />

uns. Und wenn wir wissen, daß er uns hört, was wir auch bitten, so wissen wir, daß wir<br />

erlangen, was wir von ihm gebeten haben.“ 1.Johannes 5,14.15. „Wenn wir aber unsre Sün<strong>de</strong>n<br />

bekennen, so ist er treu und gerecht, daß er uns die Sün<strong>de</strong>n vergibt.“ 1.Johannes 1,9.<br />

Bei <strong>de</strong>r Heilung <strong>de</strong>s Gichtbrüchigen zu Kapernaum lehrte Christus die gleiche Wahrheit.<br />

<strong>Die</strong>s Wun<strong>de</strong>r geschah, um seine Macht, Sün<strong>de</strong>n zu vergeben, zu offenbaren und an<strong>de</strong>re<br />

wertvolle Wahrheiten zu veranschaulichen. Es stärkt die Hoffnung und ermutigt, aber es warnt<br />

173


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

uns auch angesichts <strong>de</strong>s Verhaltens <strong>de</strong>r spitzfindigen Pharisäer. Der Gichtbrüchige hatte<br />

ebensowenig Hoffnung auf Gesundung wie <strong>de</strong>r Aussätzige. Seine Krankheit war die Folge eines<br />

ausschweifen<strong>de</strong>n Lebens, und sein Lei<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong> durch Selbstvorwürfe noch erhöht. Vor langer<br />

Zeit hatte er sich an die Pharisäer und Ärzte gewandt in <strong>de</strong>r Hoffnung, Erleichterung von seinen<br />

seelischen Lei<strong>de</strong>n und leiblichen Schmerzen zu fin<strong>de</strong>n. Sie aber hatten ihn teilnahmslos für<br />

unheilbar erklärt und ihn <strong>de</strong>m Zorn Gottes überlassen. <strong>Die</strong> Pharisäer betrachteten Krankheiten<br />

als Beweis göttlichen Unwillens; sie hielten sich <strong>de</strong>shalb von Kranken und Hilfsbedürftigen<br />

fern, und doch waren gera<strong>de</strong> sie, die sich für heilig hielten, oft schuldiger als die Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n, die<br />

sie verdammten.<br />

Der Gichtbrüchige war vollständig hilflos, und da keinerlei Aussicht auf Heilung vorhan<strong>de</strong>n<br />

war, wur<strong>de</strong> er ganz verzagt. Dann hörte er von <strong>de</strong>m Wun<strong>de</strong>rwirken Jesu. Er vernahm, daß<br />

an<strong>de</strong>re, die auch schuldbela<strong>de</strong>n und hilflos waren wie er, geheilt wur<strong>de</strong>n, ja daß selbst<br />

Aussätzige gereinigt wor<strong>de</strong>n waren. <strong>Die</strong> Freun<strong>de</strong>, die ihm davon berichteten, ermutigten ihn, zu<br />

glauben, daß auch er geheilt wer<strong>de</strong>n könne, wenn er zu Jesus gebracht wür<strong>de</strong>. Aber seine<br />

Hoffnung schwand, als er daran dachte, wodurch er sich seine Krankheit zugezogen hatte. Er<br />

fürchtete, <strong>de</strong>r reine Arzt wer<strong>de</strong> ihn nicht in seiner Gegenwart dul<strong>de</strong>n. Er wünschte jedoch nicht<br />

so sehr die körperliche Heilung wie eine Befreiung von <strong>de</strong>r Last seiner Sün<strong>de</strong>n. Könnte er Jesus<br />

sehen und die Versicherung <strong>de</strong>r Vergebung und <strong>de</strong>s göttlichen Frie<strong>de</strong>ns erhalten, dann wollte er<br />

leben o<strong>de</strong>r sterben, wie es <strong>de</strong>s Herrn Wille sei. Der Ruf <strong>de</strong>s <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> Ausgelieferten war: O<br />

könnte ich zu ihm kommen! Da galt es, keine Zeit zu verlieren; schon trug sein welker Körper<br />

die Zeichen <strong>de</strong>s Verfalls. Er bat seine Freun<strong>de</strong>, ihn auf seinem Bett zu Jesus zu tragen. <strong>Die</strong>se<br />

erfüllten ihm gern seinen Wunsch. Aber das Gedränge in und vor <strong>de</strong>m Hause, in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r<br />

Heiland weilte, war so groß, daß die Freun<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>m Kranken <strong>de</strong>n Herrn nicht erreichen, nicht<br />

einmal in seine Nähe kommen und seine Stimme hören konnten.<br />

Jesus lehrte im Hause <strong>de</strong>s Petrus. Um ihn herum saßen nach ihrer Gewohnheit seine Jünger<br />

und „die Pharisäer und Schriftgelehrten, die gekommen waren aus allen Orten in Galiläa und<br />

Judäa und von Jerusalem“. Lukas 5,17. <strong>Die</strong>se waren als Kundschafter gekommen, um<br />

Anklagematerial gegen Jesus zu sammeln. Außer ihnen drängte sich noch eine bunte<br />

Volksmenge zusammen: Wißbegierige, Ehrfürchtige, Neugierige und Ungläubige.<br />

Verschie<strong>de</strong>ne Nationalitäten und alle Gesellschaftsklassen waren vertreten. „Und die Kraft <strong>de</strong>s<br />

Herrn wirkte, daß er die Kranken heilte.“ Lukas 5,17. Der Geist <strong>de</strong>s Lebens schwebte über <strong>de</strong>r<br />

Versammlung; aber die Pharisäer und Schriftgelehrten erkannten seine Gegenwart nicht. Sie<br />

hatten kein Heilsverlangen, und die Heilung war nicht für sie. „<strong>Die</strong> Hungrigen füllet er mit<br />

Gütern und läßt die Reichen leer.“ Lukas 1,53.<br />

Immer aufs neue versuchten die Träger <strong>de</strong>s Gichtbrüchigen, sich einen Weg durch die<br />

Menge zu bahnen. Stets vergeblich. Der Kranke blickte in namenloser Qual um sich. Wie<br />

konnte er die Hoffnung aufgeben, wenn die lang ersehnte Hilfe so nahe war! Auf seinen<br />

Vorschlag hin trugen ihn die Freun<strong>de</strong> auf das Dach <strong>de</strong>s Hauses, brachen es auf und ließen ihn<br />

hinab vor die Füße Jesu. Der Heiland unterbrach seine Re<strong>de</strong>. Er sah das bekümmerte Gesicht<br />

<strong>de</strong>s Kranken und die flehend auf ihn gerichteten Blicke. Er verstand <strong>de</strong>n Unglücklichen; er<br />

174


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

selbst hatte das verzweifelte, verwirrte Gemüt zu sich gezogen. Als <strong>de</strong>r Gichtbrüchige noch zu<br />

Hause war, hatte <strong>de</strong>r Heiland sein Gewissen von seiner Schuld überzeugt, und als jener seine<br />

Sün<strong>de</strong>n bereute und an die Kraft Jesu, die ihn heilen konnte, glaubte, hatte die lebenspen<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />

Gna<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s zuerst sein verlangen<strong>de</strong>s Herz erfreut. Jesus hatte beobachtet, wie <strong>de</strong>r erste<br />

Schimmer <strong>de</strong>s Glaubens sich in jenem Kranken zu <strong>de</strong>m Bewußtsein entwickelte, daß er, Jesus,<br />

die einzige Hilfe <strong>de</strong>s Sün<strong>de</strong>rs sei; er hatte gesehen, daß <strong>de</strong>ssen Glaube mit je<strong>de</strong>m Versuch, in<br />

seine Gegenwart zu kommen, an Kraft gewann.<br />

Der Heiland sprach Worte, die wie Musik an das Ohr <strong>de</strong>s Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n drangen: „Sei getrost,<br />

mein Sohn, <strong>de</strong>ine Sün<strong>de</strong>n sind dir vergeben.“ Matthäus 9,2. <strong>Die</strong> Last <strong>de</strong>r Verzweiflung hebt<br />

sich von <strong>de</strong>s Kranken Seele, <strong>de</strong>r Frie<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Vergebung ruht auf seinem Gemüt und strahlt aus<br />

seinem Blick. <strong>Die</strong> körperlichen Schmerzen sind geschwun<strong>de</strong>n, sein ganzes Wesen ist<br />

verwan<strong>de</strong>lt. Der hilflose Gichtbrüchige ist geheilt, <strong>de</strong>r schuldige Sün<strong>de</strong>r hat Vergebung<br />

empfangen! Schlicht gläubig nahm er die Worte Jesu als die Gabe eines neuen Lebens an. Er<br />

bat um nichts mehr, son<strong>de</strong>rn lag in glücklichem Schweigen da; er war so erfüllt von<br />

Glückseligkeit, daß er keine Worte fin<strong>de</strong>n konnte. Das Licht <strong>de</strong>s Himmels erleuchtete sein<br />

Angesicht, und die Menge sah mit heiliger Scheu auf dieses Geschehen.<br />

<strong>Die</strong> Rabbiner hatten mit größter Spannung gewartet, um zu sehen, wie sich Jesus diesem<br />

Kranken gegenüber verhalten wür<strong>de</strong>. Sie erinnerten sich, wie dieser Mann sie um Hilfe<br />

angefleht hatte und daß sie ihm Hoffnung und Teilnahme verweigert hatten. Nicht genug damit,<br />

war von ihnen auch erklärt wor<strong>de</strong>n, daß er unter <strong>de</strong>m Fluch Gottes stün<strong>de</strong>. Das alles lebte<br />

wie<strong>de</strong>r in ihrem Gedächtnis auf, als sie <strong>de</strong>n Kranken vor sich sahen. Sie nahmen wahr, mit<br />

welchem Interesse alle Anwesen<strong>de</strong>n beobachteten, was vor sich ging. Da überfiel sie<br />

schreckliche Furcht, sie könnten ihren Einfluß auf das Volk verlieren.<br />

<strong>Die</strong>se Wür<strong>de</strong>nträger tauschten zwar ihre Gedanken nicht sofort aus, sahen sich aber<br />

vielsagend an und lasen von ihren Gesichtern ab, daß sie das gleiche dachten: es mußte<br />

unbedingt etwas getan wer<strong>de</strong>n, um <strong>de</strong>n Gefühlsüberschwang zu bremsen. Jesus hatte erklärt,<br />

daß die Sün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Gelähmten vergeben seien. <strong>Die</strong>ses Wort hielten die Pharisäer für eine<br />

Gotteslästerung. Sie glaubten nun, daß sie diesen Ausspruch als eine Todsün<strong>de</strong> hinstellen<br />

könnten. So sprachen sie in ihrem Herzen: „Er lästert Gott! Wer kann Sün<strong>de</strong>n vergeben <strong>de</strong>nn<br />

allein Gott?“ Markus 2,7.<br />

Jesus schaute sie durchdringend an, so daß sie sich duckten und sich zurückzogen. Dann<br />

sagte er: „Warum <strong>de</strong>nkt ihr so Arges in euren Herzen? Was ist leichter, zu sagen: Dir sind <strong>de</strong>ine<br />

Sün<strong>de</strong>n vergeben, o<strong>de</strong>r zu sagen: Stehe auf und wandle? Auf daß ihr aber wisset, daß <strong>de</strong>s<br />

Menschen Sohn Vollmacht hat, auf Er<strong>de</strong>n die Sün<strong>de</strong>n zu vergeben, — sprach er zu <strong>de</strong>m<br />

Gichtbrüchigen: Stehe auf, hebe <strong>de</strong>in Bett auf und gehe heim!“ Matthäus 9,4-6. Da erhebt sich<br />

<strong>de</strong>r Mann, <strong>de</strong>n man auf einer Bahre zu Jesus gebracht hat, mit <strong>de</strong>r Gewandtheit und Kraft <strong>de</strong>r<br />

Jugend. Lebensfrisches Blut strömt durch seine A<strong>de</strong>rn, je<strong>de</strong>s Organ seines Körpers wird wie<strong>de</strong>r<br />

tätig, und die Farbe <strong>de</strong>r Gesundheit löst die Blässe <strong>de</strong>s nahen<strong>de</strong>n To<strong>de</strong>s ab, die auf seinem<br />

Angesicht gelegen hatte. „Und er stand auf, nahm sein Bett und ging alsbald hinaus vor allen, so<br />

175


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

daß sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben solches noch nie<br />

gesehen.“ Markus 2,12.<br />

O wun<strong>de</strong>rbare Liebe <strong>Christi</strong>, die sich herabläßt, <strong>de</strong>n Schuldbela<strong>de</strong>nen und Kranken zu<br />

heilen! <strong>Die</strong> Gottheit trauert über das Elend <strong>de</strong>r Menschheit und lin<strong>de</strong>rt es. Wun<strong>de</strong>rbare Macht,<br />

die sich hier vor <strong>de</strong>n Menschenkin<strong>de</strong>rn entfaltet! Wer kann noch an <strong>de</strong>r Botschaft <strong>de</strong>s Heils<br />

zweifeln? Wer will die Barmherzigkeit <strong>de</strong>s mitleidvollen Erlösers geringachten? Es bedurfte<br />

keiner geringeren Schöpferkraft, jenem verfallen<strong>de</strong>n Körper neue Gesundheit zu geben.<br />

<strong>Die</strong>selbe Stimme, die <strong>de</strong>m aus Er<strong>de</strong>nstaub geschaffenen Menschen das Leben zusprach, tat dies<br />

auch an <strong>de</strong>m sterben<strong>de</strong>n Gelähmten. Und die gleiche Macht, die <strong>de</strong>m Körper Leben gab, hatte<br />

das Herz erneuert. Derjenige, von <strong>de</strong>m es bei <strong>de</strong>r Schöpfung heißt: „Er sprach, da geschah es.<br />

Er befahl, da stand es da“ (Psalm 33,9, Bruns), hatte jener in Übertretungen und Sün<strong>de</strong>n toten<br />

Seele durch sein Wort Leben geschenkt. <strong>Die</strong> Heilung <strong>de</strong>s Leibes stellte jene Macht unter<br />

Beweis, die das Herz erneuert hatte. Christus for<strong>de</strong>rte <strong>de</strong>n Gelähmten auf, sich zu erheben und<br />

zu gehen, damit „ihr aber wisset“, wie er sagte, „daß <strong>de</strong>s Menschen Sohn Vollmacht hat, zu<br />

vergeben die Sün<strong>de</strong>n auf Er<strong>de</strong>n“. Markus 2,10.<br />

Der Gelähmte erfuhr durch Christus Heilung <strong>de</strong>r Seele wie auch <strong>de</strong>s Leibes. Der geistlichen<br />

Gesundung folgte die leibliche Wie<strong>de</strong>rherstellung. <strong>Die</strong>se Lehre sollte nicht übersehen wer<strong>de</strong>n.<br />

In unseren Tagen lei<strong>de</strong>n Tausen<strong>de</strong> an körperlichen Gebrechen, die es gleich <strong>de</strong>m Gelähmten<br />

nach <strong>de</strong>r Botschaft verlangt: „Deine Sün<strong>de</strong>n sind dir vergeben.“ Markus 2,5. <strong>Die</strong> Last <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong><br />

mit <strong>de</strong>r damit verbun<strong>de</strong>nen inneren Unruhe und <strong>de</strong>m Unbefriedigtsein ist die Ursache ihrer<br />

Krankheiten. Erst wenn sie zum Heiland ihrer Seele kommen, können sie Erleichterung fin<strong>de</strong>n.<br />

Nur er kann <strong>de</strong>n Frie<strong>de</strong>n gewähren, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Geist Kraft und <strong>de</strong>m Leib Gesundheit schenkt.<br />

Jesus kam, „daß er die Werke <strong>de</strong>s Teufels zerstöre“. 1.Johannes 3,8. „In ihm war das<br />

Leben.“ Johannes 1,4. Er selbst sagt: „Ich bin gekommen, daß sie das Leben und volle Genüge<br />

haben sollen.“ Johannes 10,10. Er ist <strong>de</strong>r „Geist, <strong>de</strong>r da lebendig macht“. 1.Korinther 15,45.<br />

Und er besitzt immer noch die gleiche lebenspen<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Macht, die er auf Er<strong>de</strong>n besaß, als er<br />

Kranke heilte und <strong>de</strong>n Sün<strong>de</strong>rn ihre Schuld vergab. Er vergibt „dir alle <strong>de</strong>ine Sün<strong>de</strong> ... und<br />

heilet alle <strong>de</strong>ine Gebrechen“. Psalm 103,3. <strong>Die</strong> Heilung <strong>de</strong>s Gichtbrüchigen hatte eine <strong>de</strong>rartige<br />

Wirkung auf das Volk, als hätte sich <strong>de</strong>r Himmel geöffnet und die Herrlichkeit einer besseren<br />

Welt offenbart. Als <strong>de</strong>r Geheilte durch die Menge hindurchging, mit je<strong>de</strong>m Schritt Gott lobte<br />

und seine Last trug, als sei sie fe<strong>de</strong>rleicht, machte ihm alles Volk Platz. <strong>Die</strong> Menge sah ihn mit<br />

ehrfurchtsvollen Blicken an, und die Menschen flüsterten einan<strong>de</strong>r zu: „Wir haben heute<br />

seltsame Dinge gesehen.“ Lukas 5,26.<br />

<strong>Die</strong> Pharisäer waren vor Erstaunen verstummt und durch ihre Nie<strong>de</strong>rlage überwältigt. Sie<br />

sahen, daß sich hier keine Gelegenheit bot, das Volk durch ihre Eifersucht aufzuwiegeln. <strong>Die</strong><br />

wun<strong>de</strong>rbare Heilung, die an diesem Mann vollbracht wor<strong>de</strong>n war, <strong>de</strong>n sie einst <strong>de</strong>m Zorn Gottes<br />

übergeben hatten, machte einen so gewaltigen Eindruck auf das Volk, daß die Pharisäer<br />

zeitweilig vergessen waren. Sie sahen, daß Christus eine Macht besaß, die sie Gott allein<br />

zugeschrieben hatten, und doch stand die beschei<strong>de</strong>ne Wür<strong>de</strong> seines Wesens in auffallen<strong>de</strong>m<br />

Gegensatz zu ihrem Hochmut. Sie waren verwirrt und beschämt; sie erkannten wohl die<br />

176


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Gegenwart eines höheren Wesens, aber sie bekannten sich nicht zu ihr. Je stärker und<br />

zwingen<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Beweis war, daß Jesus die Macht besaß, auf Er<strong>de</strong>n Sün<strong>de</strong>n zu vergeben, <strong>de</strong>sto<br />

mehr vergruben sie sich in ihrem Unglauben. Sie verließen das Haus <strong>de</strong>s Petrus, in <strong>de</strong>m sie <strong>de</strong>r<br />

Heilung <strong>de</strong>s Gichtbrüchigen durch Jesu Wort beigewohnt hatten, und grübelten über neuen<br />

Plänen, um <strong>de</strong>n Sohn Gottes zum Schweigen zu bringen.<br />

Körperliche Krankheit, wie bösartig und tief verwurzelt sie auch gewesen sein mag, wur<strong>de</strong><br />

durch die Macht <strong>Christi</strong> geheilt; aber die Krankheit <strong>de</strong>r Seele nahm völligen Besitz von jenen,<br />

die ihre Augen <strong>de</strong>m Licht verschlossen. Aussatz und Gicht waren nicht so schrecklich wie<br />

Frömmelei und Unglauben. Im Hause <strong>de</strong>s Geheilten herrschte große Freu<strong>de</strong>, als er zu seiner<br />

Familie zurückkehrte und mit Leichtigkeit das Bett trug, auf <strong>de</strong>m er erst kurz zuvor langsam<br />

weggetragen wor<strong>de</strong>n war. Alle umringten ihn und weinten vor Freu<strong>de</strong>. Sie wagten kaum, ihren<br />

Augen zu trauen, als er nun in voller Manneskraft wie<strong>de</strong>r vor ihnen stand. Jene Arme, die sie<br />

kraftlos gesehen hatten, gehorchten wie<strong>de</strong>r seinem Willen; die zusammengeschrumpften, fahl<br />

aussehen<strong>de</strong>n Muskeln waren wie<strong>de</strong>r frisch und rosig. Sein Schritt war fest und frei; Freu<strong>de</strong> und<br />

Hoffnung leuchteten aus seinem Blick, und ein Ausdruck <strong>de</strong>r Reinheit und <strong>de</strong>s Frie<strong>de</strong>ns hatte<br />

die Spuren von Sün<strong>de</strong> und Lei<strong>de</strong>n verdrängt. Frohe Danksagungen stiegen aus <strong>de</strong>m Kreis dieser<br />

Familie empor. Gott wur<strong>de</strong> verherrlicht durch seinen Sohn, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Mutlosen Hoffnung <strong>de</strong>m<br />

Zerschlagenen neue Kräfte gegeben hatte. <strong>Die</strong>ser Mann und seine Familie waren bereit, ihr<br />

Leben für Jesus dahinzugeben; kein Zweifel trübte ihr Vertrauen, kein Unglaube befleckte ihre<br />

Treue zu <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r Licht in ihr verdunkeltes Leben gebracht hatte.<br />

177


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 28: Levi-Matthäus<br />

Von <strong>de</strong>n römischen Beamten in Palästina waren keine verhaßter als die Zöllner. <strong>Die</strong><br />

Tatsache, daß die Steuern von einer frem<strong>de</strong>n Macht auferlegt wur<strong>de</strong>n, bil<strong>de</strong>te für die Ju<strong>de</strong>n ein<br />

stetes Ärgernis und erinnerte sie ständig daran, daß sie ihre Unabhängigkeit eingebüßt hatten.<br />

Hinzu kam, daß die Steuereintreiber nicht allein die Werkzeuge römischer Unterdrückung<br />

waren, son<strong>de</strong>rn Erpresser zum eigenen Vorteil, die sich auf Kosten <strong>de</strong>s Volkes bereicherten. Ein<br />

Ju<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r dieses Amt aus <strong>de</strong>r Hand <strong>de</strong>r Römer annahm, galt als Verräter <strong>de</strong>r Ehre seiner Nation.<br />

Als Abtrünniger wur<strong>de</strong> er verachtet und zu <strong>de</strong>n Verworfensten <strong>de</strong>r Gesellschaft gezählt.<br />

Levi-Matthäus gehörte zu dieser Gruppe. Nach <strong>de</strong>n vier Jüngern am See Genezareth berief<br />

Christus ihn als nächsten in seinen <strong>Die</strong>nst. <strong>Die</strong> Pharisäer hatten Matthäus nur nach seinem Beruf<br />

beurteilt, Jesus dagegen sah das Herz dieses Menschen, das bereit war, die Wahrheit zu<br />

empfangen. Matthäus hatte <strong>de</strong>n Lehren <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s gelauscht. Während <strong>de</strong>r Geist Gottes in<br />

ihm das Bewußtsein <strong>de</strong>r Sündhaftigkeit weckte, sehnte er sich danach, Hilfe bei Christus zu<br />

suchen. Er war aber so sehr an die Unnahbarkeit <strong>de</strong>r Rabbiner gewöhnt, daß ihm überhaupt<br />

nicht <strong>de</strong>r Gedanke kam, dieser Lehrer könnte ihn beachten.<br />

Eines Tages saß <strong>de</strong>r Zöllner an seiner Bu<strong>de</strong> und sah Jesus kommen. Höchst verwun<strong>de</strong>rt<br />

vernahm er die an ihn gerichteten Worte: „Folge mir nach!“ Matthäus „verließ alles, stand auf<br />

und folgte ihm nach“. Lukas 5,27.28. Er zögerte nicht. Er fragte nicht. Ihm kam gar nicht <strong>de</strong>r<br />

Gedanke, nun das einträgliche Geschäft gegen Armut und Ungemach tauschen zu sollen. Ihm<br />

genügte es, bei Jesus zu sein, seinen Worten zu lauschen und sich seinem Wirken<br />

anzuschließen. Genauso hatten sich schon die zuvor berufenen Jünger verhalten. Als Jesus<br />

Petrus und seine Gefährten auffor<strong>de</strong>rte, ihm nachzufolgen, verließen sie auf <strong>de</strong>r Stelle ihre<br />

Boote und Netze. Einige dieser Jünger hatten für Verwandte zu sorgen. Sie zögerten jedoch<br />

nicht, als die Einladung <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s an sie erging, und fragten auch nicht: Wovon soll ich<br />

leben und meine Familie ernähren? Sie gehorchten <strong>de</strong>r Auffor<strong>de</strong>rung. Als Jesus sie später<br />

fragte: „Sooft ich euch ausgesandt habe ohne Beutel, ohne Tasche und ohne Schuhe, habt ihr<br />

auch je Mangel gehabt?“ konnten sie antworten: „Nie.“ Lukas 22,35.<br />

Sowohl Matthäus in seinem Wohlstand als auch Petrus und Andreas in ihrer Armut stan<strong>de</strong>n<br />

vor <strong>de</strong>r gleichen Entscheidung — je<strong>de</strong>r traf sie mit <strong>de</strong>r gleichen Hingabe. Angesichts <strong>de</strong>s<br />

Erfolges, als die Netze mit Fischen zum Zerreißen voll und die Anreize <strong>de</strong>s gewohnten Lebens<br />

am stärksten waren, for<strong>de</strong>rte Jesus die Jünger am See auf, dies alles für die Evangeliumsarbeit<br />

aufzugeben. In gleicher Weise wird je<strong>de</strong> Seele geprüft, was stärker in ihr ist: ihr Verlangen nach<br />

weltlichen Gütern o<strong>de</strong>r nach <strong>de</strong>r Gemeinschaft mit Christus.<br />

Grundsätze stellen hohe Anfor<strong>de</strong>rungen. Im <strong>Die</strong>nste Gottes kann niemand erfolgreich sein,<br />

er bringe <strong>de</strong>nn sein ungeteiltes Herz mit ein und „achte ... alles für Scha<strong>de</strong>n gegen die<br />

überschwengliche Größe <strong>de</strong>r Erkenntnis <strong>Christi</strong>“. Philipper 3,8. Wer <strong>de</strong>n geringsten Vorbehalt<br />

geltend macht, kann kein Jünger Jesu, noch viel weniger sein Mitarbeiter sein. Menschen, die<br />

das große Erlösungswerk schätzen, wer<strong>de</strong>n in ihrem Leben jene Selbstaufopferung offenbaren,<br />

die im Leben Jesu sichtbar war. Wohin immer er vorangeht, wer<strong>de</strong>n sie ihm freudig folgen. <strong>Die</strong><br />

178


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Berufung <strong>de</strong>s Matthäus in die Jüngerschaft Jesu erregte großen Unwillen. Es war ein Verstoß<br />

gegen die religiösen, gesellschaftlichen und nationalen Bräuche, wenn ein Glaubenslehrer einen<br />

Zöllner in sein engstes Gefolge aufnahm. <strong>Die</strong> Pharisäer hofften durch geschicktes Ausnutzen<br />

<strong>de</strong>r Voreingenommenheit <strong>de</strong>s Volkes <strong>de</strong>ssen Gefühle gegen Jesus lenken zu können.<br />

Unter <strong>de</strong>n Zöllnern erwachte ein weitgespanntes Interesse. Ihre Herzen fühlten sich zu <strong>de</strong>m<br />

göttlichen Lehrer hingezogen. Aus Freu<strong>de</strong> an seiner neuen Jüngerschaft wollte Matthäus seine<br />

früheren Kollegen unbedingt zu Jesus bringen. Deshalb veranstaltete er ein Fest in seinem<br />

Hause und lud dazu seine Verwandten und Freun<strong>de</strong> ein. Es erschienen nicht nur die Zöllner,<br />

son<strong>de</strong>rn auch viele an<strong>de</strong>re Leute zweifelhaften Rufes, die von ihren überängstlichen Nachbarn<br />

geächtet waren.<br />

Das Gastmahl wur<strong>de</strong> Jesus zu Ehren gegeben, und er zögerte nicht, die Gunstbezeigung<br />

anzunehmen, obwohl er sich bewußt war, daß dies für die Sekte <strong>de</strong>r Pharisäer ein Ärgernis<br />

be<strong>de</strong>utete und ihn zugleich in <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>s Volkes bloßstellte. Doch „diplomatische“<br />

Rücksichtnahme konnte sein Verhalten nicht beeinflussen. Bei ihm galten äußerliche<br />

Unterschie<strong>de</strong> nichts. Sein Herz sprach auf Seelen an, die nach <strong>de</strong>m Lebenswasser<br />

dürsteten. Jesus saß als Ehrengast zwischen <strong>de</strong>n Zöllnern an <strong>de</strong>r Tafel. Durch sein Wohlwollen<br />

und sein umgängliches Wesen zeigte er ihnen seine Wertschätzung <strong>de</strong>r Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Menschen,<br />

so daß sie danach verlangte, sich seines Vertrauens würdig zu erweisen. In ihre durstigen<br />

Herzen fielen seine Worte mit beglücken<strong>de</strong>r, lebenspen<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Kraft. Neue Impulse wur<strong>de</strong>n<br />

geweckt, und diesen Ausgestoßenen <strong>de</strong>r Gesellschaft eröffnete sich die Möglichkeit, ein neues<br />

Leben zu beginnen.<br />

Bei solchen Zusammenkünften wur<strong>de</strong>n nicht wenige von <strong>de</strong>n Lehren <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s<br />

beeindruckt; sie bekannten sich aber erst nach seiner Himmelfahrt zu ihm. Als <strong>de</strong>r Heilige Geist<br />

ausgegossen wur<strong>de</strong> und sich an einem Tage dreitausend Menschen bekehrten, waren viele unter<br />

ihnen, die die Wahrheit zuerst an <strong>de</strong>r Tafel <strong>de</strong>r Zöllner gehört hatten. Einige von ihnen wur<strong>de</strong>n<br />

Boten <strong>de</strong>s Evangeliums. Für Matthäus selbst war das Verhalten Jesu auf <strong>de</strong>m Fest eine stete<br />

Mahnung. Der verachtete Zöllner wur<strong>de</strong> zu einem <strong>de</strong>r hingebungsvollsten Evangelisten, <strong>de</strong>r<br />

sich in seinem <strong>Die</strong>nst genau nach <strong>de</strong>m Beispiel seines Meisters richtete.<br />

Als die Rabbiner von <strong>de</strong>r Teilnahme Jesu an <strong>de</strong>m Fest <strong>de</strong>s Matthäus erfuhren, ergriffen sie<br />

die Gelegenheit, ihn anzuklagen, und zwar gedachten sie es mit Hilfe <strong>de</strong>r Jünger zu tun. In<strong>de</strong>m<br />

sie ihre alten Vorurteile wie<strong>de</strong>r hervorkramten, hofften sie, die Jünger ihrem Meister<br />

entfrem<strong>de</strong>n zu können. Christus bei <strong>de</strong>n Jüngern und die Jünger bei Christus anzuschuldigen,<br />

das war ihre Verfahrensweise. Dabei richteten sie ihre Pfeile auf die verwundbarsten Stellen.<br />

Seit <strong>de</strong>m Streit im Himmel hat Satan sich stets dieser Metho<strong>de</strong> bedient, und alle, die<br />

Unstimmigkeit und Entfremdung verursachen, sind von seinem Geist getrieben.<br />

<strong>Die</strong> mißgünstigen Rabbiner fragten: „Warum isset euer Meister mit <strong>de</strong>n Zöllnern und<br />

Sün<strong>de</strong>rn?“ Matthäus 9,11. Jesus wartete nicht die Antwort seiner Jünger auf diesen Angriff ab,<br />

son<strong>de</strong>rn erwi<strong>de</strong>rte selbst: „<strong>Die</strong> Starken bedürfen <strong>de</strong>s Arztes nicht, son<strong>de</strong>rn die Kranken. Gehet<br />

aber hin und lernet, was das ist: ‚Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am<br />

179


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Opfer.‘ Ich bin gekommen, die Sün<strong>de</strong>r zu rufen und nicht die Gerechten.“ Matthäus<br />

9,12.13; Hosea 6,6. <strong>Die</strong> Pharisäer beanspruchten, geistlich gesund zu sein und <strong>de</strong>shalb keines<br />

Arztes zu bedürfen. <strong>Die</strong> Zöllner und Hei<strong>de</strong>n dagegen wür<strong>de</strong>n an ihren Seelennöten zugrun<strong>de</strong><br />

gehen. War es dann nicht Jesu Aufgabe als Arzt, gera<strong>de</strong> jenen nachzugehen, die seine Hilfe<br />

brauchten? Obwohl die Pharisäer eine so hohe Meinung von sich hatten, war ihre Situation in<br />

Wirklichkeit viel schlimmer als die Lage jener, die sie verachteten. <strong>Die</strong> Zöllner waren nicht so<br />

frömmlerisch und hochmütig und stan<strong>de</strong>n daher <strong>de</strong>m Einfluß <strong>de</strong>r Wahrheit sehr viel<br />

aufgeschlossener gegenüber. Jesus sprach zu <strong>de</strong>n Rabbinern: „Gehet aber hin und lernet, was<br />

das ist? ‚Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.‘“ Damit zeigte er ihnen:<br />

Ihr behauptet zwar, das Wort Gottes auslegen zu können, von seinem Geist aber habt ihr nichts<br />

begriffen.<br />

Für <strong>de</strong>n Augenblick waren die Pharisäer zwar zum Schweigen gebracht; in ihrer<br />

Feindseligkeit aber wur<strong>de</strong>n sie um so entschlossener. Als nächstes machten sie die Jünger<br />

Johannes <strong>de</strong>s Täufers ausfindig und suchten sie gegen <strong>de</strong>n Erlöser aufzuhetzen. <strong>Die</strong>se Pharisäer<br />

hatten <strong>de</strong>n göttlichen Auftrag <strong>de</strong>s Täufers nicht anerkannt. Mit Verachtung hatten sie auf seine<br />

enthaltsame Lebensführung, seine Anspruchslosigkeit und seine gewöhnliche Kleidung<br />

hingewiesen und ihn zum Fanatiker gestempelt. Seiner Verkündigung hatten sie Wi<strong>de</strong>rstand<br />

geleistet, und sie hatten das Volk gegen ihn aufzuwiegeln versucht, weil ihre Heuchelei von ihm<br />

öffentlich gebrandmarkt wor<strong>de</strong>n war. Obwohl <strong>de</strong>r Geist Gottes die Herzen dieser Verächter<br />

bewegt und sie ihrer Sün<strong>de</strong>n überführt hatte, wi<strong>de</strong>rstrebten sie Gottes Rat und erklärten sogar,<br />

Johannes sei von einem bösen Geist besessen.<br />

Als jetzt Jesus auftrat, sich unter das Volk mischte und an <strong>de</strong>ssen Tischen aß und trank,<br />

beschuldigten sie ihn, „ein Fresser und Weinsäufer“ zu sein. Matthäus 11,19. Dabei hatten sich<br />

ausgerechnet die Männer, die diese Anklage vorbrachten, <strong>de</strong>ren selbst schuldig gemacht. Genau<br />

wie Satan Gott falsch darstellt und ihm seine eigenen Charakterzüge nachsagt, so han<strong>de</strong>lten<br />

diese boshaften Menschen an <strong>de</strong>n Boten <strong>de</strong>s Herrn. <strong>Die</strong> Pharisäer wollten nicht wahrhaben, daß<br />

Jesus mit Zöllnern und Sün<strong>de</strong>rn aß, um ihnen, die in <strong>de</strong>r Finsternis lebten, das Licht <strong>de</strong>s<br />

Himmels zu bringen. Sie wollten nicht eingestehen, daß je<strong>de</strong>s von <strong>de</strong>m göttlichen Lehrer<br />

gesprochene Wort wie ein Same war, <strong>de</strong>r zur Verherrlichung Gottes keimte und Frucht<br />

hervorbrachte. Sie hatten sich entschlossen, das Licht nicht anzunehmen. Obwohl sie sich <strong>de</strong>m<br />

<strong>Die</strong>nst <strong>de</strong>s Täufers wi<strong>de</strong>rsetzt hatten, warben sie jetzt bereitwillig um die Freundschaft seiner<br />

Jünger in <strong>de</strong>r Hoffnung, sich ihrer Mithilfe gegen Jesus versichern zu können. Sie schil<strong>de</strong>rten,<br />

wie Jesus sich über die alten Überlieferungen hinwegsetze, und verglichen die ernste<br />

Frömmigkeit <strong>de</strong>s Täufers mit <strong>de</strong>m Verhalten Jesu, <strong>de</strong>r mit Zöllnern und Sün<strong>de</strong>rn Feste feierte.<br />

Gera<strong>de</strong> damals befan<strong>de</strong>n sich die Johannesjünger in großer Bedrängnis. Das war, ehe<br />

Johannes sie mit seiner Botschaft zu Jesus sandte. Ihr geliebter Lehrer saß im Kerker, und sie<br />

brachten ihre Tage zu mit Klagen. Jesus unternahm nichts, um Johannes zu befreien. Ja, er<br />

schien sogar <strong>de</strong>ssen Lehre in Mißkredit zu bringen. Weshalb schlugen Jesus und seine Jünger<br />

einen so erheblich unterschiedlichen Weg ein, wenn Johannes von Gott gesandt war? <strong>Die</strong><br />

Jünger <strong>de</strong>s Johannes hatten kein klares Verständnis vom Wirken <strong>Christi</strong>. Sie meinten, es müsse<br />

180


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

wohl einige Grün<strong>de</strong> für die Anklagen <strong>de</strong>r Pharisäer geben. Auch sie hielten viele Vorschriften<br />

<strong>de</strong>r Rabbiner und hofften sogar, durch Gesetzeswerke gerechtfertigt zu wer<strong>de</strong>n. Fasten galt bei<br />

<strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n als verdienstvolle Tat; die strengsten unter ihnen fasteten in je<strong>de</strong>r Woche an zwei<br />

Tagen. <strong>Die</strong> Johannesjünger fasteten gera<strong>de</strong> gemeinsam mit <strong>de</strong>n Pharisäern, als sie sich mit <strong>de</strong>r<br />

Frage an Jesus wandten: „Warum fasten wir und die Pharisäer, und <strong>de</strong>ine Jünger fasten<br />

nicht?“ Matthäus 9,14; Markus 2,18.<br />

Jesus antwortete ihnen sehr rücksichtsvoll. Er versuchte nicht, ihre irrige Einstellung zum<br />

Fasten zu berichtigen; nur in Bezug auf seine eigene Sendung wollte er sie aufklären. Er<br />

benutzte dazu dasselbe Bild, das auch <strong>de</strong>r Täufer in seinem Zeugnis von sich und Jesus<br />

gebraucht hatte. Johannes hatte gesagt: „Wer die Braut hat, <strong>de</strong>r ist <strong>de</strong>r Bräutigam; <strong>de</strong>r Freund<br />

aber <strong>de</strong>s Bräutigams steht und hört ihm zu und freut sich hoch über <strong>de</strong>s Bräutigams Stimme.<br />

<strong>Die</strong>se meine Freu<strong>de</strong> ist nun erfüllt.“ Johannes 3,29. <strong>Die</strong> Jünger <strong>de</strong>s Johannes konnten nicht<br />

umhin, an diese Worte ihres Lehrers zu <strong>de</strong>nken, als Jesus dieses Bild aufgriff und erwi<strong>de</strong>rte:<br />

„Wie können die Hochzeitleute fasten, während <strong>de</strong>r Bräutigam bei ihnen ist?“ Markus 2,19. Der<br />

Fürst <strong>de</strong>s Himmels befand sich unter seinem Volk. Gottes größte Gabe war <strong>de</strong>r Welt geschenkt<br />

wor<strong>de</strong>n. Wohl <strong>de</strong>n Armen; <strong>de</strong>nn Jesus war gekommen, sie zu Erben seines Reiches zu machen.<br />

Wohl <strong>de</strong>n Reichen; <strong>de</strong>nn er lehrte sie, wie sie sich ewiger Reichtümer versichern könnten. Wohl<br />

<strong>de</strong>n Einfältigen; er wür<strong>de</strong> sie klug zur Seligkeit machen. Wohl <strong>de</strong>n Gelehrten; Jesus wollte<br />

ihnen tiefere Geheimnisse offenbaren, als sie je ergrün<strong>de</strong>t hatten. Wahrheiten, die von Anbeginn<br />

<strong>de</strong>r Welt verborgen gewesen waren, sollten durch das Wirken <strong>de</strong>s Erlösers <strong>de</strong>n Menschen<br />

verständlich wer<strong>de</strong>n.<br />

Johannes <strong>de</strong>r Täufer hatte sich glücklich geschätzt, <strong>de</strong>n Heiland zu sehen. Welch ein Anlaß<br />

zur Freu<strong>de</strong> war es doch für die Jünger, die mit <strong>de</strong>r himmlischen Majestät wan<strong>de</strong>ln und sprechen<br />

durften! Wie sollten sie da klagen und fasten! Sie mußten ihre Herzen für das Licht seiner<br />

Herrlichkeit öffnen, damit sie über alle, die in <strong>de</strong>r Finsternis und im Schatten <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s lebten,<br />

dieses Licht verbreiten konnten. <strong>Die</strong> Worte <strong>Christi</strong> entrollten ein prächtiges Bild, über <strong>de</strong>m ein<br />

dunkler Schatten lag, <strong>de</strong>n nur seine Augen wahrnehmen konnten. Er sagte: „Es wird aber die<br />

Zeit kommen, daß <strong>de</strong>r Bräutigam von ihnen genommen wird; dann wer<strong>de</strong>n sie fasten, an jenem<br />

Tage.“ Markus 2,20. Angesichts ihres verratenen und gekreuzigten Herrn wür<strong>de</strong>n die Jünger<br />

klagen und fasten. In seinen letzten Worten, die er nach <strong>de</strong>m Abendmahl an sie richtete, heißt<br />

es: „Über ein kleines, dann wer<strong>de</strong>t ihr mich nicht sehen; und abermals über ein kleines, dann<br />

wer<strong>de</strong>t ihr mich sehen. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr wer<strong>de</strong>t weinen und heulen, aber<br />

die Welt wird sich freuen; ihr wer<strong>de</strong>t traurig sein, doch eure Traurigkeit soll in Freu<strong>de</strong> verkehrt<br />

wer<strong>de</strong>n.“ Johannes 16,19.20.<br />

Sobald <strong>de</strong>r Herr aus <strong>de</strong>m Grab hervorträte, wür<strong>de</strong> sich ihre Traurigkeit in Freu<strong>de</strong><br />

verwan<strong>de</strong>ln. Nach seiner Himmelfahrt sollte er als Person abwesend sein. Durch <strong>de</strong>n Tröster<br />

wür<strong>de</strong> er sie jedoch ständig begleiten. Deshalb sollten sie ihre Zeit nicht mit Trauern zubringen.<br />

Aber gera<strong>de</strong> dies wünschte Satan. Sie sollten <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>n Eindruck vermitteln, betrogen und<br />

enttäuscht wor<strong>de</strong>n zu sein. Im Glauben sollten sie aufschauen zum himmlischen Heiligtum, wo<br />

Jesus für sie seinespriesterlichen Amtes waltete. Sie sollten <strong>de</strong>m Heiligen Geist, seinem<br />

181


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Stellvertreter, ihre Herzen öffnen und sich an <strong>de</strong>m Glanz seiner Gegenwart erfreuen. Doch Tage<br />

<strong>de</strong>r Anfechtung und Heimsuchung wür<strong>de</strong>n über sie kommen, wenn <strong>de</strong>r Kampf mit <strong>de</strong>n<br />

Herrschern dieser Welt und <strong>de</strong>n Anführern <strong>de</strong>s Reiches <strong>de</strong>r Finsternis ausbrechen wird. Wenn<br />

Christus dann nicht mehr persönlich bei ihnen weilt, sie aber versäumten, <strong>de</strong>n Tröster zu<br />

erkennen, dann allerdings wer<strong>de</strong>n sie unbedingt fasten müssen.<br />

Durch strenge Befolgung religiöser Formen trachteten die Pharisäer sich selbst zu erhöhen,<br />

während ihre Herzen voll Mißgunst und Streitsucht waren. In <strong>de</strong>r Heiligen Schrift heißt es:<br />

„Siehe, wenn ihr fastet, ha<strong>de</strong>rt und zankt ihr und schlagt mit gottloser Faust drein. Ihr sollt nicht<br />

so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure Stimme in <strong>de</strong>r Höhe gehört wer<strong>de</strong>n soll. Soll das ein<br />

Fasten sein, an <strong>de</strong>m ich Gefallen habe, ein Tag, an <strong>de</strong>m man sich kasteit, wenn ein Mensch<br />

seinen Kopf hängen läßt wie Schilf und in Sack und Asche sich bettet: Wollt ihr das ein Fasten<br />

nennen und einen Tag, an <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Herr Wohlgefallen hat?“ Jesaja 58,4.5.<br />

Wahres Fasten ist nicht nur ein äußerlicher <strong>Die</strong>nst. <strong>Die</strong> Schrift bezeichnet als gottgewolltes<br />

Fasten: „Laß los, die du mit Unrecht gebun<strong>de</strong>n hast, laß ledig, auf die du das Joch gelegt hast!<br />

Gib frei, die du bedrückst, reiß je<strong>de</strong>s Joch weg!“ Laß „<strong>de</strong>n Hungrigen <strong>de</strong>in Herz fin<strong>de</strong>n“ und<br />

sättige „<strong>de</strong>n Elen<strong>de</strong>n“. Jesaja 58,6.10. Hierin kommt <strong>de</strong>r wahre Geist und Charakter <strong>de</strong>s<br />

<strong>Die</strong>nstes <strong>Christi</strong> zum Ausdruck. Sein ganzes Leben war freiwillige Hingabe zur Rettung <strong>de</strong>r<br />

Welt. Ob er in <strong>de</strong>r Wüste an <strong>de</strong>r Stätte <strong>de</strong>r Versuchung fastete o<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>n Zöllnern beim Fest<br />

<strong>de</strong>s Matthäus aß, er gab sein Leben für die Rettung <strong>de</strong>r Verlorenen. Wahre Frömmigkeit zeigt<br />

sich nicht in unnützem Trauern, in leiblicher Erniedrigung und in ungezählten Opfern, son<strong>de</strong>rn<br />

in <strong>de</strong>r Hingabe <strong>de</strong>s Ich‘s an einen bereitwilligen <strong>Die</strong>nst für Gott und die Menschen. Jesus<br />

ergänzte seine Antwort an die Johannesjünger mit einem Gleichnis: „Niemand reißt einen<br />

Lappen von einem neuen Kleid und flickt ihn auf ein altes Kleid; sonst zerreißt er das neue, und<br />

<strong>de</strong>r Lappen vom neuen paßt nicht auf das alte.“ Lukas 5,36. <strong>Die</strong> Botschaft Johannes <strong>de</strong>s Täufers<br />

durfte nicht mit Überlieferung und Aberglaube verquickt wer<strong>de</strong>n. Ein Versuch, die Anmaßung<br />

<strong>de</strong>r Pharisäer mit <strong>de</strong>r Frömmigkeit <strong>de</strong>s Johannes zu vermischen, ließe die Kluft zwischen ihnen<br />

nur noch <strong>de</strong>utlicher hervortreten.<br />

Auch die Grundbegriffe <strong>de</strong>r Lehren <strong>Christi</strong> konnten mit <strong>de</strong>m Formengeist <strong>de</strong>s Pharisäismus<br />

nicht in Einklang gebracht wer<strong>de</strong>n. Christus sollte nicht etwa die durch die Lehren <strong>de</strong>s Johannes<br />

aufgerissene Lücke schließen, vielmehr wollte er das Trennen<strong>de</strong> zwischen <strong>de</strong>m alten und <strong>de</strong>m<br />

neuen ver<strong>de</strong>utlichen. <strong>Die</strong>se Tatsache veranschaulichte Jesus mit <strong>de</strong>n Worten: „Niemand füllt<br />

jungen Wein in alte Schläuche; sonst zerreißt <strong>de</strong>r junge Wein die Schläuche und wird<br />

verschüttet, und die Schläuche kommen um.“ Lukas 5,37. Man verwandte die Le<strong>de</strong>rschläuche<br />

zur Aufbewahrung <strong>de</strong>s neuen Weines. Nach einer gewissen Zeit wur<strong>de</strong>n sie trocken und<br />

brüchig. Es war sinnlos, sie weiterhin für <strong>de</strong>n gleichen Zweck zu verwen<strong>de</strong>n. Mit diesem<br />

alltäglichen Beispiel verglich Jesus <strong>de</strong>n Zustand <strong>de</strong>r jüdischen Führer. Priester, Schriftgelehrte<br />

und Oberste verharrten in <strong>de</strong>m alten Trott <strong>de</strong>r Überlieferungen und Zeremonien. Ihre Herzen<br />

waren hart gewor<strong>de</strong>n wie die ausgedörrten Weinschläuche, mit <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Herr sie verglich. Da<br />

sie sich mit einer Gesetzesreligion begnügten, konnten sie unmöglich Gefäße <strong>de</strong>r lebendigen,<br />

himmlischen Wahrheit wer<strong>de</strong>n.<br />

182


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Sie hielten ihre eigene Gerechtigkeit für völlig ausreichend und wünschten nicht, daß ihrer<br />

Religion auch nur ein neues Glaubenskörnchen hinzugefügt wer<strong>de</strong>. <strong>Die</strong> guten Absichten Gottes<br />

für die Menschen nahmen sie für sich selbst als eine Selbstverständlichkeit hin. Sie verban<strong>de</strong>n<br />

sie mit ihrem eigenen Verdienst — auf Grund ihrer guten Werke. Der Glaube, <strong>de</strong>r durch Liebe<br />

tätig ist und das Herz reinigt, fand keinen Platz in <strong>de</strong>r Religion <strong>de</strong>r Pharisäer; <strong>de</strong>nn diese<br />

Religion bestand aus frommen Zeremonien und Menschengeboten. Alle Bemühungen, die<br />

Lehren Jesu mit <strong>de</strong>r überkommenen Religion zu vereinen, mußten fehlschlagen. <strong>Die</strong> lebendige<br />

göttliche Wahrheit mußte, <strong>de</strong>m gären<strong>de</strong>n Wein gleich, die alten, verrotteten Schläuche<br />

pharisäischer Überlieferung zum Bersten bringen.<br />

<strong>Die</strong> Pharisäer dünkten sich für zu weise, um belehrt zu wer<strong>de</strong>n, für zu gerecht, um Erlösung<br />

zu empfangen, für zu hochgeehrt, um <strong>de</strong>r Ehre zu bedürfen, die von Jesus Christus kommt. Der<br />

Heiland wandte sich von ihnen ab, um an<strong>de</strong>re zu suchen, die die Botschaft <strong>de</strong>s Himmels<br />

annehmen wür<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>n ungebil<strong>de</strong>ten Fischern, <strong>de</strong>m Zöllner am Markt, <strong>de</strong>r Frau aus Samaria<br />

und in <strong>de</strong>m einfachen Volk, das ihm freudig zuhörte, fand er seine neuen Gefäße für <strong>de</strong>n neuen<br />

Wein. Werkzeuge im <strong>Die</strong>nste <strong>de</strong>r Evangeliumsverkündigung sind jene Menschen, die mit<br />

Freu<strong>de</strong>n das ihnen von Gott gesandte Licht aufnehmen. Sie sind seine Botschafter, die <strong>de</strong>r Welt<br />

die Wahrheit mitteilen sollen. Wenn die Christusgläubigen durch seine Gna<strong>de</strong> neue Gefäße<br />

wer<strong>de</strong>n, wird er sie mit neuem Wein füllen.<br />

Obwohl die Predigt <strong>Christi</strong> mit neuem Wein verglichen wur<strong>de</strong>, war sie doch keine neue<br />

Lehre, son<strong>de</strong>rn nur die Offenbarung <strong>de</strong>ssen, was von Anfang an verkündigt wor<strong>de</strong>n war. Doch<br />

für die Pharisäer hatte Gottes Wahrheit ihre ursprüngliche Be<strong>de</strong>utung und Schönheit verloren.<br />

Daher war <strong>Christi</strong> Lehre für sie in fast je<strong>de</strong>r Hinsicht neu. Sie wur<strong>de</strong> we<strong>de</strong>r anerkannt noch<br />

beherzigt. Jesus verwies auf die Macht falscher Lehre, die imstan<strong>de</strong> ist, die Wertschätzung <strong>de</strong>r<br />

Wahrheit und das Verlangen nach ihr auszutilgen. „Niemand“, so sagte er, „<strong>de</strong>r vom alten<br />

trinkt, will neuen; <strong>de</strong>nn er spricht: Der alte ist mil<strong>de</strong>r.“ Lukas 5,39. Je<strong>de</strong> Wahrheit, die <strong>de</strong>r Welt<br />

durch die Patriarchen und Propheten gegeben wur<strong>de</strong>, erstrahlte in <strong>de</strong>n Worten <strong>Christi</strong> zu neuer<br />

Schönheit. <strong>Die</strong> Schriftgelehrten und Pharisäer hatten jedoch kein Verlangen nach <strong>de</strong>m<br />

köstlichen neuen Wein. Bevor sie sich nicht <strong>de</strong>r alten Überlieferungen, Gewohnheiten und<br />

Bräuche entledigten, war für die Lehren <strong>Christi</strong> we<strong>de</strong>r in ihrem Herzen noch in ihrem Verstand<br />

Platz. Sie klammerten sich an tote Formen und wandten sich von <strong>de</strong>r lebendigen Wahrheit und<br />

<strong>de</strong>r Kraft Gottes ab.<br />

<strong>Die</strong>s bewies <strong>de</strong>n Verfall <strong>de</strong>s jüdischen Volkes, und auch in unserer Zeit bestätigt es das<br />

Scheitern vieler Menschen. Tausen<strong>de</strong> begehen <strong>de</strong>n gleichen Fehler wie die Pharisäer, die <strong>Christi</strong><br />

Teilnahme am Fest <strong>de</strong>s Matthäus mißbilligten. Viele wi<strong>de</strong>rstreben <strong>de</strong>r Wahrheit, die vom Vater<br />

<strong>de</strong>s Lichts herabkommt, statt eine liebgewonnene I<strong>de</strong>e aufzugeben o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Götzen ihrer<br />

vorgefaßten Meinung zu stürzen. Sie vertrauen <strong>de</strong>m eigenen Ich, stützen sich auf ihre eigene<br />

Klugheit und gestehen sich ihre geistliche Armut nicht ein. Sie dringen darauf, in einer Weise<br />

erlöst zu wer<strong>de</strong>n, zu <strong>de</strong>r sie durch ein be<strong>de</strong>utsames Werk beitragen können. Wenn sie<br />

feststellen, daß sie sich an <strong>de</strong>m Heilswirken Jesu nicht beteiligen können, weisen sie die<br />

Erlösung zurück.<br />

183


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Ein Gesetzesglaube kann niemals Menschen zu Christus führen; <strong>de</strong>nn er ist ohne Liebe und<br />

ohne Christus. In Gottes Augen sind Fasten und Beten, in selbstgerechtem Geist geübt,<br />

verabscheuungswürdig. <strong>Die</strong> feierliche Zusammenkunft zum Gottesdienst, <strong>de</strong>r Ablauf <strong>de</strong>r<br />

religiösen Handlungen, die zur Schau gestellte Demut und die großartige Opfergabe kün<strong>de</strong>n<br />

davon, daß <strong>de</strong>r Täter dieser Werke sich selbst für gerecht hält und einen Anspruch auf das<br />

Himmelreich habe. Welch eine Täuschung! Mit unseren eigenen Werken können wir uns<br />

niemals die Seligkeit erkaufen.<br />

Heute ist es genau wie in <strong>de</strong>n Tagen <strong>Christi</strong>. <strong>Die</strong> Pharisäer kennen ihre geistliche Armut<br />

nicht. Doch an sie ergeht die folgen<strong>de</strong> Botschaft: „Du sprichst: Ich bin reich und habe gar satt<br />

und bedarf nichts! und weißt nicht, daß du bist elend und jämmerlich, arm, blind und bloß. Ich<br />

rate dir, daß du Gold von mir kaufest, das mit Feuer durchläutert ist, daß du reich wer<strong>de</strong>st, und<br />

weiße Klei<strong>de</strong>r, daß du dich antust und nicht offenbar wer<strong>de</strong> die Schan<strong>de</strong> <strong>de</strong>iner<br />

Blöße.“ Offenbarung 3,17.18. Glaube und Liebe sind das im Feuer geläuterte Gold. Für viele<br />

büßte das Gold jedoch seinen Glanz ein, und <strong>de</strong>r reiche Vorrat ging verloren. Ihnen be<strong>de</strong>utet die<br />

Gerechtigkeit <strong>Christi</strong> soviel wie ein ungetragenes Kleid und eine ungenutzte Quelle. Ihnen wird<br />

gesagt: „Ich habe wi<strong>de</strong>r dich, daß du die erste Liebe verlässest. Ge<strong>de</strong>nke, wovon du gefallen<br />

bist, und tue Buße und tue die ersten Werke. Wo aber nicht, wer<strong>de</strong> ich über dich kommen und<br />

<strong>de</strong>inen Leuchter wegstoßen von seiner Stätte, wenn du nicht Buße tust.“ Offenbarung 2,4.5.<br />

„<strong>Die</strong> Opfer, die Gott gefallen, sind ein geängsteter Geist, ein geängstetes, zerschlagenes Herz<br />

wirst du, Gott, nicht verachten.“ Psalm 51,19. Bevor jemand im wahrsten Sinne <strong>de</strong>s Wortes ein<br />

Christusgläubiger zu sein vermag, muß er von seinem Ich frei sein. Nur aus einem Menschen,<br />

<strong>de</strong>r seinem Ich entsagt hat, kann <strong>de</strong>r Herr eine neue Kreatur schaffen. Neue „Schläuche“ können<br />

dann mit „neuem Wein“ gefüllt wer<strong>de</strong>n. So beseelt die Liebe <strong>Christi</strong> <strong>de</strong>n Gläubigen mit neuem<br />

Leben. In je<strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n Anfänger und Vollen<strong>de</strong>r unseres Glaubens blickt, wird das Wesen<br />

<strong>Christi</strong> offenbar wer<strong>de</strong>n.<br />

184


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 29: Der Sabbat<br />

Der Sabbat wur<strong>de</strong> bei <strong>de</strong>r Schöpfung geheiligt. Für <strong>de</strong>n Menschen gemacht, hatte er seinen<br />

Ursprung, „als mich die Morgensterne miteinan<strong>de</strong>r lobten und jauchzten alle<br />

Gottessöhne“. Hiob 38,7. Frie<strong>de</strong>n erfüllte die Welt; <strong>de</strong>nn die Er<strong>de</strong> stand mit <strong>de</strong>m Himmel in<br />

Einklang. „Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.“ 1.Mose 1,31. Da<br />

ruhte er voll Freu<strong>de</strong> über das gelungene Werk. „Gott segnete <strong>de</strong>n siebenten Tag und heiligte<br />

ihn.“ 1.Mose 2,3. Er son<strong>de</strong>rte ihn ab zu heiligem <strong>Die</strong>nst, „weil er an ihm ruhte von allen seinen<br />

Werken“. 1.Mose 2,3. Er gab ihn Adam als Ruhetag. Er war ein Gedächtnistag <strong>de</strong>r göttlichen<br />

Schöpfung und daher ein Zeichen <strong>de</strong>r Macht und Liebe Gottes. <strong>Die</strong> Heilige Schrift sagt: „Er hat<br />

ein Gedächtnis gestiftet seiner Wun<strong>de</strong>r.“ Psalm 111,4. „Gottes unsichtbares Wesen, das ist seine<br />

ewige Kraft und Gottheit, wird ersehen seit <strong>de</strong>r Schöpfung <strong>de</strong>r Welt und wahrgenommen an<br />

seinen Werken, so daß sie keine Entschuldigung haben.“ Römer 1,20.<br />

Alle Dinge wur<strong>de</strong>n durch <strong>de</strong>n Sohn Gottes geschaffen. „Im Anfang war das Wort, und das<br />

Wort war bei Gott ... Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts<br />

gemacht, was gemacht ist.“ Johannes 1,1-3. Und da <strong>de</strong>r Sabbat ein Gedächtnistag <strong>de</strong>r<br />

Schöpfung ist, ist er ein Zeichen <strong>de</strong>r Liebe und <strong>de</strong>r Macht <strong>Christi</strong>. Der Sabbat lenkt unsere<br />

Gedanken auf die Natur und bringt uns in Verbindung mit <strong>de</strong>m Schöpfer. Im Gesang <strong>de</strong>r Vögel,<br />

im Rauschen <strong>de</strong>r Bäume, im plätschern <strong>de</strong>r Wellen können wir noch die Stimme <strong>de</strong>ssen hören,<br />

<strong>de</strong>r mit Adam in <strong>de</strong>r Kühle <strong>de</strong>s Tages re<strong>de</strong>te. In<strong>de</strong>m wir die Kraft Gottes in <strong>de</strong>r Natur<br />

wahrnehmen, fin<strong>de</strong>n wir reichen Trost; <strong>de</strong>nn das Wort, das alle Dinge schuf, gibt auch unserer<br />

Seele Leben. Er, „<strong>de</strong>r da hieß das Licht aus <strong>de</strong>r Finsternis hervorleuchten, <strong>de</strong>r hat einen hellen<br />

Schein in unsre Herzen gegeben, daß durch uns entstün<strong>de</strong> die Erleuchtung zur Erkenntnis <strong>de</strong>r<br />

Herrlichkeit Gottes in <strong>de</strong>m Angesicht Jesu <strong>Christi</strong>“. 2.Korinther 4,6. Darum singt <strong>de</strong>r<br />

Psalmist: „Herr, du lässest mich fröhlich singen von <strong>de</strong>inen Werken, und ich rühme die Taten<br />

<strong>de</strong>iner Hän<strong>de</strong>. Herr, wie sind <strong>de</strong>ine Werke so groß! Deine Gedanken sind sehr tief.“ Psalm<br />

92,5.6.<br />

Der Heilige Geist erklärt durch <strong>de</strong>n Propheten Jesaja: „Mit wem wollt ihr <strong>de</strong>nn Gott<br />

vergleichen? O<strong>de</strong>r was für ein Abbild wollt ihr von ihm machen? ... Wißt ihr <strong>de</strong>nn nicht? Hört<br />

ihr <strong>de</strong>nn nicht? Ist‘s euch nicht von Anfang an verkündigt? Habt ihr‘s nicht gelernt von<br />

Anbeginn <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>? Er thront über <strong>de</strong>m Kreis <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>, und die darauf wohnen, sind wie<br />

Heuschrecken; er spannt <strong>de</strong>n Himmel aus wie einen Schleier und breitet ihn aus wie ein Zelt, in<br />

<strong>de</strong>m man wohnt ... Mit wem wollt ihr mich also vergleichen, <strong>de</strong>m ich gleich sei? spricht <strong>de</strong>r<br />

Heilige ... Hebet eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat dies geschaffen? Er führt ihr Heer<br />

vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen; seine Macht und starke Kraft ist so groß, daß<br />

nicht eins von ihnen fehlt. Warum sprichst du <strong>de</strong>nn, Jakob, und du, Israel, sagst: Mein Weg ist<br />

<strong>de</strong>m Herrn verborgen, und mein Recht geht vor meinem Gott vorüber: Weißt du nicht? Hast du<br />

nicht gehört? Der Herr, <strong>de</strong>r ewige Gott, <strong>de</strong>r die En<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> geschaffen hat, wird nicht mü<strong>de</strong><br />

noch matt, sein Verstand ist unausforschlich. Er gibt <strong>de</strong>m Mü<strong>de</strong>n Kraft und Stärke genug <strong>de</strong>m<br />

Unvermögen<strong>de</strong>n.“ Jesaja 40,18-29. — „Fürchte dich nicht, ich bin mit dir, weiche nicht, <strong>de</strong>nn<br />

ich bin <strong>de</strong>in Gott. Ich stärke dich, ich helfe dir auch, ich halte dich durch die rechte Hand<br />

185


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

meiner Gerechtigkeit.“ Jesaja 41,10. — „Wen<strong>de</strong>t euch zu mir, so wer<strong>de</strong>t ihr gerettet, aller Welt<br />

En<strong>de</strong>n; <strong>de</strong>nn ich bin Gott, und sonst keiner mehr.“ Jesaja 45,22. <strong>Die</strong>s ist die Botschaft, die in<br />

<strong>de</strong>r Schöpfung nie<strong>de</strong>rgelegt wur<strong>de</strong> und die durch <strong>de</strong>n Sabbat wachgehalten wird. Bei <strong>de</strong>m<br />

Sabbatgebot an Israel sagte <strong>de</strong>r Herr: „Meine Sabbate sollt ihr heiligen, daß sie ein Zeichen<br />

seien zwischen mir und euch, damit ihr wißt, daß ich, <strong>de</strong>r Herr, euer Gott bin.“ Hesekiel 20,20.<br />

Der Sabbat war in <strong>de</strong>m auf Sinai gegebenen Gesetz eingeschlossen; aber er wur<strong>de</strong> nicht erst<br />

damals als Ruhetag verkündigt. Das Volk Israel besaß schon die Erkenntnis dieses Tages, ehe<br />

es nach Sinai kam; <strong>de</strong>nn auf <strong>de</strong>m Wege dahin wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Sabbat gehalten. Als einige diesen<br />

geweihten Tag entheiligten, ta<strong>de</strong>lte sie Gott und sagte: „Wie lange weigert ihr euch, meine<br />

Gebote und Weisungen zu halten?“ 2.Mose 16,28.<br />

Nicht nur für Israel war <strong>de</strong>r Sabbat gegeben, son<strong>de</strong>rn für die ganze Welt. Schon im Paradies<br />

hatte Gott ihn <strong>de</strong>n Menschen verkün<strong>de</strong>t, und gleich <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn Vorschriften <strong>de</strong>s Gesetzes ist<br />

seine Gültigkeit unvergänglich. Von <strong>de</strong>m Gesetz, zu <strong>de</strong>m das vierte Gebot gehört, erklärt<br />

Christus: „Bis daß Himmel und Er<strong>de</strong> vergehe, wird nicht vergehen <strong>de</strong>r kleinste Buchstabe noch<br />

ein Tüpfelchen vom Gesetz.“ Matthäus 5,18. Solange Himmel und Er<strong>de</strong> bestehen, wird <strong>de</strong>r<br />

Sabbat immer ein Zeichen <strong>de</strong>r Macht <strong>de</strong>s Schöpfers sein. Und wenn auf Er<strong>de</strong>n das Paradies<br />

wie<strong>de</strong>r erblühen wird, dann wird auch Gottes heiliger Ruhetag von allen, die unter <strong>de</strong>r Sonne<br />

leben, gefeiert wer<strong>de</strong>n. „Einen Sabbat nach <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>rn“ wer<strong>de</strong>n die Bewohner <strong>de</strong>r gereinigten<br />

neuen Er<strong>de</strong> „kommen, um vor mir anzubeten, spricht <strong>de</strong>r Herr“. Jesaja 66,23.<br />

Keine an<strong>de</strong>re Einrichtung, die <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n anvertraut war, zeichnete sie so sehr vor <strong>de</strong>n<br />

umliegen<strong>de</strong>n Völkern aus wie gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Sabbat. Gott wollte, daß die Feier dieses Tages sie als<br />

seine Anbeter kennzeichne. Der Sabbat sollte ein äußeres Zeichen ihrer Trennung vom<br />

Götzendienst sowie ihrer Verbindung mit <strong>de</strong>m wahren Gott sein. Um aber <strong>de</strong>n Sabbat heiligen<br />

zu können, müssen die Menschen selbst heilig sein und durch <strong>de</strong>n Glauben Teilhaber <strong>de</strong>r<br />

Gerechtigkeit <strong>Christi</strong> wer<strong>de</strong>n. Als <strong>de</strong>n Israeliten das Gebot gegeben wur<strong>de</strong>: „Ge<strong>de</strong>nke <strong>de</strong>s<br />

Sabbattages, daß du ihn heiligest“, sagte <strong>de</strong>r Herr auch zu ihnen: „Ihr sollt mir heilige Leute<br />

sein.“ 2.Mose 20,8; 2.Mose 22,30. Nur so konnte <strong>de</strong>r Sabbat die Israeliten als Anbeten<strong>de</strong> Gottes<br />

kennzeichnen.<br />

Als die Ju<strong>de</strong>n von Gott abwichen und sich dadurch selbst um die Gerechtigkeit <strong>Christi</strong><br />

brachten, verlor <strong>de</strong>r Sabbat für sie seine Be<strong>de</strong>utung. Satan versuchte sich zu erhöhen und die<br />

Menschen von Christus abspenstig zu machen. Er strebte danach, <strong>de</strong>n Sabbat zu än<strong>de</strong>rn, weil<br />

dieser das Zeichen <strong>de</strong>r Macht <strong>Christi</strong> ist. <strong>Die</strong> Führer Israels han<strong>de</strong>lten nach <strong>de</strong>m Willen Satans,<br />

in<strong>de</strong>m sie <strong>de</strong>n Sabbat mit bedrücken<strong>de</strong>n Menschensatzungen umzäunten. Zur Zeit <strong>Christi</strong> war<br />

<strong>de</strong>r Sabbat so verfälscht wor<strong>de</strong>n, daß er mehr <strong>de</strong>m Charakter selbstsüchtiger, willkürlich<br />

han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>r Menschen glich, als daß er das Wesen eines lieben<strong>de</strong>n Gottes und Vaters<br />

wi<strong>de</strong>rspiegelte. <strong>Die</strong> Rabbiner bezeichneten Gott im Grun<strong>de</strong> genommen als ein Wesen, das<br />

Gesetze erließ, die zu halten Menschen unmöglich war. Sie veranlaßten das Volk, Gott als einen<br />

Tyrannen anzusehen und zu glauben, daß die Beachtung <strong>de</strong>s Sabbats, wie sie von Gott verlangt<br />

wer<strong>de</strong>, die Menschen hartherzig und grausam mache. Es war <strong>Christi</strong> Aufgabe, diese falschen<br />

Begriffe zu beseitigen. Obgleich er von <strong>de</strong>n Rabbinern mit schonungsloser Feindschaft verfolgt<br />

186


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

wur<strong>de</strong>, bemühte er sich nicht im geringsten, ihren For<strong>de</strong>rungen zu entsprechen, son<strong>de</strong>rn feierte<br />

vielmehr <strong>de</strong>n Sabbat in Übereinstimmung mit <strong>de</strong>m Gesetz Gottes.<br />

Als <strong>de</strong>r Heiland und seine Jünger an einem Sabbat von <strong>de</strong>m Ort <strong>de</strong>r Anbetung<br />

zurückkehrten, gingen sie durch ein reifen<strong>de</strong>s Kornfeld. Jesus hatte seinen <strong>Die</strong>nst an diesem<br />

Sabbat bis zum Abend ausge<strong>de</strong>hnt, und als sie nun durch das Feld gingen, pflückten die Jünger<br />

einige Kornähren, rieben sie zwischen <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n und aßen die Körner. An keinem an<strong>de</strong>rn<br />

Tage hätte dies irgendwelches Aufsehen erregt; <strong>de</strong>nn es war gestattet, beim Durchschreiten<br />

eines Kornfel<strong>de</strong>s, eines Obst- o<strong>de</strong>r Weingartens beliebig viel Früchte zu pflücken und zu<br />

genießen. Nur an einem Sabbat war so etwas nicht erlaubt, ja, es wur<strong>de</strong> sogar als<br />

Sabbatschändung betrachtet. Nicht nur das Pflücken war eine Art Ernte, son<strong>de</strong>rn auch das<br />

Reiben zwischen <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n galt gewissermaßen als ein Dreschen <strong>de</strong>r Frucht. So wur<strong>de</strong> die<br />

Tat <strong>de</strong>r Jünger von <strong>de</strong>n Rabbinern als doppelte Übertretung <strong>de</strong>s Sabbatgebotes bezeichnet.<br />

<strong>Die</strong> schnüffeln<strong>de</strong>n Spione <strong>de</strong>r Rabbiner beklagten sich bei Jesus und sagten: „Siehe, <strong>de</strong>ine<br />

Jünger tun, was am Sabbat nicht erlaubt ist.“ Matthäus 12,2. Als Jesus selbst einmal am Teich<br />

Bethesda <strong>de</strong>r Sabbatschändung beschuldigt wur<strong>de</strong>, verteidigte er sich mit <strong>de</strong>r Bezeugung, <strong>de</strong>r<br />

Sohn Gottes zu sein und in Einklang mit <strong>de</strong>m himmlischen Vater zu han<strong>de</strong>ln. Jetzt, da seine<br />

Jünger angegriffen wur<strong>de</strong>n, verwies er die Ankläger auf Beispiele aus <strong>de</strong>m Alten Testament, auf<br />

Handlungen, die am Sabbat von solchen Personen vorgenommen wor<strong>de</strong>n waren, die im <strong>Die</strong>nste<br />

Gottes stan<strong>de</strong>n.<br />

<strong>Die</strong> jüdischen Lehrer rühmten sich ihrer Kenntnis <strong>de</strong>r heiligen Schriften; in <strong>de</strong>s Heilands<br />

Antwort lag jedoch ein Vorwurf hinsichtlich ihrer Unwissenheit <strong>de</strong>r Schriften. „Habt ihr nicht<br />

gelesen“, sagte er zu ihnen, „was David tat, da ihn und die mit ihm waren, hungerte: wie er in<br />

das Gotteshaus ging und aß die Schaubrote, die er doch nicht durfte essen noch die, die mit ihm<br />

waren, son<strong>de</strong>rn allein die Priester?“ Matthäus 12,3.4. „Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist<br />

um <strong>de</strong>s Menschen willen gemacht, und nicht <strong>de</strong>r Mensch um <strong>de</strong>s Sabbats willen.“ Markus 2,27.<br />

— „Habt ihr nicht gelesen im Gesetz, wie die Priester am Sabbat im Tempel <strong>de</strong>n Sabbat<br />

brechen und sind doch ohne Schuld? Ich sage euch aber: Hier ist Größeres als <strong>de</strong>r Tempel ...<br />

Des Menschen Sohn ist ein Herr auch über <strong>de</strong>n Sabbat.“ Matthäus 12,5.6.8.<br />

Wenn es David erlaubt war, von <strong>de</strong>n Broten im Tempel, die doch für einen heiligen Zweck<br />

bestimmt waren, zu essen, um seinen Hunger zu stillen, dann war es auch kein Unrecht von <strong>de</strong>n<br />

Jüngern, wenn sie am heiligen Sabbattag Ähren ausrauften, um davon zu essen und ihren<br />

Hunger zu stillen. Außer<strong>de</strong>m hatten die Priester am Sabbat mehr zu tun als an an<strong>de</strong>ren Tagen;<br />

dieselbe Arbeit zu weltlichen Zwecken wäre sündhaft gewesen, doch das Wirken <strong>de</strong>r Priester<br />

geschah im <strong>Die</strong>nste Gottes. Sie übten jene Gebräuche, die auf die erlösen<strong>de</strong> Kraft <strong>Christi</strong><br />

hinwiesen, und ihr <strong>Die</strong>nst war in Übereinstimmung mit <strong>de</strong>m Sinn und Ziel <strong>de</strong>s Sabbats. Nun<br />

aber war Christus selbst gekommen, und die Jünger, die seinen Auftrag ausführten, waren im<br />

<strong>Die</strong>nste Gottes tätig; alles, was zur Erfüllung dieses Auftrages notwendig war, durfte von ihnen<br />

auch am Sabbat getan wer<strong>de</strong>n.<br />

187


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Christus wollte seinen Jüngern und auch seinen Gegnern zeigen, daß <strong>de</strong>r <strong>Die</strong>nst für <strong>de</strong>n<br />

Herrn allem an<strong>de</strong>rn vorgehen sollte. Das Werk Gottes in dieser Welt ist auf die Erlösung <strong>de</strong>r<br />

Menschen gerichtet; <strong>de</strong>shalb steht auch das, was am Sabbat getan wer<strong>de</strong>n muß, um diese<br />

Aufgabe zu för<strong>de</strong>rn, in Einklang mit <strong>de</strong>m Sabbatgebot. <strong>Die</strong>se Lehre betonte <strong>de</strong>r Heiland noch<br />

dadurch, daß er sich „Herr <strong>de</strong>s Sabbats“ nannte, <strong>de</strong>r erhaben ist über alle Zweifel und auch über<br />

das Gesetz. Der ewige Richter sprach die Jünger Jesu von allem Ta<strong>de</strong>l frei, in<strong>de</strong>m er sich gera<strong>de</strong><br />

auf jenes Gesetz berief, <strong>de</strong>ssen Übertretung man sie bezichtigte. Jesus begnügte sich nicht<br />

damit, seinen Gegnern einen Vorwurf zu machen, son<strong>de</strong>rn er erklärte damit, daß sie in ihrer<br />

Blindheit <strong>de</strong>n Sinn <strong>de</strong>s Sabbats verkannt hätten. Er sagte: „Wenn ihr aber wüßtet, was das ist:<br />

‚Ich habe Wohlgefallen an <strong>de</strong>r Barmherzigkeit und nicht am Opfer‘, hättet ihr die Unschuldigen<br />

nicht verdammt.“ Matthäus 12,7. <strong>Die</strong> vielen seelenlosen Zeremonien konnten ihren Mangel an<br />

aufrichtiger Rechtschaffenheit und hingebungsvoller Liebe, die immer <strong>de</strong>n wahren Anbeter<br />

Gottes auszeichnen, nicht ersetzen.<br />

Aufs neue wie<strong>de</strong>rholte Christus die Wahrheit, daß die Opfer, in sich selbst wertlos, nur ein<br />

Mittel, nicht aber die Erfüllung wären. Ihre Aufgabe war es, die Menschen zum Heiland zu<br />

führen und sie dadurch in Übereinstimmung mit Gott zu bringen. Allein <strong>de</strong>n <strong>Die</strong>nst aus Liebe<br />

schätzt Gott; fehlt diese Liebe, dann sind ihm alle Opfer und Formen ein Ärgernis. Genauso ist<br />

es auch mit <strong>de</strong>m Sabbat. <strong>Die</strong>ser war dazu bestimmt, die Gemeinschaft <strong>de</strong>r Menschen mit Gott<br />

herzustellen. Als jedoch das Gemüt <strong>de</strong>r Menschen von lästigen Satzungen in Anspruch<br />

genommen wur<strong>de</strong>, war Gottes Absicht mit <strong>de</strong>m Sabbat durchkreuzt; die rein äußerliche<br />

Beachtung <strong>de</strong>s Sabbats war ein Hohn.<br />

An einem an<strong>de</strong>rn Sabbat sah Jesus beim Betreten einer Synagoge einen Mann mit einer<br />

verdorrten Hand. <strong>Die</strong> Pharisäer beobachteten ihn, begierig zu sehen, was er tun wür<strong>de</strong>. Jesus<br />

wußte wohl, daß er als Übertreter <strong>de</strong>s Gesetzes angesehen wür<strong>de</strong>, wenn er am Sabbat heilte.<br />

Dennoch zögerte er nicht, die Schranken <strong>de</strong>r übernommenen Menschensatzungen, die <strong>de</strong>n<br />

Sabbat umzäunten, nie<strong>de</strong>rzureißen. Er ließ <strong>de</strong>n lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Mann hervortreten und fragte dann:<br />

„Soll man am Sabbat Gutes tun o<strong>de</strong>r Böses tun, Leben erhalten o<strong>de</strong>r töten?“ Markus 3,4. Bei<br />

<strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n herrschte die Regel, daß, wer eine gute Tat unterließ, gleichzeitig eine böse Tat<br />

beging; ein gefähr<strong>de</strong>tes Leben nicht zu retten, be<strong>de</strong>utete, es zu töten. So schlug Jesus die Ju<strong>de</strong>n<br />

mit ihren eigenen Waffen. „Sie aber schwiegen stille. Und er sah sie umher an mit Zorn und<br />

ward betrübt über ihr verstocktes Herz und sprach zu <strong>de</strong>m Menschen: Strecke <strong>de</strong>ine Hand aus!<br />

Und er streckte sie aus; und seine Hand ward gesund.“ Markus 3,4.5.<br />

Als Jesus gefragt wur<strong>de</strong>: „Ist‘s auch recht, am Sabbat zu heilen?“, antwortete er: „Welcher<br />

ist unter euch, wenn er ein einziges Schaf hat und es fällt ihm am Sabbat in eine Grube, <strong>de</strong>r es<br />

nicht ergreife und ihm heraushelfe? Wieviel mehr ist nun ein Mensch als ein Schaf! Darum darf<br />

man wohl am Sabbat Gutes tun.“ Matthäus 12,10-12. <strong>Die</strong> Pharisäer wagten es aus Furcht vor<br />

<strong>de</strong>r Menge nicht, <strong>de</strong>m Herrn zu antworten. Sie wollten sich selbst keine Schwierigkeiten<br />

bereiten. Sie wußten genau, daß er die Wahrheit gesprochen hatte. Lieber wür<strong>de</strong>n sie einen<br />

Menschen seinen Schmerzen überlassen, als ihre Satzungen übertreten. Dagegen befreiten sie<br />

ein Schaf aus seiner Notlage, um <strong>de</strong>m Eigentümer <strong>de</strong>n Verlust zu ersparen. Mithin ließen sie<br />

188


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

einem Tier größere Sorge ange<strong>de</strong>ihen als <strong>de</strong>m Menschen, <strong>de</strong>r doch zum Ebenbild Gottes<br />

geschaffen ist. <strong>Die</strong>s veranschaulicht <strong>de</strong>utlich die Wirkung aller falschen Glaubensrichtungen.<br />

<strong>Die</strong>se entspringen <strong>de</strong>m Verlangen, sich über Gott zu erheben, en<strong>de</strong>n aber darin, daß sie <strong>de</strong>n<br />

Menschen unter das Tier erniedrigen. Je<strong>de</strong> Religion, die sich gegen die oberste Gewalt Gottes<br />

wen<strong>de</strong>t, betrügt <strong>de</strong>n Menschen um die Herrlichkeit, die er bei <strong>de</strong>r Schöpfung besaß, und die ihm<br />

von Christus wie<strong>de</strong>rgegeben wer<strong>de</strong>n soll. Je<strong>de</strong> falsche Religion lehrt ihre Anhänger, gegen die<br />

menschlichen Bedürfnisse, Lei<strong>de</strong>n und Rechte gleichgültig zu sein; das Evangelium aber legt<br />

hohen Wert auf das Menschentum und sieht <strong>de</strong>n Menschen als Erlösten durch das Blut <strong>Christi</strong>,<br />

<strong>de</strong>r in allen Nöten <strong>de</strong>r liebevollsten Aufmerksamkeit wert ist. Der Herr sagt, „daß ein Mann<br />

kostbarer sein soll als Feingold und ein Mensch wertvoller als Goldstücke aus Ophir“. Jesaja<br />

13,12.<br />

Als Jesus sich an die Pharisäer mit <strong>de</strong>r Frage wandte, ob es recht sei, am Sabbat Gutes zu tun<br />

o<strong>de</strong>r Böses, Leben zu retten o<strong>de</strong>r zu töten, stellte er sie ihren eigenen bösen Absichten<br />

gegenüber. Sie trachteten ihm mit bitterem Haß nach <strong>de</strong>m Leben, während er das Leben retten<br />

und <strong>de</strong>n Menschen Glückseligkeit bringen wollte. War es nun besser, am Sabbat zu töten, wie<br />

sie es zu tun beabsichtigten, o<strong>de</strong>r Kranke zu heilen, wie er es getan hatte? Was war gerechter:<br />

alle Menschen zu lieben und dies durch Taten <strong>de</strong>r Barmherzigkeit zu bekun<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r an Gottes<br />

heiligem Tage Mordgedanken im Herzen zu hegen? Durch die Heilung <strong>de</strong>r verdorrten Hand<br />

verurteilte Jesus die Gebräuche <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n und handhabte das Sabbatgebot so, wie Gott es einst<br />

gegeben hatte. „Darum darf man wohl am Sabbat Gutes tun“, sagte er. In<strong>de</strong>m er die sinnlosen<br />

Einschränkungen <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n hinwegräumte, ehrte er das wahre Wesen <strong>de</strong>s Sabbats, während<br />

Jesu Ankläger Gottes heiligen Tag entehrten.<br />

Viele, die die Meinung vertreten, daß Christus das Gesetz abgetan habe, lehren, daß er <strong>de</strong>n<br />

Sabbat brach und sogar die Jünger rechtfertigte, als sie das gleiche taten. Solche Propheten<br />

stellen sich in Wirklichkeit <strong>de</strong>n kritteln<strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n gleich und wi<strong>de</strong>rsprechen <strong>de</strong>m Zeugnis<br />

<strong>Christi</strong> von sich selbst; <strong>de</strong>nn er sagte: Ich halte meines Vaters Gebote und bleibe in seiner<br />

Liebe. Johannes 15,10. We<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Heiland noch seine wahren Nachfolger brachen das<br />

Sabbatgebot. Christus war eine lebendige Verkörperung <strong>de</strong>s Gesetzes, von <strong>de</strong>ssen heiligen<br />

Vorschriften er nicht eine einzige in seinem Leben übertrat. Er blickte auf ein Volk von Zeugen,<br />

die alle eine Gelegenheit suchten, ihn zu verdammen, und er konnte sie unwi<strong>de</strong>rsprochen<br />

fragen: „Welcher unter euch kann mich einer Sün<strong>de</strong> zeihen?“ Johannes 8,46.<br />

Der Heiland war nicht gekommen, die Worte <strong>de</strong>r Patriarchen und Propheten umzustoßen;<br />

<strong>de</strong>nn er selbst hatte durch diese Männer gere<strong>de</strong>t. Alle Wahrheiten <strong>de</strong>s Wortes Gottes kamen von<br />

ihm. Aber all diese unschätzbaren E<strong>de</strong>lsteine waren in eine falsche Fassung gebracht; ihr<br />

köstliches Licht war benutzt wor<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>m Irrtum zu dienen. Gott wünschte, daß sie aus <strong>de</strong>r<br />

Fassung <strong>de</strong>s Irrtums herausgenommen und in <strong>de</strong>n Rahmen <strong>de</strong>r Wahrheit gebracht wür<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong>s<br />

aber konnte nur durch göttliche Hand geschehen. Durch die Verbindung mit <strong>de</strong>m Irrtum hatte<br />

die Wahrheit <strong>de</strong>m Fein<strong>de</strong> Gottes und <strong>de</strong>r Menschen gedient. Nun war Christus gekommen, sie<br />

wie<strong>de</strong>r aufzurichten, damit sie Gott verherrlichen und die Seligkeit <strong>de</strong>r Menschheit schaffen<br />

sollte.<br />

189


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

„Der Sabbat ist um <strong>de</strong>s Menschen willen gemacht, und nicht <strong>de</strong>r Mensch um <strong>de</strong>s Sabbats<br />

willen“, sagt Jesus. <strong>Die</strong> Einrichtungen, die Gott geschaffen hat, dienen <strong>de</strong>m Wohl <strong>de</strong>r<br />

Menschheit. „Es geschieht alles um euretwillen.“ 2.Korinther 4,15. — „Es sei Paulus o<strong>de</strong>r<br />

Apollos o<strong>de</strong>r Kephas, es sei Welt o<strong>de</strong>r Leben o<strong>de</strong>r Tod, es sei Gegenwärtiges o<strong>de</strong>r Zukünftiges,<br />

alles ist euer, ihr aber seid <strong>Christi</strong>, Christus aber ist Gottes.“ 1.Korinther 3,22.23. Das Gesetz<br />

<strong>de</strong>r Zehn Gebote, zu <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Sabbat gehört, gab Gott zum Besten seines Volkes. „Der Herr<br />

hat uns geboten, nach all diesen Rechten zu tun, daß wir <strong>de</strong>n Herrn, unsern Gott, fürchten, auf<br />

daß es uns wohlgehe unser Leben lang.“ 5.Mose 6,24. Und durch <strong>de</strong>n Psalmisten erhielt Israel<br />

die Auffor<strong>de</strong>rung: „<strong>Die</strong>net <strong>de</strong>m Herrn mit Freu<strong>de</strong>n, kommt vor sein Angesicht mit Frohlocken!<br />

Erkennet, daß <strong>de</strong>r Herr Gott ist! Er hat uns gemacht und nicht wir selbst zu seinem Volk und zu<br />

Schafen seiner Wei<strong>de</strong>. Gehet zu seinen Toren ein mit Danken, zu seinen Vorhöfen mit Loben;<br />

danket ihm, lobet seinen Namen!“ Psalm 100,2-4. Von allen, „die <strong>de</strong>n Sabbat halten, daß sie ihn<br />

nicht entheiligen“ (Jesaja 56,6), sagt <strong>de</strong>r Herr: „<strong>Die</strong> will ich zu meinem heiligen Berge bringen<br />

und will sie erfreuen in meinem Bethaus.“ Jesaja 56,7.<br />

„Des Menschen Sohn ist ein Herr auch über <strong>de</strong>n Sabbat.“ <strong>Die</strong>se Worte sind voll Belehrung<br />

und Trost. Weil <strong>de</strong>r Sabbat um <strong>de</strong>s Menschen willen gemacht wur<strong>de</strong>, ist er <strong>de</strong>s Herrn Tag. Er<br />

gehört Christus; <strong>de</strong>nn alle Dinge sind durch ihn gemacht. Ohne ihn „ist nichts gemacht, was<br />

gemacht ist“. Johannes 1,3. Da er alles geschaffen hat, hat er auch <strong>de</strong>n Sabbat eingesetzt; durch<br />

ihn wur<strong>de</strong> dieser als ein Gedächtnistag <strong>de</strong>s Schöpfungswerkes abgeson<strong>de</strong>rt, und so weist <strong>de</strong>r<br />

Sabbat auf ihn als <strong>de</strong>n Schöpfer und auch als <strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r da heiligt. Im Sabbat liegt die Erklärung,<br />

daß er, <strong>de</strong>r alle Dinge im Himmel und auf Er<strong>de</strong>n geschaffen hat und in <strong>de</strong>m alle Dinge<br />

zusammengefaßt sind, das Haupt <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong> ist und daß wir durch seine Macht mit Gott<br />

versöhnt sind. Gott sagte, in<strong>de</strong>m er von Israel sprach: „Ich gab ihnen auch meine Sabbate zum<br />

Zeichen zwischen mir und ihnen, damit sie erkannten, daß ich <strong>de</strong>r Herr bin, <strong>de</strong>r sie heiligt“<br />

(Hesekiel 20,12) — <strong>de</strong>r sie heilig macht. Also ist <strong>de</strong>r Sabbat ein Zeichen <strong>de</strong>r Macht <strong>Christi</strong>, uns<br />

zu heiligen, und er ist allen gegeben, die Christus heiligt. Als ein Zeichen <strong>de</strong>r heiligen<strong>de</strong>n<br />

Macht ist <strong>de</strong>r Sabbat allen gegeben, die durch Christus ein Glied <strong>de</strong>s Israels Gottes wer<strong>de</strong>n.<br />

Der Herr sagt: „Wenn du <strong>de</strong>inen Fuß am Sabbat zurückhältst und nicht <strong>de</strong>inen Geschäften<br />

nachgehst an meinem heiligen Tage und <strong>de</strong>n Sabbat ‚Lust‘ nennst und <strong>de</strong>n heiligen Tag <strong>de</strong>s<br />

Herrn ‚geehrt‘; ... dann wirst du <strong>de</strong>ine Lust haben am Herrn, und ich will dich über die Höhen<br />

auf Er<strong>de</strong>n gehen lassen und will dich speisen mit <strong>de</strong>m Erbe <strong>de</strong>ines Vaters Jakob; <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>s Herrn<br />

Mund hat‘s gere<strong>de</strong>t.“ Jesaja 58,13.14. Allen, die <strong>de</strong>n Sabbat als Zeichen <strong>de</strong>r Schöpfungs- und<br />

Erlösungsmacht <strong>Christi</strong> annehmen, wird er eine Lust sein, und da sie Christus in diesem Tage<br />

sehen, wer<strong>de</strong>n sie sich in ihm freuen. Der Sabbat weist sie hin auf die Werke <strong>de</strong>r Schöpfung als<br />

Beweis seiner mächtigen Kraft, zu erlösen. Während er an <strong>de</strong>n verlorenen Frie<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s<br />

Paradieses erinnert, spricht er von <strong>de</strong>m wie<strong>de</strong>rerlangten Frie<strong>de</strong>n durch <strong>de</strong>n Heiland. Je<strong>de</strong>s Ding<br />

in <strong>de</strong>r Natur wie<strong>de</strong>rholt seine Einladung: „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und<br />

bela<strong>de</strong>n seid; ich will euch erquicken.“ Matthäus 11,28.<br />

190


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 30: <strong>Die</strong> Erwählung <strong>de</strong>r Zwölf<br />

„Und er ging auf einen Berg und rief zu sich, welche er wollte, und die gingen hin zu ihm.<br />

Und er ordnete zwölf, daß sie bei ihm sein sollten und daß er sie aussen<strong>de</strong>te, zu<br />

predigen.“ Markus 3,13.14. Es war unter <strong>de</strong>n schützen<strong>de</strong>n Bäumen am Bergabhang, in nur<br />

geringer Entfernung vom Galiläischen Meer, da die Zwölf zum Apostelamt berufen wur<strong>de</strong>n;<br />

hier hielt Jesus auch die Bergpredigt. <strong>Die</strong> Fel<strong>de</strong>r und Hügel waren seine Lieblingsstätten, und<br />

seine Lehren wur<strong>de</strong>n viel mehr unter freiem Himmel als im Tempel o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Schulen<br />

verkündigt. Kein Gotteshaus hätte die Volksmenge fassen können, die ihm folgte. Und doch<br />

lehrte er nicht nur aus diesem Grund im Freien, son<strong>de</strong>rn auch, weil eine große Liebe zur Natur<br />

in ihm lebte. Je<strong>de</strong>r ruhige Ort <strong>de</strong>r Andacht war ihm ein heiliger Tempel. Unter <strong>de</strong>n Bäumen von<br />

E<strong>de</strong>n erwählten sich die ersten Bewohner <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> ihr Heiligtum. Hier hatte Christus Umgang<br />

mit <strong>de</strong>m Vater <strong>de</strong>r Menschheit. Nach<strong>de</strong>m unsere ersten Eltern aus <strong>de</strong>m Paradies verbannt<br />

wor<strong>de</strong>n waren, beteten sie Gott weiter auf <strong>de</strong>m Feld und in Hainen an, und dort begegnete ihnen<br />

Christus mit seinem Evangelium <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong>. Es war Christus, <strong>de</strong>r mit Abraham unter <strong>de</strong>n<br />

Eichen von Mamre sprach; mit Isaak, als dieser abends aufs Feld hinausging zum Gebet; mit<br />

Jakob auf <strong>de</strong>n Höhen bei Bethel; mit Mose inmitten <strong>de</strong>r Berge von Midian und mit <strong>de</strong>m jungen<br />

David, als dieser seine Schafe hütete. Fünfzehnhun<strong>de</strong>rt Jahre lang verließen die Hebräer auf<br />

<strong>Christi</strong> Anweisung hin je<strong>de</strong>s Jahr eine Woche lang ihre Heime und machten sich Hütten aus<br />

grünen Zweigen von schönen Bäumen, Palmwe<strong>de</strong>ln und Zweigen von Laubbäumen und<br />

Bachwei<strong>de</strong>n. 3.Mose 23,40.<br />

Bei <strong>de</strong>r Erziehung seiner Jünger zog sich Jesus gern aus <strong>de</strong>r lauten Stadt in die Ruhe <strong>de</strong>r<br />

Fel<strong>de</strong>r und Höhen zurück. Das entsprach <strong>de</strong>r Lektion <strong>de</strong>r Selbstverleugnung, die er seine Jünger<br />

lehren wollte. Während seines <strong>Die</strong>nstes pflegte er die Menschen unter <strong>de</strong>m blauen Himmel, an<br />

grasreichen Hängen o<strong>de</strong>r an <strong>de</strong>r Küste <strong>de</strong>s Sees um sich zu sammeln. Hier konnte er, umgeben<br />

von <strong>de</strong>n Werken seiner eigenen Schöpfung, die Gedanken seiner Hörer vom Künstlichen auf<br />

das Natürliche wen<strong>de</strong>n. Im Wachstum und in <strong>de</strong>r Entfaltung <strong>de</strong>r Natur offenbarten sich die<br />

Grundsätze seines Reiches. Wenn die Menschen zu <strong>de</strong>n Höhen Gottes aufsahen und die<br />

Wun<strong>de</strong>rwerke seiner Hand wahrnahmen, dann konnten sie wertvolle Lehren <strong>de</strong>r göttlichen<br />

Wahrheit lernen. Was Christus ihnen sagte, wür<strong>de</strong>n sie in <strong>de</strong>n Dingen <strong>de</strong>r Natur wie<strong>de</strong>rfin<strong>de</strong>n.<br />

So geht es allen, die mit Christus im Herzen Feld und Wald durchstreifen. Sie wer<strong>de</strong>n sich von<br />

einer heiligen Macht umgeben fühlen. <strong>Die</strong> Natur veranschaulicht die Gleichnisse unseres Herrn<br />

und wie<strong>de</strong>rholt seine Ratschläge. Durch die Gemeinschaft mit Gott in <strong>de</strong>r Natur wird <strong>de</strong>r Geist<br />

erhoben, und das Herz fin<strong>de</strong>t Ruhe.<br />

Sein erster Schritt galt nun <strong>de</strong>m Bau einer Gemein<strong>de</strong>, die ihn nach seinem Schei<strong>de</strong>n auf<br />

dieser Er<strong>de</strong> vertreten sollte. Kein prächtiger Tempel stand ihnen zur Verfügung; doch <strong>de</strong>r<br />

Heiland führte seine Jünger nach <strong>de</strong>m stillen Ort, <strong>de</strong>n er liebte. Hier verban<strong>de</strong>n sich in ihrem<br />

Gemüt für immer die heiligen Erfahrungen jenes be<strong>de</strong>utsamen Tages mit <strong>de</strong>m gewaltigen<br />

Eindruck <strong>de</strong>r Schönheit von Berg und Tal und See. Jesus berief seine Jünger, um sie als seine<br />

Zeugen auszusen<strong>de</strong>n, damit sie <strong>de</strong>r Welt verkündigten, was sie von ihm gesehen und gehört<br />

hatten. Ihr <strong>Die</strong>nst war <strong>de</strong>r wichtigste, zu <strong>de</strong>m menschliche Wesen je berufen wur<strong>de</strong>n, und stand<br />

191


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

<strong>de</strong>m <strong>Die</strong>nst <strong>Christi</strong> am nächsten. Sie sollten für die Errettung <strong>de</strong>r Welt mit Gott wirken. Wie im<br />

Alten Testament die zwölf Patriarchen als Vertreter Israels galten, so sollten die zwölf Apostel<br />

die Evangeliumsgemein<strong>de</strong> vertreten.<br />

Der Heiland kannte <strong>de</strong>n Charakter <strong>de</strong>r von ihm erwählten Männer; ihre Fehler und<br />

Schwächen lagen offen vor ihm. Er kannte die Gefahren, durch die sie hindurchgehen, die<br />

Verantwortungen, die auf ihnen ruhen wür<strong>de</strong>n, und er fühlte sich zu diesen Auserwählten<br />

hingezogen. Allein auf <strong>de</strong>m Berge, nahe <strong>de</strong>m See Genezareth, verbrachte er die ganze Nacht im<br />

Gebet für sie, während sie am Fuß <strong>de</strong>s Berges schliefen. Mit <strong>de</strong>m Heraufdämmern <strong>de</strong>s Morgens<br />

rief er sie zu sich, um ihnen eine wichtige Botschaft zu übermitteln.<br />

<strong>Die</strong>se Jünger hatten Jesus bereits eine Zeitlang in seinem Wirken geholfen. Johannes und<br />

Jakobus, Andreas und Petrus mit Philippus, Nathanael und Matthäus waren enger mit ihm<br />

verbun<strong>de</strong>n gewesen als die an<strong>de</strong>rn und hatten auch mehr von seinen Wun<strong>de</strong>rn gesehen. Petrus,<br />

Jakobus und Johannes waren ihm beson<strong>de</strong>rs eng verbun<strong>de</strong>n; sie waren fast immer mit ihm<br />

zusammen, sahen seine Wun<strong>de</strong>r und hörten seine Worte. Johannes war noch inniger <strong>de</strong>m Herrn<br />

zugetan. Er wur<strong>de</strong> als <strong>de</strong>r bezeichnet, <strong>de</strong>n Jesus liebhatte. Der Heiland liebte sie alle; aber<br />

Johannes besaß das empfänglichste Gemüt, war <strong>de</strong>r jüngste von ihnen und öffnete Jesus sein<br />

Herz in kindlichem Vertrauen. Dadurch wur<strong>de</strong> die Verbindung mit Christus enger und inniger,<br />

und er konnte die tiefsten geistlichen Lehren <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s seinem Volk mitteilen.<br />

Als Haupt einer <strong>de</strong>r Gruppen, die sich unter <strong>de</strong>n Aposteln herausgebil<strong>de</strong>t hatten, steht <strong>de</strong>r<br />

Name <strong>de</strong>s Philippus. Er war <strong>de</strong>r erste Jünger, zu <strong>de</strong>m Jesus ausdrücklich sagte: „Folge mir!“<br />

Philippus stammte aus Bethsaida, <strong>de</strong>r Stadt <strong>de</strong>s Andreas und Petrus. Er hatte <strong>de</strong>r Lehre <strong>de</strong>s<br />

Täufers gelauscht und <strong>de</strong>ssen Ankündigung <strong>Christi</strong> als <strong>de</strong>s Lammes Gottes vernommen.<br />

Philippus suchte aufrichtig nach <strong>de</strong>r Wahrheit, aber es fiel ihm schwer, zu glauben. Obwohl er<br />

sich Christus angeschlossen hatte, beweist die Art, wie er Nathanael von ihm erzählte, daß er<br />

von <strong>de</strong>r Göttlichkeit Jesu noch nicht völlig überzeugt war. <strong>Die</strong> Stimme vom Himmel hatte<br />

Christus als Sohn Gottes verkündigt. Dennoch war er für Philippus noch „Jesus, Josephs Sohn<br />

von Nazareth“. Johannes 1,45. Sein Mangel an Glauben zeigte sich auch bei <strong>de</strong>r Speisung <strong>de</strong>r<br />

Fünftausend. Jesus wollte ihn prüfen mit <strong>de</strong>r Frage: „Wo kaufen wir Brot, daß diese<br />

essen?“ Johannes 6,5. <strong>Die</strong> Antwort <strong>de</strong>s Philippus bekun<strong>de</strong>te seinen Kleinglauben: „Für<br />

zweihun<strong>de</strong>rt Silbergroschen Brot ist nicht genug unter sie, daß ein jeglicher ein wenig<br />

nehme.“ Johannes 6,7. Jesus war bekümmert. Obwohl Philippus seine Werke gesehen und seine<br />

Kraft verspürt hatte, mangelte es ihm an Glauben. Als die Griechen Philippus nach Jesus<br />

fragten, ergriff er nicht die Gelegenheit, sie mit <strong>de</strong>m Heiland bekannt zu machen, son<strong>de</strong>rn ging<br />

zu Andreas. Auch die Worte <strong>de</strong>s Philippus in <strong>de</strong>n letzten Stun<strong>de</strong>n vor <strong>de</strong>r Kreuzigung waren<br />

geeignet, <strong>de</strong>n Glauben zu entmutigen. Thomas sprach zu Jesus: „Herr, wir wissen nicht, wo du<br />

hingehst; und wie können wir <strong>de</strong>n Weg wissen?“ Der Herr antwortete: „Ich bin <strong>de</strong>r Weg und die<br />

Wahrheit und das Leben ... Wenn ihr mich kenntet, so kenntet ihr auch meinen Vater.“<br />

Philippus erwi<strong>de</strong>rte zweifelnd: „Herr, zeige uns <strong>de</strong>n Vater, so ist‘s uns genug.“ Johannes 14,5-8.<br />

So schwerfällig und schwach im Glauben war <strong>de</strong>r Jünger, <strong>de</strong>r schon drei Jahre mit Jesus<br />

wan<strong>de</strong>lte.<br />

192


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

In hellem Gegensatz zum Unglauben <strong>de</strong>s Philippus steht das kindliche Vertrauen <strong>de</strong>s<br />

Nathanael. Er hatte ein von tiefem Ernst geprägtes Wesen, und sein Glaube hielt sich an die<br />

unsichtbare Wirklichkeit. Doch Philippus war ein Schüler in <strong>de</strong>r Schule <strong>Christi</strong>, und <strong>de</strong>r<br />

göttliche Lehrer hatte Geduld mit seinem Unglauben und seiner Trägheit. Nach<strong>de</strong>m aber <strong>de</strong>r<br />

Heilige Geist auf die Jünger ausgegossen wor<strong>de</strong>n war, wur<strong>de</strong> Philippus ein Lehrer nach <strong>de</strong>r<br />

göttlichen Weisung. Nun wußte er, wovon er sprach, und er lehrte mit einer Gewißheit, die<br />

seine Hörer überzeugte.<br />

Während Jesus die Jünger auf ihren <strong>Die</strong>nst vorbereitete, drängte sich einer unter sie, <strong>de</strong>r<br />

nicht dazu berufen wor<strong>de</strong>n war. Es war Judas Ischariot, ein angeblicher Nachfolger <strong>Christi</strong>. Er<br />

trat nun vor und bat um einen Platz in <strong>de</strong>m engeren Jüngerkreis. Mit großem Ernst und<br />

scheinbarer Aufrichtigkeit erklärte er: „Meister, ich will dir folgen, wo du hingehst.“ Matthäus<br />

8,19. Jesus wies ihn we<strong>de</strong>r zurück, noch hieß er ihn willkommen, er sagte nur die ernsten<br />

Worte: „<strong>Die</strong> Füchse haben Gruben, und die Vögel unter <strong>de</strong>m Himmel haben Nester; aber <strong>de</strong>s<br />

Menschen Sohn hat nicht, wo er sein Haupt hinlege.“ Matthäus 8,20. Judas glaubte, daß Jesus<br />

<strong>de</strong>r Messias sei, und in<strong>de</strong>m er sich <strong>de</strong>n Jüngern anschloß, hoffte er sich einen hohen Rang in<br />

<strong>de</strong>m neuen Reich zu sichern. <strong>Die</strong>ser Hoffnung wollte Jesus durch die Erklärung seiner Armut<br />

<strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n entziehen.<br />

Nach <strong>de</strong>m Wunsch <strong>de</strong>r Jünger sollte Judas einer <strong>de</strong>r ihren wer<strong>de</strong>n. Er war eine<br />

achtunggebieten<strong>de</strong> Erscheinung, besaß dazu ein klares Urteilsvermögen und einen praktischen<br />

Sinn. Sie empfahlen ihn darum <strong>de</strong>m Herrn als einen Mann, <strong>de</strong>r ihm bei seiner Aufgabe sehr<br />

behilflich sein wer<strong>de</strong>; und sie wun<strong>de</strong>rten sich, ihn von Jesus so kühl empfangen zu sehen. Sie<br />

waren sehr enttäuscht, daß Jesus nicht versuchte, die Mitarbeit <strong>de</strong>r führen<strong>de</strong>n Männer Israels zu<br />

gewinnen. Sie glaubten, er beginge einen Fehler, daß er sein Werk nicht durch die<br />

Unterstützung dieser einflußreichen Männer bekräftigte. Hätte er Judas zurückgewiesen, so<br />

wür<strong>de</strong>n sie in ihrem Innern die Weisheit Jesu in Zweifel gezogen haben. <strong>Die</strong> spätere Geschichte<br />

<strong>de</strong>s Judas sollte ihnen die Gefahr zeigen, irgendwelche weltlichen Rücksichten zu erwägen,<br />

wenn es darauf ankommt, geeignete Männer für das Werk Gottes zu bestimmen. <strong>Die</strong><br />

Mitwirkung solcher Leute, wie sie die Jünger gern gesehen hätten, wür<strong>de</strong> das Werk Gottes in<br />

die Hän<strong>de</strong> seiner ärgsten Fein<strong>de</strong> gebracht haben.<br />

Dennoch war Judas, als er sich <strong>de</strong>n Jüngern anschloß, nicht empfindungslos gegenüber <strong>de</strong>m<br />

göttlichen Charakter <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s. Er fühlte <strong>de</strong>n Einfluß jener Macht, welche die Seelen zu<br />

Christus zog. Der Heiland, <strong>de</strong>r nicht gekommen war, das zerstoßene Rohr zu zerbrechen und<br />

<strong>de</strong>n glimmen<strong>de</strong>n Docht auszulöschen, wollte auch diese Seele nicht zurückweisen, solange noch<br />

ein Verlangen nach Licht in ihr vorhan<strong>de</strong>n war. Jesus kannte das Herz <strong>de</strong>s Judas; er kannte die<br />

Tiefen <strong>de</strong>r Bosheit, in <strong>de</strong>nen dieser versinken mußte, wenn er sich nicht durch die Gna<strong>de</strong> Gottes<br />

befreien ließ. Mit <strong>de</strong>r Aufnahme in Jesu Jüngerkreis bekam Judas Gelegenheit, durch das<br />

tägliche Zusammensein mit <strong>de</strong>m Heiland <strong>de</strong>ssen uneigennützige Liebe kennenzulernen. Öffnete<br />

er Jesus sein Herz, dann wür<strong>de</strong> die göttliche Gna<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Dämon <strong>de</strong>r Selbstsucht daraus<br />

verbannen, und Judas könnte ein Bürger im Reiche Gottes wer<strong>de</strong>n.<br />

193


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Gott nimmt die Menschen mit ihren menschlichen Charaktereigenschaften und erzieht sie zu<br />

seinem <strong>Die</strong>nst, wenn sie sich bessern lassen und von ihm lernen. Sie wer<strong>de</strong>n nicht berufen, weil<br />

sie vollkommen sind, son<strong>de</strong>rn trotz ihrer Unvollkommenheit wer<strong>de</strong>n sie erwählt, damit sie<br />

durch die Erkenntnis und Ausübung <strong>de</strong>r Wahrheit aus göttlicher Gna<strong>de</strong> in das Ebenbild ihres<br />

Meisters umgewan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n. Judas hatte die gleichen Möglichkeiten wie die an<strong>de</strong>ren Jünger<br />

auch. Er empfing dieselben köstlichen Lehren wie sie; aber <strong>de</strong>r Wan<strong>de</strong>l in <strong>de</strong>r Wahrheit, wie ihn<br />

Christus verlangte, wi<strong>de</strong>rsprach seinen eigenen Wünschen und Absichten. Er wollte seine<br />

menschliche Meinung nicht aufgeben, um himmlische Weisheit zu empfangen.<br />

Wie nachsichtig behan<strong>de</strong>lte Jesus <strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r doch sein Verräter sein wür<strong>de</strong>! Er verweilte in<br />

seinen Lehren beson<strong>de</strong>rs bei <strong>de</strong>n Grundsätzen <strong>de</strong>r Wohltätigkeit und traf damit die Wurzel <strong>de</strong>s<br />

Geizes. Er zeigte Judas das Häßliche <strong>de</strong>r Habsucht, und oft erkannte Judas seinen eigenen<br />

Charakter und seine Sündhaftigkeit in <strong>de</strong>r Schil<strong>de</strong>rung Jesu. Er konnte sich aber nicht dazu<br />

überwin<strong>de</strong>n, seine Ungerechtigkeit zu bekennen und aufzugeben, son<strong>de</strong>rn setzte selbstherrlich<br />

seine betrügerischen Handlungen fort, statt <strong>de</strong>r Versuchung zu wi<strong>de</strong>rstehen. Christus war ihm<br />

ein lebendiges Vorbild, wie er wer<strong>de</strong>n mußte, wenn er <strong>de</strong>n rechten Nutzen aus <strong>de</strong>r göttlichen<br />

Vermittlung und <strong>de</strong>m göttlichen <strong>Die</strong>nen zöge; aber Lehre auf Lehre ließ er unbeachtet.<br />

Jesus gab ihm keinen scharfen Verweis wegen seines Geizes, son<strong>de</strong>rn trug diesen Sün<strong>de</strong>r mit<br />

göttlicher Geduld. Er gab Judas aber Beweise, daß er in seinem Herzen lesen konnte wie in<br />

einem aufgeschlagenen Buch. Er gab ihm <strong>de</strong>n höchsten Ansporn zum rechten Han<strong>de</strong>ln, und<br />

Judas wür<strong>de</strong> keine Entschuldigung haben, verwürfe er das himmlische Licht. Statt im Licht zu<br />

wan<strong>de</strong>ln, zog Judas es vor, seine Fehler zu behalten. Er nährte böse Wünsche, rachsüchtige<br />

Lei<strong>de</strong>nschaften und finstere, trotzige Gedanken, bis Satan volle Gewalt über ihn hatte. So wur<strong>de</strong><br />

Judas ein Vertreter <strong>de</strong>s Fein<strong>de</strong>s <strong>Christi</strong>. Als er mit Jesus in Verbindung trat, besaß er manche<br />

guten Charakterzüge, die <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong> hätten zum Segen wer<strong>de</strong>n können. Wäre er willig<br />

gewesen, das Joch <strong>Christi</strong> zu tragen, so hätte er einer <strong>de</strong>r ersten Apostel sein können; aber er<br />

verhärtete sein Herz, wenn ihm seine Fehler gezeigt wur<strong>de</strong>n, nährte stolz und wi<strong>de</strong>rspenstig<br />

seinen selbstsüchtigen Ehrgeiz und machte sich dadurch selbst unfähig für die Aufgabe, die<br />

Gott ihm gegeben haben wür<strong>de</strong>.<br />

Alle Jünger hatten ernste Fehler, als Jesus sie in seinen <strong>Die</strong>nst rief. Selbst Johannes, <strong>de</strong>r mit<br />

<strong>de</strong>m Sanftmütigen und Demütigen in engste Verbindung kam, war von Natur nicht sanft und<br />

hingebend, son<strong>de</strong>rn man nannte seinen Bru<strong>de</strong>r und ihn „Donnerskin<strong>de</strong>r“. Markus 3,17. Je<strong>de</strong><br />

Geringschätzung, die <strong>de</strong>m Herrn erwiesen wur<strong>de</strong>, erregte die Entrüstung und Kampfeslust<br />

dieser Jünger; Heftigkeit, <strong>de</strong>r Geist <strong>de</strong>r Rache und <strong>de</strong>r Kritik waren Eigenschaften <strong>de</strong>s geliebten<br />

Jüngers; er war stolz und wäre gern <strong>de</strong>r Erste im Reiche Gottes gewesen. Aber Tag für Tag<br />

nahm er — im Gegensatz zu seiner eigenen Reizbarkeit — die liebevolle Langmut Jesu wahr<br />

und hörte die Lehren <strong>de</strong>r Demut und Geduld. Er öffnete sein Herz <strong>de</strong>m göttlichen Einfluß und<br />

wur<strong>de</strong> nicht nur ein Hörer, son<strong>de</strong>rn auch ein Täter <strong>de</strong>r Worte <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s. Sein eigenes Ich<br />

wur<strong>de</strong> in Christus verborgen; er lernte, das Joch <strong>Christi</strong> auf sich zu nehmen und seine Last zu<br />

tragen.<br />

194


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Jesus ta<strong>de</strong>lte seine Jünger, er ermahnte und warnte sie; aber Johannes und seine Brü<strong>de</strong>r<br />

verließen ihn nicht. Sie wählten ihn trotz seiner Verweise, und <strong>de</strong>r Heiland zog sich auch nicht<br />

wegen ihrer Schwächen und Mängel von ihnen zurück. Sie teilten bis zum En<strong>de</strong> seine<br />

Schwierigkeiten mit ihm, nahmen sich seinen Wan<strong>de</strong>l zum Vorbild und ließen ihren Charakter<br />

und ihre Eigenheiten durch seinen Einfluß umwan<strong>de</strong>ln. <strong>Die</strong> Apostel waren ihren Gewohnheiten<br />

und ihrer Veranlagung nach sehr verschie<strong>de</strong>n. Unter ihnen befan<strong>de</strong>n sich <strong>de</strong>r Zöllner Levi-<br />

Matthäus und <strong>de</strong>r Feuerkopf Simon, <strong>de</strong>r unnachgiebige Feind <strong>de</strong>r römischen Macht; <strong>de</strong>r kühne,<br />

von je<strong>de</strong>m Ereignis bewegte Petrus und <strong>de</strong>r niedrig gesinnte Judas; ferner <strong>de</strong>r treuherzige, aber<br />

zaghafte und furchtsame Thomas, Philippus mit seinem trägen Herzen und seinem<br />

zweiflerischen Verstand und die ehrgeizigen, freimütigen Söhne <strong>de</strong>s Zebedäus mit ihren<br />

Gefährten. <strong>Die</strong>se alle mit ihren verschie<strong>de</strong>nen Fehlern, mit angeborenen und angewöhnten<br />

Neigungen zum Bösen wur<strong>de</strong>n zusammengebracht, um in Christus und durch ihn in <strong>de</strong>r Familie<br />

Gottes zu wohnen und zu lernen, eins im Glauben, in <strong>de</strong>r Lehre und im Geist zu wer<strong>de</strong>n. Sie<br />

wür<strong>de</strong>n Prüfungen, Schwierigkeiten und Meinungsverschie<strong>de</strong>nheiten zu begegnen haben; aber<br />

wenn Christus in ihren Herzen wohnte, konnte keine Uneinigkeit unter ihnen sein. Seine Liebe<br />

wür<strong>de</strong> sie dahin bringen, einan<strong>de</strong>r zu lieben; die Lehre Jesu wür<strong>de</strong> alle Verschie<strong>de</strong>nheiten in<br />

Einklang bringen und die Jünger so eng verbin<strong>de</strong>n, bis sie gleichen Sinnes und gleichen Urteils<br />

wären. Christus ist <strong>de</strong>r große Mittelpunkt, und sie wür<strong>de</strong>n sich einan<strong>de</strong>r nähern in <strong>de</strong>m gleichen<br />

Verhältnis, wie sie sich <strong>de</strong>m Mittelpunkt näherten.<br />

Nach<strong>de</strong>m Jesus die Unterweisung <strong>de</strong>r Jünger been<strong>de</strong>t hatte, sammelte er die kleine Schar um<br />

sich, kniete mitten unter ihnen nie<strong>de</strong>r, legte seine Hän<strong>de</strong> auf ihre Häupter und weihte sie mit<br />

einem Gebet zu ihrer heiligen Aufgabe. Auf diese Weise wur<strong>de</strong>n die Jünger <strong>de</strong>s Herrn zum<br />

Evangeliumsdienst bestimmt. Christus erwählt nicht die unschuldigen Engel als seine<br />

Stellvertreter auf Er<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn bestimmt dazu menschliche Wesen, die die gleichen<br />

Eigenschaften haben wie seine erlösungsbedürftigen Geschöpfe. Christus selbst wur<strong>de</strong> „gleich<br />

wie ein an<strong>de</strong>rer Mensch“ (Philipper 2,7), damit er die Menschheit erreichen konnte; <strong>de</strong>nn nur<br />

das Göttliche im Verein mit <strong>de</strong>m Menschlichen konnte <strong>de</strong>r Welt Heil bringen. Das Göttliche<br />

brauchte das Menschliche als Mittel, um eine Verbindung zwischen <strong>de</strong>m Schöpfer und <strong>de</strong>m<br />

Geschöpf herzustellen. So ist es mit <strong>de</strong>n <strong>Die</strong>nern und Boten Jesu. Der Mensch bedarf einer<br />

Macht, die außer ihm liegt, um in ihm wie<strong>de</strong>rum das Ebenbild Gottes zu erneuern und ihn zu<br />

befähigen, Gottes Werk zu tun. Das jedoch läßt das menschliche Werkzeug nicht unwichtig<br />

wer<strong>de</strong>n. Der Mensch ergreift die göttliche Kraft, Christus wohnt im Herzen <strong>de</strong>s Menschen<br />

durch <strong>de</strong>n Glauben, und durch die Verbindung mit <strong>de</strong>m Göttlichen wird die Kraft <strong>de</strong>s Menschen<br />

fähig, Gutes zu tun. Der die schlichten Fischer von Galiläa erwählte, beruft noch heute die<br />

Menschen in seinen <strong>Die</strong>nst, und er ist noch genauso bereit, seine Macht durch uns zu<br />

offenbaren, wie er sie durch die ersten Jünger offenbarte. Wie unvollkommen und sündhaft wir<br />

auch sein mögen, <strong>de</strong>r Herr will unser Teilhaber sein; er bietet uns eine Lehrzeit bei ihm an! Er<br />

la<strong>de</strong>t uns ein, uns unter <strong>de</strong>n göttlichen Einfluß zu stellen, damit wir, durch innige Gemeinschaft<br />

mit Christus verbun<strong>de</strong>n, die Werke Gottes tun können.<br />

„Wir haben aber solchen Schatz in ir<strong>de</strong>nen Gefäßen, auf daß die überschwengliche Kraft sei<br />

Gottes und nicht von uns.“ 2.Korinther 4,7. Darum wur<strong>de</strong> auch die Verkündigung <strong>de</strong>s<br />

195


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Evangeliums irren<strong>de</strong>n Menschen und nicht Engeln übertragen. Es ist offenbar, daß die Kraft,<br />

welche durch schwache Menschen wirkt, die Kraft Gottes ist. Dadurch wer<strong>de</strong>n wir ermutigt zu<br />

glauben, daß die Kraft, welche an<strong>de</strong>rn helfen kann, die genauso hilfsbedürftig sind wie wir,<br />

auch uns aufhelfen wird. <strong>Die</strong> selbst umgeben sind mit Schwachheit, sollten mitfühlen können<br />

mit <strong>de</strong>nen, „die da unwissend sind und irren“. Hebräer 5,2. Wer in Gefahr gewesen ist, kennt<br />

die Schwierigkeiten <strong>de</strong>s Weges und kann <strong>de</strong>shalb <strong>de</strong>nen von Nutzen sein, die sich in gleicher<br />

Gefahr befin<strong>de</strong>n. Es gibt Seelen, die vom Zweifel geplagt, mit Gebrechen bela<strong>de</strong>n und schwach<br />

im Glauben sind sowie unfähig, <strong>de</strong>n Unsichtbaren zu erfassen; aber ein Freund, <strong>de</strong>n sie sehen<br />

können und <strong>de</strong>r zu ihnen kommt an <strong>Christi</strong> Statt, kann das Bin<strong>de</strong>glied wer<strong>de</strong>n, das ihren<br />

schwanken<strong>de</strong>n Glauben an Christus stärkt. Wir sollen mit <strong>de</strong>n Engeln <strong>de</strong>s Himmels<br />

zusammenwirken, um <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>n Heiland nahezubringen. Mit ungeduldigem Eifer warten die<br />

Engel auf unsere Mitarbeit; <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Mensch muß das Werkzeug sein, durch das die Welt<br />

Mitteilungen erhält. Wenn wir uns mit ungeteiltem Herzen Christus ergeben, freuen sich die<br />

Engel, daß durch unsern Mund Gottes Liebe verkündigt wird.<br />

196


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 31: <strong>Die</strong> Bergpredigt<br />

Christus versammelte seine Jünger selten allein, wenn er lehren wollte. Er suchte sich nicht<br />

nur die Zuhörer aus, die <strong>de</strong>n Weg <strong>de</strong>s Lebens bereits kannten, son<strong>de</strong>rn es war seine Aufgabe,<br />

die Masse <strong>de</strong>s Volkes zu erreichen, die in Unwissenheit und Irrtum lebte. Er verkündigte die<br />

Lehre <strong>de</strong>r Wahrheit dort, wo sie das verfinsterte Verständnis erreichen konnte. Er selbst war die<br />

Wahrheit, mit umgürteten Len<strong>de</strong>n und segnen<strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n bereit, durch Worte <strong>de</strong>r Warnung,<br />

Ermahnung und Ermutigung alle aufzurichten, die ihn suchten.<br />

Obgleich die Bergpredigt beson<strong>de</strong>rs für die Jünger bestimmt war, wur<strong>de</strong> sie vor einer großen<br />

Zuhörermenge gehalten. Nach <strong>de</strong>r Berufung zum Apostelamt ging Jesus mit <strong>de</strong>n Jüngern an <strong>de</strong>n<br />

See, wo die Menge sich schon am frühen Morgen zu versammeln begann. Außer <strong>de</strong>n fast<br />

regelmäßig kommen<strong>de</strong>n Galiläern waren Leute aus Judäa und selbst aus Jerusalem, Peräa,<br />

Dekapolis, Idumäa, aus Tyrus und Sidon und aus <strong>de</strong>n phönizischen Städten an <strong>de</strong>r Küste <strong>de</strong>s<br />

Mittelländischen Meeres erschienen. „Eine große Menge, die seine Taten hörten, kamen zu<br />

ihm.“ Markus 3,8. „Und alles Volk begehrte, ihn anzurühren; <strong>de</strong>nn es ging Kraft von ihm aus<br />

und heilte alle.“ Lukas 6,19.<br />

Der schmale Strand aber gewährte — selbst wenn sie stan<strong>de</strong>n — nicht genug Platz für alle,<br />

die seine Stimme hören wollten; <strong>de</strong>shalb führte Jesus seine Zuhörer an einen Bergabhang. Als<br />

sie eine ebene Fläche erreichten, die einen geeigneten Versammlungsort für die große Menge<br />

bot, ließ sich Jesus auf <strong>de</strong>n Rasen nie<strong>de</strong>r. <strong>Die</strong> Jünger und alle an<strong>de</strong>ren folgten seinem<br />

Beispiel. <strong>Die</strong> Jünger saßen stets in nächster Nähe <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s. Sie ließen sich auch hier durch<br />

das andrängen<strong>de</strong> Volk ihren Platz nicht streitig machen. Sie setzten sich ganz dicht in Jesu<br />

Nähe, um nicht ein Wort seiner Unterweisung zu verlieren. Sie waren aufmerksame Zuhörer,<br />

begierig, die Wahrheiten zu erfassen, die sie allen Völkern und allen Generationen verkündigen<br />

sollten.<br />

Heute nun hielten sie sich beson<strong>de</strong>rs zu ihrem Herrn, da sie fühlten, es wür<strong>de</strong> sich etwas<br />

Außergewöhnliches ereignen. Sie glaubten, daß das Reich <strong>Christi</strong> bald aufgerichtet wür<strong>de</strong>, und<br />

aus <strong>de</strong>n Vorgängen vom Morgen vermuteten sie nun eine entsprechen<strong>de</strong> Äußerung darüber.<br />

Große Erwartung herrschte unter <strong>de</strong>n Zuhörern. <strong>Die</strong> gespannten Gesichter zeugten von tiefer<br />

Anteilnahme. Als sich alle an <strong>de</strong>m grünen Abhang nie<strong>de</strong>rgelassen hatten und auf Jesu Worte<br />

warteten, wur<strong>de</strong>n ihre Herzen mit Gedanken an die kommen<strong>de</strong> Herrlichkeit erfüllt. Es waren<br />

Schriftgelehrte und Pharisäer unter ihnen, die <strong>de</strong>m Tage entgegensahen, <strong>de</strong>r ihnen die<br />

Herrschaft über die verhaßten Römer bringen und die Reichtümer und die Pracht <strong>de</strong>s größten<br />

Weltreiches zu eigen geben wür<strong>de</strong>. <strong>Die</strong> armen Landleute und Fischer hofften ihrerseits auf die<br />

Versicherung, daß ihre elen<strong>de</strong>n Hütten, die kärgliche Nahrung, das mühevolle Leben, die Furcht<br />

vor <strong>de</strong>r Not vertauscht wür<strong>de</strong>n gegen Wohnungen <strong>de</strong>s Überflusses und Tage <strong>de</strong>r Sorglosigkeit.<br />

Sie hofften, daß Christus ihnen an Stelle ihres groben Gewan<strong>de</strong>s, das ihnen am Tage Kleid und<br />

in <strong>de</strong>r Nacht Decke war, die reichen und kostbaren Gewän<strong>de</strong>r ihrer Unterdrücker gäbe. Alle<br />

Herzen wur<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>r stolzen Erwartung ergriffen, daß Israel bald als das auserwählte Volk<br />

197


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

<strong>de</strong>s Herrn von allen Völkern geehrt und Jerusalem zur Hauptstadt eines Weltreichs erhoben<br />

wür<strong>de</strong>.<br />

Christus enttäuschte diese Hoffnung auf irdische Größe. In <strong>de</strong>r Bergpredigt versuchte er, ihre<br />

durch falsche Belehrung entstan<strong>de</strong>ne Vorstellung zu zerstreuen und seinen Zuhörern einen<br />

richtigen Begriff von seinem Reich und seinem persönlichen Charakter zu geben, ohne dabei<br />

<strong>de</strong>n Irrtum <strong>de</strong>s Volkes unmittelbar anzugreifen. Er sah das Elend <strong>de</strong>r Welt, das die Sün<strong>de</strong><br />

hervorgebracht hatte; <strong>de</strong>nnoch gab er ihnen keine lebhafte Schil<strong>de</strong>rung ihrer Not. Er belehrte sie<br />

eines Besseren, als sie je gekannt hatten. Ohne ihre Ansichten über das Reich Gottes zunichte<br />

zu machen, erklärte er ihnen die Bedingungen, unter <strong>de</strong>nen allein sie hineingelangen könnten.<br />

Er ließ sie über die Natur dieses Reiches ihre eigenen Schlüsse ziehen. <strong>Die</strong> Wahrheiten, die er<br />

hier lehrte, sind für uns heute nicht weniger wichtig, als sie es für die ihm nachfolgen<strong>de</strong> Menge<br />

waren. Wir müssen ebenso notwendig wie sie die Grundlagen <strong>de</strong>s Reiches Gottes<br />

kennenlernen.<br />

<strong>Die</strong> ersten Worte <strong>Christi</strong> auf <strong>de</strong>m Berge waren Worte <strong>de</strong>s Segens. Er preist diejenigen<br />

glücklich, die ihre geistliche Armut erkennen und ihr Bedürfnis nach Erlösung fühlen; <strong>de</strong>nn das<br />

Evangelium soll <strong>de</strong>n Armen gepredigt wer<strong>de</strong>n. Nicht <strong>de</strong>n geistlich Stolzen, die behaupten, reich<br />

zu sein und nichts zu bedürfen, wird es offenbart, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>n Demütigen und Zerknirschten.<br />

Nur eine Quelle ist <strong>de</strong>m Sün<strong>de</strong>r heilsam — nur eine Quelle für die geistlich Armen. Das stolze<br />

Herz strebt danach, das Heil zu erwerben. Unser Anrecht jedoch auf <strong>de</strong>n Himmel und unsere<br />

Tauglichkeit dafür liegen in <strong>de</strong>r Gerechtigkeit <strong>Christi</strong>. Der Herr kann zur Erneuerung <strong>de</strong>r<br />

Menschen nichts tun, bis <strong>de</strong>r Mensch, überzeugt von seiner Schwäche und frei von aller<br />

Überheblichkeit, sich ganz <strong>de</strong>r Herrschaft Gottes übergibt. Erst dann kann er die Gabe<br />

empfangen, die Gott ihm schenken will. Der Seele mit einem solchen Bedürfnis wird nichts<br />

vorenthalten, sie hat ungehin<strong>de</strong>rten Zutritt zu jenem, in <strong>de</strong>m alle Fülle wohnt. „Denn so spricht<br />

<strong>de</strong>r Hohe und Erhabene, <strong>de</strong>r ewig wohnt, <strong>de</strong>ssen Name heilig ist: Ich wohne in <strong>de</strong>r Höhe und im<br />

Heiligtum und bei <strong>de</strong>nen, die zerschlagenen und <strong>de</strong>mütigen Geistes sind, auf daß ich erquicke<br />

<strong>de</strong>n Geist <strong>de</strong>r Ge<strong>de</strong>mütigten und das Herz <strong>de</strong>r Zerschlagenen.“ Jesaja 57,15.<br />

„Selig sind, die da Leid tragen; <strong>de</strong>nn sie sollen getröstet wer<strong>de</strong>n.“ Matthäus 5,4. Durch diese<br />

Worte lehrt Jesus nicht, daß im Leidtragen die Macht liege, die Schuld <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong><br />

hinwegzunehmen; er billigt keine Scheinheiligkeit o<strong>de</strong>r vorgetäuschte Demut. Das Leidtragen,<br />

von <strong>de</strong>m er spricht, besteht nicht in Trübsinn und Klagen. Während wir aber über die Sün<strong>de</strong><br />

trauern, sollen wir uns <strong>de</strong>r köstlichen Gna<strong>de</strong> freuen, Gottes Kin<strong>de</strong>r zu sein. Wir trauern oft, weil<br />

uns unsere bösen Taten unangenehme Folgen bringen. Das aber ist keine Reue. Wahre Reue<br />

über die Sün<strong>de</strong> wirkt nur <strong>de</strong>r Heilige Geist. Der Geist offenbart die Undankbarkeit <strong>de</strong>s Herzens,<br />

das <strong>de</strong>n Heiland vernachlässigt und betrübt hat, und bringt uns in Zerknirschung zum Fuß <strong>de</strong>s<br />

Kreuzes. Durch je<strong>de</strong> Sün<strong>de</strong> wird Jesus aufs neue verwun<strong>de</strong>t. Wenn wir auf ihn blicken, <strong>de</strong>n wir<br />

„durchbohrt haben“, trauern wir über die Sün<strong>de</strong>, die Qual über ihn gebracht hat. Ein solches<br />

Leidtragen wird dazu führen, <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> zu entsagen.<br />

Der weltlich gesinnte Mensch wird dieses Trauern eine Schwäche nennen. Es ist aber<br />

vielmehr die Kraft, die <strong>de</strong>n Reuigen an <strong>de</strong>n Ewigen bin<strong>de</strong>t, und zwar durch Ban<strong>de</strong>, die nicht<br />

198


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

zerrissen wer<strong>de</strong>n können. Es zeigt, daß Engel Gottes <strong>de</strong>r Seele die Gna<strong>de</strong> zurückbringen, die<br />

durch Herzenshärtigkeit und Übertretungen verloren war. <strong>Die</strong> Tränen <strong>de</strong>s Bußfertigen sind nur<br />

Regentropfen, die <strong>de</strong>m Sonnenschein <strong>de</strong>r Gerechtigkeit vorangehen. <strong>Die</strong>s Trauern kün<strong>de</strong>t von<br />

einer Freu<strong>de</strong>, die zu einem lebendigen Brunnen in <strong>de</strong>r Seele wird. „Allein erkenne <strong>de</strong>ine Schuld,<br />

daß du wi<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Herrn, <strong>de</strong>inen Gott, gesündigt hast.“ Jeremia 3,13. „So will ich nicht zornig<br />

auf euch blicken. Denn ich bin gnädig, spricht <strong>de</strong>r Herr, und will nicht ewiglich<br />

zürnen.“ Jeremia 3,12 (Bruns). Den „Trauern<strong>de</strong>n zu Zion“ schafft er, „daß ihnen Schmuck statt<br />

Asche, Freu<strong>de</strong>nöl statt Trauerkleid, Lobgesang statt eines betrübten Geistes gegeben wer<strong>de</strong>n,<br />

daß sie genannt wer<strong>de</strong>n, ‚Bäume <strong>de</strong>r Gerechtigkeit‘“. Jesaja 61,3.<br />

Für alle, die in Not und Kummer trauern, gibt es einen Trost, und die Bitterkeit <strong>de</strong>s Grams<br />

und <strong>de</strong>r Demütigung ist besser als die Befriedigungen <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>. Durch Trübsal offenbart uns<br />

Gott die Schandflecke in unserm Charakter, damit wir durch seine Gna<strong>de</strong> unsere Fehler<br />

überwin<strong>de</strong>n. Unsere uns unbekannten Schwächen wer<strong>de</strong>n aufge<strong>de</strong>ckt, und wir wer<strong>de</strong>n auf die<br />

Probe gestellt, ob wir <strong>de</strong>n Ta<strong>de</strong>l und die Ratschläge Gottes annehmen. Wenn Trübsal über uns<br />

hereinbricht, sollen wir nicht zagen und klagen, uns nicht dagegen auflehnen o<strong>de</strong>r uns <strong>de</strong>r Hand<br />

<strong>Christi</strong> entwin<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn unsere Seele vor Gott <strong>de</strong>mütigen. Des Herrn Wege sind <strong>de</strong>m<br />

verborgen, <strong>de</strong>r alles in einem ihm wohlgefälligen Licht zu sehen wünscht; sie scheinen <strong>de</strong>r<br />

menschlichen Natur dunkel und freudlos, und doch sind Gottes Wege Pfa<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />

Barmherzigkeit, und ihr En<strong>de</strong> ist Heil. Elia wußte nicht, was er tat, als er in <strong>de</strong>r Wüste, seines<br />

Lebens überdrüssig, <strong>de</strong>n Herrn bat, ihn sterben zu lassen. Der Herr in seiner Barmherzigkeit<br />

nahm ihn nicht beim Wort; er hatte noch eine große Aufgabe für ihn bereit, und wenn sie<br />

ausgeführt war, sollte er nicht entmutigt und einsam in <strong>de</strong>r Wüste umkommen. Ihm war nicht<br />

bestimmt, in <strong>de</strong>n Staub <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s hinabzusinken, son<strong>de</strong>rn aufzufahren in Herrlichkeit, getragen<br />

von himmlischen Wagen, zum Throne Gottes in <strong>de</strong>r Höhe.<br />

Gottes Wort sagt <strong>de</strong>n Bekümmerten: „Ihre Wege habe ich gesehen, aber ich will sie heilen<br />

und sie leiten und ihnen wie<strong>de</strong>r Trost geben.“ Jesaja 57,18. „Ich will ihr Trauern in Freu<strong>de</strong><br />

verwan<strong>de</strong>ln und sie trösten und sie erfreuen nach ihrer Betrübnis.“ Jeremia 31,13. „Selig sind<br />

die Sanftmütigen.“ Matthäus 5,5. <strong>Die</strong> Schwierigkeiten, auf die wir stoßen, können durch die<br />

Sanftmut, die sich in Christus verbirgt, sehr vermin<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n. Wenn wir die Demut Jesu<br />

besitzen, wer<strong>de</strong>n wir uns über Geringschätzung, abweisen<strong>de</strong> Antworten, Belästigungen, <strong>de</strong>nen<br />

wir täglich unterworfen sind, hinwegsetzen; sie wer<strong>de</strong>n unser Gemüt nicht betrüben. Der<br />

höchste Beweis christlichen A<strong>de</strong>ls ist Selbstbeherrschung. Wer bei Beleidigungen und<br />

Grausamkeiten versäumt, einen ruhigen und vertrauensvollen Geist zu bewahren, beraubt Gott<br />

seines Anspruches, in ihm die Vollkommenheit seines Wesens zu offenbaren. <strong>Die</strong><br />

Herzens<strong>de</strong>mut ist die Kraft, die <strong>de</strong>n Nachfolgern <strong>Christi</strong> <strong>de</strong>n Sieg verleiht; sie ist das Zeichen<br />

ihrer Verbindung mit <strong>de</strong>n himmlischen Höfen.<br />

„Der Herr ist hoch und sieht auf <strong>de</strong>n Niedrigen und kennt <strong>de</strong>n Stolzen von ferne.“ Psalm<br />

138,6. <strong>Die</strong> <strong>de</strong>n sanftmütigen und <strong>de</strong>mütigen Geist <strong>Christi</strong> offenbaren, wer<strong>de</strong>n von Gott sorgsam<br />

beachtet. Sie mögen von <strong>de</strong>r Welt verachtet wer<strong>de</strong>n, doch in seinen Augen sind sie sehr<br />

wertvoll. Nicht nur die Weisen, die Großen, die Wohltäter bekommen Zutritt zu <strong>de</strong>n<br />

199


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

himmlischen Höfen; nicht nur die geschäftigen Arbeiter, die voll Eifer rastlos schaffen, nein,<br />

son<strong>de</strong>rn die geistlich Armen, die sich nach <strong>de</strong>r Gegenwart eines in ihnen wohnen<strong>de</strong>n Heilan<strong>de</strong>s<br />

sehnen; die von Herzen Demütigen, <strong>de</strong>ren höchstes Streben dahin geht, Gottes Willen zu tun —<br />

diese wer<strong>de</strong>n reichen Eingang haben. Sie wer<strong>de</strong>n zu <strong>de</strong>r Schar gehören, die ihre Klei<strong>de</strong>r<br />

gewaschen und sie hell gemacht haben im Blut <strong>de</strong>s Lammes. „Darum sind sie vor <strong>de</strong>m Thron<br />

Gottes und dienen ihm Tag und Nacht in seinem Tempel; und <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Thron sitzt, wird<br />

über ihnen wohnen.“ Offenbarung 7,15.<br />

„Selig sind, die da hungert und dürstet nach <strong>de</strong>r Gerechtigkeit.“ Matthäus 5,6. Das<br />

Bewußtsein <strong>de</strong>r Unwürdigkeit wird das Herz veranlassen, nach <strong>de</strong>r Gerechtigkeit zu hungern<br />

und zu dürsten, und dies Verlangen wird nicht enttäuscht wer<strong>de</strong>n. Wer Jesus einen Platz in<br />

seinem Herzen einräumt, wird seine Liebe erfahren. Allen, die sich danach sehnen, das<br />

Ebenbild <strong>de</strong>s göttlichen Charakters zu tragen, wird ihr Sehnen erfüllt wer<strong>de</strong>n. Der Heilige Geist<br />

läßt die Seele, die auf Jesus schaut, niemals ohne Beistand; er nimmt von <strong>de</strong>m Reichtum <strong>Christi</strong><br />

und zeigt ihn ihr, und wenn das Auge auf Christus gerichtet bleibt, hört das Wirken <strong>de</strong>s<br />

Heiligen Geistes nicht auf, bis die Seele nach seinem Bil<strong>de</strong> umgestaltet ist. <strong>Die</strong> Macht <strong>de</strong>r Liebe<br />

wird die Seele reiner und größer machen und für höhere Ziele und für eine tiefere Erkenntnis<br />

<strong>de</strong>r himmlischen Dinge befähigen. Dann wird sie „die Fülle haben“. Jeremia 31,14. „Selig sind,<br />

die da hungert und dürstet nach <strong>de</strong>r Gerechtigkeit; <strong>de</strong>nn sie sollen satt wer<strong>de</strong>n.“ Matthäus 5,6.<br />

<strong>Die</strong> Barmherzigen wer<strong>de</strong>n Barmherzigkeit erlangen. Und die reines Herzens sind, wer<strong>de</strong>n<br />

Gott schauen. Je<strong>de</strong>r unreine Gedanke befleckt die Seele, beeinträchtigt das sittliche Empfin<strong>de</strong>n<br />

und trägt dazu bei, die Eindrücke <strong>de</strong>s Heiligen Geistes zu verwischen; <strong>de</strong>r geistliche Blick wird<br />

getrübt, so daß die Menschen Gott nicht wahrnehmen können. Der Herr will <strong>de</strong>m reumütigen<br />

Sün<strong>de</strong>r vergeben und vergibt ihm auch; <strong>de</strong>nnoch bleibt die Seele befleckt. Alle unreinen Worte<br />

und Gedanken müssen von <strong>de</strong>m vermie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r die geistliche Wahrheit sicher<br />

wahrnehmen möchte.<br />

Aber die Worte <strong>Christi</strong> schließen noch mehr ein als ein Freisein von gedanklicher<br />

Unreinheit, auch mehr als ein Freisein von jenen förmlichen Vergehen, die von <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n so<br />

sorgfältig vermie<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> Selbstsucht hin<strong>de</strong>rt uns daran, Gott zu schauen. Der<br />

eigennützige Geist beurteilt Gott gera<strong>de</strong> so, wie er selbst ist. Solange wir nicht <strong>de</strong>r Selbstsucht<br />

entsagt haben, können wir Gott, <strong>de</strong>r die Liebe ist, nicht verstehen. Nur ein selbstloses Herz, ein<br />

<strong>de</strong>mütiger und vertrauen<strong>de</strong>r Geist wird erkennen, daß Gott „barmherzig und gnädig und<br />

geduldig und von großer Gna<strong>de</strong> und Treue“ (2.Mose 34,6) ist.<br />

„Selig sind die Friedfertigen.“ Matthäus 5,9. Der Frie<strong>de</strong> <strong>Christi</strong> ist aus <strong>de</strong>r Wahrheit geboren;<br />

er ist Übereinstimmung mit Gott. <strong>Die</strong> Welt befin<strong>de</strong>t sich in Feindschaft mit <strong>de</strong>m Gesetz Gottes,<br />

die Sün<strong>de</strong>r sind‘s mit ihrem Schöpfer und darum auch miteinan<strong>de</strong>r. Der Psalmist aber sagt:<br />

„Großen Frie<strong>de</strong>n haben, die <strong>de</strong>in Gesetz lieben; sie wer<strong>de</strong>n nicht straucheln.“ Psalm 119,165.<br />

Menschen können keinen Frie<strong>de</strong>n schaffen, Menschliche Pläne zur Läuterung und zur<br />

Vere<strong>de</strong>lung <strong>de</strong>s einzelnen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Gesellschaft wer<strong>de</strong>n keinen Frie<strong>de</strong>n vermitteln können, weil<br />

sie das Herz nicht erreichen. <strong>Die</strong> einzige Macht, die wahren Frie<strong>de</strong>n schaffen o<strong>de</strong>r bestehen<br />

lassen kann, ist die Gna<strong>de</strong> <strong>Christi</strong>. Wenn diese im Herzen Wurzel geschlagen hat, wird sie alle<br />

200


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

bösen Lei<strong>de</strong>nschaften, die Zank und Entfremdung verursachen, vertreiben. „Es sollen Zypressen<br />

statt Dornen wachsen und Myrten statt Nesseln“ (Jesaja 55,13), und „die Wüste und Einö<strong>de</strong><br />

wird frohlocken, und die Steppe wird jubeln und wird blühen wie die Lilien“. Jesaja 35,1.<br />

<strong>Die</strong> Menge <strong>de</strong>r Zuhörer wun<strong>de</strong>rte sich sehr über diese Lehren, die <strong>de</strong>n Vorschriften und <strong>de</strong>m<br />

Beispiel <strong>de</strong>r Pharisäer so wi<strong>de</strong>rsprachen. Das Volk glaubte, das Glück liege im Besitz irdischer<br />

Güter, und Ruhm und Ehre <strong>de</strong>r Menschen seien begehrenswert. Es war äußerst angenehm,<br />

„Rabbi“ genannt, für weise und fromm gehalten und öffentlich als tugendhaft gepriesen zu<br />

wer<strong>de</strong>n; hierin schien <strong>de</strong>r Gipfelpunkt irdischer Freu<strong>de</strong> zu liegen. Aber zu jenen zahlreichen<br />

Zuhörern sagte <strong>de</strong>r Heiland, daß weltliche Ehre und irdischer Gewinn alles seien, was jene<br />

Menschen als Belohnung je empfangen wür<strong>de</strong>n. Er sprach mit großer Bestimmtheit, und eine<br />

überzeugen<strong>de</strong> Kraft begleitete seine Worte. <strong>Die</strong> Zuhörer wur<strong>de</strong>n ganz still; ein Gefühl <strong>de</strong>r<br />

Furcht überkam alle. Sie sahen einan<strong>de</strong>r zweifelnd an. Wer von ihnen wür<strong>de</strong> dann gerettet<br />

wer<strong>de</strong>n, wenn dieses Mannes Lehren wahr wären! Viele ließen sich überzeugen, daß <strong>de</strong>r Geist<br />

Gottes diesen bemerkenswerten Mann trieb und daß seine Gedanken himmlischen und<br />

göttlichen Ursprungs waren.<br />

Nach<strong>de</strong>m Christus das Wesen <strong>de</strong>s wahren Glückes erläutert und <strong>de</strong>n Weg zu ihm gezeigt<br />

hatte, betonte er mit großem Nachdruck die Pflichten seiner Jünger, als von Gott erwählte<br />

Lehrer an<strong>de</strong>re auf <strong>de</strong>n Pfad <strong>de</strong>r Gerechtigkeit und <strong>de</strong>s ewigen Lebens zu leiten. Er wußte, daß<br />

sie oft unter Enttäuschungen und Entmutigungen zu lei<strong>de</strong>n hätten, daß sie auf entschie<strong>de</strong>nen<br />

Wi<strong>de</strong>rstand stoßen und daß man sie beschimpfen und ihr Zeugnis verwerfen wür<strong>de</strong>. Jesus wußte<br />

genau, daß diese einfachen Männer, die so aufmerksam seinen Worten folgten, in <strong>de</strong>r Ausübung<br />

ihres Evangeliumsdienstes Verleumdung, Marter, Gefängnis und Tod erlei<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>n. Darum<br />

sagte er weiter: „Selig sind, die um Gerechtigkeit willen verfolgt wer<strong>de</strong>n; <strong>de</strong>nn das<br />

Himmelreich ist ihr. Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und<br />

verfolgen und re<strong>de</strong>n allerlei Übles wi<strong>de</strong>r euch, so sie daran lügen. Seid fröhlich und getrost; es<br />

wird euch im Himmel wohl belohnt wer<strong>de</strong>n. Denn also haben sie verfolgt die Propheten, die vor<br />

euch gewesen sind.“ Matthäus 5,10-12.<br />

<strong>Die</strong> Welt liebt die Sün<strong>de</strong> und haßt die Gerechtigkeit. <strong>Die</strong>s war auch die Ursache ihrer<br />

Feindschaft gegen Jesus. Alle, die seine große Liebe verwerfen, wer<strong>de</strong>n das Christentum als<br />

stören<strong>de</strong>s Element betrachten. Das Licht <strong>Christi</strong> vertreibt die Finsternis, die ihre Sün<strong>de</strong>n<br />

zu<strong>de</strong>ckt, und die Notwendigkeit einer Erneuerung wird offenbar. Während alle, die sich <strong>de</strong>m<br />

Wirken <strong>de</strong>s Heiligen Geistes überlassen, <strong>de</strong>n Kampf gegen das eigene „Ich“ beginnen, streiten<br />

diejenigen, die <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> anhangen, gegen die Wahrheit und ihre Vertreter. Auf diese Weise<br />

entsteht Uneinigkeit; die Nachfolger <strong>Christi</strong> wer<strong>de</strong>n als Unruhestifter unter <strong>de</strong>m Volk<br />

angeklagt. Es ist aber die Gemeinschaft mit Gott, die ihnen <strong>de</strong>r Welt Feindschaft einbringt. Sie<br />

tragen die Schmach <strong>Christi</strong>, sie wan<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>n gleichen Weg, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r E<strong>de</strong>lste <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> voranging,<br />

darum sollten sie mit Freudigkeit und nicht unter Klagen die Verfolgungen erdul<strong>de</strong>n. Je<strong>de</strong><br />

Feuerprobe ist ein Mittel Gottes zu ihrer Läuterung. Je<strong>de</strong> Läuterung macht sie fähiger, ihre<br />

Aufgabe als Mitarbeiter Gottes zu erfüllen. Je<strong>de</strong>r Kampf hat seinen Zweck in <strong>de</strong>m großen Streit<br />

für die Gerechtigkeit, und je<strong>de</strong>r wird zur Freu<strong>de</strong> an <strong>de</strong>m endgültigen Triumph beitragen. Wenn<br />

201


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

<strong>Christi</strong> Nachfolger dies im Auge haben, wer<strong>de</strong>n sie ihrer Glaubens- und Geduldsprobe<br />

be<strong>de</strong>utend freudiger entgegengehen, statt sie zu fürchten und zu umgehen. Besorgt, ihre<br />

Pflichten <strong>de</strong>r Welt gegenüber zu erfüllen und sich ganz nach <strong>de</strong>m Wohlgefallen Gottes zu<br />

richten, wer<strong>de</strong>n seine <strong>Die</strong>ner je<strong>de</strong>r Verpflichtung ohne Rücksicht auf Menschengunst<br />

gewissenhaft nachkommen.<br />

„Ihr seid das Salz <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>“ (Matthäus 5,13), sagte Jesus. Entzieht euch nicht <strong>de</strong>r Welt, um<br />

Verfolgungen zu entgehen. Ihr sollt unter <strong>de</strong>n Menschen bleiben, damit die Würze <strong>de</strong>r<br />

göttlichen Liebe sei wie das Salz, um die Welt vor <strong>de</strong>m Ver<strong>de</strong>rben zu bewahren. Herzen, die<br />

<strong>de</strong>n Heiligen Geist an sich wirken lassen, sind Kanäle, durch die Gottes Segnungen fließen.<br />

Wür<strong>de</strong>n die, welche Gott dienen, von <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> entfernt wer<strong>de</strong>n und wür<strong>de</strong> sich Gottes Geist von<br />

<strong>de</strong>n Menschen zurückziehen, dann fiele die Welt infolge <strong>de</strong>r Herrschaft Satans <strong>de</strong>r Verwüstung<br />

anheim. Obgleich es die Gottlosen nicht wissen, haben sie die Segnungen dieses Lebens <strong>de</strong>m<br />

Dasein <strong>de</strong>r von ihnen verachteten und unterdrückten Gotteskin<strong>de</strong>r zu verdanken. Aber Christen,<br />

die dies nur <strong>de</strong>m Namen nach sind, gleichen <strong>de</strong>m Salz, das seine Würze verloren hat; sie haben<br />

keinen Einfluß zum Guten in <strong>de</strong>r Welt. Sie sind dadurch, daß sie das Wesen Gottes verdrehen,<br />

schlimmer als die Ungläubigen.<br />

„Ihr seid das Licht <strong>de</strong>r Welt.“ Matthäus 5,14. <strong>Die</strong> Ju<strong>de</strong>n wollten die Wohltat <strong>de</strong>s Heils auf ihr<br />

eigenes Volk beschränken; aber <strong>de</strong>r Heiland zeigte ihnen, daß das Heil gleich <strong>de</strong>m<br />

Sonnenschein <strong>de</strong>r ganzen Welt gehört. <strong>Die</strong> Religion <strong>de</strong>r Bibel soll nicht zwischen <strong>de</strong>n Deckeln<br />

eines Buches o<strong>de</strong>r innerhalb <strong>de</strong>r Kirchenmauern eingeschlossen sein; sie soll nicht nur dann und<br />

wann zu unserer Wohlfahrt hervorgeholt und dann sorgfältig wie<strong>de</strong>r beiseite gelegt wer<strong>de</strong>n. Sie<br />

muß vielmehr das tägliche Leben heiligen, sich in je<strong>de</strong>m geschäftlichen Unternehmen, in allen<br />

gesellschaftlichen Beziehungen offenbaren.<br />

Der wahre Charakter wird nicht äußerlich gebil<strong>de</strong>t und angelegt; er strahlt von innen heraus.<br />

Wollen wir an<strong>de</strong>re auf <strong>de</strong>n Weg <strong>de</strong>r Gerechtigkeit bringen, dann müssen die Grundsätze <strong>de</strong>r<br />

Gerechtigkeit in unseren eigenen Herzen gehegt wer<strong>de</strong>n. Unser Glaubensbekenntnis mag die<br />

Lehrsätze <strong>de</strong>r Religion verkündigen; aber es ist unsere praktische Frömmigkeit, die <strong>de</strong>m Wort<br />

<strong>de</strong>r Wahrheit Nachdruck verleiht. Ein gleichmäßiger Wan<strong>de</strong>l, fromme Gespräche,<br />

unerschütterliche Rechtschaffenheit, ein tätiger, wohlwollen<strong>de</strong>r Geist und das göttliche Beispiel<br />

— das sind die Mittel, durch die <strong>de</strong>r Welt das Licht mitgeteilt wird.<br />

Jesus hat sich nicht bei <strong>de</strong>r Aufzählung <strong>de</strong>s Gesetzes aufgehalten, er ließ <strong>de</strong>n Hörer aber auch<br />

nicht schlußfolgern, er sei gekommen, die Gesetzesfor<strong>de</strong>rungen aufzuheben. Er wußte, daß<br />

Spitzel bereitstan<strong>de</strong>n, die je<strong>de</strong>s Wort aufgreifen wür<strong>de</strong>n, das sie für ihre Zwecke verdrehen<br />

könnten. Ferner war ihm bekannt, welches Vorurteil sich in <strong>de</strong>n Vorstellungen vieler seiner<br />

Zuhörer festgesetzt hatte. Deshalb sagte er nichts, was ihren Glauben an die Religion und die<br />

Satzungen, die ihnen von Mose übermittelt wor<strong>de</strong>n waren, hätte ins Wanken bringen können.<br />

Christus selbst war ja <strong>de</strong>r Urheber sowohl <strong>de</strong>s Sitten- wie auch <strong>de</strong>s Zeremonialgesetzes. Er war<br />

nicht gekommen, das Vertrauen in seine eigene Unterweisung zu zerstören. Vielmehr suchte er<br />

die Mauer <strong>de</strong>r überlieferten Satzungen, die ein Hemmnis für die Ju<strong>de</strong>n waren, nur <strong>de</strong>shalb zu<br />

durchbrechen, weil er große Hochachtung vor <strong>de</strong>m Gesetz und <strong>de</strong>n Propheten empfand.<br />

202


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Während er einerseits die falschen Deutungen <strong>de</strong>s Gesetzes seitens <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n ablehnte,<br />

bewahrte er auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite seine Jünger sorgfältig davor, sich von <strong>de</strong>n lebendigen<br />

Wahrheiten zu trennen, die <strong>de</strong>n Hebräern anvertraut waren.<br />

<strong>Die</strong> Pharisäer prahlten mit ihrem Gehorsam gegen das Gesetz; in Wirklichkeit kannten sie so<br />

wenig von seinen Grundsätzen für das tägliche Leben, daß <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s Worte ihnen wie<br />

Ketzerei klangen. Als er <strong>de</strong>n Unrat wegfegte, <strong>de</strong>r die Wahrheit verbarg, glaubten sie, er kehre<br />

die Wahrheit selber aus, und sie flüsterten einan<strong>de</strong>r zu, daß er das Gesetz geringachte. Er las<br />

ihre Gedanken und antwortete ihnen: „Ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen bin, das<br />

Gesetz o<strong>de</strong>r die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, son<strong>de</strong>rn zu<br />

erfüllen.“ Matthäus 5,17. Hier wi<strong>de</strong>rlegte Jesus die Anklage <strong>de</strong>r Pharisäer. Es war seine<br />

Aufgabe, <strong>de</strong>r Welt gegenüber <strong>de</strong>n heiligen Anspruch <strong>de</strong>s Gesetzes, <strong>de</strong>ssen Übertretung man ihn<br />

beschuldigte, zu wahren. Hätte das Gesetz Gottes verän<strong>de</strong>rt o<strong>de</strong>r verkürzt wer<strong>de</strong>n können, dann<br />

wäre es nicht erfor<strong>de</strong>rlich gewesen, daß Christus die Folgen all unserer Übertretung erlitt; aber<br />

er kam, um die Beziehung <strong>de</strong>s Gesetzes zu <strong>de</strong>n Menschen zu erklären und durch sein Leben <strong>de</strong>s<br />

Gehorsams <strong>de</strong>ssen Vorschriften zu veranschaulichen.<br />

Gott gab seine heiligen Gebote, weil er die Menschen liebt. Um uns vor <strong>de</strong>n Folgen <strong>de</strong>r<br />

Übertretungen zu bewahren, offenbart er im Gesetz die Grundsätze <strong>de</strong>r Gerechtigkeit. Das<br />

Gesetz ist ein Ausdruck <strong>de</strong>r Gedanken Gottes. Wird es in Christus angenommen, wird es auch<br />

in unser Herz Eingang fin<strong>de</strong>n. Seine Gebote erheben uns über die Macht <strong>de</strong>r natürlichen<br />

Wünsche und Neigungen und über die Versuchungen, die zur Sün<strong>de</strong> verleiten. Gott will unser<br />

Wohlergehen! Er gab uns sein Gesetz, damit wir im Gehorsam gegen seine Grundsätze Freu<strong>de</strong><br />

ernten möchten. Als einst die Engel bei <strong>de</strong>r Geburt Jesu sangen: „Ehre sei Gott in <strong>de</strong>r Höhe und<br />

Frie<strong>de</strong> auf Er<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>n Menschen ein Wohlgefallen“ (Lukas 2,14), erklärten sie damit die<br />

Grundsätze <strong>de</strong>s Gesetzes, das herrlich und groß zu machen er gekommen war.<br />

Als das Gesetz am Berge Sinai verkün<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>, enthüllte Gott <strong>de</strong>n Menschen die Heiligkeit<br />

seines Charakters, damit sie an ihm ihre eigene Sündhaftigkeit erkennen möchten. Das Gesetz<br />

wur<strong>de</strong> gegeben, um sie ihrer Sün<strong>de</strong> zu überführen und ihnen die Notwendigkeit eines Heilan<strong>de</strong>s<br />

zu offenbaren. <strong>Die</strong>s sollte geschehen, in<strong>de</strong>m die Grundsätze <strong>de</strong>s Gesetzes durch <strong>de</strong>n Heiligen<br />

Geist auf das Herz wirkten. <strong>Die</strong>se Aufgabe hat es heute noch zu erfüllen. Im Leben <strong>Christi</strong><br />

wer<strong>de</strong>n die Grundsätze <strong>de</strong>s Gesetzes <strong>de</strong>utlich, und wenn <strong>de</strong>r Heilige Geist das Herz berührt,<br />

wenn das Licht <strong>Christi</strong> <strong>de</strong>n Menschen die Notwendigkeit <strong>de</strong>s Verlangens nach seinem<br />

reinigen<strong>de</strong>n Blut und seiner rechtfertigen<strong>de</strong>n Gna<strong>de</strong> offenbart, ist das Gesetz immer noch das<br />

Mittel, uns zu Christus zu bringen, auf daß wir durch <strong>de</strong>n Glauben gerecht wer<strong>de</strong>n. „Das Gesetz<br />

<strong>de</strong>s Herrn ist vollkommen und erquickt die Seele.“ Psalm 19,8.<br />

„Bis daß Himmel und Er<strong>de</strong> vergehe“, sagte Jesus, „wird nicht vergehen <strong>de</strong>r kleinste<br />

Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis daß es alles geschehe.“ Matthäus 5,18. <strong>Die</strong> am<br />

Himmel leuchten<strong>de</strong> Sonne und die Er<strong>de</strong>, auf <strong>de</strong>r wir wohnen, sind Gottes Zeugen, daß sein<br />

Gesetz unverän<strong>de</strong>rlich und ewig ist. Obgleich diese vergehen, wer<strong>de</strong>n die göttlichen Gebote<br />

bestehen. „Es ist aber leichter, daß Himmel und Er<strong>de</strong> vergehen, als daß ein Tüpfelchen vom<br />

Gesetz falle.“ Lukas 16,17. <strong>Die</strong> Ordnung <strong>de</strong>r sinnbildlichen Gottesdienste, die auf Jesus als das<br />

203


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Lamm Gottes hinwies, mußte mit <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> Jesu aufhören; aber die Zehn Gebote sind so<br />

unverän<strong>de</strong>rlich wie <strong>de</strong>r Thron Gottes.<br />

„Das Gesetz <strong>de</strong>s Herrn ist vollkommen.“ Psalm 19,8. Deshalb ist je<strong>de</strong>s Abweichen Sün<strong>de</strong>.<br />

Wer die Gebote Gottes übertritt und auch an<strong>de</strong>re dazu verleitet, wird von Christus schuldig<br />

gesprochen. Das Leben <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s im Gehorsam verfocht die For<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s Gesetzes. Es<br />

erbrachte <strong>de</strong>n Beweis, daß das Gesetz vom Menschengeschlecht gehalten wer<strong>de</strong>n konnte, und<br />

zeigte, was für einen vorzüglichen Charakter <strong>de</strong>r Gehorsam heranbil<strong>de</strong>n kann. Alle, die wie<br />

Jesus gehorsam sind, erklären gleicherweise, daß „das Gebot ... heilig, recht und gut“ ist. Römer<br />

7,12. An<strong>de</strong>rseits unterstützen alle, die Gottes Gebote übertreten, die Behauptung Satans, daß das<br />

Gesetz ungerecht sei und nicht befolgt wer<strong>de</strong>n könne. Sie sind Kin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Erzbösewichts, <strong>de</strong>s<br />

ersten Aufrührers gegen Gottes Gesetz. Ihnen Eingang in <strong>de</strong>n Himmel gestatten zu wollen,<br />

hieße <strong>de</strong>r Zwietracht und <strong>de</strong>m Aufruhr Tür und Tor zu öffnen und das Wohlergehen <strong>de</strong>s<br />

Weltalls zu gefähr<strong>de</strong>n. Niemand, <strong>de</strong>r auch nur einen Grundsatz <strong>de</strong>s Gesetzes vorsätzlich<br />

mißachtet, wird in das himmlische Reich Eingang fin<strong>de</strong>n.<br />

<strong>Die</strong> Rabbiner hielten ihre Gerechtigkeit für einen Freibrief für <strong>de</strong>n Himmel; doch Jesus<br />

erklärte, daß diese Gerechtigkeit ungenügend und nichts wert sei. Nur äußerliche Zeremonien<br />

und eine lediglich theoretische Erkenntnis <strong>de</strong>r Wahrheit machten ihre Gerechtigkeit aus. <strong>Die</strong><br />

Rabbiner nahmen für sich in Anspruch, fromm zu sein allein durch ihre eigenen Bemühungen<br />

im Befolgen <strong>de</strong>s Gesetzes. Doch ihre Werke hatten die Gerechtigkeit vom Glauben getrennt.<br />

Während sie die rituellen Handlungen peinlich genau beachteten, führten sie ein unmoralisches<br />

und ver<strong>de</strong>rbtes Leben. Ihre sogenannte Gerechtigkeit konnte ihnen niemals <strong>de</strong>n Eingang in das<br />

Himmelreich verbürgen.<br />

<strong>Die</strong> größte Täuschung <strong>de</strong>r Menschenherzen zur Zeit <strong>Christi</strong> war die Ansicht, daß die<br />

Gerechtigkeit in <strong>de</strong>r bloßen Zustimmung zur Wahrheit bestän<strong>de</strong>. Es hat sich in allen<br />

menschlichen Erfahrungen erwiesen, daß eine theoretische Kenntnis <strong>de</strong>r Wahrheit nicht genügt,<br />

um Seelen zu retten; sie allein bringt keine Früchte <strong>de</strong>r Gerechtigkeit hervor. Eifern<strong>de</strong><br />

Hochachtung vor <strong>de</strong>r sogenannten theologischen Wahrheit wird oft von einem Haß gegen die<br />

unverfälschte Wahrheit begleitet. <strong>Die</strong> dunkelsten Kapitel <strong>de</strong>r Weltgeschichte sind belastet mit<br />

Berichten über Verbrechen, die von eifern<strong>de</strong>n, blin<strong>de</strong>n Schwärmern begangen wur<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong><br />

Pharisäer behaupteten, Kin<strong>de</strong>r Abrahams zu sein und das Wort Gottes zu besitzen, und doch<br />

bewahrten diese Vorzüge sie nicht vor Selbstsucht, Boshaftigkeit, Habsucht und niedrigster<br />

Heuchelei. Sie hielten sich für die besten Religionsbekenner <strong>de</strong>r Welt; aber ihre sogenannte<br />

Rechtgläubigkeit hin<strong>de</strong>rte sie nicht, <strong>de</strong>n Herrn <strong>de</strong>r Herrlichkeit zu kreuzigen.<br />

<strong>Die</strong> gleiche Gefahr besteht noch heute. Viele zählen sich zu <strong>de</strong>n Christen, nur weil sie ein<br />

christliches Bekenntnis ablegten; sie übertragen jedoch ihr Glaubensbekenntnis nicht in das<br />

praktische Leben. Ihnen fehlen Liebe und Glauben, <strong>de</strong>shalb haben sie nicht die Kraft und die<br />

Gna<strong>de</strong> empfangen, die aus <strong>de</strong>r Heiligung in <strong>de</strong>r Wahrheit kommen. <strong>Die</strong> Menschen mögen<br />

vorgeben, an die Wahrheit zu glauben; wenn sie aber durch diese nicht aufrichtig, gütig,<br />

geduldig, langmütig und himmlisch gesinnt wer<strong>de</strong>n, wird sie ihnen zum Fluch und durch ihren<br />

Einfluß auch zum Fluch für die Welt. <strong>Die</strong> Gerechtigkeit, die Christus lehrte, ist<br />

204


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Übereinstimmung <strong>de</strong>s Herzens und <strong>de</strong>s Lebens mit <strong>de</strong>m geoffenbarten Willen Gottes. Sündige<br />

Menschen können nur gerecht wer<strong>de</strong>n, wenn sie Glauben an Gott haben und eine lebendige<br />

Verbindung mit ihm unterhalten. Dann wird wahre Gottseligkeit die Gedanken erheben und das<br />

Leben a<strong>de</strong>ln, dann wer<strong>de</strong>n auch die äußeren Formen <strong>de</strong>r Religion mit <strong>de</strong>r inneren Reinheit <strong>de</strong>s<br />

Christen übereinstimmen. Dann sind auch die im Gottesdienst gefor<strong>de</strong>rten Handlungen kein<br />

be<strong>de</strong>utungsloser Formendienst wie bei <strong>de</strong>n heuchlerischen Pharisäern.<br />

Jesus erklärt je<strong>de</strong>s einzelne Gebot in <strong>de</strong>m ganzen Umfang seiner Anfor<strong>de</strong>rungen. Statt auch<br />

nur ein Tüpfelchen seiner Be<strong>de</strong>utung wegzunehmen, zeigt er, wie weitreichend seine<br />

Grundsätze sind, und enthüllt <strong>de</strong>n verhängnisvollen Irrtum <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n, lediglich äußeren<br />

Gehorsam zur Schau zu tragen. Er erklärt, daß schon durch einen bösen Gedanken o<strong>de</strong>r einen<br />

verlangen<strong>de</strong>n Blick das Gesetz Gottes übertreten wird. Je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r sich an <strong>de</strong>r kleinsten<br />

Ungerechtigkeit beteiligt, bricht das Gesetz und erniedrigt seinen eigenen sittlichen Charakter.<br />

Ein Mord beginnt schon im Herzen; wer Haß im Herzen nährt, betritt damit schon <strong>de</strong>n Pfad <strong>de</strong>s<br />

Mör<strong>de</strong>rs. Und solcher Menschen Opfer verabscheut Gott.<br />

<strong>Die</strong> Ju<strong>de</strong>n pflegten einen Geist <strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rvergeltung. In ihrem Haß gegen die Römer<br />

sprachen sie schwere Beschuldigungen aus und erfreuten Satan, in<strong>de</strong>m sie solche Eigenschaften<br />

bekun<strong>de</strong>ten. Auf diese Weise bil<strong>de</strong>ten sie sich selbst dazu aus, die schrecklichen Taten zu<br />

begehen, zu <strong>de</strong>nen er sie anleitete. In <strong>de</strong>m religiösen Leben <strong>de</strong>r Pharisäer gab es nichts, was <strong>de</strong>n<br />

Hei<strong>de</strong>n als Vorbild hätte dienen können. Jesus ermahnte sie, sich nicht durch <strong>de</strong>n Gedanken zu<br />

betrügen, daß sie sich im Herzen gegen ihre Unterdrücker auflehnen dürften, noch das<br />

Verlangen zu nähren, das erlittene Unrecht zu rächen.<br />

Wohl gibt es auch eine Entrüstung, die selbst bei <strong>de</strong>n Nachfolgern <strong>Christi</strong> entschuldbar ist.<br />

Wenn sie sehen, daß Gott o<strong>de</strong>r sein <strong>Die</strong>nst entehrt wird o<strong>de</strong>r wenn Unschuldige unterdrückt<br />

wer<strong>de</strong>n, dann kann ein gerechter Zorn die Seele erregen. Solcher Zorn, aus hohem sittlichem<br />

Empfin<strong>de</strong>n geboren, ist keine Sün<strong>de</strong>. Wer sich jedoch bei je<strong>de</strong>r vermeintlichen Kränkung<br />

bewogen fühlt, <strong>de</strong>m Ärger o<strong>de</strong>r Groll Raum zu geben, öffnet Satan sein Herz. Bitterkeit und<br />

Feindschaft müssen aus <strong>de</strong>r Seele verbannt wer<strong>de</strong>n, wenn wir in Harmonie mit <strong>de</strong>m Himmel<br />

leben wollen.<br />

Der Heiland geht noch weiter. Er sagt: „Wenn du <strong>de</strong>ine Gabe auf <strong>de</strong>m Altar opferst und wirst<br />

allda einge<strong>de</strong>nk, daß <strong>de</strong>in Bru<strong>de</strong>r etwas wi<strong>de</strong>r dich habe, so laß allda vor <strong>de</strong>m Altar <strong>de</strong>ine Gabe<br />

und gehe zuvor hin und versöhne dich mit <strong>de</strong>inem Bru<strong>de</strong>r und alsdann komm und opfere <strong>de</strong>ine<br />

Gabe.“ Matthäus 5,23.24. Viele wirken eifrig für <strong>de</strong>n Herrn, und doch herrschen zwischen<br />

ihnen und ihren Brü<strong>de</strong>rn unglückliche Zwistigkeiten, die sie ausgleichen könnten. Gott for<strong>de</strong>rt<br />

von ihnen, alles in ihrer Macht Stehen<strong>de</strong> zu tun, um die Einigkeit wie<strong>de</strong>rherzustellen. Bis sie<br />

das nicht getan haben, kann Gott sich nicht zu ihrem <strong>Die</strong>nst bekennen. Des Christen Pflicht<br />

hierzu ist sehr <strong>de</strong>utlich vorgeschrieben.<br />

Gott spen<strong>de</strong>t allen seinen Segen. „Er läßt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die<br />

Guten und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ Matthäus 5,45 (Jubiläumsbibel). „Er ist<br />

gütig über die Undankbaren und Bösen.“ Lukas 6,35. Wir sollen ihm auch hierin nachfolgen.<br />

205


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Der Heiland sagt: „Segnet, die euch fluchen; tut wohl <strong>de</strong>nen, die euch hassen ... auf daß ihr<br />

Kin<strong>de</strong>r seid eures Vaters im Himmel.“ Matthäus 5,44.45. <strong>Die</strong>s sind die Grundsätze <strong>de</strong>s<br />

Gesetzes. Sie sind die Quellen <strong>de</strong>s Lebens.<br />

Gottes Absichten mit seinen Kin<strong>de</strong>rn sind höher, als die höchsten menschlichen Gedanken<br />

erfassen können. „Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel<br />

vollkommen ist.“ Matthäus 5,48. <strong>Die</strong>s Gebot ist eine Verheißung. Der Erlösungsplan hat unsere<br />

vollständige Befreiung aus <strong>de</strong>r Macht Satans zum Ziel. Christus son<strong>de</strong>rt immer die reumütige<br />

Seele von <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> ab. Er kam, die Werke <strong>de</strong>s Teufels zu zerstören, und er hat versprochen,<br />

daß <strong>de</strong>r Heilige Geist je<strong>de</strong>r bußfertigen Seele verliehen wer<strong>de</strong>n soll, um sie vor <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> zu<br />

bewahren. Der mächtige Einfluß <strong>de</strong>s Versuchers soll nicht als Entschuldigung für eine einzige<br />

böse Handlung gelten. Satan freut sich, wenn er hört, daß angebliche Nachfolger <strong>Christi</strong><br />

Entschuldigungen für ihre Charakterfehler vorbringen. Solche Entschuldigungen führen zur<br />

Sün<strong>de</strong>. Für die Sün<strong>de</strong> gibt es keine Entschuldigung. Das bußfertige, gläubige Gotteskind kann<br />

ein geheiligtes, Christus ähnliches Leben erlangen.<br />

Das Hochziel eines christlichen Charakters ist Christusähnlichkeit. Wie <strong>de</strong>r Menschensohn<br />

in seinem Leben vollkommen war, so sollen seine Nachfolger in ihrem Leben vollkommen sein.<br />

Jesus wur<strong>de</strong> „in allen Dingen seinen Brü<strong>de</strong>rn gleich“. Hebräer 2,17. Er wur<strong>de</strong> ein Mensch wie<br />

wir und konnte hungrig, durstig und mü<strong>de</strong> wer<strong>de</strong>n. Nahrung stärkte ihn, und Schlaf erfrischte<br />

ihn. Ihm ging es wie allen Menschen. Außer<strong>de</strong>m war er <strong>de</strong>r sündlose Gottessohn. Er war Gott<br />

„im Fleisch“. 1.Timotheus 3,16. Seinem Wesen sollten wir nachstreben. Von <strong>de</strong>nen, die an ihn<br />

glauben, sagt <strong>de</strong>r Herr: „Ich will unter ihnen wohnen und wan<strong>de</strong>ln und will ihr Gott sein, und<br />

sie sollen mein Volk sein.“ 2.Korinther 6,16; 3.Mose 26,11.12.<br />

Christus war die Leiter, die Jakob sah, <strong>de</strong>ren Fuß auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> stand und <strong>de</strong>ren Spitze bis<br />

zum Himmelstor ragte, <strong>de</strong>m einzigen Eingang zur ewigen Herrlichkeit. Hätte an dieser Leiter<br />

auch nur eine Sprosse gefehlt, um die Er<strong>de</strong> zu erreichen, müßten wir verlorengehen, Christus<br />

dagegen kommt zu uns, wo immer wir sind. Er nahm unsere Natur an und behielt die Oberhand,<br />

so daß wir durch sein Wesen überwin<strong>de</strong>n können. „In <strong>de</strong>r Gestalt <strong>de</strong>s sündlichen Fleisches“<br />

(Römer 8,3) führte er ein sündloses Leben. Durch seine Göttlichkeit ergreift er nun Besitz vom<br />

Thron <strong>de</strong>s Himmels, während er durch seine menschliche Natur uns nahe ist. Er for<strong>de</strong>rt uns auf,<br />

durch <strong>de</strong>n Glauben an ihn die Herrlichkeit <strong>de</strong>s göttlichen Wesens zu erlangen Deshalb sollen<br />

wir „vollkommen sein“, gleichwie unser „Vater im Himmel vollkommen ist“. Matthäus 5,48.<br />

Jesus hatte gezeigt, worin Gerechtigkeit besteht, und er hatte auf Gott als die Quelle dieser<br />

Gerechtigkeit hingewiesen. Jetzt wandte er sich <strong>de</strong>n praktischen Pflichten zu. Beim<br />

Almosengeben, beim Gebet und beim Fasten dürfe nichts geschehen, was die Aufmerksamkeit<br />

<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rn erregt; nicht um Lohnes willen gute Werke tun! Gebt aufrichtigen Herzens zum<br />

Wohl <strong>de</strong>r lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Armen; laßt im Gebet die Seele mit Gott verbun<strong>de</strong>n sein; geht beim Fasten<br />

nicht mit gebeugtem Haupt und einem Herzen, das dabei nur an sich selbst <strong>de</strong>nkt! Das Herz<br />

eines Pharisäers ist ein ö<strong>de</strong>r, unfruchtbarer Bo<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>m kein göttlicher Same ge<strong>de</strong>ihen kann.<br />

Wer sich Gott ausliefert, wird ihm <strong>de</strong>n wertvollsten <strong>Die</strong>nst erweisen. Durch Gemeinschaft mit<br />

206


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Gott können die Menschen mit ihm zusammenwirken, in<strong>de</strong>m sie seinen Charakter<br />

wi<strong>de</strong>rspiegeln.<br />

Der aufrichtigen Herzens geleistete <strong>Die</strong>nst hat eine große Belohnung. „Dein Vater, <strong>de</strong>r in das<br />

Verborgene sieht, wird dir‘s vergelten.“ Matthäus 6,6. In einem Wan<strong>de</strong>l, <strong>de</strong>r sich unter die<br />

Gna<strong>de</strong> <strong>Christi</strong> gestellt hat, bil<strong>de</strong>t sich <strong>de</strong>r Charakter; die ursprüngliche Schönheit <strong>de</strong>r Seele<br />

wird wie<strong>de</strong>rhergestellt, wir entfalten in uns die Eigenschaften Gottes, und das göttliche<br />

Ebenbild strahlt durch alles Menschliche hindurch. Auf <strong>de</strong>n Angesichtern <strong>de</strong>r Frauen und<br />

Männer, die ihr Leben mit Gott leben, leuchtet himmlischer Frie<strong>de</strong>. Sie sind von göttlichem<br />

Wesen umgeben; für sie hat das Reich Gottes begonnen. Sie besitzen die Freu<strong>de</strong> <strong>Christi</strong>, die<br />

Freu<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r Menschheit zum Segen zu leben. Sie haben die Ehre, zu <strong>de</strong>s Meisters <strong>Die</strong>nst<br />

angenommen zu sein; in seinem Namen wird ihnen das Werk Gottes anvertraut.<br />

„Niemand kann zwei Herren dienen.“ Matthäus 6,24. Wir können Gott nicht mit einem<br />

geteilten Herzen dienen. <strong>Die</strong> Religion <strong>de</strong>r Heiligen Schrift übt nicht irgen<strong>de</strong>inen Einfluß aus<br />

unter vielen, son<strong>de</strong>rn ihr Einfluß soll <strong>de</strong>r höchste, weitestreichen<strong>de</strong> sein, <strong>de</strong>r je<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn<br />

beherrscht. <strong>Die</strong> Religion <strong>de</strong>r Heiligen Schrift soll nicht wie ein wenig Farbe hier und da auf die<br />

Leinwand aufgetragen wer<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn sie soll das ganze Leben durchdringen, als ob die<br />

Leinwand in die Farbe getaucht wor<strong>de</strong>n wäre, bis je<strong>de</strong>r Fa<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Gewebes durchtränkt ist und<br />

die Farbe unverän<strong>de</strong>rlich angenommen hat. „Wenn <strong>de</strong>in Auge lauter ist, so wird <strong>de</strong>in ganzer<br />

Leib licht sein. Wenn aber <strong>de</strong>in Auge böse ist, so wird <strong>de</strong>in ganzer Leib finster sein.“ Matthäus<br />

6,22.23. Reinheit und Beständigkeit <strong>de</strong>s Willens sind die Voraussetzungen, um Licht von Gott<br />

zu empfangen. Wen danach verlangt, die Wahrheit zu erkennen, <strong>de</strong>r muß willig sein, alles<br />

anzunehmen, was sie offenbart; er darf <strong>de</strong>m Irrtum keine Zugeständnisse machen. Unbeständig<br />

und oberflächlich in <strong>de</strong>r Treue zur Wahrheit zu sein, heißt Finsternis <strong>de</strong>s Irrtums und teuflische<br />

Täuschung zu wählen.<br />

Weltliche Klugheit und die unwan<strong>de</strong>lbaren Grundsätze <strong>de</strong>r Gerechtigkeit gehen nicht<br />

unmerklich ineinan<strong>de</strong>r über wie die Farben <strong>de</strong>s Regenbogens; zwischen bei<strong>de</strong>n ist von <strong>de</strong>m<br />

ewigen Gott eine breite, <strong>de</strong>utliche Trennungslinie gezogen. <strong>Christi</strong> Bild unterschei<strong>de</strong>t sich so<br />

auffallend von <strong>de</strong>m Bil<strong>de</strong> Satans wie <strong>de</strong>r helle Mittag von <strong>de</strong>r dunkelsten Mitternacht. Nur<br />

diejenigen, die in Jesu Fußtapfen wan<strong>de</strong>ln, sind seine Mitarbeiter. Wenn eine Sün<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Seele<br />

genährt o<strong>de</strong>r eine schlechte Gewohnheit im Leben gedul<strong>de</strong>t wird, ist das ganze Wesen unrein,<br />

und <strong>de</strong>r Mensch wird ein Werkzeug <strong>de</strong>r Ungerechtigkeit.<br />

Wer <strong>de</strong>n <strong>Die</strong>nst für <strong>de</strong>n Herrn gewählt hat, darf sich getrost seiner Fürsorge überlassen.<br />

Christus wies auf die Vögel unter <strong>de</strong>m Himmel und auf die Blumen <strong>de</strong>s Fel<strong>de</strong>s; er for<strong>de</strong>rte seine<br />

Zuhörer auf, auf diese zu achten, und fragte sie: „Seid ihr <strong>de</strong>nn nicht viel mehr als<br />

sie?“ Matthäus 6,26. Das Maß <strong>de</strong>r Aufmerksamkeit, die Gott irgen<strong>de</strong>inem Gegenstand schenkt,<br />

entspricht <strong>de</strong>ssen Rang im Wertmaß <strong>de</strong>s Lebens. <strong>Die</strong> Vorsehung wacht über <strong>de</strong>n kleinen<br />

braunen Sperling. <strong>Die</strong> Blumen <strong>de</strong>s Fel<strong>de</strong>s und das Gras, das die Er<strong>de</strong> wie ein Teppich be<strong>de</strong>ckt,<br />

teilen sich in die Beachtung und Fürsorge unseres himmlischen Vaters. Der erhabene Meister<br />

aller Künstler ge<strong>de</strong>nkt <strong>de</strong>r Lilien und gestaltet sie so schön, daß sie die Pracht Salomos in <strong>de</strong>n<br />

Schatten stellen. Um wieviel mehr gilt seine Sorgfalt <strong>de</strong>n Menschen, die Gottes Ebenbild und<br />

207


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Ruhm sind! Er möchte gern, daß seine Kin<strong>de</strong>r einen Charakter offenbaren, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m seinen<br />

ähnelt. Wie erst <strong>de</strong>r Sonnenstrahl die unterschiedlichen und zarten Farben <strong>de</strong>r Blumen <strong>de</strong>utlich<br />

zeigt, so verleiht Gott <strong>de</strong>r Seele die Schönheit seines eigenen Wesens.<br />

Alle, die das Reich <strong>Christi</strong>, das Reich <strong>de</strong>r Liebe, <strong>de</strong>r Gerechtigkeit und <strong>de</strong>s Frie<strong>de</strong>ns wählen<br />

und es höher schätzen als alles an<strong>de</strong>re, sind mit <strong>de</strong>r himmlischen Welt verbun<strong>de</strong>n, und je<strong>de</strong><br />

Segnung, <strong>de</strong>r sie für dieses Leben bedürfen, steht ihnen zur Verfügung. In <strong>de</strong>m Buch <strong>de</strong>r<br />

göttlichen Vorsehung, <strong>de</strong>m Buch <strong>de</strong>s Lebens, ist je<strong>de</strong>m von uns eine Seite gegeben. Auf je<strong>de</strong>r<br />

Seite stehen die Einzelheiten unseres Lebens; selbst die Haare auf unserem Kopfe sind gezählt.<br />

Gottes Kin<strong>de</strong>r sind seinem Herzen niemals fern. „Darum sorget nicht für <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn<br />

Morgen.“ Matthäus 6,34. Wir sollen Christus täglich folgen. Gott gibt uns heute keine Hilfe für<br />

morgen. Er gibt seinen Kin<strong>de</strong>rn nicht alle Anweisungen für die ganze Lebensreise auf einmal;<br />

sie wür<strong>de</strong>n dadurch nur verwirrt wer<strong>de</strong>n. Er sagt ihnen nur so viel, wie sie sich merken und wie<br />

sie ausführen können. <strong>Die</strong> mitgeteilte Kraft und Weisheit ist stets für <strong>de</strong>n unmittelbaren Notfall.<br />

„Wenn aber jeman<strong>de</strong>m unter euch Weisheit mangelt, <strong>de</strong>r bitte Gott, <strong>de</strong>r da gern gibt je<strong>de</strong>rmann<br />

und allen mit Güte begegnet, so wird ihm gegeben wer<strong>de</strong>n.“ Jakobus 1,5.<br />

„Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet wer<strong>de</strong>t.“ Matthäus 7,1. Glaubt nicht, daß ihr besser<br />

seid als an<strong>de</strong>re, und erhebt euch nicht zum Richter über sie. Da ihr nicht die Beweggrün<strong>de</strong> ihrer<br />

Handlungen kennt, seid ihr unfähig, an<strong>de</strong>re zu richten. Wenn ihr aber Kritik übt, dann fällt ihr<br />

gewöhnlich euer eigenes Urteil; <strong>de</strong>nn ihr zeigt oft, daß ihr <strong>de</strong>s Teufels Teilhaber darin seid, eure<br />

Brü<strong>de</strong>r zu verklagen. Der Herr sagt: „Versuchet euch selbst, ob ihr im Glauben seid; prüfet euch<br />

selbst!“ 2.Korinther 13,5. Das ist unsere Aufgabe. „Wenn wir uns selber richteten, so wür<strong>de</strong>n<br />

wir nicht gerichtet.“ 1.Korinther 11,31. Ein guter Baum wird gute Frucht bringen! Ist die Frucht<br />

ungenießbar, so ist <strong>de</strong>r Baum wertlos. Genauso bezeugen die Früchte unseres Lebens, unsere<br />

Taten, in welchem Zustand sich unser Herz und unser Charakter befin<strong>de</strong>n. Mit guten Werken<br />

können wir uns die Seligkeit nicht erkaufen; aber sie dienen als Beweis <strong>de</strong>s Glaubens, <strong>de</strong>r durch<br />

die Liebe tätig ist und die Seele reinigt. Obgleich die himmlische Belohnung nicht nach <strong>de</strong>m<br />

Verdienst <strong>de</strong>r Werke ausgeteilt wird, steht sie doch im Verhältnis zu <strong>de</strong>n Werken, die durch die<br />

Gna<strong>de</strong> <strong>Christi</strong> getan wor<strong>de</strong>n sind.<br />

So verkündigte Christus die Grundsätze seines Reiches und zeigte wie umfassend sie als<br />

Richtschnur <strong>de</strong>s Lebens dienen. Um seine Lehre noch verständlicher zu machen,<br />

veranschaulichte er sie durch Bil<strong>de</strong>r und Gleichnisse. Es genügt nicht, sagte er, daß ihr meine<br />

Worte hört, ihr müßt sie durch tätigen Gehorsam zur Grundlage eures Charakters machen. Das<br />

eigene Ich ist nur loser Sand; baut ihr auf Menschenweisheit und Menschengeist, so wird euer<br />

Haus fallen. Durch die Stürme <strong>de</strong>r Versuchungen und Prüfungen wird es hinweggefegt wer<strong>de</strong>n.<br />

<strong>Die</strong> Grundsätze aber, die ich euch gegeben habe, wer<strong>de</strong>n dauern. Darum bekennt euch zu mir!<br />

Baut auf mein Wort! „Wer diese meine Re<strong>de</strong> hört und tut sie, <strong>de</strong>r gleicht einem klugen Mann,<br />

<strong>de</strong>r sein Haus auf <strong>de</strong>n Felsen baute. Da nun ein Platzregen fiel und die Wasser kamen und<br />

wehten die Win<strong>de</strong> und stießen an das Haus, fiel es doch nicht; <strong>de</strong>nn es war auf <strong>de</strong>n Felsen<br />

gegrün<strong>de</strong>t.“ Matthäus 7,24.25.<br />

208


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 32: Der Hauptmann<br />

Christus hatte zu <strong>de</strong>m königlichen Beamten, <strong>de</strong>ssen Sohn von ihm geheilt wor<strong>de</strong>n war,<br />

gesagt: „Wenn ihr nicht Zeichen und Wun<strong>de</strong>r seht, so glaubt ihr nicht.“ Johannes 4,48. Es<br />

betrübte ihn, daß sein eigenes Volk äußerliche Beweise seines Messiasamtes verlangte. Immer<br />

wie<strong>de</strong>r hatte er sich über ihren Unglauben gewun<strong>de</strong>rt. Er war <strong>de</strong>shalb sehr erstaunt über <strong>de</strong>n<br />

Glauben <strong>de</strong>s Hauptmanns, <strong>de</strong>r zu ihm kam. Der Hauptmann zweifelte nicht an <strong>de</strong>r Macht <strong>de</strong>s<br />

Heilan<strong>de</strong>s, er bat ihn nicht einmal, persönlich zu ihm zu kommen, um das Wun<strong>de</strong>r zu wirken.<br />

„Sprich nur ein Wort“, sagte er voller Glauben und Vertrauen, „so wird mein Knecht<br />

gesund.“ Matthäus 8,8.<br />

Der Knecht war gichtbrüchig und lag im Sterben. Bei <strong>de</strong>n Römern waren die <strong>Die</strong>ner<br />

Sklaven. Sie wur<strong>de</strong>n auf <strong>de</strong>n Märkten gekauft; sie wur<strong>de</strong>n beschimpft und grausam behan<strong>de</strong>lt.<br />

<strong>Die</strong>ser Hauptmann aber war seinem <strong>Die</strong>ner zugetan und wünschte herzlich seine Genesung. Er<br />

glaubte, daß Jesus ihn heilen könne. Gesehen hatte er <strong>de</strong>n Heiland zwar noch nicht, aber alles,<br />

was er über sein Wirken bisher vernommen hatte, erweckte seinen Glauben. Ungeachtet <strong>de</strong>s<br />

Formenwesens <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n war dieser Römer überzeugt, daß ihre Religion besser sei als die<br />

seinige. Er hatte schon die Schranken nationalen Vorurteils und <strong>de</strong>s Hasses, welche die Sieger<br />

von <strong>de</strong>n Besiegten trennten, durchbrochen, hatte Achtung vor ihrem Gottesdienst bekun<strong>de</strong>t und<br />

<strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n als ein Anbeter Gottes Aufmerksamkeiten erwiesen. In <strong>de</strong>r Lehre <strong>Christi</strong>, wie sie ihm<br />

übermittelt wor<strong>de</strong>n war, fand er etwas, was <strong>de</strong>m Bedürfnis seiner Seele entsprach. Sein ganzes<br />

geistliches Verlangen kam <strong>de</strong>n Worten <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s entgegen. Er hielt sich jedoch für<br />

unwürdig, in Jesu Nähe zu kommen, und er bat die jüdischen Ältesten, um die Heilung seines<br />

Knechtes zu bitten, kannten sie doch <strong>de</strong>n großen Lehrer und wür<strong>de</strong>n wissen, so dachte er, wie<br />

sie sich ihm nähern mußten, um seine Gunst zu erlangen. Als Jesus nach Kapernaum kam,<br />

wur<strong>de</strong> er von einer Abordnung <strong>de</strong>r Ältesten empfangen, die <strong>de</strong>s Hauptmanns Wunsch<br />

vorbrachte und mit <strong>de</strong>n Worten befürwortete: „Er hat unser Volk lieb, und die Synagoge hat er<br />

uns erbaut.“ Lukas 7,5.<br />

Jesus lenkte seine Schritte nunmehr unverzüglich nach <strong>de</strong>m Hause <strong>de</strong>s Hauptmanns, kam<br />

jedoch wegen <strong>de</strong>r zahlreichen Menschen auf <strong>de</strong>n Straßen nur langsam vorwärts. <strong>Die</strong> Nachricht<br />

seines Kommens eilte ihm voraus. Der Hauptmann in seiner Demut sandte ihm die Botschaft<br />

entgegen: „Ach Herr, bemühe dich nicht; ich bin nicht wert, daß du unter mein Dach gehest.“<br />

Der Heiland aber setzte unbeirrt seinen Weg fort. Da wagte es schließlich <strong>de</strong>r Hauptmann, sich<br />

ihm zu nähern. Er tat es mit <strong>de</strong>n Worten: „Darum habe ich auch mich selbst nicht würdig<br />

geachtet, daß ich zu dir käme; son<strong>de</strong>rn sprich ein Wort, so wird mein Knecht gesund. Denn<br />

auch ich bin ein Mensch, <strong>de</strong>r Obrigkeit untertan, und habe Kriegsknechte unter mir; und<br />

spreche ich zu einem: Gehe hin! so geht er; und zum an<strong>de</strong>rn: Komm her! so kommt er; und zu<br />

meinem Knecht: Tu das! so tut er‘s.“ Lukas 7,6-8. Wie ich die Macht Roms vertrete und meine<br />

Soldaten mich als höchste Autorität anerkennen, so vertrittst du die Macht <strong>de</strong>s ewigen Gottes,<br />

und alle Geschöpfe sind <strong>de</strong>inem Wort gehorsam. Du gebietest <strong>de</strong>n Krankheiten zu weichen, und<br />

sie müssen dir gehorchen; du rufst die Engel <strong>de</strong>s Himmels, und sie müssen dir heilen<strong>de</strong> Kraft<br />

mitteilen. Sprich nur ein Wort, so wird mein Knecht gesund.<br />

209


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

„Da aber Jesus das hörte, verwun<strong>de</strong>rte er sich über ihn und wandte sich um und sprach zu<br />

<strong>de</strong>m Volk, das ihm nachfolgte: Ich sage euch: Solchen Glauben habe ich in ganz Israel nicht<br />

gefun<strong>de</strong>n.“ Lukas 7,9. Und zu <strong>de</strong>m Hauptmann sagte er: „Gehe hin; dir geschehe, wie du<br />

geglaubt hast. Und sein Knecht ward gesund zu <strong>de</strong>rselben Stun<strong>de</strong>.“ Matthäus 8,13. <strong>Die</strong><br />

jüdischen Ältesten, die <strong>de</strong>n Hauptmann <strong>de</strong>r Gunst Jesu empfahlen, hatten bewiesen, wie weit sie<br />

davon entfernt waren, <strong>de</strong>n Geist <strong>de</strong>s Evangeliums zu besitzen. Sie erkannten nicht, daß <strong>de</strong>r<br />

einzige Anspruch, <strong>de</strong>n wir auf Gottes Gna<strong>de</strong> haben, unsere große Not ist; in ihrer<br />

Selbstgerechtigkeit baten sie für <strong>de</strong>n Hauptmann wegen <strong>de</strong>r vielen Gunsterweisungen für „unser<br />

Volk“. Der Hauptmann aber sagte von sich selbst: „Ich bin es nicht wert.“ Sein Herz war von<br />

<strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong> <strong>Christi</strong> berührt wor<strong>de</strong>n; er sah seine Unwürdigkeit, fürchtete sich aber nicht, um<br />

Hilfe zu bitten. Er baute nicht auf sein Gutsein, son<strong>de</strong>rn gab seine große Not als Grund seiner<br />

Bitte an. Sein Glaube erfaßte das wahre Wesen <strong>Christi</strong>; er glaubte an ihn, nicht nur, weil dieser<br />

ein Wun<strong>de</strong>rtäter war, son<strong>de</strong>rn weil er in ihm <strong>de</strong>n Freund und Heiland <strong>de</strong>r Menschheit sah.<br />

So sollte je<strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>r zu Christus kommen. Er rettete uns, „nicht um <strong>de</strong>r Werke willen <strong>de</strong>r<br />

Gerechtigkeit, die wir getan hatten, son<strong>de</strong>rn nach seiner Barmherzigkeit“. Titus 3,5. Wenn<br />

Satan dir sagt, daß du ein Sün<strong>de</strong>r bist und nicht hoffen kannst, Segnungen von Gott zu<br />

empfangen, dann sage ihm, daß Christus in die Welt kam, Sün<strong>de</strong>r selig zu machen. Wir haben<br />

nichts, was uns bei Gott empfiehlt; <strong>de</strong>r einzige Grund, <strong>de</strong>n wir anführen können, ist unsere<br />

äußerst hilflose Lage, die Jesu erlösen<strong>de</strong> Kraft für uns notwendig macht. Alles Selbstvertrauen<br />

aufgebend, dürfen wir zum Kreuz auf Golgatha blicken und sagen: Da ich dir nichts bringen<br />

kann, schmieg ich an <strong>de</strong>in Kreuz mich an.<br />

<strong>Die</strong> Ju<strong>de</strong>n waren von Kindheit an über die Aufgabe <strong>de</strong>s Messias unterrichtet wor<strong>de</strong>n und<br />

besaßen die heiligen Aussprüche <strong>de</strong>r Patriarchen und Propheten und auch die sinnbildlichen<br />

Lehren <strong>de</strong>s Opferdienstes; aber sie hatten das Licht nicht beachtet und sahen jetzt in Jesus nicht<br />

das Wesen, nach <strong>de</strong>m sie Verlangen haben sollten. Der Hauptmann jedoch, <strong>de</strong>r im Hei<strong>de</strong>ntum<br />

geboren, im Götzendienst <strong>de</strong>s kaiserlichen Rom erzogen, als heidnischer Soldat ausgebil<strong>de</strong>t und<br />

wahrscheinlich durch seine Erziehung und Umgebung vom geistlichen Leben abgeschnitten war<br />

und durch <strong>de</strong>n blin<strong>de</strong>n Eifer <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n und die Verachtung seiner eigenen Landsleute <strong>de</strong>m Volk<br />

Israel gegenüber noch weiter davon getrennt wur<strong>de</strong> — dieser Mann erfaßte die Wahrheit, gegen<br />

welche die Kin<strong>de</strong>r Israel blind waren. Er wartete nicht darauf, ob die Ju<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n aufnehmen<br />

wür<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r sich als ihr Messias ausgab; als „das wahrhaftige Licht, welches alle Menschen<br />

erleuchtet, die in diese Welt kommen“ (Johannes 1,9), ihm erschien, da erkannte er selbst aus<br />

<strong>de</strong>r Ferne die Herrlichkeit <strong>de</strong>s Sohnes Gottes.<br />

Das war für Jesus ein Pfand für die Aufgabe, die das Evangelium unter <strong>de</strong>n Hei<strong>de</strong>n<br />

vollbringen sollte. Mit Freu<strong>de</strong>n sah er <strong>de</strong>m Sammeln <strong>de</strong>r Seelen aus allen Völkern für sein<br />

Reich entgegen; aber mit tiefer Trauer schil<strong>de</strong>rte er <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n die Folgen <strong>de</strong>r Verwerfung seiner<br />

Gna<strong>de</strong>: „Ich sage euch: Viele wer<strong>de</strong>n kommen vom Osten und vom Westen und mit Abraham<br />

und Isaak und Jakob im Himmelreich sitzen; aber die Kin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Reichs wer<strong>de</strong>n ausgestoßen in<br />

die Finsternis hinaus; da wird sein Heulen und Zähneklappern.“ Matthäus 8,11.12. Wie viele<br />

bereiten sich jetzt noch diese große Enttäuschung! Wie vielen Menschen in <strong>de</strong>n christlichen<br />

210


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Län<strong>de</strong>rn scheint dieses Licht nur, um von ihnen verworfen zu wer<strong>de</strong>n, während Hei<strong>de</strong>n die<br />

Gna<strong>de</strong> Jesu ergreifen!<br />

In <strong>de</strong>r Nähe von Kapernaum, etwa acht Stun<strong>de</strong>n Wegs entfernt, lag auf einem Tafelland, von<br />

<strong>de</strong>m aus man die landschaftlich schöne Ebene von Jesreel überblicken konnte, das Dorf Nain.<br />

Nach dort wan<strong>de</strong>rte nun <strong>de</strong>r Herr Jesus. Viele seiner Jünger und auch etliche Anhänger aus <strong>de</strong>m<br />

Volk waren bei ihm. Auf <strong>de</strong>m Wege dahin vergrößerte sich die Zahl <strong>de</strong>rer, die sich nach seinen<br />

Worten <strong>de</strong>r Liebe und <strong>de</strong>r Teilnahme sehnten, ihm ihre Kranken zur Heilung brachten und die<br />

stille Hoffnung hatten, daß er, <strong>de</strong>m eine so wun<strong>de</strong>rbare Macht zu Gebote stand, sich als König<br />

von Israel offenbaren wer<strong>de</strong>. Es war eine frohe, erwartungsvolle Schar, die sich um ihn drängte<br />

und ihn auf felsigem Pfad zu <strong>de</strong>m Bergdorf begleitete. Als sie näher kamen, sahen sie einen<br />

Leichenzug, <strong>de</strong>r sich langsamen, schleppen<strong>de</strong>n Schrittes durch die Tore nach <strong>de</strong>r<br />

Begräbnisstätte bewegte. Dem Zuge voran trug man in einem offenen Sarg <strong>de</strong>n Verstorbenen.<br />

Ihm zur Seite gingen die Hinterbliebenen, <strong>de</strong>ren Wehklagen die Luft erfüllte. Alle Einwohner<br />

<strong>de</strong>s Ortes schienen sich versammelt zu haben, um durch ihre Teilnahme ihr Mitgefühl zu<br />

bezeugen und <strong>de</strong>m Toten die letzte Ehre zu erweisen.<br />

Es war ein Anblick, <strong>de</strong>r Mitgefühl erwecken mußte. Der Tote war <strong>de</strong>r einzige Sohn seiner<br />

Mutter, und sie war eine Witwe. <strong>Die</strong> einsam Trauern<strong>de</strong> folgte ihrer einzigen irdischen Stütze,<br />

ihrem ganzen Trost, zum Grabe. „Da sie <strong>de</strong>r Herr sah, jammerte ihn <strong>de</strong>rselben.“ Sie aber ging<br />

weinend, blind gegen alles, ihres Weges, ohne Jesu Gegenwart zu beachten. Da trat <strong>de</strong>r Herr an<br />

die unglückliche Frau heran und sagte sanft: „Weine nicht!“ Er wollte ihre Trauer in Freu<strong>de</strong><br />

verwan<strong>de</strong>ln und sagte dieses trösten<strong>de</strong> Wort: „Weine nicht!“ Lukas 7,13. „Und trat hinzu und<br />

rührte <strong>de</strong>n Sarg an.“ Selbst die Berührung <strong>de</strong>s Toten konnte <strong>de</strong>n Herrn nicht verunreinigen. <strong>Die</strong><br />

Träger stan<strong>de</strong>n still. Das Klagen <strong>de</strong>r Leidtragen<strong>de</strong>n verstummte. Sie sammelten sich alle mit<br />

ungewisser Hoffnung um <strong>de</strong>n Sarg. Es war jemand gegenwärtig, <strong>de</strong>r bereits Krankheiten<br />

gebannt und Teufel ausgetrieben hatte. War auch <strong>de</strong>r Tod seiner Macht unterworfen?<br />

Mit klarer, gebieterischer Stimme ertönen die Worte: „Jüngling, ich sage dir, stehe auf!“<br />

<strong>Die</strong>se Stimme durchdringt <strong>de</strong>n Toten; er öffnet die Augen. Dann nimmt ihn Jesus bei <strong>de</strong>r Hand<br />

und richtet ihn auf. Sein Blick fällt auf die Frau, die weinend neben ihm gestan<strong>de</strong>n, und Mutter<br />

und Sohn fin<strong>de</strong>n sich in selig-freudiger Umarmung. <strong>Die</strong> Menge steht schweigend, wie gebannt.<br />

„Es kam sie alle eine Furcht an.“ Still und ehrfurchtsvoll stan<strong>de</strong>n die Leute eine Weile, als<br />

wären sie in <strong>de</strong>r Gegenwart Gottes. Dann priesen sie „Gott und sprachen: Es ist ein großer<br />

Prophet unter uns aufgestan<strong>de</strong>n, und: Gott hat sein Volk heimgesucht“. Der Leichenzug kehrte<br />

als Triumphzug nach Nain zurück. „Und diese Re<strong>de</strong> über ihn erscholl in das ganze jüdische<br />

Land und in alle umliegen<strong>de</strong>n Län<strong>de</strong>r.“ Lukas 7,14-17.<br />

Jesus achtet heute noch auf die Traurigen. Unser Kummer erfüllt ihn mit Teilnahme. Sein<br />

Herz, das damals liebte und Mitleid hatte, ist ein Herz von unverän<strong>de</strong>rlicher Güte und Fürsorge;<br />

sein Wort, das <strong>de</strong>n Toten ins Leben zurückrief, ist jetzt nicht weniger wirksam als zu jener Zeit,<br />

da es sich an <strong>de</strong>n Jüngling von Nain richtete. Er sagt: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel<br />

und auf Er<strong>de</strong>n.“ Matthäus 28,18. Jesu Macht ist im Verlauf <strong>de</strong>r Zeiten we<strong>de</strong>r geringer<br />

gewor<strong>de</strong>n, noch ist sie durch die ständige Wirksamkeit seiner überströmen<strong>de</strong>n Gna<strong>de</strong> erschöpft.<br />

211


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Allen, die an ihn glauben und auf ihn ihr Vertrauen setzen, ist er ein lebendiger Heiland. Als<br />

Jesus <strong>de</strong>r Mutter <strong>de</strong>n Sohn zurückgab, verwan<strong>de</strong>lte er ihre Trauer in große Freu<strong>de</strong>. Und doch<br />

war <strong>de</strong>r Jüngling nur in das irdische Leben zurückgerufen wor<strong>de</strong>n, um aufs neue all <strong>de</strong>ssen<br />

Mühen, Sorgen und Gefahren zu erdul<strong>de</strong>n und um nochmals <strong>de</strong>r Macht <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s zu erliegen.<br />

Aber unsere Trauer um die Toten stillt Jesus durch eine Botschaft unendlicher Hoffnung: Ich<br />

bin „<strong>de</strong>r Lebendige. Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe<br />

die Schlüssel <strong>de</strong>r Hölle und <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s“. Offenbarung 1,18. „Weil nun die Kin<strong>de</strong>r Fleisch und<br />

Blut haben, ist auch er <strong>de</strong>r gleichen Art teilhaftig gewor<strong>de</strong>n, damit er durch seinen Tod die<br />

Macht nähme <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s Gewalt hatte, das ist <strong>de</strong>m Teufel, und erlöste die, so durch<br />

Furcht vor <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> im ganzen Leben Knechte sein mußten.“ Hebräer 2,14.15.<br />

Satan kann die Toten nicht in seiner Gewalt behalten, wenn <strong>de</strong>r Sohn Gottes ihnen gebietet<br />

zu leben. Er kann nicht eine einzige Seele im geistlichen To<strong>de</strong> bannen, die gläubig <strong>Christi</strong><br />

Machtwort annimmt. Gott sagt zu allen, die in Sün<strong>de</strong>n tot sind: „Wache auf, <strong>de</strong>r du schläfst, und<br />

stehe auf von <strong>de</strong>n Toten.“ Epheser 5,14. Sein Wort ist ewiges Leben. Wie das Wort Gottes, das<br />

<strong>de</strong>m ersten Menschen gebot zu leben, auch uns noch Leben gibt; wie Jesu Wort: „Jüngling, ich<br />

sage dir, stehe auf!“ <strong>de</strong>m Jüngling von Nain Leben gab — so ist das Wort: „Stehe auf von <strong>de</strong>n<br />

Toten“ Leben für die Seele, die es annimmt. Gott hat uns errettet „von <strong>de</strong>r Macht <strong>de</strong>r Finsternis<br />

und hat uns versetzt in das Reich seines lieben Sohnes“. Kolosser 1,13. Alles wird uns in<br />

seinem Wort angeboten; nehmen wir es an, dann sind wir gerettet.<br />

„Wenn nun <strong>de</strong>r Geist <strong>de</strong>s, <strong>de</strong>r Jesus von <strong>de</strong>n Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird<br />

<strong>de</strong>rselbe, <strong>de</strong>r Jesus Christus von <strong>de</strong>n Toten auferweckt hat, auch eure sterblichen Leiber<br />

lebendig machen, durch seinen Geist, <strong>de</strong>r in euch wohnt.“ Römer 8,11. „Denn er selbst, <strong>de</strong>r<br />

Herr, wird mit befehlen<strong>de</strong>m Wort, mit <strong>de</strong>r Stimme <strong>de</strong>s Erzengels und mit <strong>de</strong>r Posaune Gottes<br />

hernie<strong>de</strong>rkommen vom Himmel, und die Toten in Christus wer<strong>de</strong>n auferstehen zuerst. Danach<br />

wir, die wir leben und übrigbleiben, wer<strong>de</strong>n zugleich mit ihnen hingerückt wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n<br />

Wolken, <strong>de</strong>m Herrn entgegen in die Luft, und wer<strong>de</strong>n so bei <strong>de</strong>m Herrn sein<br />

allezeit.“ 1.Thessalonicher 4,16.17. <strong>Die</strong>s ist jenes Trostwort, mit <strong>de</strong>m wir uns, so gebot er,<br />

untereinan<strong>de</strong>r trösten sollen.<br />

212


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 33: Wer sind meine Brü<strong>de</strong>r?<br />

<strong>Die</strong> Söhne Josephs waren weit davon entfernt, mit <strong>de</strong>m Wirken Jesu einverstan<strong>de</strong>n zu sein.<br />

Was sie über sein Leben und Tun hörten, erfüllte sie mit Verwun<strong>de</strong>rung und Bestürzung. Ganze<br />

Nächte verbringe er im Gebet, so hieß es, und tagsüber bedrängten ihn große Scharen von<br />

Menschen, so daß er nicht einmal Zeit zum Essen fän<strong>de</strong>. Seine Freun<strong>de</strong> meinten, daß er sich<br />

durch sein Übermaß an Arbeit Scha<strong>de</strong>n zufügen könnte. Für Jesu Verhalten <strong>de</strong>n Pharisäern<br />

gegenüber fan<strong>de</strong>n sie keine Erklärung, und manche befürchteten sogar, daß sein Verstand<br />

verwirrt wer<strong>de</strong>n könnte.<br />

All dies erfuhren seine Brü<strong>de</strong>r — auch die Beschuldigung <strong>de</strong>r Pharisäer, Jesus treibe böse<br />

Geister durch die Macht Satans aus. Sie fühlten in starkem Maße Schan<strong>de</strong> über sich kommen,<br />

weil sie mit ihm verwandt waren. Sie wußten, was für Aufsehen seine Worte und Taten<br />

erregten. Nicht nur seine freimütigen Äußerungen machten sie äußerst besorgt; sie waren auch<br />

entrüstet, wie er die Schriftgelehrten und Pharisäer anklagte. Sie kamen zu <strong>de</strong>r Überzeugung,<br />

daß er von ihnen überre<strong>de</strong>t o<strong>de</strong>r gezwungen wer<strong>de</strong>n müsse, diese Handlungsweise aufzugeben.<br />

Deshalb veranlaßten sie Maria, sie darin zu unterstützen. Um seiner Liebe willen zu ihr, so<br />

dachten sie, könnten sie ihn dahin bringen, sich vorsichtiger zu verhalten. Kurz vorher hatte<br />

Jesus zum zweiten Mal das Wun<strong>de</strong>r einer Besessenenheilung an einem blin<strong>de</strong>n und stummen<br />

Mann vollbracht. Sofort wie<strong>de</strong>rholten die Pharisäer ihre Anklage: „Er treibt die bösen Geister<br />

aus durch ihren Obersten.“ Matthäus 9,34. Christus erwi<strong>de</strong>rte ihnen <strong>de</strong>utlich: Wenn sie das<br />

Wirken <strong>de</strong>s Heiligen Geistes Satan zuschrieben, trennten sie sich selbst von <strong>de</strong>r Segensquelle.<br />

Wer gegen Jesus gesprochen habe, weil er <strong>de</strong>ssen göttliche Herkunft nicht erkannte, könne<br />

Vergebung erhalten; <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Heilige Geist vermag ihn dahin zu bringen, seinen Irrtum<br />

einzusehen und zu bereuen. Für je<strong>de</strong> Art von Sün<strong>de</strong> gilt; Reue und Glauben haben zur Folge,<br />

daß die Schuld <strong>de</strong>s Menschen mit <strong>de</strong>m Blute <strong>Christi</strong> abgewaschen wird. Wer dagegen das<br />

Wirken <strong>de</strong>s Heiligen Geistes zurückweist, verhin<strong>de</strong>rt dadurch selbst, daß ihm Bußfertigkeit und<br />

Glaube zuteil wer<strong>de</strong>n können. Gott arbeitet durch seinen Geist am Herzen eines Menschen. Wer<br />

vorsätzlich diesen Geist zurückweist und für teuflisch erklärt, trennt die einzige Verbindung,<br />

durch die Gott sich mitteilen kann. Wird <strong>de</strong>r Heilige Geist endgültig verworfen, kann Gott<br />

nichts mehr für diesen Menschen tun.<br />

<strong>Die</strong> Pharisäer, an die Jesus diese Warnung richtete, glaubten selbst nicht an die<br />

Beschuldigung, die sie gegen ihn vorbrachten. Unter diesen Wür<strong>de</strong>nträgern gab es keinen, <strong>de</strong>r<br />

sich nicht zum Heiland hingezogen gefühlt hätte. Sie alle hatten in ihren Herzen die Stimme <strong>de</strong>s<br />

Geistes vernommen, die ihnen erklärte, daß Jesus <strong>de</strong>r Gesalbte Israels sei, und sie drängte, sich<br />

als seine Jünger zu bekennen. Im Lichte <strong>de</strong>r Gegenwart Jesu war ihnen ihre Gottlosigkeit<br />

bewußt gewor<strong>de</strong>n, und sie hatten sich nach einer Gerechtigkeit gesehnt, die zu erschaffen sie<br />

nicht fähig waren. Doch nach<strong>de</strong>m sie Jesus verworfen hatten, wäre es für sie zu <strong>de</strong>mütigend<br />

gewesen, ihn doch als <strong>de</strong>n Messias anzunehmen. Sie hatten <strong>de</strong>n Pfad <strong>de</strong>s Unglaubens betreten<br />

und waren nunmehr zu stolz, ihren Irrtum einzugestehen. Um die Wahrheit nicht anerkennen zu<br />

müssen, versuchten sie mit verzweifelter Heftigkeit, die Lehre <strong>de</strong>s Erlösers in Frage zu stellen.<br />

<strong>Die</strong> Beweise seiner Macht und Barmherzigkeit erbitterten sie. Sie konnten ihn nicht hin<strong>de</strong>rn,<br />

213


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Wun<strong>de</strong>r zu vollbringen, und konnten auch seine Lehre nicht totschweigen. Sie taten aber alles,<br />

was in ihrer Macht stand, um Jesus falsch darzustellen und seine Worte zu verfälschen. Noch<br />

immer ging ihnen <strong>de</strong>r Geist Gottes nach, um sie von ihrer Schuld zu überzeugen. Viele<br />

Hin<strong>de</strong>rnisse mußten sie aufrichten, um seiner Macht wi<strong>de</strong>rstehen zu können. <strong>Die</strong> stärkste Kraft,<br />

mit <strong>de</strong>r das menschliche Herz in Berührung kommen kann, rang mit ihnen, aber sie wollten sich<br />

ihr nicht ergeben.<br />

Gott schlägt keineswegs die Augen <strong>de</strong>r Menschen mit Blindheit, er verhärtet auch nicht ihre<br />

Herzen, vielmehr sen<strong>de</strong>t er ihnen Licht, um ihre Irrtümer zu berichtigen und sie auf sicheren<br />

Wegen zu leiten. <strong>Die</strong> Zurückweisung dieses Lichtes führt jedoch zur Erblindung <strong>de</strong>r<br />

geistlichen Augen und zur Verhärtung <strong>de</strong>s Herzens. Oft geschieht dies allmählich und fast<br />

unmerklich. Licht erreicht die Seele durch Gottes Wort, durch seine <strong>Die</strong>ner o<strong>de</strong>r unmittelbar<br />

durch das Wirken <strong>de</strong>s Geistes Gottes. Bleibt aber ein einziger Lichtstrahl unbeachtet, so tritt<br />

eine teilweise Lähmung <strong>de</strong>s geistlichen Wahrnehmungsvermögens ein, und die zweite<br />

Offenbarung <strong>de</strong>s Lichtes wird weniger <strong>de</strong>utlich erkannt. Auf diese Weise verdichtet sich die<br />

Finsternis, bis völlige Nacht im Herzen herrscht. So erging es diesen führen<strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n. Sie<br />

waren überzeugt, daß eine göttliche Kraft Christus begleitete. Dennoch wi<strong>de</strong>rstrebten sie <strong>de</strong>r<br />

Wahrheit und schrieben das Wirken <strong>de</strong>s Heiligen Geistes Satan zu. Damit entschie<strong>de</strong>n sie sich<br />

vorsätzlich für betrügerische Machenschaften. Sie lieferten sich Satan aus und wur<strong>de</strong>n hinfort<br />

von seiner Macht beherrscht.<br />

Eng verbun<strong>de</strong>n mit <strong>Christi</strong> Warnung vor <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> wi<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Heiligen Geist ist seine<br />

Warnung vor unnützen und bösen Worten. Worte sind ein Spiegelbild <strong>de</strong>r Gedanken <strong>de</strong>s<br />

Herzens. „Wes das Herz voll ist, <strong>de</strong>s geht <strong>de</strong>r Mund über.“ Matthäus 12,34. <strong>Die</strong> Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r<br />

Worte liegt nicht nur darin, Charaktermerkmale aufzuzeigen; sie üben selbst eine<br />

charaktergestalten<strong>de</strong> Wirkung aus. <strong>Die</strong> Menschen wer<strong>de</strong>n von ihren eigenen Worten beeinflußt.<br />

Oftmals äußern sie in einer von Satan plötzlich hervorgerufenen Aufwallung ihre Eifersucht<br />

und ihren üblen Argwohn, obwohl sie selbst nicht wirklich daran glauben; aber ihre Äußerung<br />

wirkt auf ihre Gedanken zurück. Ihre eigenen Worte täuschen sie. Was sie auf Satans<br />

Veranlassung gesprochen haben, halten sie für wahr. An einer einmal vorgebrachten Meinung<br />

o<strong>de</strong>r Entscheidung halten sie fest, weil sie meistens zu stolz sind, sie zu wi<strong>de</strong>rrufen. Nun<br />

versuchen sie so lange ihr Recht zu beweisen, bis sie schließlich selbst daran glauben. Es ist<br />

gefährlich, göttliches Licht in Zweifel zu ziehen, in Frage zu stellen und zu kritisieren. <strong>Die</strong><br />

Angewohnheit, sorglos und geringschätzig zu kritisieren, fällt auf <strong>de</strong>n eigenen Charakter zurück<br />

und begünstigt Unehrerbietigkeit und Unglauben. Manch einer, <strong>de</strong>r dieser Gewohnheit verfallen<br />

war, ging, ohne sich <strong>de</strong>r Gefahr bewußt zu sein, so weit, das Wirken <strong>de</strong>s Heiligen Geistes zu<br />

ta<strong>de</strong>ln und zu verschmähen. Jesus spricht: „Ich sage euch aber, daß die Menschen müssen<br />

Rechenschaft geben am Tage <strong>de</strong>s Gerichts von einem jeglichen nichtsnutzigen Wort, das sie<br />

gere<strong>de</strong>t haben. Aus <strong>de</strong>inen Worten wirst du gerechtfertigt wer<strong>de</strong>n, und aus <strong>de</strong>inen Worten wirst<br />

du verdammt wer<strong>de</strong>n.“ Matthäus 12,36.37.<br />

Dann fügte Jesus eine Warnung für diejenigen hinzu, die zwar von seinen Worten<br />

beeindruckt waren und ihm freudig zugehört hatten, die sich aber <strong>de</strong>m Heiligen Geist nicht<br />

214


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

auslieferten, damit er Besitz von ihnen ergreife. Nicht nur durch Wi<strong>de</strong>rstand, auch durch<br />

Geringschätzung nimmt die Seele Scha<strong>de</strong>n. Jesus sagt: „Wenn <strong>de</strong>r unsaubere Geist von <strong>de</strong>m<br />

Menschen ausgefahren ist, so durchwan<strong>de</strong>lt er dürre Stätten, sucht Ruhe und fin<strong>de</strong>t sie nicht. Da<br />

spricht er <strong>de</strong>nn: Ich will wie<strong>de</strong>r umkehren in mein Haus, daraus ich gegangen bin. Und wenn er<br />

kommt, so fin<strong>de</strong>t er‘s leer, gekehrt und geschmückt. Dann geht er hin und nimmt zu sich sieben<br />

an<strong>de</strong>re Geister, die ärger sind als er selbst; und wenn sie hineinkommen, wohnen sie<br />

allda.“ Matthäus 12,43-45.<br />

Es gab in <strong>de</strong>n Tagen <strong>Christi</strong> viele Menschen, wie es sie auch heute gibt, über die Satans<br />

Herrschaft eine Zeitlang gebrochen zu sein schien. Durch die Gna<strong>de</strong> Gottes wur<strong>de</strong>n sie von <strong>de</strong>n<br />

bösen Geistern frei, die sie beherrscht hatten. Sie erfreuten sich <strong>de</strong>r Liebe Gottes. Aber wie im<br />

Gleichnis vom Sämann die auf das Felsige gefallene Saat „nicht Wurzel“ hatte, so blieben diese<br />

Hörer <strong>de</strong>s göttlichen Wortes nicht in seiner Liebe. Sie übergaben sich nicht täglich Gott, damit<br />

Christus in ihren Herzen wohne. Kehrt dann <strong>de</strong>r böse Geist mit sieben an<strong>de</strong>ren Geistern zurück,<br />

„die ärger sind als er selbst“, wer<strong>de</strong>n sie völlig von <strong>de</strong>r Macht <strong>de</strong>s Bösen beherrscht.<br />

Wenn <strong>de</strong>r Mensch sich Christus ausliefert, ergreift eine neue Kraft Besitz von einem neuen<br />

Herzen. Mit ihm ist eine Wandlung vor sich gegangen, die niemand von sich aus zustan<strong>de</strong> zu<br />

bringen vermag. Es ist ein außeror<strong>de</strong>ntliches Geschehen, wenn die menschliche Natur durch ein<br />

übernatürliches Wesenselement durchdrungen wird. Christus macht eine Seele, die sich ihm<br />

ergibt, zu seinem Bollwerk, das er in einer aufrührerischen Welt verteidigt. Er erwartet, daß in<br />

diesem Bollwerk keine an<strong>de</strong>re als nur seine Autorität gilt. Ein Herz, das sich so in <strong>de</strong>r Obhut <strong>de</strong>r<br />

himmlischen Kräfte befin<strong>de</strong>t, ist für Satans Angriffe unüberwindlich. Wenn wir uns jedoch<br />

nicht <strong>de</strong>r Macht <strong>Christi</strong> anvertrauen, wird uns <strong>de</strong>r Böse beherrschen. Es ist unvermeidbar, daß<br />

wir uns <strong>de</strong>r einen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n großen Mächte unterordnen, die um die<br />

Herrschaft in <strong>de</strong>r Welt kämpfen. Wir brauchen uns gar nicht bewußt in <strong>de</strong>n <strong>Die</strong>nst <strong>de</strong>s Reiches<br />

<strong>de</strong>r Finsternis zu stellen, um in seine Gewalt zu geraten; es genügt bereits, wenn wir es<br />

unterlassen, uns mit <strong>de</strong>m Reich <strong>de</strong>s Lichtes zu verbün<strong>de</strong>n. Arbeiten wir nicht mit <strong>de</strong>n<br />

himmlischen Kräften zusammen, so wird Satan von unseren Herzen Besitz ergreifen, und zwar<br />

für immer . Der einzige Schutz gegen das Böse besteht darin, daß Christus durch <strong>de</strong>n Glauben<br />

an seine Gerechtigkeit in uns wohnt. Wenn es nicht zu einer lebendigen Verbindung mit Gott<br />

kommt, vermögen wir <strong>de</strong>n unseligen Wirkungen <strong>de</strong>r Eigenliebe und Genußsucht sowie <strong>de</strong>n<br />

Verlockungen zur Sün<strong>de</strong> nicht zu wi<strong>de</strong>rstehen. Wir können uns für eine gewisse Zeit, in <strong>de</strong>r wir<br />

uns von Satan lossagen, von vielen schlechten Gewohnheiten trennen; aber ohne lebendige<br />

Verbindung zu Gott, ohne beständige Hingabe an ihn wer<strong>de</strong>n wir doch überwältigt wer<strong>de</strong>n.<br />

Mangelt es uns an einem persönlichen Verhältnis zu Christus und an einer anhalten<strong>de</strong>n<br />

Gemeinschaft mit ihm, sind wir <strong>de</strong>m Fein<strong>de</strong> ausgeliefert und tun schließlich seinen Willen.<br />

Jesus sagte: „Es wird mit <strong>de</strong>mselben Menschen hernach ärger, als es zuvor war, So wird‘s<br />

auch diesem argen Geschlecht gehen.“ Matthäus 12,45. Niemand verhärtet so sehr wie ein<br />

Mensch, <strong>de</strong>r die Einladung <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong> mißachtet und ihrem Geiste trotzt. Das verbreitetste<br />

Merkmal <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> gegen <strong>de</strong>n Heiligen Geist ist die beharrliche Mißachtung <strong>de</strong>r Auffor<strong>de</strong>rung<br />

<strong>de</strong>s Himmels zur Buße. In <strong>de</strong>m gleichen Maße, wie Christus verworfen wird, wird die Erlösung<br />

215


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

abgelehnt und vollzieht sich die Sün<strong>de</strong> gegen <strong>de</strong>n Heiligen Geist. Das jüdische Volk verwarf<br />

Christus und beging damit die unvergebbare Sün<strong>de</strong>. Wenn wir <strong>de</strong>r Einladung <strong>de</strong>r göttlichen<br />

Gna<strong>de</strong> wi<strong>de</strong>rstreben, können wir <strong>de</strong>mselben Irrtum verfallen. Wir beleidigen <strong>de</strong>n Lebensfürsten<br />

und bereiten ihm vor Satans Schule und vor <strong>de</strong>n himmlischen Mächten Schan<strong>de</strong>, wenn wir uns<br />

sträuben, auf seine bevollmächtigten Boten zu hören, son<strong>de</strong>rn statt <strong>de</strong>ssen <strong>de</strong>n Handlangern<br />

Satans unser Ohr leihen, welche die Seele von Christus fortziehen. Solange sich jemand so<br />

verhält, gibt es für ihn we<strong>de</strong>r Hoffnung noch Vergebung. Schließlich erstirbt in ihm je<strong>de</strong>s<br />

Verlangen, mit Gott versöhnt zu sein.<br />

Als Jesus wie<strong>de</strong>r einmal das Volk unterwies, teilten ihm seine Jünger mit, daß seine Mutter<br />

und seine Brü<strong>de</strong>r draußen stün<strong>de</strong>n und ihn zu sehen wünschten. Er durchschaute <strong>de</strong>ren Anliegen<br />

„und sprach zu <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r es ihm ansagte: Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brü<strong>de</strong>r?<br />

Und reckte die Hand aus über seine Jünger und sprach: Siehe da, das ist meine Mutter und<br />

meine Brü<strong>de</strong>r! Denn wer <strong>de</strong>n Willen tut meines Vaters im Himmel, <strong>de</strong>r ist mein Bru<strong>de</strong>r und<br />

meine Schwester und meine Mutter.“ Matthäus 12,48-50. Wer Christus im Glauben annimmt,<br />

wird mit ihm enger verbun<strong>de</strong>n sein, als es durch menschliche Verwandtschaft je sein könnte.<br />

Wie Christus eins mit <strong>de</strong>m Vater ist, so wer<strong>de</strong>n sie mit ihm eins wer<strong>de</strong>n. Weil die Mutter Jesu<br />

an ihn glaubte und nach seinen Worten han<strong>de</strong>lte, stand sie <strong>de</strong>r Erlösung näher als durch ihr<br />

familiäres Verhältnis. Seine Brü<strong>de</strong>r konnten von ihrer Beziehung zu ihm keinen Nutzen haben,<br />

es sei <strong>de</strong>nn, sie nähmen ihn als ihren persönlichen Erlöser an.<br />

Wie hilfreich hätte es doch für Jesus sein können, wenn seine irdischen Angehörigen an<br />

seine himmlische Herkunft geglaubt hätten und seine Mitarbeiter im Werke Gottes gewesen<br />

wären! Ihr Unglaube überschattete das Er<strong>de</strong>nleben Jesu. Er war ein Teil <strong>de</strong>s bitteren<br />

Lei<strong>de</strong>nskelches, <strong>de</strong>n er für uns bis zur Neige leerte. Sehr stark empfand <strong>de</strong>r Sohn Gottes die<br />

Feindseligkeit, die im menschlichen Herzen gegen das Evangelium auflo<strong>de</strong>rte. Beson<strong>de</strong>rs<br />

schmerzlich litt er in seinem eigenen Zuhause darunter; <strong>de</strong>nn sein Herz war voller<br />

Freundlichkeit und Liebe, und er schätzte die besorgte Rücksichtnahme im Familienkreis sehr.<br />

Seine Brü<strong>de</strong>r wünschten, daß er ihren Gedanken zustimmte, obgleich dieses Ansinnen in keiner<br />

Weise seiner göttlichen Aufgabe entsprochen hätte. Ihrer Meinung nach benötigte Jesus ihren<br />

Rat. Sie beurteilten ihn von ihrem menschlichen Standpunkt aus und dachten, wenn er nur<br />

sagte, was für die Schriftgelehrten und Pharisäer annehmbar wäre, könnte er die unangenehmen<br />

Zusammenstöße, die seine Worte jetzt hervorriefen, vermei<strong>de</strong>n. Sie hielten ihn für überspannt,<br />

daß er für sich göttliche Autorität beanspruchte und vor die Rabbiner zu treten wagte, um ihre<br />

Sün<strong>de</strong>n zu ta<strong>de</strong>ln. Ihnen war bekannt, daß die Pharisäer nur eine Gelegenheit suchten, Jesus<br />

anzuklagen; aber sie waren auch <strong>de</strong>r Meinung, daß er ihnen dazu genügend Anlaß gegeben<br />

hätte.<br />

Mit ihrem begrenzten Urteilsvermögen konnten sie die Aufgabe nicht erfassen, die zu<br />

erfüllen Jesus gekommen war. Deshalb brachten sie auch kein Verständnis für seine Sorgen auf.<br />

Ihre groben, gedankenlosen Worte verrieten, daß ihnen das rechte Verständnis für seine<br />

Wesensart fehlte; sie erkannten nicht, daß sich in ihm Göttliches und Menschliches vereinigt<br />

hatten. Oft sahen sie ihn in seinem Kummer; aber statt ihn zu trösten, verwun<strong>de</strong>ten sie durch ihr<br />

216


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Verhalten und ihre Worte sein Herz. So quälten sie sein empfindsames Wesen, mißverstan<strong>de</strong>n<br />

seine Beweggrün<strong>de</strong> und begriffen sein Wirken nicht. Seine Brü<strong>de</strong>r stützten sich oft auf die<br />

Lehrmeinungen <strong>de</strong>r Pharisäer, die fa<strong>de</strong>nscheinig und veraltet waren, und maßten sich an, <strong>de</strong>n<br />

etwas lehren zu können, <strong>de</strong>r alle Wahrheiten verstand und alle Geheimnisse durchschaute.<br />

Dreist verdammten sie, was sie nicht verstehen konnten. Ihre Vorwürfe verletzten Jesus bis ins<br />

Innerste; seine Seele war beschwert und tiefbetrübt. Sie bekannten offen ihren Glauben an Gott<br />

und meinten, für Gott einzutreten. Dabei war er unter ihnen als Mensch, aber sie erkannten ihn<br />

nicht.<br />

<strong>Die</strong>se Dinge machten seinen Weg dornig. Christus litt so schmerzlich unter <strong>de</strong>r irrigen<br />

Auffassung seiner Angehörigen, daß es für ihn eine Erquickung be<strong>de</strong>utete, dorthin zu gehen, wo<br />

er auf Verständnis stieß. Beson<strong>de</strong>rs ein Heim besuchte er gern, das Heim <strong>de</strong>r Geschwister<br />

Lazarus, Maria und Martha. In <strong>de</strong>r Atmosphäre ihres Glaubens und ihrer Liebe fand sein Geist<br />

Ruhe. Trotz<strong>de</strong>m vermochte niemand auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> seinen göttlichen Auftrag wirklich zu<br />

begreifen o<strong>de</strong>r die Last, die er für die Menschheit trug, nachzuempfin<strong>de</strong>n. Deshalb fand er<br />

Stärkung oftmals im Alleinsein und in <strong>de</strong>r Gemeinschaft mit seinem himmlischen Vater. Wer<br />

immer um <strong>Christi</strong> willen lei<strong>de</strong>n muß und sogar in seiner eigenen Familie auf<br />

Verständnislosigkeit und Mißtrauen stößt, mag sich mit <strong>de</strong>m Gedanken trösten, daß Jesus das<br />

gleiche ertragen hat und mit uns fühlt. Er bittet uns, mit ihm Gemeinschaft zu pflegen und uns<br />

dort zu erquicken, wo auch er Erquickung fand: in <strong>de</strong>r Verbun<strong>de</strong>nheit mit <strong>de</strong>m Vater. Alle, die<br />

Christus als ihren persönlichen Heiland annehmen, sind keine verlassenen Waisen, die die<br />

Anfechtungen <strong>de</strong>s Lebens allein bestehen müssen. Er nimmt sie als Mitglie<strong>de</strong>r in die<br />

himmlische Familie auf und bittet sie, seinen Vater auch ihren Vater zu nennen. Sie sind seine<br />

„Kleinen“; sie sind <strong>de</strong>m Herzen Gottes teuer und mit ihm durch die innigsten und festesten<br />

Ban<strong>de</strong> verknüpft. Er liebt sie mit überaus großer Freundlichkeit, ja, weit mehr, als unsere Väter<br />

und Mütter uns in unserer Hilflosigkeit geliebt haben. So hoch erhaben ist das Göttliche über<br />

<strong>de</strong>m Menschlichen.<br />

In <strong>de</strong>n Gesetzen wur<strong>de</strong> Israel ein herrliches Bild über das Verhältnis <strong>Christi</strong> zu seinem Volk<br />

gegeben. Wenn ein Hebräer durch Armut genötigt war, sich von <strong>de</strong>r Habe seiner Väter zu<br />

trennen und sich als Sklave zu verkaufen, war es die Pflicht <strong>de</strong>s nächsten Blutsverwandten ihn<br />

und seiner Väter Gut wie<strong>de</strong>r einzulösen. 3.Mose 25,25.47-49; Rut 2,20. So übernahm Christus<br />

das Werk, uns und unser durch die Sün<strong>de</strong> verlorenes Erbteil einzulösen; <strong>de</strong>nn er ist uns<br />

verwandt. Er wur<strong>de</strong> unser Bru<strong>de</strong>r, um uns zu erlösen. Der Herr, unser Heiland, steht uns näher<br />

als Vater, Mutter Bru<strong>de</strong>r, Freund o<strong>de</strong>r Geliebter. Er spricht: „Fürchte dich nicht, <strong>de</strong>nn ich habe<br />

dich erlöst; ich habe dich bei <strong>de</strong>inem Namen gerufen: du bist mein! ... Weil du kostbar bist in<br />

meinen Augen, wertvoll für mich, und ich dich liebgewonnen habe, darum gebe ich Län<strong>de</strong>r als<br />

Lösegeld für dich hin und Völker für <strong>de</strong>in Leben.“ Jesaja 43,1.4 (Menge).<br />

Christus liebt die himmlischen Wesen, die seinen Thron umgeben. Doch wie läßt sich die<br />

große Liebe erklären, mit <strong>de</strong>r er uns geliebt hat? Wir können sie nicht verstehen, wohl aber<br />

durch persönliche Erfahrung kennenlernen. Wenn wir an <strong>de</strong>m brü<strong>de</strong>rlichen Verhältnis zu<br />

Christus festhalten, wie herzlich sollten wir dann jenen zugetan sein, die auch seine Brü<strong>de</strong>r und<br />

217


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Schwestern sind! Sollten wir nicht unverzüglich die Ansprüche aus unserer<br />

verwandtschaftlichen Beziehung zu Gott anerkennen? Sollten wir, da wir in die Familie Gottes<br />

aufgenommen sind nicht unseren himmlischen Vater und unsere geistlichen Schwestern und<br />

Brü<strong>de</strong>r ehren?<br />

218


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 34: <strong>Die</strong> Einladung<br />

„Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und bela<strong>de</strong>n seid; ich will euch<br />

erquicken.“ Matthäus 11,28. <strong>Die</strong>se Trostworte richtete Jesus an die Volksmenge, die ihm<br />

nachfolgte. Der Heiland hatte gesagt, daß die Menschen nur durch ihn Gott erkennen könnten.<br />

Er hatte davon gesprochen, daß seinen Jüngern die Kenntnis himmlischer Dinge zuteil<br />

gewor<strong>de</strong>n war. Aber er ließ in nieman<strong>de</strong>m das Gefühl aufkommen, von seiner Fürsorge und<br />

Liebe ausgeschlossen zu sein. Alle Mühseligen und Bela<strong>de</strong>nen dürfen sich ihm<br />

nahen. Schriftgelehrte und Rabbiner fühlten trotz ihrer peinlich-genauen Beachtung religiöser<br />

Zeremonien einen Mangel, <strong>de</strong>r durch Bußübungen niemals gestillt wer<strong>de</strong>n konnte. Zöllner und<br />

Sün<strong>de</strong>r mochten vortäuschen, als befriedige sie das Sinnliche und <strong>Die</strong>sseitige, während ihre<br />

Herzen von Furcht und Zweifel erfüllt waren. Jesus schaute auf die Betrübten und Bedrückten,<br />

<strong>de</strong>ren Hoffnungen erstickt waren und die nun durch weltliche Freu<strong>de</strong>n das Verlangen ihrer<br />

Seele stillen wollten. Sie alle lud Jesus ein, in ihm Frie<strong>de</strong>n zu fin<strong>de</strong>n.<br />

Voller Güte bat er die Mühseligen: „Nehmet auf euch mein Joch und lernet von mir; <strong>de</strong>nn<br />

ich bin sanftmütig und von Herzen <strong>de</strong>mütig; so wer<strong>de</strong>t ihr Ruhe fin<strong>de</strong>n für eure<br />

Seelen.“ Matthäus 11,29. Mit diesen Worten spricht Christus je<strong>de</strong>n Menschen an. Ob wir uns<br />

<strong>de</strong>ssen bewußt sind o<strong>de</strong>r nicht, je<strong>de</strong>r einzelne von uns ist mü<strong>de</strong> und bela<strong>de</strong>n. Alle wer<strong>de</strong>n von<br />

Belastungen nie<strong>de</strong>rgedrückt, die ihnen nur Christus abnehmen kann. Unsere schwerste Last ist<br />

die <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>. Wenn wir sie tragen müßten, wür<strong>de</strong> sie uns erdrücken. Statt <strong>de</strong>ssen ist <strong>de</strong>r<br />

Sündlose an unsere Stelle getreten. „Der Herr warf unser aller Sün<strong>de</strong> auf ihn.“ Jesaja 53,6.<br />

Christus hat die Bür<strong>de</strong> unserer Schuld auf sich genommen. Er will die Last von unseren<br />

Schultern nehmen und uns Ruhe schenken. Auch die Last unserer Sorgen und Trübsale will er<br />

tragen. Er lädt uns ein, alle unsere Sorge auf ihn zu werfen; <strong>de</strong>nn er trägt uns auf seinem<br />

Herzen.<br />

Der Erstgeborene <strong>de</strong>s Menschengeschlechtes befin<strong>de</strong>t sich am Thron <strong>de</strong>s Ewigen. Er schaut<br />

auf je<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r ihm als <strong>de</strong>m Erlöser sein Angesicht zuwen<strong>de</strong>t. Aus eigener Erfahrung kennt er die<br />

menschlichen Schwächen und somit auch unsere Bedürfnisse, und er weiß, wo wir beson<strong>de</strong>rs<br />

angefochten sind; <strong>de</strong>nn er wur<strong>de</strong> in allen Dingen genauso versucht wie wir, doch ohne Sün<strong>de</strong>.<br />

Verzagtes Gotteskind, er wacht über dir! Macht die Sün<strong>de</strong> dir zu schaffen? Er macht dich frei.<br />

Bist du zu schwach? Er will dich stärken. Bist du zu unwissend? Er will dich erleuchten. Bist du<br />

verletzt wor<strong>de</strong>n? Er möchte dich heilen. Der Herr „zählt die Sterne“. Psalm 147,4. Ja, „er heilt,<br />

die zerbrochenen Herzens sind, und verbin<strong>de</strong>t ihre Wun<strong>de</strong>n“. Psalm 147,3. Seine Einladung<br />

lautet: „Kommet her zu mir.“ Matthäus 11,28. Breitet eure Anliegen vor <strong>de</strong>m Herrn aus, was<br />

immer euch ängstigen und heimsuchen mag. Euer Geist wird mit neuem Lebensmut beseelt<br />

wer<strong>de</strong>n. Der Weg wird bereitet sein, euch von euren Hin<strong>de</strong>rnissen und Schwierigkeiten zu<br />

befreien. Je mehr ihr eure Schwachheit und Hilflosigkeit erkennt, <strong>de</strong>sto stärker wer<strong>de</strong>t ihr in <strong>de</strong>r<br />

Kraft <strong>Christi</strong> wer<strong>de</strong>n. Je drücken<strong>de</strong>r eure Bür<strong>de</strong>n sind, <strong>de</strong>sto gesegneter wird <strong>de</strong>r Frie<strong>de</strong> sein,<br />

wenn ihr sie auf <strong>de</strong>n großen Lastenträger geworfen habt. <strong>Die</strong> Ruhe, die Christus verheißt, hängt<br />

von Voraussetzungen ab, die einzeln aufgeführt sind. Sie sind so gehalten, daß je<strong>de</strong>r sie erfüllen<br />

kann. Jesus sagt uns genau, wie wir „seine Ruhe“ fin<strong>de</strong>n können.<br />

219


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

„Nehmet auf euch mein Joch.“ Matthäus 11,29. Das Joch ist ein Hilfsmittel für die Arbeit.<br />

Zugtiere wer<strong>de</strong>n zur Arbeit ins Joch gespannt. Erst durch das Joch vollbringen sie eine gute<br />

Leistung. Christus lehrt uns durch dieses Beispiel, daß wir berufen sind, zeitlebens zu dienen.<br />

Als seine Mitarbeiter sollen wir sein Joch auf uns nehmen. Das Joch ist das Gesetz Gottes. Es<br />

verpflichtet uns zum <strong>Die</strong>nst. Das erhabene Gesetz <strong>de</strong>r Liebe, das im Paradies offenbart, auf<br />

Sinai verkün<strong>de</strong>t und im Neuen Bund ins Herz geschrieben wur<strong>de</strong>, bin<strong>de</strong>t <strong>de</strong>n menschlichen<br />

Arbeiter an <strong>de</strong>n Willen Gottes. Wäre es uns überlassen, unseren eigenen Neigungen zu folgen<br />

und dorthin zu gehen, wohin unser Wille uns führte, so fielen wir in die Fallstricke Satans und<br />

trügen seine Merkmale an uns. Deshalb setzt Gott uns Grenzen durch seinen Willen, <strong>de</strong>r stark,<br />

e<strong>de</strong>l und erhaben ist. Er wünscht, daß wir die Aufgaben unseres <strong>Die</strong>nstes geduldig und voller<br />

Klugheit aufgreifen. Christus selbst hat als Mensch das Joch <strong>de</strong>s <strong>Die</strong>nstes getragen. Er sprach:<br />

„Deinen Willen, mein Gott, tue ich gern, und <strong>de</strong>in Gesetz hab ich in meinem Herzen.“ Psalm<br />

40,9. „Ich bin vom Himmel gekommen, nicht damit ich meinen Willen tue, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>n Willen<br />

<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>r mich gesandt hat.“ Johannes 6,38. Liebe zu Gott, Eifer für Gottes Ehre und Liebe zu<br />

<strong>de</strong>r gefallenen Menschheit brachten Jesus auf die Er<strong>de</strong>, um zu lei<strong>de</strong>n und zu sterben. Das war<br />

die treiben<strong>de</strong> Kraft seines Lebens. Uns bittet er, ebenfalls nach diesem Grundsatz zu han<strong>de</strong>ln.<br />

Vieler Menschen Herzen stöhnen unter ihrer Sorgenlast, weil sie mit <strong>de</strong>m Lebensstandard<br />

<strong>de</strong>r Welt mithalten wollen. Sie sind in <strong>de</strong>ren <strong>Die</strong>nst getreten, fin<strong>de</strong>n sich mit <strong>de</strong>ren<br />

Verworrenheiten ab und eignen sich <strong>de</strong>ren Spielregeln an. Dadurch wird ihr Charakter<br />

verdorben, und sie wer<strong>de</strong>n ihres Leben überdrüssig. Um ihre Begier<strong>de</strong>n und weltlichen Lüste zu<br />

befriedigen, verletzten sie ihr Gewissen und bringen sich zusätzlich in Gewissensnöte. <strong>Die</strong><br />

ständige innere Zerrissenheit zehrt an ihren Lebenskräften. Unser Herr wünscht, daß sie dieses<br />

Joch <strong>de</strong>r Sklaverei ablegen, und er lädt sie ein, sein Joch auf sich zu nehmen. „Mein Joch“, so<br />

sagt er, „ist sanft, und meine Last ist leicht.“ Matthäus 11,30. Er bittet sie, zuerst nach <strong>de</strong>m<br />

Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit zu trachten, und verheißt ihnen, daß ihnen dann alle<br />

lebensnotwendigen Dinge zufallen wer<strong>de</strong>n. Sorge macht blind gegenüber <strong>de</strong>r Zukunft, Jesus<br />

aber sieht das En<strong>de</strong> vom Beginn an. Er weiß hilfreiche Wege aus je<strong>de</strong>r Not. Unser himmlischer<br />

Vater hat Tausen<strong>de</strong> Hilfen für und bereit, von <strong>de</strong>nen wir nichts ahnen. Wer sich <strong>de</strong>n Leitsatz zu<br />

eigen macht, <strong>de</strong>m <strong>Die</strong>nst für Gott und für seine Ehre <strong>de</strong>n ersten Platz einzuräumen, wird<br />

erleben, daß die Schwierigkeiten schwin<strong>de</strong>n und sich vor seinen Füßen ein ebener Pfad<br />

ausbreitet.<br />

Jesus sagt: „Lernet von mir; <strong>de</strong>nn ich bin sanftmütig und von Herzen <strong>de</strong>mütig; so wer<strong>de</strong>t ihr<br />

Ruhe fin<strong>de</strong>n.“ Matthäus 11,29. Wir müssen in die Schule <strong>Christi</strong> gehen und Sanftmut und<br />

Demut von ihm lernen. Erlösung ist jenes Geschehen, durch das die Seele für <strong>de</strong>n Himmel<br />

zubereitet wird. <strong>Die</strong>se Erziehung umfaßt die Erkenntnis <strong>Christi</strong> und das Sichlösen von<br />

Gedanken, Gewohnheiten und Geschäften, die man sich in <strong>de</strong>r Schule <strong>de</strong>s Fürsten <strong>de</strong>r Finsternis<br />

angeeignet hat. Das Herz muß von allem frei wer<strong>de</strong>n, was <strong>de</strong>r Treue zu Gott entgegensteht. Im<br />

Herzen <strong>Christi</strong>, in <strong>de</strong>m vollkommener Einklang mit Gott herrschte, wohnte echter Frie<strong>de</strong>.<br />

We<strong>de</strong>r machte ihn Beifall übermütig, noch ließen ihn Kritik und Enttäuschung mutlos wer<strong>de</strong>n.<br />

Selbst inmitten stärksten Wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong>s und grausamster Behandlung war er guten Mutes. Viele<br />

jedoch, die seine Nachfolger zu sein behaupten, haben ein ängstliches und ruheloses Herz, weil<br />

220


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

sie sich scheuen, ihr Vertrauen auf Gott zu setzen. Sie liefern sich ihm nicht völlig aus, weil sie<br />

vor <strong>de</strong>n Folgen zurückschrecken, die solch eine Hingabe haben könnte. Wer jedoch diese<br />

Hingabe nicht aufbringt, fin<strong>de</strong>t keinen Frie<strong>de</strong>n.<br />

Eigenliebe erzeugt Unfrie<strong>de</strong>n. Sind wir aber von Gott wie<strong>de</strong>rgeboren, beseelt uns <strong>de</strong>r gleiche<br />

Sinn, <strong>de</strong>r in Jesus war und ihn dazu bewegte, sich selbst zu erniedrigen, damit wir selig wür<strong>de</strong>n.<br />

Wir sollen nicht nach <strong>de</strong>m höchsten Platz streben, son<strong>de</strong>rn gern zu <strong>de</strong>n Füßen Jesu sitzen, um<br />

von ihm zu lernen. Wir müssen begreifen, daß <strong>de</strong>r Sinn unseres <strong>Die</strong>nstes nicht darin besteht,<br />

uns selbst in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund zu stellen und großes Aufsehen zu erregen, auch nicht darin, aus<br />

eigener Kraft aktiv und diensteifrig zu sein. Der Wert unserer Arbeit hängt davon ab, in<br />

welchem Maße sich uns <strong>de</strong>r Heilige Geist mitteilt. Gottvertrauen heiligt die Gedankenwelt. Hier<br />

heißt es, sich in Geduld zu fassen.<br />

Ochsen wer<strong>de</strong>n ins Joch gespannt, um sie beim Ziehen <strong>de</strong>r Wagenladung zu unterstützen und<br />

ihnen die Last zu erleichtern. Genauso verhält es sich mit <strong>de</strong>m Joch <strong>Christi</strong>. Ist unser Wille im<br />

Willen Gottes aufgegangen und wen<strong>de</strong>n wir seine Gaben zum Segen für an<strong>de</strong>re an, so wer<strong>de</strong>n<br />

wir die Bür<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Lebens leicht fin<strong>de</strong>n. Wessen Lebensweg mit <strong>de</strong>n Geboten Gottes<br />

übereinstimmt, geht ihn in Begleitung <strong>Christi</strong>, in <strong>de</strong>ssen Liebe seine Seele Frie<strong>de</strong>n fin<strong>de</strong>t. Als<br />

Mose betete: „Laß mich <strong>de</strong>inen Weg wissen, damit ich dich erkenne“, antwortete <strong>de</strong>r Herr:<br />

„Mein Angesicht soll vorangehen; ich will dich zur Ruhe leiten.“ 2.Mose 33,13.14. Von <strong>de</strong>n<br />

Propheten kam die Botschaft: „So spricht <strong>de</strong>r Herr: Tretet hin an die Wege und schauet und<br />

fragt nach <strong>de</strong>n Wegen <strong>de</strong>r Vorzeit, welches <strong>de</strong>r gute Weg sei, und wan<strong>de</strong>lt darin, so wer<strong>de</strong>t ihr<br />

Ruhe fin<strong>de</strong>n für eure Seele!“ Jeremia 6,16. Weiter spricht <strong>de</strong>r Herr: „O daß du auf meine<br />

Gebote gemerkt hättest, so wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>in Frie<strong>de</strong> sein wie ein Wasserstrom und <strong>de</strong>ine Gerechtigkeit<br />

wie Meereswellen.“ Jesaja 48,18.<br />

Alle, die Christus beim Wort nehmen und ihm ihre Herzen übergeben, daß er sie bewahre,<br />

und ihr Leben, daß er es ordne, wer<strong>de</strong>n Ruhe und Frie<strong>de</strong>n fin<strong>de</strong>n. Nichts auf <strong>de</strong>r Welt kann sie<br />

betrüben, wenn Jesus sie durch seine Gegenwart glücklich macht. Völlige Hingabe verbürgt<br />

völligen Frie<strong>de</strong>n. Der Herr verheißt: „Wer festen Herzens ist, <strong>de</strong>m bewahrst du Frie<strong>de</strong>n; <strong>de</strong>nn er<br />

verläßt sich auf dich.“ Jesaja 26,3. Unser Leben mag einem unentwirrbaren Knäuel ähneln;<br />

wenn wir uns aber <strong>de</strong>m erfahrenen Meister aller Meister anvertrauen, wird er es zu seiner<br />

Verherrlichung in ein beispielhaftes Leben und zu einem vorbildlichen Charakter umformen.<br />

Ein Charakter, <strong>de</strong>r die Herrlichkeit und damit das Wesen <strong>Christi</strong> wi<strong>de</strong>rspiegelt, wird im<br />

Paradiese Gottes willkommen geheißen wer<strong>de</strong>n. Ein erneuertes Menschengeschlecht wird in<br />

„weißen Klei<strong>de</strong>rn“ mit <strong>de</strong>m Herrn wan<strong>de</strong>ln, „<strong>de</strong>nn sie sind‘s wert“. Offenbarung 3,4.<br />

Da wir durch Christus zur Ruhe eingehen, beginnt <strong>de</strong>r Himmel bereits auf Er<strong>de</strong>n. Wir folgen<br />

seiner Einladung: „Kommet ... und lernet von mir.“ Damit nimmt für uns das ewige Leben<br />

seinen Anfang. „Himmel“ be<strong>de</strong>utet nichts an<strong>de</strong>res als ein unaufhörliches Näherkommen zu Gott<br />

durch Christus. Je länger wir jetzt schon am himmlischen Glück teilhaben, <strong>de</strong>sto größere<br />

Herrlichkeit wird uns zugänglich sein. Je mehr wir Gott erkennen, <strong>de</strong>sto tiefer wird unsere<br />

Glückseligkeit sein. Wan<strong>de</strong>ln wir in diesem Leben mit Jesus, so wer<strong>de</strong>n wir von seiner Liebe<br />

erfüllt, und seine Gegenwart wird uns erfreuen. Schon jetzt können wir so viel von Gott<br />

221


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

empfangen, wie unsere menschliche Natur ertragen kann. Doch was be<strong>de</strong>utet das im Vergleich<br />

zu <strong>de</strong>m, was uns verheißen ist! <strong>Die</strong> Erlösten sind „vor <strong>de</strong>m Thron Gottes und dienen ihm Tag<br />

und Nacht in seinem Tempel; und <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Thron sitzt, wird über ihnen wohnen. Sie wird<br />

nicht mehr hungern noch dürsten; es wird auch nicht auf sie fallen die Sonne o<strong>de</strong>r irgen<strong>de</strong>ine<br />

Hitze; <strong>de</strong>nn das Lamm mitten auf <strong>de</strong>m Thron wird sie wei<strong>de</strong>n und leiten zu <strong>de</strong>n lebendigen<br />

Wasserbrunnen, und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen.“ Offenbarung 7,15-17.<br />

222


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Ein ereignisreicher Tag im Leben Jesu hier auf Er<strong>de</strong>n neigte sich seinem En<strong>de</strong> zu. Am See<br />

Genezareth hatte er seine ersten Gleichnisse gesprochen und durch sinnreiche Vergleiche aus<br />

<strong>de</strong>r Natur das Wesen seines Reiches und die Art und Weise seines Kommens erklärt. Er hatte<br />

seine Arbeit mit <strong>de</strong>r eines Sämanns, die Entwicklung seines Reiches mit <strong>de</strong>m Wachsen eines<br />

Senfkorns und <strong>de</strong>r Wirkung <strong>de</strong>s Sauerteiges in einem Scheffel Mehl verglichen. <strong>Die</strong> Trennung<br />

<strong>de</strong>r Gerechten von <strong>de</strong>n Gottlosen am Jüngsten Tage hatte er durch die Gleichnisse vom Unkraut<br />

unter <strong>de</strong>m Weizen und <strong>de</strong>m Netz mit <strong>de</strong>n Fischen veranschaulicht. Das Wertvolle <strong>de</strong>r<br />

Wahrheiten, die er lehrte, hatte er durch das Gleichnis von <strong>de</strong>m verborgenen Schatz und von <strong>de</strong>r<br />

köstlichen Perle dargelegt, während er im Gleichnis von <strong>de</strong>m Haushalter seinen Jüngern zeigte,<br />

wie sie als seine Stellvertreter wirken sollten.<br />

Den ganzen Tag über hatte er gelehrt und geheilt. Als es dunkelte, drängte sich die Menge<br />

noch immer um ihn. Tagelang schon hatte er <strong>de</strong>n Menschen gedient, ohne sich viel Zeit zum<br />

Essen und Ruhen zu gönnen. <strong>Die</strong> boshafte Kritik und die Entstellungen <strong>de</strong>r Pharisäer, womit sie<br />

ihn beständig verfolgten, erschwerten seine Tätigkeit ungeheuer. Jetzt am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Tages war<br />

er so ermattet, daß er beschloß, sich an einen stillen Ort auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rn Seite <strong>de</strong>s Sees<br />

zurückzuziehen. Das östliche Ufer <strong>de</strong>s Sees Genezareth war nicht unbewohnt. Es lagen hier und<br />

da Ortschaften; <strong>de</strong>nnoch wirkte es im Vergleich mit <strong>de</strong>m westlichen Ufer ö<strong>de</strong> und wüst. Es<br />

hatte eine mehr heidnische als jüdische Bevölkerung und unterhielt nur geringen Verkehr mit<br />

Galiläa, so daß Jesus hier die gewünschte Abgeschlossenheit fin<strong>de</strong>n konnte. Seine Jünger<br />

for<strong>de</strong>rte er auf, ihn zu begleiten. So nahmen ihn diese, nach<strong>de</strong>m er die Menge verabschie<strong>de</strong>t<br />

hatte, so wie er war, ins Boot und stießen eiligst vom Ufer ab. Doch sie blieben nicht allein.<br />

An<strong>de</strong>re Boote, die am Ufer lagen und schnell mit Menschen besetzt waren, folgten ihnen. Es<br />

waren noch viele, die ihn sehen und hören wollten.<br />

Endlich war <strong>de</strong>r Heiland von <strong>de</strong>m Gedränge <strong>de</strong>r Menge befreit. Überwältigt von Müdigkeit<br />

und Hunger, legte er sich hinten im Schiff nie<strong>de</strong>r und schlief bald ein. Es war ein ruhiger und<br />

angenehmer Abend, und tiefe Stille lagerte über <strong>de</strong>m See. Plötzlich jedoch überzog Finsternis<br />

<strong>de</strong>n Himmel; <strong>de</strong>r Wind fuhr ungestüm aus <strong>de</strong>n Bergklüften hernie<strong>de</strong>r und fegte am östlichen<br />

Seeufer entlang, und ein furchtbares Wetter brach herein. <strong>Die</strong> Sonne war untergegangen, und<br />

die Finsternis <strong>de</strong>r Nacht lagerte über <strong>de</strong>m stürmischen See. <strong>Die</strong> von <strong>de</strong>m wüten<strong>de</strong>n Wind zu<br />

Schaum gepeitschten Wellen stürzten mit aller Heftigkeit über <strong>de</strong>m Boot <strong>de</strong>r Jünger zusammen<br />

und drohten es zu verschlingen. <strong>Die</strong> abgehärteten Fischer hatten ihr Leben auf <strong>de</strong>m See<br />

zugebracht und ihr Schifflein durch manchen Sturm sicher ans Ufer gebracht. Jetzt aber<br />

versagten ihre Kraft und ihre Geschicklichkeit; sie waren hilflos in <strong>de</strong>r Gewalt <strong>de</strong>s Sturmes, und<br />

ihre Hoffnung wich, als sie sahen, daß das Boot voll Wasser schlug.<br />

Ganz erfüllt von <strong>de</strong>m Bestreben, sich zu retten, hatten sie die Anwesenheit Jesu vergessen.<br />

Als sie aber bemerkten, daß ihre Rettungsarbeiten vergebens waren und sie <strong>de</strong>n sicheren Tod<br />

vor Augen fühlten, erinnerten sie sich, auf wessen Wunsch sie über <strong>de</strong>n See fuhren. Der<br />

Heiland war jetzt ihre einzige Hoffnung. In ihrer Hilflosigkeit und Verzweiflung schrien sie:<br />

223


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

„Meister! Meister!“ Lukas 8,24. Aber die dichte Finsternis verbarg ihn vor ihren Augen; ihre<br />

Stimmen wur<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>m Heulen <strong>de</strong>s Sturmes übertönt — es kam keine Antwort. Zweifel und<br />

Furcht überfielen sie. Hatte Jesus sie verlassen? War er, <strong>de</strong>r Krankheiten und Dämonen, ja sogar<br />

<strong>de</strong>n Tod besiegt hatte, jetzt machtlos, seinen Jüngern zu helfen? Achtete er nicht ihrer Not?<br />

Sie rufen noch einmal. Wie<strong>de</strong>r keine Antwort. Nur das Heulen <strong>de</strong>s Sturmes ist zu<br />

vernehmen. Schon beginnt das Schiff zu sinken. Noch einen Augenblick — und die gierigen<br />

Wellen wer<strong>de</strong>n sie verschlungen haben. Plötzlich erhellt ein Blitzstrahl die Finsternis, und da<br />

sehen die Jünger ihren Herrn ruhig schlafen. Bestürzt und verzweifelt rufen sie: „Meister, fragst<br />

du nichts danach, daß wir ver<strong>de</strong>rben?“ Markus 4,38. Wie kann er so friedlich schlafen, während<br />

sie in Gefahr sind und mit <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> ringen! Ihr Schreien weckt <strong>de</strong>n Herrn schließlich. Ein<br />

neuer Blitz erhellt seine Gestalt, und die Jünger erkennen staunend <strong>de</strong>n himmlischen Frie<strong>de</strong>n<br />

auf seinem Angesicht und lesen in seinem Blick selbstvergessene, hingebungsvolle Liebe. Ihre<br />

Herzen wen<strong>de</strong>n sich ihm zu, und sie stammeln: „Herr, hilf uns, wir ver<strong>de</strong>rben!“<br />

Noch nie ist solcher Ruf unbeachtet geblieben. <strong>Die</strong> Jünger ergreifen noch einmal die Ru<strong>de</strong>r,<br />

um einen letzten Rettungsversuch zu unternehmen. Da erhebt sich <strong>de</strong>r Herr. Er steht mitten<br />

unter <strong>de</strong>n Jüngern. Der Sturm wütet weiter, die Wellen schlagen über sie hinweg, und Blitze<br />

erleuchten <strong>de</strong>s Meisters Angesicht. Er erhebt seine Hand, die so oft Werke <strong>de</strong>r Barmherzigkeit<br />

getan hat, und gebietet <strong>de</strong>m stürmischen See: „Schweig und verstumme!“ Der Sturm hört auf.<br />

<strong>Die</strong> Wogen legen sich. <strong>Die</strong> Wolken weichen, und Sterne leuchten hervor. Das Schiff gleitet<br />

wie<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m ruhig gewor<strong>de</strong>nen See dahin. Jesus aber wen<strong>de</strong>t sich an seine Jünger und sagt<br />

traurig zu ihnen: „Was seid ihr so furchtsam? Wie habt ihr <strong>de</strong>nn keinen Glauben?“ Markus<br />

4,40.<br />

Bedrücktes Schweigen bemächtigte sich <strong>de</strong>r Jüngerschar. Selbst Petrus wagte es vor Scheu<br />

nicht, das auszusprechen, was sein Herz erfüllte. <strong>Die</strong> Schiffe, die mitfuhren, um <strong>de</strong>n Heiland zu<br />

begleiten, waren in <strong>de</strong>rselben Gefahr gewesen wie das Boot <strong>de</strong>r Jünger. Schrecken und<br />

Verzweiflung hatten ihre Insassen ergriffen; aber Jesu Befehl stillte alle Aufregung. <strong>Die</strong> Gewalt<br />

<strong>de</strong>s Sturmes hatte die Boote auseinan<strong>de</strong>rgetrieben, und so erlebten alle das Wun<strong>de</strong>r mit. Mit <strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>m Sturm folgen<strong>de</strong>n Stille war alle Furcht vergessen. <strong>Die</strong> Leute sprachen unter sich: „Was ist<br />

das für ein Mann, daß ihm Wind und Meer gehorsam sind?“ Matthäus 8,27.<br />

Als Jesus geweckt wur<strong>de</strong>, um <strong>de</strong>m Sturm zu begegnen, bewies er vollkommene Ruhe und<br />

Sicherheit. Wort und Blick verrieten nicht eine Spur von Furcht; <strong>de</strong>nn sein Herz war frei davon.<br />

Nicht weil er im Bewußtsein <strong>de</strong>r göttlichen Allmacht sich sicher fühlte, nicht als Herr <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>,<br />

<strong>de</strong>s Himmels und <strong>de</strong>r Meere bewahrte er diese Ruhe; jene Macht hatte er nie<strong>de</strong>rgelegt, <strong>de</strong>nn er<br />

sagte: „Ich kann nichts von mir selber tun.“ Johannes 5,30. Er vertraute aber <strong>de</strong>r Macht seines<br />

Vaters; er ruhte im Glauben — im Glauben an die Liebe und Fürsorge Gottes. <strong>Die</strong> Macht <strong>de</strong>s<br />

Wortes, die <strong>de</strong>n Sturm stillte, war die Macht Gottes. Wie Jesus sich im Glauben in <strong>de</strong>r Liebe<br />

<strong>de</strong>s Vaters geborgen fühlte, so sollen wir uns in <strong>de</strong>r Fürsorge <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s geborgen wissen.<br />

Hätten die Jünger <strong>de</strong>m Herrn vertraut, dann wären sie auch ruhig und sicher gewesen. Durch<br />

ihre Furcht in <strong>de</strong>r Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Gefahr bekun<strong>de</strong>ten sie jedoch Unglauben. In ihrem Eifer, sich<br />

224


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

selbst zu retten, vergaßen sie Jesus. Erst als sie an sich selbst verzweifelten und sie sich an ihn<br />

wandten, konnte er ihnen helfen.<br />

Wie oft ist die Erfahrung <strong>de</strong>r Jünger auch die unsrige! Wenn sich die Stürme <strong>de</strong>r Versuchung<br />

über uns zusammenziehen, wenn grelle Blitze zucken und die Wogen <strong>de</strong>r Verzweiflung über<br />

uns zusammenschlagen, kämpfen wir mit unserer Not allein, und wir vergessen, daß einer<br />

gegenwärtig ist, <strong>de</strong>r uns helfen kann. Wir vertrauen unserer eigenen Kraft, bis uns alle<br />

Hoffnung verläßt und wir <strong>de</strong>m Ver<strong>de</strong>rben nahe sind. Dann erst <strong>de</strong>nken wir an <strong>de</strong>n Heiland, und<br />

wenn wir ihn im Glauben anrufen, wird es nicht vergebens sein. Wohl ta<strong>de</strong>lt er betrübt unseren<br />

Unglauben und unser Selbstvertrauen, doch gewährt er uns bereitwillig die Hilfe, die uns not<br />

tut. Wo wir auch sein mögen, auf <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Meer: wir brauchen uns nicht zu<br />

fürchten, wenn wir Jesus im Herzen haben. Ein lebendiger Glaube an ihn wird das unruhige<br />

Meer <strong>de</strong>s Lebens beruhigen und uns aus <strong>de</strong>r Gefahr befreien in einer Weise, die ihm am besten<br />

erscheint.<br />

<strong>Die</strong> Stillung <strong>de</strong>s Sturms enthält noch eine weitere geistliche Lehre. Eines je<strong>de</strong>n Menschen<br />

Erfahrung bestätigt die Wahrheit <strong>de</strong>s Schriftwortes: „<strong>Die</strong> Gottlosen sind wie das ungestüme<br />

Meer, das nicht still sein kann ... <strong>Die</strong> Gottlosen haben keinen Frie<strong>de</strong>n, spricht mein Gott.“ Jesaja<br />

57,20.21. <strong>Die</strong> Sün<strong>de</strong> hat unseren Frie<strong>de</strong>n zerstört. Solange unser Ich nicht bezwungen ist, fin<strong>de</strong>n<br />

wir keine Ruhe. <strong>Die</strong> mächtigen Lei<strong>de</strong>nschaften <strong>de</strong>s Herzens vermag keine menschliche Macht<br />

unter Kontrolle zu bringen. Wir sind da so hilflos, wie die Jünger machtlos waren, <strong>de</strong>n Sturm zu<br />

stillen. Doch <strong>de</strong>rjenige, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Wellen <strong>de</strong>s Sees Genezareth gebot, hat je<strong>de</strong>m Menschen diesen<br />

Frie<strong>de</strong>n zugesprochen. Wie hefig <strong>de</strong>r Sturm auch sein mag, wer zu Jesus ruft: „Herr, errette<br />

mich!“, wird Rettung fin<strong>de</strong>n! <strong>Christi</strong> Gna<strong>de</strong> versöhnt die Seele mit Gott und beschwichtigt die<br />

menschliche Lei<strong>de</strong>nschaft. In Jesu Liebe fin<strong>de</strong>t unser Herz Ruhe. Er „stillt das Ungewitter, daß<br />

die Wellen sich legten und sie froh wur<strong>de</strong>n, daß es still gewor<strong>de</strong>n war und er sie zum<br />

erwünschten Land brachte.“ Psalm 107,29.30. „Nun wir <strong>de</strong>nn sind gerecht gewor<strong>de</strong>n durch <strong>de</strong>n<br />

Glauben, so haben wir Frie<strong>de</strong>n mit Gott durch unsren Herrn Jesus Christus“. Römer 5,1. —<br />

„Der Gerechtigkeit Frucht wird Frie<strong>de</strong> sein, und <strong>de</strong>r Ertrag <strong>de</strong>r Gerechtigkeit wird ewige Stille<br />

und Sicherheit sein.“ Jesaja 32,17.<br />

Am nächsten Morgen, als gera<strong>de</strong> das Licht <strong>de</strong>r aufgehen<strong>de</strong>n Sonne wie ein Frie<strong>de</strong>nsgruß<br />

Land und See berührte, kam <strong>de</strong>r Heiland mit <strong>de</strong>n Jüngern ans Ufer. Kaum aber hatten sie das<br />

Land betreten, als sich ihnen ein Anblick bot, <strong>de</strong>r schrecklicher war als das Rasen <strong>de</strong>s Sturmes.<br />

Zwei Irrsinnige stürzten aus einem Versteck zwischen <strong>de</strong>n Gräbern hervor und auf sie zu, als<br />

wollten sie sie in Stücke zerreißen. An ihren Füßen hingen Glie<strong>de</strong>r von Ketten, die sie gesprengt<br />

hatten; ihr Körper zeigte bluten<strong>de</strong> Wun<strong>de</strong>n, die sie sich an <strong>de</strong>n scharfen Steinen geholt hatten;<br />

ihre Augen stierten wild unter <strong>de</strong>m langen, wirren Haar hervor; alles Menschliche schien ihnen<br />

von <strong>de</strong>n Dämonen, die in ihnen wohnten, genommen zu sein; sie sahen wil<strong>de</strong>n Tieren ähnlicher<br />

als Menschen.<br />

<strong>Die</strong> Jünger und an<strong>de</strong>re Begleiter <strong>de</strong>s Herrn flohen vor Schrecken. Bald aber bemerkten sie,<br />

daß Christus nicht bei ihnen war. Sie schauten sich um und sahen ihren Herrn dort stehen, wo<br />

sie ihn verlassen hatten. Der <strong>de</strong>n Sturm gestillt, <strong>de</strong>r schon früher Satan begegnet war und ihn<br />

225


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

besiegt hatte, floh nicht vor diesen bösen Geistern. <strong>Die</strong> Wahnsinnigen hatten sich<br />

zähneknirschend und vor Wut schäumend <strong>de</strong>m Herrn genähert. Da erhob Jesus die Hand, die<br />

<strong>de</strong>n wil<strong>de</strong>n Wogen Ruhe geboten hatte, und die Männer vermochten nicht, näher zu kommen.<br />

Sie stan<strong>de</strong>n wütend, aber hilflos vor ihm.<br />

Mit Macht gebot er nun <strong>de</strong>n unreinen Geistern, aus <strong>de</strong>n Männern auszufahren. Seine Worte<br />

durchdrangen die umnachteten Sinne <strong>de</strong>r Unglücklichen, und die erkannten, wenn auch noch<br />

dunkel, die Gegenwart <strong>de</strong>s Einen, <strong>de</strong>r sie von <strong>de</strong>n bösen Geistern erlösen konnte. Sie fielen <strong>de</strong>m<br />

Heiland zu Füßen, ihn anzubeten. Als sie jedoch die Lippen öffneten, um seine Gna<strong>de</strong> zu<br />

erflehen, sprachen die Dämonen aus ihnen und schrien ihn ungestüm an: „Was willst du von<br />

uns, du Sohn Gottes? Bist du hergekommen, uns zu quälen, ehe <strong>de</strong>nn es Zeit ist?“ Matthäus<br />

8,29. Jesus fragte <strong>de</strong>n einen: „Wie heißest du?“ Und dieser antwortet: „Legion heiße ich; <strong>de</strong>nn<br />

wir sind viele.“ Markus 5,9. <strong>Die</strong>se unglücklichen Männer wur<strong>de</strong>n von Dämonen als<br />

Mittelspersonen benutzt, Jesus zu ersuchen, sie nicht aus <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong> zu treiben. Nicht weit<br />

davon, am Abhang eines kleinen Berges, wei<strong>de</strong>te eine Her<strong>de</strong> Säue. In diese wollten die<br />

Dämonen fahren. Jesus erlaubte es ihnen, und sofort wur<strong>de</strong> die Her<strong>de</strong> von panischem Schrecken<br />

ergriffen. <strong>Die</strong> Säue rasten wild die Klippen hinunter, stürzten sich, da sie ihren Lauf nicht<br />

hemmen konnten, in <strong>de</strong>n See und ertranken.<br />

Während dieser Zeit war mit <strong>de</strong>n Irrsinnigen eine wun<strong>de</strong>rbare Verän<strong>de</strong>rung vor sich<br />

gegangen; es war licht gewor<strong>de</strong>n in ihrem Geist, die Augen blickten klug und verständig, die<br />

bisher zum Bil<strong>de</strong> Satans entstellten Gesichter wur<strong>de</strong>n sanft und die blutbefleckten Hän<strong>de</strong> ruhig.<br />

Mit freudiger Stimme lobten sie Gott für ihre Erlösung. <strong>Die</strong> Schweinehirten hatten von <strong>de</strong>n<br />

Klippen aus gesehen, was geschehen war, und eilten, die Nachricht von <strong>de</strong>m Vorgefallenen<br />

ihrem Herrn und allen Leuten zu bringen. In Furcht und Bestürzung strömten die Bewohner <strong>de</strong>r<br />

ganzen Gegend zu Jesus. <strong>Die</strong> bei<strong>de</strong>n Besessenen hatten als <strong>de</strong>r Schrecken <strong>de</strong>r Umgebung<br />

gegolten. Niemand war seines Lebens sicher gewesen; <strong>de</strong>nn sie hatten sich mit <strong>de</strong>r Wut <strong>de</strong>r<br />

Dämonen auf je<strong>de</strong>n Vorübergehen<strong>de</strong>n gestürzt. Nun waren sie wie<strong>de</strong>r gesittet und vernünftig;<br />

saßen zu <strong>de</strong>n Füßen Jesu, lauschten seinen Worten und verherrlichten <strong>de</strong>n Namen <strong>de</strong>ssen, <strong>de</strong>r<br />

sie gesund gemacht hatte. Doch die Menschen, die all dies erlebten, freuten sich nicht mit<br />

ihnen; <strong>de</strong>r Verlust <strong>de</strong>r Schweine schien ihnen mehr zu be<strong>de</strong>uten als die Befreiung dieser<br />

Gefangenen Satans.<br />

Es war ein Akt göttlicher Gna<strong>de</strong>, daß dieser Verlust die Tierhalter getroffen hatte. Sie waren<br />

ganz erfüllt von ihren irdischen Belangen und kümmerten sich nicht um ihr geistliches Wohl.<br />

Jesus wünschte ihre Gleichgültigkeit zu brechen, damit sie seine Gna<strong>de</strong> annehmen möchten,<br />

doch die Trauer und die Entrüstung über <strong>de</strong>n Verlust <strong>de</strong>r Her<strong>de</strong> machten ihre Augen blind<br />

gegen die göttliche Gna<strong>de</strong>. <strong>Die</strong> Bekundung einer übernatürlichen Macht erregte <strong>de</strong>n<br />

Aberglauben <strong>de</strong>r Menschen und erweckte die Furcht, daß noch weitere Unglücksfälle folgen<br />

könnten, solange dieser Fremdling unter ihnen weilte. Sie befürchteten finanziellen Scha<strong>de</strong>n<br />

und beschlossen, sich von seiner Gegenwart zu befreien. <strong>Die</strong> Jesus über <strong>de</strong>n See begleitet<br />

hatten, erzählten alles, was in <strong>de</strong>r vergangenen Nacht geschehen war; sie berichteten von ihrer<br />

Gefahr in Sturmesnöten und wie Jesus Wind und Meer geboten hatte. Aber alle ihre Berichte<br />

226


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

blieben wirkungslos. Furchterfüllt drängte sich die Menge um Jesus, und sie bat ihn, diese<br />

Gegend zu verlassen. Jesus erfüllte ihren Wunsch, bestieg wie<strong>de</strong>r das Boot und fuhr nach <strong>de</strong>m<br />

gegenüberliegen<strong>de</strong>n Ufer.<br />

<strong>Die</strong> Bevölkerung <strong>de</strong>r Gegend um Gergesa hatten einen lebendigen Beweis von Jesu Macht<br />

und Gna<strong>de</strong> vor sich; sie sahen die Männer, die ihren Verstand wie<strong>de</strong>rerlangt hatten, und doch<br />

fürchteten sie über alles, ihre irdischen Güter preisgeben zu müssen. <strong>Die</strong>se Furcht veranlaßte<br />

sie, Jesus, <strong>de</strong>r vor ihren Augen <strong>de</strong>n Fürsten <strong>de</strong>r Finsternis verbannt hatte, wie einen Eindringling<br />

zu behan<strong>de</strong>ln und die Gabe <strong>de</strong>s Himmels abzulehnen. Wohl bietet sich heute nicht mehr die<br />

Gelegenheit, <strong>de</strong>n Heiland als Mensch von sich zu weisen, wie es die Gerasener taten; aber es<br />

gibt noch viele, die sich weigern, seinem Wort zu gehorchen, vor allem dann, wenn dieser<br />

Gehorsam das Opfer irgendwelcher irdischen Vorteile einschließen wür<strong>de</strong>. Sie verwerfen seine<br />

Gna<strong>de</strong> und weisen seinen Geist von sich, damit seine Gegenwart ihnen keinen materiellen<br />

Verlust bringe.<br />

Wie ganz an<strong>de</strong>rs empfan<strong>de</strong>n die bei<strong>de</strong>n Geheilten! Sie verlangten nach <strong>de</strong>r Gegenwart ihres<br />

Erlösers; bei ihm fühlten sie sich geborgen vor <strong>de</strong>n bösen Geistern, die sie gequält und ihrer<br />

besten Kräfte beraubt hatten. Als Jesus sich anschickte, wie<strong>de</strong>r das Boot zu besteigen, hielten<br />

sie sich ganz nahe an seiner Seite, knieten vor ihm nie<strong>de</strong>r und baten herzlich, bei ihm bleiben zu<br />

dürfen, um immer seine Worte lauschen zu können. Doch <strong>de</strong>r Herr gebot ihnen, heimzugehen<br />

und zu verkündigen, was er an ihnen Großes getan hat.<br />

Hier war eine Aufgabe für sie zu erfüllen. Sie sollten in ihre heidnische Heimat zurückgehen<br />

und von <strong>de</strong>n Segnungen erzählen, die Jesus ihnen erwiesen hatte. Es fiel ihnen schwer sich von<br />

<strong>de</strong>m Heiland zu trennen, zumal sie wußten, welche großen Schwierigkeiten sie nun im Verkehr<br />

mit ihren heidnischen Landsleuten begegnen wür<strong>de</strong>n. Ihre lange Trennung von <strong>de</strong>r<br />

menschlichen Gesellschaft schien sie für die von ihm bezeichnete Aufgabe unfähig gemacht zu<br />

haben; doch sobald <strong>de</strong>r Herr ihnen <strong>de</strong>n Auftrag stellte, waren sie bereit, ihn zu erfüllen. Nicht<br />

nur ihrer engsten Umgebung erzählten sie von <strong>de</strong>m Wun<strong>de</strong>rheiland, sie gingen vielmehr durch<br />

das ganze Gebiet <strong>de</strong>r Zehn Städte, verkündigten überall Jesu erretten<strong>de</strong> Macht und beschrieben,<br />

wie er sie von <strong>de</strong>n bösen Geistern befreit hatte. So empfingen sie durch ihr Missionswerk einen<br />

größeren Segen, als wenn sie zu ihrem eigenen Nutzen bei Jesus geblieben wären. Wenn wir die<br />

große Heilandsbotschaft verbreiten helfen, wer<strong>de</strong>n wir <strong>de</strong>m Erlöser nähergebracht.<br />

<strong>Die</strong> bei<strong>de</strong>n vom Wahnsinn Geheilten waren die ersten Missionare, die <strong>de</strong>r Herr in die<br />

Gegend <strong>de</strong>r Zehn Städte sandte, das Evangelium zu verkündigen. Nur kurze Zeit hatten sie das<br />

Vorrecht gehabt, <strong>de</strong>n Lehren Jesu zu lauschen; nicht eine einzige Predigt hatten sie von ihm<br />

vernommen. Sie konnten von sich aus das Volk nicht lehren wie die Jünger, die täglich bei <strong>de</strong>m<br />

Herrn gewesen waren; aber sie bezeugten durch ihr persönliches Erleben, daß Jesus <strong>de</strong>r Messias<br />

war. Sie konnten erzählen, was sie wußten, was sie von <strong>de</strong>r Macht <strong>Christi</strong> gesehen, gehört und<br />

erlebt hatten. <strong>Die</strong>s kann je<strong>de</strong>r tun, <strong>de</strong>ssen Herz von <strong>de</strong>r göttlichen Gna<strong>de</strong> berührt wor<strong>de</strong>n ist.<br />

Johannes, <strong>de</strong>r Lieblingsjünger, schrieb: „Das da von Anfang war, das wir gehört haben, das wir<br />

gesehen haben mit unseren Augen, das wir beschaut haben ... vom Wort <strong>de</strong>s Lebens ... was wir<br />

gesehen und gehört haben, das verkündigen wir euch.“ 1.Johannes 1,1-3. Als Zeugen <strong>Christi</strong><br />

227


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

sollen wir verkündigen, was wir wissen, was wir selber gesehen, gehört und empfun<strong>de</strong>n haben.<br />

Wenn wir Jesus Schritt für Schritt gefolgt sind, dann wer<strong>de</strong>n wir auch etwas über <strong>de</strong>n Weg<br />

erzählen können, <strong>de</strong>n er uns geführt hat. Wir können sagen, wie wir seine Verheißungen erprobt<br />

und sie zuverlässig gefun<strong>de</strong>n haben. Wir können Zeugnis darüber geben, was wir von <strong>de</strong>r<br />

Gna<strong>de</strong> <strong>Christi</strong> erfahren haben. Das ist das Zeugnis, zu <strong>de</strong>m unser Herr uns aufruft und an <strong>de</strong>ssen<br />

Mangel die Welt zugrun<strong>de</strong> geht.<br />

Obwohl die Bevölkerung von Gergesa Jesus nicht angenommen hatte, überließ er sie nicht<br />

<strong>de</strong>r selbstgewählten Finsternis. Als sie ihn bat, von ihr zu gehen, hatte sie seine Worte noch<br />

nicht gehört. Sie wußte nicht, was sie abwies. Darum sandte er ihr erneut das Licht, und zwar<br />

durch solche Boten, bei <strong>de</strong>nen sie sich nicht weigern wür<strong>de</strong>, zuzuhören. Durch die Vernichtung<br />

<strong>de</strong>r Schweine wollte Satan die Menschen vom Heiland abwen<strong>de</strong>n und die Verkündigung <strong>de</strong>s<br />

Evangeliums in diesem Gebiet verhin<strong>de</strong>rn. Aber gera<strong>de</strong> dieses Ereignis erregte die Menschen<br />

mehr als irgend etwas an<strong>de</strong>res und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf Christus. Der Heiland war<br />

zwar gegangen, aber zurück blieb als ein Zeuge seiner Macht <strong>de</strong>r Mensch, <strong>de</strong>n er geheilt hatte.<br />

<strong>Die</strong>jenigen, die Werkzeuge <strong>de</strong>s Fürsten <strong>de</strong>r Finsternis waren, wur<strong>de</strong>n Vermittler <strong>de</strong>s Lichts,<br />

Botschafter <strong>de</strong>s Sohnes Gottes. <strong>Die</strong> Menschen gerieten in Erstaunen, als sie von <strong>de</strong>n<br />

wun<strong>de</strong>rbaren Neuigkeiten hörten. Überall in diesem Gebiet stan<strong>de</strong>n die Tore <strong>de</strong>m Evangelium<br />

offen. Als Jesus in das Gebiet <strong>de</strong>r Zehn Städte zurückkehrte, scharten sich die Menschen um<br />

ihn, und drei Tage lang hörten nicht nur die Einwohner einer Stadt, son<strong>de</strong>rn Tausen<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>r<br />

ganzen Umgebung die Botschaft <strong>de</strong>r Erlösung. Auch die Macht <strong>de</strong>r Dämonen ist letztlich <strong>de</strong>r<br />

Herrschaft unseres Heilan<strong>de</strong>s unterworfen, und das Werk <strong>de</strong>s Bösen wird um <strong>de</strong>s Guten willen<br />

in Schach gehalten.<br />

<strong>Die</strong> Begegnung mit <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Besessenen war für die Jünger sehr lehrreich. Sie zeigte<br />

ihnen die Tiefe <strong>de</strong>r Entartung, in die Satan das ganze Menschengeschlecht zu stürzen versucht,<br />

dann aber auch die Aufgabe <strong>Christi</strong>, die Gefangenen aus Satans Macht zu befreien. Jene<br />

elen<strong>de</strong>n Geschöpfe, die inmitten <strong>de</strong>r Gräber hausten und von bösen Geistern besessen, in<br />

ungezügelten Lei<strong>de</strong>nschaften und ekelerregen<strong>de</strong>n Neigungen geknechtet waren, geben Zeugnis<br />

davon, was aus Menschen wird, wenn sie <strong>de</strong>r satanischen Gewalt überlassen bleiben. Satans<br />

Einfluß wirkt stets dahin, die Sinne <strong>de</strong>r Menschen zu verwirren, das Gemüt auf Böses zu lenken<br />

und zu Gewalttaten und Verbrechen anzuspornen. Er schwächt <strong>de</strong>n Körper, verdunkelt <strong>de</strong>n<br />

Geist und erniedrigt die Seele. Wer die Einladung <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s verwirft, ergibt sich <strong>de</strong>m<br />

Teufel. Viele Menschen in je<strong>de</strong>r Lebensstellung, im Heim, im Geschäft und selbst in <strong>de</strong>r<br />

Gemein<strong>de</strong>, han<strong>de</strong>ln heute ähnlich.<br />

Darum haben Gewalttaten und Verbrechen auf Er<strong>de</strong>n überhandgenommen, und tiefe<br />

moralische Finsternis be<strong>de</strong>ckt wie mit einem Leichentuch die Wohnungen <strong>de</strong>r Menschen.<br />

Durch seine locken<strong>de</strong>n Versuchungen verführt Satan zu immer größerer Sün<strong>de</strong>, bis völlige<br />

Entartung und Ver<strong>de</strong>rben die Folge sind. <strong>Die</strong> einzige Sicherheit vor dieser teuflischen Macht<br />

liegt in <strong>de</strong>r Gegenwart Jesu. Vor Menschen und Engeln ist Satan als Feind und Ver<strong>de</strong>rber,<br />

Christus aber als Freund und Erlöser offenbart wor<strong>de</strong>n. <strong>Christi</strong> Geist wird solche Eigenschaften<br />

im Menschen entwickeln, die <strong>de</strong>n Charakter vere<strong>de</strong>ln und seinem Wesen zur Ehre gereichen. Er<br />

228


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

wird <strong>de</strong>n Menschen heranbil<strong>de</strong>n zur Verherrlichung Gottes nach Leib, Seele und Geist. „Denn<br />

Gott hat uns nicht gegeben <strong>de</strong>n Geist <strong>de</strong>r Furcht, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Kraft und <strong>de</strong>r Liebe und <strong>de</strong>r<br />

Zucht.“ 2.Timotheus 1,7. Er hat uns berufen, die „Herrlichkeit“, <strong>de</strong>n Charakter „unseres Herrn<br />

Jesus Christus“ zu erlangen und gleich zu sein <strong>de</strong>m „Ebenbil<strong>de</strong> seines<br />

Sohnes“. 2.Thessalonicher 2,14; Römer 8,29.<br />

Menschen, die zu Werkzeugen Satans herabgewürdigt wor<strong>de</strong>n sind, können immer noch<br />

durch die Kraft <strong>Christi</strong> zu Boten <strong>de</strong>r Gerechtigkeit umgebil<strong>de</strong>t und von Christus hinausgesandt<br />

wer<strong>de</strong>n, zu verkündigen, „wie große Wohltat dir <strong>de</strong>r Herr getan und sich <strong>de</strong>iner erbarmt<br />

hat.“ Markus 5,19.<br />

229


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 36: Ein lebendiger Glaube<br />

Als Jesus die Gegend <strong>de</strong>r Zehn Städte verlassen hatte und wie<strong>de</strong>r nach <strong>de</strong>m westlichen Ufer<br />

<strong>de</strong>s Sees zurückgekehrt war, wur<strong>de</strong> er von einer großen Volksmenge erwartet, die ihn herzlich<br />

begrüßte. Er blieb noch längere Zeit am See, lehrte und machte Kranke gesund und begab sich<br />

in das Haus <strong>de</strong>s Matthäus, wo er mit Zöllnern beim Fest zusammentraf. Hier fand ihn Jairus, <strong>de</strong>r<br />

Oberste <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>nschule. Jairus trat mit allen Anzeichen größter Herzensnot zu Jesus, warf sich<br />

ihm zu Füßen und rief: „Meine Tochter liegt in <strong>de</strong>n letzten Zügen; du wollest kommen und<br />

<strong>de</strong>ine Hän<strong>de</strong> auf sie legen, daß sie gesund wer<strong>de</strong> und lebe.“ Markus 5,23.<br />

Jesus begab sich sofort mit <strong>de</strong>m Obersten auf <strong>de</strong>n Weg zu <strong>de</strong>ssen Wohnung. Obgleich die<br />

Jünger schon oft seine Werke <strong>de</strong>r Barmherzigkeit gesehen hatten, waren sie doch überrascht,<br />

daß ihr Herr <strong>de</strong>m Wunsch dieses hochmütigen Obersten so bereitwillig nachkam. Sie<br />

begleiteten mit noch vielen an<strong>de</strong>ren ihren Meister, ungeduldig und erwartungsvoll. Des<br />

Obersten Haus war nicht weit entfernt; aber Jesus und seine Begleiter kamen nur langsam<br />

vorwärts, <strong>de</strong>nn die Menge drängte von allen Seiten. Trotz <strong>de</strong>r Ungeduld <strong>de</strong>s Vaters unterbrach<br />

Jesus aus Mitleid mit <strong>de</strong>m Volk seinen Weg, heilte hier einen Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n und spen<strong>de</strong>te dort<br />

einer traurigen Seele reichen Trost.<br />

Da drängte sich plötzlich ein Bote durch die Menge und brachte Jairus die Mitteilung, daß<br />

seine Tochter gestorben sei; es sei nun nicht mehr notwendig, <strong>de</strong>n Meister zu bemühen. <strong>Die</strong>se<br />

Worte vernahm auch <strong>de</strong>r Heiland, und er sagte zu Jairus: „Fürchte dich nicht; glaube nur, so<br />

wird sie gesund!“ Lukas 8,50. Jairus hielt sich enger an <strong>de</strong>n Heiland, und gemeinsam eilten sie<br />

nun zum Sterbehaus. <strong>Die</strong> gemieteten Klageweiber und Flötenspieler hatten sich bereits<br />

eingestellt und erfüllten die Luft mit ihrem lauten Wehklagen. <strong>Die</strong> vielen Menschen und <strong>de</strong>r<br />

große Lärm bedrückten <strong>de</strong>n Herrn. Er gebot ihnen Schweigen und sagte: „Was lärmet und<br />

weinet ihr? Das Kind ist nicht gestorben, son<strong>de</strong>rn es schläft.“ Markus 5,39. <strong>Die</strong> Menge war<br />

entrüstet über die Worte <strong>de</strong>s Fremdlings. Sie hatte doch <strong>de</strong>n Tod <strong>de</strong>s Mädchens selbst miterlebt.<br />

So wur<strong>de</strong>n Jesu Worte verlacht. Er aber for<strong>de</strong>rte die Ju<strong>de</strong>n auf, das Haus zu verlassen, nahm die<br />

Eltern <strong>de</strong>s Mädchens und die Jünger Petrus, Jakobus und Johannes zu sich und ging mit ihnen in<br />

das Sterbezimmer.<br />

Jesus näherte sich <strong>de</strong>m Totenlager, nahm <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s Hand und sagte in <strong>de</strong>r vertrauten<br />

Sprache ihrer Heimat mit weicher Stimme: „Mägdlein, ich sage dir, stehe auf!“ Markus<br />

5,41. Sofort kam Leben in die regungslose Gestalt <strong>de</strong>s Mädchens; <strong>de</strong>r Puls begann wie<strong>de</strong>r zu<br />

schlagen, die Lippen öffneten sich mit einem Lächeln, die Augen taten sich weit auf wie nach<br />

einem langen Schlaf. Das Mädchen blickte verwun<strong>de</strong>rt auf die Anwesen<strong>de</strong>n. Es stand auf, und<br />

die Eltern schlossen ihr Kind mit Tränen <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n Augen in ihre Arme. Auf <strong>de</strong>m Wege<br />

zum Haus <strong>de</strong>s Obersten hatte sich Jesus eine arme Frau genähert, die seit zwölf Jahren an einer<br />

schrecklichen Krankheit litt, die ihr das Leben zur Last machte. Sie hatte ihr ganzes Vermögen<br />

für Ärzte und Heilmittel ausgegeben, um schließlich doch als unheilbar erklärt zu wer<strong>de</strong>n. Ihre<br />

Hoffnung belebte sich neu, als sie von <strong>de</strong>n Wun<strong>de</strong>rheilungen Jesu hörte, und sie glaubte fest,<br />

daß sie genesen wür<strong>de</strong>, könnte sie nur in seine Nähe kommen. So schleppte sie sich <strong>de</strong>nn<br />

230


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

mühsam ans Ufer, wo Jesus lehrte, und versuchte durch die Menge hindurchzukommen. Doch<br />

vergeblich. Abermals folgte sie ihm, als er aus <strong>de</strong>m Hause <strong>de</strong>s Levi-Matthäus kam. Und wie<strong>de</strong>r<br />

gelang es ihr nicht, sich bis in seine Nähe vorzudrängen. Sie wollte schon <strong>de</strong>n Mut sinken<br />

lassen, als <strong>de</strong>r Herr auf seinem Weg durch die Menge in ihre Nähe kam.<br />

Nun war die Gelegenheit günstig: <strong>Die</strong> Frau befand sich in unmittelbarer Nähe <strong>de</strong>s großen<br />

Arztes! Aber inmitten <strong>de</strong>r Unruhe konnte sie nicht mit ihm re<strong>de</strong>n, ja kaum einen flüchtigen<br />

Blick auf ihn werfen. Schon fürchtete sie, daß ihr diese einzigartige Gelegenheit, Hilfe zu<br />

erhalten, verlorengehen könnte. Mit aller Gewalt drängte sie sich noch weiter nach vorn und<br />

sagte zu sich selbst: „Wenn ich auch nur seine Klei<strong>de</strong>r könnte anrühren, so wür<strong>de</strong> ich<br />

gesund.“ Markus 5,28. Als Jesus vorüberging, streckte sie die Hand aus, und es gelang ihr, <strong>de</strong>n<br />

Saum seines Gewan<strong>de</strong>s zu berühren. Im gleichen Augenblick fühlte sie, daß sie geheilt war. Sie<br />

hatte in diese eine Berührung ihren ganzen Glaubensmut gelegt, und sofort trat die Kraft<br />

vollkommener Gesundheit an die Stelle von Schmerz und Schwäche.<br />

Mit dankerfülltem Herzen wollte sich die Frau wie<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>r Menge zurückziehen; aber<br />

Jesus blieb plötzlich stehen, und die Menschen folgten seinem Beispiel. Er wandte sich um und<br />

fragte mit einer Stimme, die aus <strong>de</strong>m Lärm <strong>de</strong>r Menge klar herauszuhören war: „Wer hat mich<br />

angerührt?“ Lukas 8,45. Ein erstaunter Blick aus <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>r Umstehen<strong>de</strong>n war die stumme<br />

Antwort. Da er in <strong>de</strong>m großen Gedränge, in <strong>de</strong>m er sich seinen Weg bahnen mußte, bald hier,<br />

bald da angestoßen wur<strong>de</strong>, wun<strong>de</strong>rten sich die Leute sehr über seine seltsame Frage.<br />

Der vorlaute Petrus antwortete Jesus: „Meister, das Volk drängt und drückt dich.“ Lukas<br />

8,45. Jesus aber sprach: „Es hat mich jemand angerührt; <strong>de</strong>nn ich fühlte, daß eine Kraft von mir<br />

gegangen ist.“ Lukas 8,46. Der Heiland konnte die Berührung <strong>de</strong>s Glaubens von <strong>de</strong>m<br />

absichtslosen Anrühren im Gedränge wohl unterschie<strong>de</strong>n. Das gläubige Vertrauen sollte nicht<br />

ungewürdigt bleiben. Jesus wollte <strong>de</strong>r <strong>de</strong>mütigen Frau Worte <strong>de</strong>s Trostes zusprechen, die ihr<br />

eine Quelle <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong> sein wür<strong>de</strong>n — Worte, die allen seinen Nachfolgern bis zum En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />

Zeit Segen verhießen.<br />

Jesus richtete seinen Blick auf die geheilte Frau und fragte, wer ihn angerührt habe. Sie<br />

mußte erkennen, daß ein Verheimlichen unmöglich wäre, trat zitternd hervor, warf sich <strong>de</strong>m<br />

Herrn zu Füßen und erzählte unter Tränen <strong>de</strong>r Dankbarkeit ihre Lei<strong>de</strong>nsgeschichte und auf<br />

welche Weise sie Heilung gefun<strong>de</strong>n hätte. Jesus sprach mit gütiger Stimme zu ihr: „Meine<br />

Tochter, <strong>de</strong>in Glaube hat dir geholfen. Gehe hin in Frie<strong>de</strong>n!“ Lukas 8,48. Er gab nicht <strong>de</strong>m<br />

Aberglauben Raum, daß allein das einfache Berühren seines Gewan<strong>de</strong>s Heilung bewirkte. Nicht<br />

durch äußerliche Berührung, son<strong>de</strong>rn durch <strong>de</strong>n Glauben, <strong>de</strong>r seine göttliche Macht erfaßte,<br />

wur<strong>de</strong> die Frau geheilt.<br />

<strong>Die</strong> staunen<strong>de</strong> Menge, die Christus umdrängte, spürte nichts von seiner lebendigen Kraft.<br />

Aber als die lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Frau ihre Hand ausstreckte, um ihn zu berühren, und dabei glaubte, daß<br />

sie geheilt wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>, fühlte sie die heilen<strong>de</strong> Wirkung. So ist es auch in geistlichen Dingen.<br />

Gelegentlich ein religiöses Gespräch zu führen o<strong>de</strong>r ohne inneres Verlangen und ohne<br />

lebendigen Glauben zu beten, nützt nichts. Ein bloßes Lippenbekenntnis zu Christus, das ihn<br />

231


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

lediglich als <strong>de</strong>n Erlöser <strong>de</strong>r Welt anerkennt, vermag niemals die Seele zu heilen. Der Glaube an<br />

die Erlösung ist eben nicht nur eine verstan<strong>de</strong>smäßige Zustimmung gegenüber <strong>de</strong>r Wahrheit.<br />

Wer volle Erkenntnis erwartet, bevor er <strong>de</strong>n Glauben ausleben will, kann nicht von Gott<br />

gesegnet wer<strong>de</strong>n. Es genügt nicht, das zu glauben, was wir über Jesus hören, wir müssen an ihn<br />

glauben. Der einzige Glaube, <strong>de</strong>r uns helfen kann, ist <strong>de</strong>r Glaube, <strong>de</strong>r Jesus als persönlichen<br />

Heiland annimmt und sein Verdienst sich zueignet. Vielen be<strong>de</strong>utet <strong>de</strong>r Glaube nur eine<br />

Meinung; aber <strong>de</strong>r seligmachen<strong>de</strong> Glaube ist ein Bündnis mit Gott, das die Seelen schließen, die<br />

<strong>de</strong>n Herrn annehmen. Wahrer Glaube ist Leben. Ein lebendiger Glaube be<strong>de</strong>utet steten Zuwachs<br />

an Kraft, ein zuversichtliches Vertrauen, wodurch die Seele zu einer alles überwin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />

Macht wird.<br />

Nach <strong>de</strong>r Heilung <strong>de</strong>r Frau wünschte <strong>de</strong>r Heiland, daß sie <strong>de</strong>n empfangenen Segen<br />

anerkenne. <strong>Die</strong> Gaben, die das Evangelium anbietet, sollen nicht wie ein Raub gesichert und<br />

heimlich genossen wer<strong>de</strong>n. Der Herr for<strong>de</strong>rt uns darum auf, seine Güte zu bekennen. „Ihr seid<br />

meine Zeugen, spricht <strong>de</strong>r Herr, und ich bin Gott.“ Jesaja 43,12. Unser Bekenntnis seiner Treue<br />

ist das auserwählte Mittel <strong>de</strong>s Himmels, um <strong>de</strong>r Welt Christus zu offenbaren. Wir sollen seine<br />

Gna<strong>de</strong> anerkennen, die durch die heiligen Menschen <strong>de</strong>r alten Zeit bekanntgemacht wur<strong>de</strong>.<br />

Beson<strong>de</strong>rs wirksam aber ist das Zeugnis <strong>de</strong>r eigenen Erfahrung. Wir sind in <strong>de</strong>m Maße Zeugen<br />

Gottes, wie wir an uns selbst das Wirken <strong>de</strong>r göttlichen Macht offenbaren. Je<strong>de</strong>r unterschei<strong>de</strong>t<br />

sich in seinem Leben von <strong>de</strong>m seiner Mitmenschen, und seine Erfahrung ist wesentlich<br />

verschie<strong>de</strong>n von ihren Erfahrungen. Gott wünscht, daß in unserem Lob, das zu ihm emporsteigt,<br />

unsere eigene Persönlichkeit mitschwingt. Wird dieses kostbare Bekenntnis zum Lobe seiner<br />

herrlichen Gna<strong>de</strong> von einem wahrhaft christlichen Leben getragen, so hat es eine<br />

unwi<strong>de</strong>rstehliche Macht, die für die Rettung von Seelen wirkt.<br />

Als die zehn Aussätzigen zum Herrn kamen, um geheilt zu wer<strong>de</strong>n, gebot er ihnen, sich <strong>de</strong>n<br />

Priestern zu zeigen. Auf <strong>de</strong>m Wege dorthin wur<strong>de</strong>n sie geheilt. Aber nur einer kam wie<strong>de</strong>r, um<br />

Christus die Ehre zu geben. <strong>Die</strong> an<strong>de</strong>rn neun gingen ihres Weges und vergaßen <strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r sie<br />

gesund gemacht hatte. Wie viele han<strong>de</strong>ln heute ebenso! Der Herr wirkt beständig zum Wohle<br />

<strong>de</strong>r Menschheit; er schenkt fortwährend aus seiner Fülle; er läßt die Kranken von <strong>de</strong>n Betten <strong>de</strong>s<br />

Siechtums aufstehen; er befreit Menschen aus Gefahren, die sie nicht erkennen; er beauftragt<br />

himmlische Engel, Menschen vor Schwierigkeiten zu bewahren und sie zu beschützen „vor <strong>de</strong>r<br />

Pest, die im Finstern schleicht, vor <strong>de</strong>r Seuche, die am Mittag Ver<strong>de</strong>rben bringt.“ Psalm 91,6.<br />

Aber das alles macht keinen Eindruck auf die Menschen. Er hat alle Reichtümer <strong>de</strong>s Himmels<br />

gegeben, um sie zu erlösen, und <strong>de</strong>nnoch erkennen sie nicht seine große Liebe. Durch ihre<br />

Undankbarkeit verschließen sie ihre Herzen gegen die Gna<strong>de</strong> Gottes. Sie sind wie ein kahler<br />

Strauch in <strong>de</strong>r Steppe und wissen nicht, daß ihnen etwas Gutes geschieht, und ihre Seelen<br />

„bleiben in <strong>de</strong>r Dürre <strong>de</strong>r Wüste, im unfruchtbaren Lan<strong>de</strong>.“ Jeremia 17,6.<br />

Es gereicht uns zum Segen, je<strong>de</strong> Gabe Gottes in unserem Gedächtnis zu bewahren. Dadurch<br />

wird <strong>de</strong>r Glaube gestärkt, immer mehr zu beanspruchen und zu empfangen. Es liegt eine<br />

größere Ermutigung für uns in <strong>de</strong>m Segen, <strong>de</strong>n wir von Gott selber empfangen, als in allen<br />

Berichten über göttliche Segnungen, die an<strong>de</strong>ren zuteil wur<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> Seele, die sich <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong><br />

232


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Gottes öffnet, wird wie ein bewässerter Garten sein; ihre Gesundheit wird schnell zunehmen, ihr<br />

Licht wird in die Finsternis scheinen, und die Herrlichkeit <strong>de</strong>s Herrn wird an ihr gesehen<br />

wer<strong>de</strong>n. Laßt uns darum <strong>de</strong>r göttlichen Güte und aller seiner zärtlichen Gna<strong>de</strong>nbeweise<br />

ge<strong>de</strong>nken, laßt uns — <strong>de</strong>m Volk Israel gleich — Steine <strong>de</strong>r Dankbarkeit zum Zeugnis aufrichten<br />

und darauf die köstliche Geschichte schreiben von <strong>de</strong>m, was Gott an uns getan hat. In<strong>de</strong>m wir<br />

überblicken, wie er mit uns auf unserer Pilgerreise gehan<strong>de</strong>lt hat, wer<strong>de</strong>n wir mit einem Herzen<br />

überströmen<strong>de</strong>n Dankes sagen: „Wie soll ich <strong>de</strong>m Herrn vergelten all seine Wohltat, die er an<br />

mit tut? Ich will <strong>de</strong>n Kelch <strong>de</strong>s Heils nehmen und <strong>de</strong>s Herrn Namen anrufen. Ich will meine<br />

Gelüb<strong>de</strong> <strong>de</strong>m Herrn erfüllen vor all seinem Volk.“ Psalm 116,12-14.<br />

233


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 37: <strong>Die</strong> ersten Evangelisten<br />

<strong>Die</strong> Apostel hatten als Angehörige <strong>de</strong>s Jesuskreises ihren Herrn durch ganz Galiläa begleitet.<br />

Sie hatten alle Lasten und Schwierigkeiten, die über sie kamen, mit ihm geteilt. Sie hatten<br />

seinen Unterweisungen gelauscht. Sie waren mit <strong>de</strong>m Sohn Gottes gewan<strong>de</strong>rt und hatten sich<br />

mit ihm unterhalten. Aus seinen täglichen Belehrungen wußten sie auch, wie sie ihre künftige<br />

Aufgabe an <strong>de</strong>r Menschheit erfüllen mußten. Sooft <strong>de</strong>r Heiland die Bedürfnisse <strong>de</strong>r<br />

Volksmenge, die sich um ihn versammelte hatte, stillte, waren die Jünger dabei und eifrig<br />

bemüht, <strong>de</strong>m Herrn bei <strong>de</strong>r Erfüllung seiner schweren Aufgabe beizustehen. Sie ordneten das<br />

Volk, brachten die Kranken zum Heiland und sorgten für das allgemeine Wohl; sie<br />

beschäftigten sich mit <strong>de</strong>r großen Schar <strong>de</strong>r aufmerksamen Zuhörer, erklärten ihnen die heiligen<br />

Schriften und wirkten in verschie<strong>de</strong>ner Weise für <strong>de</strong>ren geistliches Wohl. Sie lehrten, was sie<br />

von Jesus gelernt hatten, und bereicherten täglich ihre Erfahrungen. Nur waren sie im Gebrauch<br />

<strong>de</strong>r geistlichen Mittel noch nicht selbständig. Sie bedurften für ihre Arbeit, was Geduld und<br />

Sorgsamkeit betraf, noch mancher Unterweisung. Christus sandte sie <strong>de</strong>shalb als seine<br />

Stellvertreter hinaus, solange er noch persönlich bei ihnen war, sie auf ihre Fehler und Mängel<br />

aufmerksam machen und ihnen mit seinem weisen Rat zur Seite stehen konnte.<br />

<strong>Die</strong> Jünger ließen sich durch die Lehren <strong>de</strong>r Priester und Pharisäer oft in Verwirrung<br />

bringen. Solange sie mit Jesus zusammen waren, konnten sie ihm ihre Verlegenheit schil<strong>de</strong>rn,<br />

und er zeigte ihnen <strong>de</strong>n Unterschied zwischen Schriftwahrheit und Überlieferung. Dadurch<br />

hatte er ihr Vertrauen auf Gottes Wort gestärkt und sie in hohem Maße von <strong>de</strong>r Furcht vor <strong>de</strong>n<br />

Rabbinern und von <strong>de</strong>n Fesseln <strong>de</strong>r Überlieferung frei gemacht. In <strong>de</strong>r Erziehung <strong>de</strong>r Jünger<br />

war das Beispiel <strong>de</strong>s Lebens Jesu be<strong>de</strong>utend wirkungsvoller als ein rein theoretischer<br />

Unterricht. Als sie von ihm getrennt waren, erinnerten sie sich an je<strong>de</strong>n Blick und an je<strong>de</strong>s<br />

seiner Worte. Wie oft wie<strong>de</strong>rholten sie im Re<strong>de</strong>duell mit <strong>de</strong>n Gegnern <strong>de</strong>s Evangeliums diese<br />

Worte! Und wenn sie <strong>de</strong>ren Wirkung auf das Volk sahen, waren sie hoch erfreut.<br />

Jesus rief die Zwölf zu sich und gebot ihnen, zwei und zwei in die Städte und Dörfer zu<br />

gehen. Keiner wur<strong>de</strong> allein ausgesandt, son<strong>de</strong>rn es ging Bru<strong>de</strong>r mit Bru<strong>de</strong>r, Freund mit Freund.<br />

So konnten sie einan<strong>de</strong>r helfen, ermutigen, raten und auch zusammen beten. Des einen Kraft<br />

vermochte die Schwäche <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>rn auszugleichen. So wur<strong>de</strong>n später auch die Siebzig<br />

ausgesandt. Es war <strong>de</strong>s Herrn Wille, daß die Evangeliumsboten in dieser Weise miteinan<strong>de</strong>r<br />

verbun<strong>de</strong>n sein sollten; auch in unserer Zeit wäre die Evangeliumsarbeit viel erfolgreicher,<br />

wenn dieses Beispiel mehr beachtet wür<strong>de</strong>.<br />

<strong>Die</strong> Botschaft <strong>de</strong>r Jünger war die gleiche, die auch Johannes <strong>de</strong>r Täufer und <strong>de</strong>r Heiland<br />

selbst verkündigt hatten: „Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!“ Matthäus 3,2. Sie<br />

sollten nicht mit <strong>de</strong>n Leuten darüber streiten, ob Jesus von Nazareth <strong>de</strong>r Messias sei; sie sollten<br />

aber in seinem Namen die gleichen Werke tun, die er auch getan hatte. Er gebot ihnen: „Macht<br />

Kranke gesund, weckt Tote auf, reinigt Aussätzige, treibt böse Geister aus. Umsonst habt ihr‘s<br />

empfangen, umsonst gebt es auch.“ Matthäus 10,8. Jesus verwandte während seines<br />

Er<strong>de</strong>ndienstes mehr Zeit auf die Heilung <strong>de</strong>r Kranken als auf das Predigen. Seine Wun<strong>de</strong>rtaten<br />

234


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

bezeugten die Wahrheit seiner Worte, daß er nicht gekommen sei, zu ver<strong>de</strong>rben, son<strong>de</strong>rn zu<br />

erretten! Seine Gerechtigkeit ging vor ihm her, und die Herrlichkeit <strong>de</strong>s Vaters folgte ihm.<br />

Wohin er auch ging, die Kun<strong>de</strong> von seiner Barmherzigkeit eilte ihm voraus. Und wo er vorüber<br />

kam, spen<strong>de</strong>te er neues Leben, Gesundheit und Freu<strong>de</strong>. So sammelte sich das Volk um die<br />

Jünger, um aus ihrem Mun<strong>de</strong> zu hören, was <strong>de</strong>r Herr getan hatte. Jesu Stimme war für viele <strong>de</strong>r<br />

erste Laut, <strong>de</strong>n sie je gehört, sein Name das erste Wort, das sie je gesprochen, und sein<br />

Angesicht das erste, das sie je wahrgenommen hatten. Warum sollten sie Jesus nicht lieben und<br />

sein Lob verkündigen? Den Städten und Ortschaften, die er auf seinen Reisen berührte, war<br />

er gleich einem lebendigen Strom, <strong>de</strong>r Leben und Freu<strong>de</strong> auf seinem Wege verbreitet.<br />

<strong>Christi</strong> Nachfolger sollen in gleicher Weise wirken. Wir sollen die Hungrigen speisen, die<br />

Nackten klei<strong>de</strong>n, die Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n und Bedrückten trösten, <strong>de</strong>n Verzagten dienen und die<br />

Hoffnungslosen ermutigen; dann wird auch an uns die Verheißung erfüllt: „Deine Gerechtigkeit<br />

wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit <strong>de</strong>s Herrn wird <strong>de</strong>ine Nachhut sein!“ Jesaja 58,8<br />

(Schlachter). <strong>Die</strong> Liebe <strong>Christi</strong>, die sich in selbstlosem <strong>Die</strong>nst offenbart, wird zur Besserung <strong>de</strong>s<br />

Gottlosen wirkungsvoller sein als das Schwert o<strong>de</strong>r das Gericht. <strong>Die</strong>se sind notwendig, um <strong>de</strong>n<br />

Übertreter <strong>de</strong>s Gesetzes zu schrecken; aber ein liebevoller Evangelist kann mehr ausrichten. Oft<br />

verhärtet sich das Herz unter einer Zurechtweisung, die Liebe <strong>Christi</strong> aber wird ein Herz<br />

erweichen. Der Missionar kann nicht nur in leiblichen Nöten helfen, er kann vor allem <strong>de</strong>n<br />

Sün<strong>de</strong>r zu <strong>de</strong>m großen Arzt führen, <strong>de</strong>r die Seele von <strong>de</strong>m Aussatz <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> zu reinigen<br />

vermag. Es ist Gottes Wille, daß die Kranken, die Unglücklichen, die von bösen Geistern<br />

Besessenen seine Stimme durch seine <strong>Die</strong>ner und Boten vernehmen sollen; er will durch<br />

menschliche Werkzeuge ein Tröster sein, wie die Welt keinen besseren kennt.<br />

<strong>Die</strong> Jünger sollten auf ihrer ersten Missionsreise nur „zu <strong>de</strong>n verlorenen Schafen aus <strong>de</strong>m<br />

Hause Israel“ (Matthäus 10,6) gehen. Hätten sie jetzt <strong>de</strong>n Hei<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Samaritern das<br />

Evangelium gepredigt, dann wür<strong>de</strong>n sie ihren Einfluß bei <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n verloren haben. Sie hätten<br />

das Vorurteil <strong>de</strong>r Pharisäer erregt und wür<strong>de</strong>n sich selbst in Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen verwickelt<br />

haben, so daß ihnen schon am Anfang ihrer Missionstätigkeit aller Mut genommen wor<strong>de</strong>n<br />

wäre. Selbst die Apostel konnten es kaum begreifen, daß das Evangelium allen Völkern<br />

gebracht wer<strong>de</strong>n mußte, und ehe sie diese Wahrheit nicht selbst fassen und verstehen konnten,<br />

waren sie nicht genügend vorbereitet, unter <strong>de</strong>n Hei<strong>de</strong>n zu wirken. Wenn die Ju<strong>de</strong>n das<br />

Evangelium annehmen wür<strong>de</strong>n, sollten sie nach Gottes Willen als seine Boten zu <strong>de</strong>n Hei<strong>de</strong>n<br />

ziehen. Deshalb wur<strong>de</strong> ihnen die Botschaft vom Reich als ersten gebracht.<br />

Wo auch <strong>de</strong>r Heiland wirkte, erkannten Menschen ihren bedürftigen Zustand und hungerten<br />

und dürsteten nach <strong>de</strong>r Wahrheit. <strong>Die</strong> Zeit war gekommen, diesen verlangen<strong>de</strong>n Seelen das<br />

Evangelium seiner Liebe zu verkündigen. <strong>Die</strong> Jünger als Jesu Stellvertreter sollten zu all diesen<br />

suchen<strong>de</strong>n Menschen gehen. So wür<strong>de</strong>n die Gläubigen dahin gebracht wer<strong>de</strong>n, sie als göttliche<br />

verordnete Lehrer anzusehen, und, wenn <strong>de</strong>r Heiland von ihnen ginge, nicht ohne Lehrer sein.<br />

Auf dieser ersten Reise sollten die Jünger nur in die Ortschaften gehen, in <strong>de</strong>nen Jesus schon<br />

gewesen war und sich dort Freun<strong>de</strong> erworben hatte. <strong>Die</strong> Vorbereitungen für die Reise sollten<br />

ganz einfach sein. Nichts durfte ihre Gedanken von <strong>de</strong>r großen Aufgabe ablenken o<strong>de</strong>r in<br />

235


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

irgen<strong>de</strong>iner Weise Wi<strong>de</strong>rspruch erregen o<strong>de</strong>r gar die Tür zu weiterer Arbeit verschließen. Sie<br />

durften nicht das Gewand <strong>de</strong>r Religionslehrer anlegen o<strong>de</strong>r sich in ihrer Kleidung von <strong>de</strong>n<br />

einfachen Landbewohnern unterschei<strong>de</strong>n. Sie sollten nicht in die Schulen gehen und das Volk<br />

zum öffentlichen Gottesdienst zusammenrufen; sie sollten ihre Arbeit von Haus zu Haus tun.<br />

Dabei durften sie die Zeit nicht mit unnützen Begrüßungen verschwen<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r von einer<br />

Familie zur an<strong>de</strong>rn gehen, um sich bewirten zu lassen. Aber an je<strong>de</strong>m Ort sollten sie die<br />

Gastfreundschaft <strong>de</strong>rer annehmen, die es wert waren und die sie ebenso freundlich<br />

beherbergten, als ob sie <strong>de</strong>n Herrn selbst zu Gast hätten. Mit <strong>de</strong>m schönen Gruß „Frie<strong>de</strong> sei<br />

diesem Hause!“ (Lukas 10,5) sollten sie je<strong>de</strong>s gastliche Haus betreten. Ein solches Heim wür<strong>de</strong><br />

durch ihre Gebete, ihre Lobgesänge und die Betrachtung <strong>de</strong>r heiligen Schriften im<br />

Familienkreis gesegnet wer<strong>de</strong>n.<br />

<strong>Die</strong>se Jünger sollten die Vorläufer <strong>de</strong>r Wahrheit sein, um <strong>de</strong>n Weg für das Kommen ihres<br />

Meisters zu bereiten. Ihre Botschaft war das Wort <strong>de</strong>s ewigen Lebens, und das Schicksal <strong>de</strong>r<br />

Menschen hing von <strong>de</strong>r Annahme o<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Verwerfung dieser Botschaft ab. Um <strong>de</strong>ren<br />

feierlichen Ernst <strong>de</strong>n Menschen nachdrücklicher vor Augen zu führen, gebot Jesus seinen<br />

Jüngern: „Wenn euch jemand nicht aufnehmen wird noch eure Re<strong>de</strong> hören, so geht heraus von<br />

jenem Hause o<strong>de</strong>r jener Stadt und schüttelt <strong>de</strong>n Staub von euren Füßen. Wahrlich, ich sage<br />

euch: Dem Lan<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Sodomer und Gomorrer wird es erträglicher gehen am Tage <strong>de</strong>s Gerichts<br />

als solcher Stadt.“ Matthäus 10,14.15.<br />

Vor Jesu Blick erhellt sich die Zukunft; er sieht das große Missionsfeld, in <strong>de</strong>m seine Jünger<br />

einst für ihn zeugen wer<strong>de</strong>n; sein prophetisches Auge überblickt die Erfahrungen seiner Boten<br />

durch alle Zeiten hindurch bis zu seinem zweiten Kommen. Er zeigt seinen Nachfolgern die<br />

Kämpfe, <strong>de</strong>nen sie entgegengehen; er offenbart ihnen <strong>de</strong>n Plan und die Art <strong>de</strong>s Streites, eröffnet<br />

ihnen die Gefahren, <strong>de</strong>nen sie nicht entrinnen können, und sagt ihnen von <strong>de</strong>r<br />

Selbstverleugnung, die man von ihnen for<strong>de</strong>rn wird. Er gibt ihnen <strong>de</strong>n Rat, alles gut zu<br />

be<strong>de</strong>nken, damit sie <strong>de</strong>r Feind nicht unvorbereitet überfallen kann. Ihre „Ritterschaft“ richtet<br />

sich nicht gegen Fleisch und Blut, son<strong>de</strong>rn gegen die „Mächtigen und Gewaltigen“, gegen die<br />

„Herren <strong>de</strong>r Welt, die in dieser Finsternis herrschen“, gegen die bösen Geister unter <strong>de</strong>m<br />

Himmel. (Epheser 6,12).<br />

<strong>Christi</strong> Nachfolger müssen gegen übernatürliche Mächte kämpfen, ihnen ist aber auch<br />

übermenschliche Hilfe zugesichert. Alle himmlischen Wesen gehören zu diesem Heer, und<br />

einer, <strong>de</strong>r „um so viel größer gewor<strong>de</strong>n als die Engel, wie <strong>de</strong>r Name, <strong>de</strong>n er als Erbteil erhalten<br />

hat, <strong>de</strong>n ihrigen überragt“. (Hebräer 1,4, Menge). Der Heilige Geist, <strong>de</strong>r Vertreter <strong>de</strong>s Höchsten<br />

unter <strong>de</strong>n Heerscharen <strong>de</strong>s Herrn, kommt hernie<strong>de</strong>r, um die Schlacht zu führen. Unsere<br />

Schwächen mögen zahlreich, unsere Sün<strong>de</strong>n und Fehler schwer sein; die Gna<strong>de</strong> Gottes aber ist<br />

für alle vorhan<strong>de</strong>n, die ihn von ganzem Herzen suchen. <strong>Die</strong> Kraft <strong>de</strong>s Allmächtigen ist bei<br />

<strong>de</strong>nen, die ihr Vertrauen auf Gott setzen.<br />

„Siehe“, sagte Jesus, „ich sen<strong>de</strong> euch wie Schafe mitten unter die Wölfe. Darum seid klug<br />

wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben.“ Matthäus 10,16. Er selbst hat nie ein Wort<br />

<strong>de</strong>r Wahrheit zurückgehalten, es aber stets in Liebe gesprochen. Er bewies im Umgang mit<br />

236


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Menschen das größte Zartgefühl und eine bedachtsame, freundliche Aufmerksamkeit; er<br />

gebrauchte nie grobe Ausdrücke, sprach nie unnötigerweise ein hartes Wort und bereitete selbst<br />

empfindsamen Herzen niemals unnötige Pein. Er ta<strong>de</strong>lte keine menschlichen Schwächen.<br />

Furchtlos verurteilte er zwar Heuchelei, Unglauben und Bosheit, aber er konnte seine scharfen<br />

Zurechtweisungen nur mit tränenerstickter Stimme aussprechen. Er weinte über Jerusalem, über<br />

die Stadt, die er liebte, weil sie sich weigerte, ihn — <strong>de</strong>n Weg, die Wahrheit und das Leben —<br />

anzunehmen. Obgleich sie ihn, <strong>de</strong>n Heiland, verwarf, betrachtete er diese Stadt mit<br />

mitleidvoller Sorge, und <strong>de</strong>r Kummer über ihr Schicksal quälte sein Herz. Je<strong>de</strong> Seele war in<br />

seinen Augen kostbar. Während er selbst mit göttlicher Wür<strong>de</strong> auftrat, erwies er je<strong>de</strong>m Glied<br />

<strong>de</strong>r Gottesfamilie liebevolle Achtung. In allen Menschen sah er gefallene Seelen, die zu retten<br />

er als seine Aufgabe betrachtete.<br />

<strong>Christi</strong> <strong>Die</strong>ner sollen nicht nach <strong>de</strong>n Eingebungen ihres natürlichen Herzens han<strong>de</strong>ln; sie<br />

bedürfen einer engen Gemeinschaft mit Gott, damit sich nicht in <strong>de</strong>r Erregung das eigene Ich<br />

erhebt und Worte <strong>de</strong>s Zorns ausstößt und dann nicht mehr <strong>de</strong>m Tau gleicht o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m sanften<br />

Regen, <strong>de</strong>r die welken Pflanzen erfrischt. Das befriedigt Satan; <strong>de</strong>nn das ist seine Art <strong>de</strong>s<br />

Wirkens. Der Drache ist zornig, <strong>de</strong>r Geist Satans äußert sich in Ärger und Beschuldigung.<br />

Gottes <strong>Die</strong>ner aber sollen Gottes Stellvertreter sein; sie sollen nur in <strong>de</strong>r Währung <strong>de</strong>s Himmels<br />

austeilen, nämlich die Wahrheit, die sein Bild und Gepräge trägt. <strong>Die</strong> Kraft, durch die sie das<br />

Böse überwin<strong>de</strong>n, ist die Kraft <strong>Christi</strong>; seine Herrlichkeit ist ihre Stärke. Sie müssen ihre Blicke<br />

auf seine Güte heften, dann können sie das Evangelium mit göttlichem Feingefühl und in<br />

entsprechen<strong>de</strong>r Sanftmut verkündigen. Der Geist, <strong>de</strong>r auch bei Herausfor<strong>de</strong>rungen ruhig bleibt,<br />

wird für die Wahrheit überzeugen<strong>de</strong>r sprechen können, als es die eindringlichste Beweisführung<br />

vermag.<br />

Alle, die in Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen mit <strong>de</strong>n Gegnern <strong>de</strong>r Wahrheit verwickelt wer<strong>de</strong>n, haben<br />

nicht nur Menschen, son<strong>de</strong>rn Satan und seinen Engeln zu wi<strong>de</strong>rstehen. Mögen sie sich dann <strong>de</strong>r<br />

Worte Jesu erinnern: „Siehe, ich sen<strong>de</strong> euch wie Lämmer mitten unter die Wölfe!“ Lukas 10,3.<br />

Ruhen sie in <strong>de</strong>r Liebe Gottes, wird ihr Gemüt selbst unter persönlichen Kränkungen friedlich<br />

bleiben. Der Herr wird sie mit einer göttlichen Waffenrüstung beklei<strong>de</strong>n, sein Geist wird Herz<br />

und Sinn beeinflussen, so daß ihre Stimmen nicht mehr wie Wolfsgebell sind.<br />

Ferner unterwies Jesus seine Jünger: „Hütet euch aber vor <strong>de</strong>n Menschen.“ Sie sollten <strong>de</strong>nen,<br />

die Gott nicht kannten, we<strong>de</strong>r blind vertrauen noch ihrem Rat folgen, <strong>de</strong>nn dies wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>n<br />

Werkzeugen Satans zum Vorteil gereichen. Menschliche Erfindungskraft arbeitet Gottes Plänen<br />

oft entgegen. Alle, die <strong>de</strong>n Tempel <strong>de</strong>s Herrn bauen, sollen es in Übereinstimmung mit <strong>de</strong>m<br />

Vorbild tun, das als göttliches Muster auf <strong>de</strong>m „Berg“ gezeigt wur<strong>de</strong>. Gott wird entehrt und die<br />

Botschaft verraten, wenn seine <strong>Die</strong>ner sich auf <strong>de</strong>n Rat von Menschen stützen, die nicht unter<br />

<strong>de</strong>r Führung <strong>de</strong>s Heiligen Geistes stehen. Weltliche Weisheit ist Torheit bei Gott. Wer sich auf<br />

sie verläßt, wird <strong>de</strong>m Irrtum verfallen.<br />

„Sie wer<strong>de</strong>n euch überantworten <strong>de</strong>n Gerichten und ... euch vor Fürsten und Könige führen<br />

um meinetwillen, ihnen und <strong>de</strong>n Hei<strong>de</strong>n zum Zeugnis.“ Matthäus 10,17.18. Durch Verfolgung<br />

wird das Licht ausgebreitet. <strong>Die</strong> Boten <strong>de</strong>s Evangeliums wer<strong>de</strong>n vor die Großen dieser Welt<br />

237


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

gebracht wer<strong>de</strong>n, die sonst wohl nie das Wort <strong>de</strong>r Wahrheit hören wür<strong>de</strong>n; <strong>de</strong>nn die Wahrheit<br />

war ihnen falsch dargelegt wor<strong>de</strong>n. Sie haben falsche Anklagen gegen die <strong>Die</strong>ner Gottes und<br />

ihren Glauben gehört. Das Zeugnis <strong>de</strong>rer, die um ihres Glaubens willen vor Gericht gebracht<br />

wer<strong>de</strong>n, ist häufig die einzige Gelegenheit für sie, die wahre Natur <strong>de</strong>s Evangeliums<br />

kennenzulernen. Im Verhör müssen Jesu Jünger antworten, ihre Richter müssen <strong>de</strong>m abgelegten<br />

Zeugnis zuhören, und Gott wird seinen Kin<strong>de</strong>rn Gna<strong>de</strong> geben, dieser gefahrvollen Situation zu<br />

begegnen. Der Herr verheißt: „Es soll euch zu <strong>de</strong>r Stun<strong>de</strong> gegeben wer<strong>de</strong>n, was ihr re<strong>de</strong>n sollt.<br />

Denn ihr seid es nicht, die da re<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn eures Vaters Geist ist es, <strong>de</strong>r durch euch<br />

re<strong>de</strong>t.“ Matthäus 10,19.20. Wenn <strong>de</strong>r Geist Gottes das Verständnis seiner <strong>Die</strong>ner erleuchtet, so<br />

daß sie die Wahrheit in ihrer göttlichen Macht und in ihrer ganzen Be<strong>de</strong>utung verkündigen<br />

können, wer<strong>de</strong>n die Fein<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Wahrheit die Apostel anklagen und unterdrücken. Selbst bei<br />

Scha<strong>de</strong>n und in großem Leid, ja noch im To<strong>de</strong> sollen die Kin<strong>de</strong>r Gottes die Sanftmut ihres<br />

göttlichen Vorbil<strong>de</strong>s offenbaren. So zeigt sich <strong>de</strong>r Unterschied zwischen Satans Werkzeugen<br />

und <strong>de</strong>n Stellvertretern <strong>Christi</strong>, und so allein wird <strong>de</strong>r Heiland vor Herrscher und Volk geehrt.<br />

<strong>Die</strong> Jünger wur<strong>de</strong>n nicht eher mit <strong>de</strong>m Bekennermut und <strong>de</strong>r Festigkeit <strong>de</strong>r Märtyrer<br />

ausgerüstet, bis solche Gna<strong>de</strong> notwendig war. Dann aber erfüllte sich das Versprechen <strong>de</strong>s<br />

Herrn. Als Petrus und Johannes sich vor <strong>de</strong>m Hohen Rat verantworten mußten, „verwun<strong>de</strong>rten<br />

sich“ die Versammelten „und wußten auch von ihnen, daß sie mit Jesus gewesen<br />

waren“. Apostelgeschichte 4,13. Von Stephanus steht geschrieben: „Sie sahen auf ihn alle, die<br />

im Rat saßen, und sahen sein Angesicht wie eines Engels Angesicht“. Apostelgeschichte 6,15.<br />

<strong>Die</strong> Menschen „vermochten nicht, zu wi<strong>de</strong>rstehen <strong>de</strong>r Weisheit und <strong>de</strong>m Geiste, aus welchem er<br />

re<strong>de</strong>te“. Apostelgeschichte 6,10. Und Paulus schreibt über sein eigenes Verhör am Hofe <strong>de</strong>s<br />

Kaisers: „Bei meinem ersten Verhör stand mir niemand bei, son<strong>de</strong>rn sie verließen mich alle. Es<br />

sei ihnen nicht zugerechnet. Der Herr aber stand mir bei und stärkte mich, auf daß durch mich<br />

die Verkündigung reichlich geschähe und alle Hei<strong>de</strong>n sie hörten; so ward ich erlöst aus <strong>de</strong>s<br />

Löwen Rachen.“ 2.Timotheus 4,16.17.<br />

<strong>Christi</strong> <strong>Die</strong>ner sollten keine Musterre<strong>de</strong> auswendig lernen, um sich mit ihr zu verteidigen;<br />

ihre Vorbereitung muß täglich getroffen wer<strong>de</strong>n, in<strong>de</strong>m sie die köstlichen Wahrheiten <strong>de</strong>s<br />

Wortes Gottes sammeln und ihren Glauben durch das Gebet stärken. Wer<strong>de</strong>n sie dann vor<br />

Gericht gestellt, so wird ihnen <strong>de</strong>r Heilige Geist die Wahrheiten ins Gedächtnis zurückrufen, die<br />

notwendig sind. Ein ernstes, tägliches Streben, Gott und Jesus Christus, <strong>de</strong>n er gesandt hat,<br />

kennenzulernen, wird die Seele kraftvoll und leistungsfähig machen. <strong>Die</strong> durch fleißiges<br />

Forschen in <strong>de</strong>r Schrift erworbene Kenntnis wird ihnen zur rechten Zeit bewußt wer<strong>de</strong>n. Wer es<br />

aber vernachlässigt, daß ihm die Worte <strong>Christi</strong> vertraut wer<strong>de</strong>n, wer nie die Kraft seiner Gna<strong>de</strong><br />

in Schwierigkeiten an sich erfahren hat, kann nicht erwarten, daß <strong>de</strong>r Heilige Geist ihm Gottes<br />

Wort in Erinnerung bringt. Wir müssen <strong>de</strong>m Herrn mit ungeteilter Liebe und mit ganzem<br />

Vertrauen täglich dienen.<br />

<strong>Die</strong> Feindschaft gegen das Evangelium wird so heftig sein, daß selbst die zartesten irdischen<br />

Ban<strong>de</strong> unbeachtet bleiben und Jünger Jesu von ihren eigenen Familienangehörigen <strong>de</strong>m Tod<br />

ausgeliefert wer<strong>de</strong>n. „Ihr wer<strong>de</strong>t gehaßt sein von je<strong>de</strong>rmann um meines Namens willen“, sagte<br />

238


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Jesus. Er fügte jedoch hinzu: „Wer aber beharret bis ans En<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r wird selig.“ (Markus 13,13).<br />

Dennoch gebot er ihnen, sich nicht unnötigerweise Verfolgungen auszusetzen; er selbst<br />

wechselte oft das Arbeitsfeld, um <strong>de</strong>nen zu entgehen, die ihm nach <strong>de</strong>m Leben trachteten. Als<br />

man ihn in Nazareth abwies und die Bewohner seiner Heimatstadt ihn töten wollten, ging er<br />

nach Kapernaum, wo seine Lehre die Menschen in Erstaunen setzte; „<strong>de</strong>nn er predigte in<br />

Vollmacht“. (Lukas 4,32). So sollen auch seine <strong>Die</strong>ner durch Verfolgungen nicht entmutigt<br />

wer<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn einen Ort aufsuchen, an <strong>de</strong>m sie für das Heil von Seelen wirken können.<br />

Der <strong>Die</strong>ner ist nicht größer als sein Meister! Der Fürst <strong>de</strong>s Himmels wur<strong>de</strong> Beelzebub<br />

genannt, und seine Jünger wer<strong>de</strong>n ebenso falsch eingeschätzt wer<strong>de</strong>n. Welche Gefahr aber auch<br />

drohen mag, <strong>Christi</strong> Nachfolger müssen ihren Grundsätzen treu bleiben und je<strong>de</strong><br />

Unaufrichtigkeit verachten. Sie dürfen auch nicht mit <strong>de</strong>r Wahrheit zurückhalten, bis sie die<br />

Erlaubnis haben, sie ungehin<strong>de</strong>rt zu verkündigen. Sie sind als Wächter gesetzt, die Menschen<br />

vor <strong>de</strong>r Gefahr zu warnen. <strong>Die</strong> Wahrheit, die sie von Christus empfingen, muß allen frei und<br />

offen bekannt wer<strong>de</strong>n. Jesus sagte: „Was ich euch sage in <strong>de</strong>r Finsternis, das re<strong>de</strong>t im Licht; und<br />

was euch gesagt wird in das Ohr, das predigt auf <strong>de</strong>n Dächern.“ Matthäus 10,27.<br />

Jesus selbst hat <strong>de</strong>n Frie<strong>de</strong>n nie durch Zugeständnisse erkauft. Sein Herz floß über von Liebe<br />

zu allen Menschen; aber er übersah dabei nie ihre Sündhaftigkeit. Er war zu sehr <strong>de</strong>r Menschen<br />

wirklicher Freund, um schweigen zu können, wenn sie einen Weg gingen, <strong>de</strong>r ihre Seelen in die<br />

Verdammnis führte; ihre Seelen, die er doch mit seinem Leben erkauft hatte. Er wirkte dahin,<br />

daß <strong>de</strong>r Mensch nicht nur sich selbst, son<strong>de</strong>rn auch seinen höheren, ewigen Zielen treu sein<br />

möchte. <strong>Die</strong> <strong>Die</strong>ner <strong>de</strong>s Evangeliums sind zu <strong>de</strong>r gleichen Aufgabe berufen. Sie müssen sich<br />

hüten, um irgen<strong>de</strong>iner Uneinigkeit willen die Wahrheit zurückzusetzen. Sie sollen „<strong>de</strong>m<br />

nachstreben, was zum Frie<strong>de</strong>n dient“. (Römer 14,19). Der wahre Frie<strong>de</strong> kann jedoch nie erreicht<br />

wer<strong>de</strong>n, in<strong>de</strong>m man die Grundsätze <strong>de</strong>r Wahrheit aufs Spiel setzt. Niemand kann aber auch<br />

seiner Überzeugung treu sein, ohne auf irgen<strong>de</strong>inen Wi<strong>de</strong>rstand zu stoßen. Einem geistlichen<br />

Christentum wer<strong>de</strong>n die Kin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Ungehorsams wi<strong>de</strong>rstehen; aber Jesus gebot seinen<br />

Jüngern: „Fürchtet euch nicht vor <strong>de</strong>nen, die <strong>de</strong>n Leib töten und die Seele nicht können<br />

töten.“ Matthäus 10,28. Wer treu zu Gott hält, braucht die Feindschaft <strong>de</strong>r Menschen und die<br />

Macht Satans nicht zu fürchten. In Christus ist ihm das ewige Leben gewiß. Seine einzige<br />

Furcht sollte sein, von <strong>de</strong>r Wahrheit abzuweichen und das Vertrauen zu enttäuschen, mit <strong>de</strong>m<br />

Gott ihn geehrt hat.<br />

Der Teufel sucht die Menschenherzen mit Zweifel zu erfüllen und sie zu verleiten, Gott als<br />

einen strengen Richter anzusehen. Er verführt sie zur Sün<strong>de</strong> und veranlaßt dann, daß sie sich<br />

selbst für zu ver<strong>de</strong>rbt halten, um sich ihrem himmlischen Vater zu nähern o<strong>de</strong>r sein Mitleid zu<br />

erwecken. Der Herr versteht alles. Jesus versichert seinen Jüngern, daß Gott ihre Bedürfnisse<br />

und Schwächen mitfühlt, daß kein Seufzer ausgestoßen, kein Schmerz empfun<strong>de</strong>n wird, kein<br />

Kummer die Seele bedrückt, ohne daß sein Vaterherz dadurch berührt wird.<br />

<strong>Die</strong> Heilige Schrift zeigt uns Gott in seiner erhabenen Höhe nicht untätig, nicht schweigend<br />

und einsam, son<strong>de</strong>rn umgeben von tausendmal tausend und zehntausendmal zehntausend<br />

heiliger Wesen, die darauf warten, seinen Willen zu tun. Durch Kanäle, die wir nicht erkennen,<br />

239


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

steht er mit seinem ganzen Reich in lebendiger Verbindung; aber auf unserer kleinen Er<strong>de</strong> sind<br />

die Seelen, für die er seinen eingeborenen Sohn opferte, <strong>de</strong>r Mittelpunkt seiner und <strong>de</strong>s ganzen<br />

Himmels Teilnahme. Gott beugt sich von seinem Thron herab, um das Rufen <strong>de</strong>r Unterdrückten<br />

zu hören; er antwortet auf je<strong>de</strong>s aufrichtige Gebet: „Hier bin ich!“ Er richtet die Bedrückten und<br />

Erniedrigten auf. Lei<strong>de</strong>n wir, so lei<strong>de</strong>t er mit uns; wer<strong>de</strong>n wir versucht o<strong>de</strong>r haben wir<br />

irgendwelche Schwierigkeiten, so ist ein Himmelsbote bereit, uns beizustehen.<br />

Nicht einmal ein kleiner Sperling fällt auf die Er<strong>de</strong>, ohne daß Gott darauf achtet. Satans<br />

Groll gegen Gott verleitet ihn, alles zu hassen, was <strong>Christi</strong> Fürsorge genießt. Er trachtet danach,<br />

Gottes Schöpfungswerk zu ver<strong>de</strong>rben, und freut sich, sogar die stumme Kreatur zu vernichten.<br />

Nur durch Gottes schützen<strong>de</strong> Vorsorge wer<strong>de</strong>n die Vögel erhalten, um uns durch ihren Gesang<br />

zu erfreuen. „Darum fürchtet euch nicht; ihr seid besser als viele Sperlinge.“<br />

Jesus fuhr fort: „wer nun mich bekennet vor <strong>de</strong>n Menschen, <strong>de</strong>n will ich auch bekennen vor<br />

meinem himmlischen Vater.“ Matthäus 10,31.32. Ihr sollt meine Zeugen sein auf Er<strong>de</strong>n;<br />

Werkzeuge, die meine Gna<strong>de</strong> verkün<strong>de</strong>n zum Heil <strong>de</strong>r Menschen! Und ich wer<strong>de</strong> euer Vertreter<br />

sein im Himmel. Der Vater schaut dann nicht auf eure Fehlerhaftigkeit, son<strong>de</strong>rn auf das Kleid<br />

meiner Vollkommenheit, mit <strong>de</strong>m ihr beklei<strong>de</strong>t seid. Ich bin <strong>de</strong>r Mittler, durch <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Segen<br />

<strong>de</strong>s Himmels auf euch kommen wird. Je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r mich bekennt, in<strong>de</strong>m er sich einschließt in das<br />

große Erlösungswerk und daran teilnimmt, <strong>de</strong>n wer<strong>de</strong> ich auch bekennen, in<strong>de</strong>m ich ihn zum<br />

Teilhaber <strong>de</strong>r Herrlichkeit und Freu<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Erlösten mache.<br />

Wer Christus bekennen will, muß ihn ständig in sich tragen; er kann nichts mitteilen, was er<br />

nicht empfangen hat. Seine Nachfolger mögen seine Lehre in glänzen<strong>de</strong>r Beredsamkeit<br />

verkündigen, sie mögen mit <strong>de</strong>n Worten <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s arbeiten und ihn doch nicht bekennen, es<br />

sei <strong>de</strong>nn, sie besitzen die Sanftmut und Liebe <strong>Christi</strong>. Ein Geist, <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m Geist <strong>Christi</strong> nicht<br />

übereinstimmt, verleugnet ihn, gleichviel welches Bekenntnis er ablegt. Christus verleugnen<br />

kann man durch üble Nachre<strong>de</strong>, törichtes Geschwätz sowie durch unaufrichtige und<br />

unfreundliche Worte. Man kann ihn dadurch verleugnen, daß man <strong>de</strong>n Bür<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Lebens<br />

ausweicht und sündigen Vergnügungen nachgeht. Christus verleugnet ferner, wer sich <strong>de</strong>r Welt<br />

anpaßt, sich unhöflich verhält, sich an seinen eigenen Ansichten berauscht, selbstgerecht ist, an<br />

Zweifeln festhält, sich unnötige Sorgen macht und sich trübsinnigen Gedanken hingibt. In all<br />

diesen Dingen beweist ein Mensch, daß Christus nicht in ihm ist. „Wer mich aber verleugnet<br />

vor <strong>de</strong>n Menschen, <strong>de</strong>n will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater“, sagt<br />

Christus.(Matthäus 10,33).<br />

Der Heiland warnte seine Jünger vor <strong>de</strong>r Hoffnung, daß die Feindschaft <strong>de</strong>r Welt gegen das<br />

Evangelium überwun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n und im Verlauf <strong>de</strong>r Weltgeschichte je<strong>de</strong>r Kampf aufhören<br />

wür<strong>de</strong>. Er sagte vielmehr: „Ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen sei, Frie<strong>de</strong>n zu bringen<br />

auf die Er<strong>de</strong>. Ich bin nicht gekommen, Frie<strong>de</strong>n zu bringen, son<strong>de</strong>rn das Schwert.“ Matthäus<br />

10,34. Es ist nicht das Wirken <strong>de</strong>s Evangeliums, das diesen Streit hervorruft, son<strong>de</strong>rn dieser ist<br />

vielmehr die Folge <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong>s gegen sein Wirken. Von allen Verfolgungen ist die<br />

häusliche Uneinigkeit und die Entfremdung zwischen Freun<strong>de</strong>n die schwerste. Doch <strong>de</strong>r<br />

Heiland sagt: „Wer Vater o<strong>de</strong>r Mutter mehr liebt als mich, <strong>de</strong>r ist mein nicht wert; und wer<br />

240


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Sohn o<strong>de</strong>r Tochter mehr liebt als mich, <strong>de</strong>r ist mein nicht wert. Und wer nicht sein Kreuz auf<br />

sich nimmt und folgt mir nach, <strong>de</strong>r ist mein nicht wert.“ Matthäus 10,37.38.<br />

<strong>Die</strong> Aufgabe <strong>de</strong>r <strong>Die</strong>ner <strong>Christi</strong> umschließt eine heilige Verpflichtung und ist eine große<br />

Ehre. „Wer euch aufnimmt, <strong>de</strong>r nimmt mich auf“, sagte Jesus, „und wer mich aufnimmt, <strong>de</strong>r<br />

nimmt <strong>de</strong>n auf, <strong>de</strong>r mich gesandt hat.“ (Matthäus 10,40). Kein Liebesdienst, <strong>de</strong>r ihnen im<br />

Namen Jesu erwiesen wird, soll unbeachtet o<strong>de</strong>r unbelohnt bleiben. <strong>Die</strong> gleiche dankbare<br />

Anerkennung zollt er <strong>de</strong>m Schwächsten und Niedrigsten in <strong>de</strong>r Familie Gottes, wenn er sagt:<br />

„Wer einen dieser Geringen nur mit einem Becher kalten Wassers tränkt darum, daß er mein<br />

Jünger ist, wahrlich, ich sage euch: es wird ihm nicht unbelohnt bleiben.“ Matthäus 10,42.<br />

Damit meinte <strong>de</strong>r Heiland alle, die noch Kin<strong>de</strong>r im Glauben und in <strong>de</strong>r Erkenntnis sind. Hiermit<br />

beschloß <strong>de</strong>r Heiland seine Unterweisung. <strong>Die</strong> erwählten Zwölf gingen nun im Namen <strong>Christi</strong><br />

hinaus, wie ihr Meister ausgezogen war, um „zu verkündigen das Evangelium <strong>de</strong>n Armen ... zu<br />

predigen <strong>de</strong>n Gefangenen, daß sie los sein sollen, und <strong>de</strong>n Blin<strong>de</strong>n, daß sie sehend wer<strong>de</strong>n, und<br />

<strong>de</strong>n Zerschlagenen, daß sie frei und ledig sein sollen, zu verkündigen das Gna<strong>de</strong>njahr <strong>de</strong>s<br />

Herrn“. Lukas 4,18.19.<br />

241


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Nach <strong>de</strong>r Rückkehr von ihrer Missionsreise versammelten sich die Apostel bei Jesus und<br />

„verkün<strong>de</strong>ten ihm alles, was sie getan und gelehrt hatten. Und er sprach zu ihnen: Geht ihr<br />

allein an eine einsame Stätte und ruhet ein wenig. Denn ihrer waren viele, die ab und zu gingen;<br />

und sie hatten nicht Zeit genug, zu essen“. Markus 6,30.31. <strong>Die</strong> Jünger kamen zu Jesus und<br />

berichteten ihm alles. Ihre enge Verbindung mit ihm ermutigte sie, ihm ihre guten und<br />

schlechten Erfahrungen, ihre Freu<strong>de</strong> über die Erfolge ihres Wirkens und <strong>de</strong>n Kummer über ihre<br />

Mißerfolge, über ihre Fehler und Schwachheiten mitzuteilen. Sie hatten auf ihrer ersten<br />

Missionsreise Fehler begangen, und als sie <strong>de</strong>m Herrn ihre Erfahrungen ohne Scheu mitteilten,<br />

erkannte er, daß sie noch mancher Unterweisung bedurften, aber er sah auch, daß sie Ruhe nötig<br />

hatten, nach<strong>de</strong>m sie übermü<strong>de</strong>t von ihrer Reise zurückgekommen waren.<br />

Wo sie sich jetzt befan<strong>de</strong>n, war ihnen ein Ausruhen nicht gut möglich; <strong>de</strong>nn es waren viele,<br />

die kamen und gingen, und sie hatten nicht einmal Zeit zu essen. Das Volk drängte sich um <strong>de</strong>n<br />

Herrn und sehnte sich danach, geheilt zu wer<strong>de</strong>n und seinen Worten zu lauschen. Viele fühlten<br />

sich zu ihm hingezogen, <strong>de</strong>nn sie hielten ihn für die Quelle allen Segens. Manche von <strong>de</strong>nen,<br />

die herbeiströmten, um von Christus das köstliche Geschenk <strong>de</strong>r Gesundheit zu empfangen,<br />

nahmen ihn als ihren Erlöser an. An<strong>de</strong>re, die es bis dahin um <strong>de</strong>r Pharisäer willen nicht gewagt<br />

hatten, sich zu ihm zu bekennen, wur<strong>de</strong>n durch das Wirken <strong>de</strong>s Geistes bekehrt und legten<br />

angesichts <strong>de</strong>r wüten<strong>de</strong>n Priester und Obersten <strong>de</strong>s Volkes ein Zeugnis ab von Christus als <strong>de</strong>m<br />

Sohn Gottes.<br />

Doch jetzt wünschte Jesus, sich zurückzuziehen, um mit seinen Jüngern allein zu sein, <strong>de</strong>nn<br />

er hatte ihnen noch viel zu sagen. In ihrer Arbeit hatten sie manche Kampfesprobe bestehen<br />

müssen und waren verschie<strong>de</strong>nartigen Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong>n begegnet. Bisher hatten sie Christus in<br />

allen Dingen um Rat gefragt. Doch vorübergehend sich selbst überlassen, waren sie manchmal<br />

beunruhigt, weil sie nicht wußten, was sie tun sollten. Da hatten sie in ihrer Arbeit viel<br />

Ermutigung gefun<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn Christus hatte sie nicht ohne seinen Geist ausgesandt. Im Vertrauen<br />

auf ihn wirkten sie viele Wun<strong>de</strong>r. Doch jetzt war es notwendig für sie, von <strong>de</strong>m Brot <strong>de</strong>s Lebens<br />

zu essen. Sie mußten sich an einen Ort <strong>de</strong>r Ruhe begeben, wo sie Gemeinschaft mit Jesus halten<br />

und Anweisungen für ihren zukünftigen <strong>Die</strong>nst empfangen konnten.<br />

„Und er sprach zu ihnen: Geht ihr allein an eine einsame Stätte und ruhet ein<br />

wenig.“ Markus 6,30.31. Christus ist voller Mitgefühl und Sorge für alle, die in seinem <strong>Die</strong>nst<br />

stehen. Er zeigte hier seinen Jüngern, daß Gott nicht Opfergaben, son<strong>de</strong>rn Barmherzigkeit<br />

verlangt. Sie hatten alle Kräfte im <strong>Die</strong>nst für das lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Volk aufgebraucht und waren<br />

dadurch leiblich und seelisch erschöpft; nun mußten sie ruhen.<br />

Als die Jünger <strong>de</strong>n Erfolg ihres Wirkens sahen, stan<strong>de</strong>n sie in Gefahr, diesen Erfolg sich<br />

selbst zuzuschreiben, geistlichen Stolz zu nähren und dadurch ein Opfer teuflischer Versuchung<br />

zu wer<strong>de</strong>n. Eine gewaltige Aufgabe lag vor ihnen. Vor allem aber mußten sie lernen, daß sie die<br />

Kraft zu ihrer Bewältigung nur bei Gott fin<strong>de</strong>n konnten. Gleich Mose in <strong>de</strong>r Wüste Sinai, gleich<br />

David in <strong>de</strong>n Bergen von Judäa, gleich Elia am Bache Krith tat es <strong>de</strong>n Jüngern not, <strong>de</strong>n<br />

242


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Schauplatz ihrer Tätigkeit zu wechseln, mit Jesus und <strong>de</strong>r stillen Natur Gemeinschaft zu üben<br />

und sich auf sich selbst zu besinnen. Während sich die Apostel auf ihrer Missionsreise<br />

befan<strong>de</strong>n, hatte <strong>de</strong>r Heiland an<strong>de</strong>re Städte und Dörfer besucht und dort das Evangelium vom<br />

Reich gepredigt. Um diese Zeit hatte er auch die Kun<strong>de</strong> vom To<strong>de</strong> Johannes <strong>de</strong>s Täufers<br />

erhalten, ein Ereignis, das ihm sein eigenes Schicksal, <strong>de</strong>m er ja entgegenging, lebhaft vor<br />

Augen führte. <strong>Die</strong> Schatten auf seinem Weg wur<strong>de</strong>n immer dichter; Priester und Rabbiner<br />

warteten nur auf eine Gelegenheit, um ihn zu töten; Spione hefteten sich an seine Fersen, und<br />

von allen Seiten fand man sich zusammen, um ihn zu ver<strong>de</strong>rben. <strong>Die</strong> Kun<strong>de</strong> von <strong>de</strong>r Predigt <strong>de</strong>r<br />

Apostel in ganz Galiläa erreichte auch König Hero<strong>de</strong>s und lenkte seine Aufmerksamkeit auf<br />

Jesus und sein Wirken. „Das ist Johannes <strong>de</strong>r Täufer; <strong>de</strong>r ist von <strong>de</strong>n Toten auferstan<strong>de</strong>n,<br />

<strong>de</strong>shalb wirken in ihm solche Kräfte.“ Matthäus 14,2. So sprach Hero<strong>de</strong>s, und er wünschte<br />

Jesus zu sehen. Schon lange quälte ihn ständige Furcht, daß geheime revolutionäre Kräfte am<br />

Werke seien, um ihn vom Thron zu stürzen und die Ju<strong>de</strong>n vom römischen Joch zu befreien.<br />

Unter <strong>de</strong>m Volk herrschten Unzufrie<strong>de</strong>nheit und Empörung. Es war augenscheinlich, daß Jesu<br />

öffentliches Wirken in Galiläa nicht lange andauern konnte. Seine Lei<strong>de</strong>nszeit rückte immer<br />

näher, und er sehnte sich danach, für eine Weile die Unruhe <strong>de</strong>r Menge zurückzulassen.<br />

Betrübten Herzens hatten die Jünger <strong>de</strong>s Johannes seinen verstümmelten Leib beerdigt „und<br />

kamen und verkün<strong>de</strong>ten das Jesus“. Matthäus 14,12. <strong>Die</strong>se Jünger waren auf Jesus nicht gut zu<br />

sprechen gewesen, weil es so ausgesehen hatte, als machte er das Volk von Johannes<br />

abspenstig. Gemeinsam mit <strong>de</strong>n Pharisäern hatten sie ihn wegen seiner Teilnahme am Fest <strong>de</strong>s<br />

Zöllners Matthäus angegriffen. Seine göttliche Mission war von ihnen angezweifelt wor<strong>de</strong>n,<br />

weil er <strong>de</strong>n Täufer nicht befreit hatte. Doch nun war ihr Lehrer tot, und sie sehnten sich in ihrem<br />

tiefen Kummer nach Trost und für <strong>de</strong>n Fortgang ihres <strong>Die</strong>nstes nach Führung. Deshalb kamen<br />

sie zu Jesus und vereinigten ihre Sache mit <strong>de</strong>r seinigen. Auch sie benötigten eine Zeit ruhiger<br />

Gemeinschaft mit <strong>de</strong>m Heiland.<br />

In <strong>de</strong>r Nähe von Bethsaida, an <strong>de</strong>r nördlichen Seite <strong>de</strong>s Sees, lag eine einsame Gegend, die<br />

gera<strong>de</strong> jetzt im schönsten Frühlingsgrün prangte und <strong>de</strong>m Herrn mit seinen Jüngern eine<br />

willkommene Zufluchtsstätte bot. Sie setzten über <strong>de</strong>n See, um diesen Platz zu erreichen. Hier<br />

wür<strong>de</strong>n sie <strong>de</strong>n lauten, lärmen<strong>de</strong>n Verkehrsstraßen und <strong>de</strong>m Gewühl und <strong>de</strong>r Unruhe <strong>de</strong>r Stadt<br />

entrückt sein. Schon die ruhige, schöne Natur bot genug Erholung und eine angenehme<br />

Abwechslung für die Sinne. Hier konnten sie <strong>de</strong>n Worten Jesu lauschen, ohne die ärgerlichen<br />

Unterbrechungen, Gegenre<strong>de</strong>n und Anklagen <strong>de</strong>r Schriftgelehrten und Pharisäer hören zu<br />

müssen; hier konnten sie für kurze Zeit die köstliche Gemeinschaft mit <strong>de</strong>m Herrn wahrhaft<br />

genießen.<br />

<strong>Die</strong> Ruhe, die sich Jesus mit seinen Jüngern gönnte, be<strong>de</strong>utete nicht etwa Nachsicht gegen<br />

sich selbst. <strong>Die</strong> Zeit, die sie in <strong>de</strong>r Zurückgezogenheit verbrachten, war auch nicht mit<br />

Zerstreuungen ausgefüllt; vielmehr re<strong>de</strong>ten sie gemeinsam über das Werk Gottes und über<br />

die Möglichkeit, ihm zu größerer Wirksamkeit zu verhelfen. <strong>Die</strong> Jünger waren mit Christus<br />

gewesen und konnten ihn <strong>de</strong>shalb verstehen. Zu ihnen brauchte er nicht in Gleichnissen zu<br />

re<strong>de</strong>n. Er berichtigte ihre Irrtümer und ver<strong>de</strong>utlichte ihnen, wie sie am besten sich <strong>de</strong>m Volke<br />

243


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

nähern könnten. Dabei öffnete er ihnen mehr und mehr die köstlichen Schätze <strong>de</strong>r göttlichen<br />

Wahrheit. So wur<strong>de</strong>n sie mit göttlicher Kraft belebt und mit Hoffnung und Mut<br />

beseelt. Obgleich Jesus Wun<strong>de</strong>r wirken konnte und auch seinen Jüngern diese Macht verliehen<br />

hatte, empfahl er seinen ermü<strong>de</strong>ten Mitarbeitern, einen ländlichen Platz aufzusuchen und dort<br />

zu ruhen. Als er ihnen sagte, daß die Ernte groß und <strong>de</strong>r Arbeiter wenige seien, wollte er nicht,<br />

daß sie nun unaufhörlich arbeiten sollten, son<strong>de</strong>rn er fügte hinzu: „Darum bittet <strong>de</strong>n Herrn <strong>de</strong>r<br />

Ernte, daß er Arbeiter in seine Ernte sen<strong>de</strong>.“ Matthäus 9,38. Gott hat je<strong>de</strong>m seine Aufgabe nach<br />

seiner Befähigung zugewiesen, und er will nicht, daß einige durch eine allzu große<br />

Verantwortung beschwert wer<strong>de</strong>n, während an<strong>de</strong>re gegenüber ihren Mitmenschen we<strong>de</strong>r Last<br />

noch Sorge fühlen.<br />

<strong>Christi</strong> Worte <strong>de</strong>s Mitgefühls gelten heute noch seinen Mitarbeitern, wie sie damals <strong>de</strong>n<br />

Jüngern galten. „Geht ... an einen einsamen Ort und ruht ein wenig!“ Markus 6,31 (Bruns). So<br />

sprach er zu <strong>de</strong>n Mü<strong>de</strong>n und Erschöpften. Es ist unklug, sich beständig <strong>de</strong>m Druck <strong>de</strong>r Arbeit<br />

und <strong>de</strong>r Anspannung auszusetzen, selbst wenn diese Zeit dazu dient, für das geistliche Wohl<br />

an<strong>de</strong>rer zu sorgen; <strong>de</strong>nn dadurch wird die eigene Frömmigkeit vernachlässigt und die Kräfte <strong>de</strong>s<br />

Geistes, <strong>de</strong>r Seele und <strong>de</strong>s Körpers wer<strong>de</strong>n überanstrengt. Wohl müssen die Jünger Jesu<br />

Selbstverleugnung üben und Opfer bringen; aber sie müssen auch dafür Sorge tragen, daß durch<br />

ihren Übereifer Satan nicht aus ihrer menschlichen Schwäche Vorteile gewinnt und das Werk<br />

Gottes dadurch geschädigt wird.<br />

<strong>Die</strong> Rabbiner hielten es für das Wesen <strong>de</strong>r Religion, stets regste Betriebsamkeit zu entfalten.<br />

Sie bewiesen ihre überlegene Frömmigkeit durch äußerliche Leistungen. Sie trennten dadurch<br />

ihre Seele von Gott und vertrauten allein sich selbst. In <strong>de</strong>r gleichen Gefahr stehen die<br />

Menschen heute noch. Nimmt ihre Regsamkeit zu und ist ihr Wirken für Gott erfolgreich,<br />

laufen sie Gefahr, sich auf ihre menschlichen Pläne und Metho<strong>de</strong>n zu verlassen, weniger zu<br />

beten und weniger Glauben zu üben. Wir verlieren gleich <strong>de</strong>n Jüngern unsere Abhängigkeit von<br />

Gott aus <strong>de</strong>n Augen und versuchen, uns aus unserer Betriebsamkeit einen Heiland zu machen.<br />

Es ist nötig, beständig auf Jesus zu blicken, um zu erkennen, daß es seine Kraft ist, die alles<br />

schafft. Während wir eifrig für das Heil <strong>de</strong>r Verlorenen wirken sollen, müssen wir uns Zeit<br />

lassen, um nachzu<strong>de</strong>nken, um zu beten und das Wort Gottes zu betrachten; <strong>de</strong>nn nur die unter<br />

anhalten<strong>de</strong>m Gebet ausgeführte und durch das Verdienst <strong>Christi</strong> geheiligte Arbeit wird am En<strong>de</strong><br />

zum Guten wirken.<br />

Kein Leben war mehr erfüllt von Arbeit und Verantwortlichkeit als das Leben Jesu. Und<br />

doch, wie oft fin<strong>de</strong>n wir ihn im Gebet! Wie beständig war seine Verbindung mit Gott! Immer<br />

wie<strong>de</strong>r lesen wir in seiner Lebensgeschichte Berichte wie diese: „Und <strong>de</strong>s Morgens vor Tage<br />

stand er auf und ging hinaus. Und er ging an eine einsame Stätte und betete daselbst.“ Markus<br />

1,35. „Es kam viel Volks zusammen, daß sie hörten und durch ihn gesund wür<strong>de</strong>n von ihren<br />

Krankheiten, Er aber entwich in die Wüste und betete.“ Lukas 5,15.16. „Es begab sich aber zu<br />

<strong>de</strong>r Zeit, daß er auf einen Berg ging, zu beten; und er blieb über Nacht im Gebet zu<br />

Gott.“ Lukas 6,12.<br />

244


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

In seinem Leben, das ganz <strong>de</strong>m Wohl an<strong>de</strong>rer geweiht war, hielt <strong>de</strong>r Heiland es für<br />

notwendig, <strong>de</strong>n Trubel <strong>de</strong>r Reisewege und die ihm Tag für Tag nachfolgen<strong>de</strong> Menge zu mei<strong>de</strong>n,<br />

seine Aufgabe und die Berührung mit <strong>de</strong>r menschlichen Not manchmal zu unterbrechen, die<br />

Zurückgezogenheit zu suchen und eine ungestörte Gemeinschaft mit <strong>de</strong>m Vater zu pflegen. Eins<br />

mit uns, als Teilhaber unserer Nöte und Schwachheiten, war er ganz von Gott abhängig und<br />

suchte überall in <strong>de</strong>r einsamen Natur im Gebet göttliche Kraft, um <strong>de</strong>n kommen<strong>de</strong>n Pflichten<br />

und Schwierigkeiten gewachsen zu sein. In einer Welt <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> ertrug Jesus seelische Kämpfe<br />

und Qualen; in <strong>de</strong>r Gemeinschaft mit Gott aber entledigte er sich aller ihn fast erdrücken<strong>de</strong>n<br />

Lasten und fand Trost und Freu<strong>de</strong>.<br />

Christus brachte die Sehnsucht <strong>de</strong>r Menschen zu <strong>de</strong>m Vater <strong>de</strong>s Erbarmens. Als Mensch<br />

flehte er vor <strong>de</strong>m Thron Gottes, bis sein Menschsein von göttlichem Wesen durchdrungen war.<br />

Durch die beständige Gemeinschaft empfing er Leben von Gott, um es <strong>de</strong>r Welt mitzuteilen.<br />

Das muß auch unsere Erfahrung sein. „Geht ... an einen einsamen Ort“, sagt <strong>de</strong>r Heiland auch<br />

uns. Markus 6,31 (Bruns). Wür<strong>de</strong>n wir stets an dieses Wort <strong>de</strong>nken, könnten wir bestimmt<br />

stärker und nützlicher wirken. <strong>Die</strong> Jünger suchten Jesus, um ihm alles Erlebte mitzuteilen, und<br />

er ermutigte und belehrte sie. Wenn wir uns heute die Zeit nähmen, zu Jesus gingen und ihm<br />

unsere Nöte und Besorgnisse vorbrächten, wir wür<strong>de</strong>n nicht enttäuscht wer<strong>de</strong>n; er wür<strong>de</strong> uns<br />

beistehen und uns die rechte Hilfe sein. Wir müssen unserem Heiland, <strong>de</strong>ssen Name ist<br />

„Wun<strong>de</strong>r-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Frie<strong>de</strong>-Fürst“, mehr Unbefangenheit, mehr Vertrauen<br />

und Zuversicht entgegenbringen. Von ihm steht geschrieben: „<strong>Die</strong> Herrschaft ruht auf seiner<br />

Schulter.“ Jesaja 9,5. Er ist wirklich <strong>de</strong>r beste Ratgeber; ihn dürfen wir um Weisheit bitten, er<br />

„gibt allen Menschen gern und macht ihnen <strong>de</strong>swegen keine Vorhaltungen“. Jakobus 1,5<br />

(Bruns).<br />

Je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r von Gott geleitet wird, offenbart eine Lebensform, die sich von <strong>de</strong>r Welt mit ihren<br />

Sitten und Gewohnheiten stark unterschei<strong>de</strong>t. Um <strong>de</strong>n Willen Gottes ausreichend zu erkennen,<br />

müssen wir persönliche Erfahrungen im geistlichen Leben haben. Wir müssen Gott zu je<strong>de</strong>m<br />

einzelnen von uns sprechen hören, und wenn je<strong>de</strong> an<strong>de</strong>re Stimme schweigt und wir ruhig auf<br />

ihn harren, wird durch das Stillesein die Stimme Gottes uns vernehmbar wer<strong>de</strong>n. Er sagt: „Seid<br />

stille und erkennet, daß ich Gott bin!“ Psalm 46,11. Hier allein kann wahre Ruhe gefun<strong>de</strong>n<br />

wer<strong>de</strong>n; eine solche Vorbereitung nur ist wirkungsvoll für die Arbeit im Werke Gottes. Inmitten<br />

<strong>de</strong>r hasten<strong>de</strong>n Menge und <strong>de</strong>s Druckes <strong>de</strong>r irdischen Arbeit wird die Seele, die sich auf diese<br />

Weise erfrischt, von Licht und Frie<strong>de</strong>n umgeben sein; das Leben wird Wohlgeruch atmen und<br />

eine göttliche Macht offenbaren, die die Menschenherzen zu erreichen vermag.<br />

245


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Der Herr Jesus hatte sich mit seinen Jüngern an einen entlegenen Platz zurückgezogen; aber<br />

auch hier wur<strong>de</strong> die so seltene Ruhestun<strong>de</strong> bald gestört. <strong>Die</strong> Jünger glaubten einen Ort<br />

aufgesucht zu haben, wo sie mit ihrem Meister allein wären; aber sobald die Menge <strong>de</strong>n<br />

göttlichen Lehrer vermißte, fragte sie nach seinem Verbleiben. Einige konnten die Richtung<br />

angeben, die Jesus mit seinen Jüngern eingeschlagen hatte, und so folgte man seinen Spuren,<br />

viele zu Fuß, an<strong>de</strong>re in ihren Booten über <strong>de</strong>n See. Das Passahfest stand vor <strong>de</strong>r Tür. Von nah<br />

und fern sah man Scharen von Pilgern, die auf <strong>de</strong>m Wege nach Jerusalem waren, sich<br />

versammeln, um Jesus zu sehen. Immer mehr kamen hinzu, bis es ohne Frauen und Kin<strong>de</strong>r<br />

fünftausend Menschen waren. Noch ehe <strong>de</strong>r Heiland das Ufer erreicht hatte, wartete schon eine<br />

große Menge auf ihn. Er konnte jedoch unbemerkt lan<strong>de</strong>n und kurze Zeit mit seinen Jüngern<br />

allein verbringen.<br />

Von einem Hügel aus sah er auf die unruhige Menge vor sich; sein Herz wur<strong>de</strong> bei ihrem<br />

Anblick von tiefem Mitgefühl bewegt. Gestört und seiner Ruhe beraubt, wur<strong>de</strong> er darüber nicht<br />

ungeduldig. Mit <strong>de</strong>r ständig zunehmen<strong>de</strong>n Volksmenge wuchs auch seine Bereitschaft, ihr zu<br />

helfen. „Es jammerte ihn <strong>de</strong>rselben, <strong>de</strong>nn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten<br />

haben.“ Markus 6,34. Er verließ seinen Zufluchtsort und fand bald einen Platz, wo er <strong>de</strong>m Volk<br />

am besten dienen konnte. Von <strong>de</strong>n Priestern und Obersten hatten diese Menschen keine Hilfe<br />

erhalten können. Nun aber flossen die heilen<strong>de</strong>n Wasser <strong>de</strong>s Lebens von Christus, da er <strong>de</strong>r<br />

Menge <strong>de</strong>n Weg <strong>de</strong>r Seligkeit zeigte. Das Volk hörte andächtig auf die Worte <strong>de</strong>r<br />

Barmherzigkeit, die so bereitwillig von <strong>de</strong>n Lippen <strong>de</strong>s Sohnes Gottes zu ihm kamen. Es hörte<br />

die gna<strong>de</strong>nreichen Worte, so schlicht und so klar, daß sie wie <strong>de</strong>r Balsam von Gilead (Jeremia<br />

46,11) in die Seele flossen. <strong>Die</strong> Heilung von Jesu göttlicher Hand brachte <strong>de</strong>n Sterben<strong>de</strong>n<br />

Freu<strong>de</strong> und Leben, <strong>de</strong>n Kranken Erleichterung und Gesundheit. <strong>Die</strong>ser Tag erschien ihnen wie<br />

<strong>de</strong>r Himmel auf Er<strong>de</strong>n, und niemand dachte daran, wie lange er schon nichts gegessen hatte.<br />

Endlich neigte sich <strong>de</strong>r Tag. <strong>Die</strong> Sonne sank im Westen, doch das Volk verweilte noch. Jesus<br />

hatte <strong>de</strong>n ganzen Tag gelehrt und geheilt, ohne zu essen und zu ruhen; er sah blaß aus vor<br />

Mattigkeit und Hunger, und die Jünger baten ihn, seine Arbeit einzustellen. Der Heiland aber<br />

wollte sich <strong>de</strong>r Menge, die ihn bedrängte, nicht entziehen. Schließlich nötigten ihn die Jünger,<br />

die Volksmenge um ihrer selbst willen zu entlassen, da viele von weither gekommen waren und<br />

seit <strong>de</strong>m Morgen nichts gegessen hatten. Sie könnten vielleicht in <strong>de</strong>n benachbarten Orten<br />

Nahrung kaufen. Jesus aber sagte: „Gebt ihr ihnen zu essen!“ Markus 6,37. Dann wandte er sich<br />

an Philippus und fragte ihn: „Wo kaufen wir Brot, daß diese essen?“ Das sagte er nur, um <strong>de</strong>n<br />

Glauben <strong>de</strong>s Jüngers zu prüfen. Philippus warf einen Blick auf die Volksmenge und hielt es für<br />

unmöglich, genügend Speise für diese riesige Menschenansammlung zu besorgen.<br />

Er antwortete daher: „Für zweihun<strong>de</strong>rt Silbergroschen Brot ist nicht genug unter sie, daß ein<br />

jeglicher ein wenig nehme.“ Johannes 6,7. Darauf erkundigte sich Jesus, wieviel Nahrung unter<br />

<strong>de</strong>r Menge vorhan<strong>de</strong>n sei, und er erfuhr von Andreas : „Es ist ein Knabe hier, <strong>de</strong>r hat fünf<br />

Gerstenbrote und zwei Fische; aber was ist das unter so viele?“ Johannes 6,9. Da ließ sich <strong>de</strong>r<br />

246


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Herr die Brote und die Fische bringen und gebot <strong>de</strong>n Jüngern, das Volk sich in Gruppen zu<br />

fünfzig und hun<strong>de</strong>rt Mann auf <strong>de</strong>r Wiese lagern zu lassen, um <strong>de</strong>r Ordnung willen und damit<br />

alle sehen konnten, was er tun wollte. Als dies geschehen war, nahm er die Speise, „sah auf gen<br />

Himmel und dankte und brach‘s und gab die Brote <strong>de</strong>n Jüngern, und die Jünger gaben sie <strong>de</strong>m<br />

Volk. Und sie aßen alle und wur<strong>de</strong>n satt und hoben auf, was übrigblieb von Brocken, zwölf<br />

Körbe voll“. Matthäus 14,19.20.<br />

Er, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Volk <strong>de</strong>n Weg zu Frie<strong>de</strong>n und Glück zeigte, sorgte nicht nur für ihre geistlichen,<br />

son<strong>de</strong>rn auch für ihre leiblichen Bedürfnisse. <strong>Die</strong> Versammelten waren mü<strong>de</strong> und matt<br />

gewor<strong>de</strong>n; unter ihnen befan<strong>de</strong>n sich auch Mütter mit Säuglingen auf <strong>de</strong>m Arm und mit<br />

kleinen Kin<strong>de</strong>rn, die sich an ihren Klei<strong>de</strong>rn festhielten. Viele hatten stun<strong>de</strong>nlang gestan<strong>de</strong>n, da<br />

sie von Jesu Worten so ergriffen waren, daß sie nicht daran gedacht hatten, sich zu setzen; auch<br />

war das Gedränge <strong>de</strong>rart groß, daß die Gefahr bestand, einan<strong>de</strong>r zu treten. Jesus wollte ihnen<br />

Gelegenheit geben, zu ruhen, und for<strong>de</strong>rte sie auf, sich zu setzen. Es wuchs reichlich Gras dort,<br />

und alle konnten sich bequem lagern.<br />

Der Heiland wirkte nur dann ein Wun<strong>de</strong>r, wenn einem wirklichen Bedürfnis abzuhelfen war.<br />

Je<strong>de</strong>s Wun<strong>de</strong>r diente dazu, das Volk zu <strong>de</strong>m Baum <strong>de</strong>s Lebens zu führen, <strong>de</strong>ssen Blätter die<br />

Menschen gesun<strong>de</strong>n lassen. <strong>Die</strong> Speise, die von <strong>de</strong>n Jüngern ausgeteilt wur<strong>de</strong>, enthielt eine<br />

große geistliche Lehre. Es war ein beschei<strong>de</strong>nes Mahl: Fische und Gerstenbrot. Sie bil<strong>de</strong>ten die<br />

tägliche Nahrung <strong>de</strong>r Fischer am Galiläischen Meer. Christus hätte <strong>de</strong>m Volk eine reiche Tafel<br />

<strong>de</strong>cken können; aber eine Nahrung, die lediglich <strong>de</strong>m Gaumenkitzel diente, wür<strong>de</strong> wenig<br />

nützliche Lehre für sie enthalten haben. Der Heiland aber wollte durch diese Speisung zeigen,<br />

daß die natürliche Vorsorge Gottes für <strong>de</strong>n Menschen verfälscht wor<strong>de</strong>n war. Noch nie haben<br />

Menschen die größten Delikatessen, die für <strong>de</strong>n verwöhntesten Geschmack aufgetischt wur<strong>de</strong>n,<br />

mehr Genuß bereitet als die Ruhe und diese einfache Speise, die Christus ihnen, fernab aller<br />

menschlichen Behausungen, verschaffte.<br />

Huldigten die Menschen heute einfachen Gewohnheiten und lebten sie in Übereinstimmung<br />

mit <strong>de</strong>n Naturgesetzen wie einst die ersten Menschen im Paradies, dann könnten alle<br />

Bedürfnisse <strong>de</strong>r menschlichen Familie leicht befriedigt wer<strong>de</strong>n. Es wür<strong>de</strong> weniger scheinbare<br />

Mängel geben und mehr Gelegenheit vorhan<strong>de</strong>n sein, nach Gottes Weise zu leben. Nur<br />

Eigennutz und unnatürlicher Geschmack haben Sün<strong>de</strong> und Elend in die Welt gebracht durch<br />

Überfluß auf <strong>de</strong>r einen und Mangel auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rn Seite. Jesus wollte das Volk nicht dadurch an<br />

sich ziehen, daß er das Verlangen nach Wohlleben befriedigte. Jener großen, mü<strong>de</strong>n und<br />

hungrigen Menge war die einfache Kost nach <strong>de</strong>m langen und aufregen<strong>de</strong>n Tag nicht nur eine<br />

Versicherung seiner Macht, son<strong>de</strong>rn auch seiner barmherzigen Fürsorge in <strong>de</strong>n allgemeinen<br />

Bedürfnissen ihres Lebens. Der Heiland hat seinen Nachfolgern nicht die Leckerbissen <strong>de</strong>r Welt<br />

versprochen. Ihre Speise mag einfach, vielleicht sogar dürftig sein; ihr ganzes Leben mag in<br />

Armut dahingehen; er aber hat sein Wort gegeben, daß für alle ihre Nöte gesorgt wer<strong>de</strong>n soll,<br />

und er hat ihnen etwas verheißen, das weit besser ist als irdisches Gut — <strong>de</strong>n bleiben<strong>de</strong>n Trost<br />

seiner Gegenwart!<br />

247


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

In <strong>de</strong>r Speisung <strong>de</strong>r Fünftausend hebt Jesus <strong>de</strong>n Schleier von <strong>de</strong>r natürlichen Welt und<br />

offenbart die Macht, die beständig zu unserem Besten schafft. Durch das Reifen <strong>de</strong>r Ernte<br />

bewirkt Gott täglich ein Wun<strong>de</strong>r; durch natürliche Vorgänge geschieht das gleiche Werk wie<br />

bei <strong>de</strong>r Speisung dieser Menge. Menschen bereiten <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n und säen <strong>de</strong>n Samen; aber das<br />

Leben von Gott bringt <strong>de</strong>n Samen zum Keimen. Luft, Regen und Sonnenschein bringen hervor<br />

„zuerst <strong>de</strong>n Halm, danach die Ähre, danach <strong>de</strong>n vollen Weizen in <strong>de</strong>r Ähre“. Markus 4,28. Gott<br />

ist es, <strong>de</strong>r täglich die Millionen durch das Erntefeld <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> ernährt. <strong>Die</strong> Menschen sind<br />

aufgefor<strong>de</strong>rt, ihn in ihre Sorge um das Korn und um die Zubereitung <strong>de</strong>s Brotes<br />

miteinzubeziehen. Doch gera<strong>de</strong> da verlieren sie <strong>de</strong>n Blick für das Wirken Gottes und geben ihm<br />

nicht die ihm gebühren<strong>de</strong> Ehre; sein Wirken wird natürlichen Kräften o<strong>de</strong>r menschlichen<br />

Werkzeugen zugeschrieben, so daß sich <strong>de</strong>r Mensch an Gottes Statt drängt. <strong>Die</strong> aus göttlicher<br />

Gna<strong>de</strong> verliehenen Gaben wer<strong>de</strong>n eigennützig angewandt. Sie wer<strong>de</strong>n damit zum Fluch statt<br />

zum Segen. Gott versucht das alles zu verhin<strong>de</strong>rn. Er will unsere abgestumpften Sinne neu<br />

beleben, damit sie seine große Güte unterschei<strong>de</strong>n und ihn für das Wirken seiner Macht ehren<br />

können; er will, daß wir ihn in seinen Gaben erkennen, damit diese uns nach seiner Absicht zum<br />

Segen wer<strong>de</strong>n. Um dies zu erreichen, wirkte Jesus seine Wun<strong>de</strong>r.<br />

Nach<strong>de</strong>m die Menge gesättigt war, blieb noch viel Speise übrig. Der Herr, <strong>de</strong>ssen<br />

unermeßlicher Macht alle Hilfsquellen zu Gebote stan<strong>de</strong>n, befahl: „Sammelt die übrigen<br />

Brocken, daß nichts umkommen.“ Johannes 6,12. <strong>Die</strong>se Worte be<strong>de</strong>uten mehr, als nur die<br />

Brotreste in die Körbe zu legen. Sie enthielten eine doppelte Lehre. Wir sollen nichts<br />

verschwen<strong>de</strong>n und keinen zeitlichen Vorteil ungenutzt lassen. Wir sollen nichts geringachten,<br />

das irgen<strong>de</strong>inem menschlichen Wesen noch dienlich sein kann. Sammelt alles, was <strong>de</strong>r Not <strong>de</strong>r<br />

Hungern<strong>de</strong>n abzuhelfen vermag. <strong>Die</strong> gleiche Sorgfalt sollen wir auch in geistlichen Dingen<br />

üben. Als die Körbe voll Brocken gesammelt wur<strong>de</strong>n, dachten die Gesättigten an ihre Freun<strong>de</strong><br />

daheim und wünschten, daß auch sie an <strong>de</strong>m Brot, das Jesus gesegnet hatte, teilhaben könnten.<br />

Der Inhalt <strong>de</strong>r Körbe wur<strong>de</strong> unter die Menge verteilt und in die ganze umliegen<strong>de</strong> Gegend<br />

mitgenommen. So sollten diejenigen, die beim Feste waren, an<strong>de</strong>rn von <strong>de</strong>m Brot geben, das<br />

vom Himmel kommt, um <strong>de</strong>n Hunger <strong>de</strong>r Seele zu stillen; sie sollten wie<strong>de</strong>rholen, was sie über<br />

die wun<strong>de</strong>rbaren Dinge Gottes gelernt hatten; nichts sollte verlorengehen, kein einziges Wort,<br />

das ihr geistliches Heil betraf, unnütz auf die Er<strong>de</strong> fallen.<br />

Das Wun<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>n Broten lehrt uns ferner unsere Abhängigkeit von Gott. Als <strong>de</strong>r Herr die<br />

Fünftausend speiste, war in <strong>de</strong>r Nähe keine Nahrung zu bekommen. Wahrscheinlich stan<strong>de</strong>n<br />

ihm keine Mittel zur Verfügung. Er befand sich mit <strong>de</strong>n mehr als fünftausend Menschen in <strong>de</strong>r<br />

Einsamkeit. Zwar hatte er die Menge nicht eingela<strong>de</strong>n, sie war ihm vielmehr ohne Auffor<strong>de</strong>rung<br />

gefolgt; aber er wußte, daß sie hungrig und mü<strong>de</strong> sein wür<strong>de</strong>, nach<strong>de</strong>m sie so lange seinen<br />

Worten gelauscht hatte. Er selbst empfand ja dieses Bedürfnis, zu essen. Sie waren weit von zu<br />

Hause entfernt, und die Nacht brach herein. Viele von ihnen besaßen kein Geld, um sich<br />

Nahrung zu kaufen. Er, <strong>de</strong>r um ihretwillen vierzig Tage in <strong>de</strong>r Wüste gefastet hatte, wollte es<br />

nicht zulassen, daß sie hungrig in ihre Heime zurückkehrten. <strong>Die</strong> göttliche Vorsehung hatte<br />

Jesus an diesen Ort geführt, und er vertraute darauf, daß sein himmlischer Vater auch für die<br />

notwendigen Mittel sorgen wür<strong>de</strong>, um <strong>de</strong>m Mangel abzuhelfen.<br />

248


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Wenn wir in schwierige Situationen geraten, sollten wir uns auf Gott verlassen und bei<br />

allem, was wir tun, Weisheit und Urteilsvermögen zeigen; sonst auferlegen wir uns durch<br />

sorgloses Han<strong>de</strong>ln selbst Prüfungen. Wir sollten uns nicht dadurch in Schwierigkeiten stürzen,<br />

daß wir die Mittel außer acht lassen, die Gott bereithält, und nicht die Fähigkeiten mißbrauchen,<br />

die er uns gegeben hat. <strong>Christi</strong> Mitarbeiter sollten seinen Weisungen uneingeschränkt folgen. Es<br />

ist Gottes Werk, und wenn an<strong>de</strong>re durch uns gesegnet wer<strong>de</strong>n sollen, müssen seine Absichten<br />

durchgeführt wer<strong>de</strong>n. Unser Ich darf nicht zum Mittelpunkt gemacht wer<strong>de</strong>n und Ehren<br />

empfangen. Wenn wir nach unseren eigenen Vorstellungen planen, wird Gott uns auch unseren<br />

eigenen Fehlern überlassen. Folgen wir jedoch seinen Weisungen und geraten dabei in<br />

Schwierigkeiten, dann wird er uns aus ihnen befreien. Wir brauchen nicht entmutigt<br />

aufzugeben, son<strong>de</strong>rn dürfen in je<strong>de</strong>r Notlage von ihm Hilfe erbitten; <strong>de</strong>nn ihm stehen<br />

unbegrenzte Mittel zu Verfügung. Oftmals sehen wir uns von lauter Prüfungen umgeben. Dann<br />

müssen wir uns in vollem Vertrauen auf Gott stützen. Er will je<strong>de</strong>n Menschen bewahren, <strong>de</strong>r in<br />

Anfechtung gerät, wenn er Gottes Wege zu gehen bemüht ist.<br />

Christus bittet uns durch <strong>de</strong>n Propheten: „Brich <strong>de</strong>n Hungrigen <strong>de</strong>in Brot, und die im Elend<br />

ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so klei<strong>de</strong> ihn, und entzieh dich<br />

nicht <strong>de</strong>inem Fleisch und Blut!“ Jesaja 58,7. Er hat uns geboten: „Gehet hin in alle Welt und<br />

prediget das Evangelium aller Kreatur.“ Markus 16,15. Aber wie oft sinkt uns <strong>de</strong>r Mut und<br />

verläßt uns <strong>de</strong>r Glaube, wenn wir sehen, wie groß die Not ist und wie gering die Mittel in<br />

unseren Hän<strong>de</strong>n sind! Wie Andreas, <strong>de</strong>r auf die fünf kleinen Brote und die zwei kleinen Fische<br />

sah, erklären wir: „Was ist das unter so viele!“ Johannes 6,9. Oftmals zögern wir und sind nicht<br />

bereit, alles zu geben, was wir besitzen. Wir schrecken davor zurück, ein Opfer zu bringen o<strong>de</strong>r<br />

gar uns selbst für an<strong>de</strong>re hinzugeben. Aber Jesus hat uns geboten: „Gebt ihr ihnen zu<br />

essen!“ Markus 6,37. Sein Gebot enthält eine Verheißung, steht doch die gleiche Macht<br />

dahinter, die die große Schar am Ufer <strong>de</strong>s Sees speiste.<br />

In <strong>de</strong>r Fürsorge <strong>Christi</strong> für die natürlichen Bedürfnisse einer hungrigen Menge liegt eine tiefe<br />

geistliche Lehre für alle seine Mitarbeiter. Der Heiland empfing vom Vater, er teilte seinen<br />

Jüngern aus, diese gaben <strong>de</strong>r Menge, und unter dieser gab einer <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>rn. So empfangen alle,<br />

die mit Christus verbun<strong>de</strong>n sind, von ihm das Brot <strong>de</strong>s Lebens, die himmlische Speise, und<br />

teilen sie an<strong>de</strong>rn mit. Jesus nahm die wenigen Brote im vollen Vertrauen auf Gott. Obgleich es<br />

nur so viel Speise war, daß sie gera<strong>de</strong> für seine Jünger gereicht hätte, lud er diese doch nicht<br />

ein, zu essen, son<strong>de</strong>rn verteilte das Brot an sie und gebot ihnen, es <strong>de</strong>m Volk weiterzugeben.<br />

<strong>Die</strong> Nahrung vermehrte sich in seinen Hän<strong>de</strong>n, und die Hän<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Jünger, die sich ihm, <strong>de</strong>m<br />

Brot <strong>de</strong>s Lebens, entgegenstreckten, blieben nie leer; <strong>de</strong>r kleine Vorrat reichte für alle. Nach <strong>de</strong>r<br />

Sättigung <strong>de</strong>s Volkes wur<strong>de</strong>n die Brocken gesammelt, und Christus aß nun mit seinen Jüngern<br />

von <strong>de</strong>r so gnädig gewährten Speise.<br />

<strong>Die</strong> Jünger stellten gleichsam die Verbindung dar zwischen Christus und <strong>de</strong>m Volk. <strong>Die</strong>se<br />

Tatsache sollte seinen Nachfolgern heute eine große Ermutigung sein. Christus ist <strong>de</strong>r<br />

Mittelpunkt, die Quelle aller Kraft; seine Boten müssen ihre Stärke von ihm empfangen. <strong>Die</strong><br />

Verständigsten, die am meisten geistlich Gesinnten können nur das geben, was sie empfangen<br />

249


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

haben; aus sich selbst haben sie nichts, um die Bedürfnisse auch nur einer Seele zu befriedigen.<br />

Wir können nur das mitteilen, was wir von <strong>de</strong>m Herrn erhalten haben, und wir können nur<br />

empfangen, wenn wir es an<strong>de</strong>rn mitteilen. In<strong>de</strong>m wir beständig austeilen, empfangen wir auch<br />

immerzu, und zwar in <strong>de</strong>m Maße, in <strong>de</strong>m wir geben. So können wir beständig glauben,<br />

vertrauen, empfangen und weitergeben.<br />

Der Bau <strong>de</strong>s Reiches Gottes wird vorwärtsgehen, wenn auch scheinbar langsam und wenn<br />

auch ungeheure Schwierigkeiten <strong>de</strong>n Fortschritt zu hemmen scheinen. Es ist aber das Werk<br />

Gottes, und Gott selbst wird für die Mittel sorgen und Helfer sen<strong>de</strong>n; treue, ernste Jünger, <strong>de</strong>ren<br />

Hän<strong>de</strong> mit Speise für die hungern<strong>de</strong> Menschheit gefüllt sind. Gott ge<strong>de</strong>nkt, aller, die in Liebe<br />

arbeiten, um das Wort <strong>de</strong>s Lebens <strong>de</strong>n Verschmachten<strong>de</strong>n zu bringen, die ihrerseits wie<strong>de</strong>r die<br />

Hän<strong>de</strong> ausstrecken nach Speise für hungrige Seelen.<br />

In unserem Wirken für <strong>de</strong>n Herrn liegt die Gefahr nahe, uns zu sehr darauf zu verlassen, was<br />

<strong>de</strong>r Mensch mit seinen Fähigkeiten und Gaben leisten kann. Dadurch verlieren wir <strong>de</strong>n Meister<br />

aus <strong>de</strong>n Augen und erkennen oftmals nicht unsere persönliche Verantwortung. Wir laufen<br />

Gefahr, unsere Last auf eine Gemeinschaft abzuwälzen, statt uns auf Christus, die Quelle aller<br />

Kraft, zu verlassen. Es ist ein großer Irrtum, im Wirken für Gott auf menschliche Weisheit o<strong>de</strong>r<br />

auf Zahlen zu vertrauen. Ein erfolgreiches Wirken für <strong>de</strong>n Herrn hängt nicht so sehr von <strong>de</strong>r<br />

Anzahl <strong>de</strong>r Mitarbeiter o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>ren Fähigkeiten ab, als vielmehr von <strong>de</strong>r Lauterkeit <strong>de</strong>s Wollens<br />

und <strong>de</strong>r wahren Einfalt eines ernsten, alles von Gott erwarten<strong>de</strong>n Glaubens. Persönliche<br />

Verantwortung muß getragen, persönliche Pflichten müssen aufgenommen und persönliche<br />

Anstrengungen gemacht wer<strong>de</strong>n für die, welche nichts von Christus wissen. Statt die<br />

Verantwortung auf Personen zu legen, von <strong>de</strong>nen wir meinen, daß sie begabter seien als wir<br />

selbst, sollten wir nach unseren Kräften schaffen und wirken.<br />

Wenn die Frage an dich herantritt: „Wo kaufen wir Brot, daß diese essen?“, laß <strong>de</strong>ine<br />

Antwort nicht eine Erwi<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Unglaubens sein. Als die Jünger <strong>de</strong>s Herrn Anordnung<br />

hörten: „Gebt ihr ihnen zu essen!“, tauchten vor ihnen alle möglichen Schwierigkeiten auf. Sie<br />

fragten sich: „Sollen wir in die Dörfer gehen, um Speise zu kaufen?“ Wenn es heute <strong>de</strong>n<br />

Menschen an <strong>de</strong>m Brot <strong>de</strong>s Lebens mangelt, fragen die Kin<strong>de</strong>r Gottes: „Sollen wir jemand aus<br />

<strong>de</strong>r Ferne holen, <strong>de</strong>r sie speise?“ Was sagte Christus? „Lasset sie sich setzen.“ Lukas 9,14. Und<br />

dann speiste er sie. Wenn du von bedürftigen Seelen umgeben bist, dann wisse, daß Christus<br />

auch gegenwärtig ist. Verbin<strong>de</strong> dich mit ihm — bringe <strong>de</strong>ine Gerstenbrote zu Jesus! <strong>Die</strong> uns zur<br />

Verfügung stehen<strong>de</strong>n Mittel scheinen für das Werk nicht auszureichen. Gehen wir aber im<br />

Glauben voran und vertrauen wir auf die allmächtige Bereitwilligkeit Gottes, so wer<strong>de</strong>n sich<br />

uns reichlich Hilfsquellen öffnen. Ist das Werk von Gott, dann wird er auch selbst für Mittel<br />

sorgen, um es durchzuführen; er belohnt das schlichte, aufrichtige Vertrauen zu ihm. Unser<br />

Weniges wird sich bei weisem und sparsamen Gebrauch im <strong>Die</strong>nste <strong>de</strong>s Herrn vermehren. In<br />

<strong>de</strong>r Hand <strong>Christi</strong> blieb <strong>de</strong>r geringe Vorrat unverringert, bis die Menge gesättigt war. Gehen wir<br />

mit glaubensvoll ausgestreckten Hän<strong>de</strong>n zur Quelle aller Kraft, dann wer<strong>de</strong>n wir selbst unter<br />

<strong>de</strong>n allerschwierigsten Verhältnissen in unserer Arbeit unterstützt wer<strong>de</strong>n und imstan<strong>de</strong> sein,<br />

auch an<strong>de</strong>rn das Brot <strong>de</strong>s Lebens zu geben.<br />

250


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Der Herr sagt: „Gebet, so wird euch gegeben.“ Lukas 6,38. „Wer da kärglich sät, <strong>de</strong>r wird<br />

auch kärglich ernten; und wer da sät im Segen, <strong>de</strong>r wird auch ernten im Segen ... Gott aber kann<br />

machen, daß alle Gna<strong>de</strong> unter euch reichlich sei, damit ihr in allen Dingen allewege volle<br />

Genüge habt und noch reich seid zu je<strong>de</strong>m guten Werk; wie geschrieben steht: ‚Er hat<br />

ausgestreut und gegeben <strong>de</strong>n Armen; seine Gerechtigkeit bleibt in Ewigkeit.‘ Der aber Samen<br />

reicht <strong>de</strong>m Säemann und Brot zur Speise, <strong>de</strong>r wird auch euch Samen reichen und ihn mehren<br />

und wachsen lassen die Früchte eurer Gerechtigkeit. So wer<strong>de</strong>t ihr reich sein in allen Dingen, zu<br />

geben in Lauterkeit, welche durch uns wirkt Danksagung an Gott.“ 2.Korinther 9,6-11.<br />

251


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 40: Eine Nacht auf <strong>de</strong>m See<br />

In <strong>de</strong>r Dämmerung eines Frühlingsabends aß die Menge auf <strong>de</strong>r weiten, grünen Ebene die<br />

Speise, die ihnen <strong>de</strong>r Heiland verschafft hatte. <strong>Die</strong> Worte Jesu, die sie an jenem Tage gehört<br />

hatten, waren ihnen wie Offenbarungen Gottes vorgekommen; die Werke <strong>de</strong>r Heilung, die sie<br />

sehen durften, konnten nur durch göttliche Kraft bewirkt wor<strong>de</strong>n sein. Das Wun<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Brote<br />

aber berührte je<strong>de</strong>n persönlich; je<strong>de</strong>r einzelne hatte Anteil an dieser Segnung. Zu Moses Zeit<br />

hatte <strong>de</strong>r Herr die Kin<strong>de</strong>r Israel in <strong>de</strong>r Wüste durch Manna gespeist, und wer war dieser, <strong>de</strong>r sie<br />

heute gespeist hatte, an<strong>de</strong>res als <strong>de</strong>r, von <strong>de</strong>m Mose geweissagt hatte? Kein Mensch konnte aus<br />

fünf Gerstenbroten und zwei kleinen Fischen genügend Speise schaffen, um damit Tausen<strong>de</strong><br />

hungriger Seelen zu sättigen. Und sie sagten zueinan<strong>de</strong>r: „Das ist wahrlich <strong>de</strong>r Prophet, <strong>de</strong>r in<br />

die Welt kommen soll.“ Johannes 6,14.<br />

Den ganzen Tag waren sie immer mehr davon überzeugt wor<strong>de</strong>n. Jene krönen<strong>de</strong> Handlung<br />

nun gibt ihnen die Gewißheit, daß <strong>de</strong>r lang erwartete Erlöser unter ihnen weilt. <strong>Die</strong> Hoffnung<br />

aller Anwesen<strong>de</strong>n wird immer größer: Er ist es, <strong>de</strong>r Judäa zu einem irdischen Paradies machen<br />

wird, zu einem Land, in <strong>de</strong>m Milch und Honig fließen, er kann je<strong>de</strong>n Wunsch erfüllen; er kann<br />

die Macht <strong>de</strong>r verhaßten Römer brechen; er kann Juda und Jerusalem befreien und die in <strong>de</strong>r<br />

Schlacht verwun<strong>de</strong>ten Soldaten heilen; er kann Heere mit Nahrung versorgen, Völker besiegen<br />

und auch Israel die lang ersehnte Herrschaft geben.<br />

In ihrer Begeisterung sind sie bereit, Jesus sofort zum König zu krönen. Sie sehen, daß er<br />

sich keinerlei Mühe gibt, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken o<strong>de</strong>r sich ehren zu lassen.<br />

Hierin unterschei<strong>de</strong>t er sich wesentlich von <strong>de</strong>n Priestern und Obersten, und sie befürchten, daß<br />

er nie einen Anspruch auf Davids Thron geltend machen wird. Sie beraten gemeinsam und<br />

kommen überein, Gewalt anzuwen<strong>de</strong>n und ihn als König von Israel auszurufen. <strong>Die</strong> Jünger<br />

schließen sich <strong>de</strong>r Menge an und erklären, daß <strong>de</strong>r Thron Davids das rechtmäßige Erbe ihres<br />

Herrn sei. Nur Jesu Beschei<strong>de</strong>nheit, sagen sie, veranlasse ihn, diese Ehre auszuschlagen. Möge<br />

doch das Volk seinen Befreier erheben, dann wer<strong>de</strong>n die hochmütigen Priester und Obersten<br />

gezwungen sein, <strong>de</strong>n mit göttlicher Macht ausgestatteten Heiland zu ehren.<br />

Es wer<strong>de</strong>n nun eilig Vorbereitungen getroffen, diesen Plan auszuführen. Doch <strong>de</strong>r Herr<br />

bemerkt ihre Absicht und kennt besser als das Volk die Folgen einer solchen Handlung. Schon<br />

jetzt trachten die Priester und Obersten ihm nach <strong>de</strong>m Leben und beschuldigen ihn, daß er das<br />

Volk gegen sie aufwiegele. Der Versuch <strong>de</strong>s Volkes, ihn auf <strong>de</strong>n Thron zu setzen, wür<strong>de</strong> nur<br />

Gewalttat und Aufruhr nach sich ziehen und das geistliche Reich in Gefahr bringen. <strong>Die</strong>ser<br />

Entwicklung mußte umgehend Halt geboten wer<strong>de</strong>n. Jesus ruft seine Jünger und befiehlt ihnen,<br />

sofort das Boot zu besteigen und nach Kapernaum zurückzufahren, während er selbst das Volk<br />

entlassen wer<strong>de</strong>.<br />

Noch nie zeigten die Jünger so wenig Neigung, <strong>de</strong>r Anordnung ihres Herrn nachzukommen.<br />

Sie hatten schon lange auf einen allgemeinen Volksaufstand gehofft, um Jesus auf <strong>de</strong>n Thron zu<br />

heben. Sie konnten sich nicht mit <strong>de</strong>m Gedanken vertraut machen, daß diese Begeisterung ohne<br />

Erfolg bleiben sollte. <strong>Die</strong> zum Passahfest versammelte Volksmenge wollte <strong>de</strong>n neuen Propheten<br />

252


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

sehen, und <strong>de</strong>n Jüngern schien die Zeit gekommen, ihren geliebten Meister auf <strong>de</strong>n Thron zu<br />

heben. In dieser Begeisterung wur<strong>de</strong> es ihnen wirklich schwer, ohne Jesus fortzugehen und ihn<br />

an diesem einsamen Platz zurückzulassen. Sie wagten Einwän<strong>de</strong> gegen seinen Befehl; aber <strong>de</strong>r<br />

Herr sprach nun mit solcher Autorität, wie er sie ihnen gegenüber noch nie gezeigt hatte. Sie<br />

wußten jetzt, daß ihr weiteres Wi<strong>de</strong>rstreben nutzlos sein wür<strong>de</strong>, und wandten sich schweigend<br />

<strong>de</strong>m See zu.<br />

Jesus gebietet nun <strong>de</strong>r Menge, sich zu zerstreuen. Sein Auftreten ist so bestimmt, daß sich<br />

niemand zu wi<strong>de</strong>rsetzen wagt. <strong>Die</strong> Worte <strong>de</strong>s Lobes und <strong>de</strong>r Begeisterung ersterben auf ihren<br />

Lippen; die Schritte <strong>de</strong>rer, die ihn greifen wollen, verhallen, und <strong>de</strong>r frohe, lebhafte Blick<br />

weicht aus ihren Augen. Es befin<strong>de</strong>n sich Männer mit starkem Willen und fester<br />

Entschlossenheit unter <strong>de</strong>r Menge; doch die königliche Haltung Jesu und die wenigen ruhigen<br />

und befehlen<strong>de</strong>n Worte unterdrücken je<strong>de</strong>n Tumult und vereiteln ihre Absichten. Sie erkennen<br />

in ihm eine Macht, die über aller irdischen Gewalt steht, und unterwerfen sich ohne je<strong>de</strong> Frage.<br />

Als Jesus allein war, „ging er hin auf einen Berg, zu beten“. Markus 6,46. Stun<strong>de</strong>nlang flehte<br />

er zu Gott. Seine ernsten Bitten galten nicht sich selbst, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>n Menschen. Er betete um<br />

Kraft, <strong>de</strong>n Menschen <strong>de</strong>n göttlichen Charakter seiner Sendung zu offenbaren, damit Satan ihr<br />

Verständnis nicht blind machen und ihr Urteil irreleiten könne. Der Heiland wußte genau, daß<br />

die Zeit seines irdischen Wirkens bald vorüber wäre und daß nur wenige ihn als ihren Erlöser<br />

annehmen wür<strong>de</strong>n. In bitterem Schmerz und tiefem seelischem Ringen betete er für seine<br />

Jünger, <strong>de</strong>nen noch schwere Prüfungen bevorstan<strong>de</strong>n. Ihre lang gehegten Hoffnungen, die sich<br />

auf einen im Volk allgemein verbreiteten Irrtum grün<strong>de</strong>ten, wür<strong>de</strong>n in schmerzlicher und<br />

<strong>de</strong>mütigen<strong>de</strong>r Weise zunichte wer<strong>de</strong>n. Statt seine Erhebung auf <strong>de</strong>n Thron Davids wür<strong>de</strong>n sie<br />

seine Kreuzigung schauen. <strong>Die</strong>s wäre seine wahre Krönung; aber die Jünger wür<strong>de</strong>n auch das<br />

nicht erkennen. Darum kämen kräftige Versuchungen über sie, die sie aber schwerlich als<br />

solche ansähen. Ohne <strong>de</strong>n Heiligen Geist zur Erleuchtung ihrer Sinne und zur Erweiterung ihres<br />

Verständnisses mußte ihr Glaube unterliegen. Es schmerzte <strong>de</strong>n Heiland, daß sich ihre<br />

Vorstellungen von seinem Reich in so be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>m Maße auf weltliche Erhöhungen und Ehren<br />

beschränkten; die Sorge für sie lastete schwer auf seinem Herzen, und in bitterem Schmerz und<br />

unter heißen Tränen brachte er seine Bitten zu Gott.<br />

<strong>Die</strong> Jünger hatten ihr Boot nicht gleich vom Ufer abgestoßen, wie es ihnen von Jesus<br />

geboten wor<strong>de</strong>n war. Sie warteten noch einige Zeit in <strong>de</strong>r Hoffnung, daß er nachkäme. Als aber<br />

die Dunkelheit <strong>de</strong>r Nacht schnell hereinbrach, traten sie „in das Schiff und kamen über das<br />

Meer nach Kapernaum“. Johannes 6,17. Sie hatten Jesus mit unbefriedigtem Herzen verlassen<br />

und waren ungeduldiger über ihn als je zuvor, seit sie ihn als ihren Herrn anerkannt hatten. Sie<br />

murrten, weil es ihnen nicht geglückt war, ihn als König auszurufen, und sie machten sich<br />

Vorwürfe, seinem Befehl so schnell nachgekommen zu sein, da sie vielleicht doch ihre Absicht<br />

erreicht hätten, wenn sie entschie<strong>de</strong>ner aufgetreten wären.<br />

Unglaube erfüllte ihr Herz und ihr Gemüt; die Liebe nach weltlicher Ehre hatte sie<br />

verblen<strong>de</strong>t. Sie wußten, daß Jesus von <strong>de</strong>n Pharisäern gehaßt wur<strong>de</strong>, und sie waren eifrig darauf<br />

bedacht, ihn zu erhöhen, wie es ihm zukäme. Mit einem Lehrer verbun<strong>de</strong>n zu sein, <strong>de</strong>r mächtige<br />

253


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Wun<strong>de</strong>r wirken und gleichzeitig als Betrüger geschmäht wer<strong>de</strong>n konnte, war eine Prüfung, die<br />

sie nur schwer zu ertragen vermochten. Sollten sie immer für die Nachfolger eines falschen<br />

Propheten gehalten wer<strong>de</strong>n? Wür<strong>de</strong> Christus niemals seine Gewalt als König geltend machen?<br />

Warum offenbarte er, <strong>de</strong>r doch solche Macht besaß, nicht seinen wahren Charakter und machte<br />

dadurch auch ihren Weg müheloser? Warum hatte er Johannes <strong>de</strong>n Täufer nicht vor seinem<br />

gewaltsamen En<strong>de</strong> bewahrt? Unter solchen Gedanken gerieten sie selbst in geistliches Dunkel,<br />

bis sie sich schließlich fragten: Konnte ihr Herr ein Betrüger sein, wie es die Pharisäer<br />

behaupteten?<br />

<strong>Die</strong> Jünger waren an jenem Tage Zeugen <strong>de</strong>r wun<strong>de</strong>rbaren Werke <strong>Christi</strong> gewesen; es hatte<br />

<strong>de</strong>n Anschein gehabt, als ob <strong>de</strong>r Himmel sich zur Er<strong>de</strong> herabneige. <strong>Die</strong> Erinnerung an jene<br />

herrlichen und glorreichen Stun<strong>de</strong>n hätte sie mit Glauben und Hoffnung erfüllen sollen. Wenn<br />

sie sich dann aus <strong>de</strong>r Fülle ihres Herzens über all diese Dinge unterhalten hätten, wären sie<br />

bestimmt nicht in Versuchung geraten. Ihre Enttäuschung jedoch nahm alle an<strong>de</strong>ren Gedanken<br />

gefangen; die Worte Jesu: „Sammelt die übrigen Brocken, daß nichts umkomme“, blieben<br />

unbeachtet. Es waren segensreiche Stun<strong>de</strong>n für die Jünger gewesen; aber jetzt hatten sie alles<br />

vergessen. Sie befan<strong>de</strong>n sich mitten auf <strong>de</strong>m unruhigen See. Ihre Gedanken selbst waren<br />

stürmisch erregt und ohne Vernunft, und <strong>de</strong>r Herr gab ihnen etwas an<strong>de</strong>res, um ihre Seele zu<br />

beschäftigen und ihre Gedanken abzulenken. Das tut Gott häufig, wenn die Menschen sich<br />

selbst Mühsal und Sorgen schaffen. Es war ganz unnötig, daß sich die Jünger Schwierigkeiten<br />

bereiteten; die Gefahr näherte sich ihnen schnell genug.<br />

Ein heftiges Unwetter war heraufgezogen und fand die Jünger gänzlich unvorbereitet; es<br />

brach unvermutet los nach einem herrlichen Tag. Als <strong>de</strong>r Sturm sich plötzlich erhob, fürchteten<br />

sie sich. Ihre Unzufrie<strong>de</strong>nheit, ihren Unglauben, ihre Ungeduld hatten sie schnell vergessen.<br />

Je<strong>de</strong>r von ihnen arbeitete mit aller Kraft, um das Boot vor <strong>de</strong>m Sinken zu bewahren. Von<br />

Bethsaida bis zu <strong>de</strong>m Ort, an <strong>de</strong>m sie Jesus erwarteten, war es nicht weit. Bei günstigem Wetter<br />

brauchten sie zur Überfahrt nur einige Stun<strong>de</strong>n. Jetzt aber wur<strong>de</strong>n die Jünger immer weiter von<br />

ihrem Ziel abgetrieben. Sie arbeiteten bis zur vierten Nachtwache an <strong>de</strong>n Ru<strong>de</strong>rn; dann gaben<br />

sich die erschöpften Männer verloren.<br />

In Sturm und Dunkelheit hatte <strong>de</strong>r See ihnen ihre Hilflosigkeit gezeigt, und sie sehnten sich<br />

nach <strong>de</strong>r Gegenwart ihres Meisters. Jesus hatte sie nicht vergessen; <strong>de</strong>r Wächter am Ufer sah<br />

die furchterfüllten Männer mit <strong>de</strong>m Sturm kämpfen. Nicht einen Augenblick verlor er seine<br />

Jünger aus <strong>de</strong>n Augen, son<strong>de</strong>rn er verfolgte mit großer Aufmerksamkeit das vom Sturm<br />

umhergeworfene Boot mit seiner wertvollen Last; <strong>de</strong>nn diese Männer sollten das Licht <strong>de</strong>r Welt<br />

sein. Besorgt, wie eine Mutter über ihre Kin<strong>de</strong>r, wachte <strong>de</strong>r Heiland über seine Jünger. Als ihre<br />

Herzen wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>mütig waren, als sie ihren unheiligen Ehrgeiz bezwungen hatten und wie<strong>de</strong>r<br />

aufrichtig um Hilfe flehten, wur<strong>de</strong> sie ihnen zuteil.<br />

In <strong>de</strong>m Augenblick, da sie sich verloren glauben, erkennen sie in <strong>de</strong>m Aufleuchten eines<br />

Blitzes eine geheimnisvolle Gestalt, die sich ihnen auf <strong>de</strong>n Wogen nähert. Sie ahnen nicht, daß<br />

es Jesus ist, und halten <strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r ihnen zu Hilfe kommen will, für einen Feind. Schrecken ergreift<br />

sie. <strong>Die</strong> Ru<strong>de</strong>r, die sie mit festem Griff umklammert halten, entfallen ihnen; das Boot wird zum<br />

254


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Spielball <strong>de</strong>r Wellen. Ihre Blicke sind durch die Erscheinung gefesselt — ein Mensch geht auf<br />

<strong>de</strong>n schäumen<strong>de</strong>n Wogen <strong>de</strong>s wüten<strong>de</strong>n Sees. Sie glauben, es sei ein Geist, <strong>de</strong>r ihnen ihren<br />

Untergang ankündigt, und sie schreien vor Furcht. <strong>Die</strong> Gestalt kommt immer näher. Es scheint,<br />

als wolle sie vorübergleiten. Da erkennen sie ihren Herrn, und sie rufen und flehen um Hilfe.<br />

Der Heiland wen<strong>de</strong>t sich ihnen zu, und seine Stimme besänftigt ihre Furcht: „Seid getrost, ich<br />

bin‘s; fürchtet euch nicht!“ Matthäus 14,27. aum können die Jünger dieses Wun<strong>de</strong>r begreifen,<br />

da gerät Petrus in hellste Begeisterung. Er ruft: „Herr, bist du es, so heiß mich zu dir kommen<br />

auf <strong>de</strong>m Wasser.“ Und Jesus spricht: „Komm her!“ Matthäus 14,28.29.<br />

Solange Petrus seinen Blick unverwandt auf Jesus richtet, wan<strong>de</strong>lt er sicher; kaum blickt er<br />

aber stolz zu seinen Gefährten im Boot zurück, verliert er die Verbindung mit seinem Herrn.<br />

Der Wind stürmt noch heftig, die Wogen gehen hoch und drängen sich zwischen ihn und <strong>de</strong>n<br />

Meister. Nun fürchtet sich Petrus. Für einen Augenblick ist Christus seinem Blick verborgen; da<br />

wird sein Glaube unsicher und schwankend, und er beginnt zu sinken. Aber während die Wogen<br />

ihn mit <strong>de</strong>m Tod bedrohen, wen<strong>de</strong>t Petrus seinen Blick von <strong>de</strong>m toben<strong>de</strong>n Wasser ab, auf <strong>de</strong>n<br />

Heiland hin und ruft: „Herr, hilf mir!“ Sofort ergreift Jesus die ausgestreckte Hand mit <strong>de</strong>n<br />

Worten: „O du Kleingläubiger, warum zweifeltest du?“ Matthäus 14,30.31.<br />

An <strong>de</strong>r Hand seines Heilan<strong>de</strong>s betrat Petrus wie<strong>de</strong>r das Schiff. Er war ge<strong>de</strong>mütigt wor<strong>de</strong>n<br />

und verhielt sich still. Er sah keine Ursache mehr, sich vor <strong>de</strong>n Gefährten zu rühmen; <strong>de</strong>nn er<br />

hätte durch Unglauben und Überheblichkeit beinahe sein Leben verloren. Wie oft gleichen wir<br />

<strong>de</strong>m Petrus, wenn Schwierigkeiten auf uns zukommen! Wir schauen dann auf die brausen<strong>de</strong>n<br />

Wogen, statt unsern Blick auf <strong>de</strong>n Herrn zu heften. Unsere Füße gleiten aus, und die stolzen<br />

Wellen gehen über uns hinweg. Jesus hatte Petrus nicht geboten, zu ihm zu kommen, damit er<br />

umkomme; er for<strong>de</strong>rt auch uns nicht auf, ihm nachzufolgen, um uns dann zu verlassen. „Fürchte<br />

dich nicht“, sagt er, „<strong>de</strong>nn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei <strong>de</strong>inem Namen gerufen; du<br />

bist mein! Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, daß dich die Ströme nicht<br />

ersäufen sollen; und wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme soll dich<br />

nicht versengen. Denn ich bin <strong>de</strong>r Herr, <strong>de</strong>in Gott, <strong>de</strong>r Heilige Israels, <strong>de</strong>in Heiland.“ Jesaja<br />

43,1-3.<br />

Jesus kannte <strong>de</strong>n Charakter seiner Jünger. Er wußte, wie schwer ihr Glaube geprüft wer<strong>de</strong>n<br />

wür<strong>de</strong>. Durch die Erfahrung auf <strong>de</strong>m See wollte er die Schwäche <strong>de</strong>s Petrus offenbaren und ihm<br />

zeigen, daß seine Sicherheit nur darauf beruhe, <strong>de</strong>r göttlichen Macht beständig zu vertrauen.<br />

Inmitten <strong>de</strong>r Stürme <strong>de</strong>r Versuchungen konnte er nur dann sicher wan<strong>de</strong>ln, wenn er, frei von<br />

überheblichem Selbstvertrauen, sich ausschließlich auf <strong>de</strong>n Herrn verlassen wür<strong>de</strong>. Gera<strong>de</strong><br />

dann, als Petrus meinte, stark zu sein, war er schwach; erst als er seine Schwäche erkannte,<br />

konnte er das Bedürfnis seiner Abhängigkeit von Gott sehen. Hätte er aus <strong>de</strong>r Erfahrung auf<br />

<strong>de</strong>m See gelernt, dann wäre er auch nicht unterlegen, als die große Prüfung an ihn herantrat.<br />

Tag um Tag unterweist Gott seine Kin<strong>de</strong>r. Durch die Dinge <strong>de</strong>s täglichen Lebens bereitet er<br />

sie darauf vor, daß sie die größere Aufgabe übernehmen können, zu <strong>de</strong>r seine Vorsehung sie<br />

berufen hat. Sieg o<strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rlage in <strong>de</strong>r großen Lebensentscheidung hängt davon ab, wie sie<br />

mit <strong>de</strong>n täglichen Prüfungen fertig wer<strong>de</strong>n. Wer seine dauern<strong>de</strong> Abhängigkeit von Gott nicht<br />

255


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

erkennt, wird in <strong>de</strong>r Versuchung unterliegen. Wir glauben vielleicht, sicher zu stehen und nicht<br />

fallen zu können. Wir mögen vertrauensvoll sagen: Ich weiß, an wen ich glaube, nichts kann<br />

meinen Glauben an Gott und sein Wort erschüttern! Aber Satan ist nicht müßig. Er <strong>de</strong>nkt<br />

unablässig darüber nach, wie er aus unseren menschlichen Mängeln Vorteile ziehen und unsere<br />

Augen gegen unsere wahren Bedürfnisse blind machen kann. Nur durch wahrhafte Erkenntnis<br />

unserer Schwächen, nur durch <strong>de</strong>n unverwandten Blick auf Jesus können wir sicher<br />

wan<strong>de</strong>ln. Kaum hatte Jesus seinen Platz im Boot eingenommen, hörte <strong>de</strong>r Sturm auf. „Und<br />

alsbald war das Schiff am Lan<strong>de</strong>, wohin sie fuhren.“ Johannes 6,21. Der Schreckensnacht folgte<br />

das sanfte Licht <strong>de</strong>r Morgenröte. <strong>Die</strong> Jünger und noch an<strong>de</strong>re, die sich mit ihnen im Boot<br />

befan<strong>de</strong>n, beugten sich mit dankerfülltem Herzen zu <strong>de</strong>n Füßen Jesu und sagten: „Du bist<br />

wahrlich Gottes Sohn!“ Matthäus 14,33.<br />

256


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 41: <strong>Die</strong> Entscheidung in Galiläa<br />

Christus wußte, daß ein Wen<strong>de</strong>punkt in seinem Dasein erreicht war, als er es <strong>de</strong>n Menschen<br />

untersagte, ihn zum König auszurufen. <strong>Die</strong> Volksmenge, die ihn heute auf <strong>de</strong>n Thron heben<br />

wollte, hätte sich am nächsten Tag von ihm abgewandt. Sobald ihr selbstsüchtiger Ehrgeiz<br />

enttäuscht wor<strong>de</strong>n wäre, hätte sich ihre Liebe in Haß und ihr Lob in Fluch verwan<strong>de</strong>lt. Doch<br />

obwohl Christus dies wußte, unternahm er nichts, um die Krise abzuwen<strong>de</strong>n. Von Anfang an<br />

hatte er seinen Nachfolgern keinerlei Hoffnung auf irdische Belohnungen gemacht. Einem<br />

Mann, <strong>de</strong>r sein Jünger wer<strong>de</strong>n wollte, sagte er: „<strong>Die</strong> Füchse haben Gruben, und die Vögel unter<br />

<strong>de</strong>m Himmel haben Nester; aber <strong>de</strong>s Menschen Sohn hat nicht, wo er sein Haupt<br />

hinlege.“ Matthäus 8,20. Hätten die Menschen zugleich Christus und die Welt besitzen können,<br />

wür<strong>de</strong>n sie ihn in Scharen ihrer Treue versichert haben. Eine solche Hilfe aber konnte er nicht<br />

annehmen. Viele seiner Anhänger damals wur<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>r Hoffnung auf ein weltliches<br />

Königreich angezogen. Sie sollten eines besseren belehrt wer<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> tiefe geistliche Be<strong>de</strong>utung<br />

<strong>de</strong>s von ihm vollbrachten Speisungswun<strong>de</strong>rs war von ihnen nicht verstan<strong>de</strong>n wor<strong>de</strong>n. Sie aber<br />

wollte er ihnen darlegen. <strong>Die</strong>se neue Offenbarung wür<strong>de</strong> jedoch eine strengere Prüfung nach<br />

sich ziehen.<br />

Überall sprach man über das Speisungswun<strong>de</strong>r, und schon früh am nächsten Morgen<br />

strömten die Leute nach Bethsaida, um Jesus zu sehen. Sie kamen in großer Zahl über Land und<br />

auch über <strong>de</strong>n See. <strong>Die</strong> ihn am Abend zuvor verlassen hatten, kehrten zurück in <strong>de</strong>r Annahme,<br />

ihn dort noch anzutreffen; <strong>de</strong>nn es war kein Boot vorhan<strong>de</strong>n, mit <strong>de</strong>m er zum an<strong>de</strong>ren Seeufer<br />

hätte übersetzen können. Ihr Suchen blieb jedoch ergebnislos. Deshalb wandten sich viele<br />

wie<strong>de</strong>r nach Kapernaum, um ihn dort zu suchen. Inzwischen befand er sich nach nur eintägiger<br />

Abwesenheit wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Landschaft Genezareth. Gleich bei seiner Ankunft „erkannten die<br />

Leute ihn alsbald und liefen im ganzen Land umher und hoben an, die Kranken umherzutragen<br />

auf Betten, wo sie hörten, daß er war“. Markus 6,54.55.<br />

Nach einiger Zeit ging er in die Synagoge. Dort fan<strong>de</strong>n ihn die Leute, die aus Bethsaida<br />

gekommen waren, und erfuhren, wie er <strong>de</strong>n See überquert hatte. <strong>Die</strong> Jünger erzählten <strong>de</strong>r<br />

staunen<strong>de</strong>n Menge in allen Einzelheiten von <strong>de</strong>r Heftigkeit <strong>de</strong>s Sturms, <strong>de</strong>m stun<strong>de</strong>nlangen<br />

fruchtlosen Ru<strong>de</strong>rn gegen widrige Win<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r Erscheinung <strong>de</strong>s auf <strong>de</strong>m Wasser wan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n<br />

Christus, von <strong>de</strong>r Furcht, in die sie dadurch gerieten, und wie Christus sie beruhigte, von <strong>de</strong>m<br />

Wagnis <strong>de</strong>s Petrus, <strong>de</strong>ssen Ausgang und wie plötzlich <strong>de</strong>r Sturm aufhörte, so daß das Boot<br />

anlegen konnte. Viele aber, die mit diesem Bericht nicht zufrie<strong>de</strong>n waren, sammelten sich um<br />

Jesus und fragten ihn: „Rabbi, wann bist du hergekommen?“ Johannes 6,25. Sie hofften, noch<br />

einmal von ihm selbst eine Schil<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Wun<strong>de</strong>rs zu hören.<br />

Jesus aber befriedigte ihre Neugier nicht. Traurig erwi<strong>de</strong>rte er: „Ihr suchet mich nicht darum,<br />

daß ihr Zeichen gesehen habt, son<strong>de</strong>rn weil ihr von <strong>de</strong>m Brot gegessen habt und seid satt<br />

gewor<strong>de</strong>n.“ Johannes 6,26. Sie suchten ihn nicht aus achtbaren Beweggrün<strong>de</strong>n. Das Brot hatte<br />

sie gesättigt, und nun erwarteten sie, weitere irdische Wohltaten zu empfangen, wenn sie sich an<br />

ihn hielten. Der Heiland aber beschwor sie: „Verschafft euch doch nicht die Speise, die<br />

257


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

vergänglich ist, son<strong>de</strong>rn die Speise, die für das ewige Leben vorhält.“ Johannes 6,27 (Menge).<br />

Mit an<strong>de</strong>ren Worten: Trachtet nicht nur nach irdischem Gewinn! Laßt es nicht euer<br />

Hauptanliegen sein, für das diesseitige Leben zu sorgen, son<strong>de</strong>rn strebt nach geistlicher Speise,<br />

das heißt, nach jener Weisheit, die bis ins ewige Leben fortwirkt und die allein <strong>de</strong>r Sohn Gottes<br />

schenken kann; „<strong>de</strong>nn Gott, <strong>de</strong>r Vater, hat ihn dazu ermächtigt“. Johannes 6,27 (GN).<br />

Augenblicklich war das Interesse <strong>de</strong>r Hörer geweckt. Sie riefen aus: „Was sollen wir tun, daß<br />

wir Gottes Werke wirken?“ Johannes 6,28. Sie hatten vieles und Schweres geleistet, um sich<br />

vor Gott angenehm zu machen. Bereitwillig hätten sie je<strong>de</strong>r neuen Vorschrift zugestimmt, durch<br />

<strong>de</strong>ren Befolgung sie sich ein größeres Verdienst verschaffen konnten. Ihre Frage be<strong>de</strong>utete<br />

eigentlich: Was sollen wir tun, um uns <strong>de</strong>n Himmel zu verdienen? Welchen Preis müssen wir<br />

zahlen, um das künftige Leben zu erlangen? „Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Das ist<br />

Gottes Werk, daß ihr an <strong>de</strong>n glaubet, <strong>de</strong>n er gesandt hat.“ Johannes 6,29. Als Preis for<strong>de</strong>rt <strong>de</strong>r<br />

Himmel die Annahme Jesu. Der Weg zum Himmel geht über <strong>de</strong>n Glauben an „Gottes Lamm,<br />

welches <strong>de</strong>r Welt Sün<strong>de</strong> trägt“. Johannes 1,29.<br />

<strong>Die</strong> Menschen aber wollten diese Erklärung nicht als göttliche Wahrheit annehmen. Jesus<br />

hatte genau das getan, was die Weissagungen über die Taten <strong>de</strong>s Messias vorausgesagt hatten;<br />

aber die Menschen vermißten, was ihre selbstsüchtigen Hoffnungen sich als sein Wirken<br />

vorgestellt hatten. Gewiß, Christus hatte die Menge mit Gerstenbroten gesättigt. Doch war<br />

Israel in <strong>de</strong>n Tagen Moses nicht vierzig Jahre durch Manna ernährt wor<strong>de</strong>n? Weit größere<br />

Segenstaten erwartete man vom Messias. Unzufrie<strong>de</strong>nen Herzens fragen sie, weshalb Jesus,<br />

wenn er schon so viele wun<strong>de</strong>rbare Taten vollbrachte, <strong>de</strong>ren Zeugen sie wur<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>m jüdischen<br />

Volk nicht Gesundheit, Kraft und Reichtum schenkte, es nicht von <strong>de</strong>n Unterdrückern befreite<br />

und ihm nicht zu Macht und Ansehen verhalf. Daß Jesus zwar <strong>de</strong>r Gesandte Gottes, nicht aber<br />

<strong>de</strong>r König Israels sein wollte, war für sie ein Geheimnis, das sie nicht ergrün<strong>de</strong>n konnten. Seine<br />

Weigerung wur<strong>de</strong> mißverstan<strong>de</strong>n. Viele schlossen daraus, daß er auf seinen Ansprüchen<br />

<strong>de</strong>shalb nicht zu bestehen wagte, weil er selbst an <strong>de</strong>m göttlichen Charakter seiner Sendung<br />

zweifelte. So öffneten sie sich <strong>de</strong>m Unglauben, und die Saat, die Satan ausgestreut hatte,<br />

brachte die entsprechen<strong>de</strong>n Früchte: Mißverständnisse und Abfall.<br />

Jetzt fragte ihn ein Schriftgelehrter halb spöttisch: „Was tust du <strong>de</strong>nn für ein Zeichen, auf<br />

daß wir sehen und glauben dir? Was wirkest du? Unsre Väter haben das Manna gegessen in <strong>de</strong>r<br />

Wüste, wie geschrieben steht: ‚Er gab ihnen Brot vom Himmel zu essen.‘“ Johannes<br />

6,30.31. <strong>Die</strong> Ju<strong>de</strong>n ehrten in Mose <strong>de</strong>n Spen<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Manna und priesen so <strong>de</strong>n Mittler, wobei<br />

sie <strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>n Augen verloren, <strong>de</strong>r die Tat eigentlich vollbracht hatte. Ihre Vorfahren hatten<br />

gegen Mose gemurrt, an ihm gezweifelt und seine göttliche Mission geleugnet. In <strong>de</strong>r gleichen<br />

Gesinnung verwarfen die Nachkommen dieser Männer jetzt <strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r ihnen die Botschaft Gottes<br />

ausrichtete. „Da sprach Jesus zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Nicht Mose hat euch<br />

das Brot vom Himmel gegeben.“ Johannes 6,32. Der Spen<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Manna stand vor ihnen.<br />

Christus selbst hatte ja die Hebräer durch die Wüste geführt und sie täglich mit Himmelsbrot<br />

gesättigt. <strong>Die</strong>se Nahrung war ein Sinnbild für das wahre Himmelsbrot. Der lebenspen<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />

Geist, ein Ausfluß <strong>de</strong>r unendlichen Fülle Gottes, ist das wahre Manna. „Denn“, so sagte Jesus,<br />

258


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

„das Brot Gottes ist das, welches aus <strong>de</strong>m Himmel herabkommt und <strong>de</strong>r Welt Leben<br />

gibt.“ Johannes 6,33 (Menge).<br />

Einige Hörer meinten noch immer, daß Jesus auf irdische Nahrung hinwies, und riefen aus:<br />

„Herr, gib uns allewege solch Brot.“ Daraufhin wur<strong>de</strong> Jesus <strong>de</strong>utlich: „Ich bin das Brot <strong>de</strong>s<br />

Lebens.“ Johannes 6,34.35. Das Bild, das Jesus gebrauchte, war <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n vertraut. Schon<br />

Mose hatte unter <strong>de</strong>m Einfluß <strong>de</strong>s Heiligen Geistes <strong>de</strong>n Israeliten gesagt, „daß <strong>de</strong>r Mensch nicht<br />

lebt vom Brot allein, son<strong>de</strong>rn von allem, was aus <strong>de</strong>m Mund <strong>de</strong>s Herrn geht“. 5.Mose 8,3. Und<br />

<strong>de</strong>r Prophet Jeremia hatte geschrieben: „Dein Wort ward meine Speise, sooft ich‘s empfing, und<br />

<strong>de</strong>in Wort ist meines Herzens Freu<strong>de</strong> und Trost.“ Jeremia 15,15. Selbst die Rabbiner kannten<br />

ein Sprichwort, wonach das Essen von Brot in geistlichem Verständnis Studium <strong>de</strong>s Gesetzes<br />

und Erfüllung guter Werke be<strong>de</strong>utete, und oft hieß es, daß bei <strong>de</strong>r Ankunft <strong>de</strong>s Messias ganz<br />

Israel gesättigt wür<strong>de</strong>. <strong>Die</strong> Lehren <strong>de</strong>r Propheten enthüllten <strong>de</strong>n tiefen geistlichen Sinn, <strong>de</strong>r in<br />

<strong>de</strong>m Brotwun<strong>de</strong>r steckte.<br />

<strong>Die</strong>se Be<strong>de</strong>utung wollte Christus seinen Hörern in <strong>de</strong>r Synagoge erschließen. Hätten sie die<br />

Schrift verstan<strong>de</strong>n, dann wür<strong>de</strong>n sie auch erfaßt haben, was seine Worte be<strong>de</strong>uteten: „Ich bin<br />

das Brot <strong>de</strong>s Lebens.“ Johannes 6,34.35. Erst einen Tag zuvor war die große, ermattete und<br />

mü<strong>de</strong> Volksmenge durch das Brot gesättigt wor<strong>de</strong>n, das er gespen<strong>de</strong>t hatte. Wie sie durch<br />

dieses Brot körperlich gekräftigt und erfrischt wor<strong>de</strong>n waren, so hätten sie durch Christus<br />

geistliche Kraft für das ewige Leben erhalten können. Er fuhr <strong>de</strong>shalb fort: „Wer zu mir kommt,<br />

<strong>de</strong>n wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, <strong>de</strong>n wird nimmermehr dürsten.“ Johannes<br />

6,34.35. Aber er fügte auch hinzu: „Ihr habt mich wohl gesehen, glaubt aber doch<br />

nicht.“ Johannes 6,36 (Menge).<br />

Sie hatten Christus durch ein Zeugnis <strong>de</strong>s Heiligen Geistes, durch eine Offenbarung Gottes,<br />

erkannt. <strong>Die</strong> leben<strong>de</strong>n Beweise seiner Macht hatten sie tagtäglich vor Augen gehabt. Trotz<strong>de</strong>m<br />

fragten sie nach einem weiteren Zeichen. Hätten sie es auch erhalten, so wären sie doch<br />

weiterhin ungläubig geblieben. Konnte das Gesehene und Gehörte sie nicht überzeugen, dann<br />

hatte es keinen Sinn, ihnen noch wun<strong>de</strong>rbarere Dinge zu zeigen. Der Unglaube fin<strong>de</strong>t für <strong>de</strong>n<br />

Zweifel stets einen Grund und diskutiert <strong>de</strong>n sichersten Beweis hinweg.<br />

Wie<strong>de</strong>rum rief Christus jenen starrsinnigen Herzen zu: „Wer zu mir kommt, <strong>de</strong>n wer<strong>de</strong> ich<br />

nicht hinausstoßen.“ Johannes 6,37. Alle, die ihn im Glauben annähmen, so versicherte er,<br />

wer<strong>de</strong>n das ewige Leben erlangen. Nicht ein einziger könnte verlorengehen. We<strong>de</strong>r die<br />

Pharisäer noch die Sadduzäer brauchten sich weiterhin über das künftige Leben zu streiten. Und<br />

niemand brauchte länger in hoffnungslosem Leid um seine Toten zu trauern. „Denn das ist <strong>de</strong>r<br />

Wille meines Vaters, daß, wer <strong>de</strong>n Sohn sieht und glaubt an ihn, habe das ewige Leben; und ich<br />

wer<strong>de</strong> ihn auferwecken am Jüngsten Tage.“ Johannes 6,40.<br />

<strong>Die</strong> Volksführer waren jedoch beleidigt und sprachen: „Ist dieser nicht Jesus, Josephs Sohn,<br />

<strong>de</strong>s Vater und Mutter wir kennen? Wie spricht er <strong>de</strong>nn: Ich bin vom Himmel<br />

gekommen?“ Johannes 6,42. Sie wollten dadurch Vorurteile erwecken, in<strong>de</strong>m sie verächtlich<br />

auf Jesu niedrige Herkunft anspielten. Voller Geringschätzung erinnerten sie an sein Leben als<br />

259


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Arbeiter in Galiläa sowie an seine Familie, die arm und von geringem Stan<strong>de</strong> war. <strong>Die</strong><br />

Ansprüche dieses ungelehrten Zimmermannes wären, so behaupteten sie, keiner<br />

Aufmerksamkeit wert. Das Wun<strong>de</strong>rbare seiner geheimnisvollen Geburt nahmen sie zum Anlaß,<br />

von einer zweifelhaften Herkunft zu sprechen und die irdischen Umstän<strong>de</strong> seiner Geburt als<br />

Makel hinzustellen.<br />

Jesus versuchte nicht, das Geheimnis seiner Geburt aufzuhellen. Er beantwortete we<strong>de</strong>r die<br />

Fragen bezüglich seiner himmlischen Herkunft noch die, wie er auf <strong>de</strong>m See hatte wan<strong>de</strong>ln<br />

können. Überhaupt lenkte er die Aufmerksamkeit nicht auf die Wun<strong>de</strong>r, die sein Leben<br />

auszeichneten. Freiwillig hatte er auf hohes Ansehen verzichtet und statt <strong>de</strong>ssen Knechtsgestalt<br />

angenommen. Seine Worte und Taten aber bezeugten wer er wirklich war. Alle, <strong>de</strong>ren Herzen<br />

<strong>de</strong>r göttlichen Erleuchtung geöffnet waren, erkannten in ihm <strong>de</strong>n eingeborenen Sohn „vom<br />

Vater, voller Gna<strong>de</strong> und Wahrheit“. Johannes 1,14.<br />

Das Vorurteil <strong>de</strong>r Pharisäer lag tiefer, als aus ihren Fragen hervorging, es wurzelte in <strong>de</strong>r<br />

Ver<strong>de</strong>rbtheit ihrer Herzen. Je<strong>de</strong>s Wort und je<strong>de</strong> Tat Jesu rief in ihnen Wi<strong>de</strong>rstand hervor; <strong>de</strong>nn<br />

<strong>de</strong>r Geist, <strong>de</strong>n sie hegten, fand bei ihm keinen Wi<strong>de</strong>rhall. „Nur <strong>de</strong>r kann zu mir kommen, <strong>de</strong>n<br />

<strong>de</strong>r Vater, <strong>de</strong>r mich gesandt hat, zu mir führt. Und ich wer<strong>de</strong> je<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r zu mir kommt, am<br />

letzten Tag vom Tod erwecken. <strong>Die</strong> Propheten haben geschrieben: ‚Gott selbst wird sie alle<br />

unterweisen. Wer <strong>de</strong>n Vater hört und von ihm lernt, <strong>de</strong>r kommt zu mir.‘“ Johannes 6,44.45<br />

(GN). Niemand wird je zu Christus kommen, <strong>de</strong>r nicht darauf eingeht, daß die Liebe <strong>de</strong>s Vaters<br />

uns zu ihm führt. Gott zieht alle Herzen zu sich. Nur wer <strong>de</strong>m Wi<strong>de</strong>rstand leistet, weigert sich,<br />

zu Christus zu kommen.<br />

Mit <strong>de</strong>n Worten: „Gott selbst wird sie alle unterweisen“ bezog sich Jesus auf die Weissagung<br />

<strong>de</strong>s Jesaja: „Alle <strong>de</strong>ine Söhne sind Jünger <strong>de</strong>s Herrn, und großen Frie<strong>de</strong>n haben <strong>de</strong>ine<br />

Söhne.“ Jesaja 54,13. <strong>Die</strong>ses Schriftwort wandten die Ju<strong>de</strong>n auf sich an. Sie rühmten sich damit,<br />

daß Gott ihr Lehrer sei. Jesus aber wies ihnen nach, wie vergeblich solch ein Anspruch ist; <strong>de</strong>nn<br />

er sagte: „Wer <strong>de</strong>n Vater hört und von ihm lernt, <strong>de</strong>r kommt zu mir.“ Johannes 6,44.45 (GN).<br />

Nur durch Christus konnten sie Kenntnis über <strong>de</strong>n Vater erlangen. <strong>Die</strong> menschliche Natur<br />

konnte die Erscheinung seiner Herrlichkeit nicht ertragen. Wer von Gott gelernt hatte, lauschte<br />

<strong>de</strong>r Stimme <strong>de</strong>s Sohnes und erkannte in Jesus von Nazareth <strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r durch sein Wesen und<br />

durch Offenbarung <strong>de</strong>n Vater darstellte.<br />

„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer an mich glaubt, <strong>de</strong>r hat das ewige Leben.“ Johannes<br />

6,47. Johannes, <strong>de</strong>r Lieblingsjünger, hatte diesen Worten gelauscht; durch ihn erklärte <strong>de</strong>r<br />

Heilige Geist <strong>de</strong>n Gemein<strong>de</strong>n: „Das ist das Zeugnis, daß uns Gott das ewige Leben gegeben hat,<br />

und solches Leben ist in seinem Sohn. Wer <strong>de</strong>n Sohn hat, <strong>de</strong>r hat das Leben.“ 1.Johannes<br />

5,11.12. Jesus versprach: „Ich wer<strong>de</strong> ihn auferwecken am Jüngsten Tage.“ Johannes 6,44.<br />

Christus wur<strong>de</strong> eins mit uns im Fleisch, damit wir im Geiste eins wür<strong>de</strong>n mit ihm. Kraft dieses<br />

Einsseins wer<strong>de</strong>n wir aus <strong>de</strong>m Grabe wie<strong>de</strong>r hervorkommen, nicht nur als Bekundung <strong>de</strong>r<br />

Macht <strong>Christi</strong>, son<strong>de</strong>rn weil durch <strong>de</strong>n Glauben sein Leben zu <strong>de</strong>m unsrigen wur<strong>de</strong>. Wer das<br />

wahre Wesen <strong>Christi</strong> erkennt und ihn in seinem Herzen aufnimmt, hat das ewige Leben. Durch<br />

260


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

<strong>de</strong>n Geist wohnt Christus in uns, und <strong>de</strong>r Geist Gottes, <strong>de</strong>n unser Herz im Glauben empfängt, ist<br />

<strong>de</strong>r Beginn <strong>de</strong>s ewigen Lebens.<br />

Das Volk hatte Christus auf das Manna hingewiesen, das ihre Vorfahren in <strong>de</strong>r Wüste<br />

gegessen hatten, als wäre die Gewährung dieser Speise ein größeres Wun<strong>de</strong>r gewesen als das,<br />

was Jesus getan hatte. Er aber zeigte, wie beschei<strong>de</strong>n diese Gabe war im Vergleich zu <strong>de</strong>n<br />

Segnungen, die er schenken wollte. Das Manna konnte nur die irdische Existens sichern. Es<br />

konnte we<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Tod verhin<strong>de</strong>rn noch Unsterblichkeit gewährleisten. Das Himmelsbrot<br />

dagegen sollte die Seele nähren und ihr zum ewigen Leben verhelfen. Der Heiland sagte<br />

<strong>de</strong>shalb: „Ich bin das Brot <strong>de</strong>s Lebens. Eure Väter haben das Manna gegessen in <strong>de</strong>r Wüste und<br />

sind gestorben. <strong>Die</strong>s ist das Brot, das vom Himmel kommt, auf daß, wer davon isset, nicht<br />

sterbe. Ich bin das lebendige Brot, vom Himmel gekommen. Wer von diesem Brot essen wird,<br />

<strong>de</strong>r wird leben in Ewigkeit.“ Johannes 6,48-51. <strong>Die</strong>sem Bild fügt Christus noch ein weiteres<br />

hinzu. Nur durch Sterben konnte er <strong>de</strong>n Menschen Leben schenken, und mit <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n<br />

Worten nennt er seinen Tod das Mittel <strong>de</strong>r Erlösung; <strong>de</strong>nn er sagt: „Und das Brot, das ich geben<br />

wer<strong>de</strong>, das ist mein Fleisch, welches ich geben wer<strong>de</strong> für das Leben <strong>de</strong>r Welt.“ Johannes 6,51.<br />

<strong>Die</strong> Ju<strong>de</strong>n wollten gera<strong>de</strong> in Jerusalem das Passahfest begehen zur Erinnerung an die Nacht<br />

<strong>de</strong>r Befreiung Israels, in welcher <strong>de</strong>r To<strong>de</strong>sengel die Familien <strong>de</strong>r Ägypter heimsuchte. Nach<br />

<strong>de</strong>m Willen Gottes sollten sie im Passahlamm das Lamm Gottes sehen und in diesem Bild jenen<br />

annehmen, <strong>de</strong>r sich selbst für das Leben <strong>de</strong>r Welt hingab. <strong>Die</strong> Ju<strong>de</strong>n aber hatten das Sinnbild<br />

zur höchsten Be<strong>de</strong>utung erhoben und verstan<strong>de</strong>n seinen Sinn nicht mehr. Daher erkannten sie in<br />

ihm nicht <strong>de</strong>n Leib <strong>de</strong>s Herrn. <strong>Die</strong> gleiche Wahrheit, die das Passahfest versinnbil<strong>de</strong>te, wur<strong>de</strong><br />

auch von Christus gelehrt. Aber sie wur<strong>de</strong> noch immer nicht begriffen. Doch jetzt riefen die<br />

Rabbiner ärgerlich aus: „Wie kann dieser uns sein Fleisch zu essen geben?“ Johannes 6,52. Sie<br />

taten so, als verstün<strong>de</strong>n sie seine Worte in <strong>de</strong>m gleichen buchstäblichen Sinne wie Niko<strong>de</strong>mus,<br />

als dieser fragte: „Wie kann ein Mensch geboren wer<strong>de</strong>n, wenn er alt ist?“ Johannes 3,4. Bis zu<br />

einem gewissen Gra<strong>de</strong> begriffen sie, was Jesus meinte, sie wollten es aber nicht zugeben.<br />

Bewußt <strong>de</strong>uteten sie seine Worte falsch in <strong>de</strong>r Hoffnung, das Volk gegen ihn aufzubringen.<br />

Christus mil<strong>de</strong>rte <strong>de</strong>nnoch seine sinnbildliche Darstellung nicht etwa ab, er wie<strong>de</strong>rholte die<br />

Wahrheit vielmehr mit noch kraftvolleren Worten: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer<strong>de</strong>t<br />

ihr nicht essen das Fleisch <strong>de</strong>s Menschensohnes und trinken sein Blut, so habt ihr kein Leben in<br />

euch. Wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, <strong>de</strong>r hat das ewige Leben, und ich wer<strong>de</strong> ihn<br />

am Jüngsten Tage auferwecken. Denn mein Fleisch ist die rechte Speise, und mein Blut ist <strong>de</strong>r<br />

rechte Trank. Wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, <strong>de</strong>r bleibt in mir und ich in<br />

ihm.“ Johannes 6,53-56.<br />

<strong>Christi</strong> Fleisch zu essen und sein Blut zu trinken heißt, ihn als persönlichen Heiland<br />

anzunehmen sowie daran zu glauben, daß er uns unsere Sün<strong>de</strong>n vergibt und daß wir in ihm<br />

vollkommen sind. Wenn wir mit seiner Liebe verbun<strong>de</strong>n sind, in ihr bleiben, sie in uns<br />

aufnehmen, dann wer<strong>de</strong>n wir seiner Natur teilhaftig. Was die Speise für <strong>de</strong>n Körper be<strong>de</strong>utet,<br />

das be<strong>de</strong>utet Christus für unser Herz. Nahrung nützt uns nichts, wenn wir sie nicht essen und sie<br />

dadurch nicht zu einem Bestandteil unseres Leibes wird. Genauso ist Christus für uns wertlos,<br />

261


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

wenn wir ihn nicht als unsern persönlichen Heiland anerkennen. Eine bloße theoretische<br />

Kenntnis wird uns nichts nützen, wir müssen vielmehr von ihm leben, ihn in unser Herz<br />

aufnehmen, so daß sein Leben unser Leben wird. Seiner Liebe und Gna<strong>de</strong> müssen wir ähnlich<br />

wer<strong>de</strong>n.<br />

Doch auch diese Bil<strong>de</strong>r stellen das beson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>r Beziehungen <strong>de</strong>s gläubigen Menschen zu<br />

Christus nur ungenügend dar. Christus sagte: „Wie mich gesandt hat <strong>de</strong>r lebendige Vater und<br />

ich lebe um <strong>de</strong>s Vaters willen, so wird auch, wer mich isset, leben um meinetwillen.“ Johannes<br />

6,57. Wie <strong>de</strong>r Sohn Gottes durch seinen Glauben an <strong>de</strong>n Vater lebte, so sollen auch wir durch<br />

<strong>de</strong>n Glauben an Christus leben. Jesus hatte sich <strong>de</strong>m Willen Gottes so völlig ausgeliefert, daß<br />

allein <strong>de</strong>r Vater in seinem Leben sichtbar wur<strong>de</strong>. Obwohl er in allen Dingen genauso versucht<br />

wur<strong>de</strong> wie wir, sah ihn die Welt unbeeinträchtigt von <strong>de</strong>m Bösen, das ihn umgab. Auch wir<br />

sollen in <strong>de</strong>m gleichen Maße überwin<strong>de</strong>n wie Christus. Bist du ein Nachfolger <strong>Christi</strong>? Wenn<br />

ja, dann ist alles, was über das geistliche Leben geschrieben steht, für dich geschrieben. Du<br />

kannst es erlangen, wenn du dich mit Jesus vereinst. Läßt <strong>de</strong>in Eifer nach? Ist <strong>de</strong>ine erste Liebe<br />

erkaltet? Dann nimm wie<strong>de</strong>rum die Liebe an, die Christus dir anbietet. Iß sein Fleisch und<br />

trinke sein Blut, und du wirst mit <strong>de</strong>m Vater und <strong>de</strong>m Sohne eins wer<strong>de</strong>n.<br />

<strong>Die</strong> ungläubigen Ju<strong>de</strong>n wollten die Worte <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s nur wörtlich verstan<strong>de</strong>n wissen. Das<br />

Zeremonialgesetz verbot ihnen <strong>de</strong>n Blutgenuß. Sie legten daher <strong>Christi</strong> Re<strong>de</strong> als eine Lästerung<br />

aus und stritten sich untereinan<strong>de</strong>r darüber. Sogar viele Jünger erklärten: „Das ist eine harte<br />

Re<strong>de</strong>; wer kann sie hören?“ Johannes 6,60. Der Heiland antwortete ihnen: „Ist euch das ein<br />

Ärgernis? Wie wenn ihr nun sehen wer<strong>de</strong>t <strong>de</strong>s Menschen Sohn auffahren dahin, wo er zuvor<br />

war? Der Geist ist‘s, <strong>de</strong>r da lebendig macht; das Fleisch ist nichts nütze.“ Johannes 6,61-63.<br />

Das Leben, das Christus <strong>de</strong>r Welt schenkt, ist in seinem Wort enthalten. Durch sein Wort<br />

heilte Jesus Kranke und trieb Dämonen aus. Durch sein Wort stillte er <strong>de</strong>n Sturm und weckte<br />

Tote auf. <strong>Die</strong> Menschen bezeugten, daß sein Wort voller Kraft war. Er sprach Gottes Wort, wie<br />

er es durch die Propheten und Lehrer <strong>de</strong>s Alten Testaments gesprochen hatte. <strong>Die</strong> ganze Bibel<br />

ist eine Offenbarung <strong>Christi</strong>, und <strong>de</strong>r Heiland wollte <strong>de</strong>n Glauben seiner Nachfolger <strong>de</strong>shalb an<br />

das Wort bin<strong>de</strong>n. Wenn er nicht mehr sichtbar unter ihnen weilte, dann sollte das Wort ihr<br />

Kraftquell sein. Wie ihr Meister, so sollten auch sie leben „von einem jeglichen Wort, das durch<br />

<strong>de</strong>n Mund Gottes geht“. Matthäus 4,4. Wie unser Körper durch Nahrung am Leben erhalten<br />

wird, so unser geistliches Leben durch Gottes Wort. Je<strong>de</strong>s Menschenherz soll aus <strong>de</strong>m Wort<br />

Gottes für sich selbst Leben empfangen. Wie wir um unser selbst willen essen müssen, um<br />

ernährt zu wer<strong>de</strong>n, so müssen wir uns auch Gottes Wort aus freiem Antrieb zu eigen machen.<br />

Wir sollen es nicht bloß durch die Vermittlung an<strong>de</strong>rer Menschen empfangen, son<strong>de</strong>rn<br />

sorgfältig die Bibel erforschen und Gott um die Hilfe <strong>de</strong>s Heiligen Geistes anflehen, damit wir<br />

sein Wort auch verstehen. Wir sollten uns einen Vers vornehmen und uns ernsthaft bemühen,<br />

<strong>de</strong>n Gedanken zu erfassen, <strong>de</strong>n Gott für uns dort hineingelegt hat. Bei diesem Gedanken sollten<br />

wir so lange verweilen, bis wir ihn ganz in uns aufgenommen haben und wir wissen, was <strong>de</strong>r<br />

Herr sagt. Mit seinen Verheißungen und Warnungen wen<strong>de</strong>t sich Jesus ganz persönlich an<br />

mich. Gott liebte die Welt so sehr, „Daß er seinen eingebornen Sohn gab“, damit auch ich an<br />

262


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

ihn glaube und nicht verlorengehe, son<strong>de</strong>rn das ewige Leben erlange. Johannes 3,16. <strong>Die</strong><br />

Erfahrungen, die das Wort Gottes berichtet, sollen meine Erfahrungen wer<strong>de</strong>n. Gebet und<br />

Verheißung, Gebot und Warnung gehen mich ganz persönlich an. „Ich bin mit Christus<br />

gekreuzigt. Ich lebe; doch nun nicht ich, son<strong>de</strong>rn Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe<br />

im Fleisch, das lebe ich im Glauben an <strong>de</strong>n Sohn Gottes, <strong>de</strong>r mich geliebt hat und sich selbst für<br />

mich dargegeben.“ Galater 2,19.20. Wer<strong>de</strong>n so im Glauben die Grundsätze <strong>de</strong>r Wahrheit<br />

aufgenommen und sich angeeignet, dann wer<strong>de</strong>n sie zu einem Wesensbestandteil <strong>de</strong>s Menschen<br />

und zur bewegen<strong>de</strong>n Kraft seines Lebens. Das Wort Gottes, das ins Herz eindringt, formt die<br />

Gedanken und gestaltet die Charakterentwicklung.<br />

Schauen wir mit Augen <strong>de</strong>s Glaubens beständig auf Jesus, dann wer<strong>de</strong>n wir stark wer<strong>de</strong>n.<br />

Gott wird seinem hungern<strong>de</strong>n und dürsten<strong>de</strong>n Volk die herrlichsten Offenbarungen schenken<br />

und es erfahren lassen, dass Christus ein persönlicher Erlöser ist. Alle, die sein Wort in sich<br />

aufnehmen, merken bald, dass es Geist und Leben ist. Das Wort überwin<strong>de</strong>t (engl.: zerstört) die<br />

irdische Natur und verleiht in Jesus Christus neues Leben. Der Heilige Geist naht sich <strong>de</strong>r Seele<br />

als Tröster. Durch die umwan<strong>de</strong>lbare Macht <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong> wird das Ebenbild Gottes im Jünger<br />

Jesu wie<strong>de</strong>rhergestellt, er wird „eine neue Kreatur“. <strong>Die</strong> Liebe verdrängt <strong>de</strong>n Haß, und das Herz<br />

wird <strong>de</strong>m göttlichen Herzen ähnlich. Das ist eingeschlossen in <strong>de</strong>m Wort: „Der Mensch lebt ...<br />

von einem jeglichen Wort, das aus <strong>de</strong>m Mund Gottes geht.“ Das auch be<strong>de</strong>utet es, das Brot zu<br />

essen, das von Himmel kommt.<br />

Christus hatte über die Beziehung zwischen ihm und seinen Nachfolgern eine heilige und<br />

ewige Wahrheit ausgesprochen. Er wußte, wie jene, die <strong>de</strong>n Anspruch erhoben, seine Jünger zu<br />

sein, beschaffen waren. Seine Worte stellten ihren Glauben auf die Probe. Er teilte ihnen mit,<br />

daß sie glauben und sich nach seinen Lehren richten sollten. Wer immer ihn aufnahm, <strong>de</strong>r sollte<br />

von seinem Wesen und seinem Charakter erfüllt wer<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong>s aber hieß, daß sie ihre<br />

Lieblingsneigungen aufgeben mußten. Dazu gehörte ferner die völlige Übergabe <strong>de</strong>s eigenen<br />

Ichs an Jesus. So wur<strong>de</strong>n sie aufgerufen, aufopferungsvoll, beschei<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>mütig zu sein. Sie<br />

sollten — wie <strong>de</strong>r Mann von Golgatha — <strong>de</strong>n schmalen Weg gehen, wenn sie die Gabe <strong>de</strong>s<br />

ewigen Lebens und die Herrlichkeit <strong>de</strong>s Himmels empfangen wollten.<br />

<strong>Die</strong>se Prüfung war zu schwer. <strong>Die</strong> Begeisterung <strong>de</strong>r Menschen, die ihn gewaltsam entführen<br />

und zum König machen wollten, erkaltete. <strong>Die</strong>se Unterredung in <strong>de</strong>r Synagoge, so erklärten sie,<br />

habe ihnen die Augen geöffnet. Jetzt seien sie eines Besseren belehrt wor<strong>de</strong>n. Für sie waren<br />

seine Worte gera<strong>de</strong>zu das Eingeständnis, daß er nicht <strong>de</strong>r Messias sei und daß aus einer<br />

Verbindung mit ihm kein irdischer Gewinn erwachsen könne. Seine Wun<strong>de</strong>r wirken<strong>de</strong> Kraft<br />

hatten sie begrüßt; sie waren froh, von Krankheit und Leid befreit zu wer<strong>de</strong>n. An seinem<br />

aufopfern<strong>de</strong>n Leben wollten sie jedoch nicht teilhaben. Sie kümmerten sich auch nicht um das<br />

geheimnisvolle geistliche Reich, von <strong>de</strong>m er sprach. <strong>Die</strong> unaufrichtigen und selbstsüchtigen<br />

Menschen, die zu ihm gekommen waren, hatten kein Verlangen mehr nach ihm. Falls er seine<br />

Macht und seinen Einfluß nicht dazu verwen<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>, sie von <strong>de</strong>n Römern zu befreien, dann<br />

wollten sie mit ihm nichts mehr zu tun haben.<br />

263


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Jesus sagte ihnen unmißverständlich: „Es sind etliche unter euch die glauben nicht.“ Und er<br />

fügte hinzu: „Darum habe ich euch gesagt: Niemand kann zu mir kommen, es sei ihm <strong>de</strong>nn von<br />

meinem Vater gegeben.“ Johannes 6,64.65. Sie sollten begreifen, daß sie sich <strong>de</strong>shalb nicht zu<br />

ihm hingezogen fühlten, weil ihre Herzen <strong>de</strong>m Heiligen Geist nicht aufgetan waren: „Der<br />

natürliche Mensch ... vernimmt nichts vom Geist Gottes; es ist ihm eine Torheit, und er kann es<br />

nicht erkennen; <strong>de</strong>nn es muß geistlich verstan<strong>de</strong>n sein.“ 1.Korinther 2,14. Nur im Glauben<br />

erschaut die Seele die Herrlichkeit Jesu, eine Herrlichkeit, die ihr so lange verborgen bleibt, bis<br />

durch <strong>de</strong>n Heiligen Geist <strong>de</strong>r Glaube im Herzen entzün<strong>de</strong>t ist. Durch die öffentliche<br />

Zurechtweisung ihres Unglaubens wur<strong>de</strong>n diese Jünger Jesus noch mehr entfrem<strong>de</strong>t. Sie waren<br />

außeror<strong>de</strong>ntlich ungehalten. Aus <strong>de</strong>m Wunsch heraus, <strong>de</strong>n Heiland zu kränken und <strong>de</strong>r Bosheit<br />

<strong>de</strong>r Pharisäer gefällig zu sein, wandten sie ihm <strong>de</strong>n Rücken und verließen ihn voller<br />

Verachtung. Sie hatten ihre Wahl getroffen und sich <strong>de</strong>r Form ohne Geist, <strong>de</strong>r Hülse ohne Kern<br />

zugewen<strong>de</strong>t. Ihren Entschluß haben sie später nicht wie<strong>de</strong>r rückgängig gemacht; <strong>de</strong>nn sie<br />

„wan<strong>de</strong>lten hinfort nicht mehr mit ihm“. Johannes 6,66.<br />

„Er hat seine Worfschaufel in <strong>de</strong>r Hand; er wird seine Tenne fegen und <strong>de</strong>n Weizen in seine<br />

Scheune sammeln.“ Matthäus 3,12. Jetzt war solch eine Zeit <strong>de</strong>r Reinigung gekommen. <strong>Die</strong><br />

Worte <strong>de</strong>r Wahrheit trennten die Spreu vom Weizen. Viele wandten sich jetzt von Jesus ab, weil<br />

sie zu eitel und zu selbstgerecht waren und allzusehr die Welt liebten, um ein Leben <strong>de</strong>r Demut<br />

auf sich zu nehmen. Auch heute verhalten sich viele Menschen so. Auch heute wer<strong>de</strong>n Mensch<br />

so geprüft wie damals die Jünger in <strong>de</strong>r Synagoge zu Kapernaum. Wenn ihnen die Wahrheit<br />

nahegebracht wird, so erkennen sie, daß ihr Leben nicht mit <strong>de</strong>m Willen Gottes übereinstimmt.<br />

Sie begreifen zwar, daß sie sich von Grund auf än<strong>de</strong>rn müßten, sind aber nicht bereit, diese<br />

selbstverleugnen<strong>de</strong> Aufgabe auszuführen. Deshalb ärgern sie sich, wenn ihre Sün<strong>de</strong>n<br />

aufge<strong>de</strong>ckt wer<strong>de</strong>n. Beleidigt wen<strong>de</strong>n sie sich ab, wie damals die Jünger, und murren dabei:<br />

„Das ist eine harte Re<strong>de</strong>; wer kann sie hören?“ Johannes 6,60.<br />

Lob und Schmeichelei wür<strong>de</strong>n ihnen zusagen, die Wahrheit aber ist ihnen nicht willkommen;<br />

sie können sie nicht ertragen. Wenn die Menge nachfolgt, wenn sie gesättigt wird und<br />

Triumphgeschrei ertönt, dann schreit sie ihr Lob mit lauter Stimme hinaus. Sobald aber Gottes<br />

Geist die Volksmenge durchforscht, ihre Sün<strong>de</strong>n offenbart und sie auffor<strong>de</strong>rt, die Sün<strong>de</strong>n<br />

abzulegen, dann kehrt sie <strong>de</strong>r Wahrheit <strong>de</strong>n Rücken und folgt Jesus nicht mehr nach. Als diese<br />

unzufrie<strong>de</strong>nen Jünger sich von Christus abwandten, überkam sie ein an<strong>de</strong>rer Geist. Ihn, <strong>de</strong>r<br />

ihnen einst so anziehend erschienen war, fan<strong>de</strong>n sie nicht mehr fesselnd. Sie suchten jetzt seine<br />

Fein<strong>de</strong> auf; <strong>de</strong>nn mit ihnen stimmten sie nun in Gesinnung und Haltung überein. Sie<br />

miß<strong>de</strong>uteten seine Worte, verfälschten seine Aussagen und bestritten seine Beweggrün<strong>de</strong>. Ja,<br />

sie unterstützen dies dadurch, daß sie alles sammelten, was gegen ihn verwen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n<br />

konnte. Durch diese falschen Berichte wur<strong>de</strong> eine Empörung erzeugt, die sein Leben<br />

gefähr<strong>de</strong>te.<br />

Rasch verbreitete sich die Nachricht, daß Jesus selbst bezeugt habe, nicht <strong>de</strong>r Messias zu<br />

sein. Dadurch entstand in Galiläa eine allgemeine Stimmung gegen ihn wie ein Jahr zuvor in<br />

Judäa. Wehe <strong>de</strong>m Volke Israel! Es verwarf seinen Erlöser, weil es nach einem Eroberer<br />

264


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Ausschau hielt, <strong>de</strong>r ihm irdische Macht verleihen sollte. Es wünschte sich Speise, die<br />

vergänglich ist, nicht aber Speise, „die für das ewige Leben vorhält“. Johannes 6,27. Wehen<br />

Herzens sah Jesus jene, die bisher seine Nachfolger gewesen waren, sich von ihm, <strong>de</strong>m Leben<br />

und Licht <strong>de</strong>r Menschen, abwen<strong>de</strong>n. Das Bewußtsein, daß man sein Mitleid nicht schätzte, seine<br />

Liebe nicht erwi<strong>de</strong>rte, seine Gna<strong>de</strong> verachtete und seine Erlösung ablehnte, erfüllte ihn mit<br />

unsäglicher Sorge. <strong>Die</strong>se Entwicklung machte ihn zu einem Mann <strong>de</strong>r Schmerzen, <strong>de</strong>r mit<br />

Kummer vertraut war.Ohne jene daran zu hin<strong>de</strong>rn, die ihn verließen, wandte sich Jesus <strong>de</strong>n<br />

Zwölfen zu mit <strong>de</strong>r Frage: „Wollt ihr auch weggehen?“ Johannes 6,67.<br />

Petrus antwortete ihm mit <strong>de</strong>r Gegenfrage: „Herr, wohin sollen wir gehen? Du hast Worte<br />

<strong>de</strong>s ewigen Lebens.“ Und er fügte hinzu: „Wir haben geglaubt und erkannt, daß du bist <strong>de</strong>r<br />

Heilige Gottes.“ Johannes 6,68.69. „Wohin sollen wir gehen?“ <strong>Die</strong> Lehrer Israels hingen <strong>de</strong>m<br />

bloßen Formenwesen sklavisch an. <strong>Die</strong> Pharisäer und Sadduzäer lagen miteinan<strong>de</strong>r in<br />

ständigem Streit. Wer Jesus verließ, geriet damit unter Eiferer für Bräuche und Zeremonien<br />

sowie unter ehrgeizige Menschen, die nur ihren eigenen Ruhm suchten. <strong>Die</strong> Jünger hatten, seit<br />

sie Christus angenommen hatten, mehr Frie<strong>de</strong> und Freu<strong>de</strong> empfun<strong>de</strong>n als in ihrem ganzen<br />

Leben zuvor. Wie sollten sie sich nun <strong>de</strong>nen wie<strong>de</strong>r zuwen<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>n Freund <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>r<br />

verachteten und verfolgten? Schon lange hatten sie nach <strong>de</strong>m Messias Ausschau gehalten. Jetzt<br />

war er endlich erschienen, und sie konnten sich nicht von ihm ab- und <strong>de</strong>nen zuwen<strong>de</strong>n, die ihm<br />

nach <strong>de</strong>m Leben trachteten und sie selbst verfolgt hatten, weil sie seine Jünger gewor<strong>de</strong>n<br />

waren.<br />

„Wohin sollen wir gehen?“ Auf keinen Fall fort von <strong>de</strong>n Lehren <strong>Christi</strong>, von seinen<br />

Beispielen <strong>de</strong>r Liebe und Gna<strong>de</strong> und hin zur Finsternis <strong>de</strong>s Unglaubens und zur Schlechtigkeit<br />

<strong>de</strong>r Welt! Der Heiland wur<strong>de</strong> von vielen verlassen, die Zeugen seines Wun<strong>de</strong>rwirkens gewesen<br />

waren. Petrus dagegen drückte <strong>de</strong>n Glauben <strong>de</strong>r Jünger aus: „Du bist <strong>de</strong>r heilige Gottes.“ Der<br />

bloße Gedanke, diesen Anker für ihre Seelen verlieren zu können, verursachte ihnen Furcht und<br />

Schmerz. Ohne Heiland zu sein hieß für sie, auf finsterer, stürmischer See<br />

umherzutreiben. Viele Worte und Taten Jesu erscheinen <strong>de</strong>m begrenzten Verstand<br />

geheimnisvoll; aber je<strong>de</strong>s Wort und je<strong>de</strong> Tat diente einer ganz bestimmten Absicht im<br />

Erlösungswerk und sollte ein beson<strong>de</strong>res Ergebnis zeitigen. Wären wir fähig, Jesu Absichten zu<br />

begreifen, dann erschiene uns alles wichtig, vollkommen und in Übereinstimmung mit seiner<br />

Sendung. Während wir jetzt das Han<strong>de</strong>ln Gottes und seine Wege noch nicht zu begreifen<br />

vermögen, können wir <strong>de</strong>nnoch seine große Liebe wahrnehmen, die all seinem Han<strong>de</strong>ln am<br />

Menschen zugrun<strong>de</strong> liegt. Wer in <strong>de</strong>r Nähe Jesu lebt, <strong>de</strong>r versteht vieles vom Geheimnis <strong>de</strong>r<br />

Gottseligkeit. Er wird die Gna<strong>de</strong> anerkennen, die Verweise erteilt, das Wesen <strong>de</strong>s Menschen<br />

prüft und das Trachten seines Herzens ans Licht bringt.<br />

Als Jesus diese Prüfung durch die Wahrheit vornahm, die so viele seiner Jünger veranlaßte,<br />

sich abzuwen<strong>de</strong>n, war er sich vorher darüber im klaren, daß dies das Ergebnis seiner Worte sein<br />

wür<strong>de</strong>. Dennoch hatte er sein Gna<strong>de</strong>nwirken zu erfüllen. Er sah voraus, daß je<strong>de</strong>r seiner<br />

geliebten Jünger in <strong>de</strong>r Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Versuchung eine schwere Prüfung zu bestehen haben wür<strong>de</strong>.<br />

Sein To<strong>de</strong>skampf in Gethsemane, <strong>de</strong>r Verrat an ihm und seine Kreuzigung mußten für sie eine<br />

265


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

überaus schwere Prüfung sein. Wür<strong>de</strong> es zuvor keine Erprobung gegeben haben, dann hätten<br />

sich viele aus selbstsüchtigen Beweggrün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>m Jüngerkreis angeschlossen. Als <strong>de</strong>r Herr in<br />

<strong>de</strong>r Gerichtshalle verurteilt wur<strong>de</strong>, als die Volksmenge, die ihm als König zugejubelt hatte, ihn<br />

auszischte und schmähte, als die höhnen<strong>de</strong> Schar schrie: „Kreuzige ihn!“, weil ihr weltlicher<br />

Ehrgeiz enttäuscht wor<strong>de</strong>n war, hätten diese selbstsüchtigen Nachfolger Jesu die Treue<br />

aufgekündigt und dadurch die wahren Jünger zusätzlich zu <strong>de</strong>ren Kummer und Enttäuschung<br />

über <strong>de</strong>n Zusammenbruch ihrer schönsten Hoffnungen noch in bittere, belasten<strong>de</strong> Sorge<br />

gestürzt. In jener dunklen Stun<strong>de</strong> hätte das Verhalten jener, die sich von ihm abwandten, an<strong>de</strong>re<br />

mitziehen können. Jesus führte <strong>de</strong>shalb die Entscheidung herbei, solange er durch seine<br />

Anwesenheit <strong>de</strong>n Glauben seiner wahren Nachfolger stärken konnte.<br />

Als mitleidsvoller Erlöser, <strong>de</strong>r genau wußte, welch Geschick auf ihn zukam, ebnete er voller<br />

Mitgefühl <strong>de</strong>n Weg für seine Jünger. Er bereitete sie auf die abschließen<strong>de</strong> Versuchung vor und<br />

stärkte sie damit für die letzte Prüfung.<br />

266


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 42: Überlieferungen<br />

<strong>Die</strong> Pharisäer und Schriftgelehrten, die Jesus auf <strong>de</strong>m Passahfest zu sehen hofften, hatten<br />

ihm eine Falle gestellt. Doch Christus kannte ihre Absichten und blieb <strong>de</strong>r Versammlung fern.<br />

Da er nicht zu ihnen ging, „kamen zu Jesus Pharisäer und Schriftgelehrte“. Matthäus 15,1.<br />

Kurze Zeit schien es, als ob die Galiläer Jesus als <strong>de</strong>n Messias annehmen wür<strong>de</strong>n und die Macht<br />

<strong>de</strong>r Priesterherrschaft in jener Gegend gebrochen wer<strong>de</strong>n sollte. Der Auftrag <strong>de</strong>r Zwölf, <strong>de</strong>r die<br />

Aus<strong>de</strong>hnung <strong>de</strong>s Werkes <strong>Christi</strong> anzeigte und die Jünger unmittelbar mit <strong>de</strong>n Rabbinern in<br />

Berührung brachte, erregte aufs neue die Eifersucht <strong>de</strong>r führen<strong>de</strong>n Männer in Jerusalem. Ihre<br />

Spione, die von ihnen zu Beginn <strong>de</strong>s irdischen <strong>Die</strong>nstes <strong>Christi</strong> nach Kapernaum gesandt<br />

wor<strong>de</strong>n waren und die versucht hatten, <strong>de</strong>n Heiland wegen Übertretung <strong>de</strong>s Sabbats anzuklagen,<br />

waren verwirrt wor<strong>de</strong>n. Trotz<strong>de</strong>m zeigten sich die Rabbiner entschlossen, ihr Vorhaben<br />

durchzuführen. Es wur<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>re Abgeordnete ausgesandt, um Jesu Tun und Treiben zu<br />

beobachten und irgen<strong>de</strong>ine Beschuldigung gegen ihn zu fin<strong>de</strong>n.<br />

Abermals wur<strong>de</strong> die Nichtbeachtung <strong>de</strong>r überlieferten Vorschriften, mit <strong>de</strong>nen das Gesetz<br />

Gottes belastet wor<strong>de</strong>n war, Grund zur Klage gegen ihn. <strong>Die</strong>se Satzungen waren angeblich dazu<br />

bestimmt, die Beachtung <strong>de</strong>s Gesetzes zu schützen, wur<strong>de</strong>n jedoch über das Gesetz selbst<br />

gestellt. Wenn sie aber mit <strong>de</strong>n Zehn Geboten in Wi<strong>de</strong>rspruch gerieten, wur<strong>de</strong>n die Vorschriften<br />

<strong>de</strong>r Rabbiner vorgezogen. Eine <strong>de</strong>r strengsten Vorschriften war die zeremonielle Reinigung. <strong>Die</strong><br />

vor <strong>de</strong>m Essen zu beachten<strong>de</strong>n Formen zu vernachlässigen, galt als schwere Sün<strong>de</strong>, die sowohl<br />

in dieser als auch in <strong>de</strong>r zukünftigen Welt bestraft wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>. Man hielt es für eine Tugend,<br />

<strong>de</strong>n Übertreter solcher Verordnungen unschädlich zu machen. <strong>Die</strong> Reinigungsverordnungen<br />

waren sehr zahlreich. Ein ganzes Menschenleben reichte kaum aus, um sie alle kennenzulernen.<br />

Das Leben <strong>de</strong>rer, die ernstlich versuchten, <strong>de</strong>n Anfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Rabbiner nachzukommen,<br />

war ein einziger Kampf gegen zeremonielle Verunreinigung, eine endlose Reihe von<br />

Waschungen und Reinigungen. Während das Volk sich mit all <strong>de</strong>n unbe<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n<br />

Unterschie<strong>de</strong>n und Vorschriften beschäftigte, die Gott gar nicht verlangte, wur<strong>de</strong> seine<br />

Aufmerksamkeit von <strong>de</strong>n be<strong>de</strong>utsamen Grundsätzen <strong>de</strong>s Gesetzes abgelenkt.<br />

Christus und seine Jünger führten diese zeremoniellen Waschungen nicht aus, und die<br />

Abgesandten <strong>de</strong>r Pharisäer machten diese Vernachlässigung zum Grund ihrer Anklage. Sie<br />

wagten jedoch keinen unverhüllten Angriff auf <strong>de</strong>n Herrn, son<strong>de</strong>rn kamen zu ihm und<br />

beschuldigten seine Jünger. Vor allem Volk fragten sie ihn: „Warum übertreten <strong>de</strong>ine Jünger<br />

die Satzungen <strong>de</strong>r Ältesten? Sie unterlassen die Waschung <strong>de</strong>r Hän<strong>de</strong> vor <strong>de</strong>m<br />

Essen.“ Matthäus 15,2. Wenn die Botschaft <strong>de</strong>r Wahrheit Seelen mit beson<strong>de</strong>rer Kraft ergreift,<br />

regt Satan seine Helfer an, einen Streit über geringfügige Fragen vom Zaune zu brechen, und<br />

sucht auf diese Weise die Aufmerksamkeit von <strong>de</strong>m wirklichen Geschehen abzulenken. Sowie<br />

ein gutes Werk begonnen wird, sind Krittler bereit, über Äußerlichkeiten und Förmlichkeiten zu<br />

streiten, um die Gemüter von <strong>de</strong>n lebendigen Wahrheiten abzubringen. Wenn es <strong>de</strong>n Anschein<br />

hat, als ob Gott auf beson<strong>de</strong>re Weise für sein Volk wirken will, sollte dieses sich nicht verleiten<br />

lassen, auf Streitfragen einzugehen, die er Seele nur zum Ver<strong>de</strong>rben gereichen können. <strong>Die</strong><br />

wichtigsten Fragen für uns sind: Habe ich <strong>de</strong>n seligmachen<strong>de</strong>n Glauben an <strong>de</strong>n Sohn Gottes?<br />

267


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Lebe ich mein Leben in Übereinstimmung mit <strong>de</strong>m Gesetz Gottes? „Wer an <strong>de</strong>n Sohn glaubt,<br />

<strong>de</strong>r hat das ewige Leben. Wer <strong>de</strong>m Sohn nicht glaubt, <strong>de</strong>r wird das Leben nicht<br />

sehen.“ Johannes 3,36. „Und an <strong>de</strong>m merken wir, daß wir ihn kennen, wenn wir seine Gebote<br />

halten.“ 1.Johannes 2,3.<br />

Jesus versuchte nicht, sich o<strong>de</strong>r seine Jünger zu verteidigen; er ging gar nicht auf die<br />

Beschuldigung ein, son<strong>de</strong>rn zeigte nur <strong>de</strong>n Geist, <strong>de</strong>r diese Eiferer für menschliche Satzungen<br />

beseelte. Er zeigte ihnen durch ein Beispiel, was sie schon wie<strong>de</strong>rholt getan und gera<strong>de</strong> jetzt<br />

wie<strong>de</strong>r getan hatten, ehe sie gekommen, ihn zu suchen. Er sagte ihnen: „Gar fein hebt ihr Gottes<br />

Gebot auf, auf daß ihr eure Satzungen haltet. Denn Mose hat gesagt: ‚Du sollst <strong>de</strong>inen Vater<br />

und <strong>de</strong>ine Mutter ehren‘, und: ‚Wer Vater o<strong>de</strong>r Mutter flucht, <strong>de</strong>r soll <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s sterben.‘ Ihr<br />

aber sagt: ‚Wenn einer spricht zu Vater o<strong>de</strong>r Mutter: Korban, das heißt Opfergabe, soll sein,<br />

was dir sollte von mir zukommen, so laßt ihr ihn hinfort nichts tun für seinen Vater o<strong>de</strong>r seine<br />

Mutter.‘“ Markus 7,9-12. Sie setzten das fünfte Gebot als unwichtig beiseite, han<strong>de</strong>lten aber<br />

sehr genau nach <strong>de</strong>n Überlieferungen <strong>de</strong>r Ältesten. <strong>Die</strong> Tempelsteuer bezeichneten sie als eine<br />

Pflicht, die zu erfüllen heiliger sei als die Unterstützung <strong>de</strong>r Eltern; es sei sogar ein Unrecht,<br />

<strong>de</strong>n Eltern etwas von <strong>de</strong>m zu geben, das <strong>de</strong>m Tempel geweiht war. Ein pflichtvergessenes Kind<br />

brauchte nur das Wort „Korban“ über sein Eigentum auszusprechen, so wur<strong>de</strong> es dadurch Gott<br />

geweiht. Es durfte wohl sein Hab und Gut während seiner Lebensdauer für sich verwen<strong>de</strong>n,<br />

aber nach seinem To<strong>de</strong> wur<strong>de</strong> es dann <strong>de</strong>m Tempel zugesprochen. So hatte das Kind stets die<br />

Freiheit, während seines Lebens und nach seinem To<strong>de</strong> die Eltern unter <strong>de</strong>m Deckmantel <strong>de</strong>r<br />

Hingabe an Gott zu entehren und zu betrügen.<br />

Niemals hatte Jesus, we<strong>de</strong>r durch Worte noch durch Taten, die Verpflichtung <strong>de</strong>s Menschen,<br />

<strong>de</strong>m Herrn Opfergaben zu bringen, eingeschränkt, war es doch selbst, <strong>de</strong>r die Anweisungen <strong>de</strong>s<br />

Gesetzes hinsichtlich <strong>de</strong>s Zehnten und <strong>de</strong>r Gaben gegeben hatte. Er lobte auch, als er auf Er<strong>de</strong>n<br />

war, das arme Weib, das alles, was es hatte, in <strong>de</strong>n Gotteskasten legte. Doch <strong>de</strong>r scheinbare<br />

Eifer <strong>de</strong>r Priester und Rabbiner für Gott war nur ein Vorwand, um ihr Verlangen nach<br />

Selbsterhöhung zu ver<strong>de</strong>cken. Das Volk wur<strong>de</strong> dadurch betrogen; es trug schwere Bür<strong>de</strong>n, die<br />

nicht Gott ihm auferlegt hatte. Selbst die Jünger waren nicht gänzlich frei von <strong>de</strong>m Joch, das<br />

durch ererbtes Vorurteil und rabbinische Autorität auf sie gelegt war. In<strong>de</strong>m Jesus <strong>de</strong>n wahren<br />

Geist <strong>de</strong>r Rabbiner zeigte, wollte er alle echten <strong>Die</strong>ner Gottes von <strong>de</strong>r Last <strong>de</strong>r Überlieferungen<br />

befreien.<br />

Den verschlagenen Spähern rief er zu: „Ihr Heuchler, gar fein hat Jesaja von euch geweissagt<br />

und gesprochen: ‚<strong>Die</strong>s Volk ehrt mich mit seinen Lippen, aber ihr Herz ist ferne von mir;<br />

vergeblich dienen sie mir, weil sie lehren solche Lehren, die nichts als Menschengebote<br />

sind.‘“ Matthäus 15,7-9. <strong>Christi</strong> Worte waren eine Anklage gegen das Pharisäertum. Er wies<br />

darauf hin, daß sich die Rabbiner über Gott erhoben hatten, in<strong>de</strong>m sie ihre Gebote über die<br />

göttlichen Verordnungen setzten. <strong>Die</strong> Abgesandten von Jerusalem waren wuterfüllt. Sie<br />

konnten <strong>de</strong>n Herrn nicht als einen Übertreter <strong>de</strong>s mosaischen Gesetzes anklagen; <strong>de</strong>nn er sprach<br />

ja als <strong>de</strong>ssen Verteidiger gegen ihre Überlieferungen. <strong>Die</strong> erhabenen Vorschriften <strong>de</strong>s Gesetzes,<br />

268


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

die er gelehrt hatte, zeigten einen auffallen<strong>de</strong>n Gegensatz zu <strong>de</strong>n kleinlichen Regeln, die sich<br />

Menschen ausgedacht hatten.<br />

Jesus erklärte <strong>de</strong>r Menge und danach beson<strong>de</strong>rs seinen Jüngern, daß die Verunreinigung<br />

nicht von außen, son<strong>de</strong>rn von innen heraus geschehe. Reinheit und Unreinheit betreffen die<br />

Seele: die böse Tat, das böse Wort, <strong>de</strong>r schlechte Gedanke, je<strong>de</strong> Übertretung <strong>de</strong>s Gesetzes<br />

verunreinigten <strong>de</strong>n Menschen, aber nicht die Vernachlässigung äußerlicher, von Menschen<br />

beschlossener Verordnungen. <strong>Die</strong> Jünger bemerkten <strong>de</strong>n Zorn <strong>de</strong>r Kundschafter, als ihre<br />

Falschheit aufge<strong>de</strong>ckt wur<strong>de</strong>. Sie sahen die feindlichen Blicke und hörten, wie sie unzufrie<strong>de</strong>ne<br />

und rachsüchtige Worte murmelten. Sie dachten nicht daran, wie oft ihr Herr schon bewiesen<br />

hatte, daß er in <strong>de</strong>n Herzen <strong>de</strong>r Menschen wie in einem aufgeschlagenen Buch lesen konnte,<br />

und berichteten ihm von <strong>de</strong>r Wirkung seiner Worte. Sie hofften, daß er die aufgebrachten<br />

Beamten Jerusalems beschwichtigen wür<strong>de</strong>, und sagten: „Weißt du auch, daß die Pharisäer an<br />

<strong>de</strong>m Worte Ärgernis nahmen, als sie es hörten?“ Matthäus 15,12.<br />

Jesus antwortete: „Alle Pflanzen, die mein himmlischer Vater nicht gepflanzt hat, die wer<strong>de</strong>n<br />

ausgerissen.“ Matthäus 15,13. <strong>Die</strong> von <strong>de</strong>n Rabbinern so hoch geachteten Gebräuche und<br />

Überlieferungen entstammten dieser Welt und nicht <strong>de</strong>m Himmel. Wie hoch auch ihr Ansehen<br />

beim Volk war, im Urteil Gottes konnten sie nicht bestehen. Alles menschliche Gedankengut,<br />

das die Stelle <strong>de</strong>r Gebote Gottes eingenommen hat, wird an jenem Tage als wertlos angesehen,<br />

da „Gott wird alle Werke vor Gericht bringen, alles, was verborgen ist, es sei gut o<strong>de</strong>r<br />

böse.“ Prediger 12,14.<br />

Noch immer wer<strong>de</strong>n menschliche Weisungen an die Stelle <strong>de</strong>r Gebote Gottes gesetzt; selbst<br />

unter <strong>de</strong>n Christen gibt es Einrichtungen und Gebräuche, die keine bessere Grundlage haben als<br />

die Überlieferungen <strong>de</strong>r Väter. Solche Einrichtungen, die auf rein menschlicher Grundlage<br />

beruhen, haben die göttlichen Bestimmungen verdrängt; die Menschen halten an ihren<br />

Überlieferungen fest, verehren ihre menschliche Gewohnheiten und hassen alle, die ihnen ihren<br />

Irrtum zu beweisen suchen. In dieser Zeit, da wir angehalten sind, an<strong>de</strong>re auf die Gebote Gottes<br />

und <strong>de</strong>n Glauben an Jesus aufmerksam zu machen, erleben wir die gleiche Feindschaft, die sich<br />

zur Zeit <strong>Christi</strong> offenbarte. Es steht geschrieben: „Der Drache, ward zornig über das Weib und<br />

ging hin, zu streiten wi<strong>de</strong>r die übrigen von ihrem Geschlecht, die da Gottes Gebote halten und<br />

haben das Zeugnis Jesu.“ Offenbarung 12,17.<br />

„Alle Pflanzen, die mein himmlischer Vater nicht gepflanzt hat, die wer<strong>de</strong>n<br />

ausgerissen.“ Matthäus 15,13. Gott gebietet uns, an Stelle <strong>de</strong>r Autorität <strong>de</strong>r sogenannten<br />

Kirchenväter das Wort <strong>de</strong>s ewigen Vaters, <strong>de</strong>s Herrn <strong>de</strong>s Himmels und <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>, anzunehmen.<br />

Hier allein fin<strong>de</strong>n wir die reine Wahrheit. Der Psalmist sagte: „Ich habe mehr Einsicht als alle<br />

meine Lehrer; <strong>de</strong>nn über <strong>de</strong>ine Mahnungen sinne ich nach. Ich bin klüger als die Alten; <strong>de</strong>nn<br />

ich halte mich an <strong>de</strong>ine Befehle.“ Psalm 119,99.100. Möchten doch alle, die sich unter die<br />

menschliche Autorität — seien es die Gebräuche <strong>de</strong>r Kirche o<strong>de</strong>r die Überlieferungen <strong>de</strong>r Väter<br />

— beugen, die Warnung beachten, die in <strong>Christi</strong> Worten liegt: „Vergeblich dienen sie mir, weil<br />

sie lehren solche Lehren, die nichts als Menschengebote sind.“ Matthäus 15,9.<br />

269


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 43: <strong>Die</strong> Schranken wer<strong>de</strong>n nie<strong>de</strong>rgerissen<br />

Nach <strong>de</strong>m Zusammentreffen mit <strong>de</strong>n Pharisäern zog sich Jesus von Kapernaum zurück,<br />

durchquerte Galiläa und kam nach <strong>de</strong>m Hügelland an <strong>de</strong>r Grenze von Phönizien. Nach Westen<br />

hin sah man unten in <strong>de</strong>r Ebene die alten Städte Tyrus und Sidon mit ihren heidnischen<br />

Tempeln, ihren herrlichen Palästen, <strong>de</strong>n großen Märkten und <strong>de</strong>n vielen Schiffen im Hafen.<br />

Hinter <strong>de</strong>m Küstenstreifen <strong>de</strong>hnte sich die blaue Fläche <strong>de</strong>s Mittelländischen Meeres, über<br />

<strong>de</strong>ssen Weite hinweg die Apostel das Evangelium in das Herz <strong>de</strong>s Weltreiches Rom tragen<br />

sollten. Aber die Zeit dazu war noch nicht gekommen. Zunächst galt es, die Jünger für ihren<br />

Auftrag recht vorzubereiten. In dieser Gegend hoffte Jesus die dazu nötige Abgeschie<strong>de</strong>nheit zu<br />

fin<strong>de</strong>n, die er in Bethsaida vergebens gesucht hatte. Doch das war nicht <strong>de</strong>r einzige Grund<br />

seiner Reise.<br />

„Siehe, ein kanaanäisches Weib kam aus jener Gegend und schrie ihm nach und sprach: Ach<br />

Herr, du Sohn Davids, erbarme dich mein! Meine Tochter wird von einem bösen Geist übel<br />

geplagt.“ Matthäus 15,22. <strong>Die</strong> Einwohner dieser Gegend stammten aus <strong>de</strong>m alten Geschlecht<br />

<strong>de</strong>r Kanaaniter, waren Götzendiener und wur<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n verachtet und gehaßt. Zu diesen<br />

gehörte auch die Frau, die jetzt zu Jesus kam. Sie war eine Heidin und daher von <strong>de</strong>n Vorzügen<br />

ausgeschlossen, <strong>de</strong>ren sich die Ju<strong>de</strong>n täglich erfreuten. Damals lebten viele Ju<strong>de</strong>n unter <strong>de</strong>n<br />

Phöniziern, und die Kun<strong>de</strong> von <strong>Christi</strong> Wirken war bis in dieses Gebiet gedrungen. Einige<br />

Leute hatten seinen Worten gelauscht und seine wun<strong>de</strong>rbaren Taten bezeugt. <strong>Die</strong>se Frau nun<br />

hatte von <strong>de</strong>m Propheten gehört, er heile — so wur<strong>de</strong> berichtet — alle Krankheiten. <strong>Die</strong> Kun<strong>de</strong><br />

von <strong>de</strong>r großen Macht Jesu hatte die Hoffnung im Herzen <strong>de</strong>r Frau geweckt. Sie entschloß sich,<br />

von Mutterliebe getrieben, <strong>de</strong>m Herrn die Heilung ihrer Tochter ans Herz zu legen. Sie wollte<br />

ihm ihren Kummer bringen. Er mußte ihr Kind heilen. Sie hatte bei <strong>de</strong>n heidnischen Göttern<br />

Hilfe gesucht, aber vergebens. Manchmal dachte sie: Was kann jener jüdische Lehrer schon für<br />

mich tun? Doch die Nachricht ging um, er heile alle Krankheiten, ganz gleich, ob jene, die zu<br />

ihm kamen, reich o<strong>de</strong>r arm waren. Das kanaanäische Weib entschloß sich, ihre einzige<br />

Hoffnung nicht fahren zu lassen.<br />

Christus kannte die Lage dieser Frau. Er wußte auch von ihrem Verlangen, ihn zu sehen, und<br />

stellte sich ihr in <strong>de</strong>n Weg. Er tröstete die Frau und gab seinen Jüngern gleichzeitig einen<br />

lebendigen Anschauungsunterricht, <strong>de</strong>n er ihnen nicht vorenthalten konnte; <strong>de</strong>nn dazu war er<br />

mit seinen Jüngern in diese Gegend gezogen. Jesus wollte, daß sie die große Unwissenheit<br />

sehen und erkennen sollten, die in <strong>de</strong>n Städten und Dörfern rings um Israel herrschte. <strong>Die</strong>ses<br />

Volk, <strong>de</strong>m je<strong>de</strong> Gelegenheit gegeben war, die Wahrheit zu verstehen, hatte keine Ahnung von<br />

<strong>de</strong>n Nöten <strong>de</strong>rer, die um sie herum lebten. Es machte auch keinerlei Anstrengung, diesen armen<br />

Seelen zu helfen und sie aus <strong>de</strong>r Finsternis herauszuziehen. <strong>Die</strong> Schei<strong>de</strong>wand, die jüdischer<br />

Stolz aufgerichtet, hielt sogar <strong>de</strong>r Jünger Mitleid mit <strong>de</strong>r heidnischen Welt zurück. <strong>Die</strong>se<br />

Schranke wollte Christus nie<strong>de</strong>rreißen.<br />

Jesus erfüllte nicht sofort die Bitte <strong>de</strong>s Weibes; er empfing vielmehr die Heidin in <strong>de</strong>r<br />

gleichen Weise, wie es auch die Ju<strong>de</strong>n getan hätten. Er wollte dadurch seinen Jüngern die kalte<br />

270


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

und herzlose Art <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n in einem solchen Falle vor Augen führen, um dann durch seine<br />

erbarmen<strong>de</strong> Liebe zu zeigen, wie sie han<strong>de</strong>ln sollten. <strong>Die</strong> Frau ließ sich durch <strong>de</strong>n scheinbar<br />

unfreundlichen Empfang nicht entmutigen. Und als Jesus weiterging, als hörte er das<br />

kanaanäische Weib überhaupt nicht, folgte sie ihm und wie<strong>de</strong>rholte fortwährend ihre Bitte. <strong>Die</strong><br />

Jünger waren über diese Zudringlichkeit empört und baten ihren Herrn, die Frau wegschicken<br />

zu dürfen; sie sahen ja, daß sich Jesus nicht mit <strong>de</strong>r Frau beschäftigen wollte, und nahmen an,<br />

daß er das Vorurteil <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n gegen die Kanaaniter teilte. Doch Christus, <strong>de</strong>r auch dieser Frau<br />

ein barmherziger Heiland war, sagte ihnen: „Ich bin nur gesandt zu <strong>de</strong>n verlorenen Schafen <strong>de</strong>s<br />

Hauses Israel.“ Matthäus 15,24. Obgleich diese Worte mit <strong>de</strong>r Ansicht <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n<br />

übereinzustimmen schienen, lag in ihnen in Wirklichkeit ein Ta<strong>de</strong>l für die Jünger, <strong>de</strong>n sie später<br />

auch verstan<strong>de</strong>n, als sie sich daran erinnerten, was <strong>de</strong>r Herr ihnen oft gesagt hatte: daß er in die<br />

Welt gekommen sei, alle selig zu machen, die an ihn glauben.<br />

Das kanaanäische Weib brachte ihre Bitte mit immer dringlicherem Ernst vor, fiel zu Jesu<br />

Füßen nie<strong>de</strong>r und rief: „Herr, hilf mir!“ Aber <strong>de</strong>r Herr wandte sich offenbar abermals von ihren<br />

Bitten ab, wie es auch die gefühllosen Ju<strong>de</strong>n in ihrem Vorurteil getan haben wür<strong>de</strong>n, und<br />

antwortete: „Es ist nicht fein, daß man <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn ihr Brot nehme und werfe es vor die<br />

Hun<strong>de</strong>.“ Matthäus 15,25.26. <strong>Die</strong>s kam im Grun<strong>de</strong> genommen <strong>de</strong>r Behauptung gleich, daß es<br />

nicht gerecht sei, die Segnungen, die Gottes auserwähltem Volk galten, an Frem<strong>de</strong> und<br />

Auslän<strong>de</strong>r zu verschwen<strong>de</strong>n. Jesu Antwort hätte je<strong>de</strong>n weniger ernsthaft suchen<strong>de</strong>n Menschen<br />

äußerst entmutigt. Aber die Frau spürte, daß für sie eine günstige Gelegenheit gekommen war.<br />

Auch in dieser scheinbar ablehnen<strong>de</strong>n Antwort Jesu erkannte sie sein Mitgefühl, das er nicht<br />

verbergen konnte. Sie sagte: „Ja, Herr; aber doch essen die Hun<strong>de</strong> von <strong>de</strong>n Brosamen, die von<br />

ihrer Herren Tisch fallen.“ Matthäus 15,27. Während die Kin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Familie an <strong>de</strong>s Vaters<br />

Tisch gespeist wer<strong>de</strong>n, vergißt man auch die Hun<strong>de</strong> nicht; <strong>de</strong>nn sie haben ein Anrecht auf die<br />

Brosamen, die von <strong>de</strong>r reichge<strong>de</strong>ckten Tafel fallen. Empfing nun Israel so viele Segnungen,<br />

sollte es für diese Frau keinen Segen geben? Sie wur<strong>de</strong> als „Hund“ betrachtet. Hatte sie nicht<br />

dadurch wenigstens <strong>de</strong>n Anspruch eines Hun<strong>de</strong>s auf die Brosamen <strong>de</strong>r göttlichen<br />

Barmherzigkeit?<br />

Jesus hatte <strong>de</strong>n Ort seiner Tätigkeit gewechselt, weil die Schriftgelehrten und Pharisäer ihm<br />

nach <strong>de</strong>m Leben trachteten; sie hatten gemurrt und geklagt, hatten Unglauben und Bitterkeit<br />

bekun<strong>de</strong>t und das ihnen so bereitwillig angebotene Heil verworfen. Nun trifft <strong>de</strong>r Heiland hier<br />

eine Frau aus <strong>de</strong>m unglücklichen und verachteten Geschlecht <strong>de</strong>r Kanaaniter, das nichts von <strong>de</strong>r<br />

Gna<strong>de</strong> Gottes und seinem Wort weiß; <strong>de</strong>nnoch überläßt sich diese Frau sogleich <strong>de</strong>m göttlichen<br />

Einfluß <strong>Christi</strong> und vertraut blind seiner Macht, ihre Bitte erfüllen zu können. Sie bittet um die<br />

Brosamen, die von <strong>de</strong>s Herrn Tisch fallen! Wenn sie schon dieses Vorrecht eines Hun<strong>de</strong>s haben<br />

darf, ist sie auch gewillt, wie ein Hund angesehen zu wer<strong>de</strong>n. Sie kennt kein nationales o<strong>de</strong>r<br />

religiöses Vorurteil, keinen Stolz, <strong>de</strong>r ihr Han<strong>de</strong>ln beeinflussen könnte. Sie anerkennt einfach<br />

Jesus als ihren Erlöser, <strong>de</strong>r imstan<strong>de</strong> ist, alles zu tun, worum sie ihn bittet.<br />

Der Heiland ist befriedigt. Er hat ihren Glauben geprüft und durch sein Verhalten ihr<br />

gegenüber gezeigt, daß sie, die man als eine Ausgestoßene betrachtete, nicht länger mehr ein<br />

271


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Fremdling ist, son<strong>de</strong>rn ein Kind in <strong>de</strong>r Familie Gottes. Als solche hat sie auch das Recht, an <strong>de</strong>n<br />

Gaben <strong>de</strong>s Vaters teilzuhaben. Christus erfüllt ihre Bitte und been<strong>de</strong>t damit auch die Belehrung<br />

für seine Jünger. Er blickt die Frau freundlich an und sagt ihr: „O Weib, <strong>de</strong>in Glaube ist groß.<br />

Dir geschehe, wie du willst!“ Matthäus 15,28. Von diesem Augenblick an war ihre Tochter<br />

gesund, und <strong>de</strong>r böse Geist plagte sie nicht mehr. <strong>Die</strong> Mutter aber ging dankbar und frohen<br />

Herzens hinweg und bekannte Jesus als ihren Heiland.<br />

<strong>Die</strong>s war das einzige Wun<strong>de</strong>r, das Jesus während dieser Reise wirkte. Nur um diese Tat<br />

vollbringen zu können, war er nach Tyrus und Sidon gegangen. Er wollte die betrübte Frau<br />

trösten. Gleichzeitig wollte er seinen Jüngern für die Zeit, da er nicht mehr bei ihnen sein<br />

wür<strong>de</strong>, ein Beispiel seiner Barmherzigkeit an einem Menschen eines verachteten Volkes geben.<br />

Er wünschte die Jünger aus ihrer jüdischen Enge und Abgeschlossenheit herauszuführen und in<br />

ihnen die Freu<strong>de</strong> am <strong>Die</strong>nst über die Grenzen <strong>de</strong>s eigenen Volkes hinaus zu wecken. Jesus<br />

wollte gern das tiefe Geheimnis <strong>de</strong>r Wahrheit enthüllen, das Jahrhun<strong>de</strong>rtelang verborgen<br />

geblieben war, daß nämlich die Hei<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n Erben sein sollten, „Mitgenossen <strong>de</strong>r<br />

Verheißung in Christus Jesus ... durch das Evangelium“. Epheser 3,6. <strong>Die</strong>se Wahrheit lernten<br />

die Jünger nur langsam, und <strong>de</strong>r göttliche Lehrer erteilte ihnen darin eine Lektion nach <strong>de</strong>r<br />

an<strong>de</strong>ren. Als er <strong>de</strong>n Glauben <strong>de</strong>s Hauptmanns von Kapernaum belohnte und <strong>de</strong>n Bewohnern<br />

Sichems das Evangelium predigte, hatte er bereits gezeigt, daß er die Unduldsamkeit <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n<br />

nicht mitmachte. Immerhin, die Samariter besaßen einige Gotteserkenntnis, und <strong>de</strong>r Hauptmann<br />

hatte Israel gegenüber Wohlwollen gezeigt; jetzt aber brachte Jesus die Jünger mit einer Heidin<br />

in Verbindung, die — wie sie meinten — genausowenig wie irgend jemand an<strong>de</strong>rs ihres<br />

heidnischen Volkes eine Gunst von ihm erwarten könnte. Der Herr wollte ein Beispiel geben,<br />

wie solch ein Mensch zu behan<strong>de</strong>ln sei, hatten doch die Jünger gedacht, daß er das Geschenk<br />

seiner Gna<strong>de</strong> zu großzügig verteilte. Er wollte ihnen zeigen, daß seine Liebe nicht auf eine<br />

Rasse o<strong>de</strong>r eine Nation begrenzt sei.<br />

Als Christus sagte: „Ich bin nur gesandt zu <strong>de</strong>n verlorenen Schafen <strong>de</strong>s Hauses Israel“<br />

(Matthäus 15,24), gab er <strong>de</strong>n Jüngern eine tiefe Lehre. Durch die Wun<strong>de</strong>rtat an <strong>de</strong>m<br />

kanaanäischen Weibe erfüllte er seine Aufgabe. <strong>Die</strong>se Frau gehörte zu <strong>de</strong>n „verlorenen<br />

Schafen“, die die Israeliten retten sollten; <strong>de</strong>nn diese Aufgabe war ihnen aufgetragen wor<strong>de</strong>n.<br />

Sie aber hatten ihre Bestimmung vernachlässigt, so daß Christus nun dieser Aufgabe<br />

nachkam. <strong>Die</strong> Jünger erkannten durch diese Tat <strong>de</strong>utlicher als je die vor ihnen liegen<strong>de</strong> Aufgabe<br />

an <strong>de</strong>n Hei<strong>de</strong>n. Ein weites Arbeitsfeld außerhalb Judäas erwartete sie. Sie sahen Menschen mit<br />

Sorgen bela<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>n Begünstigteren unter ihnen unbekannt blieben. Und doch fan<strong>de</strong>n sich<br />

unter <strong>de</strong>nen, die zu verachten man sie gelehrt hatte, Menschen, die nach <strong>de</strong>r Hilfe <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s<br />

verlangten, die nach <strong>de</strong>r Wahrheit hungerten, welche <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n so reichlich gegeben wor<strong>de</strong>n<br />

war.<br />

Später wandten sich die Ju<strong>de</strong>n immer nachdrücklicher von <strong>de</strong>n Jüngern ab, weil diese<br />

erklärten, Jesus sei <strong>de</strong>r Retter <strong>de</strong>r Welt. Außer<strong>de</strong>m war die trennen<strong>de</strong> Wand zwischen Ju<strong>de</strong>n und<br />

Hei<strong>de</strong>n durch <strong>de</strong>n Tod <strong>Christi</strong> nie<strong>de</strong>rgebrochen. <strong>Die</strong>se und an<strong>de</strong>re ähnliche Lehren wiesen auf<br />

das nicht durch Sitte und Volkstum eingeschränkte Werk <strong>de</strong>s Evangeliums hin; sie übten einen<br />

272


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

machtvollen Einfluß auf die Nachfolger <strong>Christi</strong> aus und zeigten ihnen <strong>de</strong>n Weg zu ihrer<br />

Aufgabe. Des Heilan<strong>de</strong>s Besuch bei <strong>de</strong>n Phöniziern und das Wun<strong>de</strong>r, das er dort wirkte,<br />

verfolgte einen noch weiterreichen<strong>de</strong>n Zweck. Nicht allein für die betrübte Frau, son<strong>de</strong>rn auch<br />

für seine Jünger und für alle, zu <strong>de</strong>ren Wohl sie arbeiteten, hatte er die Tat vollbracht, auf „daß<br />

ihr glaubet, Jesus sei <strong>de</strong>r Christus, <strong>de</strong>r Sohn Gottes, und daß ihr durch <strong>de</strong>n Glauben das Leben<br />

habet in seinem Namen“. Johannes 20,31. <strong>Die</strong>selben Mächte, die vor achtzehnhun<strong>de</strong>rt Jahren<br />

Menschen von Christus fernhielten, wirken auch heute noch. Der Geist, <strong>de</strong>r die trennen<strong>de</strong> Wand<br />

zwischen Ju<strong>de</strong>n und Hei<strong>de</strong>n aufrichtete, ist noch immer am Werk. Stolz und Vorurteile haben<br />

starke Mauern zwischen <strong>de</strong>n Menschen aufgerichtet. Christus und seine Sendung sind falsch<br />

dargestellt wor<strong>de</strong>n. Viele empfin<strong>de</strong>n, daß sie im Grun<strong>de</strong> genommen vom <strong>Die</strong>nst <strong>de</strong>s<br />

Evangelium ausgeschlossen sind. Laß in ihnen aber nicht das Gefühl aufkommen, von Christus<br />

getrennt zu sein. Menschen o<strong>de</strong>r Satan vermögen keine Schranken aufzurichten, die <strong>de</strong>r Glaube<br />

nicht durchdringen kann.<br />

<strong>Die</strong> kanaanäische Frau hatte in gläubigem Vertrauen die Schranken durchbrochen, die<br />

zwischen Ju<strong>de</strong>n und Hei<strong>de</strong>n aufgerichtet waren. Sie ließ sich nicht entmutigen, und ungeachtet<br />

<strong>de</strong>r Geschehnisse, die sie hätten zum Zweifel führen können, vertraute sie <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong> Jesu. Der<br />

Heiland will, daß auch wir ihm so vertrauen; <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Segen seiner Erlösung gilt je<strong>de</strong>m<br />

einzelnen. Nichts kann <strong>de</strong>n Menschen hin<strong>de</strong>rn, <strong>de</strong>r Verheißungen <strong>Christi</strong> durch das Evangelium<br />

teilhaftig zu wer<strong>de</strong>n, es sei <strong>de</strong>nn, er entschie<strong>de</strong> sich gegen Gott.<br />

Gott kennt keine sozialen Unterschie<strong>de</strong>. Er verachtet menschliche Rangordnungen; <strong>de</strong>nn vor<br />

ihm sind alle Menschen gleich. „Er hat gemacht, daß von Einem aller Menschen Geschlechter<br />

stammen, die auf <strong>de</strong>m ganzen Erdbo<strong>de</strong>n wohnen, und hat bestimmt, wie lange und wie weit sie<br />

wohnen sollen, damit sie Gott suchen sollten, ob sie wohl ihn fühlen und fin<strong>de</strong>n möchten; und<br />

fürwahr, er ist nicht ferne von einem jeglicher unter uns.“ Apostelgeschichte 17,26.27. Ohne<br />

Unterschied <strong>de</strong>s Alters, <strong>de</strong>s Stan<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>r Nationalität o<strong>de</strong>r religiöser Vorrechte sind alle<br />

eingela<strong>de</strong>n, zu ihm zu kommen und zu leben. „Wer an ihn glaubt, <strong>de</strong>r soll nicht zuschan<strong>de</strong>n<br />

wer<strong>de</strong>n.“ Römer 9,33. Hier ist nicht Ju<strong>de</strong> noch Grieche, hier ist nicht Knecht noch<br />

Freier. Galater 3,28. „Reiche und Arme begegnen einan<strong>de</strong>r; <strong>de</strong>r Herr hat sie alle<br />

gemacht.“ Sprüche 22,2. „Es ist über sie allzumal <strong>de</strong>r eine Herr, reich für alle, die ihn anrufen.<br />

Denn, wer <strong>de</strong>n Namen <strong>de</strong>s Herrn wird anrufen, soll gerettet wer<strong>de</strong>n.“ Römer 10,12.13.<br />

273


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 44: Das wahre Zeichen<br />

„Da er wie<strong>de</strong>r fortging aus <strong>de</strong>r Gegend von Tyrus, kam er durch Sidon an das Galiläische<br />

Meer, mitten in das Gebiet <strong>de</strong>r Zehn Städte.“ Markus 7,31. Hier hatte Jesus die Besessenen<br />

geheilt, hier hatte das Volk, erregt über die Vernichtung <strong>de</strong>r Schweineher<strong>de</strong>n, ihn gedrängt, das<br />

Land zu verlassen. Doch in <strong>de</strong>r Zwischenzeit war ihnen so viel Wun<strong>de</strong>rbares von <strong>de</strong>m Heiland<br />

bekanntgewor<strong>de</strong>n, daß sie <strong>de</strong>n Wunsch hatten, ihn wie<strong>de</strong>rzusehen. Als Jesus wie<strong>de</strong>r in dieses<br />

Gebiet kam, scharte sich das Volk um ihn. Man brachte „zu ihm einen, <strong>de</strong>r taub und stumm<br />

war“. Jesus heilte diesen Mann nicht nur — wie es sonst zu geschehen pflegte — durch das<br />

Wort, son<strong>de</strong>rn nahm ihn beiseite, legte seine Finger in <strong>de</strong>ssen Ohren und berührte <strong>de</strong>ssen<br />

Zunge, dann sah er auf zum Himmel und klagte über die Ohren, die sich weigerten, auf die<br />

Wahrheit zu hören, und über die Zungen, die es unterließen, <strong>de</strong>n Erlöser anzuerkennen. Bei <strong>de</strong>m<br />

Wort „Tu dich auf!“ erhielt <strong>de</strong>r Taube seine Sprache wie<strong>de</strong>r. Entgegen <strong>de</strong>r Auffor<strong>de</strong>rung, die<br />

Heilung für sich zu behalten, ging er hinweg und verkün<strong>de</strong>te allen das Erlebnis seiner<br />

Heilung. Markus 7,32ff.<br />

Jesus ging auf einen Berg, wohin ihm auch die Menge folgte, die weiter Kranke und Lahme<br />

zu ihm brachte und sie zu seinen Füßen nie<strong>de</strong>rlegte. Er heilte sie alle; und die Menge —<br />

Hei<strong>de</strong>n, die sie waren — pries <strong>de</strong>n Gott Israels. Drei Tage lang versammelten sie sich um <strong>de</strong>n<br />

Heiland, schliefen nachts unter freiem Himmel und drängten sich am Tage in seine Nähe, um<br />

seine Worte zu hören und seine Werke zu sehen. Dann hatten sie keine Nahrung mehr. Der<br />

Heiland aber wollte sie nicht hungrig von sich gehen lassen und gebot seinen Jüngern, ihnen<br />

Speise zu geben. <strong>Die</strong>se aber offenbarten abermals ihren Unglauben. Obgleich sie in Bethsaida<br />

erlebt hatten, daß durch Jesu Segen <strong>de</strong>r kleinste Vorrat ausreichte, um die gewaltige<br />

Volksmenge zu speisen, brachten sie — im Vertrauen auf seine Macht, es für die hungrige<br />

Schar vervielfältigen zu können — doch nicht das Wenige, das sie besaßen. Außer<strong>de</strong>m waren<br />

die Menschen in Bethsaida Ju<strong>de</strong>n und diese hier nur Ungläubige und Hei<strong>de</strong>n. Das jüdische<br />

Vorurteil beherrschte noch immer die Herzen <strong>de</strong>r Jünger. Sie sagten zu Jesus: „Woher sollen<br />

wir so viel Brot nehmen in <strong>de</strong>r Wüste, daß wir so viel Volks sättigen?“ Matthäus 15,33. Sie<br />

gehorchten dann aber doch <strong>de</strong>n Worten ihres Meisters und brachten, was sie hatten: sieben<br />

Brote und zwei Fische. <strong>Die</strong> Menge wur<strong>de</strong> gespeist, und sieben Körbe mit Brocken blieben<br />

übrig. Viertausend Männer, dazu Frauen und Kin<strong>de</strong>r, wur<strong>de</strong>n auf diese Weise gestärkt, und<br />

Jesus schickte sie alle mit frohem, dankbarem Herzen wie<strong>de</strong>r nach Hause.<br />

Jesus aber bestieg mit seinen Jüngern ein Boot und fuhr über <strong>de</strong>n See nach Magdala, am<br />

Sü<strong>de</strong>n<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Ebene von Genezareth. An <strong>de</strong>r Grenze von Tyrus und Sidon war sein Gemüt durch<br />

das Vertrauen <strong>de</strong>s kanaanäischen Weibes erfrischt wor<strong>de</strong>n, und die heidnischen Bewohner <strong>de</strong>s<br />

Zehn-Städte-Gebietes hatten ihn freudig aufgenommen; doch als er nun wie<strong>de</strong>r in Galiläa an<br />

Land ging, wo er seine göttliche Macht am gewaltigsten gezeigt, die meisten Werke <strong>de</strong>r<br />

Barmherzigkeit getan und die wichtigsten Lehren gepredigt hatte, begegnet man ihm mit<br />

verächtlichem Unglauben. Einige Vertreter <strong>de</strong>r reichen und hochmütigen Sadduzäer — jener<br />

Partei <strong>de</strong>r Priester, Zweifler und Großen <strong>de</strong>s Volkes — hatten sich einer Abordnung <strong>de</strong>r<br />

Pharisäer angeschlossen, obgleich sich diese bei<strong>de</strong>n Sekten sonst in bitterer Feindschaft<br />

274


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

gegenüberstan<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> Sadduzäer warben um die Gunst <strong>de</strong>r regieren<strong>de</strong>n Macht, um ihre eigene<br />

Stellung und Autorität aufrechtzuerhalten; die Pharisäer hingegen nährten <strong>de</strong>n allgemeinen Haß<br />

gegen die Römer und sehnten sich nach <strong>de</strong>r Zeit, da sie das Joch <strong>de</strong>r Unterdrücker abwerfen<br />

konnten. Nun aber verban<strong>de</strong>n sich bei<strong>de</strong> Parteien gegen Christus. Gleich und gleich gesellt sich<br />

gern! Wo es auch sein mag, verbin<strong>de</strong>t sich das Böse mit <strong>de</strong>m Bösen, um das Gute zu<br />

vernichten.<br />

Jetzt kamen die Sadduzäer und Pharisäer zu Christus und verlangten ein Zeichen vom<br />

Himmel. Als zur Zeit Josuas das Volk Israel zum Kampf gegen die Kanaaniter nach Beth-<br />

Horon zog, stand auf <strong>de</strong>s Anführers Befehl die Sonne still, bis <strong>de</strong>r Sieg erkämpft war. Viele<br />

ähnliche Wun<strong>de</strong>r verzeichnet die Geschichte Israels. Jetzt verlangten die Ju<strong>de</strong>n ein solches<br />

Zeichen von Jesus. Er aber wußte, daß die Ju<strong>de</strong>n solcher Zeichen nicht bedurften. <strong>Die</strong>se rein<br />

äußerlichen Zeichen konnten ihnen gar nichts nützen; sie bedurften keiner Erleuchtung ihres<br />

Verstan<strong>de</strong>s, son<strong>de</strong>rn einer Erneuerung ihres Herzens.<br />

Jesus sagte ihnen: „Über <strong>de</strong>s Himmels Aussehen könnt ihr urteilen; könnt ihr dann nicht<br />

auch über die Zeichen <strong>de</strong>r Zeit urteilen?“ Matthäus 16,3. <strong>Die</strong> Worte Jesu, gesprochen in <strong>de</strong>r<br />

Kraft <strong>de</strong>s Heiligen Geistes, <strong>de</strong>r ihnen über ihre Sün<strong>de</strong> die Augen öffnete, waren das Zeichen,<br />

das Gott ihnen zu ihrem Heil gegeben hatte. Es waren außer<strong>de</strong>m noch eine Reihe klarer<br />

himmlischer Zeichen geschehen, die Jesu Sendung bezeugten: <strong>de</strong>r Gesang <strong>de</strong>r Engel vor <strong>de</strong>n<br />

Hirten, <strong>de</strong>r Stern, <strong>de</strong>r die Weisen leitete, und die Stimme vom Himmel bei <strong>Christi</strong> Taufe.<br />

„Und er seufzte in seinem Geist und sprach: Was sucht doch dies Geschlecht ein<br />

Zeichen?“ Markus 8,12. „Es wird ihm kein Zeichen gegeben wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>nn das Zeichen <strong>de</strong>s<br />

Propheten Jona. Denn gleichwie Jona drei Tage und drei Nächte in <strong>de</strong>s Fisches Bauch war, so<br />

wird <strong>de</strong>s Menschen Sohn drei Tage und drei Nächte im Schoß <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> sein.“ Matthäus<br />

12,39.40. Wie einst Jonas Predigt <strong>de</strong>n Niniviten ein Zeichen war, so sollte Jesu Predigt auch<br />

seiner Generation ein Zeichen sein. Doch welch ein Unterschied in <strong>de</strong>r Aufnahme <strong>de</strong>s Wortes!<br />

<strong>Die</strong> Bewohner <strong>de</strong>r großen Hei<strong>de</strong>nstadt zitterten, als sie die Warnung Gottes hörten; Könige und<br />

Fürsten <strong>de</strong>mütigten sich, Reiche und Arme riefen gemeinsam <strong>de</strong>n Gott <strong>de</strong>s Himmels an und<br />

erfuhren seine Barmherzigkeit. „<strong>Die</strong> Leute von Ninive wer<strong>de</strong>n auftreten beim Gericht mit<br />

diesem Geschlecht“, sagte <strong>de</strong>r Heiland, „und wer<strong>de</strong>n es verdammen; <strong>de</strong>nn sie taten Buße nach<br />

<strong>de</strong>r Predigt <strong>de</strong>s Jona. Und siehe, hier ist mehr als Jona.“ Matthäus 12,41.<br />

Je<strong>de</strong>s Wun<strong>de</strong>r Jesu war ein Zeichen seiner Gottheit. Er erfüllte genau die Aufgabe, die von<br />

<strong>de</strong>m Messias geweissagt wor<strong>de</strong>n war; aber die Pharisäer empfan<strong>de</strong>n diese Werke <strong>de</strong>r<br />

Barmherzigkeit als ausgesprochenes Ärgernis. <strong>Die</strong> jüdischen Obersten stan<strong>de</strong>n <strong>de</strong>m Elend <strong>de</strong>s<br />

Volkes herzlos und gleichgültig gegenüber. In vielen Fällen hatten ihre Selbstsucht und<br />

Unterdrückung die Lei<strong>de</strong>n verursacht, die Christus heilte. So blieben seine Wun<strong>de</strong>r ihnen ein<br />

beständiger Vorwurf. Was <strong>de</strong>n göttlichen Charakter Jesu beson<strong>de</strong>rs hervorhob, war für die<br />

Ju<strong>de</strong>n Anlaß, ihn zu verwerfen. Der größte Wert seiner Wun<strong>de</strong>r lag in <strong>de</strong>r Tatsache, daß diese<br />

zum Segen <strong>de</strong>r Menschen geschahen. Der eindringlichste Beweis, daß er von Gott gesandt war,<br />

lag darin, daß sein Leben das Wesen Gottes offenbarte. Er tat Gottes Werke und sprach Gottes<br />

Worte. Und solch Leben ist das größte aller Wun<strong>de</strong>r.<br />

275


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Wenn in unserer Zeit die Wahrheit verkündigt wird, dann rufen viele wie einst die alten<br />

Ju<strong>de</strong>n: „Zeigt uns ein Zeichen! Wirkt ein Wun<strong>de</strong>r!“ Christus tat kein Zeichen auf Befehl <strong>de</strong>r<br />

Pharisäer, ebensowenig wirkte er auf Satans Einflüsterungen in <strong>de</strong>r Wüste irgen<strong>de</strong>in Wun<strong>de</strong>r.<br />

Er teilt auch uns keine Kraft mit, damit wir uns selbst rechtfertigen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n For<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s<br />

Unglaubens und <strong>de</strong>s Stolzes nachkommen können. Dennoch ist das Evangelium in seiner<br />

Verkündigung nicht ohne Zeichen seines göttlichen Ursprungs. Ist es kein Wun<strong>de</strong>r, daß wir uns<br />

aus <strong>de</strong>n Fesseln Satans befreien können? Feindschaft gegen Satan liegt nicht in <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>s<br />

menschlichen Herzens; sie erwächst in uns vielmehr durch die Gna<strong>de</strong> Gottes. Wenn eine Seele,<br />

die von einem launischen und eigensinnigen Willen beherrscht wur<strong>de</strong>, nun frei wird und sich<br />

völlig <strong>de</strong>m göttlichen Einfluß hingibt, o<strong>de</strong>r wenn ein Mensch, <strong>de</strong>r starken Irrtümern erlegen<br />

war, zur Erkenntnis <strong>de</strong>r Wahrheit kommt — dann ist ein Wun<strong>de</strong>r geschehen! Wenn ein Mensch<br />

sich bekehrt, Gott lieben lernt und seine Gebote hält, erfüllt sich die Verheißung Gottes. „Ich<br />

will euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euch geben.“ Hesekiel 36,26. <strong>Die</strong><br />

Verän<strong>de</strong>rung im menschlichen Herzen, die Umgestaltung <strong>de</strong>s menschlichen Charakters ist ein<br />

Wun<strong>de</strong>r, das einen lebendigen Heiland offenbart, <strong>de</strong>r für das Seelenheil <strong>de</strong>r Menschen wirkt.<br />

Ein beständiges Leben in Christus ist ein großes Wun<strong>de</strong>r. Das Zeichen, das stets die Predigt <strong>de</strong>s<br />

Wortes Gottes begleiten sollte, ist die Gegenwart <strong>de</strong>s Heiligen Geistes, die das Wort an <strong>de</strong>nen,<br />

die es hören, zu einer beleben<strong>de</strong>n Kraft macht. Das ist Gottes Zeugnis vor <strong>de</strong>r Welt von <strong>de</strong>r<br />

göttlichen Sendung seines Sohnes.<br />

<strong>Die</strong> Herzen <strong>de</strong>rer, die ein Zeichen von Jesus begehrten, waren durch Unglauben so verhärtet,<br />

daß sie die Gottgleichheit seines Charakters nicht erkannten. Sie sahen nicht, daß seine Sendung<br />

eine Erfüllung <strong>de</strong>r Schrift war. Im Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus sagte Jesus<br />

von <strong>de</strong>n Pharisäern: „Hören sie Mose und die Propheten nicht, so wer<strong>de</strong>n sie auch nicht<br />

glauben, wenn jemand von <strong>de</strong>n Toten aufstün<strong>de</strong>.“ Lukas 16,31. Kein Zeichen we<strong>de</strong>r im Himmel<br />

noch auf Er<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong> ihnen von Nutzen sein. Jesus „seufzte in seinem Geist“ (Markus 8,12),<br />

wandte sich von <strong>de</strong>n Kritikastern ab und betrat wie<strong>de</strong>r das Boot seiner Jünger. In sorgenvoller<br />

Stille fuhren sie zurück. Sie kamen jedoch nicht dort an Land, wo sie abgefahren waren,<br />

son<strong>de</strong>rn schifften in Richtung Bethsaida, in <strong>de</strong>ssen Nähe die Speisung <strong>de</strong>r Fünftausend erfolgt<br />

war. Als sie das Ufer erreichten, sagte Jesus: „Sehet zu und hütet euch vor <strong>de</strong>m Sauerteig <strong>de</strong>r<br />

Pharisäer und Sadduzäer!“ Matthäus 16,6. Seit <strong>de</strong>n Tagen Moses war es bei <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n Sitte,<br />

zum Passahfest allen Sauerteig aus <strong>de</strong>m Haus zu entfernen. Sie waren unterwiesen wor<strong>de</strong>n, im<br />

Sauerteig ein Sinnbild <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> zu sehen. <strong>Die</strong> Jünger jedoch verstan<strong>de</strong>n Jesus nicht. Bei ihrem<br />

plötzlichen Aufbruch von Magdala hatten sie vergessen, Brot mitzunehmen. Sie hatten nur<br />

einen einzigen Laib bei sich. Sie meinten nun, Jesus beziehe sich auf diesen Umstand und<br />

warne sie davor, Brot bei <strong>de</strong>n Pharisäern o<strong>de</strong>r Sadduzäern zu kaufen. Mangel an Glauben und<br />

geistlicher Einsicht hatte sie schon häufig dazu verleitet, seine Worte in ähnlicher Weise<br />

mißzuverstehen. Jesus ta<strong>de</strong>lte sie wegen ihrer Auffassung, daß <strong>de</strong>rjenige, <strong>de</strong>r mit einigen<br />

Fischen und Gerstenbroten Tausen<strong>de</strong> gespeist hatte, mit dieser ernsten Warnung nur<br />

vergängliche Nahrung meinte. Es bestand die Gefahr, daß die Jünger durch das listige Denken<br />

<strong>de</strong>r Pharisäer und Sadduzäer mit Unglauben infiziert und dadurch veranlaßt wür<strong>de</strong>n, von <strong>de</strong>n<br />

Werken <strong>Christi</strong> geringschätzig zu <strong>de</strong>nken.<br />

276


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

<strong>Die</strong> Jünger neigten zu <strong>de</strong>r Auffassung, daß ihr Meister <strong>de</strong>r For<strong>de</strong>rung nach einem Zeichen<br />

vom Himmel hätte nachgeben sollen. Sie waren überzeugt, daß er dazu fähig war und daß ein<br />

solches Zeichen seine Gegner zum Schweigen gebracht hätte. Sie erkannten nicht die Heuchelei<br />

dieser Kritiker. Monate später, als „kamen etliche Tausend zusammen, so daß sie sich<br />

untereinan<strong>de</strong>r traten“, wie<strong>de</strong>rholte Jesus seine Warnung. „Da fing er an und sagte zuerst zu<br />

seinen Jüngern: Hütet euch vor <strong>de</strong>m Sauerteig <strong>de</strong>r Pharisäer, welches ist die Heuchelei.“ Lukas<br />

12,1.<br />

Der Sauerteig im Mehl wirkt unmerklich und überträgt sein Gären auf <strong>de</strong>n ganzen Teig. So<br />

durchdringt auch die Heuchelei, wenn sie im Herzen gehegt wird, <strong>de</strong>n Charakter und das ganze<br />

Leben. Ein treffen<strong>de</strong>s Beispiel <strong>de</strong>r Heuchelei <strong>de</strong>r Pharisäer hatte Christus bereits angeprangert<br />

mit <strong>de</strong>r Verurteilung <strong>de</strong>r Korban-Sitte, durch welche die Vernachlässigung <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>spflicht<br />

mit einem Anschein von Großzügigkeit gegenüber <strong>de</strong>m Tempel bemäntelt wur<strong>de</strong>. <strong>Die</strong><br />

Schriftgelehrten und Pharisäer führten trügerische Grundsätze ein. Sie verbargen so die wahre<br />

Absicht ihrer Lehren und nutzten je<strong>de</strong> Gelegenheit, sie <strong>de</strong>n Herzen ihrer Zuhörer einzuflößen.<br />

<strong>Die</strong>se Falschen Grundsätze wirkten, sobald sie angenommen wur<strong>de</strong>n, wie Sauerteig im Mehl<br />

und durchdrangen und verwan<strong>de</strong>lten das ganze Wesen. <strong>Die</strong>se trügerischen Lehren waren es, die<br />

es <strong>de</strong>m Volk so schwer machten, <strong>de</strong>n Worten <strong>Christi</strong> zu glauben. Der gleiche Einfluß geht heute<br />

von jenen aus, die das Gesetz Gottes <strong>de</strong>rart zu erklären versuchen, daß es mit ihren<br />

Lebensgewohnheiten übereinstimmt. <strong>Die</strong>se Gruppe greift das Gesetz nicht offen an, son<strong>de</strong>rn<br />

vertritt spekulative Theorien, die <strong>de</strong>ssen Grundsätze aushöhlen. Ihre Erklärungen haben das<br />

Ziel, die Macht <strong>de</strong>s Gesetzes zu zerstören.<br />

<strong>Die</strong> Heuchelei <strong>de</strong>r Pharisäer war das Ergebnis ihrer Selbstsucht. <strong>Die</strong> Selbstverherrlichung<br />

war das Ziel ihres Lebens. Das führte sie dazu, die Schrift zu verfälschen und falsch<br />

anzuwen<strong>de</strong>n, und machte sie blind für die Sendung <strong>Christi</strong>. Sogar die Jünger <strong>Christi</strong> stan<strong>de</strong>n in<br />

Gefahr, sich diesem geheimen Übel hinzugeben. Jene, die sich als Nachfolger Jesu ausgaben,<br />

aber nicht alles aufgegeben hatten, um wirklich seine Jünger zu sein, wur<strong>de</strong>n in hohem Maße<br />

von <strong>de</strong>m Denken <strong>de</strong>r Pharisäer beeinflußt. Oft schwankten sie zwischen Glauben und<br />

Unglauben, und sie erkannten nicht die Schätze <strong>de</strong>r Weisheit, die in Christus verborgen waren.<br />

Sogar die Jünger hatten in ihrem Herzen nicht aufgegeben, für sich selbst Großes zu erstreben,<br />

obwohl sie äußerlich alles um Jesu willen verlassen hatten. <strong>Die</strong>se Gesinnung war es, die<br />

schließlich <strong>de</strong>n Streit auslöste, wer unter ihnen <strong>de</strong>r größte sei. Sie war es auch, die zwischen<br />

ihnen und Christus stand, die in ihnen so wenig Mitleid mit ihm bei seinem selbstlosen Opfer<br />

hervorrief und die es ihnen so schwer machte, das Geheimnis <strong>de</strong>r Erlösung zu verstehen. Wie<br />

<strong>de</strong>r Sauerteig, wenn er sein Werk vollen<strong>de</strong>n darf, zu Ver<strong>de</strong>rbnis und Verfall führt, so zieht eine<br />

selbstsüchtige Gesinnung die Verunreinigung und <strong>de</strong>n Ruin <strong>de</strong>r Seele nach sich.<br />

Wie weitverbreitet ist unter <strong>de</strong>n Nachfolgern <strong>de</strong>s Herrn — wie damals schon — diese feine,<br />

trügerische Sün<strong>de</strong>! Wie oft sind unser <strong>Die</strong>nst für Christus und unsere Gemeinschaft<br />

untereinan<strong>de</strong>r getrübt durch <strong>de</strong>n geheimen Wunsch nach Selbsterhöhung! Wie rasch stellt sich<br />

das Verlangen nach Eigenlob und menschlichem Beifall ein! Eigenliebe und <strong>de</strong>r Wunsch nach<br />

einem bequemeren als <strong>de</strong>m von Gott verordneten Weg führen dazu, die göttlichen Weisungen<br />

277


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

durch menschliche Theorien und Traditionen zu ersetzen. Zu seinen eigenen Jüngern sprach<br />

Jesus die mahnen<strong>de</strong>n Worte: „Hütet euch vor <strong>de</strong>m Sauerteig <strong>de</strong>r Pharisäer!“<br />

<strong>Die</strong> Religion <strong>Christi</strong> ist eine Religion <strong>de</strong>r Aufrichtigkeit. Eifer um die Ehre Gottes ist <strong>de</strong>r<br />

Beweggrund, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Heilige Geist ins Herz pflanzt, und nur das durchdringen<strong>de</strong> Wirken <strong>de</strong>s<br />

Geistes kann dieses Motiv einpflanzen. Nur Gottes Macht vermag Selbstsucht und Heuchelei zu<br />

verbannen. <strong>Die</strong>ser Wan<strong>de</strong>l ist das Zeichen seines Wirkens. Ob unser Glaube in <strong>de</strong>r richtigen<br />

Weise ausgeübt wird, können wir daran erkennen, daß er die Selbstsucht und allen Schein<br />

ausrottet und daß wir nicht die eigene, son<strong>de</strong>rn Gottes Ehre suchen. „Vater, verherrliche <strong>de</strong>inen<br />

Namen!“ Johannes 12,28. war das Schlüsselwort <strong>de</strong>s Lebens <strong>Christi</strong>, und wenn wir Christus<br />

folgen, wird es auch das Motto unseres Lebens sein. Wir wer<strong>de</strong>n ermahnt, zu wan<strong>de</strong>ln<br />

„gleichwie er gewan<strong>de</strong>lt ist“. 1.Johannes 2,6. „An <strong>de</strong>m merken wir, daß wir ihn kennen, wenn<br />

wir seine Gebote halten.“ 1.Johannes 2,3.<br />

278


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 45: Im Schatten <strong>de</strong>s Kreuzes<br />

Das Werk <strong>Christi</strong> auf Er<strong>de</strong>n ging seiner Vollendung entgegen. Klar umrissen lagen die Dinge<br />

<strong>de</strong>r nächsten Zukunft vor Jesus. Schon vor seiner Menschwerdung hatte er <strong>de</strong>n ganzen<br />

Lei<strong>de</strong>nsweg übersehen, <strong>de</strong>n er gehen mußte, um die Verlorenen zu retten. Er wußte um <strong>de</strong>n<br />

Schmerz, <strong>de</strong>r seine Seele wie ein Schwert durchdringen wür<strong>de</strong>, er kannte je<strong>de</strong> Beleidigung, die<br />

auf ihn gehäuft wür<strong>de</strong>, je<strong>de</strong> Entbehrung die er ertragen mußte — <strong>de</strong>nn alles lag offen vor ihm,<br />

noch ehe er seine Krone und sein königliches Gewand abgelegt, noch ehe er <strong>de</strong>n himmlischen<br />

Thron verlassen hatte, um seine Gottheit mit menschlicher Natur zu beklei<strong>de</strong>n. Er konnte seinen<br />

Weg von <strong>de</strong>r Krippe bis nach Golgatha verfolgen, und im Bewußtsein aller kommen<strong>de</strong>n Lei<strong>de</strong>n<br />

sagte er: „Siehe, ich komme; im Buch ist von mir geschrieben: Deinen Willen, mein Gott, tue<br />

ich gern, und <strong>de</strong>in Gesetz habe ich in meinem Herzen.“ Psalm 40,8.9.<br />

Jesus hatte <strong>de</strong>n Erfolg seiner Sendung stets vor Augen; sein irdisches Leben, obgleich voller<br />

Arbeit und Selbstaufopferung, wur<strong>de</strong> durch die Aussicht erhellt, daß sein Werk nicht vergebens<br />

sein wür<strong>de</strong>. Denn in<strong>de</strong>m er sich selbst für das Leben <strong>de</strong>r Menschen dahingab, wür<strong>de</strong> er die Welt<br />

zur Treue gegen Gott zurückgewinnen. Obgleich er erst die Bluttaufe empfangen mußte und die<br />

Sün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Welt schwer auf seiner Seele lasteten, obgleich <strong>de</strong>r Schatten unsagbaren Schmerzes<br />

auf ihn fiel, erwählte er <strong>de</strong>nnoch um <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong> willen, die vor ihm lag, das Kreuz und achtete<br />

<strong>de</strong>r Schan<strong>de</strong> nicht. Seinen Jüngern waren die kommen<strong>de</strong>n Ereignisse noch unbekannt; aber die<br />

Zeit war nahe, da sie Zeugen seines letzten Ringens wer<strong>de</strong>n mußten. Sie mußten sehen, wie <strong>de</strong>r,<br />

<strong>de</strong>n sie geliebt und <strong>de</strong>m sie vertraut hatten, in die Hän<strong>de</strong> seiner Fein<strong>de</strong> überantwortet und ans<br />

Kreuz geschlagen wür<strong>de</strong>. Bald mußte er sie verlassen. Dann mußten sie <strong>de</strong>r Welt allein<br />

gegenübertreten — ohne <strong>de</strong>n Trost seiner Gegenwart. Der Heiland wußte, daß bitterer Haß und<br />

Unglaube sie verfolgen wür<strong>de</strong>n, und er wollte sie auf diese Prüfungen vorbereiten.Jesus war mit<br />

seinen Jüngern in eine Stadt in <strong>de</strong>r Nähe von Cäsarea Philippi gekommen. <strong>Die</strong>se Stadt lag<br />

außerhalb <strong>de</strong>s galiläischen Lan<strong>de</strong>s, in einer Gegend, in <strong>de</strong>r noch Götzendienst herrschte. <strong>Die</strong><br />

Jünger waren hier <strong>de</strong>m Einfluß <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n entzogen und kamen nun mit <strong>de</strong>m Hei<strong>de</strong>ntum in<br />

engere Berührung. Überall sahen sie hier die Zeichen und Merkmale heidnischen Aberglaubens,<br />

<strong>de</strong>n es in allen Teilen <strong>de</strong>r Welt gab. Jesus wünschte, daß <strong>de</strong>r Anblick dieser Dinge ihr<br />

Verantwortungsgefühl gegenüber <strong>de</strong>n Hei<strong>de</strong>n wecken möge. Darum entzog er sich während<br />

seines Aufenthalts in diesem Gebiet <strong>de</strong>m öffentlichen <strong>Die</strong>nst am Volk und widmete sich mehr<br />

seinen Jüngern.<br />

Ehe er ihnen von seinen bevorstehen<strong>de</strong>n Lei<strong>de</strong>n erzählte, ging er ein wenig abseits und<br />

betete, daß ihre Herzen bereit seien, seine Worte aufzunehmen. Als er sich wie<strong>de</strong>r zu ihnen<br />

gesellte, sagte er ihnen nicht sofort, was er ihnen zu sagen hatte, son<strong>de</strong>rn gab ihnen erst<br />

Gelegenheit, ihren Glauben an ihn zu bekennen, damit sie dadurch für die kommen<strong>de</strong>n<br />

Schwierigkeiten gestärkt wür<strong>de</strong>n. Er fragte sie: „Wer sagen die Leute, daß <strong>de</strong>s Menschen Sohn<br />

sei?“ Matthäus 16,13. <strong>Die</strong> Jünger mußten aber betrübt erwi<strong>de</strong>rn, daß das Volk Israel seinen<br />

Messias nicht erkannt hätte. Wohl hatten einige, die Augenzeugen seiner Wun<strong>de</strong>r gewesen<br />

waren, ihn als Sohn Davids erkannt; wohl hatte die Menge, die in <strong>de</strong>r Nähe von Bethsaida<br />

gespeist wor<strong>de</strong>n war, ihn zum König über Israel ausrufen wollen. Manche wollten ihn sogar als<br />

279


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Propheten annehmen — aber sie alle glaubten nicht, daß er <strong>de</strong>r Messias sei. Jesus stellte nun<br />

eine an<strong>de</strong>re Frage an sie: „Wer saget <strong>de</strong>nn ihr, daß ich sei? Da antwortete Simon Petrus und<br />

sprach: Du bist Christus, <strong>de</strong>s lebendigen Gottes Sohn!“ Matthäus 16,15.16.<br />

Schon von Anfang an hatte Petrus geglaubt, daß Jesus <strong>de</strong>r Messias sei. Viele an<strong>de</strong>re, die<br />

durch die Predigt <strong>de</strong>s Täufers Christus angenommen hatten, gerieten über seine Mission in<br />

Zweifel, als Johannes <strong>de</strong>r Täufer gefangengenommen und getötet wur<strong>de</strong>; sie bezweifelten dann<br />

auch, daß Jesus wirklich <strong>de</strong>r Messias wäre, auf <strong>de</strong>n sie so lange gewartet hatten. Viele seiner<br />

Jünger, die mit Bestimmtheit angenommen hatten, daß ihr Herr seinen Platz auf Davids Thron<br />

einnehmen wer<strong>de</strong>, verließen ihn, als sie erfuhren, daß Jesus dazu niemals gewillt war. Nur<br />

Petrus und seine Gefährten blieben ihm treu. Der Wankelmut <strong>de</strong>rer, die ihn gestern priesen und<br />

heute verdammten, konnte <strong>de</strong>n Glauben <strong>de</strong>s wahren Nachfolgers Jesu nicht untergraben. Petrus<br />

erklärte: „Du bist Christus, <strong>de</strong>s lebendigen Gottes Sohn!“ Er wartete nicht auf königliche Ehren,<br />

um seinen Herrn krönen zu können, son<strong>de</strong>rn nahm ihn in seiner Niedrigkeit an.<br />

Petrus hatte <strong>de</strong>n Glauben <strong>de</strong>r Zwölf ausgesprochen. Dennoch waren sie noch weit davon<br />

entfernt, das Werk <strong>Christi</strong> auf Er<strong>de</strong>n zu verstehen. Der Wi<strong>de</strong>rstand und die falschen<br />

Darstellungen <strong>de</strong>r Priester und Ältesten verursachten ihnen, obwohl sie sich dadurch nicht von<br />

Christus trennen ließen, viel Unruhe; sie konnten ihren Weg nicht klar erkennen. Der Einfluß<br />

aus ihrer Jugendzeit, die Lehren <strong>de</strong>r Rabbiner und die Macht <strong>de</strong>r Überlieferung trübten noch<br />

immer ihre Erkenntnis <strong>de</strong>r Wahrheit. Von Zeit zu Zeit wur<strong>de</strong>n sie durch die hellen<br />

Lichtstrahlen, die von Jesus ausgingen, erleuchtet; dann aber waren sie auch wie<strong>de</strong>r wie<br />

Menschen, die im dunkeln umhertasten. An diesem Tage aber, ehe sie <strong>de</strong>r großen Prüfung ihres<br />

Glaubens gegenübergestellt wur<strong>de</strong>n, war die Kraft <strong>de</strong>s Heiligen Geistes in ihnen. Ihre Augen<br />

waren für kurze Zeit von <strong>de</strong>m Sichtbaren abgewandt, um das Unsichtbare zu sehen. Und sie<br />

erkannten hinter seiner menschlichen Gestalt die Herrlichkeit <strong>de</strong>s Sohnes Gottes. Jesus<br />

antwortete Petrus und sprach: „Selig bist du, Simon, Jonas Sohn; <strong>de</strong>nn Fleisch und Blut hat dir<br />

das nicht offenbart, son<strong>de</strong>rn mein Vater im Himmel.“ Matthäus 16,17.<br />

<strong>Die</strong> Wahrheit, die Petrus hier ausgesprochen hatte, ist die Grundlage für das Bekenntnis <strong>de</strong>s<br />

Gläubigen. Sie ist, wie Jesus selbst erklärt hat, das ewige Leben. <strong>Die</strong>se Erkenntnis zu besitzen,<br />

war jedoch kein Grund, sich selbst zu verherrlichen. We<strong>de</strong>r durch eigene Weisheit noch durch<br />

eigene Leistung war Petrus diese Erkenntnis zuteil gewor<strong>de</strong>n. Nie kann ein Mensch aus sich<br />

selbst heraus zur Erkenntnis <strong>de</strong>s Göttlichen gelangen. Sie „ist höher als <strong>de</strong>r Himmel: was willst<br />

du tun? tiefer als die Hölle: was kannst du wissen?“ Hiob 11,8. Nur <strong>de</strong>r Geist <strong>de</strong>r Kindschaft<br />

kann uns die Tiefen <strong>de</strong>r Gottheit offenbaren, die „kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehört<br />

hat und in keines Menschen Herz gekommen ist“. 1.Korinther 2,9. Gott aber hat sie „offenbart<br />

durch seinen Geist; <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Geist erforscht alle Dinge, auch die Tiefen <strong>de</strong>r<br />

Gottheit“. 1.Korinther 2,10. „Der Herr ist <strong>de</strong>nen Freund, die ihn fürchten; und seinen Bund läßt<br />

er sie wissen.“ Psalm 25,14. <strong>Die</strong> Tatsache, daß Petrus die Herrlichkeit <strong>Christi</strong> erkannte, war ein<br />

Beweis, daß er „von Gott gelehrt“ war. Ja, in <strong>de</strong>r Tat, „selig bist du, Simon, Jonas Sohn; <strong>de</strong>nn<br />

Fleisch und Blut hat dir das nicht offenbart“! Matthäus 16,17.<br />

280


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Jesus sprach weiter: „Ich sage dir auch: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich bauen<br />

meine Gemein<strong>de</strong>, und die Pforten <strong>de</strong>r Hölle sollen sie nicht überwältigen.“ Matthäus 16,18. Das<br />

Wort Petrus be<strong>de</strong>utet Stein — rollen<strong>de</strong>r Stein! Petrus war nicht <strong>de</strong>r Fels, auf <strong>de</strong>n die Gemein<strong>de</strong><br />

gegrün<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>; ihn überwältigten die Pforten <strong>de</strong>r Hölle, als er seinen Herrn unter Fluchen und<br />

Schwören verleugnete. <strong>Die</strong> Gemein<strong>de</strong> dagegen wur<strong>de</strong> auf einen Grund gebaut, <strong>de</strong>n die Pforten<br />

<strong>de</strong>r Hölle nicht überwältigen konnten. Mose hatte Jahrhun<strong>de</strong>rte vor <strong>de</strong>m Kommen <strong>Christi</strong> auf<br />

<strong>de</strong>n Fels <strong>de</strong>s Heils für Israel hingewiesen; <strong>de</strong>r Psalmist hatte von <strong>de</strong>m „Fels meiner Stärke“<br />

gesungen, und bei Jesaja steht geschrieben: „Darum spricht Gott <strong>de</strong>r Herr: Siehe, ich lege in<br />

Zion einen Grundstein, einen bewährten Stein, einen kostbaren Eckstein, <strong>de</strong>r fest gegrün<strong>de</strong>t<br />

ist.“ Jesaja 28,16. Petrus selbst, getrieben durch <strong>de</strong>n Heiligen Geist, wen<strong>de</strong>t diese Weissagung<br />

auf Jesus an, wenn er sagt: „Ihr habt ja geschmeckt, daß <strong>de</strong>r Herr freundlich ist. So kommt <strong>de</strong>nn<br />

nun zu ihm, als <strong>de</strong>m lebendigen Stein, <strong>de</strong>r von Menschen wohl verworfen, von Gott aber als<br />

beson<strong>de</strong>rs wertvoll auserwählt wur<strong>de</strong>! Und so laßt auch ihr euch als lebendige Steine aufbauen<br />

zu einem geistlichen Haus, zu einer heiligen Priesterschaft.“ 1.Petrus 2,3-5 (Bruns).<br />

„Einen an<strong>de</strong>rn Grund kann niemand legen außer <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r gelegt ist, welcher ist Jesus<br />

Christus.“ 1.Korinther 3,11. „Auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemein<strong>de</strong>“, sagte <strong>de</strong>r<br />

Herr. Matthäus 16,18. In <strong>de</strong>r Gegenwart Gottes und aller himmlischen Wesen, in <strong>de</strong>r Gegenwart<br />

<strong>de</strong>r unsichtbaren Heere <strong>de</strong>r Hölle grün<strong>de</strong>te Christus seine Gemein<strong>de</strong> auf <strong>de</strong>n lebendigen Felsen.<br />

Er selbst ist dieser Felsen — sein eigener Leib, <strong>de</strong>r für uns verwun<strong>de</strong>t und zerschlagen wur<strong>de</strong>.<br />

<strong>Die</strong> Pforten <strong>de</strong>r Hölle wer<strong>de</strong>n die auf diesem Grund erbaute Gemein<strong>de</strong> nicht überwältigen.<br />

Wie schwach erschien die Gemein<strong>de</strong>, als Jesus diese Worte sprach! Sie zählte nur eine<br />

Handvoll Gläubige, gegen die sich alle Macht <strong>de</strong>r bösen Kräfte richten wür<strong>de</strong> — und doch<br />

sollten die Nachfolger <strong>Christi</strong> sich nicht fürchten! Auf <strong>de</strong>n Fels ihrer Stärke gegrün<strong>de</strong>t, konnten<br />

sie nicht besiegt wer<strong>de</strong>n. Sechstausend Jahre lang hat <strong>de</strong>r Glaube auf Christus gebaut;<br />

sechstausend Jahre lang haben die Fluten und Stürme satanischer Wut gegen <strong>de</strong>n Fels unseres<br />

Heils gewütet, aber er steht unerschüttert. Petrus hatte die Wahrheit ausgesprochen, die die<br />

Grundlage ist für <strong>de</strong>n Glauben <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong>, und Jesus ehrte ihn nun als <strong>de</strong>n Vertreter aller<br />

Gläubigen. Er sagte ihm: „Ich will dir <strong>de</strong>s Himmelreichs Schlüssel geben, und alles, was du auf<br />

Er<strong>de</strong>n bin<strong>de</strong>n wirst, soll auch im Himmel gebun<strong>de</strong>n sein, und alles, was du auf Er<strong>de</strong>n lösen<br />

wirst, soll auch im Himmel los sein.“ Matthäus 16,19. „Des Himmelreichs Schlüssel“ sind die<br />

Worte <strong>Christi</strong>. Alle Worte <strong>de</strong>r Heiligen Schrift sind seine Worte und sind hierin eingeschlossen.<br />

<strong>Die</strong>se Worte haben die Macht, <strong>de</strong>n Himmel zu schließen und auch zu öffnen; sie erklären die<br />

Bedingungen, unter <strong>de</strong>nen Menschen angenommen o<strong>de</strong>r verworfen wer<strong>de</strong>n. So wird das Werk<br />

<strong>de</strong>rer, die Gottes Wort verkündigen, ein Geruch <strong>de</strong>s Lebens zum Leben o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s zum<br />

To<strong>de</strong>. Ihr Werk hat ewige Folgen. Der Heiland übertrug das Anliegen <strong>de</strong>s Evangeliums nicht<br />

Petrus persönlich. Später, als er die Worte wie<strong>de</strong>rholte, die er hier zu Petrus sprach, bezog er sie<br />

unmittelbar auf die Gemein<strong>de</strong>; sie wur<strong>de</strong>n ihrem Inhalt nach auch zu <strong>de</strong>n Zwölfen als <strong>de</strong>n<br />

Vertretern aller Gläubigen gesprochen. Hätte Jesus einem <strong>de</strong>r Jünger eine beson<strong>de</strong>re Autorität<br />

verliehen, dann wür<strong>de</strong>n wir sie nicht so oft darüber streiten sehen, wer <strong>de</strong>r größte unter ihnen<br />

wäre; sie wür<strong>de</strong>n sich <strong>de</strong>m Wunsche ihres Meisters unterworfen und <strong>de</strong>n geehrt haben, <strong>de</strong>n er<br />

281


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

erwählt hätte. Statt einen zum Ersten zu berufen, sagte Jesus seinen Jüngern: „Ihr sollt euch<br />

nicht Rabbi nennen lassen ... Und ihr sollt euch nicht lassen Lehrer nennen; <strong>de</strong>nn einer ist euer<br />

Lehrer, Christus.“ Matthäus 23,8.10.<br />

„Christus ist eines jeglichen Mannes Haupt.“ 1.Korinther 11,3. Gott, <strong>de</strong>r alle Dinge unter<br />

seine Füße getan hat, „hat ihn gesetzt zum Haupt <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong> über alles, welche da ist sein<br />

Leib, nämlich die Fülle <strong>de</strong>s, <strong>de</strong>r alles in allen erfüllt“. Epheser 1,22.23. <strong>Die</strong> Gemein<strong>de</strong> ist auf<br />

Christus gebaut; sie soll ihm als ihrem Haupt gehorchen; sie soll sich auch nicht auf Menschen<br />

verlassen o<strong>de</strong>r von Menschen beherrscht wer<strong>de</strong>n. Viele meinen, daß eine Vertrauensstellung in<br />

<strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong> ihnen das Recht gibt, an<strong>de</strong>ren vorzuschreiben, was sie glauben und was sie tun<br />

sollen. Gott aber anerkennt solchen Anspruch nicht; <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Heiland sagt: „Ihr aber seid alle<br />

Brü<strong>de</strong>r.“ Matthäus 23,8. Alle sind <strong>de</strong>r Versuchung ausgesetzt, alle <strong>de</strong>m Irrtum unterworfen, auf<br />

kein sterbliches Wesen können wir uns als Führer verlassen. Der Fels <strong>de</strong>s Glaubens ist die<br />

lebendige Gegenwart <strong>Christi</strong> in <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong>; darauf kann sich auch <strong>de</strong>r Schwächste verlassen,<br />

und die sich am stärksten dünken, wer<strong>de</strong>n sich als die Schwächsten erweisen, wenn sie nicht<br />

Christus zu ihrer Stärke machen. „Verflucht ist <strong>de</strong>r Mann, <strong>de</strong>r sich auf Menschen verläßt und<br />

hält Fleisch für seinen Arm.“ Jeremia 17,5. Der Herr „ist ein Fels. Seine Werke sind<br />

vollkommen“. 5.Mose 32,4. „Wohl allen, die auf ihn trauen!“ Psalm 2,12.<br />

Nach <strong>de</strong>m Bekenntnis <strong>de</strong>s Petrus gebot Jesus <strong>de</strong>n Jüngern, nieman<strong>de</strong>m zu sagen, daß er<br />

Christus sei. <strong>Die</strong>sen Auftrag gab er ihnen wegen <strong>de</strong>s entschlossenen Wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r<br />

Schriftgelehrten und Pharisäer; außer<strong>de</strong>m hatten das Volk und selbst die Jünger eine so falsche<br />

Vorstellung von <strong>de</strong>m Messias, daß eine öffentliche Ankündigung ihnen nicht <strong>de</strong>n richtigen<br />

Begriff von seinem Wesen und seiner Aufgabe geben wür<strong>de</strong>. Aber Tag für Tag offenbarte er<br />

sich ihnen als Heiland. Auf diese Weise wollte er ihnen ein richtiges Verständnis seines<br />

Wirkens als Messias geben.<br />

Noch immer erwarteten die Jünger, Christus als weltlichen Fürsten herrschen zu sehen.<br />

Obgleich er so lange sein Vorhaben verborgen hatte, glaubten sie, daß er nicht immer in Armut<br />

und Verborgenheit bliebe und daß die Zeit nahe sei, da er sein Reich aufrichten wür<strong>de</strong>. Daß <strong>de</strong>r<br />

Haß <strong>de</strong>r Priester und Rabbiner die Oberhand behalten, daß Christus von seinem eigenen Volk<br />

verworfen, als Betrüger verurteilt und als Verbrecher gekreuzigt wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>, das kam <strong>de</strong>n<br />

Jüngern nie in <strong>de</strong>n Sinn. Aber die dunkle Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r höllischen Macht kam immer näher. Jesus<br />

mußte seine Jünger mit <strong>de</strong>m ihnen bevorstehen<strong>de</strong>n Kampf vertraut machen. Er war traurig, als<br />

er ihre kommen<strong>de</strong>n Nöte und Ängste voraussah.<br />

Bisher hatte Jesus noch nicht über seine Lei<strong>de</strong>n und seinen Tod gesprochen. Wohl hatte er in<br />

seiner Unterredung mit Niko<strong>de</strong>mus gesagt: „Wie Mose in <strong>de</strong>r Wüste die Schlange erhöht hat, so<br />

muß <strong>de</strong>s Menschen Sohn erhöht wer<strong>de</strong>n, auf daß alle, die an ihn glauben, das ewige Leben<br />

haben“ (Johannes 3,14.15), aber die Jünger hatten diese Worte nicht gehört und wür<strong>de</strong>n sie auch<br />

gar nicht verstan<strong>de</strong>n haben, wenn sie sie gehört hätten. Jetzt aber waren sie bei ihrem Meister,<br />

lauschten seinen Worten, sahen seine Werke und stimmten trotz aller Niedrigkeit, die ihn<br />

umgab, trotz <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r Priester und <strong>de</strong>s Volkes <strong>de</strong>m Zeugnis <strong>de</strong>s Petrus über ihn zu:<br />

„Du bist Christus, <strong>de</strong>s lebendigen Gottes Sohn.“ Jetzt war die Zeit gekommen, die Zukunft zu<br />

282


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

entschleiern. „Seit <strong>de</strong>r Zeit fing Jesus Christus an und zeigte seinen Jüngern, wie er müßte hin<br />

nach Jerusalem gehen und viel lei<strong>de</strong>n ... und getötet wer<strong>de</strong>n und am dritten Tage<br />

auferstehen.“ Matthäus 16,21.<br />

Sprachlos vor Erstaunen und Kummer hörten ihm die Jünger zu. Der Heiland hatte das<br />

Bekenntnis <strong>de</strong>s Petrus von ihm als <strong>de</strong>m Sohn Gottes angenommen; nun schienen seine Worte<br />

von Lei<strong>de</strong>n, Not und Tod unbegreiflich. Petrus konnte nicht länger an sich halten: „Herr“, rief<br />

er und faßte seinen Meister fest bei <strong>de</strong>r Hand, als wollte er ihn vor <strong>de</strong>m ihm drohen<strong>de</strong>n Unheil<br />

bewahren, „das verhüte Gott! Das wi<strong>de</strong>rfahre dir nur nicht!“ Matthäus 16,22.<br />

Petrus liebte seinen Herrn. Und <strong>de</strong>nnoch lobte ihn Jesus nicht, als er so ungestüm das<br />

Verlangen bekun<strong>de</strong>te, seinen Herrn zu schützen. Petri Worte konnten <strong>de</strong>m Herrn in <strong>de</strong>r großen<br />

Prüfung, die seiner wartete, we<strong>de</strong>r Trost noch Hilfe sein; auch stan<strong>de</strong>n sie nicht in Einklang mit<br />

<strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong>nabsicht Gottes gegenüber einer verlorenen Welt; schließlich stimmten sie auch mit<br />

<strong>de</strong>n Lehren <strong>de</strong>r Selbstverleugnung nicht überein, die Jesus durch sein Beispiel geben wollte.<br />

Petrus wollte das Kreuz in <strong>de</strong>m Werke <strong>Christi</strong> nicht sehen. Der Eindruck, <strong>de</strong>n seine Worte<br />

machten, wi<strong>de</strong>rsprach daher <strong>de</strong>m Einfluß, <strong>de</strong>n Jesus auf die Gemüter seiner Nachfolger ausüben<br />

wollte. Das veranlaßte <strong>de</strong>n Herrn auch zu <strong>de</strong>m strengsten Verweis, <strong>de</strong>r je über seine Lippen<br />

kam: „Hebe dich, Satan, von mir! <strong>de</strong>nn du meinst nicht, was göttlich, son<strong>de</strong>rn was menschlich<br />

ist.“ Markus 8,33.<br />

Satan wollte Jesus entmutigen und ihn von seiner Mission ablenken, und Petrus in seiner<br />

blin<strong>de</strong>n Liebe lieh dieser Versuchung seine Stimme. Der Fürst alles Bösen war <strong>de</strong>r Urheber<br />

dieses Gedankens; er flüsterte <strong>de</strong>m Petrus jenen voreiligen Wunsch ein. In <strong>de</strong>r Wüste<br />

hatte Satan <strong>de</strong>m Heiland die Herrschaft <strong>de</strong>r Welt unter <strong>de</strong>r Bedingung angeboten, daß er <strong>de</strong>n<br />

Pfad <strong>de</strong>r Erniedrigung und Aufopferung verlasse; jetzt kam er mit <strong>de</strong>r gleichen Versuchung zu<br />

<strong>de</strong>m Jünger, um <strong>de</strong>ssen Blick auf die irdische Herrlichkeit zu lenken, damit er das Kreuz, auf<br />

das <strong>de</strong>r Herr die Augen <strong>de</strong>r Jünger richten wollte, nicht wahrnehme. Durch Petrus trat Satan nun<br />

wie<strong>de</strong>rum mit <strong>de</strong>r Versuchung an Jesus heran; aber dieser beachtete sie diesmal nicht; seine<br />

Gedanken waren bei seinen Jüngern. Satan war zwischen Jesus und Petrus getreten, damit <strong>de</strong>s<br />

Jüngers Herz nicht ergriffen wür<strong>de</strong> von jener Zukunftsschau, die <strong>Christi</strong> Erniedrigung um<br />

seinetwillen zeigte. Jesus sprach die scharfen Worte nicht zu Petrus, son<strong>de</strong>rn zu <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r Petrus<br />

von ihm zu trennen versuchte. „Hebe dich, Satan, von mir!“ Dränge dich nicht länger zwischen<br />

mich und meinen irren<strong>de</strong>n <strong>Die</strong>ner, laß mich Petrus von Angesicht zu Angesicht sehen, damit ich<br />

ihm das Geheimnis meiner Liebe offenbaren kann!<br />

Es war eine bittere Lehre für Petrus, die er nur langsam begriff; es wur<strong>de</strong> ihm schwer, zu<br />

verstehen, daß seines Meisters Weg durch Lei<strong>de</strong>n und Erniedrigung gehen müsse. Der Jünger<br />

schreckte unwillkürlich zurück vor einer Lei<strong>de</strong>nsgemeinschaft mit seinem Herrn; in <strong>de</strong>r Hitze<br />

<strong>de</strong>s Feuerofens jedoch mußte er <strong>de</strong>n Segen einer solchen Gemeinschaft lernen. Lange nach<strong>de</strong>m<br />

seine Gestalt durch die Last <strong>de</strong>r Jahre und <strong>de</strong>r Arbeit gebeugt war, schrieb er: „Ihr Lieben, lasset<br />

euch die Hitze nicht befrem<strong>de</strong>n, die euch wi<strong>de</strong>rfährt, daß ihr versucht wer<strong>de</strong>t. Meinet nicht, es<br />

wi<strong>de</strong>rführe euch etwas Seltsames, son<strong>de</strong>rn freuet euch, daß ihr mit Christus lei<strong>de</strong>t, auf daß ihr<br />

283


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

auch zur Zeit <strong>de</strong>r Offenbarung seiner Herrlichkeit Freu<strong>de</strong> und Wonne haben möget.“ 1.Petrus<br />

4,12.13.<br />

Jesus erklärte nun seinen Jüngern, daß sein Leben <strong>de</strong>r Selbstverleugnung für sie<br />

beispielgebend sein sollte; dann rief er das Volk, das sich in <strong>de</strong>r Nähe aufhielt, zu sich und<br />

sagte: „Will mir jemand nachfolgen, <strong>de</strong>r verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich<br />

und folge mir.“ Matthäus 16,24. Das Kreuz erinnerte an die Macht Roms; es war das Sinnbild<br />

<strong>de</strong>r schmählichsten und grausamsten To<strong>de</strong>sart. <strong>Die</strong> niedrigsten Verbrecher mußten das Kreuz<br />

selbst zur Richtstätte tragen; hiergegen sträubten sie sich oft mit so verzweifelter Heftigkeit, bis<br />

sie schließlich überwältigt wur<strong>de</strong>n und man ihnen das Kreuz auf ihren Schultern festband. Jesus<br />

aber gebot seinen Nachfolgern, das Kreuz freiwillig auf sich zu nehmen und ihm nachzufolgen.<br />

Seine Worte, die die Jünger nur unklar verstan<strong>de</strong>n, wiesen sie hin auf die Notwendigkeit, sich in<br />

die bittersten Lei<strong>de</strong>n zu schicken, ja sogar <strong>de</strong>n Tod um <strong>Christi</strong> willen auf sich zu nehmen. Eine<br />

größere Hingabe konnten die Worte <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s nicht ausdrücken. Er selbst hatte dies alles<br />

auch um ihretwillen auf sich genommen. Ihn verlangte nicht nach <strong>de</strong>m Himmel, solange wir<br />

Sün<strong>de</strong>r verloren waren; er vertauschte die himmlischen Höfe gegen ein Leben <strong>de</strong>r Schmach und<br />

tiefsten Beleidigungen; er litt um unsertwillen <strong>de</strong>n Tod <strong>de</strong>r Schan<strong>de</strong>. Er, <strong>de</strong>r reich war an <strong>de</strong>n<br />

unschätzbaren Gütern <strong>de</strong>s Himmels, wur<strong>de</strong> arm, damit wir durch seine Armut reich wür<strong>de</strong>n.<br />

Wir aber müssen <strong>de</strong>n Weg gehen, <strong>de</strong>n auch er ging.<br />

Menschen zu lieben, für die Jesus gestorben ist, heißt das eigene Ich zu kreuzigen. Wer ein<br />

Kind Gottes ist, sollte sich als Glied einer Kette fühlen, die vom Himmel bis auf die Er<strong>de</strong><br />

herabreicht, um die Welt zu retten. Er sollte eins sein mit Christus in seinem Gna<strong>de</strong>nplan und<br />

mit ihm vorangehen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist. Der Christ muß stets<br />

erkennen, daß er sich Gott geweiht hat und daß er nun durch seinen Charakter das Wesen Gottes<br />

<strong>de</strong>r Welt offenbaren soll. <strong>Die</strong> opferbereite Hingabe, die Teilnahme und Liebe, die das Leben<br />

<strong>Christi</strong> kennzeichneten, müssen auch im Leben <strong>de</strong>r Nachfolger <strong>Christi</strong> sichtbar wer<strong>de</strong>n.<br />

„Wer sein Leben erhalten will, <strong>de</strong>r wird‘s verlieren; wer aber sein Leben verliert um<br />

meinetwillen, <strong>de</strong>r wird‘s fin<strong>de</strong>n.“ Matthäus 16,25. Selbstsucht be<strong>de</strong>utet Tod! Kein Organ <strong>de</strong>s<br />

Körpers könnte leben, wenn es seine Wirksamkeit nur auf sich selbst beschränken wollte.<br />

Wür<strong>de</strong> das Herz sein Lebensblut nicht in Hand und Kopf leiten, verlöre es bald seine Kraft. Wie<br />

unser Blut, so durchdringt die Liebe <strong>Christi</strong> alle Teile seines geheimnisvollen Leibes. Wir sind<br />

untereinan<strong>de</strong>r Glie<strong>de</strong>r; je<strong>de</strong> Seele, die sich weigert, <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn als Bru<strong>de</strong>r anzusehen, wird<br />

umkommen. „Was hülfe es <strong>de</strong>m Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch<br />

Scha<strong>de</strong>n an seiner Seele? O<strong>de</strong>r was kann <strong>de</strong>r Mensch geben, damit er seine Seele wie<strong>de</strong>r<br />

löse?“ Matthäus 16,26.<br />

Über seine gegenwärtige Armut und Demütigung hinaus richtete Jesus <strong>de</strong>n Blick seiner<br />

Jünger auf sein Kommen in Herrlichkeit; nicht in <strong>de</strong>r Pracht einer irdischen Krone, son<strong>de</strong>rn mit<br />

göttlicher Herrlichkeit und inmitten <strong>de</strong>r himmlischen Heerscharen; „alsdann wird er einem<br />

jeglichen vergelten nach seinen Werken“. Matthäus 16,27. Zu ihrer Ermutigung gab er ihnen<br />

noch die Verheißung: „Wahrlich, ich sage euch: Es stehen etliche hier, die nicht schmecken<br />

wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Tod, bis daß sie <strong>de</strong>s Menschen Sohn kommen sehen in seinem Reich.“ Matthäus<br />

284


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

16,28. Doch die Jünger verstan<strong>de</strong>n ihn nicht. <strong>Die</strong> Herrlichkeit, von <strong>de</strong>r Jesus sprach, schien<br />

ihnen weit entfernt; ihre Augen waren auf das Näherliegen<strong>de</strong> gerichtet, auf das irdische Leben<br />

in Armut und Erniedrigung und unter schweren Lei<strong>de</strong>n. Mußten sie ihre glühen<strong>de</strong>n<br />

Erwartungen vom messianischen Reich aufgeben? Sollten sie ihren Herrn nicht auf <strong>de</strong>m Thron<br />

Davids sehen? War es <strong>de</strong>nn möglich, daß <strong>de</strong>r Heiland wie ein einfacher, heimatloser Wan<strong>de</strong>rer<br />

leben mußte, um schließlich verachtet, verworfen und getötet zu wer<strong>de</strong>n? Tiefe Traurigkeit<br />

überfiel ihre Herzen; <strong>de</strong>nn sie liebten ihren Meister. Zweifel beunruhigten ihr Gemüt; <strong>de</strong>nn es<br />

erschien ihnen unbegreiflich, daß <strong>de</strong>r Sohn Gottes solch grausamen Demütigungen ausgesetzt<br />

wer<strong>de</strong>n sollte. Sie fragten sich, warum er freiwillig nach Jerusalem ginge, um das Schicksal zu<br />

erlei<strong>de</strong>n, das ihn dort, wie er ihnen gesagt hatte, erwartete. Wie konnte er ein solches<br />

Verhängnis auf sich nehmen und sie in noch größerer Finsternis zurücklassen, als jene gewesen<br />

ist, in <strong>de</strong>r sie herumtappten, ehe er sich ihnen offenbart hatte!<br />

<strong>Die</strong> Jünger meinten, daß Jesus für Hero<strong>de</strong>s und Kaiphas in <strong>de</strong>r Gegend von Cäsarea Philippi<br />

unerreichbar wäre. Dort hätte er we<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Haß <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n noch die Macht <strong>de</strong>r Römer zu<br />

fürchten. Warum konnte er nicht dort, weit entfernt von <strong>de</strong>n Pharisäern, wirken? Warum sollte<br />

er sich selbst <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> überantworten? Wenn er sterben mußte, wie konnte dann sein Reich so<br />

unverrückbar aufgerichtet wer<strong>de</strong>n, daß die Pforten <strong>de</strong>r Hölle es nicht überwältigen wür<strong>de</strong>n? Das<br />

alles war ihnen ein großes Geheimnis. Gera<strong>de</strong> jetzt fuhren sie an <strong>de</strong>n Ufern <strong>de</strong>s Galiläischen<br />

Meeres entlang und näherten sich <strong>de</strong>r Stadt, in <strong>de</strong>r alle ihre Hoffnungen zerschlagen wer<strong>de</strong>n<br />

sollten. Sie erlaubten sich <strong>de</strong>m Herrn gegenüber keine Einwendungen; aber untereinan<strong>de</strong>r<br />

sprachen sie leise und in tiefer Betrübnis über die Zukunft. In all ihren Zweifeln aber<br />

klammerten sie sich an <strong>de</strong>n Gedanken, daß irgen<strong>de</strong>in unvorhergesehenes Ereignis das Schicksal,<br />

das ihren Herrn erwartete, wen<strong>de</strong>n möge. So trauerten, zweifelten, hofften und fürchteten sie<br />

sechs lange, trübselige Tage hindurch.<br />

285


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 46: <strong>Die</strong> Verklärung<br />

Der Abend bricht schon herein, da ruft Jesus drei seiner Jünger — Petrus, Jakobus und<br />

Johannes — zu sich und führt sie über Fel<strong>de</strong>r und unebene Wege auf einen einsamen Berg. Der<br />

Heiland und die Jünger haben <strong>de</strong>n Tag mit Wan<strong>de</strong>rn und Lehren verbracht; nun ermü<strong>de</strong>t sie <strong>de</strong>r<br />

ziemlich beschwerliche Weg merklich. Auch Christus, <strong>de</strong>r seelische und körperliche Lasten von<br />

<strong>de</strong>n Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n nahm, <strong>de</strong>r Kranke gesund gemacht, Besessene geheilt und neues Leben in<br />

schwache Körper hat strömen lassen, ist gleich <strong>de</strong>n Jüngern vom Aufstieg ermattet. <strong>Die</strong> letzten<br />

Strahlen <strong>de</strong>r untergehen<strong>de</strong>n Sonne liegen noch auf <strong>de</strong>m Gipfel <strong>de</strong>s Berges und vergol<strong>de</strong>n mit<br />

ihrem versinken<strong>de</strong>n Schein <strong>de</strong>n Pfad <strong>de</strong>r vier Wan<strong>de</strong>rer. Doch bald ist dies letzte Licht <strong>de</strong>s<br />

Tages, das noch über Hügeln und Tälern lag, erloschen; das Dunkel <strong>de</strong>r Nacht zieht herauf und<br />

umhüllt auch die einsamen Wan<strong>de</strong>rer. Das Düstere in <strong>de</strong>r Natur scheint in Einklang zu stehen<br />

mit ihrem kummervollen Leben, um das sich immer dichtere Wolken zusammenballen.<br />

<strong>Die</strong> Jünger wagen nicht, <strong>de</strong>n Herrn nach Ziel und Zweck <strong>de</strong>r Wan<strong>de</strong>rung zu fragen; zu oft<br />

schon hat er ganze Nächte in <strong>de</strong>n Bergen im Gebet zugebracht. Er, <strong>de</strong>r Schöpfer <strong>de</strong>r Berge und<br />

Täler, fühlt sich in <strong>de</strong>r freien Natur zu Hause und genießt <strong>de</strong>ren Stille. <strong>Die</strong> Jünger folgen, wohin<br />

er sie führt; <strong>de</strong>nnoch wun<strong>de</strong>rn sie sich, warum ihr Meister diesen beschwerlichen Aufstieg<br />

unternimmt, da sie ja sehr mü<strong>de</strong> sind und er selbst auch <strong>de</strong>r Ruhe bedarf. Endlich macht Jesus<br />

halt; allein geht er jetzt ein wenig seitwärts und klagt unter Tränen <strong>de</strong>m himmlischen Vater<br />

seine große Not. Er bittet um Kraft, die Prüfung um <strong>de</strong>r Menschen willen zu ertragen. Er muß<br />

sich neu stärken an <strong>de</strong>m Allmächtigen; nur dann kann er getrost <strong>de</strong>r Zukunft<br />

entgegensehen.kann er über die Zukunft nach<strong>de</strong>nken. Er legt seinem Vater auch seine<br />

Herzenswünsche für seine Jünger vor, damit in <strong>de</strong>r Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Finsternis ihr Glaube nicht<br />

wanken möchte. Nachttau fällt auf seine Gestalt; er merkt es nicht. Er achtet auch nicht <strong>de</strong>r<br />

immer tiefer wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Dunkelheit. <strong>Die</strong> Stun<strong>de</strong>n verrinnen.<br />

Anfangs vereinigen die Jünger ihre Gebete mit <strong>de</strong>m Gebet <strong>de</strong>s Herrn in aufrichtiger Hingabe:<br />

bald aber hat die Müdigkeit sie überwältigt und — sie schlafen ein . Jesus hat ihnen von seinem<br />

Lei<strong>de</strong>n erzählt und sie mitgenommen, um mit ihnen im Gebet vereint zu sein; gera<strong>de</strong> für sie<br />

betet er. Er hat die Traurigkeit <strong>de</strong>r Jünger gesehen und sehnt sich danach, ihren Kummer durch<br />

die Versicherung zu bannen, daß ihr Glaube nicht vergebens sei. Doch nicht alle Zwölf können<br />

die Offenbarung, die er geben will, aufnehmen; nur die drei, die Zeugen seiner Seelenangst in<br />

Gethsemane sein sollen, hat er erwählt, mit ihm auf <strong>de</strong>m Berge zu sein. Er bittet seinen Vater,<br />

ihnen doch die Herrlichkeit zu zeigen, die er bei ihm hatte, ehe die Welt erschaffen war, daß<br />

sein Reich <strong>de</strong>n menschlichen Augen offenbart und die Herzen <strong>de</strong>r Jünger gestärkt wer<strong>de</strong>n<br />

möchten, dieses Reich zu schauen. Er fleht um eine Offenbarung seiner Göttlichkeit, damit sie<br />

in <strong>de</strong>r Stun<strong>de</strong> seiner tiefsten Lei<strong>de</strong>n getröstet sind durch die Erkenntnis, daß er wahrhaftig<br />

Gottes Sohn ist und sein schmählicher Tod zur Erfüllung <strong>de</strong>s Erlösungsplanes gehört.<br />

Sein Gebet wird erhört. Während er sich <strong>de</strong>mütig auf <strong>de</strong>m steinigen Bo<strong>de</strong>n vor Gott beugt,<br />

öffnet sich plötzlich <strong>de</strong>r Himmel, die gol<strong>de</strong>nen Tore <strong>de</strong>r Stadt Gottes gehen weit auf, ein<br />

heiliger Glanz wirft sein Licht bis auf <strong>de</strong>n Berg hinab und umhüllt die Gestalt Jesu. Das<br />

286


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Göttliche in ihm leuchtet durch das Menschliche und begegnet <strong>de</strong>r von oben kommen<strong>de</strong>n<br />

Herrlichkeit; die hingestreckte Gestalt erhebt sich und steht in göttlicher Majestät auf <strong>de</strong>m<br />

Gipfel <strong>de</strong>s Berges. <strong>Die</strong> Seelenqual ist von ihm gewichen; sein Angesicht leuchtet „wie die<br />

Sonne“, und seine Klei<strong>de</strong>r sind „weiß wie das Licht“. Matthäus 17,2.<br />

<strong>Die</strong> Jünger erwachen; sie sehen die fluten<strong>de</strong> Herrlichkeit, die <strong>de</strong>n ganzen Berg erleuchtet,<br />

und schauen in Furcht und Staunen auf die glänzen<strong>de</strong> Gestalt ihres Meisters. Als ihre Augen<br />

sich an das blen<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Licht gewöhnt haben, sehen sie, daß Jesus nicht allein ist; zwei<br />

himmlische Wesen unterhalten sich mit ihm. Es sind Mose und Elia; Mose, <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Sinai<br />

mit Gott gere<strong>de</strong>t hatte, und Elia, <strong>de</strong>m die große Gna<strong>de</strong> wi<strong>de</strong>rfuhr, daß er <strong>de</strong>n Tod nicht zu<br />

schmecken brauchte.<br />

Auf <strong>de</strong>m Berge Pisga hatte fünfzehnhun<strong>de</strong>rt Jahre zuvor Mose gestan<strong>de</strong>n und das verheißene<br />

Land von ferne geschaut; aber um seiner bei Meriba begangenen Sün<strong>de</strong> willen durfte er es nicht<br />

betreten. Ihm wur<strong>de</strong> nicht die Freu<strong>de</strong> zuteil, die Scharen Israels in das Erbe ihrer Väter zu<br />

führen. Seine schmerzliche Bitte: „Laß mich hinübergehen und sehen das gute Land jenseits <strong>de</strong>s<br />

Jordan, dies gute Bergland und <strong>de</strong>n Libanon“ (5.Mose 3,25) wur<strong>de</strong> nicht erhört. Seine<br />

Hoffnung, die vierzig Jahre lang die Dunkelheit <strong>de</strong>r Wüstenwan<strong>de</strong>rung erhellt hatte, wur<strong>de</strong><br />

nicht erfüllt; ein Grab in <strong>de</strong>r Wüste war das Ziel jener Jahre <strong>de</strong>r Last und drücken<strong>de</strong>n Sorge.<br />

Und doch hatte er, <strong>de</strong>r „überschwenglich tun kann über alles, was wir bitten o<strong>de</strong>r verstehen“<br />

(Epheser 3,20), auch in diesem Fall die Bitte seines <strong>Die</strong>ners erhört. Mose kam in das Reich <strong>de</strong>s<br />

To<strong>de</strong>s, aber er blieb nicht lange in <strong>de</strong>r Gruft; Christus selbst rief ihn heraus zu neuem Leben.<br />

Satan, <strong>de</strong>r Betrüger, hatte <strong>de</strong>n Leib Moses seiner Sün<strong>de</strong> wegen beansprucht; aber Christus, <strong>de</strong>r<br />

Heiland, nahm ihn aus <strong>de</strong>m Grabe zu sich.<br />

Mose war auf <strong>de</strong>m Verklärungsberg Zeuge von <strong>Christi</strong> Sieg über Sün<strong>de</strong> und Tod; er war ein<br />

Sinnbild für alle, die bei <strong>de</strong>r Auferstehung <strong>de</strong>r Gerechten aus <strong>de</strong>n Gräbern hervorgehen wer<strong>de</strong>n.<br />

Elia, <strong>de</strong>r verklärt wur<strong>de</strong>, ohne <strong>de</strong>n Tod gesehen zu haben, war das Vorbild <strong>de</strong>rer, die bei <strong>Christi</strong><br />

Wie<strong>de</strong>rkunft auf Er<strong>de</strong>n leben und „verwan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n; und dasselbe plötzlich, in einem<br />

Augenblick, zur Zeit <strong>de</strong>r letzten Posaune“ (1.Korinther 15,51.52), wenn „dies Verwesliche wird<br />

anziehen die Unverweslichkeit“. 1.Korinther 15,54. Jesus war mit <strong>de</strong>m Licht <strong>de</strong>s Himmels<br />

beklei<strong>de</strong>t; so wird er zum an<strong>de</strong>rnmal erscheinen ohne Sün<strong>de</strong> zur Seligkeit; <strong>de</strong>nn er wird<br />

kommen „in <strong>de</strong>r Herrlichkeit seines Vaters mit <strong>de</strong>n heiligen Engeln“. Markus 8,38. Nun war das<br />

Versprechen, das Jesus seinen Jüngern gegeben hatte, erfüllt. Auf <strong>de</strong>m Berge wur<strong>de</strong> ihnen —<br />

im kleinen — das zukünftige Reich <strong>de</strong>r Herrlichkeit gezeigt: Christus, <strong>de</strong>r König, Mose, <strong>de</strong>r<br />

Vertreter <strong>de</strong>r auferstan<strong>de</strong>nen Gläubigen, und Elia, <strong>de</strong>r Vertreter <strong>de</strong>rer, die verwan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n<br />

„in einem Augenblick“.<br />

<strong>Die</strong> Jünger erfassen <strong>de</strong>n Vorgang noch nicht; aber sie freuen sich, daß <strong>de</strong>r geduldige Lehrer,<br />

<strong>de</strong>r Sanftmütige und Demütige, <strong>de</strong>r als schutzloser Fremdling hin und her gewan<strong>de</strong>rt ist, von<br />

<strong>de</strong>n Begna<strong>de</strong>ten Gottes geehrt wird. Sie glauben, daß Elia gekommen sei, die Regierung <strong>de</strong>s<br />

Messias zu verkündigen, und daß das Reich <strong>Christi</strong> jetzt aufgerichtet wer<strong>de</strong>n soll. <strong>Die</strong><br />

Erinnerung an ihre Furcht und Enttäuschung wollen sie für immer verbannen. Hier, wo die<br />

Herrlichkeit Gottes offenbart wird, möchten sie verweilen. Petrus ruft begeistert aus: „Herr, hier<br />

287


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

ist für uns gut sein! Willst du, so wollen wir hier drei Hütten machen, dir eine, Mose eine und<br />

Elia eine.“ Matthäus 17,4. Sie glauben zuversichtlich, daß Mose und Elia gesandt wur<strong>de</strong>n, ihren<br />

Meister zu schützen und sein Königreich auf Er<strong>de</strong>n aufzurichten.<br />

Aber das Kreuz muß <strong>de</strong>r Krone vorangehen! Nicht die feierliche Krönung Jesu zum König<br />

ist das Thema ihrer Unterhaltung, son<strong>de</strong>rn sein Tod, <strong>de</strong>r ihn in Jerusalem erwartet. In<br />

menschlicher Schwachheit, bela<strong>de</strong>n mit Kummer und frem<strong>de</strong>r Schuld, ging Christus seinen<br />

Weg allein inmitten <strong>de</strong>r Menschen. Als die Finsternis <strong>de</strong>r herannahen<strong>de</strong>n Prüfung auf ihn<br />

eindrang, war er einsam und allein in einer Welt, die ihn nicht kannte. Selbst seine geliebten<br />

Jünger, die völlig in ihren Zweifeln und Sorgen und in ihrer ehrgeizigen Hoffnung aufgingen,<br />

hatten das Geheimnis seiner Sendung nicht erfaßt. Er hatte inmitten <strong>de</strong>r Liebe und<br />

Gemeinschaft <strong>de</strong>s Himmels gelebt; aber in dieser Welt, <strong>de</strong>ren Schöpfer er war, war er einsam.<br />

Nun hatte <strong>de</strong>r Himmel seine Boten zu ihm gesandt; keine Engel, son<strong>de</strong>rn Menschen, die auch<br />

Kummer und Leid ertragen hatten, die auch mit <strong>de</strong>m Heiland mitfühlen konnten in <strong>de</strong>n Nöten<br />

<strong>de</strong>s irdischen Lebens. Mose und Elia waren <strong>Christi</strong> Mitarbeiter gewesen und hatten sein<br />

Verlangen nach <strong>de</strong>m Heil <strong>de</strong>r Menschheit mit ihm geteilt. Mose hatte sich für Israel verwandt,<br />

in<strong>de</strong>m er sagte: „Vergib ihnen doch ihre Sün<strong>de</strong>; wenn nicht, dann tilge mich aus <strong>de</strong>inem Buch,<br />

das du geschrieben hast.“ 2.Mose 32,32. Elia hatte die Einsamkeit kennengelernt, als er<br />

dreieinhalb Jahre lang während <strong>de</strong>r Teuerung <strong>de</strong>n Haß und das Unglück <strong>de</strong>s Volkes ertragen<br />

hatte. Allein hatte er auf <strong>de</strong>m Karmel für Gott gestan<strong>de</strong>n; allein war er in Angst und<br />

Verzweiflung in die Wüste geflohen. <strong>Die</strong>se Männer, die Gott vor <strong>de</strong>n Engeln erwählte, welche<br />

<strong>de</strong>n Thron umstan<strong>de</strong>n, waren erschienen, um mit Jesus über seinen Lei<strong>de</strong>nsweg zu re<strong>de</strong>n und<br />

ihn mit <strong>de</strong>r Versicherung zu trösten, daß <strong>de</strong>r ganze Himmel an seinem Leben und Sterben<br />

Anteil nähme. <strong>Die</strong> Hoffnung <strong>de</strong>r Welt, das Heil je<strong>de</strong>s einzelnen, das war das Thema ihres<br />

Gespräches.<br />

<strong>Die</strong> vom Schlaf überwältigten Jünger bemerkten nur wenig von <strong>de</strong>m, was zwischen ihrem<br />

Meister und <strong>de</strong>n himmlischen Boten vorging. Weil sie nicht wachten und beteten, entging ihnen<br />

auch das, was Gott ihnen mitteilen wollte: das Verständnis für die Lei<strong>de</strong>n <strong>Christi</strong> und die<br />

Herrlichkeit, die darauf folgen sollte. Sie verloren <strong>de</strong>n Segen, <strong>de</strong>n sie empfangen hätten, wür<strong>de</strong>n<br />

sie Jesu Selbstaufopferung mit ihm geteilt haben. <strong>Die</strong>se Jünger waren zu träge, um zu glauben,<br />

und sie erkannten kaum <strong>de</strong>n Schatz, mit <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Himmel sie reich machen wollte.<br />

Dennoch empfingen sie großes Licht. Sie erhielten die Gewißheit, daß <strong>de</strong>r Himmel die<br />

Sün<strong>de</strong> <strong>de</strong>s jüdischen Volkes, die in <strong>de</strong>r Verwerfung <strong>Christi</strong> bestand, kannte. Ihnen wur<strong>de</strong> ein<br />

besseres Verständnis <strong>de</strong>r Aufgabe <strong>de</strong>s Erlösers geschenkt. Sie sahen mit ihren Augen und<br />

hörten mit ihren Ohren Dinge, die über das menschliche Verstehen hinausgingen. Sie schauten<br />

seine Herrlichkeit und erkannten, daß Jesus wirklich <strong>de</strong>r Messias war, von <strong>de</strong>m die Patriarchen<br />

und Propheten geweissagt und verkündigt hatten, und daß er von allen Wesen <strong>de</strong>s Himmels<br />

geehrt wur<strong>de</strong>. Während sie noch das herrliche Schauspiel betrachteten, „überschattete sie eine<br />

lichte Wolke. Und siehe, eine Stimme aus <strong>de</strong>r Wolke sprach: <strong>Die</strong>s ist mein lieber Sohn, an<br />

welchem ich Wohlgefallen habe; <strong>de</strong>n sollt ihr hören“. Matthäus 17,5. Als die Jünger die<br />

Herrlichkeit dieser Wolke schauten, die die Herrlichkeit <strong>de</strong>r vor <strong>de</strong>m Volk Israel in <strong>de</strong>r Wüste<br />

288


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

herziehen<strong>de</strong>n Wolke übertraf, als sie Gottes Stimme hörten, die einst in gebieten<strong>de</strong>r Majestät<br />

<strong>de</strong>n Berg erzittern ließ, fielen sie erschreckt zu Bo<strong>de</strong>n und blieben mit verhüllten Angesichtern<br />

auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> liegen, bis Jesus zu ihnen trat, sie anrührte und durch seine wohlbekannte Stimme<br />

alle Furcht vertrieb; seine Worte: „Stehet auf und fürchtet euch nicht!“ (Matthäus 17,7)<br />

beruhigten sie. Als sie ihre Augen wie<strong>de</strong>r öffneten, war die himmlische Erscheinung vergangen,<br />

Mose und Elia waren verschwun<strong>de</strong>n, und sie stan<strong>de</strong>n auf <strong>de</strong>m Berg mit <strong>de</strong>m Heiland allein.<br />

289


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 47: Fähig zum <strong>Die</strong>nst<br />

Jesus hatte die ganze Nacht mit <strong>de</strong>n Jüngern auf <strong>de</strong>m Berge verbracht. Erst als <strong>de</strong>r Morgen<br />

graute, stiegen sie wie<strong>de</strong>r in die Ebene hinab. In Gedanken versunken, schwiegen die Jünger in<br />

ehrfürchtiger Scheu; selbst Petrus sprach kein Wort. Gern hätten sie noch länger an jener<br />

heiligen Stätte verweilt, die von himmlischem Licht verklärt wor<strong>de</strong>n war und wo Jesus seine<br />

Herrlichkeit offenbart hatte; aber es gab noch viel für das Volk zu tun, das von nah und fern<br />

herbeigekommen war und nach Jesus verlangte. Am Fuße <strong>de</strong>s Berges hatte sich diese<br />

Volksmenge unter Leitung <strong>de</strong>r zurückgebliebenen Jünger versammelt, aber niemand wußte,<br />

wohin Jesus sich begeben hatte. Als nun <strong>de</strong>r Heiland sich näherte, befahl er seinen Begleitern,<br />

über das Geschehene Stillschweigen zu bewahren: „Ihr sollt dies Gesicht niemand sagen, bis<br />

<strong>de</strong>s Menschen Sohn von <strong>de</strong>n Toten auferstan<strong>de</strong>n ist.“ Matthäus 17,9. Sie sollten diese<br />

Offenbarung in ihrem Herzen bewegen, sie aber nicht öffentlich kundtun; <strong>de</strong>nn die Menschen<br />

wür<strong>de</strong>n sie verächtlich und lächerlich machen. Ebensowenig sollten die zurückgebliebenen<br />

Apostel davon erfahren, da auch sie jenes Ereignis nicht begriffen, bis Jesus von <strong>de</strong>n Toten<br />

auferstan<strong>de</strong>n wäre. Wie schwer sogar die drei von Jesus bevorzugten Jünger das Geschehen auf<br />

<strong>de</strong>m Berge verstehen konnten, davon zeugt die Tatsache, daß sie sich — ungeachtet alles<br />

<strong>de</strong>ssen, was Jesus ihnen von <strong>de</strong>m ihm bevorstehen<strong>de</strong>n Lei<strong>de</strong>nsweg gesagt hatte —<br />

untereinan<strong>de</strong>r fragten, was <strong>de</strong>nn die Auferstehung <strong>de</strong>r Toten zu be<strong>de</strong>uten habe. Trotz ihres<br />

Nichtverstehens fragten sie Jesus nicht nach <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung seiner Worte. Seine Erklärung über<br />

die nächste Zukunft hatte sie so traurig gestimmt, daß sie keine weitere Aufklärung wünschten.<br />

Sie hofften sogar, daß alle diese Ereignisse niemals eintreten möchten.<br />

Als das in <strong>de</strong>r Ebene versammelte Volk <strong>de</strong>n Heiland kommen sah, liefen viele ihm entgegen<br />

und begrüßten ihn mit größter Ehrfurcht und Freu<strong>de</strong>; <strong>de</strong>nnoch bemerkte Jesus sofort, daß die<br />

Leute sehr verlegen und unruhig waren. Auch die Jünger schienen nie<strong>de</strong>rgeschlagen zu sein.<br />

Das war auf ein Ereignis zurückzuführen, das sich soeben zugetragen und ihnen bittere<br />

Enttäuschung und Demütigung beschert hatte.<br />

Während sie am Fuße <strong>de</strong>s Berges warteten, hatte ein Vater seinen Sohn zu ihnen gebracht,<br />

damit sie diesen von einem bösen Geist, <strong>de</strong>r ihn sehr quälte, befreiten. Jesus hatte <strong>de</strong>n Jüngern<br />

Macht über unreine Geister verliehen, als er die Zwölf aussandte, in Galiläa zu predigen.<br />

Solange sie glaubensstark die ihnen aufgetragene Aufgabe ausführten, gehorchten die Geister<br />

ihrem Wort. Auch jetzt geboten sie <strong>de</strong>m bösen Geist in Jesu Namen, sein Opfer zu verlassen;<br />

aber <strong>de</strong>r Dämon spottete ihrer nur durch eine größere Entfaltung seiner Macht. <strong>Die</strong> Jünger<br />

konnten sich ihre Nie<strong>de</strong>rlage nicht erklären und erkannten, daß sie sich und ihrem Meister einen<br />

schlechten <strong>Die</strong>nst erwiesen hatten. Unter <strong>de</strong>r Menge befan<strong>de</strong>n sich Schriftgelehrte, die diese<br />

Gelegenheit benutzten, um die Jünger zu <strong>de</strong>mütigen. Sie drängten sich an die Apostel heran,<br />

verwickelten sie in schwierige Fragen und versuchten zu beweisen, daß sie und ihr Meister<br />

Betrüger seien; hier, erklärten die Rabbiner triumphierend, sei ein böser Geist, <strong>de</strong>n we<strong>de</strong>r die<br />

Jünger noch Christus selbst besiegen könnten. <strong>Die</strong> Gunst <strong>de</strong>s Volkes neigte sich auf die Seite<br />

<strong>de</strong>r Schriftgelehrten, und Verachtung und Spott für die Jünger erfüllte die Menge.<br />

290


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Aber plötzlich verstummten die Anklagen. Jesus und seine drei Gefährten hatten sich <strong>de</strong>m<br />

Volk genähert, und nun ging die Menge ihm in überraschend schnellem Gefühlsumschwung<br />

entgegen. <strong>Die</strong> letzte Nacht hatte durch die Gemeinschaft mit <strong>de</strong>r himmlischen Herrlichkeit bei<br />

<strong>de</strong>m Heiland und seinen Begleitern ihre Spuren hinterlassen. Auf ihren Angesichtern ruhte ein<br />

Glanz, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Beobachtern Ehrfurcht abnötigte. <strong>Die</strong> Rabbiner zogen sich scheu zurück, das<br />

Volk aber hieß <strong>de</strong>n Herrn willkommen. Jesus ging erstaunlicherweise zuerst auf <strong>de</strong>n Besessenen<br />

zu, als hätte er das eben Geschehene miterlebt, richtete dann seinen Blick auf die<br />

Schriftgelehrten und sagte: „Was streitet ihr euch mit ihnen?“ Markus 9,16.<br />

<strong>Die</strong> vorher so lauten und kühnen Re<strong>de</strong>n verstummten jetzt; drücken<strong>de</strong> Stille lag über <strong>de</strong>r<br />

ganzen Versammlung. Da bahnte sich <strong>de</strong>r Vater <strong>de</strong>s Besessenen einen Weg durch die Menge,<br />

fiel <strong>de</strong>m Herrn zu Füßen und klagte ihm seinen ganzen Kummer und seine<br />

Enttäuschung. „Meister“, sagte er, „ich habe meinen Sohn hergebracht zu dir, <strong>de</strong>r hat einen<br />

sprachlosen Geist. Und wo er ihn erwischt, so reißt er ihn... Ich habe mit <strong>de</strong>inen Jünger gere<strong>de</strong>t,<br />

daß sie ihn austrieben, und sie konnten es nicht.“ Markus 9,17.18. Jesus blickte auf die<br />

ehrfürchtig schweigen<strong>de</strong> Menge, auf die heuchlerischen Schriftgelehrten und die verwirrten<br />

Jünger; er las Unglauben in aller Herzen und sagte schmerzerfüllt: „O du ungläubiges<br />

Geschlecht, wie lange soll ich bei euch sein? Wie lange soll ich euch ertragen?“ Er gebot <strong>de</strong>m<br />

betrübten Vater: „Bringet ihn her zu mir!“ Markus 9,19.<br />

Der Knabe wur<strong>de</strong> gebracht. Sobald <strong>de</strong>r Blick <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s auf ihn fiel, warf <strong>de</strong>r unreine<br />

Geist <strong>de</strong>n Knaben in schmerzhaften Zuckungen zur Er<strong>de</strong>; dieser wälzte sich, schäumte und<br />

erfüllte die Luft mit gräßlichen Schreckenslauten. Wie<strong>de</strong>r stan<strong>de</strong>n sich <strong>de</strong>r Herr <strong>de</strong>s Lebens und<br />

<strong>de</strong>r Fürst <strong>de</strong>r Mächte <strong>de</strong>r Finsternis gegenüber — Christus bei <strong>de</strong>r Erfüllung seines <strong>Die</strong>nstes,<br />

„zu predigen <strong>de</strong>n Gefangenen, daß sie los sein sollen, und <strong>de</strong>n Blin<strong>de</strong>n, daß sie sehend wer<strong>de</strong>n,<br />

und <strong>de</strong>n Zerschlagenen, daß sie frei und ledig sein sollen“ (Lukas 4,18), und Satan, <strong>de</strong>r<br />

versuchte, seine Beute in seiner Gewalt zu behalten. Engel <strong>de</strong>s Lichts und Scharen böser Geister<br />

drängten sich ungesehen heran, um <strong>de</strong>m Kampf zuzuschauen. Für Augenblicke erlaubte Jesus<br />

<strong>de</strong>m bösen Geist, seine Macht zu entfalten, damit die anwesen<strong>de</strong> Menge das folgen<strong>de</strong><br />

Erlösungswerk besser erfassen konnte.<br />

<strong>Die</strong> Menge schaute mit angehaltenem Atem auf das Schauspiel, das sich ihren Augen bot; im<br />

Herzen <strong>de</strong>s Vaters wechselten Furcht mit Hoffnung. Jesus fragte: „Wie lange ist‘s, daß ihm das<br />

wi<strong>de</strong>rfährt?“ Und <strong>de</strong>r Vater berichtete von vielen Jahren <strong>de</strong>s Lei<strong>de</strong>ns und <strong>de</strong>r Not; dann rief er<br />

in höchster Verzweiflung: „Kannst du aber was, so erbarme dich unser und hilf uns!“ Markus<br />

9,21.22. Durch die Worte „Kannst du aber was“ zeigte auch <strong>de</strong>r Vater, daß er an <strong>de</strong>r Macht<br />

<strong>Christi</strong> zweifelte. Jesus antwortete: „Wie sprichst du: Kannst du was? Alle Dinge sind möglich<br />

<strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r da glaubt.“ Markus 9,23. Es liegt nicht an <strong>de</strong>r unzureichen<strong>de</strong>n Macht <strong>Christi</strong>, die<br />

Gesundheit <strong>de</strong>s Sohnes hängt allein von <strong>de</strong>m Glauben <strong>de</strong>s Vaters ab. Er erkennt dies und bricht<br />

über seine eigene Schwäche in Tränen aus. Mit <strong>de</strong>m Ruf „Ich glaube; hilf meinem Unglauben!“<br />

(Markus 9,24) klammert er sich zuversichtlich an Jesu Barmherzigkeit.<br />

Nun wen<strong>de</strong>t sich <strong>de</strong>r Heiland an <strong>de</strong>n Besessenen und sagt: „Du sprachloser und tauber Geist,<br />

ich gebiete dir, daß du von ihm ausfahrest und fahrest hinfort nicht in ihn!“ Markus 9,25. Man<br />

291


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

hört einen Schrei und erlebt einen qualvollen Kampf; es scheint, als ob <strong>de</strong>r Dämon seinem<br />

Opfer das Leben entreißt; <strong>de</strong>r Knabe liegt ohne Bewegung und anscheinend leblos da. In <strong>de</strong>r<br />

Menge flüstert man sich zu: „Er ist tot.“ Jesus aber ergreift seine Hand, richtet ihn auf und<br />

übergibt ihn seinem Vater — vollkommen gesund an Leib und Seele! Vater und Sohn loben <strong>de</strong>n<br />

Namen ihres Erlösers; die Menge aber ist erschüttert von <strong>de</strong>r „Herrlichkeit Gottes“, während<br />

sich die Schriftgelehrten, besiegt und verstimmt, in verbissenem Trotz schweigend abwen<strong>de</strong>n.<br />

„Kannst du aber was, so erbarme dich unser und hilf uns!“ Markus 9,21.22. Wie viele<br />

sün<strong>de</strong>nschwere Herzen haben jenes Gebet schon an Gott gerichtet! Und allen antwortet <strong>de</strong>r<br />

mitleidvolle Heiland: „Was heißt hier: ‚Wenn du kannst‘? ... Wenn du nur Vertrauen hast, ist<br />

alles möglich.“ Markus 9,23 (GN). Der Glaube verbin<strong>de</strong>t uns mit <strong>de</strong>m Himmel; er verleiht uns<br />

auch die Kraft, <strong>de</strong>n Mächten <strong>de</strong>r Finsternis gewachsen zu sein. In <strong>de</strong>r Person Jesu <strong>Christi</strong> hat<br />

<strong>de</strong>r Vater die Möglichkeit gegeben, je<strong>de</strong> sündhafte Neigung zu überwin<strong>de</strong>n und je<strong>de</strong>r<br />

Versuchung, wie stark sie auch sein mag, zu wi<strong>de</strong>rstehen. Viele jedoch bemerken, daß ihnen <strong>de</strong>r<br />

Glaube fehlt, und <strong>de</strong>shalb halten sie sich von Christus fern. Wenn sich doch solche Seelen in<br />

ihrer Hilflosigkeit an die Barmherzigkeit ihres mitfühlen<strong>de</strong>n Heilan<strong>de</strong>s klammerten und nicht<br />

auf sich, son<strong>de</strong>rn auf <strong>de</strong>n Herrn blickten! Er, <strong>de</strong>r die Kranken heilte und die bösen Geister<br />

austrieb, als er hier auf Er<strong>de</strong>n wan<strong>de</strong>lte, ist <strong>de</strong>rselbe mächtige Erlöser auch heute noch. Der<br />

Glaube kommt durch das Wort Gottes, also ergreife die Verheißung: „Wer zu mir kommt, <strong>de</strong>n<br />

wer<strong>de</strong> ich nicht hinausstoßen.“ Johannes 6,37. Wirf dich Jesus zu Füßen mit <strong>de</strong>m Ruf: „Ich<br />

glaube; hilf meinem Unglauben!“ Markus 9,24. Du kannst niemals ver<strong>de</strong>rben, wenn du so<br />

han<strong>de</strong>lst, und wirst nimmer verzagen!<br />

In kurzer Zeit haben die drei Jünger die höchste Herrlichkeit, aber auch die tiefste<br />

Erniedrigung gesehen. Sie sahen <strong>de</strong>n Menschen, verklärt in Gottes Ebenbild und entartet zur<br />

Ähnlichkeit Satans. Sie haben Jesus von <strong>de</strong>m Berge, wo er mit <strong>de</strong>n himmlischen Boten<br />

gesprochen hat und wo er von <strong>de</strong>r Stimme aus <strong>de</strong>r strahlen<strong>de</strong>n Herrlichkeit als <strong>de</strong>r Sohn Gottes<br />

anerkannt wor<strong>de</strong>n ist, herabsteigen sehen, um jenem schmerzlichen und abstoßen<strong>de</strong>n Schauspiel<br />

zu begegnen, jenem besessenen Knaben mit <strong>de</strong>n verzerrten Gesichtszügen und <strong>de</strong>n in<br />

krampfartigem Schmerz knirschen<strong>de</strong>n Zähnen, <strong>de</strong>m keine menschliche Macht Befreiung<br />

bringen konnte. Und nun beugt sich dieser mächtige Erlöser, <strong>de</strong>r noch vor kurzer Zeit verklärt<br />

vor <strong>de</strong>n verwun<strong>de</strong>rten Jüngern stand, zu <strong>de</strong>m Opfer Satans herab, das sich in Krämpfen vor ihm<br />

win<strong>de</strong>t, um es aufzurichten und an Leib und Seele gesund seiner Familie zurückzugeben.<br />

An diesem Beispiel wur<strong>de</strong> das Erlösungsgeschehen ver<strong>de</strong>utlicht. Der Göttliche, <strong>de</strong>r noch von<br />

<strong>de</strong>r Herrlichkeit seines himmlischen Vaters erfüllt ist, beugt sich herab, um das Verlorene zu<br />

retten. Es veranschaulichte auch die Aufgabe <strong>de</strong>r Apostel. Ihr Leben sollte sich nicht nur in <strong>de</strong>r<br />

Gemeinschaft Jesu auf <strong>de</strong>m Bergesgipfel, nicht nur in Stun<strong>de</strong>n geistlicher Erleuchtung, son<strong>de</strong>rn<br />

auch in <strong>de</strong>r Arbeit für die verlorenen Seelen erfüllen. <strong>Die</strong> Jünger mußten lernen, daß Menschen,<br />

die unter <strong>de</strong>r Gewalt Satans stehen, auf das Evangelium und auf ihre Fürbitte warten, um wie<strong>de</strong>r<br />

frei zu wer<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> neun Jünger dachten immer noch an ihre bittere Nie<strong>de</strong>rlage. Sobald sie mit<br />

ihrem Herrn allein waren, fragten sie ihn: „Warum konnten wir ihn nicht austreiben?“ Jesus<br />

antwortete ihnen: „Um eures Kleinglaubens willen. Denn ich sage euch wahrlich: Wenn ihr<br />

292


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Glauben habt wie ein Senfkorn, so könnt ihr sagen zu diesem Berge: Hebe dich von hinnen<br />

dorthin! so wird er sich heben; und euch wird nichts unmöglich sein. Aber diese Art fährt nur<br />

aus durch Beten und Fasten.“ Matthäus 17,19-21. Ihr Unglaube, <strong>de</strong>r ihnen ein tieferes Mitgefühl<br />

mit Jesus verwehrte, und die Oberflächlichkeit, mit <strong>de</strong>r sie die ihnen anvertraute heilige<br />

Aufgabe betrachteten, verursachten ihre Nie<strong>de</strong>rlage im Kampf mit <strong>de</strong>n Mächten <strong>de</strong>r Finsternis.<br />

Jesu Worte über sein Lei<strong>de</strong>n und Sterben hatten Trauer und auch Zweifel in <strong>de</strong>n Jüngern<br />

erweckt; die Erwählung <strong>de</strong>r drei Jünger Petrus, Johannes und Jakobus, die Jesus auf <strong>de</strong>n Berg<br />

begleiten durften, hatte die Eifersucht <strong>de</strong>r Zurückbleiben<strong>de</strong>n hervorgerufen. Statt ihren Glauben<br />

zu stärken, in<strong>de</strong>m sie beteten und über Jesu Worte nachdachten, gaben sie ihrer Entmutigung<br />

und ihrem persönlichen Kummer Ausdruck. In diesem Zustand war von ihnen <strong>de</strong>r Kampf mit<br />

<strong>de</strong>n bösen Geistern aufgenommen wor<strong>de</strong>n. Um einen solchen Kampf siegreich führen zu<br />

können, mußten sie bei ihrer Aufgabe eine an<strong>de</strong>re Gesinnung offenbaren. Ihr Glaube mußte<br />

durch ernstes Gebet, durch Fasten und tiefe Herzens<strong>de</strong>mut gestärkt wer<strong>de</strong>n; sie mußten vom<br />

eigenen Ich abrücken und sich mit <strong>de</strong>m Geist und <strong>de</strong>r Kraft Gottes erfüllen lassen. Nur ernstes,<br />

anhalten<strong>de</strong>s Gebet zu Gott im Glauben — in einem Glauben, <strong>de</strong>r zu völliger Abhängigkeit von<br />

ihm und zu rückhaltloser Hingabe an sein Werk führt — kann uns die Hilfe <strong>de</strong>s Heiligen<br />

Geistes im Kampf gegen Fürsten und Gewaltige, die Herrscher <strong>de</strong>r Finsternis dieser Welt, und<br />

gegen die bösen Geister unter <strong>de</strong>m Himmel bringen.<br />

„Wenn ihr Glauben habt wie ein Senfkorn“, sagte Jesus, „so könnt ihr sagen zu diesem<br />

Berge: Hebe dich von hinnen dorthin! so wird er sich heben.“ Obgleich ein Senfkorn winzig<br />

klein und unscheinbar ist, enthält es doch <strong>de</strong>n gleichen geheimnisvollen Lebenskeim, <strong>de</strong>r das<br />

Wachstum <strong>de</strong>s größten Baumes erzeugt. Wenn das Senfkorn in <strong>de</strong>n Schoß <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> kommt,<br />

vereinigt es sich mit <strong>de</strong>m, was Gott zu seiner Nahrung vorgesehen hat; so entwickelt es schnell<br />

ein kräftiges Wachstum. Wenn unser Glaube diesem Senfkorn gleich ist, wer<strong>de</strong>n wir das Wort<br />

Gottes und alle von <strong>de</strong>m Schöpfer bestimmten Hilfsmittel ergreifen. Dadurch wird unser Glaube<br />

erstarken und uns mit himmlischer Kraft ausstatten. <strong>Die</strong> Hin<strong>de</strong>rnisse, die <strong>de</strong>r böse Feind in<br />

unseren Weg legt und die sich so oft scheinbar unüberwindlich vor uns auftürmen, wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r<br />

For<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Glaubens weichen. „Euch wird nichts unmöglich sein.“<br />

293


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 48: Wer ist <strong>de</strong>r Größte?<br />

Als Jesus nach Kapernaum zurückkehrte, begab er sich nicht zu <strong>de</strong>n wohlbekannten Stätten,<br />

an <strong>de</strong>nen er das Volk gelehrt hatte, son<strong>de</strong>rn suchte mit seinen Jüngern unauffällig das Haus auf,<br />

das vorübergehend sein Heim wer<strong>de</strong>n sollte. Während seines restlichen Aufenthaltes in Galiläa<br />

war es sein Ziel, lieber seine Jünger zu unterweisen, statt unter <strong>de</strong>r Menge zu wirken.<br />

Auf seiner Reise durch Galiläa hatte Jesus wie<strong>de</strong>rum versucht, seine Jünger auf die<br />

Ereignisse, die ihm bevorstan<strong>de</strong>n, seelisch vorzubereiten. Er erzählte ihnen, daß er nach<br />

Jerusalem gehen müsse, um dort zu sterben und aufzuerstehen. Dann fügte er die seltsame und<br />

ernste Ankündigung hinzu, daß er an seine Fein<strong>de</strong> verraten wer<strong>de</strong>n sollte. <strong>Die</strong> Jünger<br />

verstan<strong>de</strong>n seine Worte auch jetzt noch nicht. Obwohl große Sorge sie überschattete, waren ihre<br />

Herzen mehr mit Rangstreitigkeiten erfüllt. Sie zankten sich untereinan<strong>de</strong>r, wer im künftigen<br />

Reich <strong>de</strong>r Größte wäre. <strong>Die</strong>sen Streit aber suchten sie vor Jesus zu verbergen. Deshalb gingen<br />

sie nicht wie gewöhnlich dicht an seiner Seite, son<strong>de</strong>rn schlen<strong>de</strong>rten hinter ihm her, so daß er<br />

vor ihnen her ging, als sie in Kapernaum eintrafen. Jesus durchschaute ihre Gedanken und<br />

wollte ihnen Rat und Belehrung erteilen. Dazu wartete er aber eine stille Stun<strong>de</strong> ab, in <strong>de</strong>r ihre<br />

Herzen für seine Worte aufgeschlossen waren.<br />

Bald nach<strong>de</strong>m sie die Stadt erreicht hatten, kam <strong>de</strong>r Steuerbeamte, <strong>de</strong>r die Tempelabgaben<br />

sammelte, zu Petrus mit <strong>de</strong>r Frage: „Pflegt euer Meister nicht <strong>de</strong>n Tempelgroschen zu<br />

geben?“ Matthäus 17,24. Es han<strong>de</strong>lte sich dabei nicht um eine bürgerliche Steuer, son<strong>de</strong>rn um<br />

einen Betrag, <strong>de</strong>n je<strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong> jährlich für <strong>de</strong>n Unterhalt <strong>de</strong>s Tempels zu zahlen hatte. <strong>Die</strong><br />

Weigerung, diesen Beitrag zu entrichten, galt als Untreue <strong>de</strong>m Tempel gegenüber, und das war<br />

in <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>r Rabbiner eine beson<strong>de</strong>rs schwere Sün<strong>de</strong>. <strong>Die</strong> Einstellung <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s zu<br />

<strong>de</strong>n Gesetzen <strong>de</strong>r Rabbiner und sein <strong>de</strong>utlicher Ta<strong>de</strong>l für die Verteidiger <strong>de</strong>r Tradition lieferte<br />

einen Vorwand für die Anschuldigung, er trachte danach, <strong>de</strong>n Tempeldienst umzustoßen. Nun<br />

sahen seine Fein<strong>de</strong> eine günstige Gelegenheit, ihn in Verruf zu bringen. In <strong>de</strong>m Mann, <strong>de</strong>r die<br />

Tempelsteuer erhob, fan<strong>de</strong>n sie einen bereitwilligen Verbün<strong>de</strong>ten.<br />

Petrus hielt die Frage <strong>de</strong>s Steuereinnehmers für eine Unterstellung, die <strong>Christi</strong> Treue zum<br />

Tempel berührte. Eifrig auf die Ehre seines Meisters bedacht, antwortete er rasch, ohne erst zu<br />

fragen, daß Jesus die Steuer bezahlen wer<strong>de</strong>. Petrus verstand jedoch nur teilweise die Absicht<br />

<strong>de</strong>s Fragestellers. Es gab nämlich einige Volksschichten, die von <strong>de</strong>r Tempelsteuer befreit<br />

waren. Als zur Zeit Moses die Leviten zum <strong>Die</strong>nst am Heiligtum ausgeson<strong>de</strong>rt wur<strong>de</strong>n,<br />

erhielten sie unter <strong>de</strong>m Volk kein Erbteil. Der Herr sagte: „Darum haben die Leviten noch kein<br />

Erbteil und kein Besitztum. Der Herr selbst ist ihr Erbteil.“ 5.Mose 10,9 (Bruns). Noch in <strong>de</strong>n<br />

Tagen <strong>Christi</strong> galten die Priester und Leviten als beson<strong>de</strong>rs geweiht für <strong>de</strong>n Tempeldienst. Sie<br />

brauchten <strong>de</strong>shalb keinen Jahresbeitrag für <strong>de</strong>n Tempelunterhalt zu entrichten. Auch die<br />

Propheten waren davon befreit. In<strong>de</strong>m die Rabbiner <strong>de</strong>n Tempelgroschen von Jesus for<strong>de</strong>rten,<br />

übergingen sie seinen Anspruch, ein Prophet o<strong>de</strong>r Lehrer zu sein, und behan<strong>de</strong>lten ihn wie<br />

einen gewöhnlichen Sterblichen. Hätte er sich geweigert, die Steuer zu entrichten, so hätte man<br />

294


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

das als Untreue <strong>de</strong>m Tempel gegenüber ausgelegt, während an<strong>de</strong>rerseits die Bezahlung <strong>de</strong>r<br />

Steuer als Rechtfertigung dafür gegolten hätte, daß sie Jesus als Prophet verwarfen.<br />

Erst kurz zuvor war Jesus von Petrus als Sohn Gottes anerkannt wor<strong>de</strong>n; nun aber hatte<br />

dieser eine günstige Gelegenheit verpaßt, das Wesen seines Meisters darzulegen. Durch seine<br />

Antwort an <strong>de</strong>n Steuereinnehmer, daß Jesus <strong>de</strong>n Beitrag bezahlen wer<strong>de</strong>, hatte er in <strong>de</strong>r Tat die<br />

falsche Vorstellung von ihm bekräftigt, die Priester und Obere in Umlauf setzen wollten. Als<br />

Petrus heimkam, spielte <strong>de</strong>r Heiland nicht auf das an, was vorgefallen war, son<strong>de</strong>rn fragte ihn:<br />

„Was meinst du, Simon? Von wem nehmen die Könige auf Er<strong>de</strong>n Zoll o<strong>de</strong>r Steuer: von ihren<br />

Kin<strong>de</strong>rn o<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>n Frem<strong>de</strong>n?“ Petrus antwortete: „Von <strong>de</strong>n Frem<strong>de</strong>n.“ Jesus entgegnete ihm:<br />

„So sind die Kin<strong>de</strong>r frei.“ Matthäus 17,25.26. Während die Bürger eines Lan<strong>de</strong>s für <strong>de</strong>n<br />

Lebensunterhalt ihres Königs Steuern zahlen müssen, sind die Kin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Monarchen davon<br />

befreit. Genauso sollte Israel, das erklärte Volk Gottes, <strong>de</strong>n <strong>Die</strong>nst für ihn unterhalten. Jesus<br />

aber war als Sohn Gottes dazu nicht verpflichtet. Wenn Priester und Leviten wegen ihrer<br />

Bindung an <strong>de</strong>n Tempel von <strong>de</strong>r Zahlung befreit waren, so erst recht Jesus, für <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Tempel<br />

das Haus seines Vaters war.<br />

Hätte Jesus die Steuer wi<strong>de</strong>rspruchslos gezahlt, dann wür<strong>de</strong> er die Richtigkeit <strong>de</strong>r For<strong>de</strong>rung<br />

anerkannt und dadurch die eigene Göttlichkeit geleugnet haben. Er hielt es für richtig, diesem<br />

Begehren entgegenzutreten, und lehnte <strong>de</strong>shalb die For<strong>de</strong>rung ab, auf <strong>de</strong>r es beruhte. Dadurch,<br />

wie er für die Zahlung sorgte, gab er Kun<strong>de</strong> von seiner Göttlichkeit. Es wur<strong>de</strong> offenbar, daß er<br />

mit Gott eins war. Da er somit kein Untertan <strong>de</strong>s Reiches war, brauchte er auch nichts zu<br />

zahlen. „Gehe hin an das Meer“, wies Jesus Petrus an, „und wirf die Angel, und <strong>de</strong>n ersten<br />

Fisch, <strong>de</strong>r heraufkommt, <strong>de</strong>n nimm; und wenn du sein Maul aufmachst, wirst du ein<br />

Zweigroschenstück fin<strong>de</strong>n; das nimm und gib‘s ihnen für mich und dich.“ Matthäus<br />

17,27. Obwohl Christus seine Gottheit in ein menschliches Gewand gehüllt hatte, offenbarte<br />

dieses Wun<strong>de</strong>r doch seine Herrlichkeit. Es war offensichtlich, daß er es war, <strong>de</strong>r durch David<br />

erklärt hatte: „Alles Wild im Wal<strong>de</strong> ist mein und die Tiere auf <strong>de</strong>n Bergen zu Tausen<strong>de</strong>n. Ich<br />

kenne alle Vögel auf <strong>de</strong>n Bergen; und was sich regt auf <strong>de</strong>m Fel<strong>de</strong>, ist mein. Wenn mich<br />

hungerte, wollte ich dir nicht davon sagen; <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Erdkreis ist mein und alles, was darauf<br />

ist.“ Psalm 50,10-12.<br />

Als Jesus <strong>de</strong>utlich machte, daß er die Steuer nicht zu zahlen brauche, ließ er sich <strong>de</strong>swegen<br />

nicht auf einen Streit mit <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n ein. Sie hätten doch nur seine Worte falsch ausgelegt und<br />

gegen ihn gekehrt. Um dadurch, daß er nicht zahlte, keinen Anstoß zu erregen, tat er das, was<br />

von Rechts wegen nicht von ihm verlangt wer<strong>de</strong>n konnte. <strong>Die</strong>se Lehre sollte für seine Jünger<br />

von großem Wert sein, <strong>de</strong>nn bald wür<strong>de</strong> ein <strong>de</strong>utlicher Wan<strong>de</strong>l in ihrer Beziehung zum<br />

Tempeldienst eintreten. Christus aber lehrte sie, sich nicht unnötig gegen die bestehen<strong>de</strong><br />

Ordnung zu wen<strong>de</strong>n. Soweit als möglich sollten sie keinerlei Anlaß bieten, daß ihr Glaube<br />

miß<strong>de</strong>utet wer<strong>de</strong>n konnte. Christen sollten zwar keinen einzigen Grundsatz <strong>de</strong>r Wahrheit<br />

aufgeben; <strong>de</strong>nnoch sollten sie möglichst jeglichem Streit aus <strong>de</strong>m Weg gehen.<br />

Während Petrus zum See ging, weilte Christus mit <strong>de</strong>n übrigen allein im Hause. <strong>Die</strong>se rief er<br />

zusammen und fragte sie: „Was habt ihr miteinan<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Weg verhan<strong>de</strong>lt?“ Markus 9,33.<br />

295


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

<strong>Die</strong> Anwesenheit Jesu und seine Frage ließen die Angelegenheit in einem völlig an<strong>de</strong>rn Licht<br />

erscheinen als vorher auf <strong>de</strong>m Wege, als die Jünger sich herumgestritten hatten, und so<br />

schwiegen sie aus Scham und Schuldgefühl. Jesus hatte ihnen mitgeteilt, daß er ihretwegen<br />

sterben müßte. Ihr selbstsüchtiger Ehrgeiz stand jetzt in schmerzlichem Gegensatz zu seiner<br />

selbstlosen Liebe.<br />

Jesus sagte ihnen, daß er sterben und wie<strong>de</strong>rauferstehen wer<strong>de</strong>, und versuchte dadurch, mit<br />

ihnen ein Gespräch über die große Glaubensprüfung anzuknüpfen, die ihnen bevorstand. Wären<br />

sie bereit gewesen, das aufzunehmen, was er ihnen mitteilen wollte, so wären ihnen bittere Not<br />

und Verzweiflung erspart geblieben. Seine Worte hätten sie in <strong>de</strong>r Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Verlassenheit und<br />

Enttäuschung getröstet. Obwohl er so <strong>de</strong>utlich über das gesprochen hatte, was ihn erwartete,<br />

entfachte die Erwähnung <strong>de</strong>r Tatsache, daß er bald nach Jerusalem ziehen müsse, in <strong>de</strong>n<br />

Jüngern erneut die Hoffnung, daß die Aufrichtung <strong>de</strong>s Reiches unmittelbar bevorstehe. <strong>Die</strong>s<br />

hatte die Frage veranlaßt, wer dann die höchsten Ämter einnehmen sollte. Als Petrus vom See<br />

zurückgekehrt war, erzählten ihm die Jünger, was <strong>de</strong>r Heiland sie gefragt hatte. Schließlich<br />

wagte es einer von ihnen, von Jesus wissen zu wollen: „Wer ist doch <strong>de</strong>r Größte im<br />

Himmelreich?“ Matthäus 18,1.<br />

Der Heiland scharte die Jünger um sich und erwi<strong>de</strong>rte: „So jemand will <strong>de</strong>r Erste sein, <strong>de</strong>r<br />

soll <strong>de</strong>r Letzte sein von allen und aller <strong>Die</strong>ner.“ Markus 9,35. In diesen Worten lagen ein Ernst<br />

und ein Nachdruck, die <strong>de</strong>n Jüngern unverständlich waren. Von <strong>de</strong>m, was Christus wahrnahm,<br />

sahen sie nichts. Noch verstan<strong>de</strong>n sie das Wesen <strong>de</strong>s Reiches <strong>Christi</strong> nicht, und diese<br />

Unkenntnis war die scheinbare Ursache ihres Streites. Der wahre Grund lag jedoch tiefer.<br />

Dadurch, daß er das Wesen <strong>de</strong>s Reiches erklärte, konnte Christus ihren Streit vorübergehend<br />

schlichten, <strong>de</strong>ssen eigentliche Ursache aber wur<strong>de</strong> nicht berührt. Selbst nach<strong>de</strong>m sie über alles<br />

Bescheid wußten, hätte je<strong>de</strong> Rangfrage <strong>de</strong>n Streit wie<strong>de</strong>r aufleben lassen können. Nach <strong>Christi</strong><br />

Weggang wäre dadurch Unheil über die Gemein<strong>de</strong> hereingebrochen. Im Streit um <strong>de</strong>n ersten<br />

Platz bekun<strong>de</strong>te sich <strong>de</strong>r gleiche Geist, mit <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r große Kampf im Himmel begonnen und <strong>de</strong>r<br />

letztlich auch Christus vom Himmel auf die Er<strong>de</strong> gebracht hatte, um dort zu sterben. Vor Jesus<br />

erstand das Bild Luzifers, <strong>de</strong>s „schönen Morgensterns“, <strong>de</strong>r an Herrlichkeit alle Engel<br />

überstrahlte, die <strong>de</strong>n Thron Gottes umgaben, und <strong>de</strong>r durch die engsten Ban<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>m Sohn<br />

Gottes verbun<strong>de</strong>n war. Luzifer hatte gesagt: „Ich will ... gleich sein <strong>de</strong>m Allerhöchsten.“ Jesaja<br />

14,12-14. <strong>Die</strong>ser Wunsch nach Selbsterhöhung hatte Streit im Himmel verursacht und viele <strong>de</strong>r<br />

Heerscharen Gottes aus seiner Gegenwart verbannt. Hätte Luzifer wirklich <strong>de</strong>m Allerhöchsten<br />

gleich sein wollen, dann wür<strong>de</strong> er nie <strong>de</strong>n ihm zugewiesenen Platz verlassen haben; <strong>de</strong>nn das<br />

Wesen <strong>de</strong>s Allerhöchsten zeigt sich in selbstlosem <strong>Die</strong>nen. Luzifer wollte zwar die Macht<br />

Gottes, aber nicht <strong>de</strong>ssen Charakter. Für sich erstrebte er <strong>de</strong>n höchsten Platz, und je<strong>de</strong>s<br />

Lebewesen, das von <strong>de</strong>m gleichen Geist beseelt ist, wird sich wie Luzifer verhalten. Auf diese<br />

Weise wer<strong>de</strong>n Entfremdung, Zwietracht und Streit unvermeidlich. <strong>Die</strong> Herrschaft fällt <strong>de</strong>m<br />

Stärksten zu. Das Reich Satans ist ein Reich <strong>de</strong>r Machtentfaltung. Je<strong>de</strong>rmann sieht im an<strong>de</strong>rn<br />

ein Hin<strong>de</strong>rnis für das eigene Vorwärtskommen o<strong>de</strong>r eine Stufenleiter, auf <strong>de</strong>r er eine höhere<br />

Stellung erklimmen kann.<br />

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<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Während Luzifer es für ein erstrebenswertes Ziel hielt, Gott gleich zu sein, entäußerte<br />

Christus, <strong>de</strong>r Erhöhte, „sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward gleich wie ein andrer<br />

Mensch und an Gebär<strong>de</strong>n als ein Mensch erfun<strong>de</strong>n. Er erniedrigte sich selbst und ward<br />

gehorsam bis zum To<strong>de</strong>, ja zum To<strong>de</strong> am Kreuz.“ Philipper 2,7.8. Jetzt stand ihm das Kreuz<br />

unmittelbar bevor, seine Jünger aber waren so voller Selbstsucht, <strong>de</strong>m wahren Urgrund <strong>de</strong>s<br />

Reiches Satans, daß sie mit ihrem Herrn we<strong>de</strong>r übereinstimmten noch ihn verstan<strong>de</strong>n, als er zu<br />

ihnen von seiner Erniedrigung sprach. Überaus besorgt und <strong>de</strong>nnoch mit ernstem Nachdruck<br />

versuchte Jesus diesem Übel abzuhelfen. Er zeigte <strong>de</strong>n Jüngern, welcher Grundsatz im Himmel<br />

herrscht und worin nach <strong>de</strong>m Maßstab Gottes wahre Größe besteht. Wen Stolz und Ehrsucht<br />

bewegen, <strong>de</strong>nke nur an sich selbst und an <strong>de</strong>n Lohn, <strong>de</strong>r ihm zustün<strong>de</strong>, nicht aber daran, wie er<br />

Gott die verliehenen Gaben zurückerstatten könne. Ins Himmelreich kämen solche Menschen<br />

nicht, da man sie <strong>de</strong>n Reihen Satans zurechnen wür<strong>de</strong>.<br />

Der Ehre geht die Erniedrigung voraus. Soll jemand vor <strong>de</strong>n Menschen eine hohe Stellung<br />

einnehmen, dann erwählt <strong>de</strong>r Himmel dazu jeman<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r sich — wie Johannes <strong>de</strong>r Täufer —<br />

vor Gott <strong>de</strong>mütigt. Der Jünger, <strong>de</strong>r einem Kind am ähnlichsten ist, leistet für Gott die beste<br />

Arbeit. Wenn er sich nicht selbst erhöht, son<strong>de</strong>rn Seelen retten will, dann können die<br />

himmlischen Wesen mit ihm zusammenwirken. Wem am stärksten bewußt ist, wie dringend er<br />

<strong>de</strong>r Hilfe Gottes bedarf, wird darum beten, und <strong>de</strong>r Heilige Geist wird seine Blicke auf Jesus<br />

lenken. Das wird ihn stärken und seine Seele wie<strong>de</strong>r aufrichten. So eins gewor<strong>de</strong>n mit Christus<br />

wird er alles tun, Seelen für ihn zu gewinnen, die sonst in ihren Sün<strong>de</strong>n zugrun<strong>de</strong> gehen<br />

müßten. Er ist zu seinem <strong>Die</strong>nst berufen und hat selbst dort noch Erfolg, wo viele gelehrte und<br />

weise Männer scheitern. Wenn sich Männer aber selbst erhöhen und meinen, für <strong>de</strong>n Erfolg <strong>de</strong>s<br />

großen Planes Gottes unersetzlich zu sein, dann sorgt Gott dafür, daß sie nicht zum Zuge<br />

kommen. Dadurch wird erwiesen, daß Gott von ihnen nicht abhängig ist. Das Werk kommt<br />

<strong>de</strong>swegen nicht zum Stillstand, weil sie von ihm ausgeschlossen sind; es geht sogar mit größerer<br />

Kraft voran.<br />

Es genügte nicht, daß die Jünger Jesu über das Wesen seines Reiches unterrichtet wur<strong>de</strong>n.<br />

Vor allem mußten ihre Herzen umgestaltet wer<strong>de</strong>n, damit sie mit <strong>de</strong>n in diesem Reiche<br />

herrschen<strong>de</strong>n Grundsätzen übereinstimmten. Jesus rief <strong>de</strong>shalb ein kleines Kind zu sich, stellte<br />

es mitten unter die Jünger, nahm es liebevoll in die Arme und sagte: „Wenn ihr nicht umkehret<br />

und wer<strong>de</strong>t wie die Kin<strong>de</strong>r, so wer<strong>de</strong>t ihr nicht ins Himmelreich kommen.“ Matthäus 18,2.3.<br />

<strong>Die</strong> Schlichtheit, Selbstvergessenheit und zutrauliche Liebe eines kleinen Kin<strong>de</strong>s sind jene<br />

Eigenschaften, die <strong>de</strong>r Himmel schätzt. Sie kennzeichnen wahre Größe. Wie<strong>de</strong>r erklärte Jesus<br />

<strong>de</strong>n Jüngern, daß die Merkmale seines Reiches nicht irdische Wür<strong>de</strong> und Prachtentfaltung sind.<br />

Zu seinen Füßen vergißt man all diese Unterschie<strong>de</strong>. Reiche und Arme, Gelehrte und<br />

Unwissen<strong>de</strong> sind dann vereint und <strong>de</strong>nken nicht mehr an Stan<strong>de</strong>sunterschie<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r weltliche<br />

Rangstellungen. Alle sind als bluterkaufte Seelen versammelt und hängen in gleicher Weise von<br />

<strong>de</strong>m ab, <strong>de</strong>r sie mit Gott versöhnt hat.<br />

Ein aufrichtiges und reumütiges Herz ist in Gottes Augen kostbar. Der Herr drückt <strong>de</strong>n<br />

Menschen sein göttliches Siegel auf, nicht auf Grund ihres Ranges, ihres Reichtums o<strong>de</strong>r ihres<br />

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<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Wissens: Allein ihr Einssein mit Christus zählt dabei. Der Herr <strong>de</strong>r Herrlichkeit ist mit jenen<br />

zufrie<strong>de</strong>n, die von Herzen <strong>de</strong>mütig und beschei<strong>de</strong>n sind. Schon David sagte: „Du gibst mir <strong>de</strong>n<br />

Schild <strong>de</strong>ines Heils ..., und <strong>de</strong>ine Huld macht mich groß.“ Psalm 18,36.<br />

„Wer dies Kind aufnimmt in meinem Namen“, sagte Jesus, „<strong>de</strong>r nimmt mich auf; und wer<br />

mich aufnimmt, <strong>de</strong>r nimmt <strong>de</strong>n auf, <strong>de</strong>r mich gesandt hat.“ Lukas 9,48. „Der Himmel ist mein<br />

Thron und die Er<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Schemel meiner Füße! ... Ich sehe aber auf <strong>de</strong>n Elen<strong>de</strong>n und auf <strong>de</strong>n,<br />

<strong>de</strong>r zerbrochenen Geistes ist und <strong>de</strong>r erzittert vor meinem Wort.“ Jesaja 66,1.2. <strong>Die</strong> Worte <strong>de</strong>s<br />

Heilan<strong>de</strong>s riefen in <strong>de</strong>n Jüngern ein Gefühl <strong>de</strong>s Mißtrauens gegenüber <strong>de</strong>r eigenen Haltung<br />

hervor. Auf keinen von ihnen war Jesu Entgegnung gemünzt. Dennoch veranlaßte sie Johannes<br />

zu <strong>de</strong>r Frage, ob er in einem beson<strong>de</strong>ren Fall richtig gehan<strong>de</strong>lt habe. Wie ein Kind trug er Jesus<br />

die Angelegenheit vor: „Meister, wir sahen einen, <strong>de</strong>r trieb böse Geister in <strong>de</strong>inem Namen aus,<br />

aber er folgt uns nicht nach; und wir verboten‘s ihm, weil er uns nicht nachfolgt.“ Markus 9,38.<br />

Jakobus und Johannes meinten für die Ehre ihres Herrn einzutreten, als sie diesem Manne<br />

wehrten. Doch nun dämmerte es ihnen, daß sie auf ihre eigene Ehre bedacht gewesen waren.<br />

Sie erkannten ihren Irrtum und nahmen Jesu Ta<strong>de</strong>l hin: „Ihr sollt‘s ihm nicht verbieten. Denn<br />

niemand, <strong>de</strong>r ein Wun<strong>de</strong>r tut in meinem Namen, kann bald übel von mir re<strong>de</strong>n.“ Markus 9,39.<br />

Niemand, <strong>de</strong>r in irgen<strong>de</strong>iner Weise Jesus freundlich begegnete, sollte zurückgewiesen wer<strong>de</strong>n.<br />

Es gab viele, die durch das Wesen und Wirken <strong>Christi</strong> tief berührt waren und <strong>de</strong>ren Herzen sich<br />

ihm im Glauben auftaten. <strong>Die</strong> Jünger, die die Beweggrün<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Menschen nicht erkannten,<br />

sollten sich daher hüten, diese Menschen zu entmutigen. Wenn Jesus nicht länger persönlich<br />

unter ihnen weilte und das Werk ihren Hän<strong>de</strong>n anvertraut wäre, dann sollten sie sich nicht<br />

engherzig erweisen und an<strong>de</strong>re ausschließen, son<strong>de</strong>rn das gleiche umfassen<strong>de</strong> Mitgefühl<br />

bekun<strong>de</strong>n, das sie bei ihrem Meister gesehen hatten.<br />

Der Umstand, daß jemand nicht auf allen Gebieten mit unseren persönlichen Vorstellungen<br />

und Meinungen übereinstimmt, berechtigt uns noch nicht dazu, ihm die Arbeit für Gott zu<br />

verbieten. Christus ist <strong>de</strong>r große Lehrer. Uns steht es nicht an, zu richten o<strong>de</strong>r zu befehlen,<br />

son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>mütig sollte je<strong>de</strong>r von uns zu Jesu Füßen sitzen und von ihm lernen. Je<strong>de</strong>s<br />

Menschenherz, das Gott zubereitet hat, ist ein Werkzeug, durch das Christus seine verzeihen<strong>de</strong><br />

Liebe vermitteln will. Wie sorgfältig sollten wir darum sein, um ja keine Lichtträger Gottes zu<br />

entmutigen und dadurch die Strahlen zu unterbrechen, mit <strong>de</strong>nen er die Welt erleuchten<br />

möchte! <strong>Die</strong> Härte o<strong>de</strong>r Kälte, mit <strong>de</strong>r ein Jünger Jesu jeman<strong>de</strong>m gegenübertritt, <strong>de</strong>n Christus<br />

zu sich zieht, entspricht <strong>de</strong>m Verhalten <strong>de</strong>s Johannes, <strong>de</strong>r einen Mann daran hin<strong>de</strong>rte, Wun<strong>de</strong>r<br />

im Namen <strong>Christi</strong> zu tun. <strong>Die</strong> Folge kann sein, daß <strong>de</strong>r Zurückgewiesene <strong>de</strong>n Weg <strong>de</strong>s Fein<strong>de</strong>s<br />

einschlägt und verlorengeht. Ehe jemand so etwas täte, „<strong>de</strong>m wäre es besser, daß ihm ein<br />

Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ins Meer geworfen wür<strong>de</strong>“. Er fügte hinzu: „Wenn<br />

aber <strong>de</strong>ine Hand dir Ärgernis schafft, so haue sie ab! Es ist dir besser, daß du als ein Krüppel<br />

zum Leben eingehest, als daß du zwei Hän<strong>de</strong> habest und fahrest in die Hölle, in das ewige<br />

Feuer, wo ihr Wurm nicht stirbt und ihr Feuer nicht verlöscht. Wenn dir <strong>de</strong>in Fuß Ärgernis<br />

schafft, so haue ihn ab! Es ist besser, daß du lahm zum Leben eingehest, als daß du zwei Füße<br />

habest und wer<strong>de</strong>st in die Hölle geworfen.“ Markus 9,42-45.<br />

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<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Weshalb diese ernste Sprache, die nachdrücklicher nicht sein kann? Weil „<strong>de</strong>s Menschen<br />

Sohn ... gekommen“ ist, „selig zu machen, was verloren ist“. Matthäus 18,11. Sollen sich seine<br />

Jünger weniger um die Seelen ihrer Mitmenschen kümmern als <strong>de</strong>r Herrscher <strong>de</strong>s Himmels?<br />

Je<strong>de</strong> Seele hat einen unendlichen Preis erfor<strong>de</strong>rt. Wie furchtbar ist da die Sün<strong>de</strong>, eine Seele zur<br />

Abkehr von Christus zu bewegen, so daß für sie die Liebe, die Erniedrigung und <strong>de</strong>r<br />

To<strong>de</strong>skampf <strong>de</strong>s Erlösers vergeblich waren! „Weh <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>r Ärgernisse halben! Es muß ja<br />

Ärgernis kommen.“ Matthäus 18,7. <strong>Die</strong> Welt wird sich unter Satans Einfluß ganz sicher <strong>de</strong>n<br />

Nachfolgern <strong>Christi</strong> wi<strong>de</strong>rsetzen und ihren Glauben zu zerstören trachten. Wehe aber<br />

<strong>de</strong>mjenigen, <strong>de</strong>r <strong>Christi</strong> Namen angenommen hat und <strong>de</strong>nnoch Satans Werk ausführt! Unserem<br />

Herrn wird von <strong>de</strong>nen Schmach zugefügt, die ihm zu dienen behaupten, dabei aber sein<br />

Wesen entstellen, so daß Tausen<strong>de</strong> getäuscht und auf <strong>de</strong>n falschen Weg geführt wer<strong>de</strong>n.<br />

Je<strong>de</strong> Gewohnheit o<strong>de</strong>r Handlung, die zur Sün<strong>de</strong> führt und Christus zur Schan<strong>de</strong> gereicht,<br />

sollten wir unbedingt ablegen, wie groß das Opfer auch sein mag. Was Gott entehrt, kann <strong>de</strong>m<br />

Menschen nicht zum Segen sein. Kein Mensch, <strong>de</strong>r die ewigen Grundsätze <strong>de</strong>s Rechts verletzt,<br />

kann Anteil an <strong>de</strong>n Segnungen <strong>de</strong>s Himmels haben. Schon eine einzige Lieblingssün<strong>de</strong> vermag<br />

<strong>de</strong>n Charakter zu ver<strong>de</strong>rben und an<strong>de</strong>re Menschen in die Irre zu leiten. Wenn man die Hand<br />

o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Fuß abhacken o<strong>de</strong>r das Auge ausreißen sollte, um <strong>de</strong>n Leib vom To<strong>de</strong> zu erretten,<br />

wieviel mehr sollte man da eine Sün<strong>de</strong> ablegen, <strong>de</strong>ren Folge <strong>de</strong>r Tod ist.<br />

Beim alttestamentlichen Gottesdienst wur<strong>de</strong> je<strong>de</strong>m Opfer Salz hinzugefügt. <strong>Die</strong>ser Brauch<br />

wie auch das Darbringen von Weihrauch be<strong>de</strong>utete, daß nur die Gerechtigkeit <strong>Christi</strong> diesen<br />

<strong>Die</strong>nst für Gott annehmbar machen konnte. Auf diesen Brauch bezog sich Christus mit <strong>de</strong>n<br />

Worten: „Je<strong>de</strong>s Opfer wird mit Salz gesalzen ... Habt Salz bei euch und habt Frie<strong>de</strong>n<br />

untereinan<strong>de</strong>r!“ Markus 9,49.50. Alle, die sich selbst darbringen als ein „Opfer, das da lebendig,<br />

heilig und Gott wohlgefällig sei“ (Römer 12,1), müssen das retten<strong>de</strong> Salz — nämlich die<br />

Gerechtigkeit unseres Heilan<strong>de</strong>s — erhalten. Dann erst wer<strong>de</strong>n sie zum „Salz <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>“ und<br />

halten das Übel von <strong>de</strong>n Menschen fern, so wie auch das Salz vor <strong>de</strong>m Ver<strong>de</strong>rben schützt.<br />

Wenn aber „das Salz kraftlos wird“ (Matthäus 5,13), wenn die Frömmigkeit nur Lippendienst<br />

ist und die Liebe <strong>Christi</strong> fehlt, dann fehlt es an Kraft zum Guten. Solch ein Leben übt auf die<br />

Welt keinen retten<strong>de</strong>n Einfluß mehr aus. Eure Kraft und Tüchtigkeit bei <strong>de</strong>r Errichtung meines<br />

Reiches, so will Jesus sagen, hängen davon ab, daß ihr von meinem Geist erfüllt wer<strong>de</strong>t. Ihr<br />

müßt an meiner Gna<strong>de</strong> teilhaben, um ein „Geruch <strong>de</strong>s Lebens zum Leben“ zu sein. 2.Korinther<br />

2,16. Dann wird es keine Rivalität, keine Selbstsucht und kein Streben nach <strong>de</strong>m höchsten Rang<br />

mehr geben. Dann erfüllt euch die Liebe, die nicht das ihre sucht, son<strong>de</strong>rn das Wohl <strong>de</strong>s<br />

an<strong>de</strong>rn.<br />

Möchte doch <strong>de</strong>r reuige Sün<strong>de</strong>r aufschauen zu „Gottes Lamm, welches <strong>de</strong>r Welt Sün<strong>de</strong><br />

trägt“! Johannes 1,29. Das Anschauen wird ihn umwan<strong>de</strong>ln. Seine Furcht wird sich in Freu<strong>de</strong>,<br />

seine Zweifel in Hoffnung verkehren, und Dankbarkeit wird in ihm aufblühen. Johannes 16,20.<br />

Sein steinernes Herz wird zerbrochen. Eine Flut <strong>de</strong>r Liebe ergießt sich in seine Seele. Christus<br />

wird in ihm zum Lebensquell, <strong>de</strong>r „in das ewige Leben quillt“. Johannes 4,14. Unser Ich schreit<br />

nicht länger nach Anerkennung, sobald wir sehen, wie Jesus, <strong>de</strong>r mit Sorgen und Kummer<br />

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<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

bela<strong>de</strong>ne Mann, für die Rettung <strong>de</strong>r verlorenen, schwachen, verachteten und verlachten<br />

Menschen wirkt und dabei von Stadt zu Stadt zieht, bis er seinen Auftrag erfüllt hat. Und wenn<br />

wir ihn in Gethsemane erblicken, wo sein Schweiß in großen Blutstropfen herabfällt, o<strong>de</strong>r am<br />

Kreuz, wo er im To<strong>de</strong>skampf stirbt, dann trachten wir nicht länger nach Lob. Ein Blick auf<br />

Jesus beschämt uns wegen unserer Gemütskälte, Trägheit und Selbstsucht. Wir sind dann bereit,<br />

alles o<strong>de</strong>r nichts zu sein, so daß wir unserem Meister von ganzem Herzen dienen können. Froh<br />

wer<strong>de</strong>n wir Jesus unser Kreuz nachtragen und Versuchung, Schan<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r Verfolgung um<br />

seinetwillen ertragen.<br />

„Wir aber, die wir stark sind, sollen <strong>de</strong>r Schwachen Unvermögen tragen und nicht uns selber<br />

zu Gefallen leben.“ Römer 15,1. Niemand, <strong>de</strong>r an Christus glaubt, sollte geringgeschätzt<br />

wer<strong>de</strong>n, mag sein Glaube auch schwach sein und seine Schritte unsicher wie die eines kleinen<br />

Kin<strong>de</strong>s. Durch all das, wodurch wir an<strong>de</strong>ren gegenüber im Vorteil sind — z.B. Erziehung,<br />

Bildung, Charaktergröße, christliches Verhalten, religiöse Erfahrung — sind wir Schuldner <strong>de</strong>r<br />

weniger Begünstigten. Soweit es in unserer Macht steht, sollen wir ihnen dienen. Sind wir stark,<br />

dann sollen wir die Hän<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Schwachen stützen. Engel <strong>de</strong>r Herrlichkeit, die je<strong>de</strong>rzeit das<br />

Antlitz <strong>de</strong>s Vaters im Himmel schauen, freuen sich, diesen „Kleinen“ dienen zu dürfen.<br />

Furchtsame Seelen, die noch unangenehme Wesenszüge an sich haben, sind ihnen beson<strong>de</strong>rs<br />

anvertraut wor<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> Engel sind immer dort anwesend, wo sie am dringendsten gebraucht<br />

wer<strong>de</strong>n, bei <strong>de</strong>nen, die am härtesten gegen das eigene Ich kämpfen müssen und <strong>de</strong>ren<br />

Umgebung am trostlosesten ist. An diesem <strong>Die</strong>nst sollen die wahren Nachfolger <strong>Christi</strong><br />

teilhaben.<br />

Falls sich einer dieser Kleinen dazu hinreißen läßt, dir Unrecht zuzufügen, dann ist es <strong>de</strong>ine<br />

Aufgabe, ihn wie<strong>de</strong>r zurechtzubringen. Warte nicht, bis er <strong>de</strong>n ersten Versuch zur Versöhnung<br />

unternimmt. „Was meint ihr?“ fragt Jesus. „Wenn irgen<strong>de</strong>in Mensch hun<strong>de</strong>rt Schafe hätte und<br />

eins unter ihnen sich verirrte: läßt er nicht die neunundneunzig auf <strong>de</strong>n Bergen, geht hin und<br />

sucht das verirrte? Und wenn sich‘s begibt, daß er‘s fin<strong>de</strong>t, wahrlich, ich sage euch, er freut sich<br />

darüber mehr als über die neunundneunzig, die nicht verirrt sind. Also ist‘s auch bei eurem<br />

Vater im Himmel nicht <strong>de</strong>r Wille, daß eins von diesen Kleinen verloren wer<strong>de</strong>.“ Matthäus<br />

18,12-14.<br />

In <strong>de</strong>r Gesinnung <strong>de</strong>r Sanftmut, die darauf achtet, „daß du nicht auch versucht wer<strong>de</strong>st“<br />

(Galater 6,1), geh zu <strong>de</strong>m Irren<strong>de</strong>n und „halte es ihm vor zwischen dir und ihm<br />

allein“. Matthäus 18,15. Setze ihn nicht dadurch <strong>de</strong>r Schan<strong>de</strong> aus, daß du an<strong>de</strong>rn sein Vergehen<br />

unterbreitest. Verunehre Christus nicht dadurch, daß du die Sün<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Irrtum eines<br />

Menschen, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Namen <strong>Christi</strong> trägt, <strong>de</strong>r Öffentlichkeit preisgibst. Oftmals muß man <strong>de</strong>m<br />

Irren<strong>de</strong>n offen die Wahrheit sagen; er muß veranlaßt wer<strong>de</strong>n, seinen Irrtum einzusehen, damit er<br />

sich än<strong>de</strong>rn kann. Du bist aber nicht dazu berufen, ihn zu richten o<strong>de</strong>r zu verurteilen. Versuche<br />

auch nicht, dich selbst zu rechtfertigen, son<strong>de</strong>rn hilf ihm, sich zu bessern. Seelische Wun<strong>de</strong>n<br />

müssen beson<strong>de</strong>rs rücksichtsvoll und mit äußerstem Feingefühl behan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n. Nur eine<br />

Liebe, wie sie von <strong>de</strong>m Lei<strong>de</strong>nsmann auf Golgatha ausstrahlt, kann hier helfen. Voller Mitleid<br />

300


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

soll <strong>de</strong>r Bru<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m Bru<strong>de</strong>r umgehen, und er darf wissen, daß er im Falle <strong>de</strong>s Erfolges eine<br />

„Seele vom To<strong>de</strong> erretten und ... eine Menge von Sün<strong>de</strong>n“ be<strong>de</strong>cken konnte. Jakobus 5,20.<br />

Doch auch diese Mühe mag nutzlos sein. In solchem Falle sagte Jesus: „Nimm noch einen<br />

o<strong>de</strong>r zwei zu dir.“ Matthäus 18,16. Möglicherweise hat ihr gemeinsamer Einfluß dort Erfolg,<br />

wo <strong>de</strong>r einzelne erfolglos geblieben war. Da sie in <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung neutral sind, wer<strong>de</strong>n<br />

sie wahrscheinlich auch unparteiisch han<strong>de</strong>ln. Dadurch aber erhält ihr Rat bei <strong>de</strong>m Irren<strong>de</strong>n<br />

größeres Gewicht.<br />

Will er jedoch auch auf sie nicht hören, dann, aber auch erst dann, soll die Angelegenheit <strong>de</strong>r<br />

Gesamtheit <strong>de</strong>r Gläubigen unterbreitet wer<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> Gemein<strong>de</strong>glie<strong>de</strong>r als Stellvertreter <strong>Christi</strong><br />

sollen sich im Gebet vereinen und in aller Liebe darum bitten, daß <strong>de</strong>r Missetäter sich bessern<br />

möge. Der Heilige Geist wird durch seine <strong>Die</strong>ner re<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>n Irren<strong>de</strong>n auffor<strong>de</strong>rn, zu Gott<br />

zurückzukehren. Der Apostel Paulus sagt im Auftrage Gottes: „Gott vermahnt durch uns; so<br />

bitten wir nun an <strong>Christi</strong> Statt: Lasset euch versöhnen mit Gott!“ 2.Korinther 5,20. Wer diese<br />

gemeinsamen Vorschläge ablehnt, <strong>de</strong>r hat das Band zerrissen, daß ihn mit Christus verknüpfte,<br />

und sich von <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong> losgesagt. Hinfort, so sagt Christus, „sei er dir wie ein Hei<strong>de</strong> und<br />

Zöllner“. Matthäus 18,17. Man soll aber nicht meinen, daß er damit von <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong> Gottes<br />

abgeschnitten sei. Seine bisherigen Brü<strong>de</strong>r sollen ihn nicht verachten o<strong>de</strong>r vernachlässigen,<br />

son<strong>de</strong>rn ihn mit Güte und aufrichtigem Mitgefühl behan<strong>de</strong>ln — wie ein verlorenes Schaf, das<br />

Christus noch immer zu seiner Her<strong>de</strong> zurückzuführen sucht.<br />

<strong>Die</strong> Lehre <strong>Christi</strong>, wie man Irren<strong>de</strong> behan<strong>de</strong>ln soll, wie<strong>de</strong>rholt in beson<strong>de</strong>rer Form die<br />

Unterweisung, die Israel durch Mose erteilt wur<strong>de</strong>: „Du sollst <strong>de</strong>inen Bru<strong>de</strong>r nicht hassen in<br />

<strong>de</strong>inem Herzen, son<strong>de</strong>rn du sollst <strong>de</strong>inen Nächsten zurechtweisen, damit du nicht seinetwegen<br />

Schuld auf dich la<strong>de</strong>st.“ 3.Mose 19,17. Das be<strong>de</strong>utet, daß jemand, <strong>de</strong>r die von Christus<br />

eingeschärfte Pflicht vernachlässigt, Irren<strong>de</strong> und Sün<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n rechten Weg zu bringen, ihrer<br />

Sün<strong>de</strong> teilhaftig wird. An Übeltaten, die wir hätten verhin<strong>de</strong>rn können, sind wir genauso<br />

mitschuldig, als hätten wir sie selbst begangen.<br />

Aber allein <strong>de</strong>m Übeltäter sollen wir sein Unrecht vor Augen führen. Unter uns darf <strong>de</strong>r Fall<br />

nicht zu einem Gegenstand <strong>de</strong>r Erörterung und <strong>de</strong>s Ta<strong>de</strong>ls wer<strong>de</strong>n. Selbst dann, wenn die<br />

Angelegenheit bereits <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong> unterbreitet wur<strong>de</strong>, ist es uns nicht gestattet, sie an<strong>de</strong>rn<br />

gegenüber zu wie<strong>de</strong>rholen. Wenn ungläubige Menschen von <strong>de</strong>n Fehlern <strong>de</strong>r Christen erfahren,<br />

geraten sie dadurch lediglich ins Straucheln, und wenn wir immer wie<strong>de</strong>r auf diese Vorfälle<br />

zurückkommen, so können sie auch uns scha<strong>de</strong>n; <strong>de</strong>nn durch Anschauen wer<strong>de</strong>n wir<br />

verwan<strong>de</strong>lt. Trachten wir danach, das Fehlverhalten eines Bru<strong>de</strong>rs zu bessern, wird uns <strong>Christi</strong><br />

Geist dazu veranlassen, ihn möglichst vor <strong>de</strong>r Kritik seiner Mitbrü<strong>de</strong>r und noch weit mehr vor<br />

<strong>de</strong>m Urteil <strong>de</strong>r Ungläubigen zu schützen. Auch wir sind ja <strong>de</strong>m Irrtum unterworfen und<br />

benötigen <strong>Christi</strong> Barmherzigkeit und Vergebung. Wie wir von Christus behan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n<br />

wollen, so sollen wir es nach seinem Wunsch auch untereinan<strong>de</strong>r tun.<br />

„Was ihr auf Er<strong>de</strong>n bin<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>t, soll auch im Himmel gebun<strong>de</strong>n sein, und was ihr auf<br />

Er<strong>de</strong>n lösen wer<strong>de</strong>t, soll auch im Himmel los sein.“ Matthäus 18,18. Ihr seid Gesandte <strong>de</strong>s<br />

301


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Himmels, und die Folgen eures Han<strong>de</strong>lns reichen in die Ewigkeit hinein. <strong>Die</strong>se große<br />

Verantwortung brauchen wir jedoch nicht allein zu tragen. Christus weilt nämlich dort, wo<br />

Menschen seinem Wort aufrichtigen Herzens gehorchen. Er ist nicht nur in <strong>de</strong>n Versammlungen<br />

<strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong> gegenwärtig, son<strong>de</strong>rn wo immer sich seine Jünger in seinem Namen versammeln,<br />

wie wenige es auch sein mögen, da wird er ebenfalls sein. Er sagt: „Wenn zwei unter euch eins<br />

wer<strong>de</strong>n auf Er<strong>de</strong>n, worum sie bitten wollen, das soll ihnen wi<strong>de</strong>rfahren von meinem Vater im<br />

Himmel.“ Matthäus 18,19. Jesus spricht von „meinem Vater im Himmel“, weil er seine Jünger<br />

daran erinnern möchte, daß er durch sein Menschsein zwar mit ihnen verbun<strong>de</strong>n ist, an ihren<br />

Versuchungen teilhat und mit ihren Lei<strong>de</strong>n mitempfin<strong>de</strong>t, daß jedoch seine Gottheit ihn<br />

zugleich mit <strong>de</strong>m Thron <strong>de</strong>s Unendlichen verbin<strong>de</strong>t. Welch herrliche Verheißung! <strong>Die</strong><br />

himmlischen Wesen vereinen sich voller Mitgefühl mit <strong>de</strong>n Menschen und wirken für die<br />

Errettung <strong>de</strong>r Verlorenen. <strong>Die</strong> Macht <strong>de</strong>s Himmels vereinigt sich mit <strong>de</strong>n Fähigkeiten <strong>de</strong>r<br />

Menschen, um Seelen für Christus zu gewinnen.<br />

302


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 49: Auf <strong>de</strong>m Laubhüttenfest<br />

Dreimal jährlich sollten sich die Ju<strong>de</strong>n in Jerusalem versammeln, um <strong>de</strong>n anzubeten, <strong>de</strong>r<br />

ihnen aus <strong>de</strong>r Wolkensäule heraus diese Weisung gegeben hatte. Während <strong>de</strong>r Babylonischen<br />

Gefangenschaft konnten sie diesem göttlichen Gebot nicht nachkommen; seit sie aber wie<strong>de</strong>r in<br />

ihrem Heimatland wohnten, nahmen sie die ihnen verordneten Gedächtnistage sehr ernst. Gott<br />

wollte, daß diese jährlich wie<strong>de</strong>rkehren<strong>de</strong>n Feste das Volk Israel an ihn erinnerten; aber mit<br />

wenigen Ausnahmen hatten die Priester und Führer <strong>de</strong>s Volkes diesen Zweck vergessen.<br />

Christus, <strong>de</strong>r diese Zusammenkünfte <strong>de</strong>s ganzen Volkes verordnet hatte und auch <strong>de</strong>ren<br />

Be<strong>de</strong>utung verstand, bezeugte nun, daß sie ihren Sinn verloren hatten.<br />

Das Laubhüttenfest beschloß die Reihe <strong>de</strong>r jährlichen Feste. Gottes Wunsch war es gewesen,<br />

daß Israel in dieser Zeit über seine Güte und Gna<strong>de</strong> nach<strong>de</strong>nken sollte. Das ganze Land hatte in<br />

reichstem Maße seinen Schutz und Segen genossen; Tag und Nacht war seine fürsorgen<strong>de</strong> Hand<br />

spürbar gewesen, und stets hatte er Sonnenschein und Regen für Saat und Ernte gegeben. In <strong>de</strong>n<br />

Tälern und Ebenen Judas war die Ernte eingebracht wor<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> Oliven waren gepflückt und<br />

das kostbare Öl in Schläuche gefüllt. <strong>Die</strong> Palme hatte ihre Frucht geliefert, und die roten<br />

Weintrauben waren in <strong>de</strong>r Kelter getreten wor<strong>de</strong>n.<br />

Sieben Tage dauerte das Laubhüttenfest, zu <strong>de</strong>ssen Feier die Bewohner <strong>de</strong>s ganzen Lan<strong>de</strong>s,<br />

ja sogar viele aus an<strong>de</strong>ren Län<strong>de</strong>rn, nach Jerusalem kamen. Alle erschienen sie, von nah und<br />

fern, und trugen Zeichen <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n; alt und jung, reich und arm, je<strong>de</strong>r kam mit<br />

einer Gabe <strong>de</strong>s Dankes als Opfer für <strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r das Jahr mit seiner Güte gekrönt hatte und <strong>de</strong>r das<br />

Land ließ „triefen von Fett“. Psalm 65,12 (Bruns). Alles, was Auge und Herz erfreuen konnte,<br />

wur<strong>de</strong> in die Stadt gebracht, so daß Jerusalem aussah wie ein schöner Garten. Es war nicht nur<br />

ein Erntedankfest, son<strong>de</strong>rn sollte vor allem eine Gedächtnisfeier sein für Gottes schützen<strong>de</strong><br />

Fürsorge in <strong>de</strong>r Wüste. Zum Ge<strong>de</strong>nken an das Zeltleben wohnten die Ju<strong>de</strong>n während <strong>de</strong>r sieben<br />

Tage in Lauben o<strong>de</strong>r Hütten aus grünen Zweigen, die auf <strong>de</strong>n Straßen, in <strong>de</strong>n Tempelhöfen und<br />

auf <strong>de</strong>n Dächern errichtet wur<strong>de</strong>n. Sogar die Hügel und Täler rings um Jerusalem waren mit<br />

„Laubhütten“ be<strong>de</strong>ckt und schienen von Menschen zu wimmeln.<br />

Mit geistlichen Lie<strong>de</strong>rn und Dankgebeten feierten die Ju<strong>de</strong>n dieses Fest. Der große<br />

Versöhnungstag, <strong>de</strong>r kurz vorher begangen wor<strong>de</strong>n war, hatte nach <strong>de</strong>m allgemeinen<br />

Bekenntnis <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>n Frie<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>m Himmel in die Herzen gebracht und damit <strong>de</strong>n Weg zu<br />

diesem frohen Fest vorbereitet. „Danket <strong>de</strong>m Herrn; <strong>de</strong>nn er ist freundlich, und seine Güte<br />

währet ewiglich“ (Psalm 106,1), so tönte es weit und breit, während <strong>de</strong>r Klang <strong>de</strong>r<br />

verschie<strong>de</strong>nsten Musikinstrumente, vermischt mit Hosianna-Rufen, <strong>de</strong>n frohlocken<strong>de</strong>n Jubel<br />

begleitete. Der Tempel war <strong>de</strong>r Mittelpunkt dieser allgemeinen Freu<strong>de</strong>. Hier entfaltete sich aller<br />

Glanz <strong>de</strong>r Opferzeremonien. Auf <strong>de</strong>n Marmortreppen <strong>de</strong>s Tempels stehend, führte <strong>de</strong>r<br />

Levitenchor <strong>de</strong>n Gesang an; die anbeten<strong>de</strong> Menge bewegte im gleichen Takt Palmen- und<br />

Myrtenzweige hin und her und wie<strong>de</strong>rholte mit lauter Stimme <strong>de</strong>n Kehrreim <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s. Immer<br />

mehr Andächtige nahmen diesen Gesang auf, und immer weiter drang <strong>de</strong>r Schall dieser Klänge,<br />

bis er Stadt und Umgebung mit <strong>de</strong>m Lobe Gottes füllte.<br />

303


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Bei Dunkelheit erleuchtete künstliches Licht <strong>de</strong>n Tempel mit seinen Vorhöfen. Musik und<br />

das Schwenken <strong>de</strong>r Palmzweige, die Hosianna-Rufe <strong>de</strong>r gewaltigen Volksmenge, über die sich<br />

das Licht <strong>de</strong>r hängen<strong>de</strong>n Lampen ergoß, die Pracht <strong>de</strong>r priesterlichen Gewän<strong>de</strong>r und das<br />

Feierliche <strong>de</strong>s Gottesdienstes vereinigten sich zu einem Erleben, das die Menge tief<br />

beeindruckte. Am nachhaltigsten aber war die Wirkung jenes Augenblickes, in <strong>de</strong>m eines<br />

Ereignisses gedacht wur<strong>de</strong>, das sich während <strong>de</strong>r Wüstenwan<strong>de</strong>rung abgespielt hatte. Beim<br />

ersten Morgengrauen ließen die Priester einen langen, gellen<strong>de</strong>n Ton aus ihren silbernen<br />

Posaunen erschallen; die antworten<strong>de</strong>n Trompetentöne und die Freu<strong>de</strong>nrufe <strong>de</strong>s Volkes, die<br />

über Berge und Täler hallten, begrüßten <strong>de</strong>n Festtag. Ein Priester füllte eine silberne Kanne mit<br />

Wasser aus <strong>de</strong>r Quelle Siloah und stieg unter <strong>de</strong>m Schall <strong>de</strong>r Posaunen langsamen, feierlichen<br />

Schrittes mit <strong>de</strong>r hocherhobenen Kanne die Stufen <strong>de</strong>s Tempels hinauf; dazu sang er die<br />

Psalmworte. „Nun stehen unsere Füße in <strong>de</strong>inen Toren, Jerusalem.“ Psalm 122,2.<br />

Der Priester trug die Kanne mit <strong>de</strong>m heiligen Wasser zum Altar, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Mitte <strong>de</strong>s<br />

Priesterhofes stand und auf <strong>de</strong>m sich zwei silberne Schalen befan<strong>de</strong>n. Ein an<strong>de</strong>rer Priester füllte<br />

die eine Schale mit <strong>de</strong>m Wasser aus <strong>de</strong>r Siloahquelle, während die zweite Schale von einem<br />

dritten Priester mit Wein gefüllt wur<strong>de</strong>. Nun flossen Wasser und Wein zusammen durch eine<br />

Röhre in <strong>de</strong>n Kidron und von hier weiter in das Tote Meer. <strong>Die</strong>se Darstellung <strong>de</strong>s geweihten<br />

Wassers versinnbil<strong>de</strong>te <strong>de</strong>n Quell, <strong>de</strong>r auf Gottes Befehl <strong>de</strong>m Felsen entsprang, um <strong>de</strong>n Durst<br />

Israels in <strong>de</strong>r Wüste zu stillen. Während dieser Handlung sang die Menge: „Gott <strong>de</strong>r Herr ist<br />

meine Stärke ... Ihr wer<strong>de</strong>t mit Freu<strong>de</strong>n Wasser schöpfen aus <strong>de</strong>n Heilsbrunnen.“ Jesaja 12,2.3.<br />

Als Josephs Söhne sich vorbereiteten, das Laubhüttenfest in Jerusalem zu besuchen,<br />

bemerkten sie zu ihrem Erstaunen, daß Jesus selbst keinen Anteil an <strong>de</strong>n Vorkehrungen zu<br />

nehmen schien. Ihre Besorgnis war um so größer, da Christus seit <strong>de</strong>r Heilung am Teich<br />

Bethesda zu keinem <strong>de</strong>r großen jüdischen Feste nach Jerusalem gekommen war; er hatte sich in<br />

seiner Tätigkeit ganz auf Galiläa beschränkt, um unnötige Reibereien mit <strong>de</strong>m Hohen Rat in<br />

Jerusalem zu vermei<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> scheinbare Vernachlässigung <strong>de</strong>r gottesdienstlichen<br />

Zusammenkünfte in <strong>de</strong>r Hauptstadt und die offene Feindschaft <strong>de</strong>r Priester und Rabbiner gegen<br />

Christus beunruhigten seine Umgebung sehr. Von dieser Unruhe blieben auch die Jünger und<br />

die nächsten Verwandten nicht verschont.<br />

Der Herr hatte oft über <strong>de</strong>n Segen <strong>de</strong>s Gehorsams gegenüber <strong>de</strong>m Gesetz gesprochen; um so<br />

erstaunlicher war es nun, daß er selbst <strong>de</strong>n von Gott eingesetzten Festen gleichgültig<br />

gegenüberzustehen schien. Sein Umgang mit Zöllnern und an<strong>de</strong>ren verdächtigen Leuten, die<br />

Mißachtung <strong>de</strong>r rabbinischen Verordnungen und die Freiheit, mit <strong>de</strong>r er die altüberlieferten<br />

Satzungen über <strong>de</strong>n Sabbat behan<strong>de</strong>lte, brachten ihn in Gegensatz zu <strong>de</strong>r jüdischen<br />

Führungsschicht und ließen manche Frage aufkommen. Seine Brü<strong>de</strong>r hielten es für einen<br />

Fehler, daß er sich von <strong>de</strong>n einflußreichen und be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n Männern <strong>de</strong>s Volkes lossagte. Sie<br />

glaubten, daß jene Männer im Recht sein müßten, und sie hielten es für ta<strong>de</strong>lnswert, daß Jesus<br />

sich im Gegensatz zu jenen befand. An<strong>de</strong>rseits hatten sie jedoch sein makelloses Leben<br />

beobachten können, und wenn sie auch nicht seine Jünger wur<strong>de</strong>n, so war sein Wirken nicht<br />

ohne tiefen Eindruck auf sie geblieben. Seine Beliebtheit in Galiläa befriedigte ihren Ehrgeiz,<br />

304


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

und sie hofften immer noch, daß er einen Beweis seiner Macht geben wer<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r auch die<br />

Pharisäer davon überzeugen mußte, daß er <strong>de</strong>r war, <strong>de</strong>r er zu sein beanspruchte. Was, wenn er<br />

wirklich <strong>de</strong>r Messias wäre? <strong>Die</strong>se Vorstellung erfüllte sie mit stolzer Genugtuung.<br />

<strong>Die</strong>ser Gedanke wur<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>r Zeit immer stärker in ihnen, so daß sie jetzt Christus<br />

drängten, nach Jerusalem zu gehen. „Zieh doch fort von hier und geh nach Judäa, damit <strong>de</strong>ine<br />

Jünger dort <strong>de</strong>ine Werke sehen, die du tust! Denn keiner, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit etwas gelten<br />

will, tut seine Werke im verborgenen. Wenn du also solche Dinge tun kannst, so offenbare dich<br />

<strong>de</strong>r Welt!“ Johannes 7,3.4 (Bruns). Das „Wenn“ drückte Zweifel und Unglaube aus. Seine<br />

Brü<strong>de</strong>r hielten ihn für feige und schwächlich. Wenn er davon überzeugt wäre, <strong>de</strong>r Messias zu<br />

sein, warum dann diese merkwürdige Zurückhaltung und Tatenlosigkeit? Besäße er wirklich<br />

solche Macht, warum ging er dann nicht kühn nach Jerusalem, um seine Ansprüche geltend zu<br />

machen? Warum vollbrachte er nicht auch in Jerusalem solche wun<strong>de</strong>rbaren Werke, wie man<br />

von ihm aus Galiläa berichtete? Versteck dich nicht in einsamen Provinzen, sagten sie, son<strong>de</strong>rn<br />

laß <strong>de</strong>ine machtvollen Taten zum Nutzen <strong>de</strong>r ungebil<strong>de</strong>ten Bauern und Fischer geschehen.<br />

Stelle dich in <strong>de</strong>r Hauptstadt vor, sichere dir <strong>de</strong>n Beistand <strong>de</strong>r Priester und Oberen und einige<br />

das Volk durch die Schaffung <strong>de</strong>s neuen Reiches.<br />

<strong>Die</strong> Brü<strong>de</strong>r Jesu urteilten aus selbstsüchtigen Beweggrün<strong>de</strong>n, die man so oft in <strong>de</strong>n Herzen<br />

<strong>de</strong>rer fin<strong>de</strong>t, die sich aus Ehrgeiz immer in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund drängen. <strong>Die</strong>ser Geist beherrschte<br />

die Welt. Sie ärgerten sich ferner darüber, daß Christus nicht einen irdischen Thron suchte,<br />

son<strong>de</strong>rn sich als das Brot <strong>de</strong>s Lebens bezeichnete. Sehr enttäuscht waren sie, als so viele seiner<br />

Jünger ihn verließen. Sie selbst wandten sich von ihm ab, um <strong>de</strong>m Kreuz zu entfliehen. Und<br />

doch mußten sie sich eingestehen, daß seine Werke ihn als Gesandten Gottes offenbaren.<br />

„Da spricht Jesus zu ihnen: Meine Zeit ist noch nicht da; eure Zeit aber ist allewege. <strong>Die</strong><br />

Welt kann euch nicht hassen. Mich aber hasset sie, <strong>de</strong>nn ich bezeuge ihr, daß ihre Werke böse<br />

sind. Gehet ihr hinauf auf das Fest! Ich will noch nicht hinaufgehen auf dieses Fest, <strong>de</strong>nn meine<br />

Zeit ist noch nicht erfüllt. Da er aber das zu ihnen gesagt, blieb er in Galiläa.“ Johannes 7,6-9.<br />

Seine Brü<strong>de</strong>r hatten im Befehlston zu ihm gesprochen und ihm vorgeschrieben, welchen Weg er<br />

einschlagen sollte. Er jedoch ließ ihren Vorwurf auf sie zurückfallen, wobei er sie nicht seinen<br />

selbstverleugnen<strong>de</strong>n Jüngern, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Welt zuordnete. „<strong>Die</strong> Welt kann euch nicht hassen“,<br />

sagte er. „Mich aber hasset sie, <strong>de</strong>nn ich bezeuge ihr, daß ihre Werke böse sind.“ <strong>Die</strong> Welt haßt<br />

jene nicht, die ihr geistesverwandt sind, son<strong>de</strong>rn liebt sie als ihr Eigentum.<br />

<strong>Die</strong> Welt war für Christus kein Ort <strong>de</strong>r Bequemlichkeit und Selbsterhöhung; er wartete auch<br />

auf keine Gelegenheit, um von ihr Macht und Ehre zu erhaschen — sie konnte ihn nicht in<br />

dieser Weise belohnen. <strong>Die</strong> Er<strong>de</strong> war <strong>de</strong>r Platz, an <strong>de</strong>n Gott <strong>de</strong>r Vater ihn gestellt hatte. Hier<br />

war sein Arbeitsfeld. Er war dahingegeben wor<strong>de</strong>n, damit die Welt das Leben haben möge und<br />

er für die gefallenen Menschen <strong>de</strong>n großen Erlösungsplan zur Ausführung bringe. Aber <strong>de</strong>n<br />

Gang <strong>de</strong>r Geschehnisse, die auf ihn zueilten, noch mehr beschleunigen, das durfte er nicht.<br />

Je<strong>de</strong>s Ereignis seines Wirkens hatte seine vorgesehene Zeit, die er geduldig abwarten mußte. Er<br />

wußte wohl, daß er <strong>de</strong>n Haß <strong>de</strong>r ganzen Welt tragen und daß sein aufopfern<strong>de</strong>s Ringen<br />

305


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

schmachvollen Tod ernten wür<strong>de</strong>, aber es war nicht <strong>de</strong>s Vaters Wille, sich vor <strong>de</strong>r Zeit seinen<br />

Fein<strong>de</strong>n auszuliefern.<br />

Von Jerusalem aus hatten sich Jesu Wun<strong>de</strong>rtaten überall im Lan<strong>de</strong> herumgesprochen und<br />

waren bis zu <strong>de</strong>n verstreut leben<strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n gedrungen. Obgleich er schon seit Monaten nicht<br />

mehr an <strong>de</strong>n Festen teilgenommen hatte, fand sich sein Name in aller Mun<strong>de</strong>. Ein großer Teil<br />

<strong>de</strong>r Festbesucher aus allen Teilen <strong>de</strong>r damaligen Welt war in <strong>de</strong>r festen Hoffnung in Jerusalem<br />

erschienen, Jesus hier zu sehen. Schon zu Beginn <strong>de</strong>s Festes fragten sie nach ihm. Auch die<br />

Pharisäer und Obersten warteten auf sein Erscheinen und hofften auf eine Gelegenheit, ihn<br />

endlich verurteilen zu können. Eifrig forschten sie überall: „Wo ist <strong>de</strong>r?“ Johannes 7,11. Aber<br />

niemand wußte es. Viele Ju<strong>de</strong>n beschäftigten sich in Gedanken unaufhörlich mit Jesus. Nur die<br />

Furcht vor <strong>de</strong>n Priestern und Obersten hin<strong>de</strong>rte sie, ihn als <strong>de</strong>n Messias auszurufen und sich zu<br />

ihm zu bekennen. Heimlich unterhielt man sich über ihn, und während viele ihn als <strong>de</strong>n von<br />

Gott Gesandten verteidigten, brandmarkten an<strong>de</strong>re ihn als Betrüger.<br />

Inzwischen war Jesus in aller Stille nach Jerusalem gekommen. Er hatte einsame Wege<br />

gewählt, um <strong>de</strong>n zahllosen Reisen<strong>de</strong>n zu entgehen, die aus allen Himmelsrichtungen <strong>de</strong>r<br />

Heiligen Stadt zuströmten. Hätte er sich irgen<strong>de</strong>iner Karawane angeschlossen, wäre die<br />

allgemeine Aufmerksamkeit bei seinem Einzug in die Stadt zu groß gewesen. Er aber wußte,<br />

daß eine für ihn veranstaltete Kundgebung <strong>de</strong>s Volkes <strong>de</strong>r Obrigkeit <strong>de</strong>n erwünschten Anlaß<br />

gegeben hätte, gegen ihn einzuschreiten. Um dies zu vermei<strong>de</strong>n, hatte er einen einsamen<br />

Reiseweg gewählt. Mitten in <strong>de</strong>r Festwoche, als die Erregung bezüglich seiner Person <strong>de</strong>n<br />

Höhepunkt erreicht hatte, betrat Jesus <strong>de</strong>n Tempelhof. Im Volke hatte man bereits behauptet, er<br />

wage es nicht, sich in die Gewalt <strong>de</strong>r Priester und Obersten zu begeben, da er nicht zum Fest<br />

erschienen sei. Nun war man überrascht. Der Lärm <strong>de</strong>s Festes verstummte — alle bewun<strong>de</strong>rten<br />

die königliche Anmut und Wür<strong>de</strong> seines Auftretens und seinen Mut, sich angesichts seiner<br />

mächtigen Fein<strong>de</strong>, die ihm nach <strong>de</strong>m Leben trachteten, so frei zu zeigen.<br />

So stand Jesus im Brennpunkt <strong>de</strong>r Aufmerksamkeit aller, die im Tempel waren. Er re<strong>de</strong>te zu<br />

ihnen, wie noch nie ein Mensch zu ihnen gere<strong>de</strong>t hatte. Seine Worte bewiesen eine Kenntnis <strong>de</strong>s<br />

Gesetzes und <strong>de</strong>r jüdischen Einrichtungen, <strong>de</strong>s Opferdienstes und <strong>de</strong>r Lehren <strong>de</strong>r Propheten,<br />

welche die <strong>de</strong>r Priester und Rabbiner weit übertraf. Er durchbrach die Schranken <strong>de</strong>s starren<br />

Formenwesens und <strong>de</strong>r Überlieferungen; die Zukunft schien ihm enthüllt. Mit <strong>de</strong>r Bestimmtheit<br />

eines Menschen, <strong>de</strong>r das Unsichtbare wahrnimmt, sprach er von irdischen und himmlischen,<br />

von menschlichen und göttlichen Dingen. Seine Worte waren sehr klar und überzeugend. Wie<br />

in Kapernaum wun<strong>de</strong>rte sich das Volk über die Kraft seiner Lehre, „<strong>de</strong>nn er predigte in<br />

Vollmacht“. Lukas 4,32. In immer wie<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Schil<strong>de</strong>rungen warnte er seine Hörer vor<br />

<strong>de</strong>m Unheil, das alle jene heimsuchen wür<strong>de</strong>, welche die Segnungen verwerfen, die zu bringen<br />

er gekommen war. Daß er von Gott kam, hatte er ihnen auf je<strong>de</strong> mögliche Art bewiesen, und er<br />

hatte alles getan, um sie zur Reue zu bewegen. Er wäre nicht von seinem eigenen Volk<br />

verworfen und umgebracht wor<strong>de</strong>n, wenn er es vor <strong>de</strong>r Schuld einer solchen Tat hätte bewahren<br />

können.<br />

306


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Alle wun<strong>de</strong>rten sich über seine tiefe Kenntnis <strong>de</strong>s Gesetzes und <strong>de</strong>r Propheten. Man fragte<br />

sich: „Wie kennt dieser die Schrift, obwohl er sie doch nicht gelernt hat?“ Johannes 7,15. Bisher<br />

wur<strong>de</strong> niemand als Religionslehrer anerkannt und geachtet, <strong>de</strong>r nicht die Schule <strong>de</strong>r Rabbiner<br />

besucht hatte; darum waren auch Johannes <strong>de</strong>r Täufer und Jesus als Unwissen<strong>de</strong> abgetan<br />

wor<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> diese bei<strong>de</strong>n jedoch hörten, waren erstaunt über <strong>de</strong>ren Schriftkenntnis, die sie auf<br />

keiner Schule erworben hatten. Menschen waren nicht ihre Lehrer gewesen, son<strong>de</strong>rn Gott im<br />

Himmel hatte sie bei<strong>de</strong> gelehrt. Von ihm hatten sie höchste Weisheit und alle Erkenntnis<br />

empfangen. <strong>Die</strong> Wirkung seiner Re<strong>de</strong> im Hof <strong>de</strong>s Tempels ließ seine Zuhörer wie gebannt vor<br />

ihm stehen; selbst die eifrigsten Gegner Jesu sahen sich außerstan<strong>de</strong>, ihm Scha<strong>de</strong>n zuzufügen.<br />

Für <strong>de</strong>n Augenblick hatten sie alles an<strong>de</strong>re vergessen. Täglich lehrte <strong>de</strong>r Heiland nun das Volk,<br />

bis zum „letzten Tage <strong>de</strong>s Festes, <strong>de</strong>r am herrlichsten war“. Johannes 7,37 (Jubiläumsbibel). Als<br />

am Morgen dieses Tages das Volk von <strong>de</strong>n anstrengen<strong>de</strong>n Festlichkeiten ermü<strong>de</strong>t war, erhob<br />

Jesus seine Stimme, daß sie in alle Vorhöfe drang, und rief:<br />

„Wen da dürstet, <strong>de</strong>r komme zu mir und trinke! Wer an mich glaubt, wie die Schrift sagt,<br />

von <strong>de</strong>s Leibe wer<strong>de</strong>n Ströme lebendigen Wassers fließen.“ Johannes 7,37.38. <strong>Die</strong> innere<br />

Verfassung <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n verlieh dieser Auffor<strong>de</strong>rung beson<strong>de</strong>ren Nachdruck. Sie waren<br />

eingespannt gewesen in <strong>de</strong>s Festes Pracht und Glanz; Farbe und Licht hatten ihre Augen<br />

geblen<strong>de</strong>t, und ihre Ohren hatten in <strong>de</strong>n harmonischsten Klängen geschwelgt; für alles war<br />

gesorgt gewesen, nur die Bedürfnisse <strong>de</strong>s Geistes waren in all diesen Zeremonien zu kurz<br />

gekommen, und <strong>de</strong>n Durst <strong>de</strong>r Seele nach <strong>de</strong>m Ewigen hatte man nicht gestillt. Da erreichte sie<br />

die Einladung Jesu, zu ihm zu kommen und aus <strong>de</strong>m Lebensbrunnen das Wasser zu trinken, das<br />

in das ewige Leben quillt.<br />

<strong>Die</strong> Priester hatten gera<strong>de</strong> an diesem Morgen jene Handlung vorgenommen, die an das<br />

Schlagen <strong>de</strong>s Felsens in <strong>de</strong>r Wüste erinnerte. <strong>Die</strong>ser Felsen war ein Sinnbild auf <strong>de</strong>n, durch<br />

<strong>de</strong>ssen Erlösungsopfer lebendige Ströme <strong>de</strong>s Heils allen Durstigen zufließen wür<strong>de</strong>n. <strong>Christi</strong><br />

Worte waren das Wasser <strong>de</strong>s Lebens. Im Beisein <strong>de</strong>r großen Menge ließ er sich schlagen, damit<br />

das Wasser <strong>de</strong>s Lebens in die Welt fließen konnte. Satan beabsichtigte durch <strong>de</strong>n Angriff auf<br />

Jesus, <strong>de</strong>n Fürsten <strong>de</strong>s Lebens zu überwin<strong>de</strong>n; aber da floß aus <strong>de</strong>m geschlagenen Felsen<br />

lebendiges Wasser. Als Jesus zu <strong>de</strong>n Versammelten sprach, erschütterten sie seine Worte so<br />

sehr, daß sie wie die Samariterin ausrufen wollten: „Herr, gib mir solches Wasser, auf daß mich<br />

nicht dürste!“ Johannes 4,15.<br />

Der Heiland kannte die seelischen Bedürfnisse <strong>de</strong>s Volkes und wußte, daß we<strong>de</strong>r Pracht<br />

noch Reichtum und Ehre das Herz befriedigen konnten. „Wen da dürstet, <strong>de</strong>r komme zu mir!“<br />

Alle sind willkommen — ob arm o<strong>de</strong>r reich, hoch o<strong>de</strong>r niedrig vor <strong>de</strong>r Welt, bei <strong>de</strong>m Herrn sind<br />

alle gleich herzlich willkommen! Er verheißt durch sein Wort, das bela<strong>de</strong>ne Gemüt zu befreien,<br />

die Betrübten zu trösten und <strong>de</strong>n Nie<strong>de</strong>rgeschlagenen und Verzweifelten neue Hoffnung zu<br />

geben. Viele von <strong>de</strong>nen, die Jesus zuhörten, trauerten über enttäuschte Hoffnungen, manche<br />

nährten einen geheimen Kummer im Herzen, an<strong>de</strong>re suchten ihr stetes Verlangen nach<br />

geistlichem Genüge durch die Dinge dieser Welt und durch Ruhmsucht zu befriedigen. Alle<br />

aber mußten erfahren, daß sie schließlich nur aus „löchrigen Brunnen“ geschöpft hatten, die<br />

307


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

ihren brennen<strong>de</strong>n Durst nicht zu stillen vermochten. In <strong>de</strong>r kalten Pracht <strong>de</strong>s Tempels stan<strong>de</strong>n<br />

sie jetzt leer und unbefriedigt. Der Ruf Jesu: „Wen da dürstet“ erweckte sie aus dumpfem<br />

Grübeln und belebte ihren mü<strong>de</strong>n Geist. Sie lauschten mit wachsen<strong>de</strong>r Anteilnahme <strong>de</strong>n Worten<br />

Jesu, und neue Hoffnung keimte in ihren verzagten Herzen. Sie erkannten unter <strong>de</strong>m Beistand<br />

<strong>de</strong>s Heiligen Geistes in <strong>de</strong>r Re<strong>de</strong> Jesu das messianische Heil.<br />

Noch heute ertönt Jesu Ruf an die dürsten<strong>de</strong>n Seelen in aller Welt. Mit noch größerer Kraft<br />

und Anstrengung als am letzten Tage <strong>de</strong>s Festes in Jerusalem ergeht <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s Einladung<br />

an die Menschen. Der Brunnen <strong>de</strong>s lebendigen Wassers steht allen offen, <strong>de</strong>n Mü<strong>de</strong>n und<br />

Erschöpften wird <strong>de</strong>r erfrischen<strong>de</strong>, stärken<strong>de</strong> Trank <strong>de</strong>s ewigen Lebens angeboten. „Wen da<br />

dürstet, <strong>de</strong>r komme zu mir und trinke!“ „Wen dürstet, <strong>de</strong>r komme; und wer da will, <strong>de</strong>r nehme<br />

das Wasser <strong>de</strong>s Lebens umsonst.“ Offenbarung 22,17. „Wer aber von <strong>de</strong>m Wasser trinken wird,<br />

das ich ihm gebe, <strong>de</strong>n wird ewiglich nicht dürsten, son<strong>de</strong>rn das Wasser, das ich ihm geben<br />

wer<strong>de</strong>, das wird in ihm ein Brunnen <strong>de</strong>s Wassers wer<strong>de</strong>n, das in das ewige Leben<br />

quillt.“ Johannes 4,14.<br />

308


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 50: In <strong>de</strong>r Schlinge<br />

Während <strong>de</strong>r ganzen Zeit, die Christus in Jerusalem auf <strong>de</strong>m Fest verbrachte, wur<strong>de</strong> er<br />

beobachtet und umlauert; je<strong>de</strong>n Tag entstan<strong>de</strong>n neue Pläne, um ihn zum Schweigen zu bringen.<br />

<strong>Die</strong> Priester und Obersten versuchten mit aller List, ihn in eine Falle zu locken, sich seiner zu<br />

bemächtigen und ihn vor <strong>de</strong>m ganzen Volk zu <strong>de</strong>mütigen. Schon bei Jesu erstem Erscheinen auf<br />

<strong>de</strong>m Fest hatten ihn die Pharisäer umringt und ihn gefragt, in wessen Vollmacht er lehre. Man<br />

versuchte dadurch die Aufmerksamkeit von seinen Worten abzulenken und die Berechtigung<br />

seiner Sendung in Frage zu stellen. Damit wollten sie zugleich ihre eigene Wichtigkeit und<br />

Macht unterstreichen.<br />

„Meine Lehre ist nicht mein“, sagte Jesus, „son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>s, <strong>de</strong>r mich gesandt hat. Wenn jemand<br />

will <strong>de</strong>s Willen tun, <strong>de</strong>r wird innewer<strong>de</strong>n, ob diese Lehre von Gott sei, o<strong>de</strong>r ob ich von mir<br />

selbst re<strong>de</strong>.“ Johannes 7,16.17. <strong>Die</strong> Frage dieser Kritiker wi<strong>de</strong>rlegte Jesus nicht dadurch, daß er<br />

auf ihre Spitzfindigkeit einging, son<strong>de</strong>rn in<strong>de</strong>m er ihnen das Verständnis für die Wahrheit<br />

öffnete, die für das Heil <strong>de</strong>r Seele lebenswichtig ist. <strong>Die</strong> Fähigkeit, die Wahrheit zu erkennen<br />

und wertzuschätzen, so erklärte Jesus, hängt weniger vom Verstand als vielmehr vom Herzen<br />

ab. Der Mensch muß die Wahrheit in sich aufnehmen. Das erfor<strong>de</strong>rt die Unterordnung <strong>de</strong>s<br />

Willens. Wenn die Wahrheit nur <strong>de</strong>m Verstand unterworfen zu wer<strong>de</strong>n brauchte, wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />

Stolz kein Hin<strong>de</strong>rnis für ihre Annahme sein. <strong>Die</strong> Wahrheit kann jedoch nur durch das Werk <strong>de</strong>r<br />

Gna<strong>de</strong> in das Herz gelangen, und das hängt davon ab, daß wir je<strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> absagen, die <strong>de</strong>r<br />

Geist Gottes offenbart.<br />

Der Vorteil, von <strong>de</strong>r Wahrheit Kenntnis zu erhalten — wie erhaben sie auch sein mag —,<br />

erweist sich für einen Menschen nur dann als heilsam, wenn sein Herz bereit ist, sie<br />

aufzunehmen. Dazu gehört aber, gewissenhaft auf alle Gewohnheiten und Verhaltensweisen zu<br />

verzichten, die <strong>de</strong>n Grundsätzen <strong>de</strong>r Wahrheit wi<strong>de</strong>rstreiten. Allen jenen, die sich Gott mit <strong>de</strong>m<br />

aufrichtigen Wunsch ergeben, seinen Willen zu erfahren und danach zu han<strong>de</strong>ln, wird sich die<br />

Wahrheit als eine Gotteskraft zu ihrer Erlösung erweisen. Sie können dann entschei<strong>de</strong>n, ob<br />

jemand wirklich von Gott o<strong>de</strong>r nur von sich selbst spricht. <strong>Die</strong> Pharisäer hatten ihren Willen<br />

nicht <strong>de</strong>m Willen Gottes unterstellt. Sie wollten nicht die Wahrheit erforschen, son<strong>de</strong>rn einen<br />

Grund fin<strong>de</strong>n, sich ihr zu entziehen. Christus machte <strong>de</strong>utlich, daß dies die Ursache war,<br />

weshalb sie seine Lehre nicht verstan<strong>de</strong>n.<br />

Der Herr kennzeichnete <strong>de</strong>n Unterschied zwischen einem wahrhaftigen Lehrer und einem<br />

Betrüger mit folgen<strong>de</strong>n Worten: „Wer von sich selbst re<strong>de</strong>t, <strong>de</strong>r sucht seine eigne Ehre; wer<br />

aber sucht die Ehre <strong>de</strong>s, <strong>de</strong>r ihn gesandt hat, <strong>de</strong>r ist wahrhaftig, und ist keine Ungerechtigkeit an<br />

ihm.“ Johannes 7,18. Wer seine eigene Ehre sucht, spricht von sich selbst; <strong>de</strong>r Geist <strong>de</strong>r<br />

Selbstsucht verrät seinen Ursprung. Christus suchte die Ehre Gottes; er sprach <strong>de</strong>s Vaters Worte<br />

— das war seine Vollmacht als Lehrer <strong>de</strong>r Wahrheit. Jesus bewies <strong>de</strong>n Rabbinern seine<br />

Gottheit, in<strong>de</strong>m er ihnen ihre Gedanken offenbarte. Seit <strong>de</strong>r Heilung am Teich Bethesda hatten<br />

sie seinen Tod beschlossen. Sie brachen damit selbst das Gesetz, das sie zu verteidigen<br />

309


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

vorgaben. „Hat euch nicht Mose das Gesetz gegeben?“ fragte er sie. „Und niemand unter euch<br />

tut das Gesetz. Warum suchet ihr mich zu töten?“ Johannes 7,19.<br />

Wie ein greller Blitz erhellten diese Worte Jesu <strong>de</strong>n Rabbinern <strong>de</strong>n Abgrund <strong>de</strong>s Ver<strong>de</strong>rbens,<br />

in <strong>de</strong>n sie zu stürzen drohten. Für Augenblicke waren sie mit Schrecken erfüllt; sie erkannten,<br />

wie unvorstellbar die Macht Jesu war, gegen die sie kämpfen wollten. Aber sie ließen sich nicht<br />

warnen; sie nahmen <strong>de</strong>n Kampf auf. Um ihren Einfluß beim Volk nicht zu verlieren, mußten sie<br />

ihre hinterlistigen Mordgedanken geheimhalten. So wichen sie auch <strong>de</strong>r Frage Jesu aus und<br />

riefen: „Du hast einen bösen Geist; wer sucht dich zu töten?“ Johannes 7,20. Sie <strong>de</strong>uteten an,<br />

daß die Wun<strong>de</strong>rwerke Jesu von einem bösen Geist stammten.<br />

Der Heiland überging diese boshafte Verdächtigung und erklärte ihnen, daß die Heilung am<br />

Teich Bethesda durchaus mit <strong>de</strong>m Wesen <strong>de</strong>s Sabbatgebotes übereinstimmte und auch durch die<br />

jüdische Auslegung <strong>de</strong>s Gesetzes gerechtfertigt war. Er sagte ihnen: „Mose hat euch doch<br />

gegeben die Beschneidung — nicht daß sie von Mose kommt, son<strong>de</strong>rn von <strong>de</strong>n Vätern —, und<br />

ihr beschnei<strong>de</strong>t <strong>de</strong>n Menschen auch am Sabbat.“ Johannes 7,22. Nach <strong>de</strong>r Vorschrift <strong>de</strong>s<br />

Gesetzes mußte je<strong>de</strong>r Knabe am achten Tage beschnitten wer<strong>de</strong>n; auch wenn dieser achte Tag<br />

auf einen Sabbat fiel, genügten die Ju<strong>de</strong>n <strong>de</strong>m Gesetz. Wieviel mehr mußte es nun mit <strong>de</strong>m<br />

Wesen <strong>de</strong>s Gesetzes übereinstimmen, „<strong>de</strong>n ganzen Menschen“ am Sabbat gesund zu machen!<br />

Eindringlich warnte Jesus die Ju<strong>de</strong>n. „Richtet nicht nach <strong>de</strong>m, was vor Augen ist, son<strong>de</strong>rn<br />

richtet ein rechtes Gericht.“ Johannes 7,24. <strong>Die</strong> Obersten mußten schweigen; aber viele aus <strong>de</strong>r<br />

Menge sprachen: „Ist das nicht <strong>de</strong>r, <strong>de</strong>n sie suchen zu töten? Und siehe, er re<strong>de</strong>t frei, und sie<br />

sagen ihm nichts. Sollten unsre Obersten nun wahrhaftig erkannt haben, daß er <strong>de</strong>r Christus<br />

sei?“ Johannes 7,25.26.<br />

Viele unter <strong>Christi</strong> Zuhörern, die in Jerusalem wohnten und von <strong>de</strong>n Anschlägen wußten, die<br />

die Oberen <strong>de</strong>s Volkes gegen ihn schmie<strong>de</strong>ten, fühlten sich mit unwi<strong>de</strong>rstehlicher Kraft von<br />

ihm angezogen. Schwer lastete auf ihnen die Gewißheit, daß er <strong>de</strong>r Sohn Gottes war. Doch<br />

Satan war entschlossen, Zweifel zu säen. Der Weg dazu war durch ihre eigenen irrigen<br />

Vorstellungen vom Messias und seinem Kommen vorbereitet. So wur<strong>de</strong> allgemein<br />

angenommen, daß Christus zwar in Bethlehem geboren wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>, doch nach einer<br />

gewissen Zeit sollte er wie<strong>de</strong>r verschwin<strong>de</strong>n. Bei seinem zweiten Erscheinen wür<strong>de</strong> dann<br />

niemand wissen, woher er käme. Viele waren davon überzeugt, daß <strong>de</strong>r Messias keine<br />

natürlichen verwandtschaftlichen Beziehungen zu <strong>de</strong>n Menschen unterhalten wür<strong>de</strong>. Da Jesus<br />

dieser volkstümlichen Vorstellung von <strong>de</strong>r Herrlichkeit <strong>de</strong>s Messias nicht entsprach, schenkten<br />

viele <strong>de</strong>r Einflüsterung Beachtung: „Wir wissen, woher dieser ist; wenn aber <strong>de</strong>r Christus<br />

kommen wird, so wird niemand wissen, woher er ist.“ Johannes 7,27.<br />

Während sie so zwischen Zweifel und Glauben schwankten, nahm Jesus ihren Gedanken auf<br />

und antwortete ihnen: „Ihr kennet mich und wisset, woher ich bin. Aber von mir selbst bin ich<br />

nicht gekommen, son<strong>de</strong>rn es ist ein Wahrhaftiger, <strong>de</strong>r mich gesandt hat, welchen ihr nicht<br />

kennet.“ Johannes 7,28. Sie maßten sich an, über die Herkunft Jesu Bescheid zu wissen, in<br />

Wirklichkeit aber wußten sie überhaupt nichts von ihm. Hätten sie in Übereinstimmung mit<br />

310


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

<strong>de</strong>m Willen Gottes gelebt, dann wür<strong>de</strong>n sie seinen Sohn erkannt haben, als er öffentlich unter<br />

ihnen auftrat.<br />

<strong>Die</strong> Zuhörer konnten nicht umhin, <strong>Christi</strong> Worte zu verstehen, die eine klare Wie<strong>de</strong>rholung<br />

<strong>de</strong>s Anspruches waren, <strong>de</strong>n er einige Monate zuvor in Gegenwart <strong>de</strong>s Hohen Rates erhoben<br />

hatte, als er sich selbst als Sohn Gottes bezeichnete. <strong>Die</strong> Obersten <strong>de</strong>s Volkes hatten daraufhin<br />

beraten, wie sie ihn töten könnten; jetzt suchten sie ihn zu greifen. Doch daran wur<strong>de</strong>n sie von<br />

einer unsichtbaren Macht gehin<strong>de</strong>rt, die ihrer Wut Grenzen setzte und ihnen sagte: Bis hierher<br />

und nicht weiter!<br />

„Viele vom Volk glaubten an ihn und sprachen: Wenn <strong>de</strong>r Christus kommen wird, wird er<br />

etwa mehr Zeichen tun, als dieser tat?“ Johannes 7,31. <strong>Die</strong> jüdischen Wür<strong>de</strong>nträger verfolgten<br />

mit ängstlicher Spannung <strong>de</strong>n Verlauf <strong>de</strong>r Dinge. Sie bemerkten die wachsen<strong>de</strong> Anteilnahme<br />

<strong>de</strong>s Volkes, eilten zu <strong>de</strong>n Hohenpriestern und berieten mit diesen, wie man Jesus unschädlich<br />

machen könnte. Sie hielten es jedoch für ratsam, ihre Absicht erst dann zu verwirklichen, wenn<br />

Jesus allein sein wür<strong>de</strong>; ihn vor <strong>de</strong>m Volk gefangenzunehmen, wagten sie nicht. Erneut bewies<br />

ihnen <strong>de</strong>r Herr, daß er ihre Absichten kannte. Er sagte ihnen: „Ich bin noch eine kleine Zeit bei<br />

euch, und dann gehe ich hin zu <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r mich gesandt hat. Ihr wer<strong>de</strong>t mich suchen und nicht<br />

fin<strong>de</strong>n; und wo ich bin, könnt ihr nicht hinkommen.“ Johannes 7,33.34. Bald wür<strong>de</strong> er eine<br />

Zufluchtsstätte fin<strong>de</strong>n, wo ihn <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n Haß und Verachtung nicht mehr erreichen konnte; er<br />

wür<strong>de</strong> wie<strong>de</strong>r zu seinem Vater im Himmel auffahren und dort als <strong>de</strong>r Angebetete <strong>de</strong>r Engel<br />

leben. Nie wür<strong>de</strong>n seine Mör<strong>de</strong>r und Verächter dorthin kommen!<br />

Höhnisch fragten die Rabbiner: „Wo will dieser hingehen, daß wir ihn nicht fin<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n?<br />

Will er zu <strong>de</strong>nen gehen, die in <strong>de</strong>r Zerstreuung unter <strong>de</strong>n Griechen wohnen, und die Griechen<br />

lehren?“ Johannes 7,35. Es wur<strong>de</strong> ihnen nicht bewußt, daß sie mit ihren Worten das Werk Jesu<br />

beschrieben. Den ganzen Tag über hatte <strong>de</strong>r Heiland seine Hän<strong>de</strong> nach einem ungehorsamen,<br />

wi<strong>de</strong>rstreiten<strong>de</strong>n Volk ausgestreckt; er wür<strong>de</strong> aber von <strong>de</strong>nen gefun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, die ihn nicht<br />

suchten; er wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>nen erscheinen, die nicht nach ihm gefragt hatten.<br />

Viele, die davon überzeugt waren, daß Jesus <strong>de</strong>r Sohn Gottes ist, ließen sich durch die<br />

falsche Beweisführung <strong>de</strong>r Priester und Rabbiner irreführen. <strong>Die</strong>se Lehrer hatten mit großem<br />

Nachdruck die Weissagungen wie<strong>de</strong>rholt, nach <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Messias „König sein wird auf <strong>de</strong>m<br />

Berg Zion und zu Jerusalem und vor seinen Ältesten in Herrlichkeit“ und „von einem Meer bis<br />

ans an<strong>de</strong>re, und von <strong>de</strong>m Strom bis zu <strong>de</strong>n En<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>“ herrschen solle. Jesaja 24,23; Psalm<br />

72,8. Dann stellten sie geringschätzige Vergleiche an zwischen <strong>de</strong>r hier geschil<strong>de</strong>rten<br />

Herrlichkeit und <strong>de</strong>m ärmlichen Auftreten Jesu. <strong>Die</strong> klaren prophetischen Worte wur<strong>de</strong>n <strong>de</strong>rart<br />

entstellt, daß sie <strong>de</strong>n Irrtum bekräftigten. Hätte das Volk selbst Gottes Wort ernsthaft erforscht,<br />

dann wäre es nicht fehlgeleitet wor<strong>de</strong>n. Das einundsechzigste Kapitel <strong>de</strong>s Jesaja bezeugt, daß<br />

Christus genau das tun sollte, was er schließlich auch tat. Das dreiundfünfzigste Kapitel kündigt<br />

seine Verwerfung und sein Lei<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Welt an, während das neunundfünfzigste Kapitel <strong>de</strong>n<br />

Charakter <strong>de</strong>r Priester und Rabbiner enthüllt.<br />

311


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Gott zwingt die Menschen nicht, ihren Unglauben aufzugeben. Vor ihnen liegen Licht und<br />

Finsternis, Wahrheit und Irrtum. Sie selbst müssen sich für das eine o<strong>de</strong>r das an<strong>de</strong>re<br />

entschei<strong>de</strong>n. Der menschliche Geist ist mit <strong>de</strong>r Fähigkeit ausgestattet, Recht und Unrecht zu<br />

erkennen. Nach Gottes Willen dürfen sich die Menschen nicht von einer Augenblicksregung<br />

bestimmen lassen, son<strong>de</strong>rn von <strong>de</strong>r Gewichtigkeit <strong>de</strong>r Beweise, wobei sie sorgfältig Schriftwort<br />

mit Schriftwort vergleichen sollen. Hätten die Ju<strong>de</strong>n ihr Vorurteil überwun<strong>de</strong>n und das<br />

prophetische Wort mit <strong>de</strong>n Tatsachen verglichen, die Jesu Leben kennzeichneten, so hätten sie<br />

eine wun<strong>de</strong>rbare Übereinstimmung zwischen <strong>de</strong>n Prophezeiungen und <strong>de</strong>ren Erfüllung im<br />

Leben und im <strong>Die</strong>nst <strong>de</strong>s <strong>de</strong>mütigen Galiläers erkannt.<br />

Heute wer<strong>de</strong>n viele in <strong>de</strong>r gleichen Weise irregeführt wie damals die Ju<strong>de</strong>n. Geistliche<br />

Lehrer lesen die Bibel im Lichte ihres eigenen Verständnisses o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r überlieferten<br />

Anschauungen. <strong>Die</strong> Menschen forschen nicht in <strong>de</strong>r Heiligen Schrift und beurteilen nicht selbst,<br />

was Wahrheit ist. Sie verzichten auf eine eigene Meinung und liefern sich ihren führen<strong>de</strong>n<br />

Männern aus. Sein Wort zu predigen und zu lehren ist eines <strong>de</strong>r Mittel, die Gott für die<br />

Ausbreitung <strong>de</strong>r Wahrheit vorgesehen hat. Aber alles, was Menschen lehren, müssen wir<br />

anhand <strong>de</strong>r Bibel prüfen. Wer immer die Heilige Schrift unter Gebet durchforscht, weil er die<br />

Wahrheit erfassen und ihr gehorchen möchte, wird von Gott so erleuchtet wer<strong>de</strong>n, daß er sie<br />

versteht. „Wenn jemand will <strong>de</strong>s Willen tun, <strong>de</strong>r wird innewer<strong>de</strong>n, ob diese Lehre von Gott sei,<br />

o<strong>de</strong>r ob ich von mir selbst re<strong>de</strong>.“ Johannes 7,16.17.<br />

Am letzten Tag <strong>de</strong>s Festes kamen die Häscher, die im Auftrage <strong>de</strong>r Obersten und Priester<br />

Jesus fangen sollten, ohne ihn zurück. Zornig fragte man sie: „Warum habt ihr ihn nicht<br />

gebracht?“ Tiefer Ernst lag auf ihren Zügen, als sie antworteten: „Es hat nie ein Mensch so<br />

gere<strong>de</strong>t wie dieser Mensch.“ Johannes 7,45.46. So verhärtet die Herzen <strong>de</strong>r Knechte waren, Jesu<br />

Worte hatten sie doch angerührt. Während er im Vorhof re<strong>de</strong>te, waren sie in seiner Nähe<br />

geblieben, um zu hören, ob sich seine Worte gegen ihn selbst wen<strong>de</strong>n ließen; je mehr sie aber<br />

hörten, <strong>de</strong>sto weniger dachten sie an ihren Auftrag. Sie stan<strong>de</strong>n bald ganz unter <strong>de</strong>m Eindruck<br />

seiner Worte. Christus offenbarte sich ihren Seelen; sie erkannten, was die Obersten und<br />

Priester nicht einsehen wollten: menschliche Natur von göttlicher Herrlichkeit durchdrungen!<br />

Sie waren von seinen Gedanken und Worten so beeindruckt, daß sie auf alle Vorwürfe nur<br />

sagen konnten: „Es hat nie ein Mensch so gere<strong>de</strong>t wie dieser Mensch.“<br />

<strong>Die</strong> Obersten und Priester mußten sich eingestehen, daß auch sie einst unter <strong>de</strong>m gleichen<br />

Eindruck gestan<strong>de</strong>n hatten, als sie zum erstenmal in Jesu Gegenwart getreten waren; auch sie<br />

mußten einst ihre Herzen unter das zwingen<strong>de</strong> Wort Jesu beugen. Doch gewaltsam hatten sie<br />

die Überzeugung, daß <strong>de</strong>r Heilige Geist am Wirken sei, unterdrückt. Wütend darüber, daß jetzt<br />

selbst die Hüter <strong>de</strong>s Gesetzes von <strong>de</strong>m verhaßten Galiläer beeindruckt waren, schrien sie die<br />

Knechte an: „Seid ihr auch verführt? Glaubt auch irgen<strong>de</strong>in Oberster o<strong>de</strong>r Pharisäer an ihn? Nur<br />

das Volk tut‘s, das nichts vom Gesetz weiß: verflucht ist es!“ Johannes 7,47-49.<br />

Nur wenige <strong>de</strong>rer, <strong>de</strong>nen die Wahrheitsbotschaft verkündigt wird, wollen wissen: „Ist sie<br />

wahr?“ Ihnen geht es darum: „Wer tritt für sie ein?“ <strong>Die</strong> meisten urteilen danach, wie viele sie<br />

annehmen. Noch immer wird gefragt: „Haben jemals kluge Männer und religiöse Führer daran<br />

312


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

geglaubt?“ Den Menschen fällt heutzutage wahre Frömmigkeit keineswegs leichter als in <strong>de</strong>n<br />

Tagen <strong>Christi</strong>. Sie sind genauso auf irdische Güter erpicht und schlagen die Reichtümer <strong>de</strong>r<br />

Ewigkeit aus. Es spricht jedoch nicht gegen die Wahrheit, daß die große Masse sie nicht<br />

annehmen will und daß die Mächtigen <strong>de</strong>r Welt o<strong>de</strong>r gar die religiösen Führer sie nicht als<br />

gültig anerkennen.<br />

Aufs neue schmie<strong>de</strong>ten die Priester und Obersten Pläne, um Jesus gefangenzunehmen. Sie<br />

wiesen darauf hin, daß er das Volk <strong>de</strong>n verordneten jüdischen Führern abspenstig machen<br />

wer<strong>de</strong>, wenn sie ihn noch länger ungehin<strong>de</strong>rt sprechen ließen; es sei <strong>de</strong>shalb nötig, ihn<br />

unverzüglich zum Schweigen zu bringen. Mitten in ihren Beratungen stellte Niko<strong>de</strong>mus<br />

plötzlich die Frage: „Richtet unser Gesetz auch einen Menschen, ehe man ihn verhört hat und<br />

erkannt, was er tut?“ Johannes 7,51. Peinliche Stille folgte diesen Worten; es wur<strong>de</strong> allen<br />

bewußt, daß sie nieman<strong>de</strong>n richten durften, <strong>de</strong>r nicht gehört wor<strong>de</strong>n war. Das war es jedoch<br />

nicht allein, was die hochmütigen Obersten schweigen ließ, son<strong>de</strong>rn es war die Tatsache, daß<br />

sich jemand aus ihrer Mitte zum Verteidiger <strong>de</strong>s Nazareners aufwarf. Nach<strong>de</strong>m sie sich von<br />

ihrem Erstaunen erholt hatten, fragten sie Niko<strong>de</strong>mus mit beißen<strong>de</strong>m Spott: „Bist du auch ein<br />

Galiläer? Forsche und siehe, aus Galiläa steht kein Prophet auf.“ Johannes 7,52.<br />

<strong>Die</strong> Frage <strong>de</strong>s Niko<strong>de</strong>mus aber hatte bewirkt, daß <strong>de</strong>r Rat die Verhandlungen abbrach und<br />

die Absicht, Jesus ohne Verhör zu verurteilen, von <strong>de</strong>n Obersten nicht ausgeführt wer<strong>de</strong>n<br />

konnte. Für <strong>de</strong>n Augenblick unterlegen, ging „ein jeglicher ... heim. Jesus aber ging an <strong>de</strong>n<br />

Ölberg“. Johannes 7,53; Johannes 8,1. Nach <strong>de</strong>n aufregen<strong>de</strong>n Erlebnissen auf <strong>de</strong>m Fest, nach<br />

<strong>de</strong>m lauten Durcheinan<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Stadt suchte Jesus Ruhe und Erholung in <strong>de</strong>n stillen<br />

Olivenhainen am Ölberg. Hier konnte er mit Gott allein sein. Am nächsten Morgen aber „kam<br />

er wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Tempel, und alles Volk kam zu ihm; und er setzte sich und lehrte<br />

sie“. Johannes 8,2.<br />

Er wur<strong>de</strong> aber bald unterbrochen. Einige Schriftgelehrte und Pharisäer näherten sich ihm und<br />

zogen eine von Schrecken ergriffene Frau mit sich. Mit roher Gewalt zwangen sie die Frau vor<br />

Jesus und klagten sie mit harten, eifern<strong>de</strong>n Worten <strong>de</strong>r Übertretung <strong>de</strong>s siebenten Gebotes an.<br />

Zum Herrn sagten sie mit erheuchelter Ehrerbietung: „Meister, diese Frau ist ergriffen auf<br />

frischer Tat im Ehebruch. Mose aber hat uns im Gesetz geboten, solche zu steinigen. Was sagst<br />

du?“ Johannes 8,4.5. Ihre gespielte Hochachtung sollte eine schlau angelegte Verschwörung zu<br />

seiner Vernichtung verbergen. Sie hatten diese Gelegenheit ergriffen, um seine Verurteilung<br />

sicherzustellen, dachten sie doch, sie wür<strong>de</strong>n auf je<strong>de</strong>n Fall eine Ursache fin<strong>de</strong>n, ihn<br />

anzuklagen, ganz gleich, welche Entscheidung Jesus treffen sollte. Spräche er die Frau frei,<br />

wür<strong>de</strong>n sie ihn <strong>de</strong>r Mißachtung <strong>de</strong>s mosaischen Gesetzes beschuldigen. Erklärte er sie dagegen<br />

<strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s würdig, dann könnten sie ihn bei <strong>de</strong>n Römern anklagen, daß er sich eine Amtsgewalt<br />

anmaße, die nur ihnen zustehe.<br />

Jesus schaute um sich — er sah das zittern<strong>de</strong> Opfer in seiner Schan<strong>de</strong> und die<br />

strengblicken<strong>de</strong>n Wür<strong>de</strong>nträger, bar je<strong>de</strong>s menschlichen Erbarmens. In seinem reinen Sinn<br />

fühlte er sich angewi<strong>de</strong>rt von diesem Schauspiel. Er wußte ganz genau, warum diese<br />

Angelegenheit ihm vorgetragen wor<strong>de</strong>n war. Er las in <strong>de</strong>n Herzen und kannte <strong>de</strong>n Charakter<br />

313


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

sowie die Lebensgeschichte eines je<strong>de</strong>n in seiner Nähe. <strong>Die</strong>se angeblichen Hüter <strong>de</strong>r<br />

Gerechtigkeit hatten selbst die Frau zur Sün<strong>de</strong> verleitet, um ihn zu fangen. Ohne auf die Frage<br />

<strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n einzugehen, bückte sich Christus, schaute lange zu Bo<strong>de</strong>n und begann in <strong>de</strong>n Sand zu<br />

schreiben.<br />

Ungeduldig ob seines Zögerns und seiner scheinbaren Gleichgültigkeit, kamen die<br />

Schriftgelehrten und Pharisäer immer näher und baten dringend um seine Aufmerksamkeit. Als<br />

aber ihre Blicke <strong>de</strong>s Herrn Hand folgten, die auf <strong>de</strong>m sandigen Bo<strong>de</strong>n immer noch schrieb, und<br />

sie die Schrift entzifferten, die sich vor ihnen <strong>de</strong>utlich vom Bo<strong>de</strong>n abhob, erbleichten sie. Sie<br />

lasen die verborgenen Sün<strong>de</strong>n ihres Lebens. <strong>Die</strong> Umstehen<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>n plötzlichen Wechsel im<br />

Ausdruck <strong>de</strong>r Ankläger gewahrten, drängten sich enger an Jesus heran, um zu erkennen, was<br />

diese so mit Scham und Verwun<strong>de</strong>rung erfüllte.<br />

Trotz ihrer Beteuerung, das Gesetz zu achten, mißachteten sie doch seine Vorschriften,<br />

in<strong>de</strong>m sie ihre Anklagen gegen das beim Ehebruch ergriffene Weib vorbrachten. Es wäre<br />

vielmehr <strong>de</strong>s Ehegatten Pflicht gewesen, ein gesetzliches Verfahren einzuleiten; daraufhin<br />

wären die Übeltäter gleichermaßen bestraft wor<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> Anklage vor Christus war somit völlig<br />

unberechtigt. Der Herr aber begegnete ihnen mit ihren eigenen Waffen. Das Gesetz befahl, daß<br />

bei <strong>de</strong>r Steinigung <strong>de</strong>s Übeltäters die Zeugen <strong>de</strong>n ersten Stein auf <strong>de</strong>n Verurteilten zu werfen<br />

hatten. Jesus richtete sich wie<strong>de</strong>r auf, schaute die Ankläger an und sagte: „Wer unter euch ohne<br />

Sün<strong>de</strong> ist, <strong>de</strong>r werfe <strong>de</strong>n ersten Stein auf sie.“ Johannes 8,7. Dann bückte er sich abermals und<br />

fuhr fort, in <strong>de</strong>n Sand zu schreiben.<br />

Er hatte sich we<strong>de</strong>r gegen Moses Gesetz vergangen, noch das römische Recht gebrochen.<br />

<strong>Die</strong> Ankläger aber waren geschlagen; das Gewand ihrer erheuchelten Frömmigkeit war von<br />

ihnen gerissen. Nun stan<strong>de</strong>n sie schuldig und überführt im Angesicht <strong>de</strong>s gerechten Richters.<br />

Sie zitterten vor Furcht, daß ihr sündhaftes Treiben <strong>de</strong>m ganzen Volk bekannt wer<strong>de</strong>n könnte,<br />

und schlichen nacheinan<strong>de</strong>r mit gebeugtem Haupt und nie<strong>de</strong>rgeschlagenen Augen davon; die<br />

Ehebrecherin aber überließen sie <strong>de</strong>m barmherzigen Heiland.<br />

Jesus schaute die Frau an und sprach zu ihr: „Weib, wo sind sie, <strong>de</strong>ine Verkläger? Hat dich<br />

niemand verdammt? Sie aber sprach: Herr, niemand. Jesus aber sprach: So verdamme ich dich<br />

auch nicht; gehe hin und sündige hinfort nicht mehr.“ Johannes 8,10.11. <strong>Die</strong> Frau hatte, von<br />

Furcht überwältigt, vor ihm gestan<strong>de</strong>n. Seine Worte: „Wer unter euch ohne Sün<strong>de</strong> ist, <strong>de</strong>r werfe<br />

<strong>de</strong>n ersten Stein auf sie“, hörte sie an wie ihr To<strong>de</strong>surteil. Sie wagte nicht, ihre Augen zum<br />

Heiland zu erheben, son<strong>de</strong>rn erwartete schweigend ihre Strafe. Mit größtem Erstaunen bemerkte<br />

sie, wie ihre Verkläger einer nach <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>rn sich verwirrt und wortlos entfernten; sie hörte<br />

Jesu tröstliche Worte: „So verdamme ich dich auch nicht; gehe hin und sündige hinfort nicht<br />

mehr.“ Erschüttert warf sie sich <strong>de</strong>m Heiland zu Füßen, stammelte ihre dankbare Liebe und<br />

bekannte unter heißen Tränen ihre Sün<strong>de</strong>n.<br />

Sie begann ein neues Leben; ein Leben <strong>de</strong>r Reinheit und <strong>de</strong>s Frie<strong>de</strong>ns, geweiht <strong>de</strong>m <strong>Die</strong>nste<br />

Gottes. Dadurch, daß Jesus dieses gefallene Menschenkind aufrichtete, vollbrachte er ein<br />

größeres Wun<strong>de</strong>r, als wenn er es von einem ganz schlimmen körperlichen Gebrechen geheilt<br />

314


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

hätte. Er befreite es von <strong>de</strong>r geistlichen Krankheit, die zum ewigen To<strong>de</strong> geführt hätte. <strong>Die</strong>se<br />

reumütige Frau war hinfort eine seiner treuesten Nachfolgerinnen. Mit aufopfern<strong>de</strong>r Liebe und<br />

Hingabe erwi<strong>de</strong>rte sie die vergeben<strong>de</strong> Gna<strong>de</strong> Jesu. Daß Jesus <strong>de</strong>r Frau vergab und sie ermutigte,<br />

ein besseres Leben zu führen, wirft auf die vollkommene Gerechtigkeit seines Wesens ein<br />

helles Licht. Er hat we<strong>de</strong>r die Sün<strong>de</strong> gutgeheißen noch die Größe <strong>de</strong>r Schuld verringert; doch er<br />

wollte nicht verdammen, son<strong>de</strong>rn retten. <strong>Die</strong> Welt hatte für dieses irren<strong>de</strong> Menschenkind nur<br />

Hohn und Verachtung, aber Jesus spricht Worte <strong>de</strong>s Trostes und richtet auf, was gefallen ist.<br />

Der Sündlose erbarmt sich <strong>de</strong>r Schwäche <strong>de</strong>s Sün<strong>de</strong>rs und streckt ihm seine hilfreiche Hand<br />

entgegen. <strong>Die</strong> scheinheiligen Pharisäer klagen an und verurteilen — Jesus aber spricht: „Gehe<br />

hin und sündige hinfort nicht mehr.“<br />

Wer abgewandten Blickes <strong>de</strong>n Irren<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Rücken zukehrt und sie nicht daran hin<strong>de</strong>rt,<br />

ihren Weg ins Ver<strong>de</strong>rben fortzusetzen, ist kein Nachfolger <strong>Christi</strong>. Wer darauf aus ist, an<strong>de</strong>re<br />

anzuklagen und sie vor <strong>de</strong>n Richter zu bringen, lädt in seinem eigenen Leben oftmals mehr<br />

Schuld auf sich als sie. <strong>Die</strong> Menschen hassen <strong>de</strong>n Sün<strong>de</strong>r und lieben die Sün<strong>de</strong>. Christus<br />

dagegen haßt die Sün<strong>de</strong> und liebt <strong>de</strong>n Sün<strong>de</strong>r. Von diesem Geist müssen auch alle seine<br />

Nachfolger beseelt sein. <strong>Die</strong> christliche Liebe hält sich zurück im Ta<strong>de</strong>ln, nimmt aber schnell<br />

echte Reue wahr. Sie ist immer bereit, <strong>de</strong>m Irren<strong>de</strong>n zu vergeben, ihn zu stärken, auf <strong>de</strong>n Pfad<br />

<strong>de</strong>r Gottesfurcht zu bringen und darauf zu erhalten.<br />

315


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 51: Das Licht <strong>de</strong>s Lebens<br />

Auf <strong>de</strong>r Grundlage von Johannes 8,12-59; Johannes 9.„Da re<strong>de</strong>te Jesus abermals zu ihnen und<br />

sprach: Ich bin das Licht <strong>de</strong>r Welt. Wer mir nachfolgt, <strong>de</strong>r wird nicht wan<strong>de</strong>ln in <strong>de</strong>r Finsternis,<br />

son<strong>de</strong>rn wird das Licht <strong>de</strong>s Lebens haben.“ Johannes 8,12. Als Jesus dies sagte, stand er im<br />

Vorhof <strong>de</strong>s Tempels, <strong>de</strong>m in Verbindung mit <strong>de</strong>m Laubhüttenfest beson<strong>de</strong>re Be<strong>de</strong>utung zukam.<br />

Mitten im Vorhof ragten zwei stattliche Pfeiler auf, an <strong>de</strong>nen große Lampen befestigt waren.<br />

Nach <strong>de</strong>m Abendopfer wur<strong>de</strong>n alle diese Lampen angezün<strong>de</strong>t, die dann ihr Licht über<br />

Jerusalem erstrahlen ließen. <strong>Die</strong>ser Festakt sollte an die Feuersäule erinnern, die Israel in <strong>de</strong>r<br />

Wüste geleitet hatte, gleichzeitig aber auch auf <strong>de</strong>n kommen<strong>de</strong>n Messias hin<strong>de</strong>uten. Abends,<br />

wenn die Lampen angezün<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>n, war <strong>de</strong>r Vorhof ein Ort großer Freu<strong>de</strong>nkundgebungen.<br />

Grauhaarige Männer, nämlich die Tempelpriester und die Obersten <strong>de</strong>s Volkes, fan<strong>de</strong>n sich in<br />

festlichen Tänzen zu Instrumentalmusik und zum Gesang <strong>de</strong>r Leviten.<br />

Durch <strong>de</strong>n Lichterglanz in Jerusalem drückte das Volk seine Hoffnung auf die Ankunft <strong>de</strong>s<br />

Messias aus, <strong>de</strong>r ebenfalls sein Licht über Israel erstrahlen lassen wür<strong>de</strong>. Für Jesus besaß dieser<br />

Vorgang jedoch noch eine größere Be<strong>de</strong>utung. Wie die Tempellampen ihr Licht in die<br />

Umgebung ausstrahlten, so wollte Christus, <strong>de</strong>r geistliche Lichtquell, die Finsternis <strong>de</strong>r Welt<br />

erhellen. Das Sinnbild war jedoch unvollkommen. Das gewaltige Licht, das er mit eigener Hand<br />

am Himmel geschaffen hatte, war eine bessere Darstellung <strong>de</strong>r Herrlichkeit seiner Sendung.<br />

Es war früh am Morgen; die Sonne war gera<strong>de</strong> über <strong>de</strong>m Ölberg aufgegangen. Blen<strong>de</strong>nd hell<br />

ergossen sich ihre Strahlen über die Marmorpaläste und ließen das Gold <strong>de</strong>r Tempelmauern<br />

aufleuchten. Jesus wies darauf hin und sagte: „Ich bin das Licht <strong>de</strong>r Welt.“ Einer, <strong>de</strong>r diese<br />

Worte hörte, gab sie lange Zeit später in <strong>de</strong>m herrlichen Schriftwort wie<strong>de</strong>r: „In ihm war das<br />

Leben, und das Leben war das Licht <strong>de</strong>r Menschen. Und das Licht scheint in <strong>de</strong>r Finsternis, und<br />

die Finsternis hat‘s nicht ergriffen ... Das war das wahrhaftige Licht, welches alle Menschen<br />

erleuchtet, die in diese Welt kommen.“ Johannes 1,4.5.9. Lange nach <strong>de</strong>r Himmelfahrt Jesu<br />

bediente sich Petrus, vom Heiligen Geist erleuchtet, <strong>de</strong>s Sinnbil<strong>de</strong>s, das Christus verwen<strong>de</strong>t<br />

hatte: „Wir haben <strong>de</strong>sto fester das prophetische Wort, und ihr tut wohl, daß ihr darauf achtet als<br />

auf ein Licht, das da scheint an einem dunklen Ort, bis <strong>de</strong>r Tag anbreche und <strong>de</strong>r Morgenstern<br />

aufgehe in euren Herzen.“ 2.Petrus 1,19.<br />

Immer, wenn Gott sich seinem Volk offenbarte, war das Licht ein Sinnbild seiner<br />

Gegenwart. Auf sein Schöpfungswort hin war zu Anbeginn das Licht aus <strong>de</strong>r Finsternis<br />

hervorgebrochen. Licht war tagsüber in <strong>de</strong>r Wolkensäule und nachts in <strong>de</strong>r Feuersäule verhüllt<br />

und leitete so die großen Heerscharen Israels. Licht umlo<strong>de</strong>rte in schrecklicher Majestät <strong>de</strong>n<br />

Herrn auf <strong>de</strong>m Berge Sinai. Licht lag über <strong>de</strong>m Gna<strong>de</strong>nstuhl in <strong>de</strong>r Stiftshütte. Licht erfüllte<br />

auch <strong>de</strong>n Tempel Salomos bei seiner Einweihung, und Licht erstrahlte auf <strong>de</strong>n Hügeln<br />

Bethlehems, als die Engel <strong>de</strong>n wachsamen Hirten die Erlösungsbotschaft verkün<strong>de</strong>ten. Gott ist<br />

Licht. Mit <strong>de</strong>n Worten: „Ich bin das Licht <strong>de</strong>r Welt“ erklärte Christus sowohl sein Einssein mit<br />

Gott als auch seine Verwandtschaft mit allen Menschen. Er war es gewesen, <strong>de</strong>r zu Anfang<br />

hatte „das Licht aus <strong>de</strong>r Finsternis hervorleuchten“ lassen. 2.Korinther 4,6. Von ihm erhalten<br />

316


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

auch Sonne, Mond und Sterne ihr Licht. Er war ferner das geistliche Licht, das sinnbildhaft im<br />

Tempeldienst wie in <strong>de</strong>r Prophetie über Israel geleuchtet hatte. Doch dieses Licht war nicht nur<br />

<strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n geschenkt wor<strong>de</strong>n. Wie die Sonnenstrahlen in die fernsten Winkel hineinleuchten, so<br />

erstrahlt das Licht <strong>de</strong>r Sonne <strong>de</strong>r Gerechtigkeit für je<strong>de</strong>n Menschen.<br />

„Das war das wahrhaftige Licht, welches alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt<br />

kommen.“ Johannes 1,9. <strong>Die</strong> Welt hatte ihre großen Lehrer. <strong>Die</strong>se Menschen mit gewaltigen<br />

Verstan<strong>de</strong>skräften haben Herrliches erforscht. Ihre Äußerungen regten das Nach<strong>de</strong>nken an und<br />

erschlossen weite Wissensgebiete. Ihnen allen wur<strong>de</strong> als Führer und Wohltäter <strong>de</strong>r Menschheit<br />

Ehre erwiesen. Aber einen gibt es, <strong>de</strong>r sie alle überragte. „Wie viele ihn aber aufnahmen, <strong>de</strong>nen<br />

gab er Macht, Gottes Kin<strong>de</strong>r zu wer<strong>de</strong>n ... Niemand hat Gott je gesehen; <strong>de</strong>r eingeborene Sohn,<br />

<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>s Vaters Schoß ist, <strong>de</strong>r hat ihn uns verkündigt.“ Johannes 1,12.18. Wir können die<br />

Reihe <strong>de</strong>r großen Lehrer <strong>de</strong>r Welt so weit zurückverfolgen, wie menschliche Urkun<strong>de</strong>n reichen:<br />

das Licht aber war vor ihnen da. Wie Mond und Sterne unseres Sonnensystems das Licht <strong>de</strong>r<br />

Sonne zurückwerfen, so strahlen die großen Denker <strong>de</strong>r Welt das Licht <strong>de</strong>r Sonne <strong>de</strong>r<br />

Gerechtigkeit wi<strong>de</strong>r, soweit ihre Lehren auf Wahrheit beruhen. Je<strong>de</strong>r glanzvolle Gedanke, je<strong>de</strong>r<br />

Geistesblitz entstammt <strong>de</strong>m „Licht <strong>de</strong>r Welt“. Heutzutage spricht man viel von „besserer<br />

Ausbildung“. <strong>Die</strong> wahre „bessere Ausbildung“ wird von <strong>de</strong>m erteilt, „in welchem verborgen<br />

liegen alle Schätze <strong>de</strong>r Weisheit und <strong>de</strong>r Erkenntnis“. Kolosser 2,3. „In ihm war das Leben, und<br />

das Leben war das Licht <strong>de</strong>r Menschen.“ Johannes 1,4. „Wer mir nachfolgt, <strong>de</strong>r wird nicht<br />

wan<strong>de</strong>ln in <strong>de</strong>r Finsternis, son<strong>de</strong>rn wird das Licht <strong>de</strong>s Lebens haben.“ Johannes 8,12.<br />

Mit <strong>de</strong>n Worten: „Ich bin das Licht <strong>de</strong>r Welt“ bekannte sich Jesus als Messias. Der alte<br />

Simeon hatte im Tempel, in <strong>de</strong>m Jesus soeben lehrte, von ihm als einem „Licht, zu erleuchten<br />

die Hei<strong>de</strong>n, und zum Preis <strong>de</strong>ines Volks Israel“ gesprochen. Lukas 2,32. Mit diesen Worten<br />

hatte er eine Weissagung auf ihn bezogen, die in ganz Israel bekannt war. Durch <strong>de</strong>n Propheten<br />

Jesaja hatte <strong>de</strong>r Heilige Geist erklärt: „Es ist zu wenig, daß du mein Knecht bist, die Stämme<br />

Jakobs aufzurichten und die Zerstreuten Israels wie<strong>de</strong>rzubringen, son<strong>de</strong>rn ich habe dich auch<br />

zum Licht <strong>de</strong>r Hei<strong>de</strong>n gemacht, daß du seist mein Heil bis an die En<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>.“ Jesaja 49,6.<br />

<strong>Die</strong>se Weissagung wur<strong>de</strong> allgemein auf <strong>de</strong>n Messias bezogen, und als Jesus nun sagte: „Ich bin<br />

das Licht <strong>de</strong>r Welt“, konnte das Volk nicht umhin, seinen Anspruch, <strong>de</strong>r Verheißene zu sein, zu<br />

erkennen.<br />

<strong>Die</strong> Pharisäer und Obersten <strong>de</strong>s Volkes hielten diesen Anspruch allerdings für eine<br />

Anmaßung. Daß ein Mensch wie ihresgleichen so etwas von sich behauptete, konnten sie nicht<br />

dul<strong>de</strong>n. Sie taten so, als hätten sie seine Worte nicht verstan<strong>de</strong>n, und fragten ihn: „Wer bist du<br />

<strong>de</strong>nn?“ Johannes 8,25. Sie wollten damit erreichen, daß er sich selbst als Christus bezeichnete.<br />

Sein Aussehen aber und seine Taten wichen so sehr von <strong>de</strong>n Erwartungen <strong>de</strong>s Volkes ab, daß es<br />

ihn, wie seine listigen Fein<strong>de</strong> glaubten, als Betrüger zurückweisen wür<strong>de</strong>, falls er sich ihm als<br />

<strong>de</strong>r Messias vorstellte.<br />

Auf ihre Frage: „Wer bist du <strong>de</strong>nn?“ antwortete Jesus: „Erstlich das, was ich euch eben<br />

sage!“ Johannes 8,25 (Schlachter). Was sich in seinen Worten offenbarte, das zeigte sich auch<br />

in seinem Wesen. Er verkörperte die Wahrheiten, die er lehrte. „Von mir selbst tue ich nichts“,<br />

317


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

versicherte Jesus und fuhr fort: „Wie mich mein Vater gelehrt hat, solches re<strong>de</strong> ich. Und <strong>de</strong>r<br />

mich gesandt hat, ist mit mir; er läßt mich nicht allein; <strong>de</strong>nn ich tue allezeit, was ihm<br />

gefällt.“ Johannes 8,28.29 (Schlachter). Er unternahm keinen Versuch, seinen messianischen<br />

Anspruch zu beweisen, son<strong>de</strong>rn unterstrich sein Einssein mit Gott. Wären die Herzen <strong>de</strong>r<br />

Pharisäer <strong>de</strong>r Liebe Gottes gegenüber aufgeschlossen gewesen, so hätten auch sie Jesus<br />

angenommen.<br />

Viele seiner Zuhörer fühlten sich im Glauben zu ihm hingezogen. Zu diesen sagte er: „Wenn<br />

ihr bleiben wer<strong>de</strong>t an meiner Re<strong>de</strong>, so seid ihr in Wahrheit meine Jünger und wer<strong>de</strong>t die<br />

Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ Johannes 8,31.32. <strong>Die</strong>se Worte<br />

brachten die Pharisäer auf. Daß das Volk lange Zeit unter Fremdherrschaft gestan<strong>de</strong>n hatte,<br />

wur<strong>de</strong> von ihnen übersehen, und ärgerlich riefen sie: „Wir sind Abrahams Kin<strong>de</strong>r und sind<br />

niemals jeman<strong>de</strong>s Knechte gewesen. Wie sprichst du <strong>de</strong>nn: Ihr sollt frei wer<strong>de</strong>n?“ Johannes<br />

8,33. Jesus schaute diese Menschen an, die Sklaven <strong>de</strong>r Bosheit waren und Rachegedanken<br />

hegten, und antwortete betrübt: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer Sün<strong>de</strong> tut, <strong>de</strong>r ist <strong>de</strong>r<br />

Sün<strong>de</strong> Knecht.“ Johannes 8,34. Sie waren <strong>de</strong>r übelsten Knechtschaft verfallen — beherrscht<br />

vom Geist <strong>de</strong>s Bösen.<br />

Je<strong>de</strong>r Mensch, <strong>de</strong>r sich <strong>de</strong>m Anspruch Gottes verweigert, wird von einer an<strong>de</strong>ren Macht<br />

beherrscht. Er gehört nicht sich selber. Mag er auch von Freiheit re<strong>de</strong>n, in Wirklichkeit lebt er<br />

doch in <strong>de</strong>r erniedrigendsten Knechtschaft. Er darf <strong>de</strong>n Glanz <strong>de</strong>r Wahrheit nicht aufnehmen;<br />

<strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Teufel beherrscht seinen Geist. Vielleicht schmeichelt er sich damit, <strong>de</strong>r eigenen<br />

Urteilskraft zu folgen, tatsächlich aber gehorcht er <strong>de</strong>m Willen <strong>de</strong>s Fürsten <strong>de</strong>r Finsternis.<br />

Christus kam, um die Seele von <strong>de</strong>n Fesseln <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>nknechtschaft zu erlösen. „Wenn euch<br />

nun <strong>de</strong>r Sohn frei macht, so seid ihr recht frei.“ Johannes 8,36. „Das Gesetz <strong>de</strong>s Geistes, <strong>de</strong>r da<br />

lebendig macht in Christus Jesus, hat mich frei gemacht von <strong>de</strong>m Gesetz <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> und <strong>de</strong>s<br />

To<strong>de</strong>s.“ Römer 8,2.<br />

<strong>Die</strong> Erlösung kann nieman<strong>de</strong>n aufgezwungen wer<strong>de</strong>n. Keinerlei äußere Gewalt wird dazu<br />

angewandt. Unter <strong>de</strong>m Einfluß <strong>de</strong>s Geistes Gottes steht es <strong>de</strong>m Menschen frei, selbst zu<br />

entschei<strong>de</strong>n, wem er dienen möchte. <strong>Die</strong> innere Wandlung als Folge davon, daß das Herz<br />

Christus übergeben wird, verbürgt die höchste Stufe <strong>de</strong>r Freiheit. <strong>Die</strong> Austreibung <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> ist<br />

eine Tat <strong>de</strong>s Herzens. Es trifft zu, wir können uns nicht aus eigener Kraft von <strong>de</strong>r Herrschaft<br />

Satans befreien. Wenn wir aber von <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> frei wer<strong>de</strong>n wollen und in höchster Not nach<br />

einer Macht außer und über uns rufen, dann wer<strong>de</strong>n die Kräfte unseres Herzens von <strong>de</strong>r<br />

göttlichen Macht <strong>de</strong>s Heiligen Geistes so durchdrungen, daß sie <strong>de</strong>n Willen Gottes als ihren<br />

eigenen erfüllen.<br />

<strong>Die</strong> Freiheit <strong>de</strong>s Menschen ist nur unter <strong>de</strong>r einen Voraussetzung möglich, daß er mit<br />

Christus eins wird. „<strong>Die</strong> Wahrheit wird euch frei machen.“ Johannes 8,32. Christus ist diese<br />

Wahrheit. <strong>Die</strong> Sün<strong>de</strong> kann nur Erfolg haben, wenn sie <strong>de</strong>n Geist schwächt und die Freiheit <strong>de</strong>r<br />

Seele zerstört. Unterwirft man sich aber Gott, dann wird das eigentliche Selbst wie<strong>de</strong>rhergestellt<br />

— die wahre Herrlichkeit und Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Menschen. Das göttliche Gesetz, von <strong>de</strong>m wir<br />

abhängig sind, ist das „Gesetz <strong>de</strong>r Freiheit“. Jakobus 2,12. <strong>Die</strong> Pharisäer hatten sich selbst als<br />

318


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kin<strong>de</strong>r Abrahams bezeichnet. Jesus sagte ihnen, daß sie diesen Anspruch nur aufrechterhalten<br />

könnten, wenn sie auch die Werke Abrahams täten. Wahre Kin<strong>de</strong>r Abrahams lebten so wie<br />

Abraham — im Gehorsam gegenüber Gott, und sie trachteten nicht danach, <strong>de</strong>n einen zu töten,<br />

<strong>de</strong>r zu ihnen von <strong>de</strong>r Wahrheit sprach, die Gott ihm geschenkt hatte. <strong>Die</strong> Rabbiner taten nicht<br />

die Werke Abrahams, als sie ein Komplott gegen Christus schmie<strong>de</strong>ten. <strong>Die</strong> bloße Abstammung<br />

von Abraham war wertlos. Ohne geistliche Verbindung mit ihm, die sich dadurch gezeigt hätte,<br />

daß sie <strong>de</strong>n Geist Abrahams besitzen und seine Werke tun, waren sie nicht seine Kin<strong>de</strong>r.<br />

<strong>Die</strong>ser Grundsatz behält sein Gewicht auch für ein Problem, das lange die Christenheit<br />

beschäftigt hat — für das Problem <strong>de</strong>r apostolischen Nachfolge. Für die Abstammung von<br />

Abraham entschie<strong>de</strong>n we<strong>de</strong>r Namen noch Stammbaum, son<strong>de</strong>rn die Wesensgleichheit. Genauso<br />

beruht die apostolische Nachfolge nicht auf <strong>de</strong>r Weitergabe kirchlicher Autorität, son<strong>de</strong>rn auf<br />

<strong>de</strong>r geistlichen Verwandtschaft. Ein Leben, das im Geiste <strong>de</strong>r Apostel geführt wird, <strong>de</strong>r Glaube<br />

und die Lehre, die sie verkün<strong>de</strong>ten, sind <strong>de</strong>r echte Beweis für die apostolische Nachfolge. Nur<br />

dadurch wer<strong>de</strong>n Menschen zu Nachfolgern <strong>de</strong>r ersten Lehrer <strong>de</strong>s Evangeliums. Jesus sprach <strong>de</strong>n<br />

Ju<strong>de</strong>n ab, Kin<strong>de</strong>r Abrahams zu sein. Er sagte: „Ihr tut eures Vaters Werke.“ Voller Spott<br />

antworteten sie ihm: „Wir sind nicht unehelich geboren; wir haben einen Vater, Gott.“ Johannes<br />

8,41. <strong>Die</strong>se Worte sollten auf die Umstän<strong>de</strong> seiner Geburt anspielen und Christus in <strong>de</strong>n Augen<br />

jener Menschen herabsetzen, die gera<strong>de</strong> anfingen, an ihn zu glauben. Jesus ging auf die üble<br />

Anspielung gar nicht ein, son<strong>de</strong>rn erwi<strong>de</strong>rte: „Wäre Gott euer Vater, so liebtet ihr mich; <strong>de</strong>nn<br />

ich bin ausgegangen und komme von Gott.“ Johannes 8,42.<br />

Ihre Taten bezeugten ihre Verwandtschaft mit <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r ein Lügner und Mör<strong>de</strong>r war. „Ihr<br />

habt <strong>de</strong>n Teufel zum Vater“, erklärte Jesus, „und nach eures Vaters Gelüste wollt ihr tun. Der ist<br />

ein Mör<strong>de</strong>r von Anfang und steht nicht in <strong>de</strong>r Wahrheit; <strong>de</strong>nn die Wahrheit ist nicht in ihm ...<br />

Ich aber, weil ich die Wahrheit sage, so glaubet ihr mir nicht.“ Johannes 8,44.45. <strong>Die</strong> Tatsache,<br />

daß Jesus die Wahrheit mit innerer Überzeugung sagte, war <strong>de</strong>r Grund dafür, daß ihn die<br />

Obersten <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n nicht annahmen. Ausgerechnet die Wahrheit erzürnte diese selbstgerechten<br />

Männer. Sie legte <strong>de</strong>ren Irrtümer und Trugschlüsse bloß und verurteilte ihre Lehren und ihr<br />

Han<strong>de</strong>ln. Deshalb war sie nicht willkommen. Lieber verschlossen die jüdischen Führer die<br />

Augen vor <strong>de</strong>r Wahrheit, als sich zu <strong>de</strong>mütigen und ihren Irrtum einzugestehen. Sie liebten die<br />

Wahrheit nicht und hatten kein Verlangen nach ihr, eben weil es um die Wahrheit ging.<br />

„Welcher unter euch kann mich einer Sün<strong>de</strong> zeihen? Wenn ich aber die Wahrheit sage,<br />

warum glaubet ihr mir nicht?“ Johannes 8,46. Drei Jahre lang waren <strong>Christi</strong> Fein<strong>de</strong> ihm Tag für<br />

Tag nachgefolgt, um an ihm irgen<strong>de</strong>inen Charakterfehler zu ent<strong>de</strong>cken. Satan hatte mit seinem<br />

ganzen bösen Gefolge danach getrachtet, Christus zu überwin<strong>de</strong>n; sie hatten aber nichts an ihm<br />

ent<strong>de</strong>ckt, das ihnen hätte das Gefühl geben können, ihm überlegen zu sein. Sogar die Teufel<br />

mußten eingestehen: „Wir wissen von dir, wer du bist: <strong>de</strong>r Heilige Gottes!“ Markus 1,24<br />

(Albrecht). Angesichts <strong>de</strong>s Himmels, angesichts <strong>de</strong>r nichtgefallenen Welten und angesichts <strong>de</strong>r<br />

sündhaften Menschen lebte Jesus das Gesetz Gottes aus. Vor Engeln, Menschen und Dämonen<br />

hatte er — unangefochten — Worte gesprochen, die auf <strong>de</strong>n Lippen an<strong>de</strong>rer Menschen wie eine<br />

Lästerung gewirkt hätten: „Ich tue allezeit, was ihm gefällt.“ Johannes 8,29. Trotz <strong>de</strong>r<br />

319


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Tatsache, daß sie keine Sün<strong>de</strong> an Christus fin<strong>de</strong>n konnten, wollten ihn die Ju<strong>de</strong>n nicht<br />

annehmen und bestätigten dadurch, daß sie selbst keinerlei Verbindung mit Gott hatten. Sie<br />

erkannten nicht Gottes Stimme in <strong>de</strong>r Botschaft seines Sohnes. Sie maßten sich an, Christus<br />

verurteilen zu können. Doch in<strong>de</strong>m sie ihn verwarfen, verurteilten sie sich selbst. „Wer von<br />

Gott ist, <strong>de</strong>r hört Gottes Worte; darum höret ihr nicht, <strong>de</strong>nn ihr seid nicht von Gott.“ Johannes<br />

8,47.<br />

<strong>Die</strong>se Lehre gilt für alle Zeiten. Manch einer, <strong>de</strong>r seine Freu<strong>de</strong> an Wortklauberei und Kritik<br />

hat o<strong>de</strong>r etwas in Gottes Wort in Frage stellen möchte, meint, dadurch die Unabhängigkeit<br />

seines Denkens und seine Geistesschärfe unter Beweis zu stellen. Er wirft sich zum Richter über<br />

die Bibel auf und verurteilt sich dabei nur selber. Zugleich verrät er dadurch, daß er die<br />

Wahrheit, die ihren Ursprung im Himmel hat und die Ewigkeit umfaßt, nicht zu würdigen weiß.<br />

Angesichts <strong>de</strong>r alles überragen<strong>de</strong>n Gerechtigkeit Gottes empfin<strong>de</strong>t er keine Ehrfurcht, son<strong>de</strong>rn<br />

er beschäftigt sich mit Nebensächlichkeiten und offenbart damit eine kleinliche, irdische<br />

Gesinnung, ein Herz, das sehr bald die Fähigkeit verliert, Gott wahrzunehmen. Wer aber sein<br />

Herz beim Anklopfen Gottes auftut, <strong>de</strong>r trachtet danach, seine Gotteserkenntnis zu vermehren<br />

und das eigene Wesen zu verfeinern und zu bessern. Wie sich eine Blume <strong>de</strong>r Sonne zuwen<strong>de</strong>t,<br />

damit <strong>de</strong>ren helle Strahlen sie treffen und in Schönheit aufleuchten lassen, so wen<strong>de</strong>t sich die<br />

Seele <strong>de</strong>r „Sonne <strong>de</strong>r Gerechtigkeit“ zu, damit das Licht <strong>de</strong>s Himmels die menschliche Natur<br />

vere<strong>de</strong>le mit <strong>de</strong>r Anmut <strong>de</strong>s Charakters Jesu <strong>Christi</strong>. Jesus fuhr fort und hob dabei <strong>de</strong>n krassen<br />

Gegensatz hervor, <strong>de</strong>r zwischen <strong>de</strong>m Verhalten <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>m Verhalten Abrahams<br />

bestand: „Abraham, euer Vater, ward froh, daß er meinen Tag sehen sollte, und er sah ihn und<br />

freute sich.“ Johannes 8,56.<br />

Abraham hatte sehnlichst danach verlangt, <strong>de</strong>n verheißenen Heiland zu schauen. Mit allem<br />

Ernst hatte er darum gebetet, noch vor seinem To<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Messias sehen zu dürfen. Und er sah<br />

Christus. Ihm wur<strong>de</strong> eine übernatürliche Erkenntnis zuteil, und er begriff das göttliche Wesen<br />

Jesu. Er sah das Leben <strong>Christi</strong> vor sich und freute sich; <strong>de</strong>nn er erhielt einen Einblick in das<br />

göttliche Sühnopfer für die Sün<strong>de</strong>. In seiner eigenen Erfahrung gab es eine Erläuterung für<br />

dieses Opfer. Ihm war befohlen wor<strong>de</strong>n: „Nimm Isaak, <strong>de</strong>inen einzigen Sohn, <strong>de</strong>n du liebhast ...<br />

und opfere ihn ... zum Brandopfer.“ 1.Mose 22,2. Auf <strong>de</strong>n Opferaltar legte er <strong>de</strong>n verheißenen<br />

Sohn, ihn, auf <strong>de</strong>n sich alle seine Hoffnungen grün<strong>de</strong>ten. Als er dann neben <strong>de</strong>m Altar mit<br />

erhobenem Messer stand, um Gott zu gehorchen, hörte er eine Stimme vom Himmel zu ihm<br />

sprechen: „Lege <strong>de</strong>ine Hand nicht an <strong>de</strong>n Knaben und tu ihm nichts; <strong>de</strong>nn nun weiß ich, daß du<br />

Gott fürchtest und hast <strong>de</strong>ines einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen.“ 1.Mose<br />

22,12. <strong>Die</strong>se schreckliche Heimsuchung wur<strong>de</strong> Abraham auferlegt, damit er <strong>de</strong>n Tag <strong>Christi</strong><br />

schauen und die große Liebe Gottes zur Welt verstehen könnte, eine Liebe, die so groß war, daß<br />

Gott seinen eingeborenen Sohn in einen außeror<strong>de</strong>ntlich schmachvollen Tod dahingab, um die<br />

Welt vor <strong>de</strong>m Ver<strong>de</strong>rben zu retten.<br />

Abraham lernte von Gott die wichtigste Lektion, die jemals einem Sterblichen zuteil wur<strong>de</strong>.<br />

Sein Gebet, Christus noch bei Lebzeiten schauen zu dürfen, fand Erhörung. Er sah Christus und<br />

all das, was ein Sterblicher sehen kann, ohne <strong>de</strong>swegen sterben zu müssen. Weil er sich völlig<br />

320


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Gott ausgeliefert hatte, konnte er verstehen, was ihm von Christus offenbart wur<strong>de</strong>. Ihm wur<strong>de</strong><br />

gezeigt, daß Gott durch die Dahingabe seines eingeborenen Sohnes zur Errettung <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>r<br />

vom ewigen To<strong>de</strong> ein größeres und bewun<strong>de</strong>rnswerteres Opfer brachte, als es je ein Mensch<br />

erbringen könnte.<br />

Abrahams Erfahrung beantwortete die Frage: „Womit soll ich mich <strong>de</strong>m Herrn nahen, mich<br />

beugen vor <strong>de</strong>m hohen Gott? Soll ich mich ihm mit Brandopfern nahen und mit einjährigen<br />

Kälbern? Wird wohl <strong>de</strong>r Herr Gefallen haben an viel tausend Wid<strong>de</strong>rn, an unzähligen Strömen<br />

von Öl? Soll ich meinen Erstgeborenen für meine Übertretung geben, meines Leibes Frucht für<br />

meine Sün<strong>de</strong>?“ Micha 6,6.7. In Abrahams Worten: „Mein Sohn, Gott wird sich ersehen ein<br />

Schaf zum Brandopfer“ (1.Mose 22,8) und in <strong>de</strong>r Tatsache, daß Gott ein Opfer an Isaaks Statt<br />

beschaffte, wur<strong>de</strong> es <strong>de</strong>utlich, daß niemand für sich selbst Sühne leisten kann. Das heidnische<br />

Opfersystem war für Gott gänzlich unannehmbar. Kein Vater sollte seinen Sohn o<strong>de</strong>r seine<br />

Tochter als Sühnopfer darbringen. Nur <strong>de</strong>r Sohn Gottes kann die Sün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Welt tragen.<br />

Auf Grund seines eigenen Lei<strong>de</strong>s war Abraham in <strong>de</strong>r Lage, das Opfer <strong>Christi</strong> zu begreifen.<br />

Israel aber wollte nicht verstehen, was ihren stolzen Herzen so unwillkommen war. <strong>Christi</strong><br />

Aussage über Abraham beeindruckte seine Zuhörer überhaupt nicht. Den Pharisäern bot sie<br />

lediglich einen weiteren Anlaß zu spitzfindigen Einwän<strong>de</strong>n. Höhnisch antworteten sie ihm, als<br />

wäre er geistesgestört: „Du bist noch nicht fünfzig Jahre alt und hast Abraham<br />

gesehen?“ Johannes 8,57.<br />

Mit feierlichem Ernst antwortete Jesus: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ehe <strong>de</strong>nn<br />

Abraham ward, bin ich.“ Johannes 8,58. Schweigen ergriff die große Versammlung. Den<br />

Namen Gottes, <strong>de</strong>r Mose geoffenbart wor<strong>de</strong>n war, um <strong>de</strong>n Gedanken <strong>de</strong>r ewigen Gegenwart<br />

auszudrücken, hatte dieser Rabbi aus Galiläa als seinen eigenen beansprucht. Er hatte behauptet,<br />

jener eine zu sein, <strong>de</strong>r aus sich selbst existieren kann, jener, <strong>de</strong>r Israel verheißen wor<strong>de</strong>n war<br />

und „<strong>de</strong>ssen Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist“. Micha 5,1. Wie<strong>de</strong>r<br />

beschwerten sich die Priester und Rabbiner über Jesus, <strong>de</strong>n sie einen Lästerer schimpften. Sein<br />

Anspruch, mit Gott eins zu sein, hatte sie schon vorher dazu aufgestachelt, ihm nach <strong>de</strong>m Leben<br />

zu trachten, und einige Monate später sprachen sie es offen aus: „Um eines guten Werkes willen<br />

steinigen wir dich nicht, son<strong>de</strong>rn um <strong>de</strong>r Gotteslästerung willen und weil du als ein Mensch<br />

dich selber zu Gott machst.“ Johannes 10,33. Weil er <strong>de</strong>r Sohn Gottes war und sich auch dazu<br />

bekannte, wollten sie ihn vernichten. Jetzt hoben viele <strong>de</strong>rer, die die Partei <strong>de</strong>r Priester und<br />

Rabbiner ergriffen hatten, Steine auf, um ihn zu steinigen. „Aber Jesus verbarg sich und ging<br />

zum Tempel hinaus.“ Johannes 8,59. Das Licht schien in <strong>de</strong>r Finsternis, „und die Finsternis<br />

hat‘s nicht ergriffen“. Johannes 1,5.<br />

„Und Jesus ging vorüber und sah einen, <strong>de</strong>r blind geboren war. Und seine Jünger fragten ihn<br />

und sprachen: Meister, wer hat gesündigt, dieser o<strong>de</strong>r seine Eltern, daß er ist blind geboren?<br />

Jesus antwortete: Es hat we<strong>de</strong>r dieser gesündigt, noch seine Eltern, son<strong>de</strong>rn es sollen die Werke<br />

Gottes offenbar wer<strong>de</strong>n an ihm ... Da er solches gesagt, spie er auf die Er<strong>de</strong> und machte einen<br />

Brei aus <strong>de</strong>m Speichel und legte <strong>de</strong>n Brei auf <strong>de</strong>s Blin<strong>de</strong>n Augen und sprach zu ihm: Gehe hin<br />

321


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

zu <strong>de</strong>m Teich Siloah, das ist verdolmetscht: gesandt, und wasche dich! Da ging er hin und<br />

wusch sich und kam sehend.“ Johannes 9,1-3.6.7.<br />

<strong>Die</strong> Ju<strong>de</strong>n glaubten ganz allgemein, daß die Sün<strong>de</strong> bereits in diesem Leben bestraft wür<strong>de</strong>. In<br />

je<strong>de</strong>r Heimsuchung erblickten sie die Strafe für eine Übeltat, die <strong>de</strong>r Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r seine Eltern<br />

begangen hatten. Gewiß, alles Lei<strong>de</strong>n stammt aus <strong>de</strong>r Übertretung <strong>de</strong>s göttlichen Gesetzes.<br />

<strong>Die</strong>se Wahrheit war jedoch verfälscht wor<strong>de</strong>n. Satan, <strong>de</strong>r Urheber <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> mit all ihren<br />

Folgen, hatte die Menschen dazu gebracht, Krankheit und Tod als Maßnahmen Gottes zu sehen,<br />

als Strafe, die willkürlich wegen <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> verhängt wur<strong>de</strong>. Von daher kam es, daß jemand, <strong>de</strong>r<br />

Kummer hatte o<strong>de</strong>r im Unglück steckte, noch unter <strong>de</strong>r zusätzlichen Belastung stand, als großer<br />

Sün<strong>de</strong>r zu gelten.<br />

So wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Weg für die Verwerfung Jesu durch die Ju<strong>de</strong>n vorbereitet: „Er trug unsre<br />

Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen.“ Doch gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>shalb hielten ihn die Ju<strong>de</strong>n „für<br />

<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre“, und sie verbargen ihr Angesicht<br />

vor ihm. Jesaja 53,4.3. Gott hatte zwar eine Lehre erteilt, die gera<strong>de</strong> das verhin<strong>de</strong>rn sollte.<br />

Hiobs Leben zeigte, daß Satan Lei<strong>de</strong>n verhängt, die Gott aus Gna<strong>de</strong>n außer Kraft setzt. Israel<br />

verstand jedoch die Lektion nicht. Den gleichen Irrtum, <strong>de</strong>n Gott bei <strong>de</strong>n Freun<strong>de</strong>n Hiobs schon<br />

geta<strong>de</strong>lt hatte, wie<strong>de</strong>rholten nun die Ju<strong>de</strong>n, als sie Christus verwarfen. Auch die Jünger teilten<br />

<strong>de</strong>n Glauben <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n über die Beziehung von Sün<strong>de</strong> und Lei<strong>de</strong>n. Als Jesus ihren Irrtum<br />

berichtigte, sagte er ihnen jedoch nichts über die Ursache <strong>de</strong>r Heimsuchung <strong>de</strong>s Mannes,<br />

son<strong>de</strong>rn verwies sie auf das Ergebnis: Es sollten „die Werke Gottes offenbar wer<strong>de</strong>n“. Johannes<br />

9,3. Jesus stellte fest: „<strong>Die</strong>weil ich bin in <strong>de</strong>r Welt, bin ich das Licht <strong>de</strong>r Welt.“ Johannes 9,5.<br />

Als er dann die Augen <strong>de</strong>s Blin<strong>de</strong>n mit einem Brei belegt hatte, schickte er ihn zum Teich<br />

Siloah, um sich dort zu waschen. Danach konnte <strong>de</strong>r Blin<strong>de</strong> wie<strong>de</strong>r sehen. Durch dieses<br />

Geschehen beantwortete Jesus die Frage seiner Jünger, wie er es im allgemeinen tat, wenn ihm<br />

Fragen aus purer Neugier vorgelegt wur<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> Jünger sollten sich nicht über das Problem<br />

streiten, wer gesündigt o<strong>de</strong>r nicht gesündigt hatte, sie sollten vielmehr die Allmacht und Gna<strong>de</strong><br />

Gottes begreifen, die <strong>de</strong>m Blin<strong>de</strong>n das Augenlicht wie<strong>de</strong>rgab. Es lag klar auf <strong>de</strong>r Hand, daß<br />

we<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Lehmbrei noch <strong>de</strong>r Teich, in <strong>de</strong>m sich <strong>de</strong>r Blin<strong>de</strong> gewaschen hatte, Heilkräfte<br />

besaßen, son<strong>de</strong>rn allein Christus.<br />

<strong>Die</strong> Pharisäer konnten nicht umhin, sich über diese Heilung zu wun<strong>de</strong>rn. Doch mehr als<br />

zuvor waren sie von Haß erfüllt; <strong>de</strong>nn das Wun<strong>de</strong>r war an einem Sabbat geschehen. <strong>Die</strong><br />

Nachbarn <strong>de</strong>s jungen Mannes und alle, die ihn als Blin<strong>de</strong>n gekannt hatten, sagten nun: „Ist<br />

dieser nicht, <strong>de</strong>r dasaß und bettelte?“ Johannes 9,8. Zweifelnd schauten sie ihn an; <strong>de</strong>nn<br />

nach<strong>de</strong>m seine Augen geöffnet waren, sah sein Gesicht ganz an<strong>de</strong>rs aus als vorher: es strahlte,<br />

und er schien ein an<strong>de</strong>rer Mensch zu sein. <strong>Die</strong> Frage ging reihum. Einige meinten: „Er ist‘s“,<br />

an<strong>de</strong>re wie<strong>de</strong>r: „Nein, aber er ist ihm ähnlich.“ Er selbst aber, <strong>de</strong>m dieser große Segen zuteil<br />

gewor<strong>de</strong>n war, löste das Problem mit <strong>de</strong>m Bekenntnis: „Ich bin‘s.“ Johannes 9,9. Er erzählte<br />

ihnen dann von Jesus und wie dieser ihn geheilt hatte. Darauf fragten sie: „Wo ist er? Er sprach:<br />

Ich weiß nicht.“ Johannes 9,12.<br />

322


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Dann führten sie ihn vor einen Ausschuß <strong>de</strong>r Pharisäer. Wie<strong>de</strong>r wur<strong>de</strong> er ausgefragt, auf<br />

welche Weise er seine Sehkraft wie<strong>de</strong>rerlangt habe. Er erwi<strong>de</strong>rte: „Einen Brei legte er mir auf<br />

die Augen, und ich wusch mich und bin nun sehend.“ Da behaupteten einige Pharisäer. „<strong>Die</strong>ser<br />

Mensch ist nicht von Gott, weil er <strong>de</strong>n Sabbat nicht hält.“ Johannes 9,15.16. <strong>Die</strong> Pharisäer<br />

hofften, Jesus zu einem Sün<strong>de</strong>r stempeln zu können, <strong>de</strong>nn dann wäre er bestimmt nicht <strong>de</strong>r<br />

Messias. Sie ahnten nicht, daß er, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Blin<strong>de</strong>n geheilt hatte, <strong>de</strong>r Stifter <strong>de</strong>s Sabbats war und<br />

<strong>de</strong>ssen Ansprüche genau kannte. Sie selbst legten einen bemerkenswerten Eifer für die<br />

Heiligung <strong>de</strong>s Sabbats an <strong>de</strong>n Tag und planten ausgerechnet an diesem Tag einen Mord. Viele<br />

an<strong>de</strong>re aber waren zutiefst bewegt, als sie von <strong>de</strong>m Heilungswun<strong>de</strong>r erfuhren, und sie waren<br />

überzeugt, daß <strong>de</strong>r Mann, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Blin<strong>de</strong>n das Augenlicht geschenkt hatte, mehr war als ein<br />

sterblicher Mensch. Ihre Antwort auf <strong>de</strong>n Vorwurf, daß Jesus ein Sün<strong>de</strong>r sei, weil er <strong>de</strong>n Sabbat<br />

nicht hielte, lautete: „Wie kann ein sündiger Mensch solche Zeichen tun?“ Johannes 9,15.16.<br />

Wie<strong>de</strong>r wandten sich die Rabbiner an <strong>de</strong>n Blin<strong>de</strong>n: „Was sagst du von ihm, daß er hat <strong>de</strong>ine<br />

Augen aufgetan? Er aber sprach: Er ist ein Prophet.“ Johannes 9,17. <strong>Die</strong> Pharisäer behaupteten<br />

daraufhin, <strong>de</strong>r Geheilte sei gar nicht blind geboren wor<strong>de</strong>n und habe daher auch nicht sein<br />

Augenlicht wie<strong>de</strong>rerhalten können. Sie holten seine Eltern herbei und fragten: „Ist das euer<br />

Sohn, von welchem ihr sagt, er sei blind geboren?“ Johannes 9,19. Da hatte nun <strong>de</strong>r Mann<br />

selber erklärt, daß er blind gewesen und sehend gewor<strong>de</strong>n sei; doch die Pharisäer wollten lieber<br />

ihre eigenen Sinne Lügen strafen, statt ihren Irrtum einzugestehen. So mächtig ist ein Vorurteil,<br />

so entstellt ist pharisäische Gerechtigkeit.<br />

Den Pharisäern war noch die eine Hoffnung geblieben, die Eltern jenes Mannes<br />

einzuschüchtern. Scheinbar aufrichtig fragten sie: „Wie ist er <strong>de</strong>nn nun sehend?“ Johannes 9,19.<br />

<strong>Die</strong> Eltern fürchteten, sich zu gefähr<strong>de</strong>n; <strong>de</strong>nn es war erklärt wor<strong>de</strong>n, daß je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r Jesus „als<br />

<strong>de</strong>n Christus bekannte, <strong>de</strong>r sollte in <strong>de</strong>n Bann getan wer<strong>de</strong>n“. Johannes 9,22. Er sollte für<br />

dreißig Tage aus <strong>de</strong>r Synagogengemeinschaft ausgeschlossen sein. Während dieser Zeit durfte<br />

im Heim <strong>de</strong>s Missetäters kein Kind beschnitten und kein Toter beklagt wer<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong>ser<br />

Urteilsspruch galt als großes Unglück. Auf ihn folgte, wenn er nicht zur Reue führte, eine weit<br />

schwerere Strafe. <strong>Die</strong> große Segenstat, die ihrem Sohn wi<strong>de</strong>rfahren war, hatte die Eltern zwar<br />

überzeugt, <strong>de</strong>nnoch antworteten sie: „Wir wissen, daß dieser unser Sohn ist und daß er blind<br />

geboren ist. Wie er aber nun sehend ist, wissen wir nicht; o<strong>de</strong>r wer ihm hat seine Augen<br />

aufgetan, wissen wir auch nicht. Er ist alt genug, fragt ihn, laßt ihn selbst für sich<br />

re<strong>de</strong>n.“ Johannes 9,20.21. Auf diese Weise entledigten sie sich <strong>de</strong>r Verantwortung und schoben<br />

sie ihrem Sohn zu; <strong>de</strong>nn sie wagten es nicht, sich zu Christus zu bekennen.<br />

Das Dilemma, in <strong>de</strong>m sich die Pharisäer befan<strong>de</strong>n, ihre Fragen und Vorurteile sowie ihr<br />

Unglaube gegenüber <strong>de</strong>n Tatsachen öffneten <strong>de</strong>r Masse und beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>n einfachen Leuten die<br />

Augen. Jesus hatte seine Wun<strong>de</strong>r häufig auf offener Straße gewirkt und dabei stets Lei<strong>de</strong>n<br />

gelin<strong>de</strong>rt. <strong>Die</strong> Frage vieler lautete: Wür<strong>de</strong> Gott so mächtige Taten durch einen Betrüger<br />

vollbringen, als <strong>de</strong>n die Pharisäer Jesus bezeichneten? Der Streit nahm auf bei<strong>de</strong>n Seiten an<br />

Heftigkeit zu. <strong>Die</strong> Pharisäer merkten, daß sie Jesu Wirken <strong>de</strong>r Öffentlichkeit bekanntmachten.<br />

Sie konnten das Wun<strong>de</strong>r ja nicht einfach leugnen. Der Blin<strong>de</strong> war voller Freu<strong>de</strong> und<br />

323


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Dankbarkeit. Er bestaunte die wun<strong>de</strong>rbaren Dinge in <strong>de</strong>r Natur und war über die Schönheit<br />

<strong>de</strong>s Himmels und <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> entzückt. Freimütig erzählte er von seinem Erlebnis und wie<strong>de</strong>r<br />

versuchten sie, ihn zum Schweigen zu bringen mit <strong>de</strong>n Worten: „Gib Gott die Ehre! Wir wissen,<br />

daß dieser Mensch ein Sün<strong>de</strong>r ist.“ Johannes 9,24. Das sollte heißen: Behaupte nicht noch<br />

einmal, daß dich dieser Mann sehend machte. Das war Gottes Werk!<br />

Der Blin<strong>de</strong> antwortete: „Ist er ein Sün<strong>de</strong>r? Das weiß ich nicht; eines aber weiß ich wohl: daß<br />

ich blind war und bin nun sehend.“ Johannes 9,25. Darauf fragten sie ihn erneut: „Was tat er<br />

dir? Wie tat er <strong>de</strong>ine Augen auf?“ Johannes 9,26. Mit vielen Worten versuchten sie ihn zu<br />

verwirren, so daß er selbst <strong>de</strong>nken sollte, getäuscht wor<strong>de</strong>n zu sein. Der Teufel und seine bösen<br />

Engel stan<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Pharisäern zur Seite. Sie vereinten ihre Kraft und Schläue mit <strong>de</strong>r Vernunft<br />

<strong>de</strong>r Menschen, um <strong>de</strong>m Einfluß <strong>Christi</strong> entgegenzuwirken. So schwächten sie die zustimmen<strong>de</strong><br />

Meinung, die viele bereits gewonnen hatten. Aber auch die Engel Gottes waren auf <strong>de</strong>m Plane,<br />

um <strong>de</strong>n Mann zu stärken, <strong>de</strong>ssen Augenlicht wie<strong>de</strong>rhergestellt wor<strong>de</strong>n war.<br />

<strong>Die</strong> Pharisäer waren sich nicht darüber im klaren, daß sie es noch mit jemand an<strong>de</strong>rem zu tun<br />

hatten als nur mit <strong>de</strong>m ungebil<strong>de</strong>ten Blindgeborenen. Sie kannten <strong>de</strong>n nicht, mit <strong>de</strong>m sie sich in<br />

einen Streit eingelassen hatten; <strong>de</strong>nn göttliches Licht erleuchtete die Seele <strong>de</strong>s Blindgeborenen.<br />

Als diese Heuchler ihn zum Unglauben verführen wollten, half ihm Gott, ihnen durch die Kraft<br />

und <strong>de</strong>n Scharfsinn seiner Antwort zu zeigen, daß man ihn nicht einfach umgarnen konnte: „Ich<br />

habe es euch schon gesagt, und ihr habt‘s nicht gehört! Was wollt ihr‘s abermals hören? Wollt<br />

ihr auch seine Jünger wer<strong>de</strong>n? Da schmähten sie ihn und sprachen: Du bist sein Jünger; wir aber<br />

sind <strong>de</strong>s Mose Jünger. Wir wissen, daß Gott mit Mose gere<strong>de</strong>t hat; woher aber dieser ist, wissen<br />

wir nicht.“ Johannes 9,27-29.<br />

Der Herr Jesus kannte die Prüfung, durch die dieser Mann gehen mußte. Deshalb verlieh er<br />

ihm Gna<strong>de</strong> und Ausdruckskraft, ein Zeuge für Christus sein zu können. Daher antwortete <strong>de</strong>r<br />

Blindgeborene <strong>de</strong>n Pharisäern mit Worten, die eine schnei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Zurückweisung <strong>de</strong>r<br />

Fragesteller waren. Sie erhoben <strong>de</strong>n Anspruch, Ausleger <strong>de</strong>r heiligen Schriften und religiöse<br />

Führer ihres Volkes zu sein. Jetzt aber war jemand da, <strong>de</strong>r Wun<strong>de</strong>r wirkte, und sie mußten<br />

zugeben, daß sie die Kraftquelle, aus <strong>de</strong>r er schöpfte, seinen Charakter und seinen<br />

Anspruch nicht kannten. Der Blindgeborene antwortete: „Das ist ein wun<strong>de</strong>rlich Ding, daß ihr<br />

nicht wisset, woher er ist, und er hat meine Augen aufgetan. Wir wissen, daß Gott die Sün<strong>de</strong>r<br />

nicht hört; son<strong>de</strong>rn wenn jemand gottesfürchtig ist und tut seinen Willen, <strong>de</strong>n hört er. Vom<br />

Anbeginn <strong>de</strong>r Welt hat man nicht gehört, daß jemand einem Blindgeborenen die Augen<br />

aufgetan habe. Wäre dieser nicht von Gott, er könnte nichts tun.“ Johannes 9,30-33.<br />

Der Mann hatte seine Inquisitoren auf ihrem eigenen Fel<strong>de</strong> geschlagen, und sie kamen gegen<br />

seine Beweismittel nicht auf. <strong>Die</strong> Pharisäer wun<strong>de</strong>rten sich und schwiegen, gebannt von <strong>de</strong>n<br />

scharfsinnigen und entschlossenen Worten. Einige Augenblicke herrschte Ruhe. Dann aber<br />

rafften die finster dreinschauen<strong>de</strong>n Priester und Rabbiner ihre Gewän<strong>de</strong>r zusammen, als<br />

könnten sie sich durch eine Berührung mit ihm anstecken, schüttelten <strong>de</strong>n Staub von ihren<br />

Füßen und schleu<strong>de</strong>rten ihm die Anklage entgegen: „Du bist ganz in Sün<strong>de</strong>n geboren und lehrst<br />

uns?“ Und sie stießen ihn hinaus. Johannes 9,34.<br />

324


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Jesus erfuhr, wie jenem Manne mitgespielt wor<strong>de</strong>n war, und er sagte zu ihm, als er bald<br />

darauf mit ihm zusammentraf: „Glaubst du an <strong>de</strong>s Menschen Sohn?“ Johannes 9,35. Zum<br />

erstenmal blickte <strong>de</strong>r Geheilte in das Gesicht seines Heilan<strong>de</strong>s. Vor <strong>de</strong>m Ausschuß hatte er<br />

seine bekümmerten und verwirrten Eltern gesehen und in die finsteren Gesichter <strong>de</strong>r Rabbiner<br />

geschaut; jetzt aber ruhte sein Blick auf <strong>de</strong>m gütigen und friedvollen Gesicht Jesu. Er hatte ihn<br />

bereits, sehr zu seinem Nachteil, als einen Vertreter <strong>de</strong>r Macht Gottes anerkannt, jetzt aber<br />

wur<strong>de</strong> ihm eine noch höhere Offenbarung zuteil. Als ihn <strong>de</strong>r Heiland fragte: „Glaubst du an <strong>de</strong>s<br />

Menschen Sohn?“ antwortete <strong>de</strong>r Blindgeborne mit <strong>de</strong>r Gegenfrage: „Herr, wer ist‘s? auf daß<br />

ich an ihn glaube.“ Jesus antwortete darauf: „Du hast ihn gesehen, und <strong>de</strong>r mit dir re<strong>de</strong>t, <strong>de</strong>r<br />

ist‘s.“ Johannes 9,36.37. Da warf sich <strong>de</strong>r Mann <strong>de</strong>m Heiland zu Füßen und betete ihn an. Nicht<br />

nur hatte er seine natürliche Sehkraft erlangt, auch sein geistliches Verständnis hatte sich<br />

entfaltet. Christus war seinem Herzen offenbart wor<strong>de</strong>n, und er nahm ihn als <strong>de</strong>n von Gott<br />

Gesandten an.<br />

Eine Gruppe Pharisäer hatte sich in <strong>de</strong>r Nähe versammelt. Als Jesus sie sah, kam ihm die<br />

gegensätzliche Wirkung, die seine Worte und Werke hervorriefen, zum Bewußtsein. Er sagte<br />

ihnen: „Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen, auf daß, die da nicht sehen, sehend<br />

wer<strong>de</strong>n, und die da sehen, blind wer<strong>de</strong>n.“ Johannes 9,39. Christus war erschienen, um die<br />

Augen <strong>de</strong>r Blin<strong>de</strong>n aufzutun und <strong>de</strong>nen Licht zu schenken, die in <strong>de</strong>r Finsternis weilten. Er hatte<br />

sich selbst als das Licht <strong>de</strong>r Welt bezeichnet, und das Wun<strong>de</strong>r, das er soeben gewirkt hatte,<br />

bestätigte seine Sendung. Das Volk, das <strong>de</strong>n Heiland bei seiner Ankunft gesehen hatte, empfing<br />

eine vollkommenere Offenbarung <strong>de</strong>r Gegenwart Gottes, als sie <strong>de</strong>r Welt je zuvor zuteil<br />

gewor<strong>de</strong>n war. <strong>Die</strong> Erkenntnis Gottes wur<strong>de</strong> umfassen<strong>de</strong>r. Doch gera<strong>de</strong> mit dieser Offenbarung<br />

kam das Gericht über die Menschen. Ihr Wesen wur<strong>de</strong> geprüft und ihr Schicksal entschie<strong>de</strong>n.<br />

<strong>Die</strong> Offenbarung <strong>de</strong>r göttlichen Macht, die <strong>de</strong>m Blin<strong>de</strong>n das natürliche und das geistliche<br />

Augenlicht geschenkt hatte, ließ die Pharisäer in noch tieferer Finsternis zurück. Einige seiner<br />

Zuhörer, die spürten, daß sich Jesu Worte auf sie bezogen, fragten ihn: „Sind wir <strong>de</strong>nn auch<br />

blind?“ Jesus antwortete ihnen: „Wäret ihr blind, so hättet ihr keine Sün<strong>de</strong>.“ Johannes 9,40.41.<br />

Mit an<strong>de</strong>ren Worten: Hätte Gott es euch unmöglich gemacht, die Wahrheit zu erkennen, dann<br />

hättet ihr keine Schuld. Nun aber sprecht ihr: „Wir sind sehend.“ Ihr glaubt, selber sehen zu<br />

können, und weist das einzige Mittel zurück, durch das ihr Licht erhalten könntet. Allen, die<br />

sich ihrer Not bewußt wur<strong>de</strong>n, brachte Christus unbegrenzte Hilfe. <strong>Die</strong> Pharisäer wollten ihre<br />

Not jedoch nicht eingestehen. Sie weigerten sich, zu Christus zu kommen, und blieben <strong>de</strong>shalb<br />

blind. An dieser Blindheit waren sie selbst schuld. Jesus sagte <strong>de</strong>shalb zu ihnen: Eure Sün<strong>de</strong><br />

bleibt! Johannes 9,41.<br />

325


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 52: Der gute Hirte<br />

„Ich bin <strong>de</strong>r gute Hirte. Der gute Hirte läßt sein Leben für die Schafe ... Ich bin <strong>de</strong>r gute<br />

Hirte und kenne die Meinen und bin bekannt <strong>de</strong>n Meinen, wie mich mein Vater kennt und ich<br />

kenne <strong>de</strong>n Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe.“ Johannes 10,11.14.15.<br />

Wie<strong>de</strong>r benutzte Jesus Bil<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m täglichen Leben und aus <strong>de</strong>r Natur, um sich seinen<br />

Zuhörern verständlich zu machen. Er hatte <strong>de</strong>n Einfluß <strong>de</strong>s Geistes Gottes mit <strong>de</strong>m kühlen,<br />

erfrischen<strong>de</strong>n Wasser verglichen und sich selbst als das Licht, als die Quelle <strong>de</strong>s Lebens und <strong>de</strong>r<br />

Freu<strong>de</strong> bezeichnet. Jetzt benutzte er das Bild von <strong>de</strong>m guten Hirten, um sein Verhältnis zu<br />

<strong>de</strong>nen darzustellen, die an ihn glauben. Kein Bild konnte seinen Zuhörern vertrauter und<br />

verständlicher sein. <strong>Die</strong>ser Vergleich erinnerte später überall, wo das trauliche Bild eines Hirten<br />

mit seiner Her<strong>de</strong> auftauchte, an ihn als <strong>de</strong>n guten Hirten. <strong>Die</strong> Jünger wür<strong>de</strong>n in je<strong>de</strong>m treuen<br />

Hirten, <strong>de</strong>r ihnen begegnete, ihren Herrn sehen und in je<strong>de</strong>r hilflosen und abhängigen Her<strong>de</strong><br />

sich selbst erkennen.<br />

Schon <strong>de</strong>r Prophet Jesaja hatte dieses Bild auf <strong>de</strong>n Messias angewandt. Er schrieb die<br />

tröstlichen Worte: „Zion, du Freu<strong>de</strong>nbotin, steig auf einen hohen Berg; Jerusalem, du<br />

Freu<strong>de</strong>nbotin, erhebe <strong>de</strong>ine Stimme mit Macht; erhebe sie und fürchte dich nicht! Sage <strong>de</strong>n<br />

Städten Judas: Siehe, da ist euer Gott!... Er wird seine Her<strong>de</strong> wei<strong>de</strong>n wie ein Hirte. Er wird die<br />

Lämmer in seinen Arm sammeln und im Bausch seines Gewan<strong>de</strong>s tragen.“ Jesaja 40,9-11. Der<br />

Psalmist hatte gesungen: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“ Psalm 23,1. Und<br />

<strong>de</strong>r Heilige Geist hatte durch Hesekiel erklärt: „Ich will ihnen einen einzigen Hirten erwecken,<br />

<strong>de</strong>r sie wei<strong>de</strong>n soll.“ Hesekiel 34,23. — „Ich will das Verlorene wie<strong>de</strong>r suchen und das Verirrte<br />

zurückbringen und das Verwun<strong>de</strong>te verbin<strong>de</strong>n und das Schwache stärken.“ Hesekiel 34,16. —<br />

„Ich will einen Bund <strong>de</strong>s Frie<strong>de</strong>ns mit ihnen schließen und alle bösen Tiere aus <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong><br />

ausrotten.“ Hesekiel 34,25. — „Und sie sollen nicht mehr <strong>de</strong>n Völkern zum Raub wer<strong>de</strong>n, ...<br />

son<strong>de</strong>rn sie sollen sicher wohnen, und niemand soll sie schrecken ... Ja, ihr sollt meine Her<strong>de</strong><br />

sein.“ Hesekiel 34,28.31.<br />

Christus wandte diese Weissagungen auf sich an und zeigte dadurch <strong>de</strong>n Gegensatz zwischen<br />

seinem Charakter und <strong>de</strong>m Charakter <strong>de</strong>r führen<strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> Pharisäer hatten gera<strong>de</strong> ein<br />

„Schaf“ aus <strong>de</strong>r Hür<strong>de</strong> getrieben, weil es gewagt hatte, von <strong>de</strong>r Macht Jesu zu zeugen; eine<br />

Seele war von ihnen ausgestoßen wor<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>r Gute Hirte zu sich gezogen hatte. Sie gaben<br />

dadurch zu erkennen, wie wenig sie von <strong>de</strong>m ihnen anvertrauten Werk wußten und wie<br />

unwürdig sie <strong>de</strong>s Vertrauens als Hirten <strong>de</strong>r Her<strong>de</strong> waren. Jesus zeigte <strong>de</strong>n Gegensatz zwischen<br />

ihnen und <strong>de</strong>m Guten Hirten und be<strong>de</strong>utete ihnen, daß er selbst <strong>de</strong>r wirkliche Hirte <strong>de</strong>r Her<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>s Herrn sei. Doch zuvor sprach er von sich selbst unter einem an<strong>de</strong>ren Bild.<br />

Er sagte: „Wer nicht zur Tür hineingeht in <strong>de</strong>n Schafstall, son<strong>de</strong>rn steigt an<strong>de</strong>rswo hinein,<br />

<strong>de</strong>r ist ein <strong>Die</strong>b und Räuber. Der aber zur Tür hineingeht, <strong>de</strong>r ist <strong>de</strong>r Hirte <strong>de</strong>r<br />

Schafe.“ Johannes 10,1.2. <strong>Die</strong> Pharisäer erkannten nicht, daß sich diese Worte gegen sie<br />

richteten. Als sie noch darüber nachdachten, fügte Jesus hinzu: „Ich bin die Tür; wenn jemand<br />

durch mich eingeht, <strong>de</strong>r wird gerettet wer<strong>de</strong>n und wird ein- und ausgehen und Wei<strong>de</strong> fin<strong>de</strong>n.<br />

326


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Ein <strong>Die</strong>b kommt nur, daß er stehle, würge und umbringe. Ich bin gekommen, daß sie das Leben<br />

und volle Genüge haben sollen.“ Johannes 10,9.10.<br />

Christus ist die Tür zum Schafstall Gottes. Durch diese Tür haben von jeher seine Kin<strong>de</strong>r<br />

Eingang gefun<strong>de</strong>n. In Jesus — so wie alle Vorbil<strong>de</strong>r ihn zeigten, wie alle Sinnbil<strong>de</strong>r ihn<br />

veranschaulichten, wie die Offenbarungen <strong>de</strong>r Propheten ihn darstellten, wie die <strong>de</strong>n Jüngern<br />

gegebenen Anweisungen sein Wesen enthüllten — sahen sie „Gottes Lamm, welches <strong>de</strong>r Welt<br />

Sün<strong>de</strong> trägt“ (Johannes 1,29); durch ihn sind sie in die Hür<strong>de</strong> seiner Gna<strong>de</strong> eingegangen. Viele<br />

haben versucht, <strong>de</strong>n Glauben <strong>de</strong>r Welt auf etwas an<strong>de</strong>res zu grün<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> verschie<strong>de</strong>nsten<br />

Anschauungen und Lehrsysteme wur<strong>de</strong>n ersonnen, um <strong>de</strong>n Menschen Rechtfertigung und<br />

Frie<strong>de</strong>n mit Gott zu vermitteln und sie auf ihre Weise zur Her<strong>de</strong> Gottes zu bringen. Doch <strong>de</strong>r<br />

einzige Weg in <strong>de</strong>n „Schafstall Gottes“ führt über Christus, und alle, die etwas an<strong>de</strong>res an seine<br />

Stelle gesetzt haben, alle, die versucht haben, auf an<strong>de</strong>re Weise in das Reich Gottes zu<br />

gelangen, sind nach <strong>de</strong>n Worten <strong>de</strong>s Evangeliums „<strong>Die</strong>be und Räuber“.<br />

<strong>Die</strong> Pharisäer waren nicht durch diese Tür hineingegangen; sie waren auf an<strong>de</strong>re Art als<br />

Christus in die Hür<strong>de</strong> eingedrungen und erfüllten nicht die Aufgabe eines guten Hirten. <strong>Die</strong><br />

Priester und Obersten, die Schriftgelehrten und Pharisäer verdarben die frischen, gesun<strong>de</strong>n<br />

Wei<strong>de</strong>n und trübten die Quelle <strong>de</strong>s Lebenswassers. <strong>Die</strong> Heilige Schrift kennzeichnet genau das<br />

Han<strong>de</strong>ln dieser falschen Hirten: „Das Schwache stärkt ihr nicht, und das Kranke heilt ihr nicht,<br />

das Verwun<strong>de</strong>te verbin<strong>de</strong>t ihr nicht, das Verirrte holt ihr nicht zurück und das Verlorene sucht<br />

ihr nicht; das Starke aber tretet ihr nie<strong>de</strong>r mit Gewalt.“ Hesekiel 34,4.<br />

Zu allen Zeiten versuchten Philosophen und kluge Männer durch Menschenweisheit die<br />

seelischen Bedürfnisse zu befriedigen. <strong>Die</strong> heidnischen Völker hatten alle ihre großen Lehrer<br />

und Religionen, die an<strong>de</strong>re Wege zur Erlösung anboten als Christus, in<strong>de</strong>m sie die Menschen<br />

immer weiter von ihrem Schöpfer trennten und ihre Herzen mit Furcht vor <strong>de</strong>m erfüllten, <strong>de</strong>r<br />

ihnen nur Gutes erwiesen hatte. Ihr Bestreben ging dahin, Gott <strong>de</strong>ssen zu berauben, was ihm<br />

nicht nur durch die Schöpfung, son<strong>de</strong>rn mehr noch durch die Erlösung gehört. Solche falschen<br />

Lehrer schädigen die Menschen maßlos. Millionen unglücklicher Menschen sind durch irrige<br />

religiöse Vorstellungen gebun<strong>de</strong>n und in sklavischer Furcht geknechtet; sie leben in dumpfer<br />

Gleichgültigkeit dahin, schuften wie Lasttiere, bar aller Hoffnung, Freu<strong>de</strong> und Sehnsucht, nur<br />

mit einem Gefühl dumpfer Angst vor <strong>de</strong>r Zukunft im Herzen. Allein das Evangelium von <strong>de</strong>r<br />

Gna<strong>de</strong> Gottes kann die Seele erheben und a<strong>de</strong>ln. Das Nach<strong>de</strong>nken über die Liebe Gottes, die<br />

sich in seinem Sohn offenbart, erwärmt das Herz und erweckt die Kräfte <strong>de</strong>r Seele, wie sonst<br />

nichts auf <strong>de</strong>r Welt. <strong>Christi</strong> Aufgabe war es, das Ebenbild Gottes im Menschen<br />

wie<strong>de</strong>rherzustellen. Wer jedoch Seelen von Christus abspenstig macht, verschließt ihnen die<br />

Quelle echter Entfaltung und betrügt sie um die Hoffnung, um das Ziel und die Herrlichkeit <strong>de</strong>s<br />

Lebens. Er ist ein „<strong>Die</strong>b und Räuber“.<br />

„Der aber zur Tür hineingeht, <strong>de</strong>r ist <strong>de</strong>r Hirte <strong>de</strong>r Schafe.“ Johannes 10,1.2. Christus ist Tür<br />

und Hirte zugleich. Er tritt bei sich selbst ein und wird durch sein eigenes Opfer <strong>de</strong>r Hirte <strong>de</strong>r<br />

Schafe. „Dem tut <strong>de</strong>r Türhüter auf, und die Schafe hören seine Stimme, und er ruft seine Schafe<br />

mit Namen und führt sie aus. Und wenn er alle die Seinen hat hinausgelassen, geht er vor ihnen<br />

327


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

hin, und die Schafe folgen ihm nach; <strong>de</strong>nn sie kennen seine Stimme.“ Johannes 10,3.4. Von<br />

allen Geschöpfen ist das Schaf eines <strong>de</strong>r furchtsamsten und hilflosesten; im Orient sorgt <strong>de</strong>r<br />

Hirte unermüdlich für seine Her<strong>de</strong>. In <strong>de</strong>r damaligen Zeit waren die Her<strong>de</strong>n außerhalb <strong>de</strong>r<br />

Stadtmauer beson<strong>de</strong>rs gefähr<strong>de</strong>t, da Räuber von <strong>de</strong>n umherziehen<strong>de</strong>n Stämmen o<strong>de</strong>r Raubtiere,<br />

die an unzugänglichen Plätzen in <strong>de</strong>n Bergen lebten, darauf lauerten, in die Her<strong>de</strong> einzubrechen.<br />

Der Hirte wachte über die seiner Obhut anvertrauten Schafe, und er wußte, daß es unter Einsatz<br />

seines Lebens geschah. Jakob, <strong>de</strong>r einst die Her<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Laban auf <strong>de</strong>n Wei<strong>de</strong>n bei Haran hütete,<br />

beschrieb diesen mühevollen Beruf: „Des Tages kam ich um vor Hitze und <strong>de</strong>s Nachts vor<br />

Frost, und kein Schlaf kam in meine Augen.“ 1.Mose 31,40. Und als <strong>de</strong>r junge David seines<br />

Vaters Schafe wei<strong>de</strong>te, kämpfte er allein mit Löwen und Bären und rettete manches Lamm aus<br />

ihren Zähnen.<br />

Das Leben <strong>de</strong>s guten Hirten, <strong>de</strong>r seine Her<strong>de</strong> durchs Gebirge und durch Wäl<strong>de</strong>r und wil<strong>de</strong><br />

Schluchten zu <strong>de</strong>n geschützten Wei<strong>de</strong>plätzen an <strong>de</strong>n Ufern <strong>de</strong>r Flüsse führt, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Bergen<br />

einsam die Nacht durchwacht, <strong>de</strong>r auf Räuber achthat und für die verletzten und schwachen<br />

Schafe sorgt, verwächst immer mehr mit <strong>de</strong>m seiner Schafe, so daß er sich mit seinen<br />

Schutzbefohlenen innig verbun<strong>de</strong>n fühlt. Er kennt je<strong>de</strong>s Tier seiner Her<strong>de</strong>, mag sie noch so groß<br />

sein. Er kennt je<strong>de</strong>s Schaf mit seinem Namen, und die Tiere kennen seine Stimme und hören<br />

darauf, wenn sie gerufen wer<strong>de</strong>n.<br />

So kennt auch <strong>de</strong>r göttliche Hirte die „Schafe“ seiner Her<strong>de</strong>, die auf <strong>de</strong>r ganzen Welt<br />

verstreut leben. „Ihr sollt meine Her<strong>de</strong> sein, die Her<strong>de</strong> meiner Wei<strong>de</strong>, und ich will euer Gott<br />

sein, spricht Gott <strong>de</strong>r Herr.“ Hesekiel 34,31. Jesus sagt: „Ich habe dich bei <strong>de</strong>inem Namen<br />

gerufen; du bist mein!“ Jesaja 43,1. „Siehe, in die Hän<strong>de</strong> habe ich dich gezeichnet.“ Jesaja<br />

49,16. Der Heiland kennt uns persönlich und hat Mitleid mit unserer Schwachheit. Er kennt uns<br />

alle mit Namen. Er kennt das Haus, in <strong>de</strong>m wir wohnen, je<strong>de</strong>n Bewohner. Von Zeit zu Zeit gab<br />

er seinen <strong>Die</strong>nern Anweisung, in einer bestimmten Stadt in ein bestimmtes Haus in einer<br />

bestimmten Straße zu gehen, um eines seiner Schafe zu fin<strong>de</strong>n.<br />

Je<strong>de</strong> Seele ist <strong>de</strong>m Herrn so gut bekannt, als sei sie die einzige, für die er sein Leben gelassen<br />

hat. Je<strong>de</strong> Not rührt sein Herz, je<strong>de</strong>r Hilferuf dringt an sein Ohr; er kam, um alle Menschen zu<br />

retten. Allen rief er zu: „Folget mir nach!“ Sein guter Geist bewegt die Herzen, daß sie sich<br />

entschließen, zu ihm zu gehen. Viele wehren sich, sich zu ihm ziehen zu lassen; doch Jesus<br />

weiß sie zu fin<strong>de</strong>n. Er kennt auch die willigen Seelen, die freudig bereit sind, sich seinem<br />

Hirtenamt anzuvertrauen. Er sagt: „Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und<br />

sie folgen mir.“ Johannes 10,27. Er sorgt für je<strong>de</strong>s einzelne, als wäre es allein auf <strong>de</strong>r Welt.<br />

„Er ruft seine Schafe mit Namen und führt sie aus ... und die Schafe folgen ihm nach; <strong>de</strong>nn<br />

sie kennen seine Stimme.“ Johannes 10,3.4. Ein orientalischer Hirte braucht seine Her<strong>de</strong> nicht<br />

zu treiben; er vermei<strong>de</strong>t Zwang und Gewalt. Ruhig geht er <strong>de</strong>r Her<strong>de</strong> voran, und er ruft die<br />

Tiere. Sie kennen seine Stimme und gehorchen ihr. So han<strong>de</strong>lt auch <strong>de</strong>r Heiland-Hirte mit<br />

seinen Schafen. <strong>Die</strong> Schrift spricht davon: „Du führtest <strong>de</strong>in Volk wie eine Her<strong>de</strong> durch die<br />

Hand <strong>de</strong>s Mose und Aaron.“ Psalm 77,21. Und durch <strong>de</strong>n Propheten Jeremia bekräftigt <strong>de</strong>r<br />

Herr: „Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter<br />

328


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Güte.“ Jeremia 31,3. Er zwingt keinen, ihm zu folgen. „Ich ließ sie ein menschliches Joch<br />

ziehen“, sagte er, „und in Seilen <strong>de</strong>r Liebe gehen und half ihnen das Joch auf ihrem Nacken<br />

tragen und gab ihnen Nahrung.“ Hosea 11,4.<br />

Es ist we<strong>de</strong>r Furcht vor Strafe noch Hoffnung auf ewigen Lohn, <strong>de</strong>r Jesu Jünger veranlaßt,<br />

ihm zu folgen; aber <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s unvergleichliche Liebe, die sich in seiner irdischen<br />

Pilgerschaft von <strong>de</strong>r Krippe in Bethlehem bis zum Kreuz auf Golgatha offenbarte, und das Bild<br />

seiner Erscheinung erweichen und bezwingen die Seele. Liebe erwacht in <strong>de</strong>n Herzen aller, die<br />

ihm nahe sind. Sie hören seine Stimme und folgen ihr. Wie <strong>de</strong>r Hirte seiner Her<strong>de</strong><br />

voranschreitet und somit auch zuerst etwaigen Gefahren begegnet, so verfährt auch Jesus mit<br />

seinen Nachfolgern. „Wenn er alle die Seinen hat hinausgelassen, geht er vor ihnen hin.“ Der<br />

Weg zum Himmel ist durch die Fußspuren Jesu geheiligt. Mag er steil und rauh sein, Jesus ist<br />

ihn gegangen, seine Füße haben die spitzen Dornen nie<strong>de</strong>rgetreten und <strong>de</strong>n Weg für uns leichter<br />

gemacht. Je<strong>de</strong> Last, die uns drückt, hat er auch getragen. Obgleich er in die Gegenwart Gottes<br />

aufgefahren ist und <strong>de</strong>n Thron <strong>de</strong>s Weltalls mit seinem Vater teilt, hat er doch nichts von<br />

seinem barmherzigen Wesen verloren. Noch heute steht sein treues, mitfühlen<strong>de</strong>s Herz <strong>de</strong>m<br />

Weh und Schmerz <strong>de</strong>r Welt offen; noch heute ist seine durchbohrte Hand segnend ausgestreckt<br />

über seine Kin<strong>de</strong>r in aller Welt. „Sie wer<strong>de</strong>n nimmermehr umkommen, und niemand wird sie<br />

aus meiner Hand reißen.“ Johannes 10,28. <strong>Die</strong> Seele, die sich Jesus Christus anvertraut hat,<br />

be<strong>de</strong>utet ihm mehr als die ganze Welt. Er hätte alle Schmerzen und Lei<strong>de</strong>n auf Golgatha<br />

erdul<strong>de</strong>t, um nur einen Menschen für sein Reich zu retten. Nie wird er eine Seele verlassen, für<br />

die er gestorben ist, es sei <strong>de</strong>nn, daß sie sich selbst von ihm trennt.<br />

Durch alle Anfechtungen hindurch haben wir in Christus einen nie versagen<strong>de</strong>n Helfer. Er<br />

steht uns bei in unseren Nöten und Kämpfen gegen Versuchungen und gegen das Böse, und er<br />

hilft uns, wenn wir von Sorgen und Schmerzen nie<strong>de</strong>rgedrückt sind. Können ihn unsere Augen<br />

jetzt auch nicht sehen, so vernimmt doch das Ohr <strong>de</strong>s Glaubens seine Stimme, die da spricht:<br />

„Fürchte dich nicht! Ich bin ... <strong>de</strong>r Lebendige. Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von<br />

Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel <strong>de</strong>r Hölle und <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s.“ Offenbarung 1,17.18.<br />

Ich habe <strong>de</strong>inen Kummer getragen, <strong>de</strong>ine Kämpfe durchlebt und <strong>de</strong>ine Versuchungen erdul<strong>de</strong>t;<br />

ich verstehe <strong>de</strong>ine Tränen, die auch ich geweint habe; ich kenne <strong>de</strong>n Gram, <strong>de</strong>r dir tief im<br />

Herzen brennt und <strong>de</strong>n kein Mensch dir nehmen kann. Glaube nicht, du seiest einsam und<br />

verlassen. Bringt <strong>de</strong>in Schmerz keine Saite in irgen<strong>de</strong>ines Menschen Herz zum klingen, blick<br />

auf mich und lebe! „Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gna<strong>de</strong> soll<br />

nicht von dir weichen, und <strong>de</strong>r Bund meines Frie<strong>de</strong>ns soll nicht hinfallen, spricht <strong>de</strong>r Herr, <strong>de</strong>in<br />

Erbarmer.“ Jesaja 54,10.<br />

Wie sehr auch ein Hirte seine Her<strong>de</strong> lieben mag, mehr noch liebt er seine Söhne und Töchter.<br />

Jesus ist nicht nur unser Hirte, er ist unser „Ewig-Vater“ und bekennt: „Ich bin <strong>de</strong>r gute Hirte<br />

und kenne die Meinen und bin bekannt <strong>de</strong>n Meinen, wie mich mein Vater kennt und ich kenne<br />

<strong>de</strong>n Vater.“ Johannes 10,14.15. Welch eine Fürsorge <strong>de</strong>s eingeborenen Sohnes, „<strong>de</strong>r wie kein<br />

an<strong>de</strong>rer mit <strong>de</strong>m Vater verbun<strong>de</strong>n ist“ (Johannes 1,18, Bruns) und <strong>de</strong>m Gott erklärt hat, daß er<br />

<strong>de</strong>r Mann sei, <strong>de</strong>r ihm am nächsten stün<strong>de</strong>! Sacharja 13,7. Das Verhältnis Jesu zu seinem<br />

329


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

himmlischen Vater versinnbil<strong>de</strong>t auch die Verbindung Jesu zu seinen Kin<strong>de</strong>rn hier auf<br />

Er<strong>de</strong>n. Weil wir die Gabe seines Vaters und die Frucht seines Wirkens sind, liebt uns Jesus als<br />

seine Kin<strong>de</strong>r. Wer kann es recht fassen? Er liebt uns! Der Himmel selbst kann nichts Größeres,<br />

nichts Besseres schenken. Vertrauen wir <strong>de</strong>shalb unserem Heiland! Schmerzlich gedachte <strong>de</strong>r<br />

Heiland aller, die von falschen Hirten irregeleitet wur<strong>de</strong>n. Seelen, die er als Schafe seiner<br />

Wei<strong>de</strong> sammeln wollte, waren unter Wölfen zerstreut, und er sagte: „Ich habe noch an<strong>de</strong>re<br />

Schafe, die sind nicht aus diesem Stalle; und auch diese muß ich herführen, und sie wer<strong>de</strong>n<br />

meine Stimme hören, und wird eine Her<strong>de</strong> und ein Hirte wer<strong>de</strong>n. Darum liebt mich mein Vater,<br />

weil ich mein Leben lasse, auf daß ich‘s wie<strong>de</strong>r nehme.“ Johannes 10,16.17. Er will sagen:<br />

Mein Vater hat euch so sehr geliebt, daß seine Liebe zu mir noch stärker wird, weil ich mein<br />

Leben zu eurer Erlösung dahingebe.<br />

„Weil ich mein Leben lasse, auf daß ich‘s wie<strong>de</strong>r nehme. Niemand nimmt es von mir,<br />

son<strong>de</strong>rn ich lasse es von mir selber. Ich habe Macht, es zu lassen, und habe Macht, es<br />

wie<strong>de</strong>rzunehmen.“ Johannes 10,17.18. Als erdgeborener Mensch war er sterblich, als Sohn<br />

Gottes aber die Quelle alles Lebens für die Welt. Er hätte <strong>de</strong>r Macht <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s wi<strong>de</strong>rstehen, er<br />

hätte sich weigern können, unter die Herrschaft <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s zu kommen; aber er legte freiwillig<br />

sein Leben ab, damit er Leben und Unsterblichkeit ans Licht bringen konnte. Er trug die Sün<strong>de</strong>n<br />

<strong>de</strong>r Welt und nahm <strong>de</strong>ren Fluch auf sich; er gab sein Leben dahin, damit die Menschen nicht<br />

<strong>de</strong>s ewigen To<strong>de</strong>s sterben möchten. „Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre<br />

Schmerzen ... er ist um unsrer Missetat willen verwun<strong>de</strong>t und um unsrer Sün<strong>de</strong> willen<br />

zerschlagen. <strong>Die</strong> Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frie<strong>de</strong>n hätten, und durch seine Wun<strong>de</strong>n sind<br />

wir geheilt. Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein je<strong>de</strong>r sah auf seinen Weg. Aber <strong>de</strong>r Herr<br />

warf unser aller Sün<strong>de</strong> auf ihn.“ Jesaja 53,4-6.<br />

330


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 53: <strong>Die</strong> letzte Reise von Galiläa<br />

Mit <strong>de</strong>m herannahen<strong>de</strong>n En<strong>de</strong> verän<strong>de</strong>rte sich auch die Art <strong>de</strong>s Wirkens Jesu. Der Heiland<br />

hatte bisher alle Erregung zu vermei<strong>de</strong>n gesucht und von sich aus nichts getan, die<br />

Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. <strong>Die</strong> Huldigungen <strong>de</strong>s Volkes wies er zurück, und er<br />

wechselte sehr rasch <strong>de</strong>n Ort seines Wirkens, wenn die Begeisterung <strong>de</strong>s Volkes über ihm<br />

zusammenzuschlagen drohte. Immer wie<strong>de</strong>r hatte er geboten, daß niemand ihn als Christus<br />

bezeichnen solle.<br />

Seine Reise nach Jerusalem zum Laubhüttenfest war schnell und heimlich vor sich<br />

gegangen. Von seinen Brü<strong>de</strong>rn bedrängt, sich nun endlich als Messias zu erkennen zu geben,<br />

hatte er ihnen nur geantwortet: „Meine Zeit ist noch nicht da.“ Johannes 7,6. Unbeachtet hatte<br />

er seinen Heimatort verlassen, unangemel<strong>de</strong>t und von <strong>de</strong>r Menge unerkannt war er nach<br />

Jerusalem gekommen. Jetzt aber war sein Auftreten an<strong>de</strong>rs. Jesus hatte Jerusalem wegen <strong>de</strong>r<br />

Bosheit <strong>de</strong>r Priester und Pharisäer für kurze Zeit verlassen. Nun kehrte er, auf einem Umweg<br />

und in<strong>de</strong>m er sein Kommen auf eine Weise ankündigte, wie er es nie zuvor getan hatte, in aller<br />

Öffentlichkeit wie<strong>de</strong>r in die Stadt zurück. Er wußte, daß er <strong>de</strong>m Schauplatz seines Lei<strong>de</strong>ns<br />

entgegenging, und es galt jetzt, die Aufmerksamkeit <strong>de</strong>s Volkes auf seinen Opfergang zu<br />

lenken.<br />

„Wie Mose in <strong>de</strong>r Wüste die Schlange erhöht hat, so muß <strong>de</strong>s Menschen Sohn erhöht<br />

wer<strong>de</strong>n.“ Johannes 3,14. Wie die Augen aller Israeliten auf die Schlange, das Sinnbild ihrer<br />

Rettung, gerichtet waren, so mußten nun alle Augen auf Christus, das für die verlorene Welt<br />

darzubringen<strong>de</strong> Opfer, gelenkt wer<strong>de</strong>n. Es war eine falsche Vorstellung von <strong>de</strong>m Wirken <strong>de</strong>s<br />

Messias und ein mangeln<strong>de</strong>r Glaube an das göttliche Wesen Jesu, die seine Brü<strong>de</strong>r ihn<br />

auffor<strong>de</strong>rn ließ, sich auf <strong>de</strong>m Laubhüttenfest in Jerusalem öffentlich <strong>de</strong>m Volk vorzustellen.<br />

Ähnlich dieser Auffassung wollten die Jünger jetzt Jesus von <strong>de</strong>r Reise nach Jerusalem<br />

abhalten. Sie erinnerten sich seiner Worte, mit <strong>de</strong>nen er ihnen gesagt hatte, was ihn in Jerusalem<br />

erwarte. Sie wußten von <strong>de</strong>r tödlichen Feindschaft <strong>de</strong>r jüdischen Obersten, und sie hätten ihm<br />

gern abgeraten, nach <strong>de</strong>r Heiligen Stadt zu ziehen.<br />

Um seiner geliebten Jünger willen wur<strong>de</strong> es <strong>de</strong>m Heiland nicht leicht, <strong>de</strong>n ihm<br />

vorgezeichneten Weg weiter zu verfolgen; er kannte ja ihre Furcht und ihren schwachen<br />

Glauben und wußte von <strong>de</strong>n kommen<strong>de</strong>n großen Enttäuschungen. Es wur<strong>de</strong> ihm schwer, sie <strong>de</strong>r<br />

Angst und Verzweiflung entgegenzuführen, die ihrer in Jerusalem warteten. Dazu bedrängte<br />

Satan wie<strong>de</strong>r mit seinen Versuchungen <strong>de</strong>s Menschen Sohn. Warum sollte er nach Jerusalem in<br />

<strong>de</strong>n sicheren Tod gehen, wenn überall Seelen nach <strong>de</strong>m Brot <strong>de</strong>s Lebens hungerten und so viele<br />

Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> auf sein Wort <strong>de</strong>r Heilung warteten? Sein Wirken durch <strong>de</strong>n Geist <strong>de</strong>r göttlichen<br />

Gna<strong>de</strong> hatte gera<strong>de</strong> erst begonnen; er selbst stand im besten Mannesalter — warum sollte er<br />

nicht in das weite Missionsfeld gehen und selbst seine Gna<strong>de</strong>nbotschaft verkündigen und seine<br />

heilen<strong>de</strong> Kraft mitteilen? Warum sollte er nicht selbst die Freu<strong>de</strong> miterleben, <strong>de</strong>n in Finsternis<br />

und Kümmernis verharren<strong>de</strong>n Millionen Menschen Licht und Leben zu bringen? Warum sollte<br />

er das Einbringen <strong>de</strong>r Ernte seinen Jüngern überlassen, die so schwach im Glauben, so träge im<br />

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<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

verstehen und so langsam im Han<strong>de</strong>ln waren? Warum sich nun in <strong>de</strong>n sicheren Tod begeben<br />

und das Werk, das noch im Anfangsstadium war, verlassen? Der Feind, <strong>de</strong>r sich <strong>de</strong>m Herrn<br />

schon in <strong>de</strong>r Wüste entgegengestellt hatte, überfiel ihn jetzt mit ungestümen und listigen<br />

Versuchungen. Wür<strong>de</strong> Jesus auch nur einen Augenblick nachgegeben haben, wäre er von<br />

seinem Weg nur „um Haaresbreite“ abgewichen, um sich selbst zu retten, dann hätten Satans<br />

Werkzeuge triumphiert, die Welt aber wäre verloren gewesen.<br />

Doch <strong>de</strong>r Heiland „wen<strong>de</strong>te ... sein Angesicht, stracks nach Jerusalem zu wan<strong>de</strong>rn“. Lukas<br />

9,51. Der Wille seines Vaters im Himmel war das Gesetz seines Lebens. Er hatte einst als<br />

Knabe bei einem Besuch <strong>de</strong>s Tempels zu Maria gesagt: „Wisset ihr nicht, daß ich sein muß in<br />

<strong>de</strong>m, das meines Vaters ist?“ Lukas 2,49. Als Maria auf <strong>de</strong>r Hochzeit zu Kana Jesu Wun<strong>de</strong>r<br />

wirken<strong>de</strong> Kraft offenbart sehen wollte, lautete seine Antwort: „Meine Stun<strong>de</strong> ist noch nicht<br />

gekommen.“ Johannes 2,4. Mit ähnlichen Worten hatte er schon seinen Brü<strong>de</strong>rn geantwortet,<br />

als sie ihn zum Besuch <strong>de</strong>s Laubhüttenfestes nötigen wollten. In Gottes erhabenem Plan war die<br />

Stun<strong>de</strong> bestimmt, da sich Christus für die Sün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Menschheit opfern mußte. Nun sollte<br />

diese Stun<strong>de</strong> bald schlagen. Er wollte nicht matt wer<strong>de</strong>n noch verzagen. Seine Schritte waren<br />

nach Jerusalem gewandt, wo seine Fein<strong>de</strong> schon lange darauf warteten, seinem Leben ein En<strong>de</strong><br />

zu machen; jetzt wür<strong>de</strong> es bald soweit sein. „Stracks“ ging er <strong>de</strong>r Verfolgung, Verleugnung,<br />

Verwerfung, Verurteilung und <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> entgegen.<br />

„Er sandte Boten vor sich hin; die gingen hin und kamen in ein Dorf <strong>de</strong>r Samariter, daß sie<br />

ihm Herberge bestellten.“ Lukas 9,52. <strong>Die</strong> Samariter aber nahmen ihn nicht auf, weil er sich auf<br />

<strong>de</strong>m Wege nach Jerusalem befand. Sie glaubten daraus zu ersehen, daß Christus die ihnen tief<br />

verhaßten Ju<strong>de</strong>n höher achtete als sie selbst. Wäre er gekommen, um <strong>de</strong>n Tempel und die<br />

Anbetung auf <strong>de</strong>m Berge Garizim wie<strong>de</strong>rherzustellen, so wür<strong>de</strong>n sie ihn mit großer Freu<strong>de</strong><br />

aufgenommen haben; aber er war auf <strong>de</strong>m Wege nach Jerusalem, darum wollten sie ihm keine<br />

Gastfreundschaft erweisen. Wie wenig erkannten sie, daß sie die beste Gabe <strong>de</strong>s Himmels von<br />

sich wiesen! Jesus bat Menschen, ihn aufzunehmen, er bat sie um Gunsterweisungen von ihrer<br />

Hand, damit er ihnen nahekommen könnte, um sie reich zu segnen. Je<strong>de</strong> ihm bezeugte Liebestat<br />

vergalt er durch eine viel wertvollere Gna<strong>de</strong>ngabe; aber all das ließen die Samariter wegen ihrer<br />

Voreingenommenheit und wegen ihres blin<strong>de</strong>n Eifers außer acht.<br />

<strong>Die</strong> von Christus gesandten Boten Jakobus und Johannes ärgerten sich sehr über <strong>de</strong>n ihrem<br />

Herrn angetanen Schimpf, ja, sie waren empört, weil die Samariter, <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Besuch Jesu eine<br />

Auszeichnung hätte sein müssen, ihn so grob behan<strong>de</strong>lt hatten. Erst kürzlich waren sie mit ihm<br />

auf <strong>de</strong>m Verklärungsberg gewesen und hatten ihn von Gott verherrlicht und von Mose und Elia<br />

geehrt gesehen. Nun meinten sie, daß die Mißachtung Jesu durch die Samariter nicht ohne<br />

strenge Strafe bleiben sollte.<br />

Sie kamen zu Jesus, wie<strong>de</strong>rholten die Worte <strong>de</strong>r Samariter und berichteten, daß jene sich<br />

sogar geweigert hätten, ihm für eine Nacht Obdach zu gewähren. Sie sahen in dieser<br />

Handlungsweise ein großes Unrecht an <strong>de</strong>m Herrn, so daß sie angesichts <strong>de</strong>s sich in einiger<br />

Entfernung erheben<strong>de</strong>n Berges Karmel, auf <strong>de</strong>m Elia einst die falschen Propheten erschlagen<br />

hatte, ausriefen: „Herr, willst du, so wollen wir sagen, daß Feuer vom Himmel falle und<br />

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<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

verzehre sie, wie auch Elia tat.“ Lukas 9,54. Wie aber erstaunten sie, als sie bemerkten, wie<br />

schmerzlich ihre Worte Jesu berührten! Noch befrem<strong>de</strong>ter waren sie über <strong>de</strong>n Ta<strong>de</strong>l, <strong>de</strong>n sie<br />

hören mußten: „Wisset ihr nicht, welches Geistes Kin<strong>de</strong>r ihr seid? Des Menschen Sohn ist nicht<br />

gekommen, <strong>de</strong>r Menschen Seelen zu ver<strong>de</strong>rben, son<strong>de</strong>rn zu erhalten.“ Lukas 9,55.56. Dann<br />

ging er in ein an<strong>de</strong>res Dorf.<br />

Es ist nicht <strong>Christi</strong> Aufgabe, jeman<strong>de</strong>n zu zwingen, ihn anzunehmen; es sind vielmehr Satan<br />

und seine Helfer, die das Gewissen zu zwingen suchen. Unter <strong>de</strong>m Vorwand, für Gerechtigkeit<br />

zu eifern, bringen Menschen, die sich mit bösen Engeln verbun<strong>de</strong>n haben, Leid und Schmerz<br />

über ihre Mitmenschen, um sie zu ihren religiösen Anschauungen zu „bekehren“. Christus aber<br />

übt Barmherzigkeit und sucht durch die Offenbarung seiner Liebe Menschen zu gewinnen. Er<br />

dul<strong>de</strong>t keinen Mitbewohner im Herzen, er nimmt auch keine geteilte Gabe an, son<strong>de</strong>rn wünscht<br />

freiwilligen <strong>Die</strong>nst, die willige Übergabe <strong>de</strong>s Herzens an die Herrschaft <strong>de</strong>r Liebe. Nichts<br />

kennzeichnet unter uns <strong>de</strong>utlicher <strong>de</strong>n Geist Satans als die Neigung, <strong>de</strong>nen zu scha<strong>de</strong>n und<br />

Ver<strong>de</strong>rben zu wünschen, die unsere Aufgabe nicht zu würdigen wissen o<strong>de</strong>r die unseren<br />

Auffassungen entgegenhan<strong>de</strong>ln.<br />

Je<strong>de</strong>r Mensch ist nach Leib, Seele und Geist das Eigentum Gottes. Christus starb, um alle zu<br />

erlösen; nichts mißfällt <strong>de</strong>m Herrn mehr als Menschen, die aus religiösem Eifer <strong>de</strong>nen Leid<br />

zufügen, die mit seinem Blut teuer erkauft sind. „Er machte sich auf von dannen und kam in die<br />

Gegend von Judäa und jenseits <strong>de</strong>s Jordan. Und das Volk lief abermals in Haufen zu ihm, und<br />

wie seine Gewohnheit war, lehrte er sie abermals.“ Markus 10,1. <strong>Die</strong> meiste Zeit in <strong>de</strong>n letzten<br />

Monaten hatte Christus in Peräa, einer Provinz „jenseits <strong>de</strong>s Jordan“, verbracht. Hier drängte<br />

sich das Volk in alter Begeisterung um ihn, und Jesus wie<strong>de</strong>rholte und bekräftige seine<br />

Lehre. Wie er die Zwölf ausgesandt hatte, so „son<strong>de</strong>rte <strong>de</strong>r Herr an<strong>de</strong>re siebzig aus und sandte<br />

sie je zwei und zwei vor sich her in alle Städte und Orte, da er wollte hinkommen“. Lukas 10,1.<br />

<strong>Die</strong>se Jünger waren einige Zeit bei ihm gewesen und für ihre Aufgabe ausgebil<strong>de</strong>t wor<strong>de</strong>n. Als<br />

die Zwölf zu ihrem ersten Auftrag ausgesandt waren, hatten an<strong>de</strong>re Jünger <strong>de</strong>n Herrn auf seiner<br />

Wan<strong>de</strong>rung nach Galiläa begleitet und dadurch die Gna<strong>de</strong> erfahren, unmittelbare Fühlung mit<br />

ihm zu haben und von ihm persönlich belehrt zu wer<strong>de</strong>n. Jetzt sollte auch diese erwählte Schar<br />

sich auf <strong>de</strong>n Weg machen und als <strong>Die</strong>ner <strong>de</strong>s Evangeliums ihren Auftrag ausführen.<br />

<strong>Die</strong> Belehrungen, die Jesus <strong>de</strong>n Siebzig gab, glichen <strong>de</strong>nen, die die Zwölf erhalten hatten,<br />

ausgenommen das Verbot, die Städte <strong>de</strong>r Hei<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Samariter zu betreten. Obgleich<br />

Christus von <strong>de</strong>n Samaritern gera<strong>de</strong> erst zurückgewiesen wor<strong>de</strong>n war, blieb seine Liebe zu<br />

ihnen unverän<strong>de</strong>rt. Als die Siebzig in seinem Namen hinausgingen, besuchten sie zuerst die<br />

Städte von Samarien. Jesu eigener Besuch in Samarien und später seine anerkennen<strong>de</strong>n Worte<br />

über <strong>de</strong>n barmherzigen Samariter sowie die dankbare Freu<strong>de</strong> jenes Aussätzigen, eines<br />

Samariters, <strong>de</strong>r allein von <strong>de</strong>n zehn Geheilten umkehrte, um seinem Wohltäter zu danken,<br />

waren für die Jünger außeror<strong>de</strong>ntlich be<strong>de</strong>utungsvoll. Sie hatten sich diese Lehre sehr zu<br />

Herzen genommen. In seinem Auftrag an die Jünger kurz vor seiner Himmelfahrt nannte <strong>de</strong>r<br />

Heiland neben Jerusalem und Judäa auch Samarien als die Gebiete, wo sie zuerst das<br />

Evangelium verkündigen sollten. Seine Belehrung hatte sie befähigt, Gottes Werk zu treiben.<br />

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<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Als sie dann in ihres Meisters Namen nach Samarien kamen, fan<strong>de</strong>n sie das Volk auf ihr<br />

Kommen vorbereitet. <strong>Die</strong> Samariter hatten von <strong>Christi</strong> loben<strong>de</strong>n Worten und seinem<br />

barmherzigen Wirken an ihren Stammesgenossen gehört; sie mußten erkennen, daß Jesus sie<br />

trotz ihres unhöflichen Betragens liebte, und ihre Herzen beugten sich ihm. Nach seiner<br />

Himmelfahrt nahmen sie die Boten <strong>de</strong>s Evangeliums herzlich auf, und die Jünger brachten eine<br />

kostbare Ernte ein unter <strong>de</strong>nen, die einst ihre heftigsten Gegner gewesen waren. „Das geknickte<br />

Rohr wird er nicht zerbrechen, und <strong>de</strong>n glimmen<strong>de</strong>n Docht wird er nicht auslöschen. In Treue<br />

trägt er das Recht hinaus.“ Jesaja 42,3. „<strong>Die</strong> Hei<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n auf seinen Namen<br />

hoffen.“ Matthäus 12,21.<br />

Wie einst bei <strong>de</strong>r Aussendung <strong>de</strong>r Zwölf, gebot <strong>de</strong>r Herr auch <strong>de</strong>n Siebzig, sich dort nicht<br />

aufzudrängen, wo sie nicht willkommen waren. „Wenn ihr aber in eine Stadt kommt, in <strong>de</strong>r sie<br />

euch nicht aufnehmen, so geht heraus auf ihre Gassen und sprecht: Auch <strong>de</strong>n Staub, <strong>de</strong>r sich an<br />

unsre Füße gehängt hat von eurer Stadt, schütteln wir ab auf euch; doch sollt ihr wissen, daß<br />

euch das Reich Gottes nahe gewesen ist.“ Lukas 10,10.11. Nicht aus Groll o<strong>de</strong>r beleidigter<br />

Wür<strong>de</strong> sollten sie so re<strong>de</strong>n, sie sollten nur zu erkennen geben, wie schmerzlich es ist, das<br />

Evangelium o<strong>de</strong>r seine Boten abzuweisen. <strong>Die</strong> <strong>Die</strong>ner <strong>de</strong>s Herrn verwerfen heißt Christus selbst<br />

von sich weisen.<br />

Jesus belehrte sie weiter: „Ich sage euch: Es wird Sodom erträglicher gehen an jenem Tage<br />

als solcher Stadt.“ Dann verweilten seine Gedanken bei <strong>de</strong>n galiläischen Städten, in <strong>de</strong>nen er<br />

längere Zeit gewirkt hatte, und mit schmerzbewegter Stimme rief er aus: „Weh dir, Chorazin!<br />

Weh dir, Bethsaida! Denn wären solche Taten zu Tyrus und Sidon geschehen, die bei euch<br />

geschehen sind, sie hätten längst in Sack und Asche gesessen und Buße getan. Doch es wird<br />

Tyrus und Sidon erträglicher gehen im Gericht als euch. Und du, Kapernaum, wirst du bis zum<br />

Himmel erhoben? In die Hölle wirst du hinuntergestoßen wer<strong>de</strong>n. Wer euch hört, <strong>de</strong>r hört mich;<br />

und wer euch verachtet, <strong>de</strong>r verachtet mich; wer aber mich verachtet, <strong>de</strong>r verachtet <strong>de</strong>n, er mich<br />

gesandt hat.“ Lukas 10,12-16.<br />

<strong>Die</strong>sen geschäftigen Städten am See waren <strong>de</strong>s Himmels reichste Segnungen freigebig<br />

angeboten wor<strong>de</strong>n. Tag für Tag war <strong>de</strong>r Fürst <strong>de</strong>s Lebens bei ihnen ein- und ausgegangen. <strong>Die</strong><br />

Herrlichkeit Gottes, welche Könige und Propheten zu sehen begehrten, schien auf alle herab,<br />

die sich um <strong>de</strong>n Heiland drängten. Dennoch hatten sie die Gabe <strong>de</strong>s Himmels verworfen. Mit<br />

protzerisch zur Schau gestellter Klugheit hatten die Rabbiner das Volk gewarnt, die Lehren<br />

anzunehmen, welche dieser neue Lehrer verkündigte; <strong>de</strong>nn seine Theorien und seine<br />

Handlungsweise wi<strong>de</strong>rsprächen <strong>de</strong>n Lehren <strong>de</strong>r Väter. Das Volk vertraute <strong>de</strong>m, was die Priester<br />

und Pharisäer lehrten, statt daß es selbst versucht hätte, das Wort Gottes zu verstehen. Sie<br />

brachten <strong>de</strong>n Priestern und Obersten Verehrung entgegen, statt Gott zu ehren, und sie verwarfen<br />

die Wahrheit, um an ihren eigenen Überlieferungen festhalten zu können. Viele waren tief<br />

beeindruckt und fast überzeugt wor<strong>de</strong>n; aber sie han<strong>de</strong>lten nicht nach ihren Überzeugungen und<br />

stellten sich nicht auf die Seite <strong>Christi</strong>. Satan schickte seine Versuchungen, bis das Licht wie<br />

Finsternis aussah. So verwarfen viele die Wahrheit, die die Rettung <strong>de</strong>r Seele be<strong>de</strong>utet hätte.<br />

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<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Der „treue Zeuge“ (Offenbarung 3,14) erklärt: „Siehe, ich stehe vor <strong>de</strong>r Tür und klopfe<br />

an.“ Offenbarung 3,20. Je<strong>de</strong> Warnung, Zurechtweisung und dringen<strong>de</strong> Auffor<strong>de</strong>rung, die im<br />

Worte Gottes o<strong>de</strong>r durch seine Boten ausgesprochen wur<strong>de</strong>, ist ein Anklopfen an <strong>de</strong>r Tür <strong>de</strong>s<br />

Herzens. Es ist die Stimme Jesu, die um Einlaß bittet. Mit je<strong>de</strong>m Klopfen, das unbeachtet bleibt,<br />

wird die Neigung, zu öffnen, schwächer. Wenn die vom Heiligen Geist ausgehen<strong>de</strong>n<br />

Wirkungen heute mißachtet wer<strong>de</strong>n, wer<strong>de</strong>n sie morgen nicht mehr so stark sein. Das Herz wird<br />

weniger empfänglich und verfällt einem gefährlichen Zustand, in <strong>de</strong>m es sich nicht <strong>de</strong>r Kürze<br />

<strong>de</strong>s Lebens und <strong>de</strong>r dann folgen<strong>de</strong>n großen Ewigkeit bewußt ist. Wir wer<strong>de</strong>n im Gericht nicht<br />

verurteilt, weil wir uns im Irrtum befun<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn weil wir die vom Himmel gesandten<br />

Gelegenheiten, zu lernen, was die Wahrheit wirklich ist, versäumt haben. Gleich <strong>de</strong>n Aposteln<br />

hatten auch die Siebzig übernatürliche Gaben als Siegel ihres Auftrags erhalten. Nach<br />

Vollendung ihrer Aufgabe kehrten sie freudig zurück und sprachen: „Herr, es sind uns auch die<br />

bösen Geister untertan in <strong>de</strong>inem Namen.“ Und <strong>de</strong>r Heiland antwortete ihnen: „Ich sah <strong>de</strong>n<br />

Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz.“ Lukas 10,17.18. An Jesu geistigem Auge zogen die<br />

Ereignisse <strong>de</strong>r Vergangenheit und <strong>de</strong>r Zukunft vorüber. Er sah die Verstoßung Satans aus <strong>de</strong>m<br />

Himmel, er schaute voraus auf seine Lei<strong>de</strong>nszeit, die <strong>de</strong>n Charakter <strong>de</strong>s großen Betrügers vor<br />

<strong>de</strong>r ganzen Welt offenbaren wür<strong>de</strong>, und hörte <strong>de</strong>n Ruf: „Es ist vollbracht!“, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Welt die<br />

Erfüllung <strong>de</strong>s Erlösungsplanes ankündigen und <strong>de</strong>n Himmel vor <strong>de</strong>n Anklagen, Täuschungen<br />

und Ansprüchen Satans auf ewig schützen wür<strong>de</strong>.<br />

Über das Kreuz von Golgatha mit seinem To<strong>de</strong>skampf und seiner Schmach hinweg schaute<br />

Jesus auf <strong>de</strong>n letzten großen Tag, an <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Fürst <strong>de</strong>r bösen Mächte, die in <strong>de</strong>r Luft herrschen,<br />

vernichtet wird mit <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>, die er so lange durch seinen Aufruhr entstellt hat. Danach sah <strong>de</strong>r<br />

Herr das Werk <strong>de</strong>s Bösen für immer been<strong>de</strong>t und ewigen Frie<strong>de</strong>n Himmel und Er<strong>de</strong><br />

erfüllen. <strong>Christi</strong> Nachfolger sollten künftig <strong>de</strong>n Teufel als besiegten Feind ansehen, <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r<br />

Heiland durch seinen Kreuzestod <strong>de</strong>n Sieg abgerungen hat. <strong>Die</strong>sen Sieg sollten seine Kin<strong>de</strong>r als<br />

ihren Sieg betrachten. „Sehet“, sagte er, „ich habe euch Vollmacht gegeben, zu treten auf<br />

Schlangen und Skorpione, und über alle Gewalt <strong>de</strong>s Fein<strong>de</strong>s; und nichts wird euch<br />

scha<strong>de</strong>n.“ Lukas 10,19. <strong>Die</strong> allmächtige Kraft <strong>de</strong>s Heiligen Geistes schützt je<strong>de</strong>n Menschen, <strong>de</strong>r<br />

bereut; niemand, <strong>de</strong>r bußfertig-gläubig <strong>de</strong>n Beistand <strong>Christi</strong> erbittet, wird unter die Macht<br />

Satans geraten. Der Heiland ist <strong>de</strong>n Seinen in je<strong>de</strong>r Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Versuchung und Gefahr<br />

gegenwärtig und hilft ihnen. Bei ihm gibt es keinen Mißerfolg o<strong>de</strong>r Verlust, keine<br />

Unmöglichkeit o<strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rlage; wir vermögen alles durch <strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r uns mächtig macht. Wenn<br />

Versuchungen und Prüfungen kommen, dann erwartet nicht, alle Schwierigkeiten selbst<br />

meistern zu können, son<strong>de</strong>rn richtet euren Blick auf Jesus, euren Helfer. Viele Christen <strong>de</strong>nken<br />

nicht nur zuviel über Satan nach, son<strong>de</strong>rn sprechen auch zuviel über seine Macht. Sie <strong>de</strong>nken an<br />

ihren Wi<strong>de</strong>rsacher, sie beten von ihm und re<strong>de</strong>n über ihn; dadurch wird er in ihrer Vorstellung<br />

immer größer und mächtiger. Satan besitzt Macht und Gewalt; aber Gott sei Dank haben wir<br />

einen mächtigen Heiland, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Bösen aus <strong>de</strong>m Himmel ausgestoßen hat. Der Teufel hat es<br />

gern, wenn wir seine Macht rühmen. Warum re<strong>de</strong>n wir nicht von Jesus? Warum rühmen wir<br />

nicht seine Kraft und seine Liebe?<br />

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<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Der Regenbogen <strong>de</strong>r Verheißung, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Thron im Himmel umgibt, ist ein unvergängliches<br />

Zeugnis, daß Gott die Welt so geliebt hat, „daß er seinen eingebornen Sohn gab, auf daß alle,<br />

die an ihn glauben, nicht verloren wer<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn das ewige Leben haben“. Johannes 3,16. Er<br />

bestätigt vor aller Welt, daß Gott seine Kin<strong>de</strong>r in ihrem Ringen mit <strong>de</strong>m Bösen niemals verläßt;<br />

er gibt die Gewißheit <strong>de</strong>r Kraft und <strong>de</strong>s Schutzes bis in alle Ewigkeit. Der Heiland fügte hinzu:<br />

„Doch darüber freuet euch nicht, daß euch die Geister untertan sind. Freuet euch aber, daß eure<br />

Namen im Himmel geschrieben sind.“ Lukas 10,20. Freuet euch nicht darüber, Macht zu<br />

besitzen, damit ihr nicht eure Abhängigkeit von Gott vergeßt; seid achtsam, auf daß ihr nicht<br />

selbstzufrie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>t und euer Werk aus eigener Kraft und nicht im Geist und in <strong>de</strong>r Kraft<br />

Gottes geschehe. Das eigene Ich ist immer gern bereit, sich selbst das Verdienst zuzuschreiben,<br />

wenn ein Erfolg die Arbeit krönt; es fühlt sich geschmeichelt und erhoben, und an<strong>de</strong>re haben<br />

durchaus nicht <strong>de</strong>n Eindruck, als wäre uns Gott „alles und in allen“. Kolosser 3,11.<br />

Der Apostel Paulus schreibt: „Wenn ich schwach bin, so bin ich stark.“ 2.Korinther 12,10.<br />

Wenn wir unsere Schwachheit erkennen, lernen wir, uns nicht auf uns selbst zu verlassen.<br />

Nichts kann <strong>de</strong>m Herzen so festen Halt verleihen wie das dauern<strong>de</strong> Bewußtsein unserer<br />

Abhängigkeit von Gott; nichts beeinflußt unser Verhalten so tiefgreifend wie das Wissen um die<br />

erbarmen<strong>de</strong> Liebe <strong>Christi</strong>. Sobald wir mit Gott in die rechte Verbindung kommen, wer<strong>de</strong>n wir<br />

auch von <strong>de</strong>r Kraft <strong>de</strong>s Heiligen Geistes durchdrungen, die uns befähigt, zu unserem Nächsten<br />

ein gutes Verhältnis zu fin<strong>de</strong>n. Freuen wir uns darum, daß wir durch Christus mit Gott<br />

verbun<strong>de</strong>n sind und Glie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r himmlischen Familie sein können. Solange wir über uns<br />

hinausschauen, wer<strong>de</strong>n wir die eigene Hilflosigkeit stets klar erkennen. Je weniger wir das<br />

eigene Ich pflegen, <strong>de</strong>sto eindringlicher wer<strong>de</strong>n wir die Vollkommenheit Jesu verspüren. Je<br />

inniger unsere Verbindung mit <strong>de</strong>r göttlichen Licht- und Kraftquelle ist, <strong>de</strong>sto mehr Licht wird<br />

auf uns scheinen und <strong>de</strong>sto größere Kraft wird uns befähigen, das Werk Gottes zu treiben. Freut<br />

euch, daß ihr eins seid mit Gott, eins mit Christus und eins mit <strong>de</strong>r ganzen himmlischen<br />

Familie.<br />

Während die Siebzig <strong>de</strong>n Worten Jesu lauschten, wirkte <strong>de</strong>r Heilige Geist an ihren Herzen<br />

und lehrte sie die Wahrheit erkennen. Obgleich sie von einer gewaltigen Volksmenge umgeben<br />

waren, hatten sie das Gefühl, mit Gott allein zu sein. Der Heiland freute sich herzlich, daß sie<br />

die Be<strong>de</strong>utung dieser Stun<strong>de</strong> erfaßt hatten; er war froh „im heiligen Geist und sprach: Ich preise<br />

dich, Vater und Herr Himmels und <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>, daß du solches <strong>de</strong>n Weisen und Klugen verborgen<br />

hast und hast es <strong>de</strong>n Unmündigen offenbart. Ja, Vater, so war es wohlgefällig vor dir. Es ist mir<br />

alles übergeben von meinem Vater. Und niemand weiß, wer <strong>de</strong>r Sohn sei, <strong>de</strong>nn nur <strong>de</strong>r Vater;<br />

noch wer <strong>de</strong>r Vater sei, <strong>de</strong>nn nur <strong>de</strong>r Sohn und wem es <strong>de</strong>r Sohn will offenbaren“. Lukas<br />

10,21.22.<br />

<strong>Die</strong> angesehenen Männer dieser Welt, die sogenannten Großen und Weisen mit all ihrer<br />

prahlerischen Weisheit, waren nicht imstan<strong>de</strong>, das Wesen <strong>Christi</strong> zu verstehen. Sie beurteilten<br />

ihn nach seiner äußeren Erscheinung, nach <strong>de</strong>r niedrigen Stellung, die er als Mensch<br />

einnahm. Aber <strong>de</strong>n Fischern und Zöllnern war es gegeben, das Unsichtbare zu sehen. Sogar die<br />

Jünger waren nicht in <strong>de</strong>r Lage, alles zu verstehen, was Jesus ihnen offenbaren wollte, doch von<br />

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<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Zeit zu Zeit wur<strong>de</strong> ihr Verstand erleuchtet, als sie sich <strong>de</strong>r Macht <strong>de</strong>s Heiligen Geistes ergaben.<br />

Sie wur<strong>de</strong>n sich bewußt, daß <strong>de</strong>r mächtige Gott als Mensch unter ihnen weilte. Jesus war froh<br />

darüber, daß, obwohl die Weisen und Klugen diese Erkenntnis nicht besaßen, sie diesen<br />

einfachen Menschen enthüllt wor<strong>de</strong>n war. Oft waren sie durch seinen Geist erweckt und in eine<br />

himmlische Atmosphäre emporgehoben wor<strong>de</strong>n, als er ihnen die Schriften <strong>de</strong>s Alten<br />

Testaments erklärte und ihnen zeigte, wie sie auf ihn und auf sein Versöhnungswerk zutreffen.<br />

Von <strong>de</strong>n geistlichen Wahrheiten, die von <strong>de</strong>n Propheten verkündigt wor<strong>de</strong>n waren, hatten sie<br />

ein klareres Verständnis als die Schreiber selbst. Künftig lasen sie die Schriften <strong>de</strong>s Alten<br />

Testamentes nicht mehr als die Lehrsätze <strong>de</strong>r Schriftgelehrten und Pharisäer, nicht als die<br />

Aussagen kluger Männer, die bereits tot sind, son<strong>de</strong>rn als eine neue Offenbarung von Gott. Sie<br />

erkannten <strong>de</strong>n, „welchen die Welt nicht kann empfangen, <strong>de</strong>nn sie sieht ihn nicht und kennt ihn<br />

nicht. Ihr aber kennet ihn, <strong>de</strong>nn er bleibt bei euch und wird in euch sein.“ Johannes 14,17.<br />

Der einzige Weg zu einer klareren Erkenntnis <strong>de</strong>r Wahrheit ist ein liebevolles Herz, erfüllt<br />

von <strong>de</strong>m Geist <strong>Christi</strong>. <strong>Die</strong> Seele muß von Eitelkeit und Stolz gereinigt und von allem befreit<br />

wer<strong>de</strong>n, was von ihr Besitz ergriffen hat; einzig Christus muß in ihr herrschen und Gestalt<br />

gewinnen. <strong>Die</strong> menschliche Wissenschaft genügt nicht annähernd, die Versöhnung mit Gott zu<br />

verstehen. Der göttliche Erlösungsplan ist so gewaltig, daß keine irdische Weisheit ihn erklären<br />

kann; er wird stets ein Geheimnis bleiben, das die tiefschürfendsten Überlegungen nicht zu<br />

ergrün<strong>de</strong>n vermögen. <strong>Die</strong> Erlösung kann man nicht erklären, son<strong>de</strong>rn nur erfahren. Nur wer die<br />

eigene Sündhaftigkeit erkennt, kann <strong>de</strong>n Wert <strong>de</strong>r Gabe Gottes ermessen. Eine Fülle von<br />

Belehrungen erteilte Jesus, als er langsam von Galiläa nach Jerusalem wan<strong>de</strong>rte. Eifrig lauschte<br />

das Volk seinen Worten. Sowohl in Peräa als auch in Galiläa lebten die Menschen weniger<br />

unter <strong>de</strong>r formellen, buchstabengläubigen jüdischen Frömmigkeit als in Judäa, und die Lehren<br />

<strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s fan<strong>de</strong>n in ihren Herzen willige Aufnahme.<br />

Christus sprach in diesen letzten Monaten seines <strong>Die</strong>nstes viel in Gleichnissen. <strong>Die</strong> Priester<br />

und Rabbiner verfolgten ihn mit ständig wachsen<strong>de</strong>m Haß, und seine Warnungen an sie klei<strong>de</strong>te<br />

er in Sinnbil<strong>de</strong>r. Sie konnten seine An<strong>de</strong>utungen nicht mißverstehen; <strong>de</strong>nnoch fan<strong>de</strong>n sie in<br />

seinen Worten keinen Anhalt, um ihn anzuklagen. Im Gleichnis vom Pharisäer und <strong>de</strong>m Zöllner<br />

zeigte das selbstgerechte Gebet: „Ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie die an<strong>de</strong>rn Leute“,<br />

<strong>de</strong>n großen Unterschied zu <strong>de</strong>r Bitte <strong>de</strong>s Bußfertigen: „Gott, sei mir Sün<strong>de</strong>r gnädig!“ Lukas<br />

18,11.13. Auf diese Weise ta<strong>de</strong>lte Jesus die Heuchelei <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n. Durch die Bil<strong>de</strong>r vom<br />

unfruchtbaren Feigenbaum und von <strong>de</strong>m großen Abendmahl sagte er das verhängnisvolle<br />

Schicksal <strong>de</strong>s unbußfertigen Volkes voraus. All <strong>de</strong>nen, die seine freundliche Einladung zum<br />

Festmahl geringschätzig verworfen hatten, galten die Worte: „Ich sage euch, daß <strong>de</strong>r Männer<br />

keiner, die gela<strong>de</strong>n waren, mein Abendmahl schmecken wird.“ Lukas 14,24. Sehr wertvoll<br />

waren die <strong>de</strong>n Jüngern gegebenen Unterweisungen. <strong>Die</strong> Gleichnisse von <strong>de</strong>r zudringlichen<br />

Witwe und von <strong>de</strong>m Freund, <strong>de</strong>r zu mitternächtlicher Stun<strong>de</strong> um Brot bat, bekräftigten seine<br />

Worte: „Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so wer<strong>de</strong>t ihr fin<strong>de</strong>n; klopfet an, so wird euch<br />

aufgetan.“ Lukas 11,9. Oft wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r schwanken<strong>de</strong> Glaube <strong>de</strong>r Jünger gestärkt, wenn sie sich<br />

<strong>de</strong>r Worte <strong>Christi</strong> erinnerten: „Sollte Gott nicht auch Recht schaffen seinen Auserwählten, die<br />

337


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

zu ihm Tag und Nacht rufen, und sollte er‘s bei ihnen lange hinziehen? Ich sage euch: Er wird<br />

ihnen ihr Recht schaffen in Kürze.“ Lukas 18,7.8.<br />

Jesus wie<strong>de</strong>rholte auch das wun<strong>de</strong>rbare Gleichnis vom verlorenen Schaf und führte <strong>de</strong>ssen<br />

Be<strong>de</strong>utung noch weiter aus in <strong>de</strong>n Gleichnissen vom verlorenen Groschen und vom verlorenen<br />

Sohn. <strong>Die</strong> Jünger konnten diese kostbaren Unterweisungen ihres Meisters noch nicht völlig<br />

verstehen; aber nach <strong>de</strong>r Ausgießung <strong>de</strong>s Heiligen Geistes, als sie die Ernte <strong>de</strong>r Hei<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>n<br />

eifersüchtigen Zorn <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n erlebten, verstan<strong>de</strong>n sie die Lehre vom verlorenen Sohn besser.<br />

Nun konnten sie die Freu<strong>de</strong> erfahren, die in <strong>de</strong>n Worten liegt: „Du solltest aber fröhlich und<br />

guten Mutes sein; <strong>de</strong>nn dieser <strong>de</strong>in Bru<strong>de</strong>r war tot und ist wie<strong>de</strong>r lebendig gewor<strong>de</strong>n, er war<br />

verloren und ist wie<strong>de</strong>rgefun<strong>de</strong>n.“ Lukas 15,32. Da sie in Jesu Namen hinausgingen und<br />

Schmach, Armut und Verfolgung auf sich nahmen, gewannen sie Kraft aus <strong>de</strong>r<br />

tröstlichen Auffor<strong>de</strong>rung <strong>Christi</strong>, die er auf seiner letzten Reise von Galiläa nach Jerusalem<br />

ausgesprochen hatte: „Fürchte dich nicht, du kleine Her<strong>de</strong>! Denn es ist eures Vaters<br />

Wohlgefallen, euch das Reich zu geben. Verkauft, was ihr habt, und gebt Almosen. Macht euch<br />

Beutel, die nicht veralten, einen Schatz, <strong>de</strong>r nimmer abnimmt, im Himmel, wo kein <strong>Die</strong>b<br />

zukommt und <strong>de</strong>n keine Motten fressen. Denn wo euer Schatz ist, da wird auch euer Herz<br />

sein.“ Lukas 22,32-34.<br />

338


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 54: Der barmherzige Samariter<br />

In <strong>de</strong>m Gleichnis vom barmherzigen Samariter veranschaulicht Christus das Wesen wahrer<br />

Religion und zeigt, daß diese nicht darin besteht, Lehrsätze und Glaubensbekenntnisse von sich<br />

zu geben o<strong>de</strong>r religiöse Zeremonien zu erfüllen, son<strong>de</strong>rn Werke <strong>de</strong>r Liebe zu tun, nach <strong>de</strong>m<br />

Wohl <strong>de</strong>s Nächsten zu streben und in wahrer Güte zu han<strong>de</strong>ln. Als Jesus das Volk lehrte, „da<br />

stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muß ich tun, daß ich das<br />

ewige Leben ererbe“? Lukas 10,25. In atemloser Spannung erwarteten die versammelten<br />

Priester und Rabbiner Jesu Antwort. Sie hofften, durch diese Frage <strong>de</strong>m Herrn eine gute Falle<br />

gestellt zu haben; aber <strong>de</strong>r Heiland überging diese Streitfrage und veranlaßte <strong>de</strong>n Fragen<strong>de</strong>n,<br />

sich selbst die Antwort zu geben. „Was steht im Gesetz geschrieben?“ fragte er. „Wie liesest<br />

du?“ <strong>Die</strong> Ju<strong>de</strong>n beschuldigten Jesus ständig, daß er das auf Sinai gegebene Gesetz<br />

geringschätze; dabei grün<strong>de</strong>te er die Frage <strong>de</strong>r Seligkeit gera<strong>de</strong> auf das Halten <strong>de</strong>r göttlichen<br />

Gebote.<br />

Der Schriftgelehrte erwi<strong>de</strong>rte: „Du sollst Gott, <strong>de</strong>inen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von<br />

ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüte und <strong>de</strong>inen Nächsten wie dich selbst.“<br />

Jesus sprach: „Du hast recht geantwortet; tue das, so wirst du leben.“ Lukas 10,26-28. Der<br />

Schriftgelehrte war mit <strong>de</strong>r Stellung und <strong>de</strong>n Werken <strong>de</strong>r Pharisäer nicht zufrie<strong>de</strong>n. Er hatte die<br />

Schriften erforscht mit <strong>de</strong>m Verlangen, ihre eigentliche Be<strong>de</strong>utung zu verstehen. Er war an <strong>de</strong>r<br />

Sache entschei<strong>de</strong>nd interessiert und hatte aufrichtig gefragt: „Was muß ich tun?“ In seiner<br />

Antwort, in <strong>de</strong>r er erklärte, was das Gesetz for<strong>de</strong>rte, überging er die Vielzahl <strong>de</strong>r zeremoniellen<br />

und rituellen Vorschriften. Er legte diesen keinerlei Wert bei, statt <strong>de</strong>ssen erwähnte er die<br />

bei<strong>de</strong>n großen Grundsätze, in <strong>de</strong>nen das ganze Gesetz und die Propheten ruhten. <strong>Die</strong>se Antwort,<br />

die Christus lobte, brachte <strong>de</strong>n Erlöser gegenüber <strong>de</strong>n Rabbinern in eine bessere Position. Sie<br />

konnten ihn dafür, daß er das gutgeheißen hatte, was von einem Ausleger <strong>de</strong>s Gesetzes geäußert<br />

wor<strong>de</strong>n war, nicht verurteilen.<br />

„Tue das, so wirst du leben“, sagte Jesus. Er stellte das Gesetz als eine göttliche Einheit hin<br />

und lehrte hierdurch, daß es unmöglich sei, die eine Verordnung zu halten und die an<strong>de</strong>re zu<br />

verachten; <strong>de</strong>nn für alle gelte <strong>de</strong>r gleiche Grundsatz. Der Gehorsam gegen das ganze Gesetz<br />

bestimme das Schicksal <strong>de</strong>s Menschen. Völlige Liebe zu Gott und selbstlose Nächstenliebe<br />

seien die unerläßlichen Voraussetzungen für ein christliches Leben. Der Schriftgelehrte<br />

erkannte sich als Übertreter <strong>de</strong>s Gesetzes; Jesu tiefschürfen<strong>de</strong> Worte hatten ihn davon<br />

überzeugt. <strong>Die</strong> Gerechtigkeit <strong>de</strong>s Gesetzes, die er zu verstehen glaubte, hatte er nicht geübt; er<br />

hatte seine Mitmenschen nicht geliebt. Tiefe Reue war nötig; doch statt Buße zu tun, versuchte<br />

er sich zu rechtfertigen. Statt die Wahrheit anzuerkennen, versuchte er zu zeigen, wie schwer<br />

die Erfüllung <strong>de</strong>s Gesetzes sei. So hoffte er sein Gewissen zu beruhigen und sich vor <strong>de</strong>m Volk<br />

zu rechtfertigen. Jesu Worte hatten <strong>de</strong>utlich gemacht, wie unnötig seine Frage gewesen war, da<br />

er sie sich selbst beantworten konnte. Dennoch fragte er weiter: „Wer ist <strong>de</strong>nn mein<br />

Nächster?“ Lukas 10,29.<br />

339


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

<strong>Die</strong>se Frage verursachte gera<strong>de</strong> unter <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n langatmige Erörterungen. Was ihr<br />

Verhältnis zu <strong>de</strong>n Hei<strong>de</strong>n und Samaritern betraf, so hatten sie keine Zweifel; diese waren<br />

Frem<strong>de</strong> und Fein<strong>de</strong>. Wo aber bestand ein Unterschied innerhalb ihres eigenen Volkes, wo ein<br />

Unterschied zwischen <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Klassen? Wen sollte <strong>de</strong>r Priester, <strong>de</strong>r Rabbiner, <strong>de</strong>r<br />

Älteste als Nächsten ansehen? Ihr ganzes Leben verbrachten sie unter sorgfältigster Beachtung<br />

ihrer Satzungen, Verordnungen und gottesdienstlichen Gebräuche; dadurch wollten sie sich rein<br />

erhalten. Sie glaubten sich durch das Zusammensein mit <strong>de</strong>r unwissen<strong>de</strong>n und sorglosen Menge<br />

zu beschmutzen und zur Reinigung dann beschwerliche Anstrengung nötig zu haben. Sollten sie<br />

etwa auch einen „Unreinen“ als ihren Nächsten betrachten?<br />

Auch jetzt weigerte sich Jesus, zu diesen Streitfragen Stellung zu nehmen. Er ta<strong>de</strong>lte nicht<br />

die Frömmelei <strong>de</strong>rer, die ihn arglistig beobachteten, um ihn verdammen zu können, son<strong>de</strong>rn er<br />

erklärte seinen Zuhörern durch ein Gleichnis aus <strong>de</strong>m Leben das Wesen <strong>de</strong>r von Gott geborenen<br />

Liebe. <strong>Die</strong> Herzen <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>n gerührt; <strong>de</strong>r Schriftgelehrte bekannte die Wahrheit, die<br />

ihm Jesus gezeigt hatte.<strong>Die</strong> einzige Möglichkeit, die Dunkelheit zu zerteilen, ist, das Licht<br />

einzulassen; ebenso kann <strong>de</strong>r Irrtum nur durch die Wahrheit bezwungen wer<strong>de</strong>n. Durch die<br />

Offenbarung <strong>de</strong>r Liebe Gottes zeigen sich die Fehler und Sün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Herzens, das sich selbst<br />

gern zum Mittelpunkt <strong>de</strong>s Lebens macht.<br />

„Es war ein Mensch“, sprach Jesus, „<strong>de</strong>r ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel<br />

unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und gingen davon und ließen ihn halbtot<br />

liegen. Es begab sich aber von ungefähr, daß ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und da er<br />

ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit; da er kam zu <strong>de</strong>r Stätte und sah ihn, ging<br />

er vorüber.“ Lukas 10,30.32. <strong>Die</strong>s war keine erfun<strong>de</strong>ne Geschichte, son<strong>de</strong>rn ein aktuelles<br />

Geschehen. Sie war bekannt, so wie sie erzählt wur<strong>de</strong>. Der Priester und <strong>de</strong>r Levit die<br />

vorübergingen, waren in <strong>de</strong>r Gruppe die Jesu Worten lauschte. (Siehe DA 499)<br />

<strong>Die</strong> von Jerusalem nach Jericho reisten, mußten durch einen Teil <strong>de</strong>r Wüste von Judäa<br />

ziehen. <strong>Die</strong> Straße führte einen einsamen, felsigen Hohlweg hinunter, wo Banditen ihr Unwesen<br />

trieben und sich schon oft Gewalttaten abgespielt hatten. Hier geschah es nach <strong>de</strong>m Gleichnis,<br />

daß man <strong>de</strong>n Wan<strong>de</strong>rer angriff und alles Wertvollen beraubte, ihn schlug und verletzte und<br />

schließlich halbtot am Wegrand liegen ließ. Als dieser so dalag, kam ein Priester vorbei, richtete<br />

aber kaum <strong>de</strong>n Blick auf <strong>de</strong>n Verletzten. Dann erschien ein Levit, blieb neugierig stehen und<br />

sah sich <strong>de</strong>n Überfallenen an. Er wußte genau, was er hier zu tun hatte; aber das war keine<br />

angenehme Pflicht. Er wünschte, nicht diesen Weg gegangen zu sein, dann hätte er <strong>de</strong>n<br />

Verwun<strong>de</strong>ten nicht gesehen. Er meinte, daß ihn dieser Fall nicht betraf, und ging weiter.<br />

Bei<strong>de</strong> Männer beklei<strong>de</strong>ten ein geistliches Amt und behaupteten, Ausleger <strong>de</strong>r Schrift zu sein.<br />

Sie waren beson<strong>de</strong>rs erwählt, <strong>de</strong>m Volk gegenüber als Stellvertreter Gottes aufzutreten. Sie<br />

sollten mitfühlen „mit <strong>de</strong>nen, die da unwissend sind und irren“ (Hebräer 5,2), damit diese die<br />

unermeßlich große Liebe Gottes zur Menschheit erkennten. <strong>Die</strong> Aufgabe, zu <strong>de</strong>r sie berufen<br />

waren, war die gleiche, die <strong>de</strong>r Heiland als die seine mit <strong>de</strong>n Worten beschrieb: „Der Geist <strong>de</strong>s<br />

Herrn ist bei mir, darum weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium <strong>de</strong>n Armen;<br />

er hat mich gesandt, zu predigen <strong>de</strong>n Gefangenen, daß sie los sein sollen, und <strong>de</strong>n Blin<strong>de</strong>n, daß<br />

340


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

sie sehend wer<strong>de</strong>n, und <strong>de</strong>n Zerschlagenen, daß sie frei und ledig sein sollen, zu verkündigen<br />

das Gna<strong>de</strong>njahr <strong>de</strong>s Herrn.“ Lukas 4,18.19.<br />

<strong>Die</strong> Engel im Himmel sehen das Elend <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r Gottes auf Er<strong>de</strong>n; sie sind bereit, mit <strong>de</strong>n<br />

Menschen zusammenzuwirken, um Bedrückung und Lei<strong>de</strong>n zu lin<strong>de</strong>rn. Gott hatte in seiner<br />

Vorsehung <strong>de</strong>n Priester und <strong>de</strong>n Leviten <strong>de</strong>n Weg geführt, an <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Verwun<strong>de</strong>te lag, damit<br />

sie sehen möchten, daß hier ein Mensch ihrer Hilfe und Barmherzigkeit bedurfte. Der Himmel<br />

wartete darauf, ob sich die Herzen dieser Männer von menschlichem Weh bewegen ließen. Der<br />

Heiland selbst hatte einst die Ju<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Wüste belehrt; aus <strong>de</strong>r Wolken- und <strong>de</strong>r Feuersäule<br />

heraus hatte er eine ganz an<strong>de</strong>re Lehre gegeben, als sie das Volk jetzt von seinen Priestern und<br />

Schriftgelehrten empfing. <strong>Die</strong> Fürsorge <strong>de</strong>s Gesetzes erstreckte sich sogar auf die unter uns<br />

stehen<strong>de</strong> Tierwelt, die ihren Wünschen und Nöten keinen beredten Ausdruck zu geben vermag.<br />

Gott hatte durch Mose <strong>de</strong>n Israeliten hierüber beson<strong>de</strong>re Vorschriften gegeben: „Wenn du <strong>de</strong>m<br />

Rind o<strong>de</strong>r Esel <strong>de</strong>ines Fein<strong>de</strong>s begegnest, die sich verirrt haben, so sollst du sie ihm wie<strong>de</strong>r<br />

zuführen. Wenn du <strong>de</strong>n Esel <strong>de</strong>ines Wi<strong>de</strong>rsachers unter seiner Last liegen siehst, so laß ihn ja<br />

nicht im Stich, son<strong>de</strong>rn hilf mit ihm zusammen <strong>de</strong>m Tiere auf.“ 2.Mose 23,4.5. In seinem<br />

Gleichnis von <strong>de</strong>m unter die Räuber Gefallenen stellte Jesus <strong>de</strong>n Fall eines lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />

Mitbru<strong>de</strong>rs dar. Wieviel mehr Mitleid hätten ihre Herzen für ihn als für ein Lasttier empfin<strong>de</strong>n<br />

sollen! Durch Mose war ihnen die Botschaft verkündigt wor<strong>de</strong>n, daß <strong>de</strong>r Herr, ihr Gott, „<strong>de</strong>r<br />

große Gott, <strong>de</strong>r Mächtige und <strong>de</strong>r Schreckliche“ sei, <strong>de</strong>r Recht schafft <strong>de</strong>n Waisen und Witwen<br />

und hat die Fremdlinge lieb. Aus diesem Grun<strong>de</strong> gebot er: „Darum sollt ihr auch die Fremdlinge<br />

lieben.“ 5.Mose 10,17-19. — „Du sollst ihn lieben wie dich selbst.“ 3.Mose 19,34.<br />

Hiob hatte erklärt: „Kein Frem<strong>de</strong>r durfte draußen zur Nacht bleiben, son<strong>de</strong>rn meine Tür tat<br />

ich <strong>de</strong>m Wan<strong>de</strong>rer auf.“ Hiob 31,32. Und als die bei<strong>de</strong>n Engel in menschlicher Gestalt nach<br />

Sodom kamen, neigte sich Lot bis zur Er<strong>de</strong> und sprach: „Siehe, liebe Herren, kehrt doch ein im<br />

Hause eures Knechts und bleibt über Nacht.“ 1.Mose 19,2. Mit allen diesen Lehren waren <strong>de</strong>r<br />

Priester und <strong>de</strong>r Levit vertraut, aber sie hatten sie nicht ins praktische Leben übertragen. In <strong>de</strong>r<br />

Schule blin<strong>de</strong>n nationalen Eiferns waren sie eigennützig und engherzig gewor<strong>de</strong>n und son<strong>de</strong>rten<br />

sich ab. Als sie auf <strong>de</strong>n Verwun<strong>de</strong>ten blickten, vermochten sie nicht zu erkennen, ob dieser zu<br />

ihrem Volk gehörte o<strong>de</strong>r nicht. Sie dachten nur, es könnte ein Samariter sein, und <strong>de</strong>shalb<br />

wandten sie ihm <strong>de</strong>n Rücken.<br />

In <strong>de</strong>r Handlungsweise <strong>de</strong>s Priesters und <strong>de</strong>s Leviten, wie sie Christus beschrieben hatte, sah<br />

<strong>de</strong>r Schriftgelehrte nichts, was <strong>de</strong>n Anfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s Gesetzes wi<strong>de</strong>rsprochen hätte! Doch <strong>de</strong>r<br />

Heiland erzählte weiter: „Ein Samariter aber reiste und kam dahin; und da er ihn sah, jammerte<br />

ihn sein, ging zu ihm, goß Öl und Wein auf seine Wun<strong>de</strong>n und verband sie ihm und hob ihn auf<br />

sein Tier und führte ihn in eine Herberge und pflegte sein. Des an<strong>de</strong>rn Tages zog er heraus zwei<br />

Silbergroschen und gab sie <strong>de</strong>m Wirte und sprach zu ihm: Pflege sein, und so du was mehr<br />

wirst dartun, will ich dir‘s bezahlen, wenn ich wie<strong>de</strong>rkomme.“ Lukas 10,35.<br />

<strong>Die</strong> Erzählung war been<strong>de</strong>t. Jesus schaute <strong>de</strong>n Schriftgelehrten lange an und fragte:<br />

„Welcher dünkt dich, <strong>de</strong>r unter diesen Dreien <strong>de</strong>r Nächste sei gewesen <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r unter die<br />

Räuber gefallen war?“ Lukas 10,36. Der Schriftgelehrte vermied selbst jetzt noch, <strong>de</strong>n Namen<br />

341


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Samariter auf seine Lippen zu nehmen, und antwortete nur: „Der die Barmherzigkeit an ihm<br />

tat.“ Da entließ ihn <strong>de</strong>r Herr mit <strong>de</strong>n Worten: „So gehe hin und tue <strong>de</strong>sgleichen!“ Lukas<br />

10,37. Auf diese Weise wur<strong>de</strong> die Frage: „Wer ist <strong>de</strong>nn mein Nächster?“ für immer<br />

beantwortet. Christus hat gezeigt, daß unser Nächster nicht nur <strong>de</strong>r ist, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>rselben<br />

Gemeinschaft lebt wie wir, <strong>de</strong>r unseren Glauben teilt. Geschlecht, Rang und Rasse bil<strong>de</strong>n keine<br />

Schranke. Unser Nächster ist je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r unmittelbar unsere Hilfe nötig hat, je<strong>de</strong> Seele, die<br />

verwun<strong>de</strong>t und zerschlagen ist von ihrem Wi<strong>de</strong>rsacher, je<strong>de</strong>s Geschöpf, das Gott geschaffen hat<br />

und das sein Eigentum ist.<br />

In <strong>de</strong>m Gleichnis vom barmherzigen Samariter beschrieb uns <strong>de</strong>r Heiland sein Wesen und<br />

seine Aufgabe. <strong>Die</strong> Menschen sind von Satan betrogen, geschlagen, beraubt und <strong>de</strong>m Ver<strong>de</strong>rben<br />

überlassen wor<strong>de</strong>n, aber <strong>de</strong>r Heiland hat sich ihrer Hilflosigkeit erbarmt. Er verließ seine<br />

Herrlichkeit, um uns zu retten. Er fand uns <strong>de</strong>m Untergang nahe und setzte sich für uns ein; er<br />

heilte unsere Wun<strong>de</strong>n, be<strong>de</strong>ckte uns mit <strong>de</strong>m Kleid <strong>de</strong>r Gerechtigkeit, gab uns eine<br />

Zufluchtsstätte und versorgte uns mit allem Nötigen. Er starb, um uns zu erlösen. Auf sein<br />

Beispiel weisend, sagte er zu seinen Nachfolgern: „Das gebiete ich euch, daß ihr euch<br />

untereinan<strong>de</strong>r liebet.“ Johannes 15,17. „Ein neu Gebot gebe ich euch, daß ihr euch<br />

untereinan<strong>de</strong>r liebet, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einan<strong>de</strong>r liebhabet.“ Johannes<br />

13,34.<br />

Der Schriftgelehrte hatte gefragt: „Was muß ich tun?“ Und Jesus, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Liebe zu Gott<br />

und <strong>de</strong>n Menschen das Wesen <strong>de</strong>s Gesetzes erfüllt sieht, hatte gesagt: „Tue das, so wirst du<br />

leben.“ Der Samariter im Gleichnis war <strong>de</strong>n Eingebungen eines gütigen, liebevollen Herzens<br />

gefolgt und hatte sich dadurch als ein „Täter <strong>de</strong>s Gesetzes“ erwiesen. Christus gebot <strong>de</strong>m<br />

Schriftgelehrten: „Gehe hin und tue <strong>de</strong>sgleichen!“ Nicht nur Worte, son<strong>de</strong>rn auch Taten<br />

erwartet die Welt von <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn Gottes. „Wer da sagt, daß er in ihm bleibt, <strong>de</strong>r soll auch<br />

wan<strong>de</strong>ln, gleichwie er gewan<strong>de</strong>lt ist.“ 1.Johannes 2,6. <strong>Die</strong>se Lehre ist für uns heute ebenso<br />

nötig, wie sie damals zur Zeit Jesu nötig war. Selbstsucht und starres Formenwesen haben das<br />

wärmen<strong>de</strong> Feuer <strong>de</strong>r Liebe fast ausgelöscht und die Tugen<strong>de</strong>n vertrieben, die <strong>de</strong>n christlichen<br />

Charakter auszeichnen. Viele, die <strong>Christi</strong> Namen tragen, haben vergessen, daß Christen Christus<br />

darstellen sollen. Wer nicht durch Liebe und Hingabe für das Wohl <strong>de</strong>s Nächsten wirkt — in<br />

<strong>de</strong>r Familie, in <strong>de</strong>r Nachbarschaft, in <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r wo immer wir sein mögen —, ist kein<br />

Christ, ganz gleich, welchen Glaubens er auch sei.<br />

Der Heiland hat seine Belange mit <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Menschheit verknüpft, und er bittet uns, mit<br />

ihm eins zu wer<strong>de</strong>n, damit die Menschheit gerettet wer<strong>de</strong>. „Umsonst habt ihr‘s empfangen,<br />

umsonst gebt es auch.“ Matthäus 10,8. <strong>Die</strong> Sün<strong>de</strong> ist das größte aller Übel, und es ist unsere<br />

Aufgabe, uns <strong>de</strong>s Sün<strong>de</strong>rs zu erbarmen und ihm zu helfen. Viele sind vom Irrtum umfangen;<br />

viele fühlen ihre Schmach und erkennen ihre Torheit und haben großes Verlangen nach Worten<br />

<strong>de</strong>r Ermutigung; sie erkennen ihre Fehler und Irrtümer die sie fast zur Verzweiflung bringen.<br />

Wir wer<strong>de</strong>n diese Seelen nicht vernachlässigen. Wenn wir Christen sind, wer<strong>de</strong>n wir nicht an<br />

ihnen vorübergehen o<strong>de</strong>r uns von <strong>de</strong>nen abson<strong>de</strong>rn, die unserer Hilfe so dringend bedürfen.<br />

342


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Wenn wir einen Menschen im Elend sehen — er sei durch Not o<strong>de</strong>r durch Sün<strong>de</strong> dahin geraten<br />

—, wer<strong>de</strong>n wir niemals sagen: dieser Fall geht mich nichts an.<br />

„Helfet ihm wie<strong>de</strong>r zurecht mit sanftmütigem Geist, ihr, die ihr geistlich seid.“ Galater 6,1.<br />

Drängt durch Glauben und Gebet die Macht <strong>de</strong>s Fein<strong>de</strong>s zurück. Sprecht Worte <strong>de</strong>s Glaubens<br />

und <strong>de</strong>r Ermutigung, die für <strong>de</strong>n Zerschlagenen und Verwun<strong>de</strong>ten wie heilen<strong>de</strong>r Balsam sein<br />

wer<strong>de</strong>n. Viele, viele sind mü<strong>de</strong> und in diesem großen Lebenskampf enttäuscht wor<strong>de</strong>n, während<br />

ein einziges Wort <strong>de</strong>r Aufmunterung sie gestärkt hätte, um überwin<strong>de</strong>n zu können. Niemals<br />

sollten wir an einem lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Menschen vorübergehen, ohne zu versuchen, ihm Trost zu<br />

geben, mit <strong>de</strong>m wir von Gott getröstet wer<strong>de</strong>n. All dies ist nichts an<strong>de</strong>res als die Erfüllung einer<br />

Grundi<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Gesetzes — jenes Grundgedankens, <strong>de</strong>r durch das Gleichnis vom barmherzigen<br />

Samariter veranschaulicht und im Leben Jesu <strong>de</strong>utlich wur<strong>de</strong>. Sein Wesen offenbart <strong>de</strong>n<br />

eigentlichen Sinn <strong>de</strong>s Gesetzes und zeigt, was es be<strong>de</strong>utet, unseren Nächsten so zu lieben wie<br />

uns selbst. Wenn die Kin<strong>de</strong>r Gottes allen Menschen gegenüber Barmherzigkeit, Freundlichkeit<br />

und Liebe bekun<strong>de</strong>n, bezeugen sie gleichzeitig das Wesen <strong>de</strong>r Gesetze <strong>de</strong>s Himmels. Sie legen<br />

von <strong>de</strong>r Tatsache Zeugnis ab, daß das Gesetz <strong>de</strong>s Herrn vollkommen ist und die Seele<br />

erquickt. Psalm 19,8. Wer immer es versäumt, diese Liebe zu beweisen, bricht das Gesetz, das<br />

er zu achten vorgibt. Denn <strong>de</strong>r Geist, <strong>de</strong>n wir unseren Brü<strong>de</strong>rn gegenüber offenbaren, zeigt,<br />

welchen Geist wir Gott gegenüber bekun<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> Liebe Gottes im Herzen ist die einzige Quelle<br />

<strong>de</strong>r Liebe zu unserem Nächsten. „Wer seinen Bru<strong>de</strong>r nicht liebt, <strong>de</strong>n er sieht, wie kann er Gott<br />

lieben, <strong>de</strong>n er nicht sieht?“ 1.Johannes 4,20. „Niemand hat Gott jemals gesehen. Wenn wir uns<br />

untereinan<strong>de</strong>r lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist völlig in uns.“ 1.Johannes 4,12.<br />

343


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 55: Nicht mit äußerlichen Gebär<strong>de</strong>n ...<br />

Einige Pharisäer waren an Jesus mit <strong>de</strong>r Frage herangetreten: „Wann kommt das Reich<br />

Gottes?“ Lukas 17,20. Es war mehr als drei Jahre her, seit Johannes <strong>de</strong>r Täufer die Botschaft<br />

verkün<strong>de</strong>t hatte, die wie ein Trompetenstoß ins Land hinaus gedrungen war: „Das Himmelreich<br />

ist nahe herbeigekommen!“ Matthäus 3,2. <strong>Die</strong>se Pharisäer sahen jedoch noch keine Anzeichen<br />

für die Aufrichtung <strong>de</strong>s Reiches Gottes. Viele von ihnen hatten Johannes verworfen und<br />

leisteten auch Jesus auf Schritt und Tritt Wi<strong>de</strong>rstand, wobei sie an<strong>de</strong>uteten, daß Jesu Sendung<br />

gescheitert sei.<br />

Jesus antwortete: „Das Reich Gottes kommt nicht mit äußerlichen Gebär<strong>de</strong>n; man wird auch<br />

nicht sagen: Siehe, hier! o<strong>de</strong>r: da ist es! Denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in<br />

euch.“ Lukas 17,20.21 (Jubiläumsbibel). Das Reich Gottes beginnt im Herzen <strong>de</strong>r Menschen.<br />

Schaut nicht hier o<strong>de</strong>r dort hin, ob irdische Mächte sein Kommen anzeigen. Darauf wandte<br />

Jesus sich seinen Jüngern zu und sagte: „Es wird die Zeit kommen, daß ihr wer<strong>de</strong>t begehren, zu<br />

sehen einen <strong>de</strong>r Tage <strong>de</strong>s Menschensohnes, und wer<strong>de</strong>t ihn nicht sehen.“ Lukas 17,22. Weil<br />

weltliche Prachtentfaltung diese Tage nicht begleiten wird, steht ihr in <strong>de</strong>r Gefahr, die<br />

Herrlichkeit meiner Sendung nicht zu erfassen. Ihr seid euch darüber nicht im klaren, welch<br />

großes Vorrecht es für euch ist, <strong>de</strong>n in menschlicher Gestalt unter euch zu haben, <strong>de</strong>r das Leben<br />

und das Licht <strong>de</strong>r Menschen ist. Es wer<strong>de</strong>n Zeiten kommen, in <strong>de</strong>nen ihr euch voller Sehnsucht<br />

nach <strong>de</strong>n Gelegenheiten zurücksehnt, die ihr heute habt, nämlich mit <strong>de</strong>m Sohn Gottes zu<br />

wan<strong>de</strong>ln und mit ihm zu sprechen.<br />

Wegen ihrer selbstsüchtigen und irdischen Gesinnung konnten nicht einmal Jesu Jünger die<br />

geistliche Herrlichkeit begreifen, die er ihnen offenbaren wollte. Erst nach <strong>Christi</strong> Himmelfahrt<br />

zum Vater und nach <strong>de</strong>r Ausgießung <strong>de</strong>s Heiligen Geistes auf die Gläubigen schätzten die<br />

Jünger in vollem Umfang das Wesen und die Sendung <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s. Als sie die Geistestaufe<br />

erhalten hatten, wur<strong>de</strong> ihnen nach und nach bewußt, daß sie in <strong>de</strong>r Gegenwart <strong>de</strong>s Herrn <strong>de</strong>r<br />

Herrlichkeit geweilt hatten. Als sie sich wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Worte <strong>Christi</strong> erinnerten, wur<strong>de</strong>n ihre Sinne<br />

geschärft, so daß sie die Prophezeiungen verstan<strong>de</strong>n und auch <strong>de</strong>n Sinn <strong>de</strong>r Wun<strong>de</strong>r begriffen,<br />

die er getan hatte. <strong>Die</strong> Wun<strong>de</strong>rtaten seines Lebens zogen an ihnen vorüber, und es war ihnen,<br />

als seien sie aus einem Traum erwacht. Da trat ihnen klar vor Augen: „Das Wort ward Fleisch<br />

und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als <strong>de</strong>s eingebornen<br />

Sohnes vom Vater, voller Gna<strong>de</strong> und Wahrheit.“ Johannes 1,14. Christus war tatsächlich von<br />

Gott her in eine sün<strong>de</strong>nbehaftete Welt gekommen, um die gefallenen Kin<strong>de</strong>r Adams zu erretten.<br />

Jetzt kamen sich die Jünger nicht mehr so wichtig vor wie zuvor, und sie wur<strong>de</strong>n nicht mü<strong>de</strong>,<br />

seinen Worten und Taten nachzu<strong>de</strong>nken. Seine Lehren, die sie vorher kaum verstan<strong>de</strong>n hatten,<br />

erschienen ihnen nun wie eine neue Offenbarung. <strong>Die</strong> heiligen Schriften wur<strong>de</strong>n für sie zu<br />

einem neuen Buch.<br />

Durch das Studium <strong>de</strong>r Weissagungen, die von Christus Zeugnis ablegten, kamen die Jünger<br />

Gott näher und lernten von <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r gen Himmel gefahren war, um dort das Werk zu vollen<strong>de</strong>n,<br />

das er auf Er<strong>de</strong>n begonnen hatte. Ferner erkannten sie, daß in ihm eine Weisheit beheimatet<br />

344


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

war, die kein Mensch ohne göttliche Hilfe verstehen konnte. Sie bedurften <strong>de</strong>r Hilfe <strong>de</strong>ssen, von<br />

<strong>de</strong>m Könige, Propheten und fromme Männer geweissagt hatten. Voller Staunen lasen sie immer<br />

wie<strong>de</strong>r die Schil<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Propheten von seinem Wesen und seinen Taten. Wie mangelhaft<br />

hatten sie doch das prophetische Wort verstan<strong>de</strong>n! Wie lange hatte es gedauert, ehe sie die<br />

großen Wahrheiten angenommen hatten, die von Christus Zeugnis ablegten! Als sie ihn —<br />

Mensch unter Menschen — in seiner Erniedrigung erlebten, vermochten sie noch nicht das<br />

Geheimnis seiner Fleischwerdung und die zwei Seiten seiner Natur zu begreifen. Ihre Augen<br />

waren gehalten, so daß sie die Gottheit in menschlicher Gestalt nicht völlig erkannten. Nach<strong>de</strong>m<br />

sie aber durch <strong>de</strong>n heiligen Geist erleuchtet wor<strong>de</strong>n waren, wie sehnten sie sich danach, Jesus<br />

wie<strong>de</strong>rzusehen und ihm zu Füßen zu sitzen! Wie sehr wünschten sie doch, zu ihm gehen zu<br />

könne mit <strong>de</strong>r Bitte, ihnen die Schriftworte zu erklären, die sie nicht verstehen konnten! Wie<br />

aufmerksam hätten sie jetzt seinen Worten gelauscht! Was hatte wohl Christus damit gemeint,<br />

als er sagte: „Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr könnt es jetzt nicht tragen.“ Johannes<br />

16,12. Wie eifrig waren sie bemüht, all das zu erfassen! Sie waren bekümmert, daß ihr Glaube<br />

so schwach gewesen war, daß ihre Gedanken <strong>de</strong>m Ziel so fern geblieben waren und sie die<br />

Wirklichkeit nicht begriffen hatten.<br />

Gott hatte einen Herold gesandt, <strong>de</strong>r die Ankunft <strong>Christi</strong> verkün<strong>de</strong>n und die Aufmerksamkeit<br />

<strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n wie <strong>de</strong>r ganzen Welt auf Jesu Sendung lenken sollte, damit sich die Menschen auf<br />

seine Aufnahme vorbereiten könnten. <strong>Die</strong> außeror<strong>de</strong>ntliche Persönlichkeit, die Johannes<br />

angekündigt hatte, weilte bereits mehr als dreißig Jahre unter ihnen, sie aber hatten ihn nicht als<br />

<strong>de</strong>n Gottgesandten erkannt. Reue überkam die Jünger, weil sie es zugelassen hatten, daß <strong>de</strong>r<br />

herrschen<strong>de</strong> Unglaube auch ihre Gedanken durchtränkt und ihr Verständnis getrübt hatte. Das<br />

Licht dieser dunklen Welt hatte in <strong>de</strong>r Finsternis geschienen, doch sie hatten nicht erkannt,<br />

woher seine Strahlen kamen. Jetzt fragten sie sich, weshalb sie so gelebt hatten, daß Christus sie<br />

ta<strong>de</strong>ln mußte. Oft wie<strong>de</strong>rholten sie seine Re<strong>de</strong>n und dachten: Warum ließen wir es zu, daß<br />

irdische Gedanken und <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rstand <strong>de</strong>r Priester und Rabbiner uns so verwirrten, daß wir es<br />

nicht begriffen, daß ein Größerer als Mose unter uns weilte und ein Weiserer als Salomo uns<br />

unterwies? Wie taub waren unsere Ohren, wie dürftig unser Verständnis!<br />

Thomas wollte nicht glauben, ehe er nicht seinen Finger in Jesu Wun<strong>de</strong> gelegt hatte, die von<br />

römischen Soldaten verursacht wor<strong>de</strong>n war. Petrus verleugnete ihn, als Christus erniedrigt und<br />

verworfen wur<strong>de</strong>. <strong>Die</strong>se schmerzlichen Erinnerungen stan<strong>de</strong>n ihnen jetzt <strong>de</strong>utlich vor Augen.<br />

Sie waren zwar in seiner Nähe gewesen, hatten ihn aber we<strong>de</strong>r gekannt noch richtig<br />

eingeschätzt. Wie waren ihre Herzen bewegt, als sie nun ihren Unglauben einsahen! Als sich<br />

jetzt die Priester und Oberen gegen sie verbün<strong>de</strong>ten, sie vor <strong>de</strong>n Hohen Rat stellten und ins<br />

Gefängnis warfen, freuten sie sich, daß sie als Nachfolger <strong>Christi</strong> würdig waren, „um Seines<br />

Namen willen Schmach zu lei<strong>de</strong>n“. Apostelgeschichte 5,41. Sie waren beglückt, vor Engeln und<br />

Menschen beweisen zu können, daß sie die Herrlichkeit <strong>Christi</strong> erkannt hatten und unter<br />

Hintansetzung aller Güter in seiner Nachfolge wan<strong>de</strong>lten.<br />

Wie in <strong>de</strong>n Tagen <strong>de</strong>r Apostel kann auch heute <strong>de</strong>r Mensch die Herrlichkeit <strong>Christi</strong> ohne<br />

Erleuchtung durch <strong>de</strong>n Heiligen Geist nicht begreifen. <strong>Die</strong> Wahrheit und das Wirken Gottes<br />

345


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

wer<strong>de</strong>n von einer Christenheit, die sich <strong>de</strong>r Welt zugewandt und sich mit ihr auf einen<br />

Kompromiß eingelassen hat, nicht geschätzt. <strong>Die</strong> Nachfolger <strong>de</strong>s Herrn fin<strong>de</strong>n wir darum auch<br />

nicht dort, wo man sich das Leben leichtmacht, nach irdischer Ehre strebt o<strong>de</strong>r sich <strong>de</strong>r Welt<br />

anpaßt. Sie wan<strong>de</strong>rn vielmehr einen Pfad <strong>de</strong>r Mühsal und Erniedrigung und erdul<strong>de</strong>n<br />

mannigfachen Ta<strong>de</strong>l. An vor<strong>de</strong>rster Front kämpfen sie „mit Mächtigen und Gewaltigen,<br />

nämlich mit <strong>de</strong>n Herren <strong>de</strong>r Welt, die in dieser Finsternis herrschen, mit <strong>de</strong>n bösen Geistern<br />

unter <strong>de</strong>m Himmeln“. Epheser 6,12. Wie in <strong>de</strong>n Tagen <strong>Christi</strong> wer<strong>de</strong>n sie auch heute von <strong>de</strong>n<br />

Priestern und Pharisäern ihrer Tage mißverstan<strong>de</strong>n, geta<strong>de</strong>lt und unterdrückt.<br />

Das Reich Gottes kommt nicht mit „äußerlichen Gebär<strong>de</strong>n“. Lukas 17,20.21<br />

(Jubiläumsbibel). <strong>Die</strong> Frohbotschaft von <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong> Gottes mit ihrem Geist <strong>de</strong>r<br />

Selbstverleugnung kann niemals mit <strong>de</strong>m Geist dieser Welt übereinstimmen. Bei<strong>de</strong>r<br />

Grundgedanke steht in Wi<strong>de</strong>rspruch zueinan<strong>de</strong>r. „Der natürliche Mensch aber vernimmt nichts<br />

vom Geist Gottes; es ist ihm eine Torheit, und er kann es nicht erkennen; <strong>de</strong>nn es muß geistlich<br />

verstan<strong>de</strong>n sein.“ 1.Korinther 2,14. Heutzutage gibt es auf religiösem Gebiet viele, die da<br />

meinen, für die Errichtung <strong>de</strong>s Reiches <strong>Christi</strong> als einer irdischen und zeitlichen Herrschaft zu<br />

wirken. Sie möchten unsern Herrn zum Herrscher <strong>de</strong>r Reiche dieser Welt machen, zum Herrn in<br />

ihren Gerichten, in <strong>de</strong>r Gesetzgebung, in <strong>de</strong>n Palästen und an <strong>de</strong>n Han<strong>de</strong>lsplätzen. Sie möchten,<br />

daß er durch Gesetzesakte, die sich auf menschliche Autorität stützen, herrschen möge. Da nun<br />

aber Christus nicht in menschlicher Gestalt hier auf Er<strong>de</strong>n weilt, wollen sie die Herrschaft an<br />

seiner Statt ausüben und die Gesetze seines Reiches durchführen. <strong>Die</strong> Errichtung eines solchen<br />

Reiches wünschten sich auch die Ju<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n Tagen Jesu. Sie hätten Jesus angenommen, wäre<br />

er nur bereit gewesen, ein irdisches Reich aufzurichten, um das durchzuführen, was sie für das<br />

Gesetz Gottes hielten, und hätte er sie zu Vollstreckern seines Willens und zu Gehilfen seiner<br />

Herrschaft gemacht. Er aber sagte: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ Johannes 18,36. Er<br />

war nicht bereit, eine irdische Herrschaft zu übernehmen.<br />

<strong>Die</strong> Regierung, unter <strong>de</strong>r Jesus lebte, war korrupt und diktatorisch. Überall gab es<br />

schreien<strong>de</strong>s Unrecht wie Erpressung, Unduldsamkeit und bedrücken<strong>de</strong> Härte. Der Heiland<br />

wollte jedoch keineswegs das bürgerliche Leben reformieren. Er griff we<strong>de</strong>r die nationalen<br />

Mißbräuche an, noch verurteilte er die Fein<strong>de</strong> seiner Nation. Er mischte sich auch nicht in die<br />

Herrschaft o<strong>de</strong>r Verwaltung <strong>de</strong>r Machthaber ein. Er, unser Vorbild, hielt sich irdischer<br />

Herrschaft fern. Nicht etwa, weil er gegenüber <strong>de</strong>n Nöten <strong>de</strong>r Menschen gleichgültig gewesen<br />

wäre, son<strong>de</strong>rn weil menschliche und rein äußerliche Maßnahmen hier nicht helfen konnten. Um<br />

wirksam sein zu können, mußte <strong>de</strong>r Heilungsprozeß sich auf <strong>de</strong>n einzelnen erstrecken und<br />

<strong>de</strong>ssen Herz erneuern. Nicht durch Gerichts- o<strong>de</strong>r Konzilsentscheidungen, nicht durch<br />

gesetzgeben<strong>de</strong> Versammlungen o<strong>de</strong>r durch Begünstigung seitens <strong>de</strong>r Großen dieser Welt wird<br />

das Reich <strong>Christi</strong> aufgerichtet, son<strong>de</strong>rn dadurch, daß <strong>de</strong>r Heilige Geist <strong>de</strong>n Menschen <strong>de</strong>n<br />

Charakter Jesu <strong>Christi</strong> einpflanzt. „Wie viele ihn aber aufnahmen, <strong>de</strong>nen gab er Macht, Gottes<br />

Kin<strong>de</strong>r zu wer<strong>de</strong>n, die an seinen Namen glauben, welche nicht von <strong>de</strong>m Geblüt noch von <strong>de</strong>m<br />

Willen <strong>de</strong>s Fleisches noch von <strong>de</strong>m Willen eines Mannes, son<strong>de</strong>rn von Gott geboren<br />

sind.“ Johannes 1,12.13. Hier haben wir es mit <strong>de</strong>r einzigen Kraft zu tun, die die Menschheit<br />

346


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

emporzuheben vermag. Der menschliche Anteil an <strong>de</strong>r Vollendung dieses Werkes besteht darin,<br />

das Wort Gottes zu lehren und auszuleben.<br />

Als <strong>de</strong>r Apostel Paulus seine Arbeit in Korinth, dieser volkreichen, wohlhaben<strong>de</strong>n,<br />

ver<strong>de</strong>rbten und durch viele heidnische Laster befleckten Stadt aufnahm, tat er es in <strong>de</strong>r<br />

Gesinnung: „Ich hielt nicht dafür, daß ich etwas wüßte unter euch als allein Jesus Christus, <strong>de</strong>n<br />

Gekreuzigten.“ 1.Korinther 2,2. Denen, die mit <strong>de</strong>n übelsten Sün<strong>de</strong>n behaftet gewesen waren,<br />

konnte er schreiben: „Ihr seid abgewaschen, ihr seid geheiligt, ihr seid gerecht gewor<strong>de</strong>n durch<br />

<strong>de</strong>n Namen <strong>de</strong>s Herrn Jesus Christus und durch <strong>de</strong>n Geist unseres Gottes.“ 1.Korinther 6,11.<br />

„Ich danke Gott allezeit eurethalben für die Gna<strong>de</strong> Gottes, die euch gegeben ist in Christus<br />

Jesus.“ 1.Korinther 1,4.<br />

Wie in <strong>Christi</strong> Tagen hat Gott auch heute <strong>de</strong>n Bau seines Reiches nicht <strong>de</strong>nen anvertraut, die<br />

nach Anerkennung und Unterstützung durch irdische Gewalthaber und menschliche Gesetze<br />

rufen. Beauftragt hat er vielmehr diejenigen, die im Namen Jesu <strong>de</strong>m Volk die geistlichen<br />

Wahrheiten erschließen und bei <strong>de</strong>nen, die sie annehmen, die Erfahrung <strong>de</strong>s Apostels Paulus<br />

bewirken: „Ich bin mit Christus gekreuzigt. Ich lebe; doch nun nicht ich, son<strong>de</strong>rn Christus lebt<br />

in mir.“ Galater 2,19.20. Dann wer<strong>de</strong>n sie — wie Paulus — für das Wohl <strong>de</strong>r Mitmenschen<br />

tätig sein. Er sagte: „So sind wir nun Botschafter an <strong>Christi</strong> Statt, <strong>de</strong>nn Gott vermahnt durch<br />

uns; so bitten wir nun an <strong>Christi</strong> Statt: Lasset euch versöhnen mit Gott!“ 2.Korinther 5,20.<br />

347


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 56: Jesus segnet die Kin<strong>de</strong>r<br />

Jesus war ein großer Freund <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r. Er nahm ihre kindliche Teilnahme, ihre freimütige,<br />

natürliche Liebe gern entgegen. Der dankbare Lobpreis von ihren reinen Lippen war Musik in<br />

seinen Ohren und erquickte ihn beson<strong>de</strong>rs nach <strong>de</strong>m bedrücken<strong>de</strong>n Zusammensein mit<br />

heuchlerischen und verschlagenen Menschen. Wohin <strong>de</strong>r Heiland auch kam, überall gewannen<br />

ihm sein freundliches Aussehen und seine herzliche Art die Liebe und das Zutrauen <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r.<br />

Es entsprach <strong>de</strong>r jüdischen Sitte, die kleinen Kin<strong>de</strong>r zum Rabbiner zu bringen, damit dieser<br />

seine Hän<strong>de</strong> segnend auf sie lege. Als aber einmal jüdische Mütter ihre Kin<strong>de</strong>r zu Jesus<br />

brachten, damit sie von ihm gesegnet wür<strong>de</strong>n, wur<strong>de</strong>n seine Jünger unwillig. Sie sahen <strong>de</strong>s<br />

Meisters Werk als viel zu wichtig an, um es durch diesen <strong>Die</strong>nst unterbrechen zu lassen. Auch<br />

hielten sie die Kin<strong>de</strong>r für eine solche Segnung noch für viel zu jung und glaubten, daß ihr Herr<br />

über diese Störung ungehalten sein könnte. Aber es waren die Jünger, über die <strong>de</strong>r Heiland sich<br />

ungehalten zeigte. Für die Sorge und Last <strong>de</strong>r Mütter, die ihre Kin<strong>de</strong>r nach <strong>de</strong>m Worte Gottes<br />

zu erziehen suchten, zeigte er volles Verständnis; er hatte ihre Gebete gehört und sie selbst mit<br />

ihren Kin<strong>de</strong>rn zu sich gezogen.<br />

Eine Mutter hatte sich mit ihrem Kind auf <strong>de</strong>n Weg zu Jesus gemacht und unterwegs einer<br />

Bekannten von ihrem Vorhaben erzählt, die ebenfalls wünschte, daß ihr Kind gesegnet wer<strong>de</strong>.<br />

An<strong>de</strong>re folgten ihrem Beispiel, so daß eine ganze Schar Mütter mit kleinen und größeren<br />

Kin<strong>de</strong>rn zum Herrn kam. Jesus hörte freudig ihre mit furchtsamer, tränenerstickter Stimme<br />

vorgetragenen Bitten. Doch er wartete ab, um zu sehen, wie seine Jünger diesen Frauen<br />

gegenübertreten wür<strong>de</strong>n. Als Jesus bemerkte, wie seine Jünger die Mütter wegschicken wollten,<br />

weil sie glaubten, ihm damit einen Gefallen zu tun, rügte er sie und sagte: „Lasset die Kin<strong>de</strong>r zu<br />

mir kommen und wehret ihnen nicht; <strong>de</strong>nn solcher ist das Reich Gottes.“ Lukas 18,16. Er nahm<br />

die Kin<strong>de</strong>r in seine Arme, legte seine Hän<strong>de</strong> auf sie und gab ihnen <strong>de</strong>n Segen, um <strong>de</strong>ssentwillen<br />

sie gekommen waren.<br />

<strong>Die</strong> Mütter aber empfingen geistlichen Zuspruch und kehrten gestärkt und hoffnungsfroh<br />

wie<strong>de</strong>r nach Hause zurück. Sie konnten nun mit neuem Mut die Last ihres Lebens tragen und<br />

mit frohem Glauben ihre Kin<strong>de</strong>r erziehen. Auch heute können die Mütter ebenso vertrauensvoll<br />

die Worte Jesu aufnehmen; er ist <strong>de</strong>rselbe persönliche Heiland geblieben, <strong>de</strong>r er war, als er als<br />

Mensch unter Menschen lebte; er hilft <strong>de</strong>n Müttern heute ebenso treu, wie er ihnen einst<br />

geholfen hat, als er die Kleinen in seinen Armen hielt. Unsere Kin<strong>de</strong>r heute sind ebenso teuer<br />

durch sein Blut erkauft wie die Kin<strong>de</strong>r damals. Jesus kennt die Last eines je<strong>de</strong>n Mutterherzens.<br />

Er, <strong>de</strong>r eine Mutter hatte, die mit Armut und Entbehrung kämpfte, hat für die Mühen je<strong>de</strong>r<br />

Mutter Verständnis. Er, <strong>de</strong>r eine lange Reise unternahm, um <strong>de</strong>m bekümmerten Herzen einer<br />

Kanaaniterin beizustehen, wird dasselbe auch für die heutigen Mütter tun. Er, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Witwe zu<br />

Nain ihren einzigen Sohn zurückgab und <strong>de</strong>r in seinem To<strong>de</strong>skampf am Kreuz noch an seine<br />

eigene Mutter dachte, weiß um die Sorgen <strong>de</strong>r Mütter heute. In je<strong>de</strong>m Kummer und in je<strong>de</strong>r Not<br />

will er trösten und helfen.<br />

348


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Möchten doch recht viele Mütter mit ihren Sorgen und Nöten zum Heiland kommen! Bei<br />

ihm fin<strong>de</strong>n sie genügend innere Kraft, die ihnen bei <strong>de</strong>r Erziehung ihrer Kin<strong>de</strong>r helfen wird. Der<br />

Weg zum Herrn ist je<strong>de</strong>r Mutter geebnet, die ihre Kin<strong>de</strong>r zu <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s Füßen nie<strong>de</strong>rlegen<br />

will. Er, <strong>de</strong>r gesagt hat: „Lasset die Kin<strong>de</strong>r zu mir kommen“, hält heute noch seinen Segen für<br />

die Kleinen bereit. Sogar <strong>de</strong>r Säugling im Arm <strong>de</strong>r Mutter kann durch <strong>de</strong>n Glauben <strong>de</strong>r<br />

beten<strong>de</strong>n Mutter „unter <strong>de</strong>m Schatten <strong>de</strong>s Allmächtigen“ (Psalm 91,1) leben. Johannes <strong>de</strong>r<br />

Täufer war von seiner Geburt an vom Heiligen Geist erfüllt. Wenn wir in Gemeinschaft mit<br />

Gott leben, dürfen auch wir erwarten, daß <strong>de</strong>r göttliche Geist unsere Kleinen selbst von ihren<br />

frühesten Augenblicken an formt.<br />

Jesus sah in <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn, die zu ihm gebracht wur<strong>de</strong>n, Erben seiner Gna<strong>de</strong> und Untertanen<br />

seines Reiches. Viele von ihnen wür<strong>de</strong>n um seinetwillen zum Märtyrer wer<strong>de</strong>n. Er wußte, daß<br />

diese Kin<strong>de</strong>r ihm williger ihr Herz öffnen und ihn als ihren Heiland annehmen wür<strong>de</strong>n als die<br />

Erwachsenen, von <strong>de</strong>nen viele zu <strong>de</strong>n Weltweisen und Hartherzigen gehörten. Er beugte sich zu<br />

ihnen herab und verschmähte es nicht, ihre kindlichen Fragen zu beantworten und sie so zu<br />

belehren, wie es ihrem kindlichen Verständnis entsprach. Er legte in ihre empfangsfreudigen<br />

Herzen Samenkörner <strong>de</strong>r Wahrheit, die später aufgehen und Frucht zum ewigen Leben bringen<br />

wür<strong>de</strong>n.<br />

In <strong>de</strong>r Tat ist es so, daß Kin<strong>de</strong>r für die Wahrheiten <strong>de</strong>s Evangeliums am empfänglichsten<br />

sind; ihre Herzen sind <strong>de</strong>m göttlichen Einfluß weit geöffnet, und ihre Gedanken bewahren leicht<br />

die aufgenommenen Lehren. Schon kleine Kin<strong>de</strong>r können Christen sein mit Erfahrungen, die<br />

ihrem Lebensalter entsprechen. Sie müssen in geistlichen Dingen unterrichtet wer<strong>de</strong>n, und die<br />

Eltern sollten sie darin in je<strong>de</strong>r Weise för<strong>de</strong>rn, damit sich ihr Charakter nach <strong>de</strong>m Vorbild <strong>de</strong>s<br />

Heilan<strong>de</strong>s entwickeln kann. Wie schön, wenn Eltern ihre Kin<strong>de</strong>r als jüngere Glie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />

christlichen Familie ansehen, die ihnen anvertraut wur<strong>de</strong>n, um sie für <strong>de</strong>n Himmel zu erziehen!<br />

<strong>Die</strong> Lehren, die uns die Heilige Schrift vermittelt, müssen wir <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn so weitergeben, wie<br />

es ihrem Auffassungsvermögen entspricht. Dadurch öffnen wir <strong>de</strong>m jungen Geschöpf<br />

allmählich die Schönheit <strong>de</strong>r himmlischen Grundsätze, und das christliche Heim wird eine<br />

Schule, in <strong>de</strong>r die Eltern als <strong>Die</strong>ner <strong>de</strong>s Herrn wirken, während Christus selbst ihr Lehrer ist.<br />

Wenn wir die jungen Herzen zu Gott führen wollen, dürfen wir nicht gewaltige<br />

Gemütsbewegungen als wesentlichen Beweis <strong>de</strong>s Sün<strong>de</strong>nbekenntnisses erwarten; ebensowenig<br />

dürfen wir uns hinsichtlich <strong>de</strong>r Bekehrung auf einen bestimmten Zeitpunkt festlegen. Wir<br />

sollten die Kin<strong>de</strong>r nur lehren, ihre Sün<strong>de</strong>n zu Jesus zu bringen, ihn um Vergebung zu bitten und<br />

zu glauben, daß er ihnen vergibt und sie an sein Herz nimmt, wie er auch damals, als er auf<br />

Er<strong>de</strong>n wan<strong>de</strong>lte, die Kin<strong>de</strong>r an sein Herz nahm. Wenn die Mutter ihre Kin<strong>de</strong>r zum Gehorsam<br />

aus Liebe erziehen wür<strong>de</strong>, bekämen sie <strong>de</strong>n besten Anfangsunterricht in<br />

christlicher Lebensführung. <strong>Die</strong> Mutterliebe veranschaulicht <strong>de</strong>m Kind <strong>Christi</strong> Liebe zu <strong>de</strong>n<br />

Menschen, und die Kin<strong>de</strong>r, die willig <strong>de</strong>n mütterlichen Anordnungen folgen, wer<strong>de</strong>n auch <strong>de</strong>m<br />

Heiland vertrauen und ihm gehorsam sein. Jesus war Eltern und Kin<strong>de</strong>rn gleichermaßen ein<br />

Vorbild. Er sprach achtunggebietend und „gewaltig“, aber er war in seinem Umgang mit groben<br />

und hitzigen Menschen nie unhöflich o<strong>de</strong>r verletzend. <strong>Die</strong> Gna<strong>de</strong> <strong>Christi</strong> in unserem Herzen<br />

349


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

wird uns eine himmlische Wür<strong>de</strong> und <strong>de</strong>n rechten Sinn für Schicklichkeit verleihen. Sie wird<br />

das harte Herz erweichen, das Grobe und Unfreundliche ausschalten und die Eltern bestimmen,<br />

ihre Kin<strong>de</strong>r als verständige Geschöpfe, zu behan<strong>de</strong>ln, so wie sie selbst behan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n<br />

möchten.<br />

Ihr Eltern, beachtet in <strong>de</strong>r Erziehung eurer Kin<strong>de</strong>r die Lehren, die Gott in <strong>de</strong>r Natur gegeben<br />

hat! Was wür<strong>de</strong>t ihr tun, um eine Nelke, Rose o<strong>de</strong>r Lilie richtig zu pflegen? Fragt einen Gärtner,<br />

welches Verfahren er anwen<strong>de</strong>t, damit sich je<strong>de</strong>s Blatt und je<strong>de</strong>r Zweig zur vollen Schönheit<br />

und Lieblichkeit entfalten kann! Durch ihn wer<strong>de</strong>t ihr lernen, wie unrichtig eine oberflächliche<br />

o<strong>de</strong>r gewalttätige Behandlung ist; <strong>de</strong>nn sie wür<strong>de</strong> die zarten Stengel brechen. Mit liebevoller<br />

Sorgfalt aber tut er alles, was <strong>de</strong>r Pflanze zum Ge<strong>de</strong>ihen verhilft: er befeuchtet <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n,<br />

schützt die jungen Triebe vor kaltem Wind und sengen<strong>de</strong>n Sonnenstrahlen, und <strong>de</strong>r große<br />

Schöpfer im Himmel belohnt die Sorgfalt <strong>de</strong>s Gärtners und schenkt Ge<strong>de</strong>ihen. So verhält es sich<br />

auch im Leben mit <strong>de</strong>r Erziehung und Pflege <strong>de</strong>r uns anvertrauten Kin<strong>de</strong>r. Faßt sie voller<br />

Zartgefühl an und zeigt ihnen eure Liebe, damit auf diese Weise ihr Charakter nach <strong>de</strong>m Wesen<br />

<strong>Christi</strong> geformt wer<strong>de</strong>.<br />

Fühlt euch ermutigt, die Liebe zu Gott und zueinan<strong>de</strong>r <strong>de</strong>utlich zu zeigen. Daß es so viele<br />

hartherzige Männer und Frauen gibt, hat zumeist seinen Grund darin, daß wahre,<br />

uneingeschränkte Zuneigung als Schwäche bezeichnet und verhin<strong>de</strong>rt und unterdrückt wird. <strong>Die</strong><br />

guten Anlagen solcher Menschen wur<strong>de</strong>n oft in frühester Jugend erstickt, und wenn die Kraft<br />

<strong>de</strong>r göttlichen Liebe die kalte Selbstsucht nicht dahinschmelzen läßt, wird ihr Glück für immer<br />

zerstört sein. Wenn wir wünschen, daß unsere Kin<strong>de</strong>r die zärtliche Liebe Jesu besitzen sollen<br />

und die Zuneigung, die die Engel uns gegenüber bekun<strong>de</strong>n, dann müssen wir ihre guten<br />

Anlagen pflegen und zur Entfaltung bringen.<br />

Lehrt die Kin<strong>de</strong>r, Christus in <strong>de</strong>r Natur zu erkennen! Führt sie hinaus unter <strong>de</strong>n freien<br />

Himmel, unter die prächtigen Bäume und in die grünen Gärten, und zeigt ihnen in allen<br />

Schöpfungswerken <strong>de</strong>n Ausdruck <strong>de</strong>r Liebe Gottes! Erklärt <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn, daß Gott die Gesetze<br />

gegeben hat, <strong>de</strong>nen alles Leben untersteht, und daß diese Gesetze <strong>de</strong>m Glück und <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>r Menschen dienen! Ermü<strong>de</strong>t die Kin<strong>de</strong>r nicht durch lange Gebete und langatmige<br />

Ermahnungen, son<strong>de</strong>rn lehrt sie durch <strong>de</strong>n Anschauungsunterricht in <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>m Gesetz<br />

Gottes gehorchen! Wenn Eltern durch einen christlichen Wan<strong>de</strong>l als wahre Nachfolger Jesu ihre<br />

Kin<strong>de</strong>r gewinnen, wird es ihnen nicht schwerfallen, sie von <strong>de</strong>r großen Liebe zu überzeugen,<br />

mit <strong>de</strong>r Christus uns geliebt hat. Wenn wir versuchen, die Heilswahrheit verständlich<br />

darzulegen, und die Kin<strong>de</strong>r auf Christus als persönlichen Heiland hinweisen, wer<strong>de</strong>n uns Engel<br />

Gottes zur Seite stehen. Der Herr wird die Eltern segnen, damit ihre Kleinen an <strong>de</strong>r köstlichen<br />

Geschichte <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s von Bethlehem, das wahrlich die einzige Hoffnung <strong>de</strong>r Welt ist, Freu<strong>de</strong><br />

fin<strong>de</strong>n.<br />

Als Jesus <strong>de</strong>n Jüngern zurief: „Wehret ihnen nicht!“, da sprach er diese Worte gleichzeitig zu<br />

seinen Nachfolgern in allen Zeiten: zu <strong>de</strong>n Gemein<strong>de</strong>beamten, Predigern, Lehrern und zu allen<br />

christlichen Eltern. Er zieht die Kin<strong>de</strong>r zu sich und gebietet je<strong>de</strong>m: „Wehret ihnen<br />

nicht!“ Entstellt nicht das Bild Jesu durch euren unchristlichen Charakter! Haltet die Kleinen<br />

350


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

nicht durch eure Kälte und Strenge von Jesus fern. Verhaltet euch nicht so, daß eure Kin<strong>de</strong>r das<br />

Gefühl bekommen, <strong>de</strong>r Himmel könne kein sehr angenehmer Ort sein, wenn auch ihr dort sein<br />

wer<strong>de</strong>t. Sprecht nicht von religiösen Dingen in einer Weise, die Kin<strong>de</strong>r nicht verstehen können,<br />

o<strong>de</strong>r han<strong>de</strong>lt nicht so, als wür<strong>de</strong> von ihnen nicht erwartet, daß sie sich schon in ihrer Jugend zu<br />

Christus bekennen. Erweckt in ihnen nicht <strong>de</strong>n Eindruck, als wäre die Religion <strong>Christi</strong> eine<br />

Religion <strong>de</strong>s Trübsinns, als müßten sie, wenn sie zum Heiland kommen, alles aufgeben, was ihr<br />

Leben bisher freudvoll machte.<br />

Wie <strong>de</strong>r Heilige Geist an <strong>de</strong>n Herzen <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r wirkt, so för<strong>de</strong>rt er auch sein Werk. Lehrt<br />

die Kin<strong>de</strong>r, daß <strong>de</strong>r Heiland sie ruft und daß nichts ihm größere Freu<strong>de</strong> bereitet, als wenn sie<br />

sich schon in jungen Jahren ihm weihen. Jesus schaut mit inniger Anteilnahme auf je<strong>de</strong> Seele,<br />

die er mit seinem Blut erkauft hat; seine Liebe erhebt Anspruch auf sie und hat großes<br />

Verlangen nach ihr. Sein Herz neigt sich nicht nur <strong>de</strong>n folgsamen Kin<strong>de</strong>rn zu, son<strong>de</strong>rn auch<br />

<strong>de</strong>nen, die angeborene charakterliche Mängel zeigen. Viele Eltern verstehen nicht, in welch<br />

hohem Maße sie für die Schwächen ihrer Kin<strong>de</strong>r verantwortlich sind. Sie haben nicht genügend<br />

Liebe und Weisheit, sich mit <strong>de</strong>n Irren<strong>de</strong>n zu befassen, die erst durch sie dazu gewor<strong>de</strong>n sind.<br />

Doch Jesus blickt mit herzlichem Erbarmen auf diese Kin<strong>de</strong>r. Er weiß genau Ursache und<br />

Wirkung auseinan<strong>de</strong>rzuhalten. Da soll auch <strong>de</strong>r Prediger ein brauchbares Werkzeug in Jesu<br />

Hand sein. Durch Weisheit und geduldige Liebe soll er die unverständigen Kin<strong>de</strong>r an sein Herz<br />

ziehen und ihnen Mut und Hoffnung geben. Durch die Gna<strong>de</strong> <strong>Christi</strong> soll <strong>de</strong>r Charakter <strong>de</strong>r<br />

Kin<strong>de</strong>r so umgewan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n, daß man von ihnen sagen darf: „Solcher ist das Reich Gottes.“<br />

351


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

„Da er hinausging auf <strong>de</strong>n Weg, lief einer herzu, kniete vor ihm nie<strong>de</strong>r und fragte ihn: Guter<br />

Meister, was soll ich tun, daß ich das ewige Leben ererbe?“ Markus 10,17. Der Jüngling, <strong>de</strong>r<br />

mit dieser Frage zu Jesus kam, war ein Oberster. Er besaß große Güter und beklei<strong>de</strong>te ein<br />

verantwortungsvolles Amt. <strong>Die</strong>ser Jüngling sah die Liebe, die Christus <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn erwies; er<br />

sah, wie gütig er sie empfing und wie er sie in seine Arme nahm. Bei diesem freundlichen<br />

Anblick entflammte jäh sein Herz für <strong>de</strong>n Heiland. Ihn verlangte danach, Jesu Jünger zu<br />

wer<strong>de</strong>n, ja, er war so tief bewegt, daß er Christus nachlief, als dieser seines Weges ging, zu<br />

seinen Füßen nie<strong>de</strong>rkniete und ihm dabei ernsten und aufrichtigen Herzens die für ihn und für<br />

alle Menschen so überaus wichtige Frage stellte: „Guter Meister, was soll ich tun, daß ich das<br />

ewige Leben ererbe?“<br />

Jesus erwi<strong>de</strong>rte ihm: „Was heißest du mich gut? Niemand ist gut als allein Gott.“ Markus<br />

10,18. Jesus wollte seine Aufrichtigkeit prüfen und von ihm hören, warum er ihn als gut<br />

betrachte. Hatte <strong>de</strong>r Jüngling wirklich erkannt, daß <strong>de</strong>r, zu <strong>de</strong>m er sprach, <strong>de</strong>r Sohn Gottes war?<br />

Wie lautete seine echte Herzensüberzeugung? Der Jüngling hatte eine hohe Meinung von sich.<br />

Er glaubte nicht, daß ihm noch irgen<strong>de</strong>in Fehler anhafte; <strong>de</strong>nnoch war er nicht ganz zufrie<strong>de</strong>n.<br />

Er sehnte sich nach etwas, das er nicht besaß. Konnte Jesus ihn nicht segnen, wie er soeben die<br />

Kin<strong>de</strong>r gesegnet hatte, und auf diese Weise das unbestimmte Verlangen seiner Seele<br />

befriedigen? In seiner Antwort wies Jesus darauf hin, daß es nötig sei, <strong>de</strong>n Geboten Gottes zu<br />

gehorchen, wenn er das ewige Leben erlangen wolle. Er führte einige <strong>de</strong>r Gebote an, die <strong>de</strong>s<br />

Menschen Pflichten gegenüber seinen Mitmenschen beinhalten. Der Jüngling erwi<strong>de</strong>rte <strong>de</strong>m<br />

Herrn: „Das habe ich alles gehalten; was fehlt mir noch?“ Matthäus 19,20.<br />

Der Heiland schaute <strong>de</strong>n Jüngling an, als suche er <strong>de</strong>ssen Leben und Charakter zu<br />

erforschen. Er liebte ihn und wünschte herzlich, ihm jenen Frie<strong>de</strong>n, jene Gna<strong>de</strong> und Freu<strong>de</strong> zu<br />

schenken, die seinen Charakter entschei<strong>de</strong>nd wan<strong>de</strong>ln wür<strong>de</strong>n. Er sagte ihm: „Eines fehlt dir.<br />

Gehe hin, verkaufe alles, was du hast, und gib‘s <strong>de</strong>n Armen, so wirst du einen Schatz im<br />

Himmel haben, und komm, folge mir nach und nimm das Kreuz auf dich.“ Markus 10,21. Der<br />

Heiland fühlte sich zu <strong>de</strong>m Jüngling hingezogen, und er glaubte an <strong>de</strong>ssen Aufrichtigkeit, als<br />

dieser sagte: „Meister, das habe ich alles gehalten von meiner Jugend auf.“ Markus 10,20. Jesus<br />

wollte ihm aber jenes Wahrnehmungsvermögen vermitteln, das ihn die Notwendigkeit <strong>de</strong>r<br />

Herzensergebung und christlichen Güte erkennen ließe. Er hätte gern in ihm ein <strong>de</strong>mütiges,<br />

reuevolles Herz gesehen, das sich <strong>de</strong>r äußersten, von Gott geschenkten Liebe bewußt und<br />

<strong>de</strong>ssen Mängel in <strong>de</strong>r Vollkommenheit <strong>Christi</strong> verborgen gewesen wären.<br />

Der reiche Jüngling erschien Jesus beson<strong>de</strong>rs geeignet, sein Mitarbeiter in <strong>de</strong>r Seelenarbeit<br />

zu sein. Unterstellte er sich <strong>de</strong>r Führung <strong>Christi</strong>, wür<strong>de</strong> er mit ganz großem Segen wirken. In<br />

hohem Gra<strong>de</strong> hätte <strong>de</strong>r Oberste Christus darstellen können; <strong>de</strong>nn er besaß Eigenschaften, die,<br />

wür<strong>de</strong> er sich mit <strong>de</strong>m Heiland verbun<strong>de</strong>n haben, ihn befähigt hätten, mit göttlicher Macht unter<br />

<strong>de</strong>n Menschen zu wirken. Christus, seinen Charakter erkennend, liebte ihn, und Liebe zu<br />

Christus war im Herzen <strong>de</strong>s Obersten erwacht; <strong>de</strong>nn Liebe erzeugt Gegenliebe. Jesus wünschte<br />

352


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

in ihm einen Mitarbeiter zu sehen. Er wollte ihn sich selbst gleich machen, zu einem Spiegel,<br />

<strong>de</strong>r das Ebenbild Gottes wi<strong>de</strong>rstrahlen wür<strong>de</strong>. Es verlangte ihn, die Vortrefflichkeit seines<br />

Charakter zu entfalten und ihn für <strong>de</strong>n Evangeliumsdienst zu heiligen. Hätte sich <strong>de</strong>r reiche<br />

Jüngling Christus geweiht, wäre er in seiner Gegenwart gewachsen. Hätte er diese Wahl<br />

getroffen, wie an<strong>de</strong>rs wäre sein Leben verlaufen!<br />

„Eines fehlt dir“ (Markus 10,21), sagte Christus zu ihm. „Willst du vollkommen sein, so<br />

gehe hin, verkaufe, was du hast, und gib‘s <strong>de</strong>n Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel<br />

haben; und komm und folge mir nach!“ Matthäus 19,21. Christus las im Herzen <strong>de</strong>s Jünglings,<br />

<strong>de</strong>m nur eines fehlte; doch dieses eine war lebensnotwendig. Der Jüngling bedurfte <strong>de</strong>r Liebe<br />

Gottes in seinem Herzen; dieser Mangel wür<strong>de</strong> sich — es sei <strong>de</strong>nn, man hülfe ihm ab — für ihn<br />

verhängnisvoll auswirken und sein ganzes Wesen ver<strong>de</strong>rben. Durch Genußsucht wür<strong>de</strong> die<br />

Eigenliebe in ihm gestärkt. Wollte er die Liebe Gottes empfangen, mußte er seine maßlose<br />

Eigenliebe überwin<strong>de</strong>n.<br />

Der Herr prüfte diesen jungen Mann; er ließ ihn zwischen himmlischen Gütern und<br />

weltlicher Größe wählen. Der himmlische Schatz wur<strong>de</strong> ihm zugesichert, wenn er <strong>de</strong>m Herrn<br />

nachfolgen wür<strong>de</strong>; aber dazu mußte er sich völlig Jesus weihen und seinen Willen unter<br />

göttliche Leitung stellen. <strong>Die</strong> Kindschaft <strong>de</strong>s Allerhöchsten wur<strong>de</strong> ihm angeboten; ihm wur<strong>de</strong><br />

die Gna<strong>de</strong> zuteil, ein Miterbe <strong>de</strong>s himmlischen Schatzes zu wer<strong>de</strong>n, wenn er das Kreuz auf sich<br />

nähme und <strong>de</strong>m Heiland auf <strong>de</strong>m beschwerlichen Wege <strong>de</strong>r Selbstverleugnung nachfolgte. <strong>Die</strong><br />

Worte Jesu enthalten wirklich für <strong>de</strong>n Jüngling die Auffor<strong>de</strong>rung: „Wählt euch heute, wem ihr<br />

dienen wollt.“ Josua 24,15. Er konnte wählen. Jesus sehnte sich nach <strong>de</strong>r Bekehrung <strong>de</strong>s jungen<br />

Obersten. Der Herr hatte ihm <strong>de</strong>n schwersten Mangel seines Charakters gezeigt und erwartete<br />

nun mit großem Interesse <strong>de</strong>s Jünglings Entscheidung. Entschie<strong>de</strong> er sich, Jesus nachzufolgen,<br />

mußte er sich ganz unter <strong>de</strong>n Gehorsam <strong>de</strong>s Wortes Jesu stellen. Das be<strong>de</strong>utete für ihn die<br />

Aufgabe aller seiner ehrgeizigen Pläne. Wie ernst und besorgt, mit welch innerem Verlangen<br />

blickte <strong>de</strong>r Heiland auf <strong>de</strong>n Jüngling, hoffend, er wer<strong>de</strong> <strong>de</strong>m Anruf <strong>de</strong>s Geistes Gottes<br />

nachgeben!<br />

Christus zeigte ihm <strong>de</strong>n einzigen Weg, auf <strong>de</strong>m er zu einem vollkommenen christlichen<br />

Charakter kommen konnte. Seine Worte waren Worte <strong>de</strong>r Weisheit, wenn sie auch streng und<br />

anspruchsvoll schienen. Sie anzunehmen und ihnen gehorsam zu sein, darin bestand die einzige<br />

Hoffnung <strong>de</strong>s Jünglings auf Erlösung. Seine bevorzugte irdische Stellung und seine Reichtümer<br />

übten auf seinen Charakter einen unbewußten, aber unheilvollen Einfluß aus. Wenn er diesen<br />

Einfluß weiter auf sich wirken ließe, wür<strong>de</strong> das Gott aus seinem Herzen verdrängen. Ob er Gott<br />

wenig o<strong>de</strong>r viel vorenthielte, es hieße das zu behalten, was seine sittliche Kraft und<br />

Leistungsfähigkeit schmälern wür<strong>de</strong>; <strong>de</strong>nn wenn wir an <strong>de</strong>n Dingen dieser Welt hängen, wie<br />

zweifelhaft und wertlos sie auch sein mögen, wer<strong>de</strong>n sie uns schließlich völlig beherrschen.<br />

Er begriff sehr gut, was Jesu Worte ihm sagen wollten, und wur<strong>de</strong> traurig. Hätte er sich <strong>de</strong>n<br />

Wert <strong>de</strong>r ihm angebotenen Gabe vergegenwärtigt, wür<strong>de</strong> er sich unverzüglich <strong>de</strong>m Herrn<br />

angeschlossen haben. Er gehörte <strong>de</strong>m geachteten Rat <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n an, und Satan versuchte ihn mit<br />

schmeichelhaften Zukunftsaussichten. Er wünschte sich <strong>de</strong>n himmlischen Schatz, wollte aber<br />

353


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

ebensowenig auf die irdischen Vorteile verzichten, die sein Reichtum ihm bringen wür<strong>de</strong>. Er<br />

war betrübt über <strong>de</strong>rartige Bedingungen. Ihn verlangte nach <strong>de</strong>m ewigen Leben; <strong>de</strong>nnoch<br />

konnte er sich nicht entschließen, das gefor<strong>de</strong>rte Opfer zu bringen. Das ewige Leben erschien<br />

ihm zu teuer, und er ging traurig von dannen; „<strong>de</strong>nn er hatte viele Güter“. Markus 10,22.<br />

Sein Anspruch, das Gesetz Gottes erfüllt zu haben, war eine Selbsttäuschung; <strong>de</strong>nn er<br />

bewies, daß Reichtum sein Götze war. Er konnte die Gebote Gottes nicht halten, solange das<br />

Irdische <strong>de</strong>n ersten Platz in seinen Neigungen einnahm. Er liebte die Gaben Gottes mehr als <strong>de</strong>n<br />

Geber. Jesus hatte <strong>de</strong>m Jüngling seine Gemeinschaft angeboten. „Folge mir nach!“ hatte er ihm<br />

zugerufen; doch <strong>de</strong>r Heiland be<strong>de</strong>utete ihm nicht soviel wie sein eigenes Ansehen unter <strong>de</strong>n<br />

Menschen o<strong>de</strong>r seine Güter. Seinen irdischen Reichtum, <strong>de</strong>r sichtbar war, für <strong>de</strong>n himmlischen<br />

Schatz aufzugeben, <strong>de</strong>r unsichtbar war, erschien ihm als ein zu großes Wagnis. Er schlug das<br />

Anerbieten <strong>de</strong>s ewigen Lebens aus und ging hinweg; seit<strong>de</strong>m gehörte seine Anbetung <strong>de</strong>r Welt.<br />

Tausen<strong>de</strong> gehen durch die gleiche Prüfung; sie vergleichen Christus mit <strong>de</strong>r Welt, und viele<br />

entschei<strong>de</strong>n sich für die Welt! Sie wen<strong>de</strong>n sich, gleich <strong>de</strong>m Jüngling, vom Heiland ab und sagen<br />

sich in ihrem Herzen: <strong>Die</strong>sen will ich nicht als meinen Führer haben.<br />

<strong>Christi</strong> Verhalten zu <strong>de</strong>m Jüngling ist ein guter Anschauungsunterricht für uns. Gott hat uns<br />

Verhaltungsmaßregeln gegeben, <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong>r einzelne seiner <strong>Die</strong>ner folgen muß. Zu ihnen<br />

gehört <strong>de</strong>r Gehorsam gegen sein Gesetz; nicht nur ein gesetzlicher Gehorsam, son<strong>de</strong>rn ein<br />

Gehorsam, <strong>de</strong>r unser Leben durchdringt und sich im Charakter verwirklicht. Gott hat sein<br />

eigenes Wesen zum Maßstab gesetzt für alle, die Untertanen seines Reiches wer<strong>de</strong>n wollen. Nur<br />

jene, die <strong>Christi</strong> Mitarbeiter wer<strong>de</strong>n wollen, nur jene, die sprechen: Herr, alles was ich habe und<br />

alles was ich bin, ist <strong>de</strong>in!, wer<strong>de</strong>n als Kin<strong>de</strong>r Gottes anerkannt wer<strong>de</strong>n. Alle sollten sich<br />

bewußtmachen, was es heißt, <strong>de</strong>n Himmel zu begehren und sich <strong>de</strong>nnoch abzuwen<strong>de</strong>n, weil sie<br />

die gefor<strong>de</strong>rten Bedingungen nicht erfüllen wollen. Denkt daran, was es be<strong>de</strong>utet, Christus ein<br />

Nein entgegenzuhalten. Der Jüngling sagte: Ich kann dir nicht alles geben! Sprechen wir auch<br />

so? Der Heiland will sich mit uns in die gegebene Aufgabe teilen. Er bietet uns an, die von Gott<br />

verliehenen Mittel zu gebrauchen, um sein Werk in <strong>de</strong>r Welt voranzutreiben. Allein auf diesem<br />

Wege vermag er uns zu retten.<br />

Sich mit <strong>de</strong>n ihm anvertrauten Gütern als treuer Haushalter zu erweisen, war <strong>de</strong>m reichen<br />

Jüngling bestimmt. Er sollte sie zum Segen <strong>de</strong>r Bedürftigen verwen<strong>de</strong>n. Ebenso schenkt Gott<br />

heute <strong>de</strong>n Menschen Mittel und Fähigkeiten und gibt ihnen Gelegenheiten, seine Helfer zu sein<br />

bei <strong>de</strong>r Betreuung <strong>de</strong>r Armen und Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n. Wer die ihm anvertrauten Gaben so verwen<strong>de</strong>t,<br />

wie Gott es bestimmt, wird ein Mitarbeiter <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s. Er gewinnt Seelen für Christus, weil<br />

er das Wesen seines Meisters in sich selbst verkörpert. Denen, die — gleich <strong>de</strong>m Jüngling —<br />

eine hohe Vertrauensstellung beklei<strong>de</strong>n und große Besitztümer ihr eigen nennen, scheint das<br />

Opfer, alles aufzugeben, um Christus nachzufolgen, zu groß zu sein. Doch gera<strong>de</strong> das ist <strong>de</strong>r<br />

Maßstab für alle, die seine Jünger wer<strong>de</strong>n wollen. Mangeln<strong>de</strong>r Gehorsam kann nicht<br />

angenommen wer<strong>de</strong>n. Selbstaufgabe ist <strong>de</strong>r Kern <strong>de</strong>r Lehren <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s. Häufig sind diese<br />

mit Worten dargelegt und eingeschärft, die gebieterisch scheinen, weil es keinen an<strong>de</strong>ren Weg<br />

354


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

gibt, Menschen zu retten, als jene „Dinge“ fortzuwerfen, die — wenn man sie hegt — <strong>de</strong>n<br />

ganzen Menschen ver<strong>de</strong>rben.<br />

In<strong>de</strong>m Christen <strong>de</strong>m Herrn das Seine zurückgeben, sammeln sie sich einen Schatz, <strong>de</strong>n sie<br />

empfangen wer<strong>de</strong>n, wenn sie die Worte hören: „Ei, du frommer und getreuer Knecht, du bist<br />

über wenigem getreu gewesen, ich will dich über viel setzen; gehe ein zu <strong>de</strong>ines Herrn<br />

Freu<strong>de</strong>!“ Matthäus 25,23. „Darum also wollen auch wir ... hinblicken auf <strong>de</strong>n Anfänger und<br />

Vollen<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Glaubens, Jesus, <strong>de</strong>r, um die vor ihm liegen<strong>de</strong> Freu<strong>de</strong> zu erlangen, das Kreuz<br />

erdul<strong>de</strong>te, die Schan<strong>de</strong> geringachtete und sich zur Rechten <strong>de</strong>s Thrones Gottes gesetzt<br />

hat.“ Hebräer 12,2 (Zürcher). <strong>Die</strong> Freu<strong>de</strong>, Seelen erlöst und für immer gerettet zu sehen, ist <strong>de</strong>r<br />

Lohn <strong>de</strong>rer, die in <strong>de</strong>n Fußspuren Jesu wan<strong>de</strong>ln, <strong>de</strong>r gesagt hat: „Folge mir nach!“<br />

355


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Zu <strong>de</strong>n treuesten Anhängern Jesu gehörte Lazarus aus Bethanien. Seit <strong>de</strong>r ersten Begegnung<br />

mit <strong>de</strong>m Heiland war sein Glaube an ihn gestärkt wor<strong>de</strong>n; er liebte ihn innig, und er wußte sich<br />

von ihm zutiefst wie<strong>de</strong>rgeliebt. <strong>Die</strong>sem Lazarus galt Jesu größtes Wun<strong>de</strong>r. Der Heiland segnete<br />

alle, die seine Hilfe suchten; er liebte alle Menschen. Doch manchen fühlte er sich durch<br />

liebevolle persönliche Bindungen beson<strong>de</strong>rs zugetan. Durch ein festes Band <strong>de</strong>r Zuneigung war<br />

sein Herz mit <strong>de</strong>r Familie in Bethanien verknüpft, und für einen ihrer Angehörigen vollbrachte<br />

er seine wun<strong>de</strong>rbarste Tat. Im Heim <strong>de</strong>s Lazarus hatte Jesus oft Ruhe gefun<strong>de</strong>n; <strong>de</strong>nn er selbst<br />

besaß kein eigenes Zuhause. Er war auf die Gastfreundschaft seiner Freun<strong>de</strong> und Jünger<br />

angewiesen. Oft, wenn er mü<strong>de</strong> war o<strong>de</strong>r ihn nach menschlicher Gesellschaft verlangte, war er<br />

froh, in dieses frie<strong>de</strong>volle Haus entrinnen zu können, hinweg von <strong>de</strong>m Argwohn und <strong>de</strong>r<br />

Mißgunst <strong>de</strong>r Pharisäer. Hier wur<strong>de</strong> er aufrichtig willkommen geheißen, und er erfuhr reine,<br />

lautere Freundschaft. Hier konnte er unbefangen und in völliger Freiheit sprechen, und er<br />

wußte, daß seine Worte richtig verstan<strong>de</strong>n und gewürdigt wur<strong>de</strong>n.<br />

Unser Heiland wußte ein stilles Heim und aufmerksame Zuhörer zu schätzen. Er sehnte sich<br />

nach menschlichem Mitgefühl, nach Höflichkeit und Zuneigung. Er war stets bereit, jenen, die<br />

himmlische Unterweisungen erhielten, große Segnungen zu erweisen. Als die Menge Christus<br />

aufs freie Feld folgte, zeigte er ihnen die Schönheiten <strong>de</strong>r Natur. Wie die Hand Gottes die Welt<br />

erhält, dafür suchte er ihnen die Augen zu öffnen. Um in ihnen ein Gefühl <strong>de</strong>r Wertschätzung<br />

für die Güte und das Wohlwollen Gottes hervorzurufen, lenkte er die Aufmerksamkeit seiner<br />

Zuhörer auf <strong>de</strong>n sanft fallen<strong>de</strong>n Tau, auf die lin<strong>de</strong>n Regenschauer und <strong>de</strong>n hellen Sonnenschein,<br />

die <strong>de</strong>n Guten und Bösen gleichermaßen zuteil wer<strong>de</strong>n. Er wünschte, daß sich die Menschen in<br />

stärkerem Maße <strong>de</strong>r Anteilnahme bewußt wer<strong>de</strong>n, die Gott seinen Geschöpfen entgegenbringt.<br />

Doch die Menge hatte taube Ohren, und in <strong>de</strong>m Heim in Bethanien konnte Christus von <strong>de</strong>m<br />

beschwerlichen Kampf <strong>de</strong>s öffentlichen Wirkens ausruhen. Hier öffnete er seinen<br />

aufnahmebereiten Zuhörern das ganze Ausmaß <strong>de</strong>r Vorsehung Gottes. In diesen persönlichen<br />

Gesprächen breitete er vor ihnen aus, was er <strong>de</strong>r so bunt zusammengewürfelten<br />

Menschenmenge nicht mitteilen wollte. Zu seinen Freun<strong>de</strong>n brauchte er nicht in Gleichnissen<br />

zu re<strong>de</strong>n.<br />

Während Christus seine wun<strong>de</strong>rbaren Belehrungen austeilte, saß Maria zu seinen Füßen, eine<br />

ehrfürchtige und <strong>de</strong>mütige Zuhörerin. Einmal ging Martha, die mit <strong>de</strong>r Sorge um die<br />

Vorbereitung <strong>de</strong>s Mahles beschäftigt war, zu Jesus und sagte: „Herr, fragst du nicht danach, daß<br />

mich meine Schwester läßt allein dienen? Sage ihr doch, daß sie es auch angreife!“ Lukas<br />

10,40. <strong>Die</strong>s geschah bei Jesu erstem Besuch in Bethanien. Der Heiland und seine Jünger hatten<br />

gera<strong>de</strong> eine beschwerliche Fußreise von Jericho hinter sich. Martha war bemüht, für <strong>de</strong>ren<br />

Behaglichkeit zu sorgen, und in ihrer ängstlichen Besorgnis vergaß sie die ihrem Gast schuldige<br />

Höflichkeit. Jesus antwortete ihr mit freundlichen, geduldigen Worten: „Martha, Martha, du<br />

hast viel Sorge und Mühe. Eins aber ist not: Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von<br />

ihr genommen wer<strong>de</strong>n.“ Lukas 10,41.42. Maria bewahrte diese kostbaren Worte aus <strong>de</strong>m<br />

Mun<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s in ihrem Herzen, Worte, die wertvoller waren als alle irdischen Schätze.<br />

356


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Das eine, <strong>de</strong>ssen Martha bedurfte, war ein ruhiges, andächtiges Gemüt, ein tieferes<br />

Verlangen nach Erkenntnis hinsichtlich <strong>de</strong>r zukünftigen Dinge, <strong>de</strong>s ewigen Lebens und <strong>de</strong>r für<br />

das geistliche Wachstum notwendigen geistlichen Gaben. Es war nötig, daß sie sich weniger um<br />

die vergänglichen Dinge sorgte als mehr um die Dinge, die ewig währen. Jesus wollte seine<br />

Kin<strong>de</strong>r lehren, je<strong>de</strong> Gelegenheit wahrzunehmen, sich die Erkenntnis anzueignen, die sie zur<br />

Erlösung tauglich macht. <strong>Christi</strong> Werk braucht aufmerksame, energievolle Mitarbeiter. Es ist<br />

für alle Marthas mit ihrer rührigen Geschäftigkeit in religiösen Belangen ein weites<br />

Betätigungsfeld. Aber laßt sie erst mit Maria zu <strong>de</strong>n Füßen Jesu sitzen! Laßt Fleiß,<br />

Bereitwilligkeit und Tatkraft durch die Gna<strong>de</strong> <strong>Christi</strong> geheiligt sein; dann wird solch Leben als<br />

eine unüberwindliche Kraft zum Guten wirken.<br />

In das frie<strong>de</strong>volle Heim, in <strong>de</strong>m Jesus ausgeruht hatte, war Trauer eingezogen. Lazarus war<br />

plötzlich erkrankt, und seine Schwestern ließen <strong>de</strong>m Heiland sagen: „Herr, siehe, <strong>de</strong>n du lieb<br />

hast, <strong>de</strong>r liegt krank.“ Johannes 11,3. Sie sahen wohl die Heftigkeit <strong>de</strong>r Krankheit, die ihren<br />

Bru<strong>de</strong>r ergriffen hatte, doch sie wußten, daß Christus fähig war, alle Arten von Krankheiten zu<br />

heilen. Sie glaubten, er wür<strong>de</strong> in ihrem Schmerz mit ihnen fühlen; <strong>de</strong>shalb erbaten sie nicht<br />

seine sofortige Anwesenheit, son<strong>de</strong>rn sandten nur die Vertrauen bekun<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Botschaft: „Den<br />

du lieb hast, <strong>de</strong>r liegt krank.“ Sie nahmen an, daß er auf ihre Botschaft sofort antworten und, so<br />

schnell er Bethanien erreichen könnte, bei ihnen sein wür<strong>de</strong>.<br />

Angstvoll warteten sie auf einen Bescheid von Jesus. Sie beteten und warteten auf ihn,<br />

solange noch <strong>de</strong>r Lebensfunke in ihrem Bru<strong>de</strong>r lebendig war. Der Bote kehrte ohne <strong>de</strong>n Heiland<br />

zurück; doch er brachte die Nachricht: „<strong>Die</strong>se Krankheit ist nicht zum To<strong>de</strong>“ (Johannes 11,4),<br />

und die Schwestern klammerten sich an die hoffnungsvollen Worte, daß Lazarus leben wer<strong>de</strong>.<br />

Zartfühlend versuchten sie <strong>de</strong>m Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r fast ohne Bewußtsein lag, Mut und Hoffnung<br />

zuzusprechen. Als Lazarus starb, waren sie bitter enttäuscht; doch sie fühlten die ihnen<br />

beistehen<strong>de</strong> Gna<strong>de</strong> <strong>Christi</strong>, und dies hielt sie davon ab, <strong>de</strong>m Heiland irgendwie die Schuld zu<br />

geben.<br />

Als Jesus die Nachricht hörte, dachten die Jünger, ihn berühre sie gar nicht; <strong>de</strong>nn er äußerte<br />

keineswegs die Trauer, die sie von ihm erwartet hatten. Er schaute sie nur an und sagte: „<strong>Die</strong>se<br />

Krankheit ist nicht zum To<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn zur Verherrlichung Gottes, daß <strong>de</strong>r Sohn Gottes dadurch<br />

verherrlicht wer<strong>de</strong>.“ Johannes 11,4. Zwei Tage blieb er noch am gleichen Ort. <strong>Die</strong>ser Aufschub<br />

war seinen Jüngern unverständlich. Sie dachten daran, welcher Trost die Gegenwart <strong>de</strong>s<br />

Heilan<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r betrübten Familie in Bethanien sein könnte. Sie kannten seine große Zuneigung<br />

zu Lazarus und <strong>de</strong>n Schwestern Maria und Martha sehr gut, und sie waren überrascht, daß er<br />

auf die traurige Nachricht — „Den du lieb hast, <strong>de</strong>r liegt krank“ — nicht antwortete.<br />

Während dieser zwei Tage schien Christus die Nachricht ganz vergessen zu haben; <strong>de</strong>nn er<br />

erwähnte Lazarus überhaupt nicht. <strong>Die</strong> Jünger mußten an Jesu Vorläufer, Johannes <strong>de</strong>n Täufer,<br />

<strong>de</strong>nken. Sie waren verwun<strong>de</strong>rt gewesen, warum Jesus, <strong>de</strong>r die Macht besaß, erstaunliche<br />

Wun<strong>de</strong>r zu wirken, es zugelassen hatte, daß Johannes im Gefängnis schmachtete und eines<br />

gewaltsamen To<strong>de</strong>s starb. Warum hatte er nicht Johannes‘ Leben gerettet, wenn er solche<br />

Macht besaß? <strong>Die</strong>se Frage war von <strong>de</strong>n Pharisäern oft gestellt wor<strong>de</strong>n; sie sahen darin ein<br />

357


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

unwi<strong>de</strong>rlegbares Argument gegen <strong>de</strong>n Anspruch Jesu, Gottes Sohn zu sein. Der Heiland hatte<br />

seine Jünger warnend auf Schwierigkeiten, Nachteile und Verfolgung hingewiesen. Wür<strong>de</strong> er<br />

sie in diesen Schwierigkeiten auch im Stich lassen? Manche fragten sich, ob sie seine Mission<br />

etwa mißverstan<strong>de</strong>n hätten. Alle waren tief beunruhigt.<br />

Nach zwei Tagen sagte Jesus zu <strong>de</strong>n Jüngern: „Laßt uns wie<strong>de</strong>r nach Judäa<br />

ziehen!“ Johannes 11,7. Warum hat er zwei Tage gewartet? Das fragten sich die Jünger, da er<br />

jetzt doch nach Judäa ging. Aber die Sorge um ihren Meister und auch um ihr eigenes Schicksal<br />

beherrschte nun ihre Gedanken. Sie sahen auf <strong>de</strong>m Wege, <strong>de</strong>n er einschlug, nichts als Gefahren.<br />

„Meister, vor kurzem erst wollten die Ju<strong>de</strong>n dich steinigen, und du willst wie<strong>de</strong>r dahin ziehen?<br />

Jesus antwortete: Sind nicht <strong>de</strong>s Tages zwölf Stun<strong>de</strong>n?“ Johannes 11,8.9. Ich stehe unter <strong>de</strong>m<br />

Schutz meines Vaters im Himmel. Solange ich seinen Willen tue, ist mein Leben ungefähr<strong>de</strong>t.<br />

Meine zwölf Tagesstun<strong>de</strong>n sind noch nicht been<strong>de</strong>t; ich stehe im letzten Abschnitt meines<br />

Tages, und während dieser Zeit bin ich sicher.<br />

„Wer <strong>de</strong>s Tages wan<strong>de</strong>lt“, fuhr Jesus fort, „<strong>de</strong>r stößt sich nicht; <strong>de</strong>nn er sieht das Licht dieser<br />

Welt.“ Wer Gottes Willen tut, wer <strong>de</strong>n Weg wan<strong>de</strong>lt, <strong>de</strong>n Gott vorgeschrieben hat, kann we<strong>de</strong>r<br />

straucheln noch fallen. Das Licht <strong>de</strong>s Heiligen Geistes vermittelt ihm eine klare Vorstellung<br />

seiner Aufgaben und leitet ihn sicher bis zur Vollendung seines Werkes. „Wer aber <strong>de</strong>s Nachts<br />

wan<strong>de</strong>lt, <strong>de</strong>r stößt sich; <strong>de</strong>nn es ist kein Licht in ihm.“ Johannes 11,9.10. Wer auf<br />

selbsterwähltem Wege wan<strong>de</strong>rt, wohin ihn Gott nicht berufen hat, <strong>de</strong>r wird straucheln; für <strong>de</strong>n<br />

verwan<strong>de</strong>lt sich <strong>de</strong>r Tag in Nacht! Wo er auch sein mag, er ist nirgends sicher.<br />

„Solches sagte er, und danach spricht er zu ihnen: Lazarus, unser Freund, schläft; aber ich<br />

gehe hin, daß ich ihn aufwecke.“ Johannes 11,11. Lazarus, unser Freund, schläft. Wie schlicht<br />

sind diese Worte! Wieviel natürliche Teilnahme bekun<strong>de</strong>n sie! <strong>Die</strong> Jünger hatten angesichts <strong>de</strong>r<br />

Angst, ihrem Meister könnte auf <strong>de</strong>m Weg nach Jerusalem etwas zustoßen, die trauern<strong>de</strong><br />

Familie in Bethanien fast vergessen; Christus aber hatte an sie gedacht. <strong>Die</strong> Jünger fühlten sich<br />

zurechtgewiesen. Zuerst waren sie enttäuscht gewesen, daß Jesus auf die Nachricht <strong>de</strong>r<br />

Schwestern nicht schneller reagiert hatte. Sie wollten schon annehmen, daß Jesus Lazarus und<br />

seine bei<strong>de</strong>n Schwestern nicht so innig liebte, wie sie geglaubt hatten, sonst wäre er doch mit<br />

<strong>de</strong>m Boten zurückgeeilt. Doch die Worte „Lazarus, unser Freund, schläft“ erweckten in ihnen<br />

das rechte Empfin<strong>de</strong>n für sein Han<strong>de</strong>ln, und sie waren überzeugt, daß Jesus seine lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />

Freun<strong>de</strong> nicht vergessen hatte. „Da sprachen seine Jünger: Herr, schläft er, so wird‘s besser mit<br />

ihm. Jesus aber sprach von seinem To<strong>de</strong>; sie meinten aber, er re<strong>de</strong> vom leiblichen<br />

Schlaf.“ Johannes 11,12.13. Christus stellt seinen Kin<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>n Tod als Schlaf dar; ihr Leben ist<br />

mit Christus verborgen in Gott, und bis zum Schall <strong>de</strong>r letzten Posaune wer<strong>de</strong>n die Gestorbenen<br />

in ihm schlafen.<br />

„Da sagte es ihnen Jesus frei heraus: Lazarus ist gestorben; und ich bin froh um euretwillen,<br />

daß ich nicht dagewesen bin, auf daß ihr glaubet. Aber lasset uns zu ihm ziehen!“ Johannes<br />

11,14.15. Thomas sah seinen Herrn nur <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> entgegengehen, wenn er nach Judäa reiste;<br />

doch er nahm seinen ganzen Mut zusammen und sagte zu <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Jüngern: „Laßt uns<br />

mitziehen, daß wir mit ihm sterben.“ Johannes 11,16. Er kannte <strong>de</strong>n Haß <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n gegen Jesus.<br />

358


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Sie wollten ihn töten; aber dieses Vorhaben war bislang erfolglos geblieben, da <strong>de</strong>s Herrn Zeit<br />

noch nicht „erfüllt“ war. Noch stand <strong>de</strong>r Heiland unter <strong>de</strong>m Schutz himmlischer Wesen, und<br />

selbst in Judäa, wo die Rabbiner Pläne schmie<strong>de</strong>ten, wie sie ihn ergriffen und töteten, konnte<br />

ihm kein Leid wi<strong>de</strong>rfahren.<br />

Über Jesu Worte „Lazarus ist gestorben; und ich bin froh ..., daß ich nicht dagewesen bin“<br />

waren die Jünger verwun<strong>de</strong>rt. Hatte Jesus <strong>de</strong>nn absichtlich das Haus seiner Freun<strong>de</strong> in<br />

Bethanien gemie<strong>de</strong>n? Maria, Martha und <strong>de</strong>r sterben<strong>de</strong> Lazarus schienen einsam und verlassen<br />

zu sein; in Wirklichkeit waren sie jedoch nicht allein. Christus sah alles, was sich ereignete, und<br />

nach <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Lazarus stand <strong>de</strong>n verwaisten Schwestern Jesu Gna<strong>de</strong> bei. Er hatte <strong>de</strong>n<br />

Kummer ihrer zerrissenen Herzen gesehen, als ihr Bru<strong>de</strong>r mit seinem starken Feind, <strong>de</strong>m Tod,<br />

rang. Er fühlte ihre Schmerzen, als er seinen Jüngern sagen mußte: „Lazarus ist gestorben.“<br />

Doch er durfte nicht nur an seine Freun<strong>de</strong> in Bethanien <strong>de</strong>nken; er mußte auch die<br />

Erziehung seiner Jünger berücksichtigen! Sie sollten seine Stellvertreter in <strong>de</strong>r Welt sein, damit<br />

<strong>de</strong>s Vaters Segen allen zuteil wür<strong>de</strong>. Um ihretwillen ließ er zu, daß Lazarus starb. Hätte er es<br />

verhin<strong>de</strong>rt, wäre das Wun<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r stärkste Beweis seines göttlichen Wesens, nicht geschehen.<br />

Wäre Christus in Bethanien, im Krankenzimmer <strong>de</strong>s Lazarus gewesen, wür<strong>de</strong> dieser nicht<br />

gestorben sein; <strong>de</strong>nn Satan hätte keine Macht über ihn gehabt, und <strong>de</strong>r Tod hätte seinen Pfeil in<br />

<strong>de</strong>r Gegenwart <strong>de</strong>s Lebensfürsten nicht auf ihn abschießen können. Deshalb blieb Jesus fern. Er<br />

ließ <strong>de</strong>n Feind gewähren, um ihn zurückschlagen zu können, einen besiegten Gegner. Er ließ<br />

Lazarus unter die Herrschaft <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s kommen, und die trauern<strong>de</strong>n Schwestern sahen ihren<br />

Bru<strong>de</strong>r ins Grab gelegt. Der Herr wußte, daß ihr Glaube an ihren Erlöser auf eine schwere Probe<br />

gestellt wur<strong>de</strong>, als sie in das tote Antlitz ihres Bru<strong>de</strong>rs blickten; er wußte aber auch, daß sie aus<br />

dieser Prüfung mit weit größerer Kraft hervorgehen wür<strong>de</strong>n. Er ließ sie diese Schmerzen<br />

ertragen. Er liebte sie nicht weniger, weil „er verzog“, son<strong>de</strong>rn er wußte, daß es für sie, für<br />

Lazarus, für ihn selbst und für seine Jünger einen Sieg zu erringen galt.<br />

„Um euretwillen ... auf daß ihr glaubet.“ Je<strong>de</strong>m Gläubigen, <strong>de</strong>n es nach göttlicher Führung<br />

verlangt, ist <strong>de</strong>r Augenblick <strong>de</strong>r größten Entmutigung die Zeit, da ihm Gottes Hilfe am nächsten<br />

ist; und er wird dankbar auf die dunkelste Strecke seines Lebensweges zurückschauen. „Der<br />

Herr weiß die Frommen aus <strong>de</strong>r Versuchung zu erretten.“ 2.Petrus 2,9. Aus je<strong>de</strong>r Versuchung,<br />

aus je<strong>de</strong>r Schwierigkeit wird sie Gott mit einem festeren Glauben und mit reicherer Erfahrung<br />

hervorgehen lassen. In <strong>de</strong>m Zögern <strong>Christi</strong>, zu Lazarus zu kommen, verbarg sich eine Tat <strong>de</strong>s<br />

Erbarmens gegen jene, die ihn nicht angenommen hatten. Er zögerte, damit er durch die<br />

Auferweckung <strong>de</strong>s Lazarus seinem halsstarrigen, ungläubigen Volk einen weiteren Beweis<br />

geben konnte, daß er wirklich die „Auferstehung und das Leben“ war. Er wollte nicht alle<br />

Hoffnung für das Volk, für die armen, verirrten Schafe aus <strong>de</strong>m Hause Israel aufgeben. Sein<br />

Herz zerbrach ob ihrer Unbußfertigkeit. In seiner Barmherzigkeit wollte er ihnen <strong>de</strong>utlich vor<br />

Augen führen, daß er <strong>de</strong>r Heiland war, <strong>de</strong>r Einzige, <strong>de</strong>r Leben und Unsterblichkeit geben<br />

konnte; er wollte ihnen einen Beweis geben, <strong>de</strong>n die Priester nicht wür<strong>de</strong>n miß<strong>de</strong>uten können.<br />

<strong>Die</strong>s war <strong>de</strong>r Grund seines Zögerns, sofort nach Bethanien zu reisen. <strong>Die</strong>ses krönen<strong>de</strong> Wun<strong>de</strong>r,<br />

359


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

die Auferweckung <strong>de</strong>s Lazarus, sollte das Siegel <strong>de</strong>s Allerhöchsten auf sein Werk und seinen<br />

göttlichen Anspruch sein.<br />

Auf <strong>de</strong>r Reise nach Bethanien widmete sich <strong>de</strong>r Heiland „nach seiner Gewohnheit“ <strong>de</strong>n<br />

Kranken und Notlei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n. Nach Erreichen <strong>de</strong>r Stadt sandte er einen Boten zu <strong>de</strong>n Schwestern,<br />

um ihnen seine Ankunft mitzuteilen. Christus betrat nicht sofort das Haus, son<strong>de</strong>rn verweilte<br />

erst an einem stillen Plätzchen am Wege. Der große äußerliche Aufwand, <strong>de</strong>r bei <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n<br />

beim To<strong>de</strong> von Freun<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r Verwandten üblich war, fand nicht <strong>de</strong>n Beifall <strong>Christi</strong>. Er hörte<br />

die Klagegesänge <strong>de</strong>r gemieteten Trauergäste und wollte die bei<strong>de</strong>n Schwestern nicht bei<br />

diesem verwirren<strong>de</strong>n Durcheinan<strong>de</strong>r begrüßen. Unter <strong>de</strong>n Trauergästen befan<strong>de</strong>n sich<br />

Familienangehörige, von <strong>de</strong>nen manche eine hohe, verantwortungsvolle Stellung in Jerusalem<br />

beklei<strong>de</strong>ten. Einige von ihnen gehörten zu Jesu ärgsten Fein<strong>de</strong>n; doch Christus kannte ihre<br />

Absichten, <strong>de</strong>shalb zeigte er sich ihnen auch nicht sofort.<br />

<strong>Die</strong> Nachricht von Jesu Kommen wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Martha so unauffällig übermittelt, daß die<br />

an<strong>de</strong>ren im Raume nichts davon erfuhren; selbst Maria, tief versunken in ihrem Kummer,<br />

merkte nichts davon. Martha stand sofort auf und ging hinaus, <strong>de</strong>m Herrn entgegen, während<br />

Maria — in <strong>de</strong>r Annahme, ihre Schwester ginge zum Grab <strong>de</strong>s Bru<strong>de</strong>rs — in ihrem Schmerz<br />

noch still sitzenblieb. Martha eilte <strong>de</strong>m Herrn entgegen, und die wi<strong>de</strong>rstrebendsten Gefühle<br />

bewegten ihr Herz. In <strong>de</strong>n ausdrucksvollen Zügen Jesu las sie die gleiche Zuneigung wie<br />

immer. Ihr Vertrauen in ihn war ungebrochen; dabei dachte sie an <strong>de</strong>n geliebten Toten, <strong>de</strong>n<br />

Jesus auch liebgehabt hatte. Schmerz erfüllte ihr Herz, weil <strong>de</strong>r Heiland nicht früher gekommen<br />

war; <strong>de</strong>nnoch war sie, als sie sagte: „Herr, wärest du hier gewesen, mein Bru<strong>de</strong>r wäre nicht<br />

gestorben“ (Johannes 11,21), voller Hoffnung, daß er selbst jetzt noch etwas tun wür<strong>de</strong>, um<br />

ihnen zu helfen. Schon zuvor, inmitten <strong>de</strong>s Klagelärms <strong>de</strong>r Trauergäste, hatten die Schwestern<br />

diese Worte immer erneut wie<strong>de</strong>rholt.<br />

Mit göttlicher und menschlicher Teilnahme blickte Jesus in das betrübte, von Gram<br />

gezeichnete Angesicht Marthas. Sie wollte das Vergangene nicht noch einmal erzählen; alles<br />

Geschehen drückte sich in <strong>de</strong>n ergreifen<strong>de</strong>n Worten aus: „Herr, wärest du hier gewesen,<br />

mein Bru<strong>de</strong>r wäre nicht gestorben.“ Und während sie in sein liebevolles Antlitz schaute, fügte<br />

sie hinzu: „Aber auch jetzt noch weiß ich, daß, was du bittest von Gott, das wird dir Gott<br />

geben.“ Johannes 11,22. Jesus ermutigte ihren Glauben und sagte: „Dein Bru<strong>de</strong>r wird<br />

auferstehen.“ Johannes 11,23. Er wollte durch seine Worte in Martha nicht die Hoffnung auf<br />

eine sofortige Verän<strong>de</strong>rung erwecken, son<strong>de</strong>rn ihre Gedanken über die gegenwärtige<br />

Auferweckung ihres Bru<strong>de</strong>rs hinaus auf die Auferstehung <strong>de</strong>r Gerechten lenken. <strong>Die</strong>s geschah,<br />

damit sie in <strong>de</strong>r Auferstehung <strong>de</strong>s Lazarus ein Unterpfand sehen möchte für die Auferstehung<br />

aller gerechten Toten und eine Versicherung, daß sie durch die Macht <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s erfüllt<br />

wür<strong>de</strong>.<br />

Martha antwortete: „Ich weiß wohl, daß er auferstehen wird in <strong>de</strong>r Auferstehung am<br />

Jüngsten Tage.“ Der Heiland versuchte ihren Glauben in die richtigen Bahnen zu lenken und<br />

sprach zu ihr: „Ich bin die Auferstehung und das Leben.“ Johannes 11,24.25. In Christus ist<br />

ursprüngliches, echtes, eigenes Leben. „Wer <strong>de</strong>n Sohn hat, <strong>de</strong>r hat das Leben.“ 1.Johannes 5,12.<br />

360


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

<strong>Die</strong> Gottheit <strong>Christi</strong> be<strong>de</strong>utet für <strong>de</strong>n Gläubigen die Gewißheit <strong>de</strong>s ewigen Lebens. „Wer an<br />

mich glaubt, <strong>de</strong>r wird leben, ob er gleich stürbe; und wer da lebet und glaubet an mich, <strong>de</strong>r wird<br />

nimmermehr sterben. Glaubst du das?“ Johannes 11,25.26. Christus dachte hier an seine<br />

Wie<strong>de</strong>rkunft, wenn die gerechten Toten „auferstehen unverweslich“ (1.Korinther 15,42) und die<br />

leben<strong>de</strong>n Gerechten in <strong>de</strong>n Himmel aufgenommen wer<strong>de</strong>n, ohne <strong>de</strong>n Tod zu schmecken. Das<br />

Wun<strong>de</strong>r, das Jesus jetzt vollziehen wollte, in<strong>de</strong>m er Lazarus sich vom To<strong>de</strong> erheben ließ, sollte<br />

die Auferstehung <strong>de</strong>r Gerechten Toten versinnbil<strong>de</strong>n. Durch seine Worte wie auch durch seine<br />

Werke kennzeichnete er sich selbst als Urheber <strong>de</strong>r Auferstehung. Er, <strong>de</strong>r selbst bald am Kreuz<br />

sterben sollte, stand da mit <strong>de</strong>n Schlüsseln <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s als Sieger über das Grab und behauptete<br />

sein Recht und seine Macht, das ewige Leben zu geben.<br />

<strong>Die</strong> Frage Jesu: „Glaubst du das?“ beantwortete Martha mit <strong>de</strong>m Bekenntnis: „Herr, ja; ich<br />

glaube, daß du bist <strong>de</strong>r Christus, <strong>de</strong>r Sohn Gottes, <strong>de</strong>r in die Welt gekommen ist.“ Johannes<br />

11,27. Sie verstand die Worte Jesu nicht in ihrer umfassen<strong>de</strong>n Be<strong>de</strong>utung, aber sie bekannte<br />

ihren Glauben an seine Gottheit und ihre Zuversicht, daß er fähig wäre, alles auszuführen, was<br />

auch immer er wollte. „Und da sie das gesagt hatte, ging sie hin und rief ihre Schwester Maria<br />

heimlich und sprach: Der Meister ist da und ruft dich.“ Johannes 11,28. Sie übermittelte ihre<br />

Nachricht so leise wie möglich; <strong>de</strong>nn die Priester und Obersten stan<strong>de</strong>n bereit, Jesus<br />

festzunehmen, wenn sich eine günstige Gelegenheit dazu böte. <strong>Die</strong> Wehschreie <strong>de</strong>r Klagen<strong>de</strong>n<br />

verhin<strong>de</strong>rten, daß ihre Worte gehört wur<strong>de</strong>n. Als Maria die Botschaft vernahm, erhob sie sich<br />

hastig und eilte mit einem brennen<strong>de</strong>n Leuchten auf ihrem Antlitz aus <strong>de</strong>m Raum. <strong>Die</strong><br />

Trauern<strong>de</strong>n, die glaubten, sie ginge zum Grabe, um zu weinen, folgten ihr. Als Maria <strong>de</strong>n Ort<br />

erreichte, an <strong>de</strong>m Jesus wartete, fiel sie zu seinen Füßen nie<strong>de</strong>r und sagte mit beben<strong>de</strong>r Stimme:<br />

„Herr, wärest du hier gewesen, mein Bru<strong>de</strong>r wäre nicht gestorben.“ Johannes 11,32. Das<br />

Wehklagen <strong>de</strong>r Trauern<strong>de</strong>n quälte sie jetzt, <strong>de</strong>nn sie sehnte sich nach einigen beruhigen<strong>de</strong>n<br />

Worten allein von Jesus. Da sie aber von <strong>de</strong>m Neid und <strong>de</strong>r Eifersucht wußte, die einige gegen<br />

Jesus hegten, hielt sie sich zurück, ihren Kummer völlig preiszugeben.<br />

„Als Jesus sie sah weinen und die Ju<strong>de</strong>n auch weinen, die mit ihr kamen, ergrimmte er im<br />

Geist und ward betrübt in sich selbst.“ Johannes 11,33. Er las in <strong>de</strong>n Herzen <strong>de</strong>r Umstehen<strong>de</strong>n,<br />

und er erkannte, daß bei manchen nur Schein war, was sich als echter Schmerz zu bekun<strong>de</strong>n<br />

schien. Er wußte, daß einige <strong>de</strong>r Begleiter, die hier Trauer heuchelten, binnen kurzem nicht nur<br />

ihm, <strong>de</strong>m mächtigen Wun<strong>de</strong>rtäter, nach <strong>de</strong>m Leben trachteten, son<strong>de</strong>rn auch <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r erst vom<br />

To<strong>de</strong> auferstehen wür<strong>de</strong>. Christus hätte ihnen die Maske ihrer gespielten Trauer abreißen<br />

können; doch er hielt seine gerechte Entrüstung zurück. <strong>Die</strong> Worte, die er wahrhaftig hätte<br />

sagen können, sagte er nicht, weil von <strong>de</strong>nen, die er liebhatte, jemand schmerzerfüllt zu seinen<br />

Füßen kniete, <strong>de</strong>r treu an ihn glaubte.<br />

„Wo habt ihr ihn hingelegt?“ fragte er. Da sagte man ihm: „Herr, komm und sieh<br />

es!“ Johannes 11,34. Sie gingen gemeinsam zum Grabe. Es war ein trauriges Bild, das sich<br />

ihnen bot. Lazarus war sehr beliebt gewesen, und die Tränen <strong>de</strong>r verwaisten Schwestern, die mit<br />

zucken<strong>de</strong>m Herzen um ihn weinten, vermischten sich mit <strong>de</strong>n Tränen jener, die seine Freun<strong>de</strong><br />

gewesen waren. Angesichts dieses menschlichen Elends und <strong>de</strong>r Tatsache, daß die<br />

361


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

bekümmerten Freun<strong>de</strong> über <strong>de</strong>n Verstorbenen klagen konnten, während <strong>de</strong>r Welt Heiland unter<br />

ihnen stand, gingen Jesus „die Augen über“. Obgleich er Gottes Sohn war, hatte er doch<br />

menschliche Natur angenommen, und er war erfüllt von menschlichem Weh. Sein<br />

empfindsames, barmherziges Herz erwacht stets zu echtem Mitgefühl. Er weint mit <strong>de</strong>n<br />

Weinen<strong>de</strong>n und freut sich mit <strong>de</strong>n Fröhlichen.<br />

Doch Jesus weinte nicht nur aus menschlichem Mitgefühl mit Maria und Martha. In seinen<br />

Tränen lag ein Schmerz, <strong>de</strong>r soviel größer war als menschliche Betrübnis, soviel <strong>de</strong>r Himmel<br />

höher ist als die Er<strong>de</strong>. Christus weinte nicht um Lazarus; <strong>de</strong>nn er war ja im Begriff, ihn aus <strong>de</strong>m<br />

Grabe zu rufen. Er weinte, weil viele von <strong>de</strong>nen, die jetzt um Lazarus trauerten, bald seinen<br />

Tod, <strong>de</strong>r er die Auferstehung und das Leben war, planen wür<strong>de</strong>n. Aber wie unfähig zeigten sich<br />

die ungläubigen Ju<strong>de</strong>n, seine Tränen richtig zu <strong>de</strong>uten! Einige, die in <strong>de</strong>n äußeren Umstän<strong>de</strong>n<br />

<strong>de</strong>s Geschehens nicht mehr erblicken konnten als nur eine Ursache für seinen Kummer, sagten<br />

leise: „Siehe, wie hat er ihn so lieb gehabt!“ An<strong>de</strong>re, die die Saat <strong>de</strong>s Unglaubens in die Herzen<br />

<strong>de</strong>r Versammelten zu streuen suchten, sprachen spöttisch: „Konnte, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Blin<strong>de</strong>n die Augen<br />

aufgetan hat, nicht schaffen, daß auch dieser nicht stürbe?“ Johannes 11,36.37. Wenn es in Jesu<br />

Macht lag, Lazarus zu retten, warum hatte er ihn dann sterben lassen?<br />

Mit seherischem Auge erkannte <strong>de</strong>r Heiland die Feindseligkeit <strong>de</strong>r Pharisäer und Sadduzäer.<br />

Er wußte, daß sie über seinen Tod beratschlagten. Er wußte auch, daß einige von <strong>de</strong>nen, die<br />

jetzt so mitfühlend schienen, bald selbst die Tür <strong>de</strong>r Hoffnung und das Tor zur Stadt Gottes<br />

zuschlagen wür<strong>de</strong>n. Mit seiner Erniedrigung und Kreuzigung begann sich ein Geschehen<br />

abzuwickeln, das in <strong>de</strong>r Zerstörung Jerusalems seinen Höhepunkt erreichen wür<strong>de</strong>; zu jener Zeit<br />

aber wären keine Klagelie<strong>de</strong>r für die Toten zu hören. Er beschrieb <strong>de</strong>utlich die Vergeltung, die<br />

Jerusalem treffen sollte. Er sah Jerusalem von römischen Legionen eingeschlossen, und er<br />

wußte, daß viele, die jetzt um Lazarus weinten, bei <strong>de</strong>r Belagerung <strong>de</strong>r Stadt getötet wür<strong>de</strong>n und<br />

in ihrem Sterben keinerlei Hoffnung hätten.<br />

Jesus weinte nicht nur wegen <strong>de</strong>r Vorgänge um ihn herum. Der Kummer aller Zeiten lag auf<br />

ihm. Er sah die schrecklichen Folgen <strong>de</strong>r Übertretung <strong>de</strong>s göttlichen Gesetzes. Er sah, daß im<br />

weltgeschichtlichen Geschehen, beginnend mit Abels Tod, <strong>de</strong>r Kampf zwischen Gut und Böse<br />

ohne Unterbrechung gedauert hatte. In die Zukunft schauend, erblickte er Leid und Schmerz,<br />

Tränen und Tod, die das Schicksal <strong>de</strong>r Menschheit sein wer<strong>de</strong>n. Sein Herz war verwun<strong>de</strong>t von<br />

<strong>de</strong>m Leid <strong>de</strong>r Menschen aller Län<strong>de</strong>r und Zeiten. <strong>Die</strong> Wehrufe <strong>de</strong>s sündigen Geschlechts<br />

lasteten schwer auf seiner Seele, und ihm „gingen die Augen über“, als er sich danach sehnte,<br />

all ihrem Elend abzuhelfen.<br />

„Da ergrimmte Jesus abermals in sich selbst und kam zum Grabe.“ Lazarus war in eine<br />

Felsenhöhle gelegt wor<strong>de</strong>n, und ein riesiger Stein verschloß <strong>de</strong>n Eingang. „Hebt <strong>de</strong>n Stein<br />

weg!“ (Johannes 11,38.39) befahl Jesus. In <strong>de</strong>r Annahme, daß er nur <strong>de</strong>n Toten sehen wolle,<br />

erhob Martha Einwendungen und antwortete, daß <strong>de</strong>r Leichnam seit vier Tagen begraben läge<br />

und die Verwesung bereits eingesetzt hätte. <strong>Die</strong>se Aussage, die vor <strong>de</strong>r Auferstehung <strong>de</strong>s<br />

Lazarus gemacht wur<strong>de</strong>, ließ Jesu Fein<strong>de</strong>n keine Möglichkeit, zu sagen, daß ein Betrug verübt<br />

wor<strong>de</strong>n wäre. In <strong>de</strong>r Vergangenheit hatten die Pharisäer falsche Behauptungen über die<br />

362


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

großartigsten Bekundungen göttlicher Macht verbreitet. Als Jesus die Tochter <strong>de</strong>s Jairus<br />

auferweckte, hatte er gesagt: „Das Kind ist nicht gestorben, son<strong>de</strong>rn es schläft.“ Markus 5,39.<br />

Da es nur kurze Zeit krank gewesen war und unmittelbar nach seinem To<strong>de</strong> wie<strong>de</strong>r auferweckt<br />

wur<strong>de</strong>, hatten die Pharisäer erklärt, das Kind wäre überhaupt nicht tot gewesen; <strong>de</strong>nn Jesus hätte<br />

selbst gesagt, es schliefe nur. Sie hatten <strong>de</strong>n Anschein erwecken wollen, als ob Christus<br />

Krankheit nicht heilen könnte, als ob seine Wun<strong>de</strong>r nur unehrliches Spiel wären. Doch in<br />

diesem Fall jetzt konnte niemand leugnen, daß Lazarus wirklich tot war.<br />

Will <strong>de</strong>r Herr ein Werk tun, beeinflußt Satan irgend jeman<strong>de</strong>n, dagegen Einspruch zu<br />

erheben. Jesus sagte: „Hebt <strong>de</strong>n Stein weg!“ Bereitet soweit wie möglich meine Aufgabe vor!<br />

Aber Marthas bestimmte und ehrempfindliche Art kam jetzt zum Vorschein. Sie wollte <strong>de</strong>n<br />

verwesen<strong>de</strong>n Körper ihres Bru<strong>de</strong>rs nicht zur Schau gestellt sehen. Dem menschlichen Herzen<br />

sind <strong>Christi</strong> Worte nicht leicht verständlich, und Marthas Glaube hatte die wahre Be<strong>de</strong>utung<br />

seiner Verheißung nicht begriffen. Der Heiland ta<strong>de</strong>lte Martha, <strong>de</strong>nnoch sprach er<br />

ungewöhnlich gütig zu ihr: „Habe ich dir nicht gesagt: wenn du glaubtest, so wür<strong>de</strong>st du die<br />

Herrlichkeit Gottes sehen?“ Johannes 11,40. Warum zweifelst du an meiner Macht? Warum<br />

willst du meinen Anfor<strong>de</strong>rungen wi<strong>de</strong>rstreben? Ich gab dir mein Wort, daß du die Herrlichkeit<br />

Gottes sehen solltest, so du glauben wür<strong>de</strong>st! Natürliche Hin<strong>de</strong>rnisse können das Werk <strong>de</strong>s<br />

Allmächtigen nicht aufhalten. Zweifel und Unglauben beweisen keine Demut. Blin<strong>de</strong>r Glaube<br />

an <strong>Christi</strong> Worte entspricht wahrer Demut und echter Selbsthingabe.<br />

„Hebt <strong>de</strong>n Stein weg!“ Christus hätte <strong>de</strong>m Stein gebieten können, daß er sich erhebe, und<br />

dieser wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>m Machtwort <strong>de</strong>s Herrn gehorcht haben; er hätte dies auch <strong>de</strong>n Engeln, die ihn<br />

umgaben, befehlen können. Auf sein Gebot hin wür<strong>de</strong>n unsichtbare Hän<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Stein<br />

weggewälzt haben; doch sollten Menschenhän<strong>de</strong> dieser Auffor<strong>de</strong>rung nachkommen. Dadurch<br />

wollte Christus zeigen, daß die Menschen mit Gott zusammenwirken sollen. Was menschliche<br />

Kraft ausführen kann, dazu wird keine göttliche berufen. Gott will auf die Mitarbeit <strong>de</strong>r<br />

Menschen nicht verzichten; er stärkt sie und arbeitet mit ihnen zusammen, wenn er sich <strong>de</strong>r<br />

seinem <strong>Die</strong>nst gewidmeten Kräfte und Fähigkeiten bedient.<br />

Der Befehl Jesu ist ausgeführt, <strong>de</strong>r Stein weggerollt. Alles geschieht offen und mit Bedacht,<br />

so daß alle sehen können, daß kein Betrug im Spiele ist. Vor ihnen liegt kalt und stumm <strong>de</strong>r<br />

Leichnam <strong>de</strong>s Lazarus in seinem Felsengrab. Das Schluchzen <strong>de</strong>r Leidtragen<strong>de</strong>n ist verstummt.<br />

Erstaunt und erwartungsvoll umstehen sie das Grab und warten <strong>de</strong>r Dinge, die da kommen<br />

sollen. Ruhig steht <strong>de</strong>r Heiland vor <strong>de</strong>m Grab. Ein heiliger Ernst liegt auf allen Anwesen<strong>de</strong>n.<br />

Jesus tritt näher an die Grabstätte heran. Zum Himmel aufblickend, spricht er: „Vater, ich danke<br />

dir, daß du mich erhört hast.“ Johannes 11,41. Kurz vorher erst hatten Jesu Fein<strong>de</strong> ihn <strong>de</strong>r<br />

Gotteslästerung angeklagt und Steine aufgenommen, „daß sie ihn steinigten“, weil er<br />

beanspruchte, Gottes Sohn zu sein. Sie beschuldigten ihn, durch Satans Macht Wun<strong>de</strong>r zu<br />

wirken. Doch hier nimmt Jesus erneut Gott als seinen Vater in Anspruch und in vollkommenem<br />

Vertrauen erklärt er, Gottes Sohn zu sein.<br />

In allem, was er tat, wirkte Jesus mit seinem Vater zusammen. Stets war er darauf bedacht,<br />

<strong>de</strong>utlich zu machen, daß sein Wirken nicht unabhängig von Gott geschah, son<strong>de</strong>rn daß er seine<br />

363


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Wun<strong>de</strong>r wirkte durch Glauben und Gebet. Er wünschte, daß alle seine Verbindung mit seinem<br />

Vater kennen sollten. „Vater“, sprach er, „ich danke dir, daß du mich erhört hast. Ich wußte<br />

wohl, daß du mich allezeit hörst; aber um <strong>de</strong>s Volks willen, das umhersteht, habe ich gere<strong>de</strong>t,<br />

damit sie glauben, daß du mich gesandt hast.“ Johannes 11,41.42. Mit diesen Worten wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>n<br />

Jüngern und <strong>de</strong>m Volk <strong>de</strong>r überzeugendste Beweis <strong>de</strong>r engen Verbindung zwischen Christus<br />

und Gott gegeben. Ihnen wur<strong>de</strong> gezeigt, daß <strong>Christi</strong> Anspruch kein Betrug war. „Da er das<br />

gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: Lazarus, komm heraus!“ Johannes 11,43. Seine klare,<br />

durchdringen<strong>de</strong> Stimme klingt an das Ohr <strong>de</strong>s Toten. Während er spricht, bricht das Göttliche<br />

durch seine menschliche Natur hindurch. In seinem Antlitz, das von <strong>de</strong>r Herrlichkeit Gottes<br />

erleuchtet ist, liest das Volk die Gewißheit seiner Macht. Je<strong>de</strong>s Auge ist fest auf <strong>de</strong>n Eingang<br />

<strong>de</strong>r Höhle gerichtet, je<strong>de</strong>s Ohr gespannt, das leiseste Geräusch zu erhaschen. Mit tiefer,<br />

schmerzlicher Anteilnahme warten alle auf das Zeugnis <strong>de</strong>r Göttlichkeit <strong>Christi</strong>, auf <strong>de</strong>n<br />

Beweis, <strong>de</strong>r seinen Anspruch, Gottes Sohn zu sein, bekräftigt o<strong>de</strong>r die Hoffnung seiner<br />

Anhänger für immer zunichte macht.<br />

Es regt sich in <strong>de</strong>m stillen Grab, und Lazarus, <strong>de</strong>r tot war, steht im Eingang <strong>de</strong>r Felsengruft.<br />

Seine Bewegungen sind behin<strong>de</strong>rt durch die Sterbekleidung, in <strong>de</strong>r er zur Ruhe gelegt wur<strong>de</strong>,<br />

und Christus sagt zu <strong>de</strong>n in Erstaunen versetzten Anwesen<strong>de</strong>n: „Löset die Bin<strong>de</strong>n und lasset ihn<br />

gehen!“ Johannes 11,44. Wie<strong>de</strong>r wur<strong>de</strong> ihnen vor Augen geführt, daß <strong>de</strong>r Menschensohn mit<br />

Gott zusammenarbeitet, um als Mensch für <strong>de</strong>n Menschen zu wirken. Lazarus ist frei und steht<br />

vor <strong>de</strong>n Versammelten, nicht als einer, <strong>de</strong>r von Krankheit ausgezehrt ist, mit schwachen,<br />

wanken<strong>de</strong>n Glie<strong>de</strong>rn, son<strong>de</strong>rn als ein Mann in <strong>de</strong>n besten Jahren und in <strong>de</strong>r vollen Kraft seiner<br />

stattlichen Männlichkeit. Aus seinen Augen blicken Klugheit und Liebe für <strong>de</strong>n Heiland.<br />

Anbetend wirft er sich ihm zu Füßen. Zuerst sind die am Grabe Weilen<strong>de</strong>n sprachlos vor<br />

Verwun<strong>de</strong>rung. Dann folgt ein unbeschreibliches Jubeln und Danken. <strong>Die</strong> Schwestern erhalten<br />

ihren Bru<strong>de</strong>r als eine Gabe von Gott zurück, und unter Freu<strong>de</strong>ntränen stammeln sie <strong>de</strong>m<br />

Heiland ihren Dank. Doch während die Geschwister und die Freun<strong>de</strong> sich freuen, wie<strong>de</strong>r vereint<br />

zu sein, verläßt <strong>de</strong>r Heiland <strong>de</strong>n Schauplatz. Als sie sich nach ihm, <strong>de</strong>m Lebensquell,<br />

umschauen, ist er nirgends zu fin<strong>de</strong>n.<br />

364


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 59: <strong>Die</strong> Anschläge <strong>de</strong>r Priester<br />

Bethanien lag so nahe bei Jerusalem, daß die Nachricht von <strong>de</strong>r Auferstehung <strong>de</strong>s Lazarus<br />

bald die Hauptstadt erreichte. Durch Kundschafter, die als Augenzeugen das Wun<strong>de</strong>r Jesu<br />

miterlebt hatten, wur<strong>de</strong>n die jüdischen Obersten schnellstens von <strong>de</strong>n Geschehnissen<br />

unterrichtet. Man berief sofort <strong>de</strong>n Hohen Rat ein, um sich über die weiteren Schritte schlüssig<br />

zu wer<strong>de</strong>n. Christus hatte nun völlig seine Macht über Tod und Grab bekun<strong>de</strong>t. Mit diesem<br />

mächtigen Wun<strong>de</strong>r gab Gott <strong>de</strong>n Menschen <strong>de</strong>n krönen<strong>de</strong>n Beweis, daß er seinen Sohn zu<br />

ihrem Heil in die Welt gesandt hatte. Es war eine Offenbarung göttlicher Macht, die genügte,<br />

je<strong>de</strong>n zu überzeugen, <strong>de</strong>r unter <strong>de</strong>r Herrschaft <strong>de</strong>r Vernunft und eines erleuchteten Gewissens<br />

stand. Viele, die Augenzeugen <strong>de</strong>r Auferstehung <strong>de</strong>s Lazarus gewesen waren, wur<strong>de</strong>n zum<br />

Glauben an Jesus geführt. Doch <strong>de</strong>r Haß <strong>de</strong>r Priester gegen ihn verstärkte sich. Alle geringeren<br />

Beweise seiner Göttlichkeit hatten sie verworfen, und jetzt waren sie erzürnt ob dieser neuen<br />

Wun<strong>de</strong>rtat. Der Tote war am hellen Tag und vor einer großen Zeugenschar auferweckt wor<strong>de</strong>n,<br />

und solch ein Beweis konnte durch keinerlei Kunstgriff hinwegerklärt wer<strong>de</strong>n. Allein <strong>de</strong>shalb<br />

wur<strong>de</strong> die Feindschaft <strong>de</strong>r Priester immer unversöhnlicher. Mehr <strong>de</strong>nn je waren sie<br />

entschlossen, <strong>Christi</strong> Wirken zu unterbin<strong>de</strong>n.<br />

<strong>Die</strong> Sadduzäer hatten sich, obgleich Jesus keineswegs günstig gewogen, nicht so voller<br />

Gehässigkeit gegen ihn gezeigt wie die Pharisäer. Ihr Haß gegen ihn war nicht so bitter<br />

gewesen. Doch jetzt fühlten sie sich ganz und gar beunruhigt; <strong>de</strong>nn sie glaubten ja nicht an die<br />

Auferstehung <strong>de</strong>r Toten. Sie führten die sogenannte „Wissenschaft“ an, die schlußfolgerte, daß<br />

es unmöglich wäre, einem toten Körper neues Leben einzuhauchen. Doch mit wenigen Worten<br />

hatte Christus ihre Lehrsätze wi<strong>de</strong>rlegt und ihnen bewiesen, daß sie we<strong>de</strong>r die heiligen Schriften<br />

noch die Macht Gottes kannten. Sie sahen keine Möglichkeit, <strong>de</strong>n durch die Wun<strong>de</strong>rtat beim<br />

Volk erzielten Eindruck auszulöschen. Wie konnten auch Menschen <strong>de</strong>m abspenstig gemacht<br />

wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>m es gelungen war, einen Toten <strong>de</strong>r Fessel <strong>de</strong>s Grabes zu entreißen? Lügenhafte<br />

Berichte wur<strong>de</strong>n in Umlauf gesetzt, doch die Wun<strong>de</strong>rtat konnte nicht geleugnet wer<strong>de</strong>n, und die<br />

Sadduzäer wußten nicht, wie sie <strong>de</strong>ren Eindruck begegnen sollten. Bisher hatten sie <strong>de</strong>m Plan,<br />

Jesus zu töten, nicht zugestimmt. Nach <strong>de</strong>r Auferstehung <strong>de</strong>s Lazarus jedoch sahen sie ein, daß<br />

nur dadurch, daß sie Jesus töteten, seine unerschrockenen Anklagen gegen sie unterbun<strong>de</strong>n<br />

wer<strong>de</strong>n konnten.<br />

<strong>Die</strong> Pharisäer ihrerseits glaubten an die Auferstehung. Sie vermochten nur nicht in diesem<br />

Wun<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Beweis zu erkennen, daß <strong>de</strong>r Messias mitten unter ihnen war; <strong>de</strong>nn stets hatten sie<br />

sein Wirken bekämpft. Von Anbeginn war er von ihnen gehaßt wor<strong>de</strong>n, weil er ihre<br />

scheinheiligen Ansprüche enthüllt hatte. Er hatte <strong>de</strong>n Deckmantel strenger Kulterfüllung, unter<br />

<strong>de</strong>m sich ihr sittlicher Nie<strong>de</strong>rgang verbarg, beiseite gerissen. Ihre unaufrichtigen<br />

Frömmigkeitsbeteuerungen sahen sie von <strong>de</strong>r reinen Frömmigkeit, die er verkün<strong>de</strong>te, verurteilt.<br />

Sie lechzten danach, sich an ihm für seine <strong>de</strong>utlichen Vorwürfe zu rächen. Sie hatten ihn<br />

herauszufor<strong>de</strong>rn gehofft, etwas zu sagen o<strong>de</strong>r zu tun, das ihnen Gelegenheit geben wür<strong>de</strong>, ihn<br />

zu verurteilen. Verschie<strong>de</strong>ntlich hatten sie versucht, ihn zu steinigen, aber er war ruhig aus ihrer<br />

Mitte gegangen und ihren Blicken entschwun<strong>de</strong>n.<br />

365


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

<strong>Die</strong> Wun<strong>de</strong>r, die er am Sabbat vollbrachte, galten <strong>de</strong>nen, „die da Leid tragen“ (Matthäus<br />

5,4), die Pharisäer jedoch hatten es darauf abgesehen, ihn als Sabbatschän<strong>de</strong>r zu verurteilen. Sie<br />

hatten versucht, die Herodianer gegen ihn aufzuwiegeln. Dabei erklärten sie, er versuche, ein<br />

Gegenkönigtum aufzurichten, und sie berieten mit ihnen, wie sie ihn vernichten könnten. Um<br />

die Römer gegen ihn aufzubringen, hatten sie ausgesagt, daß er sich bemühe, ihre Autorität zu<br />

untergraben. Sie nahmen je<strong>de</strong>n Vorwand zum Anlaß, ihn vom Volk fernzuhalten. Doch bisher<br />

waren ihre Versuche gescheitert. <strong>Die</strong> Menge, die seine Werke <strong>de</strong>r Barmherzigkeit bezeugte und<br />

seine klaren und heiligen Lehren hörte, wußte, daß diese nicht die Taten und Worte eines<br />

Sabbatschän<strong>de</strong>rs o<strong>de</strong>r Gottesleugners waren. Selbst die Beamten, von <strong>de</strong>n Pharisäern zu ihm<br />

gesandt, waren von seinen Worten so beeindruckt gewesen, daß sie nicht Hand an ihn zu legen<br />

vermochten. In ihrer Wut hatten die Ju<strong>de</strong>n schließlich eine Verordnung beschlossen, je<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r<br />

sich zu Jesus bekennen wür<strong>de</strong>, aus <strong>de</strong>r Synagoge auszuschließen.<br />

Als sich die Priester, Obersten und Ältesten zur Beratung versammelten, war es ihr fester<br />

Entschluß, Jesus, <strong>de</strong>r solche erstaunlichen Taten vollbrachte, daß sich alle darüber wun<strong>de</strong>rten,<br />

zum Schweigen zu bringen. Pharisäer und Sadduzäer waren sich nähergekommen als je zuvor.<br />

Bisher uneinig, wur<strong>de</strong>n sie eins in ihrer Gegnerschaft zu Christus. Niko<strong>de</strong>mus und Joseph<br />

hatten auf früheren Sitzungen die Verurteilung Jesu verhin<strong>de</strong>rt. Deshalb wur<strong>de</strong>n sie jetzt nicht<br />

zur Sitzung eingela<strong>de</strong>n. Es waren zwar noch an<strong>de</strong>re einflußreiche Männer im Hohen Rat, die an<br />

Jesus glaubten, doch ihr Einfluß konnte sich gegen <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r böswilligen Pharisäer nicht<br />

durchsetzen. Dennoch wur<strong>de</strong> zwischen <strong>de</strong>n Mitglie<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Versammlung keine Einigung<br />

erzielt. Der Hohe Rat war zu jener Zeit keine rechtskräftige Körperschaft; er wur<strong>de</strong> nur<br />

gedul<strong>de</strong>t. Einige seiner Ratsmitglie<strong>de</strong>r bezweifelten, ob es klug wäre, Jesus zu töten. Sie<br />

fürchteten eine Empörung <strong>de</strong>s Volkes, die die Römer veranlassen könnte, <strong>de</strong>r Priesterschaft<br />

weitere Vergünstigungen zu entziehen und ihr die Macht zu nehmen, die sie bisher noch besaß.<br />

<strong>Die</strong> Sadduzäer waren eins in ihrem Haß auf Christus. Dennoch wollten sie bei ihren Maßregeln<br />

vorsichtig sein, da sie fürchteten, die Römer wür<strong>de</strong>n ihnen ihre hohe Stellung nehmen.<br />

In dieser Ratsversammlung, die zusammengekommen war, um Pläne zu schmie<strong>de</strong>n, wie sie<br />

Christus töteten, war <strong>de</strong>r „Zeuge“ gegenwärtig, <strong>de</strong>r die prahlerischen Worte Nebukadnezars<br />

gehört hatte, <strong>de</strong>r Augenzeuge war <strong>de</strong>s götzendienerischen Festmahls Belsazars, <strong>de</strong>r dabei war,<br />

als Christus sich selbst in Nazareth als <strong>de</strong>n Gesalbten <strong>de</strong>s Herrn ankündigte. <strong>Die</strong>ser Zeuge war<br />

es nun, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Obersten bewußt machte, was sie taten. Ereignisse im Leben <strong>Christi</strong> stan<strong>de</strong>n<br />

ihnen mit einer Deutlichkeit vor Augen, die sie beunruhigte. Sie erinnerten sich <strong>de</strong>s Geschehens<br />

im Tempel, als Jesus, damals ein Kind von zwölf Jahren, vor <strong>de</strong>n Schriftgelehrten stand und<br />

ihnen Fragen stellte, über die sie sich wun<strong>de</strong>rten. Das gera<strong>de</strong> vollbrachte Wun<strong>de</strong>r, die<br />

Auferweckung <strong>de</strong>s Lazarus, zeugte davon, daß Jesus niemand an<strong>de</strong>rs war als <strong>de</strong>r Sohn Gottes.<br />

<strong>Die</strong> alttestamentlichen Schriften, die sich auf Christus bezogen, wur<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Ratsmitglie<strong>de</strong>rn in<br />

ihrer wahren Be<strong>de</strong>utung verständlich. Verwirrt und beunruhigt, fragten die Obersten: „Was tun<br />

wir?“ Johannes 11,47. <strong>Die</strong> Meinung <strong>de</strong>s Rates war geteilt. Unter <strong>de</strong>m Einfluß <strong>de</strong>s Heiligen<br />

Geistes konnten sich die Priester und Obersten nicht <strong>de</strong>r Überzeugung versagen, daß sie gegen<br />

Gott kämpften.<br />

366


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Als die Ratlosigkeit <strong>de</strong>r Versammelten ihren Höhepunkt erreicht hatte, erhob sich <strong>de</strong>r<br />

Hohepriester Kaiphas, ein stolzer, grausamer Mann, herrschsüchtig und unduldsam. Unter <strong>de</strong>s<br />

Kaiphas Verwandten befan<strong>de</strong>n sich Sadduzäer, stolz, dreist und rücksichtslos, voller Ehrgeiz<br />

und Grausamkeit, die sie unter <strong>de</strong>m Deckmantel angeblicher Gerechtigkeit verbargen. Kaiphas<br />

hatte die Weissagungen durchforscht, und obgleich er ihre wahre Be<strong>de</strong>utung nicht erkannte,<br />

sprach er mit großer Autorität und Überzeugungskraft: „Ihr wisset nichts; ihr be<strong>de</strong>nket auch<br />

nicht: Es ist euch besser, ein Mensch sterbe für das Volk, als daß das ganze Volk<br />

ver<strong>de</strong>rbe.“ Johannes 11,49.50.<br />

Jesus müsse diesen Weg gehen, drängte <strong>de</strong>r Hohepriester, auch wenn er unschuldig sei. Er<br />

war ihnen lästig, weil er das Volk an sich zog und das Ansehen <strong>de</strong>r Obersten schmälerte. Er war<br />

nur einer; es wäre besser, er stürbe, <strong>de</strong>nn daß er die Macht <strong>de</strong>r Obersten schwächte. Verlöre das<br />

Volk das Vertrauen zu seinen Führern, wür<strong>de</strong> die nationale Kraft zerstört. Kaiphas behauptete,<br />

daß die Anhänger Jesu sich nach diesem Wun<strong>de</strong>r wahrscheinlich zusammenrotten wür<strong>de</strong>n. Und<br />

dann wer<strong>de</strong>n die Römer eingreifen, so sagte er, und unseren Tempel schließen, unsere Gesetze<br />

aufheben und uns als Volk vernichten. Was zählt das Leben eines Galiläers gegenüber <strong>de</strong>m<br />

Bestand <strong>de</strong>r Nation? Wenn er <strong>de</strong>m Wohlergehen <strong>de</strong>s Volkes im Wege steht, erweisen wir Gott<br />

dann nicht einen <strong>Die</strong>nst, in<strong>de</strong>m wir Jesus beseitigen? „Es ist euch besser, ein Mensch sterbe für<br />

das Volk, als daß das ganze Volk ver<strong>de</strong>rbe.“ Johannes 11,49.50.<br />

Mit <strong>de</strong>m Hinweis, daß ein Mann für das Volk sterben müsse, <strong>de</strong>utete Kaiphas seine Kenntnis<br />

<strong>de</strong>r Prophezeiungen an, obgleich diese Kenntnis sehr begrenzt war. Doch Johannes nahm, in<br />

seinem Bericht von diesem Geschehen, diese Prophezeiung auf und zeigte ihre Be<strong>de</strong>utung in<br />

ihrer ganzen Tragweite. Er schrieb: „Nicht für das Volk allein, son<strong>de</strong>rn damit er auch die<br />

Kin<strong>de</strong>r Gottes, die zerstreut waren, zusammenbrächte.“ Johannes 11,52. Wie mit Blindheit<br />

geschlagen war <strong>de</strong>r hochmütige Kaiphas angesichts <strong>de</strong>r Sendung <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s!Auf <strong>de</strong>n Lippen<br />

<strong>de</strong>s Hohenpriesters wur<strong>de</strong> diese kostbarste Wahrheit in Lüge verkehrt.<br />

<strong>Die</strong> Ordnung, die er vertrat, grün<strong>de</strong>te sich auf einen vom Hei<strong>de</strong>ntum übernommenen<br />

Grundsatz. Unter <strong>de</strong>n Hei<strong>de</strong>n hatte das dunkle Bewußtsein, daß einer für das<br />

Menschengeschlecht sterben müsse, zum Darbringen von Menschenopfern geführt. Aus <strong>de</strong>r<br />

gleichen Auffassung heraus schlug Kaiphas vor, durch das Opfer Jesu das schuldig gewor<strong>de</strong>ne<br />

Volk zu retten — nicht von seinen Übertretungen, son<strong>de</strong>rn in seinen Übertretungen, damit es in<br />

seiner Sün<strong>de</strong> fortfahren könne. Durch eine solche Begründung gedachte er die Einwän<strong>de</strong> jener<br />

zu entkräften, die es wagen könnten zu sagen, daß nichts To<strong>de</strong>swürdiges an Jesus zu fin<strong>de</strong>n<br />

sei. Im Verlaufe dieser Beratungen waren die Fein<strong>de</strong> Jesu gründlich überführt wor<strong>de</strong>n. Der<br />

Heilige Geist hatte ihre Herzen beeinflußt; doch Satan kämpfte um die Herrschaft über sie. Er<br />

lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Schwierigkeiten, die sie wegen Jesus auszustehen hatten.<br />

Wie gering achtete dieser ihre Gerechtigkeit! Jesus aber zeigte ihnen eine weitaus größere<br />

Gerechtigkeit, die alle besitzen müssen, die Kin<strong>de</strong>r Gottes sein wollen. Ihren Formendienst und<br />

ihre Zeremonien nicht beachtend, hatte er die Sün<strong>de</strong>r ermutigt, sich unmittelbar an Gott, <strong>de</strong>n<br />

barmherzigen Vater, zu wen<strong>de</strong>n und ihm ihr Anliegen vorzutragen. Nach Meinung <strong>de</strong>s Hohen<br />

Rates war dadurch das Ansehen <strong>de</strong>r Priesterschaft herabgesetzt wor<strong>de</strong>n, ja, Jesus hatte sich<br />

367


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

sogar geweigert, die Lehren <strong>de</strong>r rabbinischen Schulen anzuerkennen. <strong>Die</strong> üblen Schliche <strong>de</strong>r<br />

Priester waren von ihm enthüllt und ihr Ansehen in nicht wie<strong>de</strong>rgutzumachen<strong>de</strong>r Weise<br />

geschädigt wor<strong>de</strong>n. Den Erfolg ihrer Grundsätze und Überlieferungen hatte er beeinträchtigt,<br />

in<strong>de</strong>m er erklärte, daß sie das Gesetz Gottes aufhöben, obgleich sie seine rituellen Bräuche<br />

streng beachteten. All das rief ihnen Satan ins Gedächtnis zurück.<br />

Er beeinflußte die Priester und Obersten, daß sie unbedingt Jesus töten müßten, um ihre<br />

Autorität aufrechtzuerhalten, und — sie folgten seinem Rat. <strong>Die</strong> Tatsache, daß sie ihre Macht,<br />

die sie damals ausübten, verlieren könnten, war für sie — wie sie meinten — Grund genug,<br />

diese Entscheidung zu treffen. Außer einigen wenigen, die es aber nicht wagten, ihre Ansichten<br />

auszusprechen, nahm <strong>de</strong>r Hohe Rat die Re<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Kaiphas als von Gott gegeben an. <strong>Die</strong><br />

Versammelten fühlten sich entlastet, die Mißstimmung war beseitigt. Sie beschlossen, Jesus bei<br />

<strong>de</strong>r ersten günstigen Gelegenheit zu töten. In<strong>de</strong>m sie <strong>de</strong>n Beweis <strong>de</strong>r Göttlichkeit Jesu<br />

ablehnten, hatten sich diese Priester und Obersten selbst in ein Netz undurchdringlicher<br />

Finsternis verstrickt. Sie waren gänzlich unter die Macht Satans geraten und damit <strong>de</strong>m ewigen<br />

Ver<strong>de</strong>rben preisgegeben. Dennoch glaubten sie Grund genug zu haben, mit sich selbst zufrie<strong>de</strong>n<br />

zu sein. Sie hielten sich für Patrioten, die sich um das Heil <strong>de</strong>r Nation verdient gemacht hatten.<br />

Der Hohe Rat fürchtete allerdings, übereilt zu han<strong>de</strong>ln. Das Volk könnte in Wut geraten und<br />

die geplante Gewalttat sich gegen sie selbst wen<strong>de</strong>n. Aus diesem Grun<strong>de</strong> verzögerte <strong>de</strong>r Rat die<br />

Vollstreckung <strong>de</strong>s Urteils, das er gefällt hatte. Der Heiland erkannte die Anschläge <strong>de</strong>r Priester.<br />

Er wußte, daß es sie danach verlangte, ihn zu beseitigen, und daß ihre Absicht bald in Erfüllung<br />

gehen wür<strong>de</strong>. Doch es war nicht seines Amtes, das Hereinbrechen <strong>de</strong>r Entscheidungsstun<strong>de</strong> zu<br />

beschleunigen, und er zog sich mit seinen Jüngern aus dieser Gegend zurück. Auf diese Weise<br />

bekräftigte Jesus durch sein eigenes Beispiel die Unterweisung, die er <strong>de</strong>n Jüngern gegeben<br />

hatte: „Wenn sie euch aber in einer Stadt verfolgen, so fliehet in eine an<strong>de</strong>re.“ Matthäus 10,23.<br />

Es war ein weites Feld, in <strong>de</strong>m es für die Rettung <strong>de</strong>r Menschen zu wirken galt, und sie sollten<br />

ihr Leben nicht gefähr<strong>de</strong>n, es sei <strong>de</strong>nn, die Treue gegen ihn verlangte es.<br />

Der Heiland hatte bisher drei Jahre lang öffentlich gewirkt. Seine Selbstverleugnung und<br />

sein uneigennütziges Wohltun, sein Leben <strong>de</strong>r Reinheit, sein Lei<strong>de</strong>n und seine Hingabe waren<br />

allen Menschen bekannt. Dennoch war diese kurze Zeitspanne von drei Jahren so lang, wie die<br />

Welt die Gegenwart ihres Heilan<strong>de</strong>s ertragen konnte. Jesu Leben war ein Leben unter<br />

Verfolgung und Schmähung gewesen. Aus Bethlehem von einem eifersüchtigen König<br />

vertrieben, von seinen Landsleuten in Nazareth verworfen, in Jerusalem ohne Ursache zum<br />

To<strong>de</strong> verurteilt, fand Jesus mit seinen wenigen Getreuen vorläufige Zuflucht in einer frem<strong>de</strong>n<br />

Stadt. Er, <strong>de</strong>r stets von menschlichem Leid angerührt war, <strong>de</strong>r die Kranken heilte, die Blin<strong>de</strong>n<br />

sehen machte, <strong>de</strong>n Tauben das Gehör und <strong>de</strong>n Stummen die Sprache gab, <strong>de</strong>r die Hungrigen<br />

speiste und die Betrübten tröstete, wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>m Volk vertrieben, das er erlösen wollte. Er, <strong>de</strong>r<br />

auf <strong>de</strong>n auf und ab wogen<strong>de</strong>n Wellen ging und durch ein Wort ihr zorniges Brausen stillte, <strong>de</strong>r<br />

die Teufel austrieb, die ihn im Entweichen noch als Gottes Sohn anerkannten, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Schlaf<br />

<strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s brach und Tausen<strong>de</strong> durch Worte <strong>de</strong>r Weisheit überwältigte: er konnte nicht die<br />

368


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Herzen <strong>de</strong>rer erreichen, die durch Vorurteil und Haß verblen<strong>de</strong>t waren und die das Licht <strong>de</strong>s<br />

Lebens halsstarrig von sich wiesen.<br />

369


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 60: Das Gesetz <strong>de</strong>s neuen Königreichs<br />

<strong>Die</strong> Zeit <strong>de</strong>s Passahfestes rückte näher, und Jesus wandte sich wie<strong>de</strong>r nach Jerusalem. Sein<br />

Herz war erfüllt von <strong>de</strong>m Frie<strong>de</strong>n einer vollkommenen Übereinstimmung mit <strong>de</strong>m Willen<br />

seines Vaters. Schnellen Schrittes eilte er <strong>de</strong>r Stätte <strong>de</strong>s Opfers zu. <strong>Die</strong> Jünger aber hatte ein<br />

Gefühl <strong>de</strong>s Zweifels und <strong>de</strong>r Furcht erfaßt; sie spürten, daß etwas Unabwendbares in <strong>de</strong>r Luft<br />

lag. Der Herr „ging ihnen voran, und sie entsetzten sich; die ihm aber nachfolgten, fürchteten<br />

sich“. Markus 10,32. Da rief Jesus die Zwölf zu sich und eröffnete ihnen entschie<strong>de</strong>ner als je<br />

zuvor die Geschehnisse seines Lei<strong>de</strong>nsweges. „Wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird<br />

alles vollen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n, was geschrieben ist durch die Propheten von <strong>de</strong>s Menschen Sohn. Denn<br />

er wird überantwortet wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Hei<strong>de</strong>n, und er wird verspottet und geschmäht und verspeit<br />

wer<strong>de</strong>n, und sie wer<strong>de</strong>n ihn geißeln und töten; und am dritten Tage wird er auferstehen. Sie aber<br />

verstan<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r keines, und die Re<strong>de</strong> war ihnen verborgen, und wußten nicht, was das Gesagte<br />

war.“ Lukas 18,31-34.<br />

Hatten sie nicht soeben noch verkündigt: „Das Himmelreich ist nahe<br />

herbeigekommen“? Matthäus 10,7. Hatte Christus nicht selbst verheißen, daß viele mit<br />

Abraham, Isaak und Jakob im Königreich Gottes sitzen wür<strong>de</strong>n? Matthäus 8,11. Ja, hatte er <strong>de</strong>n<br />

Zwölfen nicht darüber hinaus beson<strong>de</strong>re Ehrenstellungen in seinem Reich versprochen —<br />

<strong>de</strong>reinst wür<strong>de</strong>n sie „sitzen auf zwölf Thronen und richten die zwölf Stämme Israels“? Matthäus<br />

19,28. Eben noch hatte er hervorgehoben, daß alles, was die Propheten von ihm<br />

nie<strong>de</strong>rgeschrieben hatten, sich erfüllen wür<strong>de</strong>. Hatten die Propheten nicht <strong>de</strong>n Glanz <strong>de</strong>r<br />

messianischen Herrschaft vorhergesagt? Wenn man an diese Aussagen dachte, schienen Jesu<br />

Worte über Verrat, Verfolgung und Tod unklar und unverständlich zu sein. <strong>Die</strong><br />

Jünger glaubten, daß das Königreich Gottes trotz möglicherweise aufkommen<strong>de</strong>r<br />

Schwierigkeiten bald aufgerichtet wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>.<br />

Johannes, <strong>de</strong>r Sohn <strong>de</strong>s Zebedäus, gehörte zu <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n ersten Jüngern, die <strong>de</strong>m Herrn<br />

nachgefolgt waren. Er und sein Bru<strong>de</strong>r Jakobus hatten mit als erste alles verlassen, um ihm zu<br />

dienen. Freudig hatten sie sich von ihrer Familie und ihren Freun<strong>de</strong>n getrennt, weil sie bei ihm<br />

sein wollten. Sie waren mit ihm gewan<strong>de</strong>lt und hatten mit ihm gesprochen. In <strong>de</strong>r privaten<br />

Sphäre eines Heimes wie auch in öffentlichen Versammlungen waren sie an seiner Seite<br />

gewesen. Er hatte ihre Ängste besänftigt, sie aus Gefahren errettet, von Lei<strong>de</strong>n befreit, ihren<br />

Kummer gebannt und so lange geduldig und liebevoll mit ihnen gesprochen, bis ihre Herzen mit<br />

seinem Herzen übereinzustimmen schienen und sie sich in inbrünstiger Liebe danach sehnten,<br />

<strong>de</strong>reinst in seinem Königreich ganz nahe bei ihm zu sein. Bei je<strong>de</strong>r passen<strong>de</strong>n Gelegenheit war<br />

Johannes an <strong>de</strong>r Seite <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s zu fin<strong>de</strong>n, und auch Jakobus wünschte nichts sehnlicher,<br />

als durch eine enge Verbindung mit Jesus geehrt zu wer<strong>de</strong>n.<br />

Ihre Mutter war eine Nachfolgerin Jesu und hatte ihm mit allem gedient, was sie hatte. Mit<br />

<strong>de</strong>r Liebe und <strong>de</strong>m Ehrgeiz einer Mutter begehrte sie für ihre Söhne die ehrenvollsten Plätze im<br />

Königreich Jesu <strong>Christi</strong>. In diesem Sinne ermutigte sie die bei<strong>de</strong>n, Ansprüche an <strong>de</strong>n Herrn zu<br />

stellen. <strong>Die</strong> Mutter und ihre zwei Söhne suchten daraufhin gemeinsam Jesus auf, um ihm ihr<br />

370


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Herzensanliegen vorzutragen. „Was wollt ihr, daß ich euch tue?“ fragt er sie. Markus 10,36. <strong>Die</strong><br />

Mutter erwi<strong>de</strong>rte: „Laß diese meine zwei Söhne sitzen in <strong>de</strong>inem Reich, einen zu <strong>de</strong>iner<br />

Rechten und <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn zu <strong>de</strong>iner Linken.“ Matthäus 20,21. Jesus war ihnen sehr zugetan;<br />

<strong>de</strong>shalb ta<strong>de</strong>lte er auch nicht ihre Selbstsucht, mit <strong>de</strong>r sie persönliche Vorteile vor ihren Brü<strong>de</strong>rn<br />

suchten. Er las in ihren Herzen und kannte ihre tiefe Zuneigung zu ihm. Obwohl durch ihren<br />

irdischen Charakter verunreinigt, war ihre Liebe nicht nur eine menschliche Gemütsbewegung,<br />

son<strong>de</strong>rn sie entsprang seiner Erlöserliebe. „Könnt ihr <strong>de</strong>n Kelch trinken, <strong>de</strong>n ich trinken wer<strong>de</strong><br />

und euch taufen lassen mit <strong>de</strong>r Taufe, mit <strong>de</strong>r ich getauft wer<strong>de</strong>?“ fragte er sie. Ihnen fielen<br />

seine geheimnisvollen Worte ein, in <strong>de</strong>nen von Verfolgung und Lei<strong>de</strong>n die Re<strong>de</strong> war. Dennoch<br />

antworteten sie: „Ja, das können wir.“ Matthäus 20,22. Sie wür<strong>de</strong>n es sich zur höchsten Ehre<br />

anrechnen, wenn sie ihre Treue dadurch beweisen dürften, daß sie alles, was ihrem Herrn<br />

zustoßen sollte, mit ihm teilten.<br />

„Ihr wer<strong>de</strong>t ... <strong>de</strong>n Kelch trinken, <strong>de</strong>n ich trinke, und getauft wer<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>r Taufe, mit <strong>de</strong>r<br />

ich getauft wer<strong>de</strong>“, sagte Jesus daraufhin. Markus 10,39. Vor ihm lag ein Kreuz statt eines<br />

Thrones, und zu seiner Rechten und Linken zwei Übeltäter als Schicksalsgenossen. Jawohl,<br />

Johannes und Jakobus sollten an <strong>de</strong>m Lei<strong>de</strong>n ihres Meisters teilhaben dürfen! Der eine sollte als<br />

erster <strong>de</strong>r Brü<strong>de</strong>r durch das Schwert umkommen; <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re sollte am längsten von allen<br />

Mühsal, Schan<strong>de</strong> und Verfolgung erdul<strong>de</strong>n. „Aber das Sitzen zu meiner Rechten und Linken zu<br />

geben, steht mir nicht zu, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>nen es bereitet ist von meinem Vater.“ Matthäus 20,23. Im<br />

Reiche Gottes erlangt man Stellung und Wür<strong>de</strong> nicht durch Begünstigung. We<strong>de</strong>r kann man sie<br />

sich verdienen, noch wer<strong>de</strong>n sie einem beliebig verliehen. Sie sind eine Frucht <strong>de</strong>s Charakters.<br />

Krone und Thron sind Merkmale eines erreichten Zieles, sie sind Zeichen <strong>de</strong>r<br />

Selbstüberwindung durch unseren Herrn Jesus Christus.<br />

Lange danach, als Johannes durch die Teilhabe an <strong>de</strong>n Lei<strong>de</strong>n Jesu eng mit Christus<br />

verbun<strong>de</strong>n war, offenbarte ihm <strong>de</strong>r Herr, was es heißt, seinem Königreich nahe zu sein. Ihm<br />

sagte er: „Wer überwin<strong>de</strong>t, <strong>de</strong>m will ich geben, mit mir auf meinem Throne zu sitzen, wie ich<br />

überwun<strong>de</strong>n habe und mich gesetzt mit meinem Vater auf seinen Thron.“ Offenbarung 3,21.<br />

„Wer überwin<strong>de</strong>t, <strong>de</strong>n will ich machen zum Pfeiler in <strong>de</strong>m Tempel meines Gottes, und er soll<br />

nicht mehr hinausgehen, und ich will auf ihn schreiben <strong>de</strong>n Namen meines Gottes ... und<br />

meinen Namen, <strong>de</strong>n neuen.“ Offenbarung 3,12. Der Apostel Paulus drückt das so aus: „Ich<br />

wer<strong>de</strong> schon geopfert, und die Zeit meines Abschei<strong>de</strong>ns ist vorhan<strong>de</strong>n. Ich habe <strong>de</strong>n guten<br />

Kampf gekämpft, ich habe <strong>de</strong>n Lauf vollen<strong>de</strong>t, ich habe Glauben gehalten; hinfort ist mir bereit<br />

die Krone <strong>de</strong>r Gerechtigkeit, welche mir <strong>de</strong>r Herr, <strong>de</strong>r gerechte Richter, an jenem Tage geben<br />

wird.“ 2.Timotheus 4,6-8.<br />

Dem Herzen Jesu am nächsten stehen wird, wer hier auf Er<strong>de</strong>n am meisten von <strong>Christi</strong><br />

aufopfern<strong>de</strong>r Liebe in sich aufgenommen hat, von <strong>de</strong>r es heißt: „<strong>Die</strong> Liebe treibt nicht<br />

Mutwillen, sie blähet sich nicht, sie stellt sich nicht ungebärdig, sie suchet nicht das Ihre, sie<br />

läßt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu.“ 1.Korinther 13,4.5. <strong>Die</strong>se Liebe treibt<br />

<strong>de</strong>n Jünger an — wie sie auch unseren Herrn bewogen hat —, alles hinzugeben, zu leben, zu<br />

wirken und sich aufzuopfern, ja selbst <strong>de</strong>n Tod zu erlei<strong>de</strong>n, um die Menschheit zu retten. Das<br />

371


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Leben <strong>de</strong>s Apostels Paulus ist beispielhaft für diesen Geist. Er schreibt: „Christus ist mein<br />

Leben“, weil er durch sein Leben Christus <strong>de</strong>n Menschen offenbart, „und Sterben ist mein<br />

Gewinn“ — Gewinn für Christus. Philipper 1,21. Selbst <strong>de</strong>r Tod wür<strong>de</strong> die Macht <strong>de</strong>r göttlichen<br />

Gna<strong>de</strong> bekun<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>m Herrn Seelen zuführen. Sein Wunsch war, daß „Christus verherrlicht<br />

wer<strong>de</strong> an meinem Leibe, es sei durch Leben o<strong>de</strong>r durch Tod“. Philipper 1,20.Als die zehn<br />

an<strong>de</strong>ren Jünger von <strong>de</strong>m Ansinnen <strong>de</strong>s Jakobus und Johannes hörten, wur<strong>de</strong>n sie sehr<br />

ungehalten. Den höchsten Platz im Reiche Gottes wünschte sich ja je<strong>de</strong>r von ihnen. Nun waren<br />

sie erbost darüber, daß diese bei<strong>de</strong>n offenbar einen Vorteil vor ihnen erlangt hatten. Wie<strong>de</strong>r<br />

schien <strong>de</strong>r alte Streit ausbrechen zu wollen, wer von ihnen <strong>de</strong>r Größte wäre, als Jesus die<br />

empörten Jünger zu sich rief und sagte: „Ihr wisset, daß die weltlichen Fürsten ihre Völker<br />

nie<strong>de</strong>rhalten, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt. Aber so soll es nicht sein unter<br />

euch.“ Markus 10,42.43.<br />

In <strong>de</strong>n Reichen dieser Welt sind Rang und Wür<strong>de</strong>n gleichbe<strong>de</strong>utend mit Selbsterhöhung. Es<br />

wird vorausgesetzt, daß das einfache Volk nur zum Nutzen <strong>de</strong>r herrschen<strong>de</strong>n Klassen da ist.<br />

Einfluß, Wohlstand und Bildung bieten <strong>de</strong>n Regieren<strong>de</strong>n viele Möglichkeiten, die Massen zu<br />

ihrem eigenen Vorteil zu beherrschen. Sache <strong>de</strong>r Oberschicht sei es, zu <strong>de</strong>nken, zu entschei<strong>de</strong>n,<br />

zu genießen und zu regieren. <strong>Die</strong> an<strong>de</strong>rn hätten zu gehorchen und zu dienen. Über die Religion<br />

hätten wie über alle an<strong>de</strong>ren Dinge auch allein die staatlichen Behör<strong>de</strong>n zu befin<strong>de</strong>n. Das Volk<br />

habe nur zu glauben und das auszuführen, was die Vorgesetzen befehlen. Das natürliche Recht<br />

eines je<strong>de</strong>n Menschen, aus eigenem Antrieb zu <strong>de</strong>nken und zu han<strong>de</strong>ln, wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>m Volk völlig<br />

aberkannt.<br />

In <strong>de</strong>m Reich, das Christus errichtete, sollten an<strong>de</strong>re Grundsätze gelten. Er rief die Menschen<br />

nicht zur Herrschaft, son<strong>de</strong>rn zum <strong>Die</strong>nst. Der Starke sollte die Gebrechlichkeit <strong>de</strong>s Schwachen<br />

tragen. Wer über Macht, Stellung, Begabung, Bildung verfügt, soll damit in beson<strong>de</strong>rer Weise<br />

zum <strong>Die</strong>nst an seinen Mitmenschen verpflichtet sein. Selbst von <strong>de</strong>n Niedrigsten <strong>de</strong>r Nachfolger<br />

<strong>Christi</strong> heißt es: „Es geschieht alles um euretwillen.“ 2.Korinther 4,15. „Des Menschen Sohn ist<br />

nicht gekommen, daß er sich dienen lasse, son<strong>de</strong>rn daß er diene und gebe sein Leben zu einer<br />

Erlösung für viele.“ Markus 10,45. Im Kreise seiner Jünger war Christus in je<strong>de</strong>r Weise darauf<br />

bedacht, für sie zu sorgen und ihre Lasten zu tragen. Er teilte ihre Armut, verleugnete sich selbst<br />

um ihretwillen, ging vor ihnen her, um Schwierigkeiten zu glätten, und wür<strong>de</strong> bald seine<br />

irdische Aufgabe dadurch been<strong>de</strong>n, daß er sein Leben dahingab. Bei all seinen Handlungen geht<br />

es Christus darum, die Glie<strong>de</strong>r seiner Gemein<strong>de</strong>, die seinen Leib darstellt, anzuspornen. Liebe<br />

hat die Erlösung geplant, Liebe hat sie bewirkt. Im Königreich <strong>Christi</strong> wer<strong>de</strong>n jene die größten<br />

sein, die seinem Beispiel nacheifern und sich als Hirten seiner Her<strong>de</strong> bewähren.<br />

Der Apostel Paulus drückt die wahre Wür<strong>de</strong> und Ehre eines christlichen Lebens mit <strong>de</strong>n<br />

Worten aus: „Wiewohl ich frei bin von je<strong>de</strong>rmann, habe ich doch mich selbst je<strong>de</strong>rmann zum<br />

Knechte gemacht.“ 1.Korinther 9,19. „Ich ... suche nicht, was mir, son<strong>de</strong>rn was vielen frommt,<br />

damit sie gerettet wer<strong>de</strong>n.“ 1.Korinther 10,33. In Gewissensangelegenheiten dürfen nieman<strong>de</strong>m<br />

Fesseln angelegt wer<strong>de</strong>n. Niemand ist berechtigt, eines an<strong>de</strong>ren Denken zu beherrschen, für ihn<br />

zu entschei<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r ihm seine Pflichten vorzuschreiben. Gott verleiht je<strong>de</strong>m Menschen die<br />

372


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Freiheit, selbst zu <strong>de</strong>nken und seiner Überzeugung zu folgen. „So wird nun ein jeglicher für sich<br />

selbst Gott Rechenschaft geben.“ Römer 14,12. Niemand darf seine eigene Persönlichkeit in <strong>de</strong>r<br />

eines an<strong>de</strong>rn Menschen aufgehen lassen. In allen grundsätzlichen Fragen muß es heißen: „Ein<br />

jeglicher sei in seiner Meinung gewiß.“ Römer 14,5. Im Reiche Jesu <strong>Christi</strong> gibt es we<strong>de</strong>r<br />

gebieterische Unterdrückung noch Zwangsmittel. Auch die Engel <strong>de</strong>s Himmels steigen nicht<br />

auf die Er<strong>de</strong> herab, um hier zu herrschen und Ehrerbietung zu erzwingen, son<strong>de</strong>rn um als<br />

Botschafter <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong> gemeinsam mit <strong>de</strong>n Er<strong>de</strong>nbewohnern die menschliche Natur zu<br />

a<strong>de</strong>ln. <strong>Die</strong> Grundsätze und selbst die Worte aus <strong>de</strong>n Lehren <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s lebten in ihrer<br />

göttlichen Schönheit im Gedächtnis <strong>de</strong>s Lieblingsjüngers Jesu weiter. Bis in seine letzten Tage<br />

fühlte sich Johannes für die Gemein<strong>de</strong>n verantwortlich. „Das ist die Botschaft, die ihr gehört<br />

habt von Anfang, daß wir uns untereinan<strong>de</strong>r lieben sollen.“ 1.Johannes 3,11. „Daran haben wir<br />

erkannt die Liebe, daß er sein Leben für uns gelassen hat; und wir sollen auch das Leben für die<br />

Brü<strong>de</strong>r lassen.“ 1.Johannes 3,16. <strong>Die</strong>s war <strong>de</strong>r Geist, <strong>de</strong>r die frühe Christenheit durchdrang.<br />

Nach <strong>de</strong>r Ausgießung <strong>de</strong>s Heiligen Geistes wird bezeugt: „<strong>Die</strong> Menge aber <strong>de</strong>r Gläubigen war<br />

ein Herz und eine Seele; auch nicht einer sagte von seinen Gütern, daß sie sein<br />

wären.“ Apostelgeschichte 4,32. „Es war auch keiner unter ihnen, <strong>de</strong>r Mangel<br />

hatte.“ Apostelgeschichte 4,34. „Und mit großer Kraft gaben die Apostel Zeugnis von <strong>de</strong>r<br />

Auferstehung <strong>de</strong>s Herrn Jesus, und große Gna<strong>de</strong> war bei ihnen allen.“ Apostelgeschichte 4,33.<br />

373


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 61: Zachäus<br />

Auf <strong>de</strong>m Wege nach Jerusalem zog Jesus durch Jericho. <strong>Die</strong>se Stadt lag inmitten einer<br />

tropischen Vegetation von üppiger Schönheit, einige Kilometer vom Jordan entfernt am<br />

westlichen Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Tales, das sich hier zu einer Ebene ausweitet. Mit ihren Palmen und <strong>de</strong>n<br />

von quellen<strong>de</strong>n Brunnen bewässerten fruchtreichen Gärten leuchtete die von Hügeln und<br />

Schluchten eingefaßte Ebene wie ein E<strong>de</strong>lstein. Viele große Reisegesellschaften nahmen <strong>de</strong>n<br />

Weg zum Fest über Jericho. Ihre Ankunft leitete stets eine hochgestimmte Zeit ein; doch<br />

diesmal bewegte das Volk von Jericho ein tieferes Interesse. Es hatte erfahren, daß sich <strong>de</strong>r<br />

galiläische Rabbi, <strong>de</strong>r kürzlich <strong>de</strong>n Lazarus auferweckt hatte, in <strong>de</strong>r Menge befand. Obgleich<br />

Gerüchte von Anschlägen <strong>de</strong>r Priester zu sagen wußten, drängte es das Volk, ihm zu<br />

huldigen. Jericho gehörte zu <strong>de</strong>n Städten, die von alters her <strong>de</strong>n Priestern vorbehalten waren,<br />

und jetzt noch wohnte eine große Anzahl von ihnen in dieser Stadt. Ferner lebte hier eine<br />

Bevölkerung von außeror<strong>de</strong>ntlich unterschiedlichem Charakter. Jericho war ein großer<br />

Han<strong>de</strong>lsmittelpunkt, in <strong>de</strong>m sich neben Frem<strong>de</strong>n aus verschie<strong>de</strong>nerlei Gegen<strong>de</strong>n römische<br />

Beamte und Soldaten aufhielten. Zu<strong>de</strong>m machte das Eintreiben <strong>de</strong>s Zolls die Stadt zur Heimat<br />

vieler Zöllner.<br />

Ein Oberster <strong>de</strong>r Zöllner, Zachäus, war Ju<strong>de</strong> und wur<strong>de</strong> von seinen Landsleuten verachtet.<br />

Sein Rang und seine Wohlhabenheit waren <strong>de</strong>r Lohn für einen Beruf, <strong>de</strong>n diese verabscheuten<br />

und <strong>de</strong>r nur als eine an<strong>de</strong>re Bezeichnung für Ungerechtigkeit und Wucher angesehen wur<strong>de</strong>.<br />

Dennoch war <strong>de</strong>r reiche Zöllner nicht gänzlich <strong>de</strong>r gefühllose Betrüger, <strong>de</strong>r er zu sein schien.<br />

Unter <strong>de</strong>m Deckmantel von Eigennutz und Hochmut schlug ein Herz, das durchaus für göttliche<br />

Einflüsse empfänglich war. Zachäus hatte von Jesus gehört. Überallhin war das Gerücht von<br />

<strong>de</strong>m Einen gedrungen, <strong>de</strong>r sich auch gegenüber <strong>de</strong>n geächteten Menschenklassen freundlich<br />

und höflich verhielt.<br />

Der Oberste <strong>de</strong>r Zöllner war von <strong>de</strong>r Sehnsucht nach einem besseren Leben erfaßt wor<strong>de</strong>n.<br />

Johannes <strong>de</strong>r Täufer hatte am Jordan, nur wenige Kilometer von Jericho entfernt, gepredigt, und<br />

<strong>de</strong>ssen Bußruf hatte auch Zachäus vernommen. <strong>Die</strong> an die Zöllner gerichtete Anweisung:<br />

„For<strong>de</strong>rt nicht mehr, als euch verordnet ist“ (Lukas 3,13), war ihm zu Herzen gegangen, obwohl<br />

er sie äußerlich mißachtete. Er kannte die heiligen Schriften und war überzeugt, daß er falsch<br />

gehan<strong>de</strong>lt hatte. Da er nun die Worte hörte, die von <strong>de</strong>m großen Lehrer stammten, fühlte er, daß<br />

er in <strong>de</strong>n Augen Gottes ein Sün<strong>de</strong>r war. Doch was er von Jesus gehört hatte, ließ Hoffnung in<br />

seinem Herzen aufflammen. Zu bereuen und sein Leben zu erneuern, war selbst bei ihm<br />

möglich. War nicht einer aus <strong>de</strong>m engsten Jüngerkreis <strong>de</strong>s neuen Lehrers auch ein Zöllner<br />

gewesen? Zachäus begann sofort <strong>de</strong>r Überzeugung zu folgen, die ihn überwältigt hatte, und an<br />

jenen Menschen, die er geschädigt hatte, wie<strong>de</strong>rgutzumachen.<br />

Schon war er dabei, seinen bisherigen Weg zurückzuverfolgen, als die Kun<strong>de</strong> durch Jericho<br />

ging, daß Jesus in die Stadt einziehe. In Zachäus entbrannte <strong>de</strong>r Wunsch, <strong>de</strong>n Herrn zu sehen.<br />

Gera<strong>de</strong> erst begann ihm zu dämmern, wie bitter die Früchte <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> schmecken und wie<br />

mühsam <strong>de</strong>r Pfad ist, auf <strong>de</strong>m er versuchte, sich von <strong>de</strong>m Unrecht abzuwen<strong>de</strong>n. Mißverstan<strong>de</strong>n<br />

374


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

zu sein und die Bemühungen seine Fehler wie<strong>de</strong>rgutzumachen, mit Mißtrauen und Argwohn<br />

betrachtet zu sehen, das war schwer zu ertragen. Der Oberste <strong>de</strong>r Zöllner sehnte sich danach,<br />

<strong>de</strong>m Einen ins Angesicht zu sehen, <strong>de</strong>ssen Worte sein Herz so hoffnungsfroh gemacht<br />

hatten. <strong>Die</strong> Straßen waren gedrängt voll, und Zachäus, nur von kleiner Statur, konnte nicht über<br />

die Köpfe <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren hinwegsehen. Keiner wür<strong>de</strong> ihm Platz machen. So rannte er ein wenig<br />

<strong>de</strong>r Menge voraus zu einem Maulbeerfeigenbaum, <strong>de</strong>ssen Äste sich über <strong>de</strong>n Weg breiteten.<br />

Der reiche Zöllner erklomm einen Sitz im Gezweig, von wo aus er die Kolonne überblicken<br />

konnte, wenn sie unter ihm vorüberzog. <strong>Die</strong> Menge kam näher und schritt vorbei, während<br />

Zachäus mit suchen<strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>n zu erkennen trachtete, <strong>de</strong>n er zu sehen begehrte.<br />

Das Geschrei <strong>de</strong>r Priester und Rabbis und die Willkommensrufe <strong>de</strong>r Menge durchdringend,<br />

fand das unausgesprochene Verlangen <strong>de</strong>s Obersten <strong>de</strong>r Zöllner Eingang in Jesu Herz.<br />

Plötzlich, gera<strong>de</strong> unter <strong>de</strong>m Maulbeerfeigenbaum, verhielt eine Gruppe ihren Schritt, die ganze<br />

Begleitung stockte, und Jesus, <strong>de</strong>ssen Blick in <strong>de</strong>r Seele zu lesen schien, schaute nach oben. Der<br />

Mann im Baum glaubte nicht recht zu hören, als er vernahm: „Zachäus, steig eilend hernie<strong>de</strong>r;<br />

<strong>de</strong>nn ich muß heute in <strong>de</strong>inem Hause einkehren.“ Lukas 19,5. <strong>Die</strong> Menge gab <strong>de</strong>n Weg frei, und<br />

Zachäus ging, wie in einem Traum befangen, <strong>de</strong>n Weg voran seinem Hause zu. Doch die<br />

Rabbis blickten grollend auf dieses Geschehen und murmelten unzufrie<strong>de</strong>n und abschätzig:<br />

„Bei einem Sün<strong>de</strong>r ist er eingekehrt.“ Lukas 19,7.<br />

Zachäus war von <strong>de</strong>r Liebe und Zuneigung, die Jesus ihm, <strong>de</strong>m Unwürdigen,<br />

entgegenbrachte, überwältigt und sehr verwun<strong>de</strong>rt; und er verstummte. Nur die Liebe und<br />

Ergebenheit gegenüber seinem neugefun<strong>de</strong>nen Meister öffneten ihm die Lippen. Er wollte sein<br />

Bekenntnis und seine Reue allen kundtun. Im Beisein <strong>de</strong>r großen Volksmenge trat er „vor <strong>de</strong>n<br />

Herrn und sprach: Siehe, Herr, die Hälfte meiner Güter gebe ich <strong>de</strong>n Armen, und wenn ich<br />

jemand betrogen habe, das gebe ich vierfältig wie<strong>de</strong>r. Jesus aber sprach zu ihm: Heute ist<br />

diesem Hause Heil wi<strong>de</strong>rfahren, <strong>de</strong>nn auch er ist Abrahams Sohn.“ Lukas 19,8.9.<br />

Als <strong>de</strong>r reiche Jüngling gegangen war, hatten sich die Jünger über die Worte ihres Meisters<br />

entsetzt: „Wie schwer ist‘s für die, so ihr Vertrauen auf Reichtum setzen, ins Reich Gottes zu<br />

kommen!“ Sie hatten einan<strong>de</strong>r gefragt. „Wer kann dann selig wer<strong>de</strong>n?“ Markus 10,24.26. Nun<br />

war ihnen die Wahrheit <strong>de</strong>r Worte <strong>Christi</strong> veranschaulicht wor<strong>de</strong>n: „Was bei <strong>de</strong>n Menschen<br />

unmöglich ist, das ist bei Gott möglich.“ Lukas 18,27. Sie erkannten, wie ein Reicher dank <strong>de</strong>r<br />

Gna<strong>de</strong> Gottes in das Himmelreich kommen konnte. Noch ehe Zachäus Jesus begegnet war,<br />

hatte er das begonnen, was ihn als echten Büßer auswies; noch ehe er von Menschen<br />

beschuldigt wur<strong>de</strong>, hatte er seine Sün<strong>de</strong> bekannt. Er hatte sich <strong>de</strong>r Wirksamkeit <strong>de</strong>s Heiligen<br />

Geistes überlassen und die Lehren auszuführen begonnen, die für das alte Israel ebenso<br />

geschrieben waren, wie sie für uns geschrieben sind, Gott hatte einst gesagt: „Wenn <strong>de</strong>in Bru<strong>de</strong>r<br />

neben dir verarmt und nicht mehr bestehen kann, so sollst du dich seiner annehmen wie eines<br />

Fremdlings o<strong>de</strong>r Beisassen, daß er neben dir leben könne; und du sollst nicht Zinsen von ihm<br />

nehmen noch Aufschlag, son<strong>de</strong>rn sollst dich vor <strong>de</strong>inem Gott fürchten, daß <strong>de</strong>in Bru<strong>de</strong>r neben<br />

dir leben könne. Denn du sollst ihm <strong>de</strong>in Geld nicht auf Zinsen leihen noch Speise geben gegen<br />

Aufschlag.“ 3.Mose 25,35-37. „So übervorteile nun keiner seinen Nächsten, son<strong>de</strong>rn fürchte<br />

375


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

dich vor <strong>de</strong>inem Gott; <strong>de</strong>nn ich bin <strong>de</strong>r Herr, euer Gott.“ 3.Mose 25,17. <strong>Die</strong>se Worte hatte<br />

Christus selbst gesprochen, als er — in <strong>de</strong>r Wolkensäule verhüllt — sein Volk führte; und das<br />

erste Echo <strong>de</strong>s Zachäus auf die Liebe Jesu zeigte sich im Erbarmen mit <strong>de</strong>n Armen und<br />

Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n.<br />

Unter <strong>de</strong>n Zöllnern herrschte ein geheimes Einverständnis, so daß sie das Volk unterdrücken<br />

und sich gegenseitig in ihren betrügerischen Handlungen unterstützen konnten. Bei ihren<br />

Erpressungen führten sie nur aus, was schon eine fast allgemein übliche Sitte gewor<strong>de</strong>n war.<br />

Sogar die Priester und Rabbis, die sonst verächtlich auf die Zöllner herabschauten, bereicherten<br />

sich unter <strong>de</strong>m Deckmantel ihres heiligen Amtes auf unehrliche Weise. Doch kaum hatte sich<br />

Zachäus unter <strong>de</strong>n Einfluß <strong>de</strong>s Heiligen Geistes begeben, als er auch schon von je<strong>de</strong>m<br />

unredlichen Han<strong>de</strong>ln abließ. Keine Reue ist echt, wenn sie nicht eine völlige Umkehr bewirkt.<br />

<strong>Die</strong> Gerechtigkeit <strong>Christi</strong> ist kein Mäntelchen, um unbekannte und nicht aufgegebene Sün<strong>de</strong>n<br />

darunter zu verbergen; sie ist vielmehr ein Lebensgrundsatz, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Charakter umwan<strong>de</strong>lt und<br />

das Verhalten prüft. Gerechtigkeit be<strong>de</strong>utet völliges Aufgehen in Gott, die umfassen<strong>de</strong><br />

Übergabe <strong>de</strong>s Herzens und <strong>de</strong>s Lebens an <strong>de</strong>n Willen Gottes.<br />

Der Christ sollte in seinem Geschäftsgebaren <strong>de</strong>r Welt zeigen, wie unser Herr geschäftliche<br />

Unternehmen durchführen wür<strong>de</strong>. Bei je<strong>de</strong>m Geschäftsabschluß gilt es zu bekun<strong>de</strong>n, daß Gott<br />

unser Lehrer ist. Auf <strong>de</strong>n Tagebüchern und Hauptbüchern, auf Urkun<strong>de</strong>n, Quittungen und<br />

Wechseln sollte „Heilig <strong>de</strong>m Herrn“ geschrieben stehen. Wer vorgibt, ein Nachfolger <strong>Christi</strong> zu<br />

sein, in Wirklichkeit aber unredlich han<strong>de</strong>lt, legt ein falsches Zeugnis ab von <strong>de</strong>m heiligen,<br />

gerechten und barmherzigen Wesen <strong>de</strong>s Herrn. Je<strong>de</strong>r bekehrte Mensch wird — wie Zachäus —<br />

<strong>de</strong>n Eingang <strong>Christi</strong> in sein Herz dadurch offenbaren, daß er allen ungerechten Handlungen<br />

entsagt, die sein Leben bisher bestimmt haben. Gleich <strong>de</strong>m Obersten <strong>de</strong>r Zöllner wird er seine<br />

Aufrichtigkeit dadurch bezeugen, daß er das Unrecht wie<strong>de</strong>rgutmacht. Gott sagt: Wenn er aber<br />

sich bekehrt „von seiner Sün<strong>de</strong> und übt Recht und Gerechtigkeit, in<strong>de</strong>m er das Pfand<br />

zurückerstattet und ersetzt, was er geraubt hat, und lebt nach <strong>de</strong>n Satzungen <strong>de</strong>s Lebens, ohne<br />

Böses zu tun, dann bleibt er mit Gewißheit am Leben. Er soll nicht sterben. Keine seiner<br />

Sün<strong>de</strong>n, die er begangen hat, sollen ihm noch angerechnet wer<strong>de</strong>n. Er hat Recht und<br />

Gerechtigkeit geübt; er wird gewiß am Leben bleiben.“ Hesekiel 33,15.16 (Bruns).<br />

Haben wir an<strong>de</strong>re durch irgen<strong>de</strong>inen ungerechten Geschäftsabschluß geschädigt, haben wir<br />

einen Menschen übervorteilt o<strong>de</strong>r betrogen, selbst wenn es nicht gegen die gesetzlichen<br />

Grenzen verstieß, so sollten wir unser Unrecht bekennen und es wie<strong>de</strong>rgutmachen, soweit es in<br />

unserer Macht liegt. Es ist unsere Schuldigkeit, nicht nur das zurückzuerstatten, was wir<br />

genommen haben, son<strong>de</strong>rn es mit Zins und Zinseszins zurückzugeben. Der Heiland sagte zu<br />

Zachäus: „Heute ist diesem Hause Heil wi<strong>de</strong>rfahren.“ Lukas 19,8.9. Nicht allein Zachäus wur<strong>de</strong><br />

gesegnet, son<strong>de</strong>rn mit ihm seine ganze Familie. Christus ging in sein Heim, um ihn in <strong>de</strong>r<br />

Wahrheit zu unterrichten und seine Familie in <strong>de</strong>n Dingen <strong>de</strong>s Reiches Gottes zu unterweisen.<br />

Durch die Verachtung <strong>de</strong>r Rabbis und <strong>de</strong>r Gläubigen war Zachäus und <strong>de</strong>n Seinen <strong>de</strong>r Besuch<br />

<strong>de</strong>r Synagoge verwehrt gewesen; doch jetzt versammelten sie sich als die bevorzugteste Familie<br />

in ganz Jericho in ihrem eigenen Hause um <strong>de</strong>n göttlichen Lehrer und lauschten aufmerksam<br />

376


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

<strong>de</strong>n Worten <strong>de</strong>s Lebens. Wer <strong>de</strong>n Herrn als seinen persönlichen Heiland in sich aufnimmt, <strong>de</strong>n<br />

überkommt göttliches Heil. Zachäus beherbergte Jesus nicht nur als einen vorübergehen<strong>de</strong>n<br />

Gast seines Hauses, son<strong>de</strong>rn als <strong>de</strong>n Einen, <strong>de</strong>r ständig in seinem Herzen wohnen sollte. <strong>Die</strong><br />

Schriftgelehrten und Pharisäer beschuldigten ihn, ein Sün<strong>de</strong>r zu sein, und sie murrten wi<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n<br />

Herrn, weil er Zachäus besuchte. Doch <strong>de</strong>r Heiland erkannte in diesem „Obersten <strong>de</strong>r Zöllner“<br />

einen Sohn Abrahams; <strong>de</strong>nn „die <strong>de</strong>s Glaubens sind, das sind Abrahams Kin<strong>de</strong>r“. Galater 3,7.<br />

377


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 62: Das Fest im Hause Simons<br />

Auch Simon von Bethanien wur<strong>de</strong> als ein Jünger Jesu angesehen. Er war einer <strong>de</strong>r wenigen<br />

Pharisäer, die sich offen <strong>Christi</strong> Nachfolgern anschlossen. Er hatte Jesus als Lehrer anerkannt<br />

und hoffte, daß er <strong>de</strong>r Messias wäre; doch als Heiland hatte er ihn nicht angenommen. Sein<br />

Wesen war noch nicht umgestaltet, sein Denken noch unverän<strong>de</strong>rt. Jesus hatte ihn vom Aussatz<br />

geheilt und ihn dadurch für sich gewonnen. Aus Dankbarkeit dafür gab Simon bei Jesu letztem<br />

Besuch in Bethanien für ihn und seine Jünger ein großes Fest, bei <strong>de</strong>m viele Ju<strong>de</strong>n versammelt<br />

waren. Gera<strong>de</strong> zu dieser Zeit herrschte in Jerusalem große Erregung: Jesus und seine Sendung<br />

zogen größere Aufmerksamkeit auf sich <strong>de</strong>nn je zuvor. <strong>Die</strong> Besucher <strong>de</strong>s Festes beobachteten<br />

genau je<strong>de</strong>n seiner Schritte, und manche verfolgten ihn gar mit feindseligen Blicken.<br />

Sechs Tage vor <strong>de</strong>m Passahfest war <strong>de</strong>r Heiland nach Bethanien gekommen und seiner<br />

Gewohnheit gemäß im Haus <strong>de</strong>s Lazarus eingekehrt. <strong>Die</strong> Schar <strong>de</strong>r Mitreisen<strong>de</strong>n, die nach <strong>de</strong>r<br />

Hauptstadt weiterzog, verbreitete die Nachricht, daß er auf <strong>de</strong>m Wege nach Jerusalem sei und<br />

<strong>de</strong>n Sabbat über in Bethanien ruhe. Unter <strong>de</strong>m Volk herrschte große Begeisterung. Viele<br />

strömten nach Bethanien, manche ohne Mitgefühl für Jesus, an<strong>de</strong>re wie<strong>de</strong>r aus Neugier, um <strong>de</strong>n<br />

zu sehen, <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>n Toten auferweckt wor<strong>de</strong>n war. Sie erwarteten von Lazarus einen<br />

großartigen Bericht über seine Erlebnisse nach <strong>de</strong>m To<strong>de</strong>, und sie waren erstaunt, daß er nichts<br />

erzählte. Er hatte ja auch nichts zu berichten; <strong>de</strong>nn „die Toten ... wissen nichts; ... sie haben kein<br />

Teil mehr auf <strong>de</strong>r Welt an allem, was unter <strong>de</strong>r Sonne geschieht“. Prediger 9,5.6. Doch Lazarus<br />

gab ein herrliches Zeugnis für das Wirken <strong>Christi</strong>; dafür war er von <strong>de</strong>n Toten auferweckt<br />

wor<strong>de</strong>n. Kraftvoll und mit aller Bestimmtheit erklärte er, daß Jesus <strong>de</strong>r Sohn Gottes sei.<br />

<strong>Die</strong> Berichte, die von <strong>de</strong>n Besuchern Bethaniens nach Jerusalem gelangten, erhöhten noch<br />

die Aufregung. Je<strong>de</strong>r wollte Jesus sehen und hören. Man fragte sich allgemein, ob Lazarus mit<br />

<strong>de</strong>m Herrn nach Jerusalem ginge und ob <strong>de</strong>r Prophet am Passahfest zum König gekrönt wer<strong>de</strong>n<br />

wür<strong>de</strong>. <strong>Die</strong> Priester und Obersten erkannten, daß ihr Einfluß auf das Volk immer mehr nachließ,<br />

und ihr Zorn gegen Jesus wuchs ständig. Kaum konnten sie die Gelegenheit erwarten, ihn für<br />

immer aus <strong>de</strong>m Weg zu räumen, und als die Zeit verstrich, befürchteten sie schon, daß er nach<br />

allem Geschehenen nicht nach Jerusalem kommen wür<strong>de</strong>. Sie dachten daran, wie oft Jesus<br />

schon ihre mör<strong>de</strong>rischen Absichten vereitelt hatte, und sie waren besorgt, daß er auch jetzt ihre<br />

gegen ihn gerichteten Absichten erkannt hatte und wegbliebe. Sie konnten nur schlecht ihre<br />

Ängstlichkeit verbergen und fragten einan<strong>de</strong>r: „Was dünkt euch? Wird er wohl kommen auf das<br />

Fest?“ Johannes 11,56.<br />

Eine Versammlung <strong>de</strong>r Priester und Pharisäer wur<strong>de</strong> einberufen. Seit <strong>de</strong>r Auferweckung <strong>de</strong>s<br />

Lazarus waren die Sympathien <strong>de</strong>s Volkes so völlig auf <strong>de</strong>r Seite Jesu, daß es gefährlich schien,<br />

ihn offen zu ergreifen. Sie beschlossen darum, ihn heimlich zu ergreifen und die Untersuchung<br />

so unbemerkt wie nur möglich zu führen. Sie hofften, daß sich die wankelmütige Gunst <strong>de</strong>s<br />

Volkes ihnen wie<strong>de</strong>r zukehrte, wenn erst seine Verurteilung bekannt wür<strong>de</strong>. Auf diese Weise<br />

sollte Jesus vernichtet wer<strong>de</strong>n. Doch die Priester und Gelehrten wußten auch, daß sie sich nicht<br />

sicher fühlen konnten, solange Lazarus lebte. <strong>Die</strong> bloße Existenz eines Mannes, <strong>de</strong>r vier Tage<br />

378


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

im Grabe gelegen hatte und durch ein Wort Jesu wie<strong>de</strong>r zum Leben auferweckt wor<strong>de</strong>n war,<br />

konnte früher o<strong>de</strong>r später eine Gegenwirkung hervorrufen, und das Volk wür<strong>de</strong> dann an ihren<br />

Führern <strong>de</strong>n Tod <strong>de</strong>s Einen rächen, <strong>de</strong>r solch ein Wun<strong>de</strong>r hatte vollbringen können. Darum<br />

beschloß <strong>de</strong>r Hohe Rat auch <strong>de</strong>n Tod <strong>de</strong>s Lazarus. So weit führten <strong>de</strong>r Neid und das Vorurteil<br />

ihre Sklaven. Der Haß und <strong>de</strong>r Unglaube bei <strong>de</strong>n jüdischen Führern nahm so zu, daß sie sogar<br />

einem Menschen das Leben nehmen wollten, <strong>de</strong>n göttliche Macht aus <strong>de</strong>m Grabe befreit hatte.<br />

Während diese Verschwörung in Jerusalem ablief, wur<strong>de</strong>n Jesus und seine Freun<strong>de</strong> auf das<br />

Fest <strong>de</strong>s Simon von Bethanien gela<strong>de</strong>n. Der Heiland saß an <strong>de</strong>r Festtafel zwischen <strong>de</strong>m<br />

Gastgeber, <strong>de</strong>n er von einer ekelerregen<strong>de</strong>n Krankheit geheilt, und Lazarus, <strong>de</strong>n er vom To<strong>de</strong><br />

errettet hatte. Martha diente ihnen; doch Maria lauschte mit allem Ernst je<strong>de</strong>m Wort, das aus<br />

<strong>de</strong>m Mun<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s kam. In seiner Barmherzigkeit hatte Jesus ihr die Sün<strong>de</strong>n vergeben,<br />

ihren geliebten Bru<strong>de</strong>r hatte er aus <strong>de</strong>m Grabe gerufen; und ihr Herz war voller Dankbarkeit.<br />

Sie hatte Jesus von seinem herannahen<strong>de</strong>n To<strong>de</strong> sprechen hören, und in ihrer innigen Liebe und<br />

ihrer Besorgnis sehnte sie sich danach, ihm ihre Verehrung zu zeigen. Unter großem<br />

persönlichem Opfer hatte sie ein alabasternes Gefäß mit „Salbe von unverfälschter, köstlicher<br />

Nar<strong>de</strong>“ (Johannes 12,3) gekauft, um damit ihren Herrn zu salben. Doch nun hörte sie, daß Jesus<br />

zum König gekrönt wer<strong>de</strong>n sollte. Ihr Kummer verwan<strong>de</strong>lte sich in Freu<strong>de</strong>, und sie war eifrig<br />

bestrebt, als erste <strong>de</strong>n Herrn zu ehren. Sie zerbrach das Gefäß und schüttete <strong>de</strong>n Inhalt auf das<br />

Haupt und auf die Füße <strong>de</strong>s Herrn, sie kniete vor ihn hin, weinte und netzte mit ihren Tränen<br />

seine Füße, die sie mit ihrem lang herabwallen<strong>de</strong>n Haar trocknete.<br />

Maria wollte je<strong>de</strong>s Aufheben vermei<strong>de</strong>n, und ihr Tun sollte unbemerkt bleiben; doch <strong>de</strong>r<br />

Wohlgeruch <strong>de</strong>r Salbe erfüllte <strong>de</strong>n Raum und ließ ihre Tat allen Anwesen<strong>de</strong>n bekannt wer<strong>de</strong>n.<br />

Judas betrachtete dieses Geschehen sehr mißvergnügt. Statt erst zu hören, was Jesus dazu sagen<br />

wür<strong>de</strong>, begann er jenen, die bei ihm saßen, seine Klagen zuzuraunen, in<strong>de</strong>m er Jesus schmähte,<br />

daß dieser solche Vergeudung dul<strong>de</strong>te. In listiger Weise beeinflußte er sie so, daß<br />

wahrscheinlich Unzufrie<strong>de</strong>nheit die Folge sein wür<strong>de</strong>.<br />

Judas war <strong>de</strong>r Schatzmeister <strong>de</strong>r Zwölf. Er hatte ihrer kleinen Kasse heimlich Beträge für<br />

sich selbst entnommen und ihre Hilfsmittel dadurch zu einer kärglichen Summe<br />

zusammenschmelzen lassen. Nun war er bestrebt, alles einzuheimsen, was er erlangen konnte;<br />

<strong>de</strong>nn oft wur<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>m Inhalt <strong>de</strong>r Kasse die Armen unterstützt. War etwas gekauft wor<strong>de</strong>n,<br />

das ihm nicht wichtig genug dünkte, pflegte er zu sagen: Warum diese Verschwendung?<br />

Warum wur<strong>de</strong> das Geld nicht in <strong>de</strong>n Beutel getan, damit ich für die Bedürftigen sorgen kann?<br />

Marias Handlungsweise stand in einem so auffallen<strong>de</strong>n Gegensatz zu seiner Selbstsucht, daß er<br />

tief beschämt wur<strong>de</strong>. Seiner Gewohnheit gemäß suchte er nach einem angemessenen Motiv, um<br />

seinen Einwand gegen Marias Gabe zu begrün<strong>de</strong>n. Er wandte sich an die Jünger und fragte:<br />

„Warum ist diese Salbe nicht verkauft um dreihun<strong>de</strong>rt Silbergroschen und <strong>de</strong>n Armen gegeben?<br />

Das sagte er aber nicht, weil er nach <strong>de</strong>n Armen fragte, son<strong>de</strong>rn er war ein <strong>Die</strong>b und hatte <strong>de</strong>n<br />

Beutel und nahm an sich, was gegeben ward.“ Johannes 12,5.6. Judas hatte kein Herz für die<br />

Bedürftigen. Wäre Marias Salbe verkauft wor<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>r Erlös in seinen Beutel geflossen, die<br />

Armen hätten davon keinen Nutzen gehabt.<br />

379


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Judas hatte eine hohe Meinung von seinen Fähigkeiten. Als Schatzmeister hielt er sich für<br />

be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>r als seine Gefährten, und er hatte es dann fertig gebracht, daß auch sie davon<br />

überzeugt waren. Er hatte ihr Vertrauen gewonnen und übte einen starken Einfluß auf sie aus.<br />

Sie ließen sich durch sein angebliches Mitgefühl mit <strong>de</strong>n Armen täuschen. Seine geschickten<br />

An<strong>de</strong>utungen veranlaßten sie, Marias Liebestat mit Mißtrauen zu betrachten. Ein unzufrie<strong>de</strong>nes<br />

Murmeln ging um die Tafel: „Wozu diese Vergeudung? <strong>Die</strong>ses Wasser hätte können teuer<br />

verkauft und <strong>de</strong>n Armen gegeben wer<strong>de</strong>n.“ Matthäus 26,8.9.<br />

Maria hörte diese Vorwürfe. Ihr Herz wur<strong>de</strong> bedrückt, und sie befürchtete, daß ihre<br />

Schwester ihre Verschwendung ta<strong>de</strong>ln und auch <strong>de</strong>r Meister sie für leichtsinnig halten wür<strong>de</strong>.<br />

Ohne sich zu verteidigen o<strong>de</strong>r zu entschuldigen, wollte sie sich zurückziehen, als sie Jesu<br />

Stimme hörte: „Laßt sie! Was bekümmert ihr sie?“ „Sie hat ein gutes Werk an mir getan. Ihr<br />

habt allezeit Arme bei euch, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun; mich aber habt ihr<br />

nicht allezeit. Sie hat getan, was sie konnte; sie hat meinen Leib im voraus gesalbt zu meinem<br />

Begräbnis.“ Markus 14,6-8.<br />

<strong>Die</strong> duften<strong>de</strong> Gabe, die Maria an <strong>de</strong>n Leichnam <strong>de</strong>s Herrn zu verschwen<strong>de</strong>n gedachte,<br />

schüttete sie über seine leben<strong>de</strong> Gestalt aus. Beim Begräbnis hätte <strong>de</strong>r Wohlgeruch nur das Grab<br />

erfüllt; jetzt aber erfreute er Jesu Herz mit <strong>de</strong>r Gewißheit ihrer Treue und Liebe. Joseph von<br />

Arimathia und Niko<strong>de</strong>mus boten ihre Gaben Jesus nicht zu seinen Lebzeiten an, son<strong>de</strong>rn sie<br />

brachten ihre kostbaren Spezereien unter heißen Tränen einem Toten. <strong>Die</strong> Frauen, die<br />

Spezereien zum Grabe trugen, konnten ihren Auftrag nicht ausführen, <strong>de</strong>nn Jesus war<br />

inzwischen auferstan<strong>de</strong>n. Maria aber, die ihre Liebe <strong>de</strong>m Heiland bewies, als dieser ihre<br />

Liebestat noch annehmen konnte, salbte ihn fürs Grab. Als Jesus in die Finsternis seiner<br />

schweren Prüfung hinabstieg, trug er in seinem Herzen die Erinnerung an jene Tat als ein Pfand<br />

<strong>de</strong>r Liebe, die ihm von seinen Erlösten für immer entgegenschlägt.<br />

Viele bringen <strong>de</strong>n Toten wertvolle Gaben und sprechen an ihrem stummen, erstarrten Leib<br />

freigebig Worte <strong>de</strong>r Liebe. Zartgefühl, Anerkennung und Hingabe wer<strong>de</strong>n an jene<br />

verschwen<strong>de</strong>t, die we<strong>de</strong>r hören noch sehen können. Wären doch diese Worte gesprochen<br />

wor<strong>de</strong>n, als <strong>de</strong>r erschöpfte Geist ihrer so nötig bedurfte, als die Ohren noch hören und das Herz<br />

noch fühlen konnte. Wie köstlich wäre ihr Wohlgeruch gewesen! Maria selbst konnte <strong>de</strong>n<br />

wahren Wert ihrer Liebestat nicht ermessen. Sie vermochte ihren Anklägern nicht zu antworten<br />

und konnte auch nicht erklären, warum sie diese Gelegenheit benutzt hatte, Jesus zu salben. Der<br />

Geist Gottes hatte sie getrieben, und sie war ihm gefolgt. Das Herabkommen <strong>de</strong>s Geistes bedarf<br />

keiner Begründung; seine unsichtbare Gegenwart spricht zu Herz und Gemüt und bewegt das<br />

Herz, zu han<strong>de</strong>ln. Darin liegt die Rechtfertigung solchen Han<strong>de</strong>lns.<br />

Christus erläuterte Maria <strong>de</strong>n Sinn ihrer Tat und gab ihr damit weit mehr, als er selbst<br />

empfangen hatte. „Daß sie dies Wasser hat auf meinen Leib gegossen, hat sie getan, daß sie<br />

mich fürs Grab bereite.“ Matthäus 26,12. Wie das alabasterne Gefäß zerbrochen wur<strong>de</strong> und <strong>de</strong>r<br />

Salbe Wohlgeruch das ganze Haus erfüllte, so mußte Christus sterben. Sein Leib mußte<br />

gebrochen wer<strong>de</strong>n; aber er sollte wie<strong>de</strong>rauferstehen aus <strong>de</strong>m Grabe, und <strong>de</strong>r Wohlgeruch seines<br />

380


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Lebens wür<strong>de</strong> die ganze Welt erfüllen. Christus hat uns „geliebt und sich selbst dargegeben für<br />

uns als Gabe und Opfer, Gott zu einem lieblichen Geruch“. Epheser 5,2.<br />

„Wahrlich, ich sage euch: Wo dieses Evangelium gepredigt wird in <strong>de</strong>r ganzen Welt, da wird<br />

man auch sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat.“ Matthäus 26,13. Der Heiland sprach,<br />

in die Zukunft blickend, mit aller Gewißheit von <strong>de</strong>m Weg <strong>de</strong>s Evangeliums, das in <strong>de</strong>r ganzen<br />

Welt gepredigt wer<strong>de</strong>n sollte. So weit es sich aus<strong>de</strong>hnte, Marias Gabe wür<strong>de</strong> überall ihren<br />

Wohlgeruch verbreiten, und die Herzen wür<strong>de</strong>n durch ihre natürliche Handlungsweise gesegnet<br />

wer<strong>de</strong>n. Königreiche kämen empor und gingen wie<strong>de</strong>r unter; die Namen <strong>de</strong>r Herrscher und<br />

Eroberer fielen in Vergessenheit, aber die Tat Marias bliebe verewigt in <strong>de</strong>n heiligen Büchern.<br />

Bis an das En<strong>de</strong> alles irdischen Geschehens wür<strong>de</strong> dies zerbrochene Gefäß die Geschichte von<br />

<strong>de</strong>r großen Liebe Gottes zu <strong>de</strong>m gefallenen Geschlecht erzählen.<br />

Welch großer Unterschied bestand auch in <strong>de</strong>r Tat Marias zu <strong>de</strong>m Vorhaben <strong>de</strong>s Verräters,<br />

<strong>de</strong>r hier so viel Entrüstung heuchelte! Welch scharfen Ta<strong>de</strong>l hätte Christus <strong>de</strong>m erteilen können,<br />

<strong>de</strong>r die Saat boshafter Kritik und teuflischen Argwohns in die Herzen <strong>de</strong>r Jünger ausstreute!<br />

Und wie gerecht wäre solch ein Ta<strong>de</strong>l gewesen! Jesus, <strong>de</strong>r aller Menschen Gedanken schon<br />

„von ferne“ (Psalm 139,2) kennt und je<strong>de</strong> Handlung versteht, hätte auf diesem Fest allen<br />

Anwesen<strong>de</strong>n die trüben Seiten im Leben <strong>de</strong>s Judas zeigen können. Der faule Vorwand, auf <strong>de</strong>n<br />

<strong>de</strong>r Verräter seine Worte bezog, hätte offen dargelegt wer<strong>de</strong>n können; <strong>de</strong>nn statt mit <strong>de</strong>n<br />

Bedürftigen zu fühlen, beraubte er sie <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s, das zu ihrer Unterstützung bestimmt war.<br />

Wegen seiner Härte gegen die Witwen, Waisen und Tagelöhner hätte sich Unwillen gegen ihn<br />

erhoben. Doch hätte Christus <strong>de</strong>n wahren Charakter <strong>de</strong>s Judas entlarvt, wür<strong>de</strong> es dieser als<br />

einen Grund für seinen Treubruch angesehen haben. Und obgleich man ihn als <strong>Die</strong>b<br />

beschuldigte, hätte Judas Sympathien gewonnen, selbst unter <strong>de</strong>n Jüngern. Der Heiland machte<br />

ihm keine Vorwürfe, und dadurch vermied er es, ihm einen Entschuldigungsgrund für seinen<br />

Verrat zu geben.<br />

Doch <strong>de</strong>r Blick, <strong>de</strong>n Jesus auf ihn warf, überzeugte Judas, daß <strong>de</strong>r Heiland seine Heuchelei<br />

durchschaute und seinen niedrigen, verachtenswerten Charakter erkannte. In Jesu herzlicher<br />

Anerkennung gegenüber <strong>de</strong>r Tat Marias lag für Judas ein mahnen<strong>de</strong>r Vorwurf. Bisher hatte <strong>de</strong>r<br />

Heiland ihm nie einen unmittelbaren Verweis ausgesprochen. Nun aber nagte Jesu Ta<strong>de</strong>l an<br />

seinem Herzen, und er faßte <strong>de</strong>n Entschluß, sich zu rächen. Nach <strong>de</strong>r Abendmahlzeit begab er<br />

sich sofort in <strong>de</strong>n Palast <strong>de</strong>s Hohenpriesters, wo er <strong>de</strong>n Hohen Rat versammelt fand, und erbot<br />

sich, <strong>de</strong>n Herrn in ihre Hän<strong>de</strong> zu liefern. <strong>Die</strong> Priester waren hocherfreut. <strong>Die</strong>se Führer Israels<br />

hätten unentgeltlich und ohne nach einem Preis zu fragen Christus als ihren Heiland annehmen<br />

können. Aber sie lehnten die kostbare Gabe ab, die <strong>de</strong>r sanfte Geist werben<strong>de</strong>r Liebe ihnen<br />

anbot. Sie weigerten sich, jenes Heil anzunehmen, das wertvoller ist als Gold, und kauften ihren<br />

Herrn für dreißig Silberlinge.<br />

Judas hatte sich so sehr <strong>de</strong>r Habgier ausgeliefert, daß sie je<strong>de</strong>n guten Zug seines Charakters<br />

überschattete. Ihn verdroß die Gabe die Jesu dargebracht wur<strong>de</strong>. Sein Herz brannte vor Neid<br />

darüber, daß <strong>de</strong>r Heiland etwas empfangen sollte, was nur <strong>de</strong>n Königen <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> zukam. Für<br />

einen Betrag, <strong>de</strong>r weit unter <strong>de</strong>m Preis für das Ölgefäß lag, verriet er seinen Herrn. Kein an<strong>de</strong>rer<br />

381


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Jünger glich <strong>de</strong>m Judas. Sie liebten ihren Heiland, wenn sie auch sein wahres Wesen nicht<br />

richtig zu würdigen verstan<strong>de</strong>n. Wären sie sich bewußt gewesen, was er für sie getan hatte,<br />

dann hätten sie erkannt, daß nichts vergeu<strong>de</strong>t war von <strong>de</strong>m, was ihm zuteil wur<strong>de</strong>. <strong>Die</strong> Weisen<br />

aus <strong>de</strong>m Morgenlan<strong>de</strong>, die so wenig von Christus wußten, hatten für die ihm schuldige<br />

Ehrerbietung ein besseres Verständnis. Sie brachten <strong>de</strong>m Heiland <strong>de</strong>r Welt Geschenke und<br />

beugten sich in Ehrfurcht vor ihm, als er noch ein kleines Kind war und in einer Krippe gewiegt<br />

wur<strong>de</strong>.<br />

Christus schätzt die Taten herzlich empfun<strong>de</strong>ner Höflichkeit. Erwies ihm jemand eine Gunst,<br />

dann segnete er ihn mit vorbildlicher Zuvorkommenheit. Er verweigerte nicht die schlichteste<br />

Blumengabe, die von Kin<strong>de</strong>shand gepflückt und ihm liebevoll dargebracht wur<strong>de</strong>. Er nahm die<br />

Gaben <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r an und segnete die Geber, in<strong>de</strong>m er ihre Namen in das Buch <strong>de</strong>s Lebens<br />

schrieb. <strong>Die</strong> Heilige Schrift berichtet über die Salbung Jesu durch Maria, um sie vor <strong>de</strong>n<br />

an<strong>de</strong>ren Frauen ihres Namens auszuzeichnen. Taten, die <strong>de</strong>r Liebe zu Jesus und <strong>de</strong>r<br />

Ehrerbietung ihm gegenüber entspringen, beweisen unseren Glauben an ihn als <strong>de</strong>n Sohn<br />

Gottes. <strong>Die</strong> Heilige Schrift erwähnt als Zeichen <strong>de</strong>r Treue einer Frau zu Christus: „Wenn sie <strong>de</strong>r<br />

Heiligen Füße gewaschen hat, wenn sie <strong>de</strong>nen in Trübsal Handreichung getan hat, wenn sie<br />

allem guten Werk nachgekommen ist.“ 1.Timotheus 5,10.<br />

Der Heiland freute sich über das ernste Bestreben Marias, <strong>de</strong>m göttlichen Willen<br />

nachzukommen, und nahm die Fülle uneigennütziger Zuneigung, die seine Jünger nicht<br />

verstan<strong>de</strong>n und nicht verstehen wollten, gern entgegen. Marias Wunsch, ihrem Herrn diesen<br />

<strong>Die</strong>nst zu erweisen, galt ihm mehr als alle köstlichen Salben <strong>de</strong>r Welt, weil er bekun<strong>de</strong>te, wie<br />

sehr sie <strong>de</strong>n Erlöser <strong>de</strong>r Welt schätzte. Es war die Liebe <strong>Christi</strong>, die sie trieb. <strong>Die</strong><br />

Vollkommenheit <strong>de</strong>s Wesens Jesu erfüllte ihre Seele. Jene Salbe war ein Symbol für das, was in<br />

ihrem Herzen vor sich gegangen war; sie war das äußerliche Zeichen einer Liebe, die von<br />

himmlischen Quellen gespeist wur<strong>de</strong>, bis sie überfloß.<br />

<strong>Die</strong> Tat Marias enthielt gera<strong>de</strong> die Lehre, die die Jünger benötigten, um ihnen zu zeigen, daß<br />

die Bekundung ihrer Liebe zu ihm Jesus angenehm sein wür<strong>de</strong>. Er war ihnen alles gewesen, und<br />

sie erkannten nicht, daß sie bald seiner Gegenwart beraubt sein wür<strong>de</strong>n und daß sie ihm dann<br />

kein Zeichen ihrer Dankbarkeit für seine unnennbare Liebe mehr geben konnten. <strong>Die</strong><br />

Einsamkeit <strong>Christi</strong>, <strong>de</strong>r, getrennt von <strong>de</strong>n himmlischen Höfen, das Leben nach menschlicher<br />

Natur lebte, wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>n Jüngern nie verstan<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r gewürdigt, wie man es hätte erwarten<br />

sollen. Jesus war oft betrübt, weil seine Jünger ihm nicht das gaben, was er von ihnen zu<br />

empfangen hoffte. Er wußte aber, daß sie unter <strong>de</strong>m Einfluß himmlischer Engel, die ihn<br />

begleiteten, keine Gabe als zu wertvoll erachten wür<strong>de</strong>n, um ihre innere Verbun<strong>de</strong>nheit mit ihm<br />

zu bekun<strong>de</strong>n.<br />

Ihre spätere Erkenntnis gab <strong>de</strong>n Jüngern ein echtes Gefühl für die kleinen Dinge, die sie<br />

Jesus hätten erweisen können, um ihre Liebe und Dankbarkeit zu zeigen, als sie bei ihm waren.<br />

Als Jesus sie verlassen hatte und sie sich wirklich als Schafe ohne Hirten fühlten, begannen sie<br />

zu erkennen, wie sie ihm hätten Aufmerksamkeiten bezeugen können, die ihn erfreut hätten. Sie<br />

blickten nun nicht mehr ta<strong>de</strong>lnd auf Maria, son<strong>de</strong>rn sie sahen sich selbst an. Oh, könnten sie<br />

382


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

doch ihre Rügen und ihren Anspruch, daß die Armen <strong>de</strong>r Gabe würdiger gewesen wären als<br />

Christus, zurücknehmen! Sie fühlten sich tief beschämt, als sie <strong>de</strong>n zerschlagenen Leib ihres<br />

Herrn vom Kreuz nahmen.<br />

Der gleiche Mangel tritt in unseren Tagen zutage. Nur wenige erkennen <strong>Christi</strong> Be<strong>de</strong>utung<br />

für sie. Sonst machte solch selbstlose Liebe, wie sie einst Maria <strong>de</strong>m Herrn erwiesen hatte, sich<br />

im täglichen Leben bemerkbar, die Salbung erfolgte freiwillig, und die kostspielige Salbe wür<strong>de</strong><br />

nicht eine Verschwendung genannt wer<strong>de</strong>n. Nichts dünkte ihnen zu teuer, um es <strong>de</strong>m Herrn zu<br />

bringen, keine Selbstverleugnung und keine Hingabe wäre zu groß gewesen, um sie<br />

seinetwegen zu ertragen.<br />

<strong>Die</strong> entrüsteten Worte <strong>de</strong>r Jünger: „Wozu diese Vergeudung?“ (Matthäus 26,8.9) ließen <strong>de</strong>m<br />

Heiland das größte Opfer, das je gebracht wer<strong>de</strong>n sollte, lebendig vor Augen treten — nämlich<br />

das Opfer seines Lebens als Sühne für eine verlorene Welt. Der Herr wür<strong>de</strong> die menschliche<br />

Familie so überaus reichlich beschenken, daß man von ihm nicht sagen konnte, er könne noch<br />

mehr tun. In <strong>de</strong>r Gabe Jesu gab Gott <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>n ganzen Himmel. Wir Menschen wür<strong>de</strong>n solch<br />

ein Opfer als Verschwendung bezeichnen. Unserer beschränkten Urteilskraft erschiene <strong>de</strong>r<br />

ganze Erlösungsplan als Vergeudung von Gna<strong>de</strong> und Gna<strong>de</strong>nmitteln. Selbstverleugnung und<br />

opferbereite Hingabe begegnen uns überall. Mit Recht mag <strong>de</strong>r Herr <strong>de</strong>s Himmels erstaunend<br />

auf die Menschen blicken, die es ablehnen, sich von <strong>de</strong>r grenzenlosen Liebe in Jesus Christus<br />

erheben und bereichern zu lassen und die ausrufen: Warum diese Verschwendung? Aber die<br />

Versöhnung für eine verlorene Welt sollte unverkürzt, überreichlich und vollkommen sein.<br />

<strong>Christi</strong> Opfer war so unermeßlich groß, daß es je<strong>de</strong>r Mensch, <strong>de</strong>n Gott erschuf, in Anspruch<br />

nehmen kann. Es konnte ja auch nicht so eingeschränkt wer<strong>de</strong>n, als genüge es kaum für<br />

diejenigen, die diese große Gabe annehmen wür<strong>de</strong>n. Nicht alle Menschen wer<strong>de</strong>n gerettet. Aber<br />

<strong>de</strong>r Erlösungsplan ist nicht <strong>de</strong>swegen nutzlos, weil er nicht all das vollbringt, wozu er großzügig<br />

vorgesehen ist. Seine Wirksamkeit ist reichlich, ja in überreichem Maße vorhan<strong>de</strong>n.<br />

Simon von Bethanien, <strong>de</strong>r Gastgeber dieses Festes, war von <strong>de</strong>n kritischen Bemerkungen <strong>de</strong>s<br />

Judas über Marias Gabe beeinflußt wor<strong>de</strong>n und zeigte sich von <strong>de</strong>m Verhalten Jesu überrascht.<br />

Sein pharisäischer Stolz war verletzt. Er wußte, daß viele seiner Gäste Jesus mit Mißtrauen und<br />

Unwillen beobachteten, und dachte bei sich: „Wenn dieser ein Prophet wäre, so wüßte er, wer<br />

und welch eine Frau das ist, die ihn anrührt; <strong>de</strong>nn sie ist eine Sün<strong>de</strong>rin.“ Lukas 7,39. Jesus hatte<br />

Simon vom Aussatz geheilt und ihn dadurch vor einem lebendigen To<strong>de</strong> bewahrt. Und doch<br />

zweifelte Simon, daß Jesus ein Prophet sei. Weil Christus dieser Frau erlaubte, sich ihm zu<br />

nähern, weil er sie nicht als eine Person, <strong>de</strong>ren Sün<strong>de</strong>n zu groß waren, um vergeben zu wer<strong>de</strong>n,<br />

zurückwies, weil er sein Wissen, daß sie gesündigt hatte, nicht zeigte, <strong>de</strong>shalb war Simon<br />

versucht zu glauben, daß Jesus kein Prophet war. Jesus weiß nichts von dieser Frau, die so<br />

freigebig in ihren Äußerungen ist, dachte er, o<strong>de</strong>r er wür<strong>de</strong> ihr nicht gestatten, ihn zu berühren.<br />

Es war Simons Unwissenheit über Gott und Christus, die ihn zu <strong>de</strong>rartigen Gedanken führte.<br />

Er konnte sich nicht vorstellen, daß Gottes Sohn nach göttlicher Weise han<strong>de</strong>ln mußte, gnädig,<br />

gütig und barmherzig. Er selbst hätte Marias bußfertigen <strong>Die</strong>nst gar nicht beachtet. Daß sie Jesu<br />

Füße küßte und salbte, reizte seine Hartherzigkeit. Er dachte, wenn Christus ein Prophet wäre,<br />

383


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

wür<strong>de</strong> er die Sün<strong>de</strong>r erkennen und ta<strong>de</strong>ln. Auf diese unausgesprochenen Gedanken antwortete<br />

<strong>de</strong>r Heiland: „Simon, ich habe dir etwas zu sagen ... Es hatte ein Gläubiger zwei Schuldner.<br />

Einer war schuldig fünfhun<strong>de</strong>rt Silbergroschen, <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re fünfzig. Da sie aber nichts hatten, zu<br />

bezahlen, schenkte er‘s bei<strong>de</strong>n. Sage an, welcher unter <strong>de</strong>nen wird ihn am meisten lieben?<br />

Simon antwortete und sprach: Ich achte, <strong>de</strong>m er am meisten geschenkt hat. Er aber sprach zu<br />

ihm: Du hast recht geurteilt.“ Lukas 7,40-43.<br />

Wie einst <strong>de</strong>r Prophet Nathan bei David, so hüllte auch hier Christus eine ta<strong>de</strong>ln<strong>de</strong> Antwort<br />

in <strong>de</strong>n Schleier eines Gleichnisses und veranlaßte dadurch <strong>de</strong>n Gastgeber, sein eigens Urteil zu<br />

sprechen. Simon hatte die Frau, die er jetzt verachtete, selbst zur Sün<strong>de</strong> verleitet und ihr großes<br />

Unrecht zugefügt. In Jesu Gleichnis von <strong>de</strong>n zwei Schuldnern wur<strong>de</strong>n Simon und das Weib<br />

dargestellt. Der Heiland wollte nicht lehren, daß bei<strong>de</strong> ein verschie<strong>de</strong>n großes Maß <strong>de</strong>r Schuld<br />

verspüren sollten; <strong>de</strong>nn auf je<strong>de</strong>m lastet eine Schuld <strong>de</strong>r Dankbarkeit, die er niemals abtragen<br />

konnte. Und doch hielt sich Simon für gerechter als Maria, und Jesus wollte ihm zeigen, wie<br />

groß seine Schuld wirklich war. Er wollte ihn erkennen lassen, daß seine Schuld größer war als<br />

die Marias, um so viel größer, wie eine Schuld von fünfhun<strong>de</strong>rt Silbergroschen jene von fünfzig<br />

Silbergroschen übersteigt.<br />

Simon sah sich jetzt in einem an<strong>de</strong>rn Licht. Er sah auch, wie Maria von <strong>de</strong>m eingeschätzt<br />

wur<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r mehr als ein Prophet war und mit seinem göttlichen Auge die Größe ihrer Liebe und<br />

Hingabe in ihrem Herzen las. Scham kam über Simon, und er erkannte, daß er sich in <strong>de</strong>r<br />

Gegenwart <strong>de</strong>s Einen befand, <strong>de</strong>r größer war als er. Da sprach <strong>de</strong>r Herr weiter zu ihm: „Ich bin<br />

gekommen in <strong>de</strong>in Haus; du hast mir nicht Wasser gegeben für meine Füße; diese aber hat<br />

meine Füße mit Tränen genetzt und mit <strong>de</strong>n Haaren ihres Hauptes getrocknet. Du hast mir<br />

keinen Kuß gegeben; diese aber, nach<strong>de</strong>m ich hereingekommen bin, hat nicht abgelassen, meine<br />

Füße zu küssen.“ Lukas 7,44.45.<br />

Christus erinnerte Simon an die vielen Gelegenheiten, die er gehabt hatte, seine Liebe zu<br />

beweisen und das zu würdigen, was für ihn getan wor<strong>de</strong>n war. Unmißverständlich, aber höflich<br />

versicherte <strong>de</strong>r Heiland seinen Jüngern, daß sein Herz betrübt ist, wenn seine Kin<strong>de</strong>r ihm we<strong>de</strong>r<br />

durch Worte noch durch Taten <strong>de</strong>r Liebe ihre Dankbarkeit zeigen wollen. Der<br />

Herzenserforscher kannte die Motive <strong>de</strong>r Tat Marias, und er wußte auch um die Gedanken<br />

Simons. „Siehst du dies Weib?“ fragte er ihn. Sie ist eine Sün<strong>de</strong>rin. Aber ich sage dir: „Ihr sind<br />

viele Sün<strong>de</strong>n vergeben, darum hat sie mir viel Liebe erzeigt; wem aber wenig vergeben wird,<br />

<strong>de</strong>r liebt wenig.“ Lukas 7,44.47.<br />

Simons Kälte und Geringschätzung gegenüber <strong>de</strong>m Heiland zeigte, wie wenig er die ihm<br />

erwiesene Barmherzigkeit zu achten wußte. Er glaubte <strong>de</strong>n Herrn zu ehren, in<strong>de</strong>m er ihn in sein<br />

Haus einlud; doch jetzt mußte er einsehen, wie es wirklich war. Während er sich einbil<strong>de</strong>te,<br />

seinen Gast beurteilen zu können, mußte er erleben, daß Jesus ihn besser kannte als er sich<br />

selbst. Seine Frömmigkeit war wirklich die eines Pharisäers gewesen. Er hatte die<br />

Barmherzigkeit Jesu verachtet und <strong>de</strong>n Herrn nicht anerkannt als <strong>de</strong>n Stellvertreter Gottes.<br />

Während Maria eine begnadigte Sün<strong>de</strong>rin war, hatte er sich seine Schuld noch nicht nehmen<br />

lassen. <strong>Die</strong> strengen Regeln <strong>de</strong>r Gerechtigkeit, die er auf Maria anwen<strong>de</strong>te, verdammten ihn nun<br />

384


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

selbst. <strong>Die</strong> vornehme Art Jesu, ihn nicht öffentlich vor seinen Gästen zu ta<strong>de</strong>ln, beeindruckte<br />

Simon. Er wur<strong>de</strong> nicht so behan<strong>de</strong>lt, wie er Maria zu behan<strong>de</strong>ln verlangt hatte. Er erkannte, daß<br />

Jesus sein schuldhaftes Verhalten nicht vor <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn preisgeben wollte, son<strong>de</strong>rn daß er durch<br />

eine wahrhafte Darlegung <strong>de</strong>r Dinge sein Gemüt zu überzeugen und durch Güte sein Herz zu<br />

bezwingen suchte. Eine harte Anklage hätte Simons Gemüt gegen eine Umkehr verschlossen,<br />

geduldige Ermahnung aber überzeugte ihn von seinem Irrtum. Er erkannte die Größe seiner<br />

Schuld gegenüber <strong>de</strong>m Herrn. Sein Hochmut war gebrochen, er bereute sein Unrecht, und <strong>de</strong>r<br />

stolze, eigenwillige Pharisäer wur<strong>de</strong> ein beschei<strong>de</strong>ner, sich selbst aufopfern<strong>de</strong>r Jünger Jesu<br />

<strong>Christi</strong>.<br />

Maria war allgemein als große Sün<strong>de</strong>rin angesehen wor<strong>de</strong>n, doch Jesus kannte die<br />

Umstän<strong>de</strong>, die ihr Leben bisher beeinflußt hatten. Er hätte je<strong>de</strong>n Funken Hoffnung in ihr<br />

auslöschen können, tat es aber nicht. Er hatte sie vielmehr aus Verzweiflung und Ver<strong>de</strong>rben<br />

herausgerissen; siebenmal waren die bösen Geister, die ihr Herz und Gemüt beherrscht hatten,<br />

aus ihr ausgefahren. Sie hatte seine zu ihren Gunsten ausgesprochenen Bitten zu Gott gehört,<br />

und sie wußte, wie anstößig die Sün<strong>de</strong> seiner Reinheit war, und in seiner Stärke hatte sie<br />

überwun<strong>de</strong>n. Bei <strong>de</strong>n Menschen erschien Marias Fall hoffnungslos; doch Christus sah die guten<br />

Triebe, die in ihr keimten, er erkannte ihre besseren Wesenszüge. Der Erlösungsplan hat die<br />

menschliche Natur mit großen Möglichkeiten ausgerüstet, die im Han<strong>de</strong>ln Marias sichtbar<br />

wur<strong>de</strong>n. Durch seine Gna<strong>de</strong> wur<strong>de</strong> sie Teilhaberin <strong>de</strong>r göttlichen Natur. Sie, die gefallen und<br />

„eine Behausung <strong>de</strong>r Dämonen“ (Offenbarung 18,2, Schlachter) gewor<strong>de</strong>n war, war es, die zu<br />

seinen Füßen saß und von ihm lernte, die das kostbare Öl auf sein Haupt goß und seine Füße<br />

mit ihren Tränen benetzte. Sie stand am Fuße <strong>de</strong>s Kreuzes und folgte ihm zum Grabe; sie war<br />

nach seiner Auferstehung als erste an <strong>de</strong>r Gruft, und sie war die erste, die <strong>de</strong>n auferstan<strong>de</strong>nen<br />

Heiland verkündigte.<br />

Jesus kennt <strong>de</strong>n Zustand je<strong>de</strong>r Menschenseele. Du magst sagen: Ich bin voller Schuld und<br />

Sün<strong>de</strong>n. Das ist wahr; aber je unwürdiger du bist, <strong>de</strong>sto mehr brauchst du die Kraft <strong>de</strong>ines<br />

Heilan<strong>de</strong>s. Er stößt keinen Weinen<strong>de</strong>n, keinen Bußfertigen von sich. Er erzählt nicht je<strong>de</strong>m<br />

alles das, was er gern offenbaren möchte, aber er ermutigt je<strong>de</strong> bedrängte Seele. Bereitwillig<br />

vergibt er allen <strong>de</strong>nen, die ihn um Vergebung und Erneuerung bitten. Christus könnte die Engel<br />

beauftragen, die Schalen seines Zornes über unsere Er<strong>de</strong> auszugießen, um jene zu vernichten,<br />

die ihn hassen. Er könnte diesen häßlichen Fleck wegwischen aus <strong>de</strong>m Weltenall, aber er tut es<br />

nicht. Er steht heute noch am Räucheraltar und bringt <strong>de</strong>m ewigen Vater die Gebete <strong>de</strong>rer dar,<br />

die seine Hilfe erflehen.<br />

<strong>Die</strong> Seelen, die ihr Heil in Christus suchen, erhebt er über die Anklagen und entzieht sie <strong>de</strong>m<br />

Bereich <strong>de</strong>r bösen Zungen. Kein Mensch und kein gefallener Engel kann diese Seelen<br />

herabsetzen. Der Heiland verbin<strong>de</strong>t sie mit seiner göttlich-menschlichen Natur. Sie stehen<br />

neben <strong>de</strong>m großen Sün<strong>de</strong>nträger in <strong>de</strong>m Licht, das vom Thron Gottes hervorleuchtet. „Wer will<br />

die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, <strong>de</strong>r da gerecht macht. Wer will<br />

verdammen? Christus ist hier, <strong>de</strong>r gestorben ist, ja vielmehr, <strong>de</strong>r auch auferweckt ist, welcher ist<br />

zur Rechten Gottes und vertritt uns.“ Römer 8,33.34.<br />

385


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 63: Dein König kommt!<br />

„Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze! Siehe, <strong>de</strong>in König<br />

kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel, auf einem Füllen <strong>de</strong>r<br />

Eselin.“ Sacharja 9,9. So beschrieb <strong>de</strong>r Prophet Sacharja fünfhun<strong>de</strong>rt Jahre vor <strong>de</strong>r Geburt Jesu<br />

das Kommen <strong>de</strong>s Messias. Jetzt sollte sich diese Weissagung erfüllen. Er, <strong>de</strong>r so lange die<br />

königlichen Ehren verweigert hatte, zog nun als <strong>de</strong>r verheißene Erbe <strong>de</strong>s Thrones König Davids<br />

in Jerusalem ein. Am ersten Tag <strong>de</strong>r Woche hielt Christus seinen Einzug in die Stadt. <strong>Die</strong><br />

Volksmenge, die sich in Bethanien um <strong>de</strong>n Herrn gesammelt hatte, begleitete ihn, neugierig auf<br />

seinen Empfang in Jerusalem. Viele Menschen befan<strong>de</strong>n sich auf <strong>de</strong>m Wege nach <strong>de</strong>r<br />

Hauptstadt, das Passahfest zu feiern, und diese schlossen sich <strong>de</strong>r Menge an, die um Jesus war.<br />

<strong>Die</strong> ganze Schöpfung schien sich zu freuen. <strong>Die</strong> Bäume prangten in hellem Grün, und ihre<br />

Blüten verbreiteten einen köstlichen Duft. Frohes Leben überall, wohin man schaute. <strong>Die</strong><br />

Hoffnung auf das neue Reich war wie<strong>de</strong>r erwacht.<br />

Jesus wollte in die Stadt reiten und sandte zwei Jünger voraus, ihm eine Eselin und ihr Füllen<br />

zu holen. Bei seiner Geburt war <strong>de</strong>r Heiland auf die Gastfreundschaft Frem<strong>de</strong>r angewiesen<br />

gewesen; <strong>de</strong>nn die Krippe, in <strong>de</strong>r er lag, war ein geborgter Ruheort. Auch jetzt war er, obgleich<br />

das Vieh auf <strong>de</strong>n zahllosen Hügeln ihm gehörte, wie<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>m Entgegenkommen Frem<strong>de</strong>r<br />

abhängig, um ein Tier zu bekommen, auf <strong>de</strong>m er als König in die Stadt einziehen konnte.<br />

Wie<strong>de</strong>r offenbarte sich seine Gottheit, selbst in <strong>de</strong>n genauen Anweisungen, die er seinen<br />

Jüngern für ihren Auftrag gab. Wie geweissagt, wur<strong>de</strong> die Bitte: „Der Herr bedarf ihrer“<br />

(Matthäus 21,3) bereitwillig gewährt. Jesus wählte zu seinem Gebrauch ein Füllen, auf <strong>de</strong>m<br />

noch niemand gesessen hatte. <strong>Die</strong> Jünger legten in froher Begeisterung Klei<strong>de</strong>r auf das Tier und<br />

setzten ihren Herrn darauf. Vor<strong>de</strong>m war Jesus stets zu Fuß gewan<strong>de</strong>rt, und die Jünger hatten<br />

sich anfangs gewun<strong>de</strong>rt, daß ihr Meister jetzt zu reiten wünschte. Bei <strong>de</strong>m freudigen Gedanken,<br />

daß er im Begriff sei, in die Hauptstadt einzuziehen, um sich zum König zu erheben und seine<br />

königliche Macht auszuüben, erfüllte Zuversicht ihre Herzen. Während sie ihren Auftrag<br />

ausführten, teilten sie <strong>de</strong>n Freun<strong>de</strong>n Jesu ihre glühen<strong>de</strong>n Hoffnungen mit. <strong>Die</strong> Erregung griff<br />

um sich und steigerte die Erwartungen <strong>de</strong>r Menge ins Ungemessene.<br />

Jesus folgte <strong>de</strong>m jüdischen Brauch, <strong>de</strong>r beim Einzug eines Königs üblich war. Wie einst die<br />

Könige Israels auf einem Esel ritten, so auch Jesus, und es war vorausgesagt wor<strong>de</strong>n, daß <strong>de</strong>r<br />

Messias auf diese Weise in sein Reich kommen wer<strong>de</strong>. Kaum saß Jesus auf <strong>de</strong>m Füllen, als<br />

lautes Jubelgeschrei die Luft zerriß. <strong>Die</strong> Menge begrüßte ihn als Messias, ihren König. Jesus<br />

nahm jetzt die Huldigung an, die er vorher niemals gestattet hatte, und die Jünger sahen darin<br />

<strong>de</strong>n Beweis, daß ihre frohen Hoffnungen, ihren Herrn auf <strong>de</strong>m Thron Israels zu sehen,<br />

verwirklicht wür<strong>de</strong>n. Auch die Volksmenge war überzeugt, daß die Stun<strong>de</strong> ihrer Befreiung<br />

gekommen sei. Sie sah im Geiste die römischen Heere besiegt aus <strong>de</strong>r Stadt getrieben und Israel<br />

wie<strong>de</strong>r als eine unabhängige Nation. Alle waren froh erregt; sie wetteiferten miteinan<strong>de</strong>r, Jesus<br />

zu huldigen. Äußerliche Pracht und königlichen Prunk konnten sie zwar nicht entfalten, aber sie<br />

gaben ihm die Verehrung ihrer frohen Herzen. Sie konnten ihm keine kostbaren Geschenke<br />

überreichen, aber sie breiteten ihre Klei<strong>de</strong>r wie einen Teppich auf seinen Pfad und streuten<br />

386


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Olivenblätter und Palmzweige vor ihm her. Sie konnten <strong>de</strong>m Triumphzug keine Standarten<br />

voraustragen, aber sie schnitten die weitausla<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Palmzweige ab, die Zeichen <strong>de</strong>s Sieges,<br />

und schwenkten sie unter Jubel und Hosiannarufen hin und her.<br />

Im Weiterziehen nahm die Menge beständig zu durch Leute, die von <strong>de</strong>m Kommen Jesu<br />

gehört hatten und nun eilten, sich <strong>de</strong>m Zug anzuschließen. Immer mehr mischten sich unter die<br />

Schar und fragten: „Wer ist <strong>de</strong>r?“ Matthäus 21,10. Was be<strong>de</strong>utete diese Erregung <strong>de</strong>r Menge?<br />

Sie alle hatten schon von Jesus gehört und erwarteten, daß er sich in die Hauptstadt begeben<br />

wür<strong>de</strong>; doch sie wußten auch, daß er bisher je<strong>de</strong>n Versuch, ihn zum König zu krönen,<br />

abgewiesen hatte, und sie waren <strong>de</strong>shalb höchst erstaunt, zu sehen, daß dieser Mann hier Jesus<br />

war. Sie fragten sich, was diese Sinnesän<strong>de</strong>rung bewirkt haben könnte, da er doch erklärt hatte,<br />

daß sein Reich nicht von dieser Welt sei.<br />

Ihre Fragen verstummten unter <strong>de</strong>n lauten Triumphrufen. Wie<strong>de</strong>r und wie<strong>de</strong>r erhob sich <strong>de</strong>r<br />

Jubel <strong>de</strong>r begeisterten Menge, eilte Jesus weit voraus und hallte von <strong>de</strong>n umliegen<strong>de</strong>n Tälern<br />

und Höhen wi<strong>de</strong>r. Nun vereinigte sich <strong>de</strong>r Zug mit <strong>de</strong>n Menschen aus Jerusalem. Von <strong>de</strong>n<br />

Scharen, die gekommen waren, das Passahfest zu besuchen, zogen Tausen<strong>de</strong> heraus, <strong>de</strong>n<br />

Heiland willkommen zu heißen. Sie grüßten ihn mit ihren we<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Palmzweigen und <strong>de</strong>m<br />

plötzlichen Aufsteigen frommer Gesänge. <strong>Die</strong> Priester im Tempel bliesen zur selben Zeit die<br />

Posaunen zum Abendgottesdienst, aber nur wenige Menschen folgten <strong>de</strong>r Einladung. <strong>Die</strong><br />

Obersten waren bestürzt und sprachen untereinan<strong>de</strong>r: „Alle Welt läuft ihm nach!“ Johannes<br />

12,19.<br />

Nie zuvor hatte Jesus solche Kundgebungen erlaubt. Er sah die Folgen auch jetzt klar voraus;<br />

sie wür<strong>de</strong>n ihn ans Kreuz bringen. Doch es war seine Absicht, sich öffentlich als Erlöser zu<br />

zeigen. Er wollte die Aufmerksamkeit <strong>de</strong>r Menschen auf das Opfer lenken, das seine Aufgabe<br />

gegenüber <strong>de</strong>r gefallenen Welt krönen sollte. Während das Volk sich in Jerusalem<br />

zusammenfand, um das Passahfest zu feiern, weihte er, das wahre Passahlamm, sich freiwillig<br />

als Opfergabe. Es wird für seine Gemein<strong>de</strong> zu allen Zeiten nötig sein, über seinen Opfertod für<br />

die Sün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Welt gründlich nachzu<strong>de</strong>nken. Alles damit verbun<strong>de</strong>ne Geschehen sollte über<br />

je<strong>de</strong>n Zweifel erhaben sein. Es war erfor<strong>de</strong>rlich, daß die Augen <strong>de</strong>s ganzen Volkes auf Jesus<br />

blickten; die Ereignisse, die seinem großen Opfer vorausgingen, mußten so sein, daß sie die<br />

Aufmerksamkeit auf das Opfer selbst lenkten. Nach einer solchen Demonstration, wie sie Jesu<br />

Einzug in Jerusalem begleitete, wür<strong>de</strong>n aller Augen <strong>de</strong>n schnellen Ablauf <strong>de</strong>r Schlußereignisse<br />

verfolgen.<br />

<strong>Die</strong> mit diesem Triumphzug in Verbindung stehen<strong>de</strong>n Ereignisse wür<strong>de</strong>n zum Inhalt aller<br />

Gespräche wer<strong>de</strong>n und je<strong>de</strong>m Menschen Jesus wie<strong>de</strong>r ins Gedächtnis zurückrufen. Nach seiner<br />

Kreuzigung wür<strong>de</strong>n sich viele diese Ereignisse in ihrer Verbindung mit seinem Lei<strong>de</strong>n und<br />

Sterben wie<strong>de</strong>r in Erinnerung rufen und dadurch veranlaßt wer<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>n Weissagungen <strong>de</strong>r<br />

Heiligen Schriften zu forschen, und schließlich erkennen, daß Jesus <strong>de</strong>r Messias war. In allen<br />

Lan<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>n dann die Bekenner <strong>de</strong>s Glaubens vielfältig zunehmen. Bei diesem einzigen<br />

Huldigungsgeschehen seines irdischen Lebens hätte <strong>de</strong>r Heiland in Begleitung himmlischer<br />

Engel und unter <strong>de</strong>m Schall <strong>de</strong>r Posaunen Gottes erscheinen können; eine solche Bekundung<br />

387


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

jedoch wäre seiner Aufgabe und <strong>de</strong>m Gesetz, unter <strong>de</strong>m sein Leben sich vollzog, zuwi<strong>de</strong>r<br />

gewesen. Er schickte sich in das beschei<strong>de</strong>ne Dasein, das er auf sich genommen hatte. Er mußte<br />

die Last menschlicher Natur tragen, bis sein Leben für das Leben <strong>de</strong>r Welt dahingegeben war.<br />

<strong>Die</strong>ser Tag, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Jüngern die Krönung ihres Lebens dünkte, wäre ihnen von trüben<br />

Wolken umschattet gewesen, hätten sie gewußt, daß jene Freu<strong>de</strong>nszenen nur <strong>de</strong>n Auftakt zu<br />

einem Lei<strong>de</strong>n und Sterben ihres Meisters darstellten. Obgleich er ihnen wie<strong>de</strong>rholt von seinem<br />

Opfergang erzählt hatte, vergaßen sie in <strong>de</strong>m herrlichen Triumph <strong>de</strong>s Tages <strong>de</strong>nnoch seine<br />

schmerzerfüllten Worte und dachten nur an seine glückverheißen<strong>de</strong> Regierung auf <strong>de</strong>m Thron<br />

Davids. Der Festzug vergrößerte sich ständig. Fast alle, die sich <strong>de</strong>m Zug anschlossen, wur<strong>de</strong>n<br />

von <strong>de</strong>n Wogen <strong>de</strong>r Begeisterung mitgerissen und stimmten mit ein in die Hosiannarufe, die<br />

von <strong>de</strong>n Bergen und aus <strong>de</strong>n Tälern wi<strong>de</strong>rhallten: „Hosianna <strong>de</strong>m Sohn Davids! Gelobt sei, <strong>de</strong>r<br />

da kommt in <strong>de</strong>m Namen <strong>de</strong>s Herrn! Hosianna in <strong>de</strong>r Höhe!“ Matthäus 21,9.<br />

Noch nie hatte die Welt einen solchen Triumphzug gesehen. Kein irdischer Sieger hatte je<br />

einen ähnlichen Zug angeführt. Nicht trauern<strong>de</strong> Gefangene als Beute königlicher Tapferkeit<br />

waren das Beson<strong>de</strong>re dieses Zuges, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>n Heiland umgaben die herrlichen Zeugen seines<br />

<strong>Die</strong>nstes <strong>de</strong>r Liebe für eine gefallene Menschheit. Es waren Gefangene <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>, die er aus <strong>de</strong>r<br />

Gewalt Satans befreit hatte und die Gott für ihre Errettung priesen. Blin<strong>de</strong>, <strong>de</strong>nen er das<br />

kostbare Augenlicht wie<strong>de</strong>rgeschenkt hatte, schritten <strong>de</strong>m Zuge voran, und Stumme, <strong>de</strong>ren<br />

Zunge Jesus gelöst hatte, jauchzten das lauteste Hosianna. Krüppel, die er geheilt hatte,<br />

sprangen vor Freu<strong>de</strong> und waren die Eifrigsten beim Brechen und Schwenken <strong>de</strong>r Palmzweige<br />

vor <strong>de</strong>m Heiland. <strong>Die</strong> Witwen und Waisen preisen <strong>de</strong>n Namen Jesu für seine Barmherzigkeit,<br />

die er an ihnen getan hatte, und die Aussätzigen, die er gereinigt hatte, breiteten ihre<br />

unbefleckten Klei<strong>de</strong>r auf seinen Weg und feierten ihn als König <strong>de</strong>r Herrlichkeit! Es befan<strong>de</strong>n<br />

sich auch jene in <strong>de</strong>r Menge, die Jesu Stimme aus <strong>de</strong>m To<strong>de</strong>sschlaf erweckt hatte, und Lazarus,<br />

<strong>de</strong>ssen Leib bereits in Verwesung übergegangen war und <strong>de</strong>r sich nun <strong>de</strong>r herrlichen Stärke<br />

seiner Mannhaftigkeit freute, führte das Tier, auf <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Heiland ritt.<br />

Viele Pharisäer waren Zeugen dieses Geschehens. Zornentbrannt und nei<strong>de</strong>rfüllt versuchten<br />

sie <strong>de</strong>n Strom <strong>de</strong>r öffentlichen Stimmung zu lenken. Mit <strong>de</strong>m Gewicht ihrer Autorität wollten<br />

sie das Volk zum Schweigen bringen; doch alle Aufrufe und Drohungen ließen die<br />

Begeisterung nur noch zunehmen. Sie fürchteten, die Menge könnte in <strong>de</strong>r Kraft ihrer<br />

Überlegenheit Jesus zum König ausrufen. Als einen letzten Ausweg drängten sie sich durch die<br />

Menge bis zum Heiland vor und sprachen ihn mit drohen<strong>de</strong>n und ta<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Worten an:<br />

„Meister, wehre doch <strong>de</strong>inen Jüngern!“ Lukas 19,39. Sie erklärten, daß solche lärmen<strong>de</strong>n<br />

Demonstrationen ungesetzlich seien und von <strong>de</strong>n Behör<strong>de</strong>n nicht erlaubt wür<strong>de</strong>n. Bei Jesu<br />

Antwort verstummten sie: „Ich sage euch: Wenn diese wer<strong>de</strong>n schweigen, so wer<strong>de</strong>n die Steine<br />

schreien.“ Lukas 19,40. Gott selbst hatte diesen Triumphzug seines Sohnes angeordnet; <strong>de</strong>r<br />

Prophet hatte ihn vorhergesagt, und Menschen waren machtlos, Gottes Vorhaben zu<br />

durchkreuzen. Im Gegenteil, sie mußten alles tun, das göttliche Vorhaben auszuführen. Hätten<br />

die Menschen Gottes Plan nicht ausgeführt, so wür<strong>de</strong> er die Steine zum Leben erweckt haben,<br />

und diese hätten dann <strong>de</strong>n Sohn Gottes mit Jubelrufen begrüßt. Als sich die zum Schweigen<br />

388


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

gebrachten Pharisäer zurückzogen, ertönten aus <strong>de</strong>m Mund Hun<strong>de</strong>rter Menschen die Worte<br />

Sacharjas: „Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze! Siehe, <strong>de</strong>in<br />

König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel, auf einem<br />

Füllen <strong>de</strong>r Eselin.“ Sacharja 9,9.<br />

Als <strong>de</strong>r Zug die Höhe eines Hügels erreicht hatte und nun in die Stadt hinabziehen wollte,<br />

verhielt Jesus seinen Schritt, und die Menge kam zum Stehen. Vor ihnen lag, in das Licht <strong>de</strong>r<br />

untergehen<strong>de</strong>n Sonne getaucht, Jerusalem in all seiner Herrlichkeit. Der Tempel zog alle Augen<br />

auf sich. In majestätischer Erhabenheit überragte er alle an<strong>de</strong>ren Bauwerke und schien gen<br />

Himmel zu zeigen, als wollte er das Volk auf <strong>de</strong>n einzig wahren und lebendigen Gott<br />

hinweisen. Seit langem war <strong>de</strong>r Tempel <strong>de</strong>r Stolz und <strong>de</strong>r Ruhm <strong>de</strong>s jüdischen Volkes, und<br />

selbst die Römer prahlten mit seiner Herrlichkeit. Ein von <strong>de</strong>n Römern eingesetzter König hatte<br />

sich mit <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n verbun<strong>de</strong>n, um <strong>de</strong>n Tempel wie<strong>de</strong>rherzustellen und zu verschönern; <strong>de</strong>r<br />

römische Kaiser selbst hatte ihn durch kostbare Gaben ausgezeichnet. Durch seine Aus<strong>de</strong>hnung,<br />

seinen Reichtum und seine große Pracht war er zu einem <strong>de</strong>r Weltwun<strong>de</strong>r gewor<strong>de</strong>n.<br />

<strong>Die</strong> untergehen<strong>de</strong> Sonne verfärbte und vergol<strong>de</strong>te <strong>de</strong>n Himmel. In ihren Strahlen leuchtete<br />

<strong>de</strong>r weiße Marmor <strong>de</strong>r Tempelwän<strong>de</strong> auf und glitzerten die goldbe<strong>de</strong>ckten Säulen. Von <strong>de</strong>r<br />

Höhe aus, wo Jesus und seine Jünger stan<strong>de</strong>n, erschien das massive Gebäu<strong>de</strong> wie aus Schnee,<br />

besetzt mit gol<strong>de</strong>nen Zinnen. Den Eingang <strong>de</strong>s Tempels zierte ein Weinstock aus Gold und<br />

Silber mit grünen Blättern und schweren Trauben, geschaffen von <strong>de</strong>n geschicktesten<br />

Künstlern. <strong>Die</strong>ses Werk stellte Israel als fruchtbaren Weinstock dar. Gold, Silber und<br />

lebendiges Grün waren von auserlesenem Geschmack und großer Kunstfertigkeit. <strong>Die</strong> Ranken<br />

wan<strong>de</strong>n sich um die weißen, gleißen<strong>de</strong>n Säulen und verban<strong>de</strong>n sich mit <strong>de</strong>n gol<strong>de</strong>nen<br />

Ornamenten. Auf ihnen spiegelte sich die sinken<strong>de</strong> Sonne in herrlichem Glanz, <strong>de</strong>r vom<br />

Himmel zu stammen schien.<br />

Der Heiland schaute nach<strong>de</strong>nklich auf dieses Bild; die gewaltige Volksmenge war<br />

verstummt, gebannt von <strong>de</strong>m unerwarteten Anblick solcher Schönheit. Alle Augen waren auf<br />

<strong>de</strong>n Heiland gerichtet, und sie erwarteten auf seinem Antlitz die Bewun<strong>de</strong>rung zu sehen, die sie<br />

selbst erfüllte. Statt <strong>de</strong>ssen erblickten sie <strong>de</strong>n Schatten tiefen Kummers. Sie waren überrascht<br />

und enttäuscht, seine Augen in Tränen zu sehen. Sein Körper schwankte leicht hin und her<br />

gleich einem Baum vor <strong>de</strong>m Sturm, während — wie aus <strong>de</strong>n Tiefen eines gebrochenen Herzens<br />

— ein Schrei angstvollen Klagens von seinen zittern<strong>de</strong>n Lippen kam. Welch ein Anblick für die<br />

Engel im Himmel, ihren geliebten Herrn so voller Kummer zu sehen! Welch Erleben auch für<br />

die frohe Menge, die ihn mit begeisterten Jubelrufen und mit we<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Palmzweigen im<br />

Triumph nach Jerusalem begleitete, wo er — wie sie sehnlichst hofften — seine Herrschaft<br />

aufrichten wür<strong>de</strong>. Jesus hatte am Grabe <strong>de</strong>s Lazarus geweint, aber es waren Tränen göttlichen<br />

Mitleids für das menschliche Weh gewesen. Doch dieser plötzliche Schmerz jetzt glich einem<br />

dumpfen Klagen inmitten eines großen Jubelchores. Inmitten <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong>nszene, da alle ihm<br />

huldigten, stan<strong>de</strong>n <strong>de</strong>m König Israels Tränen in <strong>de</strong>n Augen. Es waren nicht stille Tränen <strong>de</strong>r<br />

Freu<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn Tränen und Seufzer eines inneren Ringens, das er nicht länger verbergen<br />

389


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

konnte. <strong>Die</strong> Menge überfiel plötzlich Düsternis; ihre Beifallsrufe verstummten. Viele weinten<br />

aus Mitgefühl mit einem Schmerz, <strong>de</strong>n sie nicht begreifen konnten.<br />

Jesus weinte nicht in Erwartung <strong>de</strong>r auf ihn zukommen<strong>de</strong>n Lei<strong>de</strong>n. Dicht unter ihm lag<br />

Gethsemane, wo die Schrecken einer großen Finsternis ihn bald überschatten wür<strong>de</strong>n. Auch<br />

konnte er bereits das Schaftor sehen, durch das seit Jahrhun<strong>de</strong>rten die Opfertiere geführt<br />

wur<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong>ses Tor sollte für ihn, das große Vorbild, auf <strong>de</strong>ssen Opfer für die Sün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Welt<br />

alle bisherigen Opfergaben hingewiesen hatten, bald geöffnet wer<strong>de</strong>n. Nicht weit davon lag<br />

Golgatha, <strong>de</strong>r Schauplatz seines baldigen To<strong>de</strong>skampfes. Dennoch war es nicht wegen dieser<br />

Hinweise auf seinen Kreuzestod, daß <strong>de</strong>r Heiland weinte und schmerzvoll aufstöhnte. Nicht<br />

selbstsüchtiger Kummer bedrückte ihn. Der Gedanke an das eigene Lei<strong>de</strong>n ließ seine edle,<br />

uneigennützige Seele nicht verzagen. Es war <strong>de</strong>r Anblick Jerusalems, <strong>de</strong>r Jesu Herz rührte.<br />

Jerusalem, das <strong>de</strong>n Sohn Gottes verworfen und seine Liebe verachtet hatte, das sich weigerte,<br />

sich durch die machtvollen Wun<strong>de</strong>rtaten Jesu überzeugen zu lassen, und im Begriff war, ihn zu<br />

töten. Jesus erkannte, was die Stadt — in ihrer Schuld, ihren Erlöser zu verwerfen — war und<br />

was sie hätte sein können, wenn sie ihn, <strong>de</strong>r allein ihre Wun<strong>de</strong>n heilen konnte, angenommen<br />

hätte. Er war gekommen, Jerusalem zu retten; wie konnte er es preisgeben!?<br />

Israel war ein bevorzugtes Volk gewesen; Gott hatte <strong>de</strong>n Tempel <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n zu seinem<br />

Wohnort erkoren. „In Schönheit ragt sein heiliger Berg empor, er ist die Freu<strong>de</strong> <strong>de</strong>s ganzen<br />

Lan<strong>de</strong>s.“ Psalm 48,3 (Bruns). Über tausend Jahre hatte <strong>Christi</strong> schützen<strong>de</strong> Fürsorge und<br />

hingebungsvolle Liebe — einem Vater gleich gegenüber seinem einzigen Kind — dort<br />

gewaltet. In diesem Tempel hatten die Propheten <strong>de</strong>s Herrn ihre warnen<strong>de</strong>n Stimmen erschallen<br />

lassen. Hier war das brennen<strong>de</strong> Rauchfaß geschwenkt wor<strong>de</strong>n, während <strong>de</strong>r Weihrauch mit <strong>de</strong>n<br />

Gebeten <strong>de</strong>r Gläubigen zu Gott emporgestiegen war. Hier war das Blut <strong>de</strong>r Opfertiere geflossen,<br />

das Jesu Sühneamt versinnbil<strong>de</strong>te. Hier hatte <strong>de</strong>r Ewige seine Herrlichkeit über <strong>de</strong>m<br />

Gna<strong>de</strong>nstuhl offenbart. Hier hatten die Priester ihres verordneten Amtes gewaltet, und die<br />

Pracht <strong>de</strong>s Gottesdienstes hatte sich seit Jahrhun<strong>de</strong>rten hier gezeigt. All dieses mußte nun ein<br />

En<strong>de</strong> haben!<br />

Jesus erhob seine Hand, die so oft Kranke und Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> gesegnet hatte, gegen die <strong>de</strong>m<br />

Untergang geweihte Stadt und rief mit schmerzerfüllter Stimme: „Wenn doch auch du<br />

erkenntest zu dieser Zeit, was zu <strong>de</strong>inem Frie<strong>de</strong>n dient!“ Lukas 19,42. Hier hielt <strong>de</strong>r Heiland<br />

inne und ließ unausgesprochen, wie die Lage Jerusalems hätte sein können, wenn es die Hilfe<br />

angenommen hätte, die Gott anbot — die Gabe seines geliebten Sohnes. Wür<strong>de</strong> Jerusalem<br />

erkannt haben, was es bevorzugt hätte erkennen können, und hätte es das Licht beachtet, das<br />

ihm vom Himmel gesandt wur<strong>de</strong>, dann wäre es hervorgetreten in <strong>de</strong>r Blüte seines Wohlstan<strong>de</strong>s,<br />

Königin aller Königreiche, frei dank <strong>de</strong>r von Gott empfangenen Macht. Dann hätten keine<br />

bewaffneten Soldaten an seinen Toren gestan<strong>de</strong>n, keine römischen Fahnen hätten von ihren<br />

Mauern geweht. <strong>Die</strong> herrliche Bestimmung, mit <strong>de</strong>r Jerusalem durch die Annahme <strong>de</strong>s Erlösers<br />

gesegnet wor<strong>de</strong>n wäre, stand <strong>de</strong>m Sohn Gottes vor Augen. Er sah, daß es durch ihn hätte von<br />

schwerer Krankheit geheilt, von Knechtschaft befreit und zur mächtigen Hauptstadt <strong>de</strong>r Welt<br />

hätte erhoben wer<strong>de</strong>n können. Es wäre <strong>de</strong>r Welt größte Kostbarkeit gewor<strong>de</strong>n.<br />

390


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Aber das herrliche Bild <strong>de</strong>ssen, was Jerusalem hätte wer<strong>de</strong>n können, entschwand <strong>de</strong>m<br />

inneren Blickfeld <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s. Ihm trat vor Augen, was es nun unter <strong>de</strong>m Joch <strong>de</strong>r Römer war<br />

— <strong>de</strong>m Mißfallen Gottes und seinem strafen<strong>de</strong>n Gericht unterworfen. Dann fuhr er in seiner<br />

Klage fort: „Aber nun ist‘s vor <strong>de</strong>inen Augen verborgen. Denn es wer<strong>de</strong>n über dich die Tage<br />

kommen, daß <strong>de</strong>ine Fein<strong>de</strong> wer<strong>de</strong>n um dich und <strong>de</strong>ine Kin<strong>de</strong>r einen Wall aufwerfen, dich<br />

belagern und an allen Orten ängstigen; und wer<strong>de</strong>n dich schleifen und keinen Stein auf <strong>de</strong>m<br />

an<strong>de</strong>rn lassen, darum daß du nicht erkannt hast die Zeit, darin du heimgesucht bist.“ Lukas<br />

19,42-44.<br />

Jesus kam, um Jerusalem zu retten; doch pharisäischer Stolz, Heuchelei, Eifersucht und<br />

Bosheit hin<strong>de</strong>rten ihn an <strong>de</strong>r Erfüllung seiner Aufgabe. Der Heiland kannte die furchtbare<br />

Vergeltung, die diese verurteilte Stadt heimsuchen wür<strong>de</strong>. Er sah sie schon von Kriegsheeren<br />

eingeschlossen, die belagerten Einwohner <strong>de</strong>m Hunger und <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> preisgegeben; er sah<br />

Mütter ihre toten Kin<strong>de</strong>r verzehren und Eltern und Kin<strong>de</strong>r sich gegenseitig <strong>de</strong>n letzten Bissen<br />

entreißen, da die natürliche Liebe durch <strong>de</strong>n quälen<strong>de</strong>n Hunger erstickt wor<strong>de</strong>n war. Er sah<br />

ferner, daß die Halsstarrigkeit, welche die Ju<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Verwerfung ihres Heils bekun<strong>de</strong>t hatten,<br />

sie auch hin<strong>de</strong>rn wür<strong>de</strong>, sich <strong>de</strong>n anstürmen<strong>de</strong>n Heeren zu ergeben. Er sah Golgatha, die Stätte,<br />

da er erhöht wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>, mit Kreuzen be<strong>de</strong>ckt, so dicht wie die Bäume <strong>de</strong>s Wal<strong>de</strong>s; er sah<br />

die unglücklichen Einwohner auf <strong>de</strong>r Folter und bei <strong>de</strong>r Kreuzigung unerträgliche Qualen<br />

lei<strong>de</strong>n; er sah die stolzen Paläste vernichtet, <strong>de</strong>n Tempel in Trümmern und von seinen<br />

mächtigen Mauern keinen Stein auf <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>rn liegen, während die Stadt einem umgepflügten<br />

Acker glich. Angesichts dieser Schrecknisse vermochte <strong>de</strong>r Heiland seine Tränen nicht mehr<br />

zurückzuhalten!<br />

Jerusalem war sein Sorgenkind gewesen. Wie ein liebevoller Vater über einen eigensinnigen<br />

Sohn trauert, so klagte Jesus über die geliebte Stadt. Wie kann ich dich aufgeben? Wie kann ich<br />

dich <strong>de</strong>r Vernichtung ausgeliefert sehen? Muß ich dich aufgeben, damit du <strong>de</strong>n Becher <strong>de</strong>iner<br />

Bosheit füllst? Dem Herrn war eine einzige Seele so kostbar, daß im Vergleich mit ihr das<br />

ganze Weltall zur Be<strong>de</strong>utungslosigkeit herabsank; und hier sah er ein ganzes Volk<br />

verlorengehen. Wenn sich die Strahlen <strong>de</strong>r untergehen<strong>de</strong>n Sonne am Horizont verlieren wür<strong>de</strong>n,<br />

wäre auch die Gna<strong>de</strong>nzeit Jerusalems zu En<strong>de</strong>. Während <strong>de</strong>r Zug auf <strong>de</strong>r Höhe <strong>de</strong>s Ölberges<br />

anhielt, war es für Jerusalem noch Zeit, Buße zu tun, obgleich <strong>de</strong>r Engel <strong>de</strong>r Barmherzigkeit<br />

seine ausgebreiteten Flügel bereits sinken ließ, um von <strong>de</strong>m gol<strong>de</strong>nen Thron herabzusteigen und<br />

<strong>de</strong>r Gerechtigkeit und <strong>de</strong>m göttlichen Gericht Raum zu geben. Doch noch bat Jesu liebevolles<br />

Herz für Jerusalem, das seine Gna<strong>de</strong>ngaben verachtet, seine Warnungen geringgeschätzt hatte<br />

und <strong>de</strong>ren Bewohner nun drauf und dran waren, ihre Hän<strong>de</strong> mit seinem Blut zu beflecken.<br />

Wenn Jerusalem nur bereuen wür<strong>de</strong>, es war noch nicht zu spät! Während die letzten Strahlen<br />

<strong>de</strong>r untergehen<strong>de</strong>n Sonne auf <strong>de</strong>m Tempel, <strong>de</strong>m Berg und <strong>de</strong>n Zinnen lagen — ob nicht ein<br />

guter Engel in <strong>de</strong>r Stadt die Liebe zum Heiland erwecken und so ihr Geschick abwen<strong>de</strong>n<br />

wür<strong>de</strong>? Schöne, aber unheilige Stadt, die die Propheten gesteinigt und <strong>de</strong>n Sohn Gottes<br />

verworfen hatte, die sich durch ihre Unbußfertigkeit selbst die Fesseln <strong>de</strong>r Knechtschaft<br />

schmie<strong>de</strong>te — ihre Gna<strong>de</strong>nfrist war bald vorüber.<br />

391


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 64: <strong>Die</strong> Verurteilung eines Volkes<br />

Noch einmal wen<strong>de</strong>t sich <strong>de</strong>r Geist Gottes an Jerusalem. Bevor <strong>de</strong>r Tag ganz dahingegangen<br />

ist, wird ein weiteres Zeugnis für Christus gegeben. Beachtet die Stadt diese göttliche<br />

Bestätigung, nimmt sie <strong>de</strong>n Heiland auf, <strong>de</strong>r sich anschickt durch ihre Tore die Stadt zu<br />

betreten, dann wird sie noch gerettet wer<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> Obersten in Jerusalem haben die Nachricht<br />

erhalten, daß sich Jesus unter großem Zulauf <strong>de</strong>s Volkes <strong>de</strong>r Stadt nähere. Doch sie haben<br />

keinen Willkommensgruß für <strong>de</strong>n Sohn Gottes. Sie gehen <strong>de</strong>m Herrn furchterfüllt entgegen und<br />

hoffen, die Menge zerstreuen zu können. Während <strong>de</strong>r Zug sich anschickt, <strong>de</strong>n Ölberg<br />

herabzusteigen, wird er von <strong>de</strong>n Obersten aufgehalten. Sie erkundigen sich nach <strong>de</strong>r Ursache<br />

<strong>de</strong>r ungestümen Freu<strong>de</strong>. „Wer ist <strong>de</strong>r?“ fragen sie. Und die Jünger, mit <strong>de</strong>m Geist göttlicher<br />

Eingebung erfüllt, antworten in beredten Worten, in<strong>de</strong>m sie die Weissagungen auf Christus<br />

wie<strong>de</strong>rholen:<br />

Adam wird euch sagen: Er ist <strong>de</strong>r Same <strong>de</strong>s Weibes, welcher <strong>de</strong>r Schlange <strong>de</strong>n Kopf<br />

zertreten soll. Fragt Abraham, er wird euch sagen: Er ist „Melchise<strong>de</strong>k, <strong>de</strong>r König von<br />

Salem“. 1.Mose 14,18. Jakob wird euch antworten: Er ist <strong>de</strong>r Held aus <strong>de</strong>m Stamme Juda.<br />

Jesaja wird euch sagen: „Immanuel!“ Und: „Wun<strong>de</strong>r-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Frie<strong>de</strong>-<br />

Fürst.“ Jesaja 7,14; Jesaja 9,5. Jeremia wird euch sagen: Der Sproß Davids, „<strong>de</strong>r Herr unsere<br />

Gerechtigkeit“. Jeremia 23,6. Daniel wird euch sagen: Er ist <strong>de</strong>r Messias. Hosea wird zu euch<br />

sagen: Er „ist <strong>de</strong>r Gott Zebaoth, Herr ist sein Name“. Hosea 12,6. Johannes <strong>de</strong>r Täufer wird<br />

euch sagen: Er ist „Gottes Lamm, welches <strong>de</strong>r Welt Sün<strong>de</strong> trägt“. Johannes 1,29.<br />

<strong>Die</strong> Jünger sahen <strong>de</strong>n Haß <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n auf ihren Herrn, sie erkannten aber noch nicht, wohin er<br />

führen wer<strong>de</strong>. Sie verstan<strong>de</strong>n we<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n wahren Zustand Israels, noch begriffen sie die<br />

Vergeltung, die Jerusalem ereilen sollte. Der Herr mußte ihnen dies alles bildlich<br />

veranschaulichen. <strong>Die</strong> letzte Warnung an Jerusalem war vergeblich gewesen. Priester und<br />

Oberste hatten — auf ihre Frage „Wer ist <strong>de</strong>r?“ — das prophetische Zeugnis aus <strong>de</strong>r<br />

Vergangenheit von <strong>de</strong>r Menge noch einmal gehört, aber sie hatten jene Zeugnisse nicht als<br />

göttliche Eingebung anerkannt. Voller Ärger und Bestürzung versuchten sie das Volk zum<br />

Schweigen zu bringen. Es befan<strong>de</strong>n sich auch römische Beamte in <strong>de</strong>r Menge, und bei diesen<br />

klagten Jesu Fein<strong>de</strong> ihn als Aufrührer an, <strong>de</strong>r im Begriff stün<strong>de</strong>, <strong>de</strong>n Tempel einzunehmen und<br />

als König in Jerusalem zu regieren.<br />

Doch die beruhigen<strong>de</strong> Stimme Jesu ließ für einen Augenblick die lärmen<strong>de</strong> Menge<br />

verstummen, als er abermals erklärte, daß er nicht gekommen sei, ein weltliches Reich<br />

aufzurichten, son<strong>de</strong>rn daß er bald zu seinem himmlischen Vater aufstiege und daß seine<br />

Ankläger ihn nicht mehr sehen wür<strong>de</strong>n, bis er in Herrlichkeit wie<strong>de</strong>rkäme. Dann erst, wenn es<br />

für ihre Errettung zu spät wäre, wür<strong>de</strong>n sie ihn anerkennen. Mit Trauer in <strong>de</strong>r Stimme, aber<br />

ungewöhnlich eindringlich sprach Jesus diese Worte. <strong>Die</strong> römischen Beamten schwiegen<br />

überwältigt. Ihre Herzen waren, obgleich ihnen <strong>de</strong>r göttliche Einfluß unbekannt war, bewegt<br />

wie noch nie in ihrem Leben. In <strong>de</strong>m stillen, ernsten Antlitz Jesu lasen sie Liebe, Wohlwollen<br />

und gelassene Wür<strong>de</strong>. Sie waren angerührt von einer Sympathie, die sie sich nicht erklären<br />

392


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

konnten. Statt Jesus festzunehmen, neigten sie eher dazu, ihm zu huldigen. Sie wandten sich<br />

gegen die Priester und Obersten und beschuldigten diese <strong>de</strong>r Ruhestörung; die Obersten wie<strong>de</strong>r,<br />

ärgerlich und enttäuscht, wandten sich mit ihren Klagen an das Volk und stritten außer<strong>de</strong>m<br />

aufgebracht untereinan<strong>de</strong>r.<br />

Während<strong>de</strong>ssen ging Christus unbemerkt zum Tempel. Hier herrschte wohltuen<strong>de</strong> Stille;<br />

<strong>de</strong>nn das Geschehen auf <strong>de</strong>m Ölberg hatte das Volk hinausgetrieben. Der Heiland blieb nur<br />

kurze Zeit an dieser heiligen Stätte, auf die er mit Trauer blickte. Dann verließ er mit seinen<br />

Jüngern diesen Ort und kehrte nach Bethanien zurück. Als das Volk ihn suchte, um ihn zu<br />

krönen, war er nirgends in <strong>de</strong>r Stadt zu fin<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> ganze Nacht verbrachte Jesus im Gebet, und<br />

am frühen Morgen ging er wie<strong>de</strong>r zum Tempel. Auf <strong>de</strong>m Wege dahin kam er an einem<br />

Feigenhain vorbei. Er war hungrig, und „er sah einen Feigenbaum von ferne, <strong>de</strong>r Blätter hatte;<br />

da trat er hinzu, ob er etwas darauf fän<strong>de</strong>. Und da er hinzukam, fand er nichts als nur Blätter<br />

<strong>de</strong>nn es war nicht die Zeit für Feigen.“ Markus 11,13.<br />

<strong>Die</strong> Zeit <strong>de</strong>r reifen Feigen war noch nicht gekommen, außer in bestimmten Gegen<strong>de</strong>n; und<br />

auf <strong>de</strong>n Höhen um Jerusalem konnte man sagen: „Es war nicht die Zeit für Feigen.“ Doch in<br />

<strong>de</strong>m Garten, zu <strong>de</strong>m Jesus kam, schien ein Baum allen an<strong>de</strong>ren weit voraus zu sein. Er war<br />

bereits mit Blättern be<strong>de</strong>ckt, und es liegt in <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>s Feigenbaumes, daß die wachsen<strong>de</strong><br />

Frucht erscheint, noch ehe sich die Blätter entfaltet haben. Deshalb versprach dieser im vollen<br />

Blätterschmuck stehen<strong>de</strong> Baum gut entwickelte Früchte. Aber <strong>de</strong>r Schein trog. Beim Absuchen<br />

seiner Zweige vom niedrigsten bis zum höchsten fand Jesus „nichts als nur Blätter“, eine Fülle<br />

prunken<strong>de</strong>n Laubwerks, nichts weiter.<br />

Da verwünschte er <strong>de</strong>n Baum und sprach: „Nun esse von dir niemand mehr eine Frucht<br />

ewiglich!“ Markus 11,14. Am nächsten Morgen, als Jesus mit seinen Jüngern <strong>de</strong>n gleichen Weg<br />

ging, erregten die verdorrten Zweige und die verwelkten Blätter ihre Aufmerksamkeit. Petrus<br />

sagte verwun<strong>de</strong>rt: „Rabbi, siehe, <strong>de</strong>r Feigenbaum, <strong>de</strong>n du verflucht hast, ist verdorrt.“ Markus<br />

11,21. <strong>Christi</strong> Fluch über diesen Feigenbaum hatte die Jünger überrascht. Sie konnten diese Tat<br />

so gar nicht mit seinem Wan<strong>de</strong>l und seinem Wirken in Einklang bringen. Oft hatte er ihnen<br />

gesagt, daß er nicht gekommen sei, die Welt zu verdammen, son<strong>de</strong>rn zu erlösen. Sie erinnerten<br />

sich seiner Worte: „Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, <strong>de</strong>r Menschen Seelen zu<br />

ver<strong>de</strong>rben, son<strong>de</strong>rn zu erhalten.“ Lukas 9,56. Seine wun<strong>de</strong>rbaren Taten hatten bisher stets dazu<br />

gedient, etwas wie<strong>de</strong>rherzustellen, niemals aber, um etwas zu vernichten. <strong>Die</strong> Jünger hatten<br />

ihren Herrn immer nur als Helfer und als Heiland kennengelernt. <strong>Die</strong>se Tat stand einzig da. Sie<br />

fragten sich: Warum hat <strong>de</strong>r Herr diesen Baum vernichtet?<br />

Gott ist barmherzig! „So wahr ich lebe, spricht Gott <strong>de</strong>r Herr: ich habe kein Gefallen am<br />

To<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Gottlosen, son<strong>de</strong>rn daß <strong>de</strong>r Gottlose umkehre von seinem Wege und lebe.“ Hesekiel<br />

33,11. Ihm ist das Vernichten und Verurteilen ein „fremdartiges Geschäft“. Jesaja 28,21<br />

(Schlachter). Er lüftet aber in Barmherzigkeit und Liebe <strong>de</strong>n Schleier <strong>de</strong>r Zukunft und zeigt <strong>de</strong>n<br />

Menschen die Folgen eines sündigen Wan<strong>de</strong>ls. Das Verfluchen <strong>de</strong>s Feigenbaumes war ein in<br />

die Tat übersetztes Gleichnis. Jener unfruchtbare Baum, <strong>de</strong>r mit seinem Blätterschmuck vor<br />

<strong>de</strong>m Herrn prunkte, war ein Sinnbild <strong>de</strong>s jüdischen Volkes. Der Heiland wünschte seinen<br />

393


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Jüngern die Ursache und die Gewißheit von Israels Schicksal zu ver<strong>de</strong>utlichen. Er rüstete darum<br />

<strong>de</strong>n Baum mit sittlichen Eigenschaften aus und erhob ihn zum Ausleger göttlicher Wahrheit.<br />

<strong>Die</strong> Ju<strong>de</strong>n nahmen unter allen Völkern eine bevorzugte Stellung ein, in<strong>de</strong>m sie ihren Bund mit<br />

Gott bekannten. Sie waren von Gott in auffallen<strong>de</strong>r Weise begünstigt wor<strong>de</strong>n und<br />

beanspruchten darum, gerechtfertigter zu sein als je<strong>de</strong>s an<strong>de</strong>re Volk. Doch sie waren durch die<br />

Liebe zur Welt und durch ihre Gewinnsucht völlig ver<strong>de</strong>rbt. Sie rühmten sich ihrer Erkenntnis<br />

und waren doch unwissend gegenüber <strong>de</strong>m Willen Gottes. Außer<strong>de</strong>m waren sie voller<br />

Heuchelei. Gleich <strong>de</strong>m unfruchtbaren Feigenbaum reckten sie ihre vielversprechen<strong>de</strong>n Zweige,<br />

üppig und schön anzusehen, hoch empor, <strong>de</strong>nnoch brachten sie „nichts als nur Blätter“. <strong>Die</strong><br />

jüdische Religion mit ihrem großartigen Tempel, ihren geweihten Altären, ihren geschmückten<br />

Priestern und ihren eindrucksvollen Gottesdiensten bot wirklich einen außeror<strong>de</strong>ntlichen<br />

Anblick dar; doch Demut, Liebe und Barmherzigkeit fehlten.<br />

Auch alle an<strong>de</strong>rn Bäume in <strong>de</strong>m Feigengarten waren ohne Früchte; doch diese blätterlosen<br />

Bäume weckten keine Erwartungen und konnten daher auch keine Enttäuschung verursachen.<br />

Durch diese Bäume wur<strong>de</strong>n die Hei<strong>de</strong>n versinnbildlicht. Sie ermangelten ebenso wie die Ju<strong>de</strong>n<br />

<strong>de</strong>r Gottseligkeit; aber sie gaben auch nicht vor, Gott zu dienen, und sie brüsteten sich auch<br />

nicht mit <strong>de</strong>r Behauptung, besser als an<strong>de</strong>re zu sein. Das Wirken und die Wege Gottes lagen<br />

ihnen im dunkeln; bei ihnen war noch „nicht die Zeit für Feigen“. Markus 11,13. Sie warteten<br />

noch auf <strong>de</strong>n Tag, <strong>de</strong>r ihnen Hoffnung und Licht bringen wür<strong>de</strong>. <strong>Die</strong> Ju<strong>de</strong>n, die von Gott<br />

größere Segnungen erhalten hatten, waren für <strong>de</strong>n Mißbrauch dieser Gaben verantwortlich. <strong>Die</strong><br />

Vorrechte, <strong>de</strong>rer sie sich rühmten, vergrößerten nur noch ihre Schuld.<br />

Jesus war hungrig zu <strong>de</strong>m Feigenbaum gekommen, von <strong>de</strong>m er Nahrung zu erhalten gehofft<br />

hatte. Ebenso hungrig war er auch zu Israel gekommen, um bei ihnen Früchte <strong>de</strong>r Gerechtigkeit<br />

zu fin<strong>de</strong>n. Er hatte seine Gaben in reicher Fülle über die Ju<strong>de</strong>n ausgeschüttet, damit sie zum<br />

Segen <strong>de</strong>r Welt Frucht tragen möchten. Je<strong>de</strong> Gelegenheit, je<strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>rrecht war ihnen gewährt<br />

wor<strong>de</strong>n. Als Gegenleistung suchte er ihr Mitgefühl und ihre Mitarbeit in seinem Gna<strong>de</strong>nwerk.<br />

Er sehnte sich danach, bei ihnen Opferbereitschaft und Barmherzigkeit, Eifer für Gott und das<br />

tiefe Verlangen nach Erlösung ihrer Mitmenschen zu sehen. Hätten sie Gottes Gesetz befolgt,<br />

dann wür<strong>de</strong>n sie die gleichen uneigennützigen Werke hervorgebracht haben wie Jesus auch.<br />

Aber die Liebe zu Gott und <strong>de</strong>n Menschen war durch Stolz und Selbstzufrie<strong>de</strong>nheit<br />

verdunkelt. Sie stürzten sich selbst ins Ver<strong>de</strong>rben, in<strong>de</strong>m sie sich weigerten, an<strong>de</strong>rn zu dienen,<br />

und <strong>de</strong>n Schatz <strong>de</strong>r Wahrheit, <strong>de</strong>n Gott ihnen anvertraut hatte, <strong>de</strong>r Welt mitzuteilen. An <strong>de</strong>m<br />

unfruchtbaren Feigenbaum konnten sie ihre Sün<strong>de</strong> wie auch <strong>de</strong>ren Bestrafung erkennen. Unter<br />

<strong>de</strong>m Fluch <strong>de</strong>s Erlösers abgestorben, verwelkt, verdorrt und bis an die Wurzel vertrocknet,<br />

stand <strong>de</strong>r Feigenbaum da und wies auf <strong>de</strong>n Zustand <strong>de</strong>s jüdischen Volkes hin, wenn ihm die<br />

Gna<strong>de</strong> Gottes entzogen sein wür<strong>de</strong>. Da Israel sich weigerte, die Gna<strong>de</strong>ngaben mitzuteilen,<br />

wür<strong>de</strong> es sie auch nicht länger empfangen. „Israel“, sagte <strong>de</strong>r Herr, „du bringst dich ins<br />

Unglück.“ Hosea 13,9.<br />

<strong>Die</strong>se Warnung gilt für alle Zeiten. <strong>Christi</strong> Fluch über <strong>de</strong>n Baum, <strong>de</strong>n seine eigene<br />

Schöpfermacht geschaffen hatte, steht als Mahnung über allen Gemein<strong>de</strong>n und allen Christen.<br />

394


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Niemand kann im Gehorsam <strong>de</strong>s göttlichen Gesetzes leben, ohne <strong>de</strong>m Nächsten zu dienen. Aber<br />

es gibt viele, die nicht nach <strong>de</strong>m Vorbild <strong>Christi</strong> einen barmherzigen, uneigennützigen Wan<strong>de</strong>l<br />

führen. Manche, die sich selbst zu <strong>de</strong>n vortrefflichsten Christen zählen, verstehen nicht, worin<br />

<strong>de</strong>r wahre <strong>Die</strong>nst für Gott besteht. Sie planen und trachten, um sich selbst zu gefallen, und sie<br />

han<strong>de</strong>ln nur im eigenen Interesse. Zeit ist für sie nur insoweit von Wert, wie sie diese<br />

ausschließlich für sich verwen<strong>de</strong>n können. In ihrem täglichen Leben ist das ihr ganzes Streben.<br />

Nicht ihrem Nächsten, son<strong>de</strong>rn allein sich selbst dienen sie. Gott erwählte sie, in einer Welt zu<br />

leben, die selbstlosen <strong>Die</strong>nst erfor<strong>de</strong>rt. Er bestimmte sie, ihren Mitmenschen in je<strong>de</strong>r nur<br />

<strong>de</strong>nkbaren Weise zu helfen. Doch ihr Ich ist so groß, daß sie nichts an<strong>de</strong>res mehr sehen.<br />

Menschlichkeit hat bei ihnen keinen Raum. Jene, die in dieser Weise nur für sich leben,<br />

gleichen <strong>de</strong>m Feigenbaum, <strong>de</strong>r viel versprach, aber nichts hielt. Sie beachten wohl die äußeren<br />

Formen <strong>de</strong>s Gottesdienstes, doch sie sind ohne Buße und ohne Glauben. Sie geben vor, das<br />

Gesetz Gottes zu ehren, aber ihnen mangelt es an Glaubensgehorsam. Sie re<strong>de</strong>n, aber sie<br />

han<strong>de</strong>ln nicht! In seinem Urteil über <strong>de</strong>n Feigenbaum zeigt Jesus, wie verhaßt in seinen Augen<br />

dieser unnütze Aufwand ist. Er erklärt, daß <strong>de</strong>r offenkundige Sün<strong>de</strong>r weniger schuldig ist als<br />

jener, <strong>de</strong>r angeblich Gott dient, aber zu seiner Verherrlichung keine Frucht bringt.<br />

Das Gleichnis vom Feigenbaum, das Christus vor seinem Besuch Jerusalems erzählte, steht<br />

in unmittelbarem Zusammenhang mit <strong>de</strong>r Lehre, die er durch die Verfluchung <strong>de</strong>s<br />

unfruchtbaren Feigenbaums erteilt hatte. Dort bittet <strong>de</strong>r Gärtner für <strong>de</strong>n unfruchtbaren Baum:<br />

„Herr, laß ihn noch dies Jahr, bis daß ich um ihn grabe und bedünge ihn, ob er doch noch wollte<br />

Frucht bringen; wo nicht, so haue ihn ab.“ Lukas 13,8.9. Dem unfruchtbaren Baum sollte<br />

vermehrte Pflege zuteil wer<strong>de</strong>n. Er sollte je<strong>de</strong>n Vorteil haben. Wenn er <strong>de</strong>nnoch ohne Frucht<br />

bliebe, dann könnte ihn nichts vor <strong>de</strong>r Vernichtung bewahren. Über das Ergebnis <strong>de</strong>r<br />

Bemühungen <strong>de</strong>s Gärtners wird im Gleichnis nichts ausgesagt. Es hing von <strong>de</strong>n Menschen ab,<br />

zu <strong>de</strong>nen Jesus diese Worte sprach. Sie waren es, für die <strong>de</strong>r unfruchtbare Baum ein Symbol<br />

darstellte. In ihrer Hand lag die Entscheidung über ihr Schicksal. Alle er<strong>de</strong>nklichen Vorteile<br />

waren ihnen vom Himmel eingeräumt wor<strong>de</strong>n, aber sie zogen keinen Gewinn aus diesen großen<br />

Segnungen. <strong>Christi</strong> Verfluchung <strong>de</strong>s unfruchtbaren Feigenbaums zeigt, wohin das führte. Sie<br />

hatten ihren eigenen Untergang bestimmt.<br />

Länger als tausend Jahre hatte Israel die Gna<strong>de</strong> Gottes mißbraucht und dadurch seine<br />

Strafgerichte herausgefor<strong>de</strong>rt. Es hatte Gottes Warnungen unbeachtet gelassen und seine<br />

Propheten getötet. Für diese Sün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Vergangenheit nahm das Volk Israel zur Zeit Jesu die<br />

Verantwortung auf sich, in<strong>de</strong>m es <strong>de</strong>n gleichen Weg verfolgte. In <strong>de</strong>r Verwerfung <strong>de</strong>r ihr<br />

angebotenen Gna<strong>de</strong>ngaben und Warnungsbotschaften lag die Schuld jener Generation. <strong>Die</strong><br />

Fesseln, die das Volk jahrhun<strong>de</strong>rtelang geschmie<strong>de</strong>t hatte, legte es sich nun selbst an. In je<strong>de</strong>m<br />

Zeitalter wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Menschen Tage <strong>de</strong>s Lichtes und <strong>de</strong>r beson<strong>de</strong>ren Gelegenheiten, eine<br />

Probezeit also, gegeben, um sich mit Gott zu versöhnen. Aber solcher Gna<strong>de</strong> ist eine Grenze<br />

gesetzt. <strong>Die</strong> göttliche Barmherzigkeit mag jahrelang mahnen, sie mag geringgeschätzt und<br />

verworfen wer<strong>de</strong>n, aber es kommt die Zeit, da sie zum letztenmal bittet. Verhärtet sich das Herz<br />

so sehr, daß es aufhört, auf <strong>de</strong>n Geist Gottes zu achten, dann bittet die wohlklingen<strong>de</strong>,<br />

395


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

gewinnen<strong>de</strong> Stimme <strong>de</strong>s Erlösers nicht länger, und die Zurechtweisungen und Ermahnungen<br />

hören auf.<br />

<strong>Die</strong>se Zeit war nun für Jerusalem gekommen. Jesus weinte vor Schmerz über die verurteilte<br />

Stadt, aber er konnte sie nicht mehr retten. Alle Möglichkeiten waren erschöpft. In<strong>de</strong>m Israel<br />

die Warnungen Gottes verwarf, wies es das einzige „Heilmittel“ zurück. Es gab keine an<strong>de</strong>re<br />

Macht, durch die die Stadt gerettet wer<strong>de</strong>n konnte. Das jüdische Volk war ein Sinnbild <strong>de</strong>r<br />

Menschen aller Zeitalter, welche die Bitten <strong>de</strong>r unendlichen Liebe Gottes verhöhnen. <strong>Die</strong><br />

Tränen, die Jesus über Jerusalem weinte, flossen für die Sün<strong>de</strong>n aller Zeiten. Alle, die die<br />

Ermahnungen und Warnungen <strong>de</strong>s Geistes Gottes mißachten, können in <strong>de</strong>m angekündigten<br />

Gericht über Jerusalem ihr eigenes Schicksal erkennen.<br />

Heute gibt es viele, die <strong>de</strong>n gleichen Weg wan<strong>de</strong>ln wie einst die ungläubigen Ju<strong>de</strong>n. Sie<br />

haben die Offenbarungen <strong>de</strong>r Macht Gottes gesehen. Der Heilige Geist hat zu ihren Herzen<br />

gesprochen; aber sie halten an ihrem Unglauben und an ihrem Wi<strong>de</strong>rstand fest. Gott sen<strong>de</strong>t<br />

ihnen Warnungen und Zurechtweisungen; doch sie wollen ihr Unrecht nicht einsehen und<br />

verwerfen hartnäckig seine Botschaft und seine Boten. Gera<strong>de</strong> die Mittel, die Gott zu ihrer<br />

Errettung gebrauchen will, wer<strong>de</strong>n für sie zum Stein <strong>de</strong>s Anstoßes. Gottes <strong>Die</strong>ner wur<strong>de</strong>n von<br />

<strong>de</strong>n abtrünnigen Israeliten gehaßt, weil sie <strong>de</strong>ren verborgene Sün<strong>de</strong>n ans Licht brachten. Ahab<br />

betrachtete Elia als seinen Feind, weil <strong>de</strong>r Prophet gewissenhaft die geheimen Sün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s<br />

Königs rügte. So stößt auch heute <strong>de</strong>r <strong>Die</strong>ner <strong>Christi</strong>, <strong>de</strong>r die Sün<strong>de</strong> geißelt, auf Hohn und<br />

Wi<strong>de</strong>rstand. <strong>Die</strong> Wahrheit <strong>de</strong>r Heiligen Schrift, die Religion <strong>Christi</strong> muß gegen einen starken<br />

Strom sittlicher Unreinheit kämpfen. Das Vorurteil gegen das schlichte Bibelwort ist in <strong>de</strong>n<br />

Herzen <strong>de</strong>r Menschen noch größer als zur Zeit Jesu.<br />

Der Heiland entsprach nicht <strong>de</strong>n Erwartungen <strong>de</strong>r Menschen, sein Leben war ein einziger<br />

Vorwurf gegen ihre Sündhaftigkeit. Darum verwarfen sie ihn. So stimmt auch die Wahrheit <strong>de</strong>s<br />

Wortes Gottes nicht mit <strong>de</strong>n Handlungen und natürlichen Neigungen <strong>de</strong>r Menschen überein,<br />

und Tausen<strong>de</strong> weisen das Licht <strong>de</strong>r Wahrheit ab. Von Satan beeinflußt, zweifeln die Menschen<br />

an Gottes Wort und folgen lieber ihrem unabhängigen Urteil. Sie wählen lieber die Dunkelheit<br />

als das Licht und gefähr<strong>de</strong>n dadurch ihre Seele. Jene, die <strong>Christi</strong> Worte kritisieren, fan<strong>de</strong>n<br />

immer neuen Anlaß zur Kritik, bis sie sich von <strong>de</strong>r Wahrheit und <strong>de</strong>m Leben abwandten. So ist<br />

es auch heute. Gott will nicht je<strong>de</strong>n Einwand, <strong>de</strong>n das menschliche Herz gegen seine Wahrheit<br />

macht, aus <strong>de</strong>m Wege räumen. Wer die köstlichen Lichtstrahlen, die die Finsternis erhellen<br />

wür<strong>de</strong>n, verwirft, bleibt für immer im Dunkel <strong>de</strong>s Unglaubens. Ihnen ist die Wahrheit<br />

verborgen. Sie wan<strong>de</strong>ln im Finstern und erkennen nicht das vor ihnen liegen<strong>de</strong> Ver<strong>de</strong>rben.<br />

Christus überschaute von <strong>de</strong>r Höhe <strong>de</strong>s Ölberges aus die Welt und alle Zeitalter. Seine Worte<br />

sind auf je<strong>de</strong>n anwendbar, <strong>de</strong>r die Fürsprache <strong>de</strong>r göttlichen Gna<strong>de</strong> geringschätzig behan<strong>de</strong>lt.<br />

Heute wen<strong>de</strong>t er sich an die Verächter seiner Liebe. Wenn doch auch du „erkenntest zu dieser<br />

Zeit, was zu <strong>de</strong>inem Frie<strong>de</strong>n dient!“ Lukas 19,42. Jesus vergießt bittere Tränen für dich, <strong>de</strong>r du<br />

selbst nicht weinen kannst. Jene verhängnisvolle Herzenshärte, die die Pharisäer vernichtete,<br />

zeigt sich bereits in dir. Je<strong>de</strong>r göttliche Gna<strong>de</strong>nbeweis, je<strong>de</strong>r göttliche Lichtstrahl rührt entwe<strong>de</strong>r<br />

das Herz und macht es <strong>de</strong>mütig o<strong>de</strong>r bestärkt es in hoffnungsloser Verstocktheit. Der Heiland<br />

396


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

sah voraus, daß die Einwohner Jerusalems verstockt und ohne Reue bleiben wür<strong>de</strong>n; <strong>de</strong>nnoch<br />

hatten sie alle Schuld und trugen für alle Folgen <strong>de</strong>r zurückgewiesenen Gna<strong>de</strong> allein die<br />

Verantwortung. So wird es je<strong>de</strong>r Seele ergehen, die <strong>de</strong>n gleichen Weg eigensinnig<br />

weiterwan<strong>de</strong>rt. Gott sagte: „Israel, du bringst dich ins Unglück.“ Hosea 13,9. — „Du, Er<strong>de</strong>,<br />

höre zu! Siehe, ich will Unheil über dies Volk bringen, ihren verdienten Lohn, weil sie auf<br />

meine Worte nicht achten und mein Gesetz verwerfen.“ Jeremia 6,19.<br />

397


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 65: Der Tempel wird wie<strong>de</strong>r gereinigt<br />

Zu Beginn seines Lehramtes waren von Christus alle jene aus <strong>de</strong>m Tempel getrieben wor<strong>de</strong>n,<br />

die diesen durch ihre unheiligen Geschäfte verunreinigt hatten. Sein strenges und machtvolles<br />

Auftreten hatte damals die listigen Händler mit Furcht erfüllt. Nun kam er kurz vor Beendigung<br />

seines Auftrages wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Tempel und fand ihn genauso entweiht wie vor Jahren. <strong>Die</strong><br />

Situation war sogar noch schlimmer als je zuvor. Der Vorhof <strong>de</strong>s Tempels glich einem riesigen<br />

Viehmarkt, auf <strong>de</strong>m das Gebrüll <strong>de</strong>r Tiere und <strong>de</strong>r helle Klang <strong>de</strong>r Münzen sich mit <strong>de</strong>n<br />

zornigen Schreien <strong>de</strong>r untereinan<strong>de</strong>r streiten<strong>de</strong>n Händler vermischten; dazwischen hörte man<br />

die Stimmen <strong>de</strong>r amtieren<strong>de</strong>n Priester. Sogar die Wür<strong>de</strong>nträger <strong>de</strong>s Tempeldienstes beteiligten<br />

sich an <strong>de</strong>n Kauf- und Wechselgeschäften und ließen sich <strong>de</strong>rartig von ihrer Gewinnsucht<br />

beherrschen, daß sie in <strong>de</strong>n Augen Gottes nicht besser waren als gemeine <strong>Die</strong>be.<br />

Wie wenig erkannten die Priester und Obersten <strong>de</strong>n Ernst und die Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Amtes, das sie<br />

zu erfüllen hatten! Zu je<strong>de</strong>m Passah- und Laubhüttenfest wur<strong>de</strong>n Tausen<strong>de</strong> von Tieren<br />

geschlachtet; ihr Blut wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>n Priestern aufgefangen und auf <strong>de</strong>n Altar gegossen. <strong>Die</strong>se<br />

blutigen Opfer waren <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n so geläufig gewor<strong>de</strong>n, daß sie fast die Tatsache vergaßen, daß<br />

nur ihre Sün<strong>de</strong> all dieses Blutvergießen notwendig machte. Sie beachteten nicht, daß darin das<br />

Blut <strong>de</strong>s teuren Gottessohnes versinnbil<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>, das für das Leben <strong>de</strong>r Welt vergossen<br />

wer<strong>de</strong>n sollte, und daß die Menschen durch das Darbringen von Opfern auf einen Erlöser, <strong>de</strong>r<br />

am Kreuz stürbe, hingewiesen wer<strong>de</strong>n sollten.<br />

Jesu Blick fiel auf die unschuldigen Opfertiere; er sah, wie die Ju<strong>de</strong>n diese großen<br />

Zusammenkünfte zu einem Schauspiel <strong>de</strong>s Blutvergießens und <strong>de</strong>r Grausamkeit gemacht hatten.<br />

Statt <strong>de</strong>mütige Reue über ihre Sün<strong>de</strong> zu empfin<strong>de</strong>n, hatten sie die Zahl <strong>de</strong>r Opfer vervielfacht,<br />

als ob Gott durch einen herzlosen Formendienst geehrt wer<strong>de</strong>n könnte. <strong>Die</strong> Priester und<br />

Obersten hatten nicht nur ihre Herzen durch Selbstsucht und Geiz verhärtet, sie hatten auch jene<br />

Sinnbil<strong>de</strong>r, die auf das Lamm Gottes hinwiesen, zu Hilfsmitteln <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>rwerbs erniedrigt.<br />

Auf diese Weise war in <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>s Volkes die Heiligkeit <strong>de</strong>s Opferdienstes in hohem Gra<strong>de</strong><br />

herabgewürdigt wor<strong>de</strong>n. Jesus empörte sich darüber; er wußte, daß sein Blut, das für die Sün<strong>de</strong>n<br />

<strong>de</strong>r Welt bald vergossen wer<strong>de</strong>n sollte, von <strong>de</strong>n Obersten und Priestern ebensowenig geachtet<br />

wür<strong>de</strong> wie das Blut <strong>de</strong>r Tiere, das sie unaufhörlich fließen ließen.<br />

Gegen diese Ausübung <strong>de</strong>s Opferdienstes hatte Christus bereits durch <strong>de</strong>n Mund <strong>de</strong>s<br />

Propheten gesprochen. Samuel hatte gesagt: „Meinst du, daß <strong>de</strong>r Herr Gefallen habe am<br />

Brandopfer und Schlachtopfer gleichwie am Gehorsam gegen die Stimme <strong>de</strong>s Herrn? Siehe,<br />

Gehorsam ist besser als Opfer und Aufmerken besser als das Fett von Wid<strong>de</strong>rn.“ 1.Samuel<br />

15,22. Als Jesaja im Gesicht <strong>de</strong>n Abfall <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n sah, re<strong>de</strong>te er sie als Oberste von Sodom und<br />

Gomorra an: „Höret <strong>de</strong>s Herrn Wort, ihr Herren von Sodom! Nimm zu Ohren die Weisung<br />

unsres Gottes, du Volk von Gomorra! Was soll mir die Menge eurer Opfer? spricht <strong>de</strong>r Herr.<br />

Ich bin satt <strong>de</strong>r Brandopfer von Wid<strong>de</strong>rn und <strong>de</strong>s Fettes von Mastkälbern und habe kein<br />

Gefallen am Blut <strong>de</strong>r Stiere, <strong>de</strong>r Lämmer und Böcke. Wenn ihr kommt, zu erscheinen vor mir<br />

— wer for<strong>de</strong>rt <strong>de</strong>nn von euch, daß ihr meinen Vorhof zertretet? ... Wascht euch, reinigt euch,<br />

398


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

tut eure bösen Taten aus meinen Augen, laßt ab vom Bösen! Lernet Gutes tun, trachtet nach<br />

Recht, helft <strong>de</strong>n Unterdrückten, schaffet <strong>de</strong>n Waisen Recht, führet <strong>de</strong>r Witwen Sache!“ Jesaja<br />

1,10-12.16.17.<br />

Christus, <strong>de</strong>r diese Weissagungen durch seinen Geist selbst gegeben hatte, wie<strong>de</strong>rholte nun<br />

seine Warnungen zum letztenmal. In Erfüllung <strong>de</strong>s prophetischen Wortes hatte das Volk Jesus<br />

zum König Israels ausgerufen. Er hatte ihre Huldigungen und das Amt <strong>de</strong>s Königs<br />

angenommen. Als solcher mußte er han<strong>de</strong>ln. Er wußte, daß seine Bemühungen, die ver<strong>de</strong>rbte<br />

Priesterschaft zu bessern, vergeblich sein wür<strong>de</strong>n; <strong>de</strong>nnoch mußte er seine Aufgabe erfüllen,<br />

einem ungläubigen Volk <strong>de</strong>n unantastbaren Beweis seiner göttlichen Sendung zu geben. Noch<br />

einmal überschaute sein durchdringen<strong>de</strong>r Blick <strong>de</strong>n entheiligten Tempelhof. Aller Augen waren<br />

auf ihn gerichtet. Priester und Oberste, Pharisäer und Hei<strong>de</strong>n blickten mit Erstaunen und<br />

ehrfürchtiger Scheu auf <strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Majestät <strong>de</strong>s himmlischen Königs vor ihnen stand. Das<br />

Göttliche brach durch das Menschliche hindurch und beklei<strong>de</strong>te Christus mit einer Wür<strong>de</strong> und<br />

Herrlichkeit, wie er sie nie zuvor offenbart hatte. <strong>Die</strong> ihm am nächsten stan<strong>de</strong>n, zogen sich<br />

scheu vor ihm zurück, soweit die Menge es gestattete; bis auf einige Jünger stand <strong>de</strong>r Heiland<br />

allein. Alle waren verstummt. <strong>Die</strong> tiefe Stille schien unerträglich. Da brach <strong>de</strong>r Herr das<br />

Schweigen und sprach mit einer Kraft, die das Volk wie mit Sturmesgewalt durchschüttelte: „Es<br />

steht geschrieben: ‚Mein Haus soll ein Bethaus heißen‘; ihr aber macht eine Räuberhöhle<br />

daraus.“ Matthäus 21,13. Einer Posaune gleich erscholl seine Stimme. Der Unwille auf seinem<br />

Angesicht leuchtete wie verzehren<strong>de</strong>s Feuer. Mit Macht gebot er: „Traget das von<br />

dannen!“ Johannes 2,16.<br />

Drei Jahre zuvor hatten sich die Obersten <strong>de</strong>s Tempels ihrer Flucht auf Jesu Befehl hin<br />

geschämt. Sie hatten sich seither über ihre Furcht und ihren unbedingten Gehorsam einem<br />

einzelnen, <strong>de</strong>mütigen Menschen gegenüber gewun<strong>de</strong>rt. Ihnen war <strong>de</strong>utlich gewor<strong>de</strong>n, daß sich<br />

unmöglich ein solch wür<strong>de</strong>loses Nachgeben wie<strong>de</strong>rholen durfte. Dennoch waren sie jetzt<br />

erschrockener als damals; und in noch größerer Eile kamen sie seiner Auffor<strong>de</strong>rung nach.<br />

Niemand wagte es, Jesu Autorität in Frage zu stellen, son<strong>de</strong>rn sie alle, Priester und Händler,<br />

flohen aus seiner Gegenwart und trieben ihr Vieh vor sich her. Auf ihrer Flucht aus <strong>de</strong>m Tempel<br />

begegneten sie einer Gruppe von Menschen mit ihren Kranken, die nach <strong>de</strong>m „Großen Arzt“<br />

fragten. Der Bericht <strong>de</strong>r Fliehen<strong>de</strong>n jedoch veranlaßte etliche, umzukehren; sie fürchteten sich,<br />

einem so Mächtigen gegenüberzutreten, <strong>de</strong>ssen Blick allein Priester und Oberste aus seiner<br />

Nähe vertrieben hatte. Viele aber drängten sich durch die hasten<strong>de</strong> Menge, um <strong>de</strong>n zu erreichen,<br />

<strong>de</strong>r ihre einzige Hoffnung war. Sie gesellten sich zu <strong>de</strong>nen, die im Tempel zurückgeblieben<br />

waren, als die meisten flohen. Wie<strong>de</strong>r war <strong>de</strong>r Tempelhof voller Kranker und Hilfsbedürftiger,<br />

und noch einmal diente ihnen ihr Heiland und Erlöser.<br />

Nach einiger Zeit wagten sich die Priester und Obersten wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Tempel zurück. Ihre<br />

erste Bestürzung war verflogen, und nun trieb es sie, zu wissen, was Jesus als Nächstes tun<br />

wür<strong>de</strong>. Sie erwarteten, daß er sich <strong>de</strong>s Thrones Davids bemächtigte! In aller Stille in <strong>de</strong>n<br />

Tempel zurückkehrend, vernahmen sie die Lobgesänge von Männern, Frauen und Kin<strong>de</strong>rn.<br />

Beim Eintritt blickten sie wie gebannt auf ein wun<strong>de</strong>rsames Geschehen. Sie sahen die Kranken<br />

399


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

geheilt, Blin<strong>de</strong> wur<strong>de</strong>n sehend, Taube hörend, und die Krüppel hüpften vor Freu<strong>de</strong>. Noch lauter<br />

jubelten die Kin<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>ren Gebrechen Jesus geheilt hatte. Er hatte sie in seinen Armen gehalten<br />

und ihre Küsse inniger Dankbarkeit angenommen. Manche waren an seiner Brust eingeschlafen,<br />

während er das Volk lehrte. Als er geen<strong>de</strong>t hatte, sangen jubeln<strong>de</strong> Kin<strong>de</strong>rstimmen aufs neue<br />

sein Lob. Sie riefen Hosianna wie am Tage zuvor und schwenkten triumphierend Palmzweige<br />

vor <strong>de</strong>m Herrn. Der Tempel hallte von ihren Rufen wi<strong>de</strong>r: „Gelobt sei, <strong>de</strong>r da kommt in <strong>de</strong>m<br />

Namen <strong>de</strong>s Herrn!“ — „Siehe, <strong>de</strong>in König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer.“ —<br />

„Hosianna <strong>de</strong>m Sohn Davids!“ Matthäus 21,9; Sacharja 9,9.<br />

Der Klang dieser frohen, glücklichen Stimmen war <strong>de</strong>n Obersten <strong>de</strong>s Tempels ein Ärgernis,<br />

und sie schickten sich an, diesem Schauspiel ein En<strong>de</strong> zu machen. Sie schil<strong>de</strong>rtem <strong>de</strong>m Volk,<br />

daß das Haus Gottes durch die Füße <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r und durch die lauten Freu<strong>de</strong>nrufe entweiht<br />

wer<strong>de</strong>. Als sie feststellten, daß ihre Worte bei <strong>de</strong>m Volk ohne Eindruck blieben, wandten sie<br />

sich an <strong>de</strong>n Herrn und „sprachen zu ihm: Hörst du auch, was diese sagen? Jesus sprach zu<br />

ihnen: Ja! Habt ihr nie gelesen: ‚Aus <strong>de</strong>m Mun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Unmündigen und Säuglinge hast du Lob<br />

zugerichtet‘?“ Matthäus 21,16. <strong>Die</strong> Weissagung hatte angezeigt, daß Christus zum König<br />

ausgerufen wer<strong>de</strong>n sollte, und dieses Wort mußte erfüllt wer<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> Priester und Obersten<br />

Israels aber weigerten sich, seine Herrlichkeit kundzutun, und Gott berief die Kin<strong>de</strong>r zu seinen<br />

Zeugen. Wären ihre Stimmen verstummt, dann wür<strong>de</strong>n selbst die Säulen <strong>de</strong>s Tempels die Ehre<br />

<strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s verkündigt haben.<br />

<strong>Die</strong> Pharisäer waren völlig verwirrt und aus <strong>de</strong>r Fassung gebracht. Einer, <strong>de</strong>n sie nicht<br />

einschüchtern konnten, führte das Kommando. Jesus hatte seine Stellung als Wächter <strong>de</strong>s<br />

Tempels eingenommen. Nie zuvor hatte er solche königliche Macht bewiesen, nie zuvor hatten<br />

seine Worte und Werke solche Kraft bekun<strong>de</strong>t. Jesus hatte wun<strong>de</strong>rbare Werke schon in ganz<br />

Jerusalem getan, aber niemals in einer so feierlichen und eindrucksvollen Weise. In Gegenwart<br />

all <strong>de</strong>rer, die Zeugen seines bewun<strong>de</strong>rungswürdigen Han<strong>de</strong>lns gewor<strong>de</strong>n waren, wagten es die<br />

Priester und Obersten diesmal nicht, ihm offene Feindschaft zu zeigen. Durch seine Antworten<br />

wütend gemacht und verwirrt, waren sie unfähig, an diesem Tage weiteres gegen <strong>de</strong>n Herrn zu<br />

unternehmen.<br />

Am nächsten Morgen beratschlagte <strong>de</strong>r Hohe Rat aufs neue, welche Maßnahmen gegen<br />

Jesus ergriffen wer<strong>de</strong>n könnten. Drei Jahre zuvor hatten die Obersten ein Zeichen seines<br />

Messiasamtes von ihm gefor<strong>de</strong>rt; seit<strong>de</strong>m hatte er im ganzen Land mächtige Wun<strong>de</strong>r gewirkt,<br />

hatte Kranke geheilt und auf wun<strong>de</strong>rbare Weise Tausen<strong>de</strong> gespeist. Er war auf <strong>de</strong>n Wogen<br />

gewan<strong>de</strong>lt und hatte <strong>de</strong>m toben<strong>de</strong>n Meer Ruhe geboten; er hatte wie<strong>de</strong>rholt in <strong>de</strong>n Herzen <strong>de</strong>r<br />

Menschen wie in einem offenen Buch gelesen, hatte Teufel ausgetrieben und Tote auferweckt.<br />

<strong>Die</strong> Obersten besaßen also die Beweise für eine göttliche Sendung. Der Hohe Rat entschied<br />

nun, nicht ein Zeichen seiner göttlichen Autorität zu for<strong>de</strong>rn, son<strong>de</strong>rn zu versuchen, irgen<strong>de</strong>in<br />

Zugeständnis o<strong>de</strong>r eine Erklärung aus ihm herauszulocken, auf Grund <strong>de</strong>ren er verurteilt wer<strong>de</strong>n<br />

könnte.<br />

<strong>Die</strong> Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Hohen Rates begaben sich zum Tempel, wo Jesus lehrte, und sie fragten<br />

ihn: „Aus was für Vollmacht tust du das? o<strong>de</strong>r wer hat dir diese Vollmacht gegeben?“ Markus<br />

400


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

11,28. Sie erwarteten von ihm zu hören, daß er solches alles aus göttlicher Macht tue. Einer<br />

solchen Behauptung wollten sie entgegentreten. Doch Jesus antwortete ihnen mit einer<br />

Gegenfrage, die scheinbar eine ganz an<strong>de</strong>re Sache betraf, und er machte seine Erwi<strong>de</strong>rung von<br />

ihrer Antwort auf seine Gegenfrage abhängig. „<strong>Die</strong> Taufe <strong>de</strong>s Johannes, war sie vom Himmel<br />

o<strong>de</strong>r von Menschen? Antwortet mir!“ Markus 11,30. <strong>Die</strong> Priester erkannten, daß sie in große<br />

Verlegenheit geraten waren, aus <strong>de</strong>r sie keine Spitzfindigkeit befreien konnte. Sagten sie,<br />

Johannes‘ Taufe war vom Himmel, dann wür<strong>de</strong> ihr Wi<strong>de</strong>rspruch offenbar; <strong>de</strong>nn Christus wür<strong>de</strong><br />

sie fragen: Warum habt ihr dann nicht an ihn geglaubt? Johannes hatte von Jesus bekun<strong>de</strong>t:<br />

„Siehe, das ist Gottes Lamm, welches <strong>de</strong>r Welt Sün<strong>de</strong> trägt!“ Johannes 1,29.<br />

Glaubten die Priester diesem Zeugnis <strong>de</strong>s Täufers, wie konnten sie dann leugnen, daß Jesus<br />

<strong>de</strong>r Messias sei? Sagten sie aber ihre wahre Meinung, daß das Lehramt <strong>de</strong>s Täufers von<br />

Menschen war, wür<strong>de</strong>n sie einen Sturm <strong>de</strong>r Entrüstung gegen sich selbst heraufbeschworen<br />

haben; <strong>de</strong>nn das Volk glaubte, daß Johannes ein Prophet Gottes war.<br />

<strong>Die</strong> Menge <strong>de</strong>r Zuhörer wartete gespannt auf die entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Antwort. Sie wußten, daß die<br />

Priester bekannt hatten, die Sendung <strong>de</strong>s Täufers anzuerkennen, und sie erwarteten jetzt ihr<br />

Eingeständnis, daß Johannes von Gott gesandt war. Nach<strong>de</strong>m die Priester sich untereinan<strong>de</strong>r<br />

besprochen hatten, beschlossen sie, sich keine Blöße zu geben. Heuchlerisch erklärten sie ihre<br />

Unkenntnis: „Wir wissen‘s nicht.“ Da erwi<strong>de</strong>rte Jesus: „So sage ich euch auch nicht, aus was<br />

für Vollmacht ich solches tue.“ Markus 11,33.<strong>Die</strong> Schriftgelehrten, Priester und Obersten waren<br />

zum Schweigen gebracht. Verwirrt und enttäuscht stan<strong>de</strong>n sie da mit gesenkten Augen und<br />

wagten nicht, weitere Fragen an <strong>de</strong>n Herrn zu stellen. Durch ihre Feigheit und<br />

Unentschlossenheit hatten sie ihr Ansehen bei <strong>de</strong>m Volk, das dabeistand und sich <strong>de</strong>r<br />

Nie<strong>de</strong>rlage dieser stolzen, selbstgefälligen Männer freute, in hohem Maße eingebüßt.<br />

Alle diese Worte und Taten Jesu waren von beson<strong>de</strong>rer Be<strong>de</strong>utung, und ihr Einfluß wur<strong>de</strong> in<br />

stetig wachsen<strong>de</strong>m Maße nach seiner Kreuzigung und Auferstehung spürbar. Viele von <strong>de</strong>nen,<br />

die begierig auf das Ergebnis <strong>de</strong>r Befragung Jesu gewartet hatten, bekannten sich später zu<br />

seiner Nachfolge, nach<strong>de</strong>m sie sich zum erstenmal an jenem ereignisreichen Tag von seinen<br />

Worten angezogen fühlten. Das Geschehnis auf <strong>de</strong>m Tempelhof entschwand nie mehr ihrem<br />

Gedächtnis. Der Gegensatz zwischen Jesus und <strong>de</strong>m Hohenpriester war, als sie miteinan<strong>de</strong>r<br />

sprachen, kennzeichnend. Reiche, kostbare Gewän<strong>de</strong>r klei<strong>de</strong>ten <strong>de</strong>n stolzen Wür<strong>de</strong>nträger <strong>de</strong>s<br />

Tempels; auf seinem Haupte trug er eine glänzen<strong>de</strong> Kopftracht, seine Haltung war majestätisch,<br />

sein Haar und sein wallen<strong>de</strong>r Bart leuchteten silberweiß — seine ganze Erscheinung flößte<br />

Ehrfurcht ein. Vor dieser erhabenen Persönlichkeit stand die Majestät <strong>de</strong>s Himmels ohne je<strong>de</strong>n<br />

Schmuck und ohne je<strong>de</strong> Prachtentfaltung. Seine Kleidung trug noch die Spuren <strong>de</strong>r Reise; sein<br />

Angesicht war bleich und gezeichnet von innerem Kummer; <strong>de</strong>nnoch stan<strong>de</strong>n Wür<strong>de</strong> und<br />

Wohlwollen in ihm geschrieben, die einen auffallen<strong>de</strong>n Gegensatz zu <strong>de</strong>m stolzen,<br />

selbstbewußten und zornigen Gebaren <strong>de</strong>s Hohenpriesters bil<strong>de</strong>ten. Viele von <strong>de</strong>nen, die<br />

Zeugen <strong>de</strong>r Worte und Werke Jesu im Tempel gewesen waren, nahmen ihn von da an als<br />

Gesandten Gottes in ihr Herz auf. Aber während sich die Teilnahme <strong>de</strong>s Volkes immer mehr<br />

ihm zuwandte, wuchs <strong>de</strong>r Haß <strong>de</strong>r Priester. <strong>Die</strong> Klugheit, mit <strong>de</strong>r Jesus <strong>de</strong>n Fallen <strong>de</strong>r Priester<br />

401


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

zu entgehen wußte, bezeugte aufs neue seine Göttlichkeit, goß aber an<strong>de</strong>rseits neues Öl auf die<br />

Wogen ihres Zornes.<br />

In seinem Streitgespräch mit <strong>de</strong>n Rabbinern war es keineswegs Jesu Absicht, seine<br />

Wi<strong>de</strong>rsacher öffentlich zu <strong>de</strong>mütigen. Er freute sich durchaus nicht, sie in die Enge getrieben<br />

zusehen. Er hatte nur eine notwendige Lehre gegeben. Seine Gegner fühlten sich dadurch<br />

herausgefor<strong>de</strong>rt, daß er zuließ, daß sie sich in die Netze verstrickten, die sie für ihn ausgeworfen<br />

hatten. In<strong>de</strong>m sie bekannten, über das Wesen <strong>de</strong>r Taufe <strong>de</strong>s Johannes nichts zu wissen, gaben<br />

sie Jesus Gelegenheit zu sprechen, und er benutzte sie, um ihnen ihre wahre Lage zu zeigen und<br />

<strong>de</strong>n vielen Warnungen an sie noch eine neue hinzuzufügen.<br />

„Was dünkt euch aber?“ fragte Jesus. „Es hatte ein Mann zwei Söhne und ging zu <strong>de</strong>m ersten<br />

und sprach: Mein Sohn, gehe hin und arbeite heute im Weinberge. Er antwortete aber und<br />

sprach: Ja, Herr! und ging nicht hin. Und er ging zu <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren und sprach gleich also. Der<br />

antwortete aber und sprach: Ich will‘s nicht tun. Danach reute es ihn, und er ging hin. Welcher<br />

unter <strong>de</strong>n zweien hat <strong>de</strong>s Vaters Willen getan?“ Matthäus 21,28-30. Mit dieser unerwarteten<br />

Frage entwaffnete Jesus seine Zuhörer. Bis dahin hatten sie <strong>de</strong>r Erzählung <strong>de</strong>s Gleichnisses gut<br />

zugehört. Nun antworteten sie sofort: „Der letzte.“ Matthäus 21,31. Da schaute sie Jesus<br />

durchdringend an und erwi<strong>de</strong>rte ernst und wür<strong>de</strong>voll: „Wahrlich, ich sage euch: die Zöllner und<br />

Huren mögen wohl eher ins Reich Gottes kommen als ihr. Johannes kam zu euch und lehrte<br />

euch <strong>de</strong>n rechten Weg, und ihr glaubtet ihm nicht; aber die Zöllner und Huren glaubten ihm.<br />

Und ob ihr‘s wohl sahet, tatet ihr <strong>de</strong>nnoch nicht Buße, daß ihr ihm danach auch geglaubt<br />

hättet.“ Matthäus 21,31.32.<br />

Den Priestern und Obersten <strong>de</strong>s Volkes blieb nichts an<strong>de</strong>res übrig, als Jesu Frage klar zu<br />

beantworten. <strong>Die</strong> Erwi<strong>de</strong>rung, die Jesus erhielt, fiel also zugunsten <strong>de</strong>s zweiten Sohnes aus.<br />

Jener Sohn stellte die Zöllner dar, die von <strong>de</strong>n Pharisäern verachtet und gehaßt wur<strong>de</strong>n.<br />

Tatsache war zwar, daß die Zöllner sich durch und durch unsittlich verhielten, daß sie<br />

Übertreter <strong>de</strong>s Gesetzes Gottes waren und durch ihr Leben bezeugten, wie sehr sie sich <strong>de</strong>ssen<br />

For<strong>de</strong>rungen wi<strong>de</strong>rsetzten. Auch waren sie undankbar und gottlos; <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>m Auftrag, in <strong>de</strong>s<br />

Herrn Weinberg an die Arbeit zu gehen, hatten sie eine verächtliche Abfuhr erteilt. Als dann<br />

aber Johannes auftrat, Buße und Taufe predigte, nahmen, wie es heißt, die Zöllner seine<br />

Botschaft an und wur<strong>de</strong>n getauft.<br />

Der erste Sohn dagegen stellte die führen<strong>de</strong>n Persönlichkeiten <strong>de</strong>r jüdischen Nation dar.<br />

Zwar hatten sich einige Pharisäer bekehrt und die Taufe <strong>de</strong>s Johannes empfangen, aber die<br />

maßgeblichen Leute wollten nicht zugeben, daß dieser von Gott gesandt sei. Seine Warnungen<br />

und Anklagen bewirkten keine Erneuerung bei ihnen. Sie „verachteten, was Gott ihnen<br />

zugedacht hatte, und ließen sich nicht von ihm taufen“. Lukas 7,30. Seine Botschaft<br />

verschmähten sie. Als <strong>de</strong>r erste Sohn zur Arbeit aufgefor<strong>de</strong>rt wur<strong>de</strong>, stimmte er zu: „Ja, Herr!“<br />

Trotz<strong>de</strong>m ging er nicht hin. In gleicher Weise bekannten sich die Priester und Obersten zum<br />

Gehorsam, han<strong>de</strong>lten aber wie Ungehorsame. Sie legten stolze Bekenntnisse ihrer Frömmigkeit<br />

ab und beriefen sich darauf, das Gesetz Gottes zu befolgen, heuchelten aber nur Gehorsam. <strong>Die</strong><br />

Zöllner dagegen wur<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>n Pharisäern als Ungetreue hingestellt und verwünscht. Durch<br />

402


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

ihren Glauben und ihre Taten bewiesen sie jedoch, daß sie auf <strong>de</strong>m Wege zum Himmelreich<br />

einen Vorsprung vor jenen selbstgerechten Männern besaßen, <strong>de</strong>nen zwar eine große Erkenntnis<br />

gegeben war, <strong>de</strong>ren Han<strong>de</strong>ln aber mit ihrer göttlichen Berufung nicht übereinstimmte.<br />

<strong>Die</strong> Priester und Obersten wollten diese tiefgreifen<strong>de</strong> Einsicht nicht auf sich beziehen. So<br />

schwiegen sie zunächst in <strong>de</strong>r Hoffnung, daß Jesus noch etwas sagen wür<strong>de</strong>, was sie gegen ihn<br />

selbst wen<strong>de</strong>n könnten. Doch wur<strong>de</strong> ihnen noch mehr zugemutet. „Höret ein an<strong>de</strong>res<br />

Gleichnis“, fuhr Jesus fort. „Es war ein Hausvater, <strong>de</strong>r pflanzte einen Weinberg und führte<br />

einen Zaun darum und grub eine Kelter darin und baute einen Turm und gab ihn an Weingärtner<br />

in Pacht und zog außer Lan<strong>de</strong>s. Da nun herbeikam die Zeit <strong>de</strong>r Früchte, sandte er seine Knechte<br />

zu <strong>de</strong>n Weingärtnern, daß sie seine Früchte empfingen. Da nahmen die Weingärtner seine<br />

Knechte; einen schlugen sie, <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn töteten sie, <strong>de</strong>n dritten steinigten sie. Abermals sandte<br />

er an<strong>de</strong>re Knechte, mehr als das erste Mal; und sie taten ihnen gleich also. Zuletzt sandte er<br />

seinen Sohn zu ihnen und sprach: Sie wer<strong>de</strong>n sich vor meinem Sohn scheuen. Da aber die<br />

Weingärtner <strong>de</strong>n Sohn sahen, sprachen sie untereinan<strong>de</strong>r: Das ist <strong>de</strong>r Erbe; kommt, laß uns ihn<br />

töten und sein Erbgut an uns bringen! Und sie nahmen ihn und stießen ihn zum Weinberge<br />

hinaus und töteten ihn. Wenn nun <strong>de</strong>r Herr <strong>de</strong>s Weinberges kommen wird, was wird er diesen<br />

Weingärtnern tun?“ Matthäus 21,33-40.<br />

Jesus hatte sich an alle Leute gewandt, die bei ihm waren, doch die Priester und Obersten<br />

antworteten sogleich: „Er wird die Bösewichte übel umbringen und seinen Weinberg an an<strong>de</strong>re<br />

Weingärtner vergeben, die ihm die Früchte zu rechter Zeit geben.“ Matthäus 21,41. <strong>Die</strong><br />

Be<strong>de</strong>utung dieses Gleichnisses war zunächst von <strong>de</strong>n Sprechern nicht erkannt wor<strong>de</strong>n; nun aber<br />

stellten sie fest, daß sie sich ihr eigenes Urteil gesprochen hatten.<br />

In diesem Gleichnis steht <strong>de</strong>r Weinbergbesitzer für Gott, <strong>de</strong>r Weinberg für das jüdische Volk<br />

und <strong>de</strong>r Zaun für das göttliche Gesetz, das <strong>de</strong>ssen Schutzwall war; <strong>de</strong>r Turm aber war ein<br />

Sinnbild <strong>de</strong>s Tempels. Der Weinbergbesitzer hatte alle Voraussetzungen für die Fruchtbarkeit<br />

<strong>de</strong>s Weinberges geschaffen. So fragt er: „Was sollte man noch mehr tun an meinem Weinberg,<br />

das ich nicht getan habe an ihm?“ Jesaja 5,4. So drückte Gott seine unermüdliche Sorge für<br />

Israel aus. Wie die Weingärtner <strong>de</strong>m Herrn einen gebühren<strong>de</strong>n Anteil an <strong>de</strong>n Früchten <strong>de</strong>s<br />

Weinbergs zurückzugeben hatten, so sollte Gottes Volk ihn durch eine Lebensführung ehren,<br />

die seinen Gna<strong>de</strong>ngaben entsprach. Aber wie die Weingärtner die Knechte töteten, die <strong>de</strong>r Herr<br />

zur Einholung <strong>de</strong>r Frucht sandte, so hatten die Ju<strong>de</strong>n viele Propheten umgebracht, durch die<br />

Gott sie zur Umkehr bewegen wollte. Ein Bote nach <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>rn war getötet wor<strong>de</strong>n. Bis dahin<br />

war die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Gleichnisses nicht fraglich, und das, was folgte, machte es womöglich<br />

noch klarer. In <strong>de</strong>m geliebten Sohn, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Herr <strong>de</strong>s Weinberges schließlich zu seinen<br />

ungehorsamen Arbeiter schickte und <strong>de</strong>n diese ergriffen und erschlugen, erhielten die Priester<br />

und Obersten ein klares Bild von Jesus und von <strong>de</strong>m, was ihm bevorstand. Sie planten ja<br />

bereits, <strong>de</strong>n zu vernichten, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Vater als letzten Mahnruf zu ihnen geschickt hatte. <strong>Die</strong><br />

Vergeltung aber, die <strong>de</strong>n unbarmherzigen Weingärtnern angedroht wur<strong>de</strong>, sollte <strong>de</strong>n Untergang<br />

jener Menschen anzeigen, die Christus <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> ausliefern wür<strong>de</strong>n.<br />

403


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Der Heiland schaute voll Mitleid auf sie, als er fortfuhr: „Habt ihr nie gelesen in <strong>de</strong>r Schrift:<br />

‚Der Stein, <strong>de</strong>n die Bauleute verworfen haben, <strong>de</strong>r ist zum Eckstein gewor<strong>de</strong>n. Von <strong>de</strong>m Herrn<br />

ist das geschehen und ist ein Wun<strong>de</strong>r vor unsren Augen‘? Darum sage ich euch: Das Reich<br />

Gottes wird von euch genommen und einem Volke gegeben wer<strong>de</strong>n, das seine Früchte bringt.<br />

Und wer auf diesen Stein fällt, <strong>de</strong>r wird zerschellen; auf wen aber er fällt, <strong>de</strong>n wird er<br />

zermalmen.“ Matthäus 21,42-44. <strong>Die</strong>se Prophezeiung hatten die Ju<strong>de</strong>n in ihren Synagogen oft<br />

wie<strong>de</strong>rholt und auf <strong>de</strong>n kommen<strong>de</strong>n Messias bezogen. Christus war <strong>de</strong>r „Eckstein“ <strong>de</strong>r<br />

jüdischen Heilsordnung und <strong>de</strong>s ganzen Erlösungsplanes. Jetzt verwarfen die jüdischen<br />

Baumeister, die Priester und Obersten Israels, dieses Fundament. Der Heiland lenkte ihre<br />

Aufmerksamkeit auf die Weissagungen, die ihnen ihre Gefährdung zeigten. Mit allen Mitteln<br />

suchte er ihnen klarzumachen, welch verhängnisvolle Tat sie im Begriff stan<strong>de</strong>n zu begehen.<br />

Seine Worte dienten auch noch einem an<strong>de</strong>ren Zweck. Mit <strong>de</strong>r Frage: „Wenn nun <strong>de</strong>r Herr<br />

<strong>de</strong>s Weinberges kommen wird, was wird er diesen Weingärtnern tun?“ (Matthäus 21,33-40)<br />

wollte Christus die Pharisäer gera<strong>de</strong> zu <strong>de</strong>r Antwort herausfor<strong>de</strong>rn, die sie dann auch prompt<br />

gaben. Sie sollten sich selbst ihr Urteil sprechen. Wenn seine Warnungen sie nicht mehr zur<br />

Umkehr bewegen konnten, wür<strong>de</strong>n diese ihr Schicksal besiegeln. Christus wollte sie zu <strong>de</strong>r<br />

Einsicht führen, daß sie ihren Untergang selbst herbeigeführt hatten. Er wollte ihnen<br />

klarmachen, daß Gott gerecht han<strong>de</strong>lte, wenn er ihnen nun ihre völkischen Vorzüge entzöge,<br />

was schließlich nicht allein zur Zerstörung <strong>de</strong>s Tempels und „ihrer“ Stadt, son<strong>de</strong>rn auch zur<br />

Zerstreuung <strong>de</strong>s Volkes führen wür<strong>de</strong>.<br />

<strong>Die</strong> Zuhörer verstan<strong>de</strong>n die Warnung. Trotz <strong>de</strong>s Urteils, das sie über sich selbst gefällt<br />

hatten, waren die Priester und Obersten entschlossen, die Voraussage zu erfüllen, die mit <strong>de</strong>n<br />

Worten gegeben war: „Das ist <strong>de</strong>r Erbe; kommt, laßt uns ihn töten!“ Matthäus 21,38. Weiter<br />

heißt es: „Sie trachteten danach, wie sie ihn griffen; aber sie fürchteten sich vor <strong>de</strong>m Volk“,<br />

<strong>de</strong>nn <strong>de</strong>ssen Gunst galt Jesus. Matthäus 21,46. Christus zitierte die Prophezeiung vom<br />

verstoßenen Eckstein und bezog sich dabei auf ein Ereignis, das sich in Israels Geschichte<br />

tatsächlich zugetragen hatte, und zwar beim Bau <strong>de</strong>s ersten Tempels. Es hatte Be<strong>de</strong>utung für<br />

das erste Kommen <strong>Christi</strong> und hätte auf die Ju<strong>de</strong>n beson<strong>de</strong>rs nachhaltig einwirken sollen. Doch<br />

auch wir können daraus lernen. Beim Bau <strong>de</strong>s Salomonischen Tempels wur<strong>de</strong>n die riesigen<br />

Steine für das Fundament und das Mauerwerk bereits im Steinbruch fertig zugehauen. Danach<br />

brachte man sie zum Bauplatz, wo kein Werkzeug sie mehr bearbeitete. Sie mußten von <strong>de</strong>n<br />

Arbeitern nur mehr in die richtige Lage gebracht wer<strong>de</strong>n. Als Grundstein war ein Qua<strong>de</strong>r von<br />

ungewöhnlicher Größe und Form herangeschafft wor<strong>de</strong>n. Wahrscheinlich lag es daran, daß die<br />

Arbeiter für diesen Stein keinen Platz fin<strong>de</strong>n konnten und ihn <strong>de</strong>shalb nicht einsetzen wollten.<br />

Da <strong>de</strong>r riesige Stein ungenutzt im Wege lag, verursachte er <strong>de</strong>n Arbeitern viel Verdruß.<br />

Lange blieb er als verschmähter Steinblock liegen. Doch dann gingen die Baumeister daran,<br />

die Eckfundamente zu legen. Dafür suchten sie lange nach einem Stein, <strong>de</strong>r die erfor<strong>de</strong>rliche<br />

Größe und Stärke sowie die entsprechen<strong>de</strong> Form hätte, um diesen Platz auszufüllen und das<br />

gewaltige Gewicht zu tragen, das später auf ihm ruhen sollte. Träfen sie für diesen<br />

entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Platz die falsche Wahl, wäre die Sicherheit <strong>de</strong>s ganzen späteren Bauwerks<br />

404


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

gefähr<strong>de</strong>t. So mußten sie einen Stein fin<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Einflüssen von Sonne, Frost und Sturm<br />

trotzen konnte. Verschie<strong>de</strong>ntlich hatten sie schon Steine ausgesucht, doch waren sie alle unter<br />

<strong>de</strong>r ungeheuren Belastung zerbrochen. An<strong>de</strong>re wie<strong>de</strong>rum hielten <strong>de</strong>n plötzlichen<br />

Verän<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Witterung nicht stand. Schließlich wur<strong>de</strong> man auf <strong>de</strong>n Stein aufmerksam,<br />

<strong>de</strong>r so lange übersehen wor<strong>de</strong>n war. Er war Luft, Sonne und Wind ausgesetzt gewesen, ohne<br />

daß sich an ihm auch nur <strong>de</strong>r kleinste Riß gezeigt hätte. <strong>Die</strong> Bauleute untersuchten ihn sehr<br />

sorgfältig; mit einer Ausnahme hatte er alle Prüfungen bestan<strong>de</strong>n. Wenn er auch starken Druck<br />

aushalten wür<strong>de</strong>, wollte man ihn als Eckstein verwen<strong>de</strong>n. Der Versuch wur<strong>de</strong> unternommen,<br />

<strong>de</strong>r Stein für gut befun<strong>de</strong>n, an die für ihn bestimmte Stelle geschafft und eingefügt. Und er<br />

paßte tatsächlich ganz genau in die Lücke.<br />

Jesaja wur<strong>de</strong> in prophetischer Schau offenbart, daß dieser Stein ein Sinnbild für Christus sei.<br />

Er schrieb: „Haltet <strong>de</strong>n Herrn <strong>de</strong>r Heerscharen für heilig! Er soll eure Furcht sein und <strong>de</strong>r<br />

Gegenstand eurer Scheu. Er wird ein Heiligtum sein, aber für die bei<strong>de</strong>n Reiche Israels zu<br />

einem Stein <strong>de</strong>s Anstoßes wer<strong>de</strong>n und zu einem Felsen, über <strong>de</strong>n man stürzt, zur Schlinge und<br />

zum Fallstrick für die Bewohner Jerusalems! Viele wer<strong>de</strong>n über ihn straucheln, wer<strong>de</strong>n fallen<br />

und zerschmettert wer<strong>de</strong>n, wer<strong>de</strong>n sich verfangen und verstricken.“ Jesaja 8,13-15 (Bruns). Im<br />

Rahmen einer Vorausschau auf das erste Kommen <strong>Christi</strong> wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>m Propheten gezeigt, daß<br />

Christus <strong>de</strong>rartige Beschwernisse und Erprobungen aushalten müsse, die bereits in <strong>de</strong>r<br />

Belastung <strong>de</strong>s Ecksteins am Salomonischen Tempel versinnbil<strong>de</strong>t waren: „Darum spricht Gott<br />

<strong>de</strong>r Herr: Siehe, ich lege in Zion einen Grundstein, einen bewährten Stein, einen kostbaren<br />

Eckstein, <strong>de</strong>r fest gegrün<strong>de</strong>t ist. Wer glaubt, <strong>de</strong>r flieht nicht.“ Jesaja 28,16.<br />

In seiner unendlichen Weisheit erwählte sich Gott <strong>de</strong>n Grundstein und legte ihn selbst. Er<br />

bezeichnete ihn als „fest gegrün<strong>de</strong>t“. Mag auch die ganze Welt mit allen ihren Lasten und<br />

Kümmernissen auf ihm liegen — dieser Stein kann alles tragen. Mit größter Zuversicht kann<br />

man auf ihm bauen. Christus ist ein „bewährter Stein“; er enttäuscht keinen, <strong>de</strong>r ihm vertraut. Er<br />

hat je<strong>de</strong> Probe bestan<strong>de</strong>n und die Last <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>n Adams und <strong>de</strong>ssen Nachkommen getragen.<br />

Dabei hat er in je<strong>de</strong>r Hinsicht die Mächte <strong>de</strong>s Bösen überwun<strong>de</strong>n und die Lasten auf sich<br />

genommen, die ihm alle reuigen Sün<strong>de</strong>r auferlegt haben. In Christus fin<strong>de</strong>t das schuldbela<strong>de</strong>ne<br />

Herz Trost; <strong>de</strong>nn er ist <strong>de</strong>r sichere Grund. Wer sich auf ihn verläßt, darf sich völlig sicher<br />

fühlen.<br />

Nach Jesajas Weissagung ist Christus sowohl <strong>de</strong>r fest gegrün<strong>de</strong>te Stein als auch <strong>de</strong>r Stein <strong>de</strong>s<br />

Anstoßes. Der Apostel Petrus zeigt, vom Heiligen Geist geleitet, in seinem Brief klar auf, für<br />

wen Christus ein fest gegrün<strong>de</strong>ter Stein und für wen er ein Stein <strong>de</strong>s Anstoßes ist: „Ihr habt ja<br />

geschmeckt, daß <strong>de</strong>r Herr freundlich ist. So kommt <strong>de</strong>nn nun zu ihm, als <strong>de</strong>m lebendigen Stein,<br />

<strong>de</strong>r von Menschen wohl verworfen, von Gott aber als beson<strong>de</strong>rs wertvoll auserwählt wur<strong>de</strong>!<br />

Und so laßt auch ihr euch als lebendige Steine aufbauen zu einem geistlichen Haus, zu einer<br />

heiligen Priesterschaft, die fähig ist, geistliche Opfer darzubringen, die Gott durch Jesus<br />

Christus wohlgefällig sind! So heißt es in <strong>de</strong>r Schrift: ‚Siehe, ich lege in Zion einen<br />

auserwählten Stein, einen kostbaren Eckstein! Wer auf ihn vertraut, wird nimmermehr<br />

zuschan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n.‘ Euch Gläubigen also wird das kostbare Gut zuteil; für die Ungläubigen<br />

405


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

aber gilt das Wort: ‚Der Stein, <strong>de</strong>n die Bauleute für wertlos hielten, ist zum Eckstein gewor<strong>de</strong>n,<br />

ja ein Stein <strong>de</strong>s Anstoßes und ein Stein <strong>de</strong>s Ärgernisses.‘ In<strong>de</strong>m sie in ihrem Ungehorsam am<br />

Wort Anstoß nehmen, erreichen sie nur ihre Bestimmung.“ 1.Petrus 2,3-8 (Bruns).<br />

Christus ist ein sicherer Grund für alle, die an ihn glauben. <strong>Die</strong>se sind diejenigen, die auf <strong>de</strong>n<br />

Felsen fallen und zerbrochen wer<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong>se Darstellung soll die Unterwerfung unter Christus<br />

und <strong>de</strong>n Glauben an ihn versinnbil<strong>de</strong>n. Auf <strong>de</strong>n Felsen fallen und zerbrochen wer<strong>de</strong>n be<strong>de</strong>utet<br />

somit, unsere Selbstgerechtigkeit zu lassen, sich beschei<strong>de</strong>n wie ein Kind an Christus zu<br />

wen<strong>de</strong>n, seine Übertretungen zu bereuen und Jesu vergeben<strong>de</strong>r Liebe zu vertrauen. Genauso<br />

bauen wir gläubig und gehorsam auf Christus, unseren Grundstein.<br />

<strong>Die</strong>ser lebendige Stein ist für Ju<strong>de</strong>n und Hei<strong>de</strong>n da. Er bil<strong>de</strong>t die einzige Grundlage, auf <strong>de</strong>r<br />

wir sicher bauen können, ist er doch breit genug für alle und zugleich so kräftig, daß er die Last<br />

<strong>de</strong>r ganzen Welt zu tragen vermag. Ja, durch ihre Berührung mit Christus, <strong>de</strong>m lebendigen<br />

Stein, wer<strong>de</strong>n alle, die auf ihn als Grundstein bauen, selbst zu lebendigen Steinen. Viele<br />

Menschen haben sich durch eigene Bemühungen behauen, poliert und verschönt; trotz<strong>de</strong>m<br />

können sie keine „lebendigen Steine“ wer<strong>de</strong>n, weil sie nicht mit Christus verbun<strong>de</strong>n sind. Ohne<br />

diese Verbindung kann niemand gerettet wer<strong>de</strong>n. Wenn Christus nicht in uns lebt, können wir<br />

<strong>de</strong>n Stürmen <strong>de</strong>r Versuchung nicht wi<strong>de</strong>rstehen. Unser ewiges Heil hängt also davon ab, ob wir<br />

auf sicherem Grund bauen. Zahllose Menschen bauen heutzutage auf einem Grund, <strong>de</strong>r nicht<br />

erprobt ist. Wenn Wolkenbrüche nie<strong>de</strong>rgehen, Stürme wüten und Fluten hereinbrechen, wird ihr<br />

Haus zusammenbrechen, ist es doch nicht auf <strong>de</strong>n ewigen Felsen, <strong>de</strong>n auserwählten Eckstein<br />

Jesus Christus, gegrün<strong>de</strong>t.<br />

Denjenigen, die „in ihrem Ungehorsam am Wort Gottes Anstoß nehmen“, wird Christus zu<br />

einem „Stein <strong>de</strong>s Anstoßes“. Doch „<strong>de</strong>r Stein, <strong>de</strong>n die Bauleute für wertlos hielten, ist zum<br />

Eckstein gewor<strong>de</strong>n“. 1.Petrus 2,3-8 (Bruns). Dem als wertlos zurückgewiesenen Stein gleicht<br />

<strong>Christi</strong> irdisches Leben, das ihm Verachtung und Schan<strong>de</strong> eintrug. „Er war <strong>de</strong>r Allerverachtetste<br />

und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, daß man das Angesicht<br />

vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet.“ Jesaja 53,3. Aber schon bald sollte<br />

er verherrlicht wer<strong>de</strong>n. Durch seine Auferstehung von <strong>de</strong>n Toten sollte er „Sohn Gottes in<br />

Kraft“ (Römer 1,4) genannt wer<strong>de</strong>n. Und bei seinem zweiten Kommen wür<strong>de</strong> er als <strong>de</strong>r Herr<br />

Himmels und <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> offenbart wer<strong>de</strong>n. Auch jene Menschen, die drauf und dran waren, ihn<br />

zu kreuzigen, müssen dann seine Majestät anerkennen. Dadurch wird <strong>de</strong>r verworfene Stein vor<br />

<strong>de</strong>m gesamten Weltall zum köstlichen Eckstein.<br />

Auf wen dieser Stein „fällt, <strong>de</strong>n wird er zermalmen“. Matthäus 21,42-44. Alle, die Christus<br />

ablehnten, sollten bald miterleben, wie ihre Stadt und ihr Volk vernichtet wür<strong>de</strong>n. Ihre<br />

Herrlichkeit sollte zerbrochen und wie Staub im Wind verstreut wer<strong>de</strong>n. Und wodurch wur<strong>de</strong>n<br />

die Ju<strong>de</strong>n verstreut? Durch <strong>de</strong>n „Felsen“; er wür<strong>de</strong> ihnen Sicherheit gewährt haben, wenn sie<br />

auf ihn gebaut hätten. Weil sie aber die Güte Gottes verachteten, seine Gerechtigkeit mit Füßen<br />

traten und seine Gna<strong>de</strong> geringschätzten, machten sie sich selbst zu Fein<strong>de</strong>n Gottes. Nun wirkte<br />

all das, was zu ihrem Heil bestimmt war, zu ihrer Vernichtung. Was Gott für ihr Leben<br />

vorgesehen hatte, diente ihnen zum To<strong>de</strong>. So zog die Kreuzigung <strong>Christi</strong> durch die Ju<strong>de</strong>n die<br />

406


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Zerstörung Jerusalems nach sich. Das auf Golgatha vergossene Blut lastete auf ihnen wie ein<br />

Gewicht, das sie in dieser, und damit auch in <strong>de</strong>r künftigen Welt, in <strong>de</strong>n Untergang zog. So<br />

müssen <strong>de</strong>reinst am Jüngsten Tag alle, die Gottes Gna<strong>de</strong> verworfen haben, Gottes Gericht über<br />

sich ergehen lassen. Dann wird Christus, ihr „Stein <strong>de</strong>s Anstoßes“, ihnen als ein Felsberg <strong>de</strong>r<br />

Vergeltung erscheinen. <strong>Die</strong> Herrlichkeit seines Angesichts wird für die Gerechten Leben<br />

be<strong>de</strong>uten, über die Bösen aber ein verzehren<strong>de</strong>s Feuer bringen. Der Sün<strong>de</strong>r wird vertilgt<br />

wer<strong>de</strong>n, weil er die Liebe zurückgewiesen und die Gna<strong>de</strong> mißachtet hat.<br />

In vielen Gleichnissen und wie<strong>de</strong>rholten Warnungen wies Jesus die Ju<strong>de</strong>n darauf hin, welche<br />

Folgen es für sie hätte, wenn sie <strong>de</strong>n Sohn Gottes verwürfen. Seine Worte galten aber zugleich<br />

<strong>de</strong>n Menschen aller Zeitalter, die ihn nicht als Erlöser annehmen wollen. Sie alle warnt er. Der<br />

entweihte Tempel, <strong>de</strong>r ungehorsame Sohn, die bösen Weingärtner und die hochmütigen<br />

Baumeister haben ihr Gegenstück in <strong>de</strong>r Erfahrung eines je<strong>de</strong>n Sün<strong>de</strong>rs. Solange er nicht bereut,<br />

wird auch ihn das in diesen Gleichnissen vorausgesagte Ver<strong>de</strong>rben treffen.<br />

407


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 66: Kampf<br />

<strong>Die</strong> Priester und Obersten hatten schweigend <strong>de</strong>n scharfen Ta<strong>de</strong>l <strong>Christi</strong> gehört. Seine<br />

Anklagen vermochten sie nicht zurückzuweisen. Aber nun waren sie noch entschlossener, ihn<br />

zu fangen. Deshalb schickten sie Spione zu ihm, „die sich stellen sollten, als wären sie fromm,<br />

auf daß sie ihn in seiner Re<strong>de</strong> fingen, damit sie ihn überantworten könnten <strong>de</strong>r Obrigkeit und<br />

Gewalt <strong>de</strong>s Landpflegers“. Lukas 20,20. Sie schickten nicht die alten Pharisäer vor, <strong>de</strong>nen Jesus<br />

so oft begegnet war, son<strong>de</strong>rn junge Leute, die eifrig und fanatisch waren und von <strong>de</strong>nen sie<br />

meinten, Jesus kenne sie noch nicht. Einige <strong>de</strong>r Männer <strong>de</strong>s Hero<strong>de</strong>s begleiteten sie. Sie sollten<br />

<strong>Christi</strong> Worte hören, um gegen ihn während <strong>de</strong>s Gerichtsverfahrens aussagen zu können. <strong>Die</strong><br />

Pharisäer und Herodianer waren eigentlich erbitterte Fein<strong>de</strong>, jetzt aber verband sie die<br />

Gegnerschaft zu Christus.<br />

<strong>Die</strong> Pharisäer hatten sich stets gegen die erzwungenen Tributleistungen an die Römer<br />

aufgelehnt. Sie meinten, solche Zahlungen verstießen gegen das Gesetz Gottes. Jetzt sahen sie<br />

eine Gelegenheit, Christus eine Falle zu stellen. <strong>Die</strong> Spione kamen zu ihm und fragten,<br />

scheinbar aufrichtig, als ob sie nur wissen wollten, was ihre Pflicht sei: „Meister, wir wissen,<br />

daß du aufrichtig re<strong>de</strong>st und lehrest und achtest keines Menschen Ansehen, son<strong>de</strong>rn du lehrest<br />

<strong>de</strong>n Weg Gottes recht. Ist‘s recht, daß wir <strong>de</strong>m Kaiser Steuer geben, o<strong>de</strong>r nicht?“ Lukas<br />

20,21.22. <strong>Die</strong> Worte: „Wir wissen, daß du aufrichtig re<strong>de</strong>st und lehrest“, wären ein wun<strong>de</strong>rbares<br />

Zugeständnis gewesen, hätte man sie aufrichtig gemeint. Sie sollten aber nur <strong>de</strong>r Täuschung<br />

dienen. Ihr Zeugnis war in<strong>de</strong>ssen trotz<strong>de</strong>m wahr. <strong>Die</strong> Pharisäer wußten sehr wohl, daß Christus<br />

aufrichtig und recht lehrte, und sie wer<strong>de</strong>n einst nach diesem Zeugnis gerichtet wer<strong>de</strong>n.<br />

<strong>Die</strong> Männer, die Jesus die Frage vorlegten, meinten, daß sie ihre Absicht ausreichend getarnt<br />

hätten. Jesus aber las in ihren Herzen wie in einem Buch und erkannte ihre Heuchelei: „Was<br />

versuchet ihr mich?“ entgegnete er und gab ihnen dadurch ein Zeichen, nach <strong>de</strong>m sie nicht<br />

gefragt hatten, in<strong>de</strong>m er ihnen zu erkennen gab, daß er ihre geheimen Absichten durchschaute.<br />

Noch verwirrter waren sie, als er hinzufügte: „Bringt mir einen Groschen!“ Sie taten es, und er<br />

fragte sie: „Wes ist das Bild und die Aufschrift? Sie sprachen zu ihm: Des Kaisers.“ Da wies<br />

Jesus auf die Inschrift <strong>de</strong>r Münze und antwortete: „So gebet <strong>de</strong>m Kaiser, was <strong>de</strong>s Kaisers ist,<br />

und Gott, was Gottes ist!“ Markus 12,15-17.<br />

<strong>Die</strong> Späher hatten erwartet, daß Jesus ihre Frage so o<strong>de</strong>r so direkt beantworten wer<strong>de</strong>. Hätte<br />

er gesagt: Es verstößt gegen das Gesetz, <strong>de</strong>m Kaiser Steuern zu zahlen, dann hätten sie das <strong>de</strong>n<br />

römischen Behör<strong>de</strong>n berichtet, und er wäre verhaftet wor<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>r Begründung, versucht zu<br />

haben, einen Aufstand anzuzetteln. Falls er es aber als legal hingestellt hätte, <strong>de</strong>n Römern<br />

Steuern zu zahlen, dann hätten sie ihn vor <strong>de</strong>m Volk als Gegner <strong>de</strong>s Gesetzes Gottes anklagen<br />

können. Jetzt waren sie verwirrt und nie<strong>de</strong>rgeschlagen. Ihre Pläne waren durchkreuzt. <strong>Die</strong><br />

summarische Art, mit <strong>de</strong>r ihre Frage erledigt wor<strong>de</strong>n war, schnitt ihnen weitere Entgegnungen<br />

ab.<br />

Jesu Erwi<strong>de</strong>rung enthielt keine Ausflucht, son<strong>de</strong>rn er beantwortete aufrichtig ihre Frage. Er<br />

hielt die römische Münze in <strong>de</strong>r Hand, die Name und Abbild <strong>de</strong>s Cäsaren trug, und erklärte, die<br />

408


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Ju<strong>de</strong>n, welche ja unter <strong>de</strong>m Schutz <strong>de</strong>r römischen Macht lebten, sollten auch die von ihnen<br />

gefor<strong>de</strong>rten Abgaben an sie entrichten, sofern sie dadurch nicht in Konflikt mit einer höheren<br />

Pflicht gerieten. Doch während sie als friedliche Bürger <strong>de</strong>n Lan<strong>de</strong>sgesetzen gehorchen sollten,<br />

wür<strong>de</strong> Gott stets in erster Linie ihre treue Gefolgschaft zukommen. Des Heilan<strong>de</strong>s Worte: „So<br />

gebet ... Gott, was Gottes ist“ enthielten eine strenge Zurechtweisung <strong>de</strong>r jüdischen<br />

Ränkeschmie<strong>de</strong>. Hätten sie gewissenhaft ihre Verpflichtungen gegenüber Gott erfüllt, so wären<br />

sie als Nation nicht zerbrochen und nicht einer frem<strong>de</strong>n Macht untertan gewor<strong>de</strong>n. Dann hätte<br />

kein römisches Banner über Jerusalem geweht, keine römische Wache an <strong>de</strong>n Toren Jerusalems<br />

gestan<strong>de</strong>n und kein römischer Statthalter in seinen Mauern geherrscht. Das jüdische Volk zahlte<br />

für seinen Abfall von Gott.<br />

Als die Pharisäer <strong>Christi</strong> Antwort hörten, „verwun<strong>de</strong>rten sie sich und ließen ihn und gingen<br />

davon“. Matthäus 22,22. Er hatte ihre Heuchelei und Anmaßung geta<strong>de</strong>lt und zugleich einen<br />

wichtigen Grundsatz aufgestellt, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utlich die Pflichten <strong>de</strong>s Menschen gegenüber <strong>de</strong>r<br />

bürgerlichen Regierung und gegenüber Gott umreißt. Für viele war dadurch ein unangenehmes<br />

Problem gelöst wor<strong>de</strong>n. Sie haben später an <strong>de</strong>m richtigen Grundsatz festgehalten. Obwohl<br />

viele unzufrie<strong>de</strong>n von Jesus fortgingen, sahen sie doch ein, daß <strong>de</strong>r Grundgedanke, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />

Frage <strong>de</strong>r Pharisäer zugrun<strong>de</strong> lag, <strong>de</strong>utlich herausgestellt wor<strong>de</strong>n war, und sie bewun<strong>de</strong>rten<br />

<strong>Christi</strong> weitblicken<strong>de</strong>n Scharfsinn.<br />

Kaum war <strong>de</strong>n Pharisäern <strong>de</strong>r Mund gestopft, als auch schon die Sadduzäer mit ihren<br />

hinterlistigen Fragen an ihn herantraten. Bei<strong>de</strong> Parteien stan<strong>de</strong>n einan<strong>de</strong>r in bitterer Feindschaft<br />

gegenüber. <strong>Die</strong> Pharisäer hielten sich streng an die Überlieferung. Sie erfüllten gewissenhaft die<br />

äußeren Zeremonien und unterzogen sich eifrig <strong>de</strong>n rituellen Waschungen, Fastenzeiten und<br />

langatmigen Gebeten. Auch beim Almosengeben taten sie sich hervor. Christus aber erklärte,<br />

daß sie das Gesetz Gottes seines Sinnes beraubten, weil sie Menschengebote zu verbindlichen<br />

Lehren erklärten. Als Gruppe waren sie Frömmler und Heuchler, <strong>de</strong>nnoch gab es unter ihnen<br />

Menschen mit echter Frömmigkeit. <strong>Die</strong> Sadduzäer verwarfen die Traditionen <strong>de</strong>r Pharisäer. Sie<br />

behaupteten zwar, <strong>de</strong>n größeren Teil <strong>de</strong>r heiligen Schriften als Glaubensgrundlage und als<br />

Richtschnur ihres Han<strong>de</strong>lns anzuerkennen, in Wirklichkeit aber waren sie Skeptiker und<br />

Materialisten.<br />

<strong>Die</strong> Sadduzäer leugneten die Existens <strong>de</strong>r Engel, die Auferstehung <strong>de</strong>r Toten und die Lehre<br />

von einem künftigen Leben. In all diesen Lehrmeinungen unterschie<strong>de</strong>n sie sich von <strong>de</strong>n<br />

Pharisäern. Zwischen bei<strong>de</strong>n Gruppen war die Auferstehung ein beson<strong>de</strong>rer Streitpunkt. <strong>Die</strong><br />

Pharisäer glaubten fest an die Auferstehung, doch fühlten sie sich während <strong>de</strong>r Streitgespräche,<br />

was ihre Ansichten über das zukünftige Geschehen betrifft, völlig aus <strong>de</strong>m Gleichgewicht<br />

gebracht. Der Tod war für sie ein unerklärbares Geheimnis. Ihre Unfähigkeit, die Behauptungen<br />

<strong>de</strong>r Sadduzäer zu wi<strong>de</strong>rlegen, ließ bei ihnen ständig Ärger aufkommen. <strong>Die</strong> Diskussionen<br />

zwischen bei<strong>de</strong>n Gruppen arteten gewöhnlich in heftige Streitereien aus und ließen die Kluft<br />

zwischen ihnen nur noch breiter wer<strong>de</strong>n.<br />

Zahlenmäßig waren die Sadduzäer ihren Wi<strong>de</strong>rsachern weit unterlegen, und sie hatten bei<br />

<strong>de</strong>m einfachen Volk auch nicht so viel Rückhalt. Viele waren aber wohlhabend und verfügten<br />

409


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

über <strong>de</strong>n Einfluß, <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m Wohlstand verbun<strong>de</strong>n ist. <strong>Die</strong> meisten Priester gehörten zu ihnen,<br />

und auch die Hohenpriester kamen gewöhnlich aus ihren Reihen. Jedoch geschah das mit <strong>de</strong>r<br />

ausdrücklichen Bedingung, ihre skeptischen Auffassungen nicht in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit zu<br />

vertreten. Wegen <strong>de</strong>r zahlenmäßigen Stärke und <strong>de</strong>r Beliebtheit <strong>de</strong>r Pharisäer mußten sich die<br />

Sadduzäer, sofern sie ein priesterliches Amt innehatten, nach außen hin <strong>de</strong>n Lehren <strong>de</strong>r<br />

Pharisäer anpassen. <strong>Die</strong> bloße Tatsache jedoch, daß sie zu einem solchen Amt wählbar waren,<br />

ließ ihre Irrtümer an Einfluß gewinnen.<br />

<strong>Die</strong> Sadduzäer verwarfen Jesu Lehren, war er doch von einem Geist beseelt, <strong>de</strong>m sie<br />

ablehnend gegenüberstan<strong>de</strong>n. Was er über Gott und das zukünftige Leben verkün<strong>de</strong>te,<br />

wi<strong>de</strong>rsprach ihren Theorien. Sie waren <strong>de</strong>r Meinung, daß Gott als einziges Wesen <strong>de</strong>n<br />

Menschen überlegen sei, und bestritten, daß eine alles beherrschen<strong>de</strong> Vorsehung und göttliche<br />

Vorausschau <strong>de</strong>n Menschen seines freien Willens berauben und ihn auf die Stufe eines Sklaven<br />

erniedrigen wür<strong>de</strong>. Sie glaubten, daß Gott <strong>de</strong>n Menschen zwar geschaffen, ihn dann aber sich<br />

selbst überlassen habe, so daß kein höherer Einfluß auf ihn einwirke. Der Mensch sei frei, so<br />

behaupteten sie; er könne sich selbst beherrschen und die Ereignisse <strong>de</strong>r Welt selber formen.<br />

Sein Geschick läge allein in seinen eigenen Hän<strong>de</strong>n. Sie leugneten, daß <strong>de</strong>r Geist Gottes durch<br />

menschliches Tun o<strong>de</strong>r auf natürlichem Wege wirke. Allerdings könne <strong>de</strong>r Mensch ihrer<br />

Überzeugung nach durch seine eigenen natürlichen Kräfte vere<strong>de</strong>lt und erleuchtet wer<strong>de</strong>n.<br />

Durch die Befolgung strenger und harter For<strong>de</strong>rungen könne das Leben geläutert wer<strong>de</strong>n.<br />

Ihre Vorstellungen von Gott formten ihren Charakter. Da sich Gott ihrer Meinung nach nicht<br />

für <strong>de</strong>n Menschen interessierte, kümmerten sie sich auch nicht umeinan<strong>de</strong>r. Ihnen mangelte es<br />

an Zusammenhalt. Da sie <strong>de</strong>n Einfluß <strong>de</strong>s Heiligen Geistes auf das Tun <strong>de</strong>r Menschen<br />

leugneten, fehlte ihrem Leben auch seine Kraft. Wie alle an<strong>de</strong>ren Ju<strong>de</strong>n rühmten sie sich als<br />

Kin<strong>de</strong>r Abrahams ihres Geburtsrechtes und ihrer strengen Gesetzestreue. Der wahre Geist <strong>de</strong>s<br />

Gesetzes sowie <strong>de</strong>r Glaube und die Güte Abrahams fehlten ihnen jedoch. Ihre<br />

natürliche Zuneigung galt nur einem engen Kreis. Sie meinten, allen Menschen sei es möglich,<br />

sich die Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten <strong>de</strong>s Lebens zu beschaffen. Von <strong>de</strong>n<br />

Bedürfnissen und Lei<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rer wur<strong>de</strong>n ihre Herzen nicht berührt. Sie lebten nur sich selbst.<br />

Durch Wort und Tat bekun<strong>de</strong>te Christus eine göttliche Macht, die übernatürliche Ergebnisse<br />

zeitigte. Er zeugte von einem künftigen Leben, das über das gegenwärtige hinausgeht, sowie<br />

von Gott, <strong>de</strong>m Vater aller Menschenkin<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r stets über <strong>de</strong>ren wahre Interessen wacht. Er<br />

offenbarte, wie die göttliche Kraft durch Güte und Mitgefühl wirkt, und rügte dadurch das<br />

selbstsüchtige Elitebewußtsein <strong>de</strong>r Sadduzäer. Er lehrte, daß Gott durch <strong>de</strong>n Heiligen Geist auf<br />

die Menschenherzen zu <strong>de</strong>ren zeitlichem und ewigem Wohl einwirke, und er wies nach, wie<br />

falsch es sei, auf menschliche Macht zu bauen, wenn es gilt, <strong>de</strong>n Charakter umzugestalten; dies<br />

aber könne nur durch Gottes Geist geschehen. <strong>Die</strong> Sadduzäer waren entschlossen, diese Lehre<br />

in Verruf zu bringen. Wenn sie auch nicht seine Verurteilung herbeiführen konnten, so<br />

vermochten sie doch ganz sicher, Jesus durch bewußten Streit Scha<strong>de</strong>n zuzufügen.<br />

Ausgerechnet die Frage <strong>de</strong>r Auferstehung suchten sie sich dafür aus. Stimmte er ihnen zu, dann<br />

410


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

wür<strong>de</strong> er die Pharisäer dadurch um so mehr kränken. Wäre er dagegen an<strong>de</strong>rer Meinung als sie,<br />

dann wollten sie seine Lehre lächerlich machen.<br />

<strong>Die</strong> Sadduzäer dachten, daß <strong>de</strong>r Leib, falls er im unsterblichen wie im sterblichen Zustand<br />

aus <strong>de</strong>n gleichen Stoffteilen bestehe, nach <strong>de</strong>r Auferstehung wie<strong>de</strong>r Fleisch und Blut haben<br />

müsse und in <strong>de</strong>r Ewigkeit das auf Er<strong>de</strong>n unterbrochene Leben fortsetzen wer<strong>de</strong>. In diesem<br />

Falle müßten die, so folgerten sie, irdischen Verwandtschaften weiterbestehen; Mann und Frau<br />

kämen wie<strong>de</strong>r zusammen, Heiraten wür<strong>de</strong>n vollzogen wer<strong>de</strong>n, und alles ginge so weiter wie vor<br />

<strong>de</strong>m To<strong>de</strong>. <strong>Die</strong> Fehler und Lei<strong>de</strong>nschaften dieses irdischen Lebens wür<strong>de</strong>n <strong>de</strong>mnach im<br />

künftigen Leben verewigt wer<strong>de</strong>n. Mit seiner Antwort auf ihre Frage lüftete Jesus <strong>de</strong>n Schleier<br />

vom künftigen Leben. Er sagte: „In <strong>de</strong>r Auferstehung wer<strong>de</strong>n sie we<strong>de</strong>r freien noch sich freien<br />

lassen, son<strong>de</strong>rn sie sind gleichwie die Engel im Himmel.“ Matthäus 22,30. Dadurch legte er dar,<br />

daß <strong>de</strong>r Glaube <strong>de</strong>r Sadduzäer falsch sei. Ihre Voraussetzungen waren fehlerhaft. „Ihr irret“,<br />

erklärte er, „und kennet die Schrift nicht noch die Kraft Gottes.“ Matthäus 22,29. Er<br />

beschuldigte sie nicht wie die Pharisäer <strong>de</strong>r Heuchelei, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>s Glaubensirrtums.<br />

<strong>Die</strong> Sadduzäer schmeichelten sich damit, daß sie sich am genauesten an die heiligen<br />

Schriften hielten. Jesus aber wies ihnen nach, daß sie <strong>de</strong>ren wahre Be<strong>de</strong>utung nicht erfaßt<br />

hatten. Erst durch die Erleuchtung <strong>de</strong>s Heiligen Geistes gelangt das Herz zu wahrer Erkenntnis.<br />

Ihre mangeln<strong>de</strong> Schriftkenntnis und ihre Unwissenheit hinsichtlich <strong>de</strong>r Kraft Gottes bezeichnete<br />

er als die Ursache ihrer Glaubensverwirrung und ihrer geistigen Verfinsterung. Sie trachteten<br />

danach, die Geheimnisse Gottes in <strong>de</strong>n Rahmen ihres begrenzten Verstan<strong>de</strong>s zu pressen.<br />

Christus rief sie dazu auf, sich <strong>de</strong>n heiligen Wahrheiten zu öffnen, die ihr Verständnis erweitern<br />

und stärken wür<strong>de</strong>n. Tausen<strong>de</strong> verfallen <strong>de</strong>m Unglauben, weil ihr begrenzter Verstand die<br />

Geheimnisse Gottes nicht begreifen kann. Sie können die wun<strong>de</strong>rbare Entfaltung göttlicher<br />

Macht in seinen Fügungen nicht erklären. Deshalb lehnen sie die Beweise für diese Macht ab<br />

und schreiben sie natürlichen Quellen zu, die sie noch weniger verstehen. Der einzige Schlüssel<br />

zu <strong>de</strong>n Geheimnissen, die uns umgeben, besteht darin, in ihnen die Gegenwart und Kraft Gottes<br />

zu erkennen. <strong>Die</strong> Menschen müssen Gott als <strong>de</strong>n Schöpfer <strong>de</strong>s Alls erkennen, <strong>de</strong>r alles anordnet<br />

und ausführt. Sie benötigen eine umfassen<strong>de</strong>re Kenntnis seines Wesens und <strong>de</strong>s Geheimnisses<br />

seines Wirkens.<br />

Christus erklärte seinen Zuhörern, daß die Heilige Schrift, an die zu Glauben sie<br />

behaupteten, für sie sinnlos wäre, wenn es keine Auferstehung <strong>de</strong>r Toten gäbe. Er sagte: „Habt<br />

ihr aber nicht gelesen von <strong>de</strong>r Auferstehung <strong>de</strong>r Toten, was euch gesagt ist von Gott, da er<br />

spricht: ‚Ich bin <strong>de</strong>r Gott Abrahams und <strong>de</strong>r Gott Isaaks und <strong>de</strong>r Gott Jakobs‘? Gott ist nicht ein<br />

Gott <strong>de</strong>r Toten, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Lebendigen.“ Matthäus 22,31.32. Gott rechnet mit Dingen, die<br />

noch gar nicht vorhan<strong>de</strong>n sind. Er sieht am Anfang bereits das En<strong>de</strong> und kennt das Ergebnis<br />

seines Han<strong>de</strong>lns, als ob es bereits abgeschlossen wäre. <strong>Die</strong> seligen Toten von Adam bis zum<br />

letzten Heiligen, <strong>de</strong>r einmal sterben wird, wer<strong>de</strong>n die Stimme <strong>de</strong>s Sohnes Gottes hören und aus<br />

ihren Gräbern zu unsterblichem Leben hervorkommen. Gott wird ihr Gott und sie wer<strong>de</strong>n sein<br />

Volk sein. Zwischen <strong>de</strong>n auferstan<strong>de</strong>nen Heiligen und Gott wer<strong>de</strong>n enge, innige Ban<strong>de</strong><br />

411


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

bestehen. <strong>Die</strong>sen Zustand, <strong>de</strong>n er in seinem Ausblick vorhersagt, sieht er vor sich, als wäre er<br />

bereits Wirklichkeit. Für Gott sind die Toten lebendig.<br />

Durch <strong>Christi</strong> Worte wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Sadduzäern <strong>de</strong>r Mund gestopft. Sie konnten ihm nicht<br />

antworten. Er hatte nichts gesagt, was auch nur im geringsten zu seiner Verurteilung beitragen<br />

konnte. Seine Gegner hatten außer <strong>de</strong>r Verachtung <strong>de</strong>s Volkes nichts gewonnen. <strong>Die</strong> Pharisäer<br />

in<strong>de</strong>ssen meinten noch immer, ihn zu einem Ausspruch verleiten zu können, <strong>de</strong>r sich gegen ihn<br />

verwen<strong>de</strong>n ließe. Sie veranlaßten einen gelehrten Schriftkundigen, Jesus zu fragen, welches von<br />

<strong>de</strong>n zehn Geboten <strong>de</strong>s Gesetzes die größte Be<strong>de</strong>utung habe. <strong>Die</strong> Pharisäer hatten die ersten vier<br />

Gebote, die auf die Pflichten <strong>de</strong>s Menschen gegenüber seinem Schöpfer hinweisen, als weit<br />

be<strong>de</strong>utsamer hingestellt als die an<strong>de</strong>ren sechs, die das Verhalten <strong>de</strong>s Menschen zu seinem<br />

Mitmenschen regeln. Infolge<strong>de</strong>ssen fehlte es ihnen an praktischer Frömmigkeit. Jesus hatte <strong>de</strong>m<br />

Volk gezeigt, woran es ihm so sehr ermangelte. Dabei hatte er auf die Notwendigkeit <strong>de</strong>r guten<br />

Werke hingewiesen und erklärt, daß man <strong>de</strong>n Baum an seiner Frucht erkenne. Aus diesem<br />

Grun<strong>de</strong> war er bezichtigt wor<strong>de</strong>n, er stelle die letzten sechs Gebote über die ersten vier.<br />

Der Rechtsgelehrte nähert sich Jesus mit einer direkten Frage: „Meister, welches ist das<br />

vornehmste Gebot im Gesetz?“ Matthäus 22,36. <strong>Christi</strong> Antwort kommt unverzüglich und<br />

überzeugend: „Das vornehmste Gebot ist das: ‚Höre, Israel, <strong>de</strong>r Herr, unser Gott, ist allein <strong>de</strong>r<br />

Herr, und du sollst Gott, <strong>de</strong>inen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von<br />

ganzem Gemüte und von allen <strong>de</strong>inen Kräften.‘“ Markus 12,29.30. Das zweite ist <strong>de</strong>m ersten<br />

gleich, sagte Christus; <strong>de</strong>nn es ergibt sich aus ihm: „‚Du sollst <strong>de</strong>inen Nächsten lieben wie dich<br />

selbst‘. Es ist kein an<strong>de</strong>res Gebot größer als diese.“ Markus 12,31. „In diesen zwei Geboten<br />

hängt das ganze Gesetz und die Propheten.“ Matthäus 22,40.<br />

<strong>Die</strong> ersten vier <strong>de</strong>r Zehn Gebote wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r einen großen Verordnung zusammengefaßt:<br />

„Du sollt <strong>de</strong>n Herrn, <strong>de</strong>inen Gott, liebhaben von ganzem Herzen.“ 5.Mose 6,5. <strong>Die</strong> letzten sechs<br />

sind in <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Verordnung enthalten: „Du sollst <strong>de</strong>inen Nächsten lieben wie dich<br />

selbst.“ 3.Mose 19,18. <strong>Die</strong>se bei<strong>de</strong>n Gebote sind ein Ausdruck <strong>de</strong>s Grundgedankens <strong>de</strong>r Liebe.<br />

We<strong>de</strong>r kann das erste gehalten und das zweite gebrochen, noch das zweite beachtet und das<br />

erste übertreten wer<strong>de</strong>n. Räumen wir Gott <strong>de</strong>n ihm gebühren<strong>de</strong>n Platz in unserem Herzen ein,<br />

dann erhält auch unser Mitmensch <strong>de</strong>n Platz, <strong>de</strong>r ihm zukommt, nämlich ihn so zu lieben, wie<br />

wir uns selbst lieben. Nur wenn wir Gott über alles lieben, vermögen wir auch unseren<br />

Nächsten rückhaltlos zu lieben.<br />

Da sämtliche Gebote in <strong>de</strong>r Liebe zu Gott und zum Nächsten zusammengefaßt sind, folgt<br />

daraus, daß nicht ein Gebot übertreten wer<strong>de</strong>n kann, ohne diesen Grundsatz zu verletzten. Auf<br />

diese Weise lehrte Jesus seine Zuhörer, daß das Gesetz Gottes nicht aus vielen<br />

Einzelvorschriften besteht, von <strong>de</strong>nen einige be<strong>de</strong>utsamer seien als die an<strong>de</strong>ren, die man daher<br />

ungestraft übertreten könne. Unser Herr stellt die ersten vier und die letzten sechs Gebote als<br />

ein göttliches Ganzes dar und lehrt, daß sich die Liebe zu Gott nur durch <strong>de</strong>n Gehorsam<br />

gegenüber allen Geboten erweist.<br />

412


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Der Schriftgelehrte, <strong>de</strong>r Jesus gefragt hatte, war im Gesetz wohlbewan<strong>de</strong>rt und daher über<br />

Jesu Worte verwun<strong>de</strong>rt. Er hatte bei Jesus keine so tiefe und gründliche Schriftkenntnis<br />

erwartet. Nun aber war ihm ein besseres Verständnis <strong>de</strong>r Grundsätze zuteil gewor<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>n<br />

heiligen Geboten zugrun<strong>de</strong> liegen. Vor <strong>de</strong>n versammelten Priestern und Obersten erkannte er<br />

ehrlich an, daß Christus die richtige Auslegung <strong>de</strong>s Gesetzes gegeben hatte, und<br />

sagte: „Meister, du hast wahrlich recht gere<strong>de</strong>t. Er ist nur einer und ist kein an<strong>de</strong>rer außer ihm;<br />

und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüte und von allen Kräften, und seinen<br />

Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer.“ Markus<br />

12,32.33.<br />

<strong>Die</strong> Weisheit <strong>de</strong>r Antwort Jesu hatte <strong>de</strong>n Schriftgelehrten überzeugt. Er wußte, daß die<br />

Religion <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n mehr aus äußerlichen Zeremonien als aus innerlicher Frömmigkeit bestand.<br />

Ferner begriff er, daß bloße Zeremonielle Opfer wertlos sind und daß es nutzlos ist,<br />

ungläubigen Herzens Blut zur Tilgung <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>n zu vergießen. Liebe zu Gott und Gehorsam<br />

ihm gegenüber sowie selbstlose Hinneigung zum Mitmenschen hielt er für wertvoller als alle<br />

rituellen Handlungen. <strong>Die</strong> Bereitwilligkeit dieses Mannes, einzuräumen, daß Christus richtig<br />

dachte, wie auch seine entschie<strong>de</strong>ne und prompte Antwort vor allem Volk bewiesen eine<br />

Gesinnung, die sich von <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Priester und Obersten <strong>de</strong>utlich unterschied. Jesu Herz erschloß<br />

sich voller Mitgefühl diesem ehrlichen Schriftgelehrten, <strong>de</strong>r es gewagt hatte, die finsteren<br />

Blicke <strong>de</strong>r Priester und die Drohungen <strong>de</strong>r Obersten zu mißachten und seine<br />

Herzensüberzeugung zu äußern. „Da Jesus aber sah, daß er verständig antwortete, sprach er zu<br />

ihm: Du bist nicht ferne von <strong>de</strong>m Reich Gottes.“ Markus 12,34.<br />

Der Schriftgelehrte war <strong>de</strong>m Reich Gottes nahe, weil er erkannt hatte, daß Taten <strong>de</strong>r<br />

Gerechtigkeit Gott angenehmer sind als Brandopfer und Schlachtopfer. Aber noch vermochte er<br />

nicht die Göttlichkeit <strong>Christi</strong> zu erfassen und durch <strong>de</strong>n Glauben an ihn die Kraft zu erhalten,<br />

die Werke <strong>de</strong>r Gerechtigkeit auch zu vollbringen. <strong>Die</strong> rituellen Handlungen blieben so lange<br />

wertlos, als sie nicht durch <strong>de</strong>n lebendigen Glauben mit Christus verbun<strong>de</strong>n waren. Selbst das<br />

Sittengesetz verfehlt seinen Zweck, wenn es nicht in seiner Beziehung zum Heiland verstan<strong>de</strong>n<br />

wird. Wie<strong>de</strong>rholt hatte Christus darauf hingewiesen, daß das Gesetz seines Vaters einen tieferen<br />

Gehalt habe als bloßes Erteilen obrigkeitlicher Befehle. Im Gesetz wird <strong>de</strong>r gleiche Grundsatz<br />

verkörpert wie im Evangelium. Das Gesetz weist <strong>de</strong>n Menschen auf seine Pflichten hin und<br />

zeigt ihm seine Schuld. Auf Christus muß er schauen, wenn er Vergebung erlangen und Kraft<br />

erhalten will, das zu tun, was das Gesetz gebietet.<br />

<strong>Die</strong> Pharisäer umstan<strong>de</strong>n Jesus ganz dicht, als er die Frage <strong>de</strong>s Schriftgelehrten beantwortete.<br />

Jetzt wandte er sich ihnen zu und fragte sie: „Was <strong>de</strong>nkt ihr von <strong>de</strong>m Christus? Wessen Sohn ist<br />

er?“ Matthäus 22,42. <strong>Die</strong>se Frage sollte ihren Glauben an <strong>de</strong>n Messias prüfen; sie sollte zeigen,<br />

ob sie ihn nur für einen Menschen o<strong>de</strong>r für <strong>de</strong>n Sohn Gottes hielten. Ein ganzer Chor antwortete<br />

darauf: „Davids!“ Matthäus 22,42. Das war <strong>de</strong>r Titel, <strong>de</strong>n die Propheten <strong>de</strong>m Messias verliehen<br />

hatten. Als Jesus durch seine machtvollen Wun<strong>de</strong>r seine Göttlichkeit offenbarte, als er Kranke<br />

heilte und Tote auferweckte, hatte sich das Volk gefragt: „Ist das nicht Davids Sohn?“ die<br />

kanaanäische Frau, <strong>de</strong>r blin<strong>de</strong> Bartimäus und viele an<strong>de</strong>re hatten ihn um Hilfe angefleht: „Ach<br />

413


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Herr, du Sohn Davids, erbarme dich mein!“ Matthäus 15,22. Bei seinem Einzug in Jerusalem<br />

wur<strong>de</strong> er mit <strong>de</strong>n Freu<strong>de</strong>nrufen begrüßt: „Hosianna <strong>de</strong>m Sohn Davids! Gelobt sei, <strong>de</strong>r da kommt<br />

in <strong>de</strong>m Namen <strong>de</strong>s Herrn!“ Matthäus 21,9. <strong>Die</strong> kleinen Kin<strong>de</strong>r im Tempel ließen an jenem Tage<br />

diese frohen Rufe nocheinmal wi<strong>de</strong>rhallen. Viele aber, die Jesus als Sohn Davids bezeichneten,<br />

erkannten seine Göttlichkeit nicht. Sie begriffen nicht, daß Davids Sohn zugleich <strong>de</strong>r Sohn<br />

Gottes war.<br />

Als Antwort auf die Aussage <strong>de</strong>r Pharisäer, daß Christus <strong>de</strong>r Sohn Davids sei, fragte Jesus:<br />

„Wie kann ihn dann David im Geist einen Herrn nennen, wenn er sagt: ‚Der Herr hat gesagt zu<br />

meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten, bis daß ich lege <strong>de</strong>ine Fein<strong>de</strong> unter <strong>de</strong>ine Füße‘?<br />

So nun David ihn einen Herrn nennt, wie ist er <strong>de</strong>nn sein Sohn? Und niemand konnte ihm ein<br />

Wort antworten, und wagte auch niemand von <strong>de</strong>m Tage an, ihn hinfort zu fragen.“ Matthäus<br />

22,43-46; Psalm 110,1.<br />

414


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel<br />

Es war <strong>de</strong>r letzte Tag, <strong>de</strong>n Jesus im Tempel lehrte. <strong>Die</strong> Aufmerksamkeit <strong>de</strong>r riesigen<br />

Menschenmenge, die in Jerusalem versammelt war, hatte sich ihm zugewandt. Das Volk füllte<br />

die Höfe <strong>de</strong>s Tempels und beobachtete <strong>de</strong>n Streit, <strong>de</strong>r im Gange war. Begierig fingen sie je<strong>de</strong>s<br />

Wort auf, das aus <strong>de</strong>m Mun<strong>de</strong> Jesu kam. Nie zuvor hatte man solches gesehen. Da stand <strong>de</strong>r<br />

junge Galiläer, ohne irdischen Glanz und ohne königliche Wür<strong>de</strong>, umgeben von <strong>de</strong>n Priestern in<br />

ihren reichen Gewän<strong>de</strong>rn, <strong>de</strong>n Obersten in ihrer Amtskleidung mit <strong>de</strong>n Zeichen ihrer Wür<strong>de</strong>, die<br />

ihre erhöhte Stellung erkennen ließen, und <strong>de</strong>n Schriftgelehrten mit <strong>de</strong>n Pergamentrollen in <strong>de</strong>n<br />

Hän<strong>de</strong>n, auf die sie häufig verwiesen.<br />

Gelassen, mit königlicher Erhabenheit stand Jesus vor ihnen. Ausgestattet mit <strong>de</strong>r Vollmacht<br />

<strong>de</strong>s Himmels, blickte er unentwegt auf seine Wi<strong>de</strong>rsacher, die seine Lehren verworfen und<br />

verachtet hatten und ihm nach <strong>de</strong>m Leben trachteten. Sie hatten ihn häufig angegriffen, doch<br />

ihre Anschläge, ihn zu fangen und zu verurteilen, waren vergebens gewesen. Herausfor<strong>de</strong>rung<br />

auf Herausfor<strong>de</strong>rung war er entgegengetreten, in<strong>de</strong>m er die reine, leuchten<strong>de</strong> Wahrheit im<br />

Gegensatz zu <strong>de</strong>r geistlichen Unwissenheit und <strong>de</strong>n Irrtümern <strong>de</strong>r Priester und Pharisäer<br />

darstellte. Er hatte diesen Führern <strong>de</strong>s Volkes ihren wahren Zustand vor Augen geführt und<br />

auch die mit Sicherheit folgen<strong>de</strong> Vergeltung, wenn sie in ihren bösen Taten beharrten. Sie<br />

waren gewissenhaft gewarnt wor<strong>de</strong>n. Jetzt blieb ihm etwas an<strong>de</strong>res zu tun; ein an<strong>de</strong>res Ziel galt<br />

es noch zu erreichen.<br />

<strong>Die</strong> Anteilnahme <strong>de</strong>s Volkes an Christus und seiner Tätigkeit hatte ständig zugenommen.<br />

<strong>Die</strong> Ju<strong>de</strong>n waren von seinen Lehren begeistert, gleichzeitig fühlten sie sich auch sehr verwirrt.<br />

Bisher hatten sie die Priester und Rabbiner wegen ihrer Weisheit und<br />

augenscheinlichen Frömmigkeit geachtet und ihrer Autorität in allen religiösen Belangen stets<br />

blind vertraut. Doch jetzt sahen sie diese Männer bei <strong>de</strong>m Versuch, Jesus herabzuwürdigen, ihn,<br />

einen Lehrer, <strong>de</strong>ssen Tugend und <strong>de</strong>ssen Erkenntnis aus je<strong>de</strong>m Angriff um so glänzen<strong>de</strong>r<br />

hervorleuchteten. Sie blickten auf das Mienenspiel <strong>de</strong>r Priester und Ältesten und sahen dort<br />

Verdruß und Verwirrung. <strong>Die</strong> meisten von ihnen wun<strong>de</strong>rten sich, daß die Obersten nicht an<br />

Jesus glauben wollten, da seine Lehren doch so klar und einfach waren. Sie selbst wußten nicht,<br />

was sie tun sollten. Mit gespannter Sorge beobachteten sie die Reaktion jener, <strong>de</strong>ren Rat sie<br />

stets gefolgt waren.<br />

Mit seinen Gleichnissen verfolgte Jesus zweierlei: er wollte die Obersten warnen und<br />

gleichzeitig das Volk belehren, das willig war, sich belehren zu lassen. Dazu war es notwendig,<br />

noch <strong>de</strong>utlicher zu sprechen. Ihre Ehrfurcht vor <strong>de</strong>r Tradition und ihr blin<strong>de</strong>r Glaube an eine<br />

ver<strong>de</strong>rbte Priesterschaft hatte das Volk in sklavische Abhängigkeit gebracht. <strong>Die</strong>se Ketten<br />

mußte Christus zerbrechen. Das wahre Wesen <strong>de</strong>r Priester, Obersten und Pharisäer mußte<br />

restlos enthüllt wer<strong>de</strong>n.<br />

„Auf <strong>de</strong>s Mose Stuhl“, sagte Christus, „sitzen die Schriftgelehrten und Pharisäer. Alles nun,<br />

was sie euch sagen, das tut und haltet; aber nach ihren Werken sollt ihr nicht tun; sie sagen‘s<br />

415


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

wohl, und tun‘s nicht.“ Matthäus 23,2.3. <strong>Die</strong> Schriftgelehrten und Pharisäer behaupteten, wie<br />

Mose mit göttlicher Vollmacht ausgerüstet zu sein. Sie maßten sich an, seinen Platz als<br />

Ausleger <strong>de</strong>s Gesetzes und Richter <strong>de</strong>s Volkes einzunehmen. Als solche for<strong>de</strong>rten sie vom Volk<br />

größte Ehrerbietung und völligen Gehorsam. Der Herr gebot <strong>de</strong>n Zuhörern, alles zu tun, was die<br />

Rabbiner in Übereinstimmung mit <strong>de</strong>m Gesetz lehrten, niemals aber ihrem Beispiel zu folgen,<br />

da diese selbst nicht nach ihrer Lehre han<strong>de</strong>lten.<br />

Sie verkündigten vieles, was <strong>de</strong>n heiligen Schriften entgegen war. Jesus sagte: „Sie bin<strong>de</strong>n<br />

schwere Bür<strong>de</strong>n und legen sie <strong>de</strong>n Menschen auf <strong>de</strong>n Hals; aber sie selbst wollen sie nicht mit<br />

einem Finger anrühren.“ Matthäus 23,4. <strong>Die</strong> Pharisäer hatten eine Fülle von Vorschriften<br />

eingeführt, die sich lediglich auf Überlieferungen grün<strong>de</strong>ten und die die persönliche Freiheit auf<br />

eine unvernünftige Art beschränkten. Bestimmte Teile <strong>de</strong>s Gesetzes erklärten sie so, daß <strong>de</strong>m<br />

Volk Pflichten auferlegt wur<strong>de</strong>n, die sie selbst insgeheim unbeachtet ließen und von <strong>de</strong>nen<br />

entbun<strong>de</strong>n zu sein sie behaupteten, wenn es ihren Absichten nutzte.<br />

Sie waren stets darauf aus, ihre Frömmigkeit zur Schau zu stellen. Nichts war ihnen zu<br />

heilig, um nicht diesem Ziele zu dienen. Im Hinblick auf die Beachtung seiner Gebote hatte<br />

Gott zu Mose gesagt: „Du sollst sie bin<strong>de</strong>n zum Zeichen auf <strong>de</strong>ine Hand, und sie sollen dir ein<br />

Merkzeichen zwischen <strong>de</strong>inen Augen sein.“ 5.Mose 6,8. In diesen Worten liegt eine tiefe<br />

Be<strong>de</strong>utung. Der ganze Mensch wird zum Guten hin verän<strong>de</strong>rt, wenn er über das Wort Gottes<br />

nach<strong>de</strong>nkt und es befolgt. Seine Hän<strong>de</strong> wer<strong>de</strong>n durch rechtschaffene und barmherzige Taten die<br />

Grundzüge <strong>de</strong>s göttlichen Gesetzes öffentlich besiegeln. Sie wer<strong>de</strong>n we<strong>de</strong>r durch Bestechung<br />

noch durch irgend etwas an<strong>de</strong>res, das ver<strong>de</strong>rblich und betrügerisch ist, befleckt wer<strong>de</strong>n. Statt<br />

<strong>de</strong>ssen wer<strong>de</strong>n sie Werke <strong>de</strong>r Liebe und <strong>de</strong>s Mitgefühls vollbringen. <strong>Die</strong> Augen, die auf ein<br />

edles Ziel gerichtet sind, wer<strong>de</strong>n klar und wahr blicken. <strong>Die</strong> Gesichtszüge, <strong>de</strong>r Blick, wer<strong>de</strong>n<br />

<strong>de</strong>n makellosen Charakter eines Menschen wi<strong>de</strong>rspiegeln, <strong>de</strong>r das Wort Gottes liebt und ehrt.<br />

Aber an <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n Tagen <strong>Christi</strong> konnte man dies alles nicht feststellen. <strong>Die</strong> <strong>de</strong>m Mose<br />

erteilte Weisung wur<strong>de</strong> dahingehend ausgelegt, daß die Gebote <strong>de</strong>r Schrift buchstäblich am<br />

Leibe getragen wer<strong>de</strong>n sollten. Zu diesem Zweck schrieb man sie auf Pergamentstreifen, die<br />

man in auffälliger Weise um Kopf und Handgelenke band. Dadurch konnte das Gesetz Gottes<br />

jedoch keinen nachhaltigeren Einfluß auf Geist und Herz ausüben; <strong>de</strong>nn diese Pergamente<br />

wur<strong>de</strong>n lediglich als eine Art Abzeichen getragen, eben um Aufsehen zu erregen. Sie sollten<br />

<strong>de</strong>n Träger mit einem Nimbus <strong>de</strong>r Weihe umgeben und die Ehrfurcht <strong>de</strong>r Leute herausfor<strong>de</strong>rn.<br />

Solcher eitlen Vorspiegelung versetzte Jesus mit <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Worten einen schweren Schlag:<br />

„Alle ihre Werke aber tun sie, damit sie von <strong>de</strong>n Leuten gesehen wer<strong>de</strong>n. Sie machen ihre<br />

Gebetsriemen breit und die Quasten an ihren Klei<strong>de</strong>rn groß. Sie sitzen gerne obenan bei Tisch<br />

und in <strong>de</strong>n Synagogen und haben‘s gerne, daß sie gegrüßt wer<strong>de</strong>n auf <strong>de</strong>m Markt und von <strong>de</strong>n<br />

Menschen Rabbi genannt wer<strong>de</strong>n. Aber ihr sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; <strong>de</strong>nn einer ist<br />

euer Meister; ihr aber seid alle Brü<strong>de</strong>r. Und ihr sollt niemand euren Vater heißen auf Er<strong>de</strong>n;<br />

<strong>de</strong>nn einer ist euer Vater, <strong>de</strong>r im Himmel ist. Und ihr sollt euch nicht lassen Lehrer<br />

nennen; <strong>de</strong>nn einer ist euer Lehrer, Christus.“ Matthäus 23,5-10. Mit diesen <strong>de</strong>utlichen Worten<br />

brandmarkte <strong>de</strong>r Heiland das selbstsüchtige, immer auf Macht und Ansehen bedachte Streben,<br />

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<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

das sich scheinbar <strong>de</strong>mütig gibt, tatsächlich aber voll Geiz und Neid ist. Wenn zum Beispiel<br />

Leute zu einem Fest eingela<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>n, setzte man die Gäste gemäß ihrer sozialen Stellung.<br />

Wem <strong>de</strong>r ehrenvollste Platz eingeräumt wur<strong>de</strong>, <strong>de</strong>m erwies man erhöhte Aufmerksamkeit und<br />

beson<strong>de</strong>res Wohlwollen. <strong>Die</strong> Pharisäer waren stets besorgt, sich <strong>de</strong>rartige Ehrungen zu sichern.<br />

<strong>Die</strong>ses Verhalten ta<strong>de</strong>lte Jesus.<br />

Er verurteilte ebenso <strong>de</strong>n Stolz, <strong>de</strong>r sich in <strong>de</strong>r Vorliebe für die Anre<strong>de</strong> „Rabbi“ o<strong>de</strong>r „Herr“<br />

äußerte. Solch ein Titel, so sagte er, komme Menschen nicht zu, son<strong>de</strong>rn nur Christus. Priester,<br />

Schriftgelehrte und Oberste, Ausleger und Treuhän<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Gesetzes, sie alle seien Brü<strong>de</strong>r,<br />

Kin<strong>de</strong>r eines Vaters. Jesus verlangte von <strong>de</strong>n Leuten nachdrücklich, daß sie keinem Menschen<br />

einen Ehrentitel verleihen sollten, <strong>de</strong>r anzeigen könnte, sein Träger dürfe ihr Gewissen o<strong>de</strong>r<br />

ihren Glauben beherrschen.<br />

Lebte Christus heute auf Er<strong>de</strong>n, umgeben von Menschen, die <strong>de</strong>n Titel Ehrwür<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r<br />

Hochwür<strong>de</strong>n trügen, wie<strong>de</strong>rholte er bestimmt das Wort: „Ihr sollt euch nicht lassen Lehrer<br />

nennen; <strong>de</strong>nn einer ist euer Lehrer, Christus.“ Matthäus 23,5-10. <strong>Die</strong> Heilige Schrift sagt über<br />

Gott: „Heilig und hehr ist sein Name.“ Psalm 111,9. Auf welchen Menschen träfe wohl solch<br />

eine Ehrenbezeichnung zu? Wie wenig offenbaren Menschen doch von <strong>de</strong>r Weisheit und<br />

Gerechtigkeit, die dafür erfor<strong>de</strong>rlich wären! Und wie viele von <strong>de</strong>nen, die diesen Titel<br />

annehmen, stellen <strong>de</strong>n Namen und das Wesen Gottes falsch dar! Ja, wie oft verbergen sich unter<br />

<strong>de</strong>m reich geschmückten Äußeren eines hohen und heiligen Amtes weltlicher Ehrgeiz,<br />

Gewalttat und niedrigste Sün<strong>de</strong>n!<br />

Der Heiland fuhr fort: „Der Größte unter euch soll euer <strong>Die</strong>ner sein. Denn wer sich selbst<br />

erhöht, <strong>de</strong>r wird erniedrigt; und wer sich selbst erniedrigt, <strong>de</strong>r wird erhöht.“ Matthäus 23,11.12.<br />

Christus wur<strong>de</strong> nicht mü<strong>de</strong> zu lehren, daß wahre Größe an sittlichen Maßstäben gemessen<br />

wer<strong>de</strong>n muß. In <strong>de</strong>r Beurteilung <strong>de</strong>s Himmels besteht charakterliche Größe darin, zum Wohle<br />

<strong>de</strong>r Mitmenschen zu leben und Taten <strong>de</strong>r Liebe und Barmherzigkeit zu vollbringen. Christus,<br />

<strong>de</strong>r König <strong>de</strong>r Herrlichkeit, war selbst ein <strong>Die</strong>ner <strong>de</strong>s gefallen Menschen. „Weh euch,<br />

Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr das Himmelreich zuschließet vor <strong>de</strong>n<br />

Menschen! Ihr gehet nicht hinein, und die hinein wollen, lasset ihr nicht<br />

hineingehen.“ Matthäus 23,13. Durch die falsche Auslegung <strong>de</strong>r Heiligen Schriften<br />

verblen<strong>de</strong>ten die Priester und Schriftgelehrten die Sinne <strong>de</strong>rer, die sonst die Erkenntnis über das<br />

Reich Gottes empfangen hätten sowie jenes innere, göttliche Leben, das zur wahren Heiligkeit<br />

unbedingt notwendig ist.<br />

„Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, die ihr <strong>de</strong>r Witwen Häuser fresset und verrichtet<br />

zum Schein lange Gebete! Darum wer<strong>de</strong>t ihr ein <strong>de</strong>sto schwereres Urteil empfangen.“ Matthäus<br />

23,14. <strong>Die</strong> Pharisäer übten großen Einfluß auf das Volk aus und zogen daraus Vorteile für ihre<br />

eigenen Interessen. Sie gewannen das Vertrauen frommer Witwen und stellten es diesen als eine<br />

Pflicht dar, ihr Eigentum religiösen Zielen zu weihen. Verfügten sie dann über das Vermögen<br />

dieser Frauen, verwandten die verschlagenen Ränkeschmie<strong>de</strong> es zu ihrem eigenen Nutzen. Um<br />

ihren Betrug zu vertuschen, sprachen sie öffentlich lange Gebete und trugen eine betonte<br />

Frömmigkeit zur Schau. <strong>Die</strong>se Heuchelei wür<strong>de</strong> ihnen, wie Jesus sagte, eine um so schwerere<br />

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<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Verurteilung einbringen. In gleicher Weise müssen aber auch in unseren Tagen viele geta<strong>de</strong>lt<br />

wer<strong>de</strong>n, die ihre Frömmigkeit wer weiß wie groß herausstellen. Ihr Leben ist von Selbstsucht<br />

und Habgier verunreinigt. Trotz<strong>de</strong>m über<strong>de</strong>cken sie alles mit <strong>de</strong>m Gewand scheinbarer Reinheit<br />

und können so eine Zeitlang ihre Mitmenschen täuschen. Doch Gott können sie nicht hinters<br />

Licht führen. Er kennt je<strong>de</strong> im Herzen verborgene Absicht und wird je<strong>de</strong>n Menschen nach<br />

seinen Taten richten.<br />

Schonungslos verurteilte Jesus alle Mißbräuche, ohne dabei die Verpflichtungen zu<br />

verringern, die das Gesetz <strong>de</strong>m Gläubigen auferlegt. Er ta<strong>de</strong>lte die Selbstsucht, die <strong>de</strong>r Witwen<br />

Gaben erpreßte und falsch verwen<strong>de</strong>te, gleichzeitig lobte er die Witwe, die ihre Gaben in die<br />

Schatzkammer Gottes brachte. Der Mißbrauch <strong>de</strong>r Opfergaben vermochte <strong>de</strong>m Geber <strong>de</strong>n<br />

Segen Gottes nicht zu rauben. Der Heiland stand im Vorhof in <strong>de</strong>r Nähe <strong>de</strong>s Gotteskastens und<br />

beobachtete, wie die Gläubigen ihre Gaben darbrachten. Viele <strong>de</strong>r wohlhaben<strong>de</strong>n brachten<br />

große Summen, die sie auffällig in <strong>de</strong>n Kasten legten. Der Herr sah sie traurig an, sagte jedoch<br />

nichts zu ihrem großzügigen Opfer. Als aber eine arme Witwe sich zögernd näherte, als fürchte<br />

sie, beobachtet zu wer<strong>de</strong>n, erhellte sich sein Angesicht. Als die Reichen und Hochmütigen<br />

vorübereilten, um ihre Gaben in <strong>de</strong>n Kasten zu legen, schreckte sie zurück, als ob es großen<br />

Mut kostete, sich weiter heranzuwagen. Dennoch verlangte es sie, für die Sache, die sie liebte,<br />

ebenfalls etwas zu geben, sei es auch noch so gering. <strong>Die</strong> Frau schaute auf die Münzen in ihrer<br />

Hand. Es war wenig im Vergleich zu <strong>de</strong>n Gaben <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren; doch es war alles, was sie besaß.<br />

Sie paßte eine günstige Gelegenheit ab, warf rasch ihre zwei Scherflein in <strong>de</strong>n Kasten und ging<br />

eilends davon. Dabei begegnete sie <strong>de</strong>m Blick Jesu, <strong>de</strong>r mit großem Ernst auf ihr ruhte.<br />

Jesus rief seine Jünger zu sich und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Armut <strong>de</strong>r Witwe.<br />

Dann sprach er die loben<strong>de</strong>n Worte: „Wahrlich, ich sage euch: <strong>Die</strong>se arme Witwe hat mehr in<br />

<strong>de</strong>n Gotteskasten gelegt als alle, die eingelegt haben.“ Markus 12,43. Freu<strong>de</strong>ntränen stan<strong>de</strong>n bei<br />

diesen Worten in <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>r armen Frau; sie fühlte ihre Tat verstan<strong>de</strong>n und gewürdigt.<br />

Viele wür<strong>de</strong>n ihr geraten haben, ihre kleine Gabe für sich zu behalten, da sie in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r<br />

wohlgenährten Priester unter <strong>de</strong>n vielen reichen Gaben, die in die Schatzkammer gebracht<br />

wur<strong>de</strong>n, nichts be<strong>de</strong>utete. Aber Jesus kannte ihr Herz. Sie glaubte, daß <strong>de</strong>r Tempeldienst von<br />

Gott eingesetzt war, und sie zeigte sich eifrig bestrebt, alles ihr mögliche zu tun, um ihn zu<br />

unterstützen. Weil sie tat, was sie konnte, wur<strong>de</strong> ihr Han<strong>de</strong>ln für alle Zeit ein Denkmal zu ihrem<br />

Gedächtnis. Sie hatte ihr Herz sprechen lassen. Ihre Gabe wur<strong>de</strong> nicht nach <strong>de</strong>m Wert <strong>de</strong>r<br />

Münze beurteilt, son<strong>de</strong>rn vielmehr nach <strong>de</strong>r Liebe zu Gott und <strong>de</strong>r Anteilnahme an seinem<br />

Werk, die sie ja zu jener Gabe veranlaßt hatte.<br />

Jesus sagte von <strong>de</strong>r armen Witwe, daß sie mehr als sie alle eingelegt habe. <strong>Die</strong> Reichen<br />

hatten von ihrem Überfluß gegeben, viele sogar lediglich aus <strong>de</strong>m Grun<strong>de</strong>, um von an<strong>de</strong>rn<br />

gesehen und geehrt zu wer<strong>de</strong>n. Ihre große Gabe hatte we<strong>de</strong>r ihrer Bequemlichkeit noch ihrem<br />

Überfluß Abbruch getan. Es war für sie kein wirkliches Opfer, und ihre Gabe hielt keinen<br />

Vergleich aus mit <strong>de</strong>m Scherflein <strong>de</strong>r Witwe.<br />

Das Motiv ist es, das für unsere Handlungen maßgebend ist; es bestimmt ihren Wert o<strong>de</strong>r<br />

Unwert. Nicht die großen Dinge, die je<strong>de</strong>s Auge sieht und je<strong>de</strong> Zunge lobt, nennt Gott die<br />

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<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

köstlichsten, son<strong>de</strong>rn es sind die kleinen, freudig erfüllten Pflichten, geringe,<br />

unauffällige Gaben, die menschlichen Augen wertlos dünken mögen, welche Gott oft am<br />

höchsten bewertet. Ein Herz voll Glauben und Liebe ist <strong>de</strong>m Herrn mehr wert als die kostbarste<br />

Gabe. <strong>Die</strong> arme Witwe gab mit <strong>de</strong>m wenigen, das sie brachte, „alles, wovon sie lebte“. Markus<br />

12,44. Sie verzichtete auf ihre Speise, um jene zwei Scherflein <strong>de</strong>r Sache beizusteuern, die sie<br />

liebte, und sie tat es im Glauben, darauf vertrauend, daß <strong>de</strong>r himmlische Vater sie in ihrer<br />

Armut nicht übersehen wer<strong>de</strong>. <strong>Die</strong>ser selbstlose Geist und dieser kindliche Glaube fan<strong>de</strong>n das<br />

Lob <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s.<br />

Es gibt viele Arme, die Gott gern ihre Dankbarkeit für seine Gna<strong>de</strong> und Wahrheit zum<br />

Ausdruck bringen wollen. Mit ihren wohlhaben<strong>de</strong>n Brü<strong>de</strong>rn vereinigen sie sich in <strong>de</strong>m<br />

Verlangen, das Werk Gottes zu unterstützen. <strong>Die</strong>se Seelen sollten nicht zurückgewiesen<br />

wer<strong>de</strong>n. Laßt sie ihre Scherflein in <strong>de</strong>r Bank <strong>de</strong>s Himmels anlegen. Wird aus einem liebevollen,<br />

gotterfüllten Herzen gegeben, dann wer<strong>de</strong>n diese scheinbaren Kleinigkeiten geheiligte,<br />

unschätzbare Opfergaben, die Gott wohlgefällig sind und die er segnet. Als Jesus von <strong>de</strong>r<br />

Witwe sagte, daß sie „mehr als sie alle eingelegt“ (Lukas 21,3) habe, waren seine Worte doppelt<br />

wahr. Nicht nur <strong>de</strong>r Beweggrund hatte das Opfer aufgewertet, son<strong>de</strong>rn auch die Wirkung <strong>de</strong>r<br />

Gabe. <strong>Die</strong> zwei Scherflein, die einen Heller ausmachten, brachten eine viel größere Summe in<br />

<strong>de</strong>n Gotteskasten als alle Beiträge <strong>de</strong>r reichen Ju<strong>de</strong>n. Der Einfluß jener kleinen Gabe ist wie ein<br />

Strom gewesen, <strong>de</strong>r, klein im Anfang, immer breiter und tiefer wur<strong>de</strong>, je länger er durch die<br />

Zeitalter dahinfloß. Auf vielerlei Weise hat das Beispiel <strong>de</strong>r selbstlosen Witwe zur<br />

Unterstützung <strong>de</strong>r Armen und zur Ausbreitung <strong>de</strong>s Evangeliums beigetragen und seine Wirkung<br />

und Rückwirkung auf Tausen<strong>de</strong> Herzen in allen Lan<strong>de</strong>n zu allen Zeiten gehabt. Sie hat Reiche<br />

und Arme beeinflußt, und <strong>de</strong>ren Opfer haben <strong>de</strong>n Wert ihrer Gabe anwachsen lassen. Der Segen<br />

Gottes, <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Scherflein <strong>de</strong>r Witwe ruhte, hat die kleine Gabe zu einer reichen Quelle<br />

gemacht. So ist es mit je<strong>de</strong>r Gabe, die gegeben, und mit je<strong>de</strong>r Handlung, die getan wird in <strong>de</strong>m<br />

aufrichtigen Verlangen, die Ehre Gottes zu mehren; <strong>de</strong>nn sie entsprechen <strong>de</strong>n Absichten <strong>de</strong>s<br />

Allmächtigen, und ihre segensreichen Folgen kann kein Mensch ermessen.<br />

Mit folgen<strong>de</strong>n Worten setzte <strong>de</strong>r Herr seine Anklagen gegen die Schriftgelehrten und<br />

Pharisäer fort: „Weh euch, ihr blin<strong>de</strong>n Führer, die ihr sagt: Wenn einer schwört bei <strong>de</strong>m<br />

Tempel, das gilt nicht; wenn aber einer schwört bei <strong>de</strong>m Gold am Tempel, das bin<strong>de</strong>t. Ihr<br />

Narren und Blin<strong>de</strong>n! Was ist größer: das Gold o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Tempel, <strong>de</strong>r das Gold heiligt? O<strong>de</strong>r:<br />

Wenn einer schwört bei <strong>de</strong>m Altar, das gilt nicht; wenn aber einer schwört bei <strong>de</strong>m Opfer, das<br />

darauf ist, das bin<strong>de</strong>t. Ihr Blin<strong>de</strong>n! Was ist größer: das Opfer o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Altar, <strong>de</strong>r das Opfer<br />

heiligt?“ Matthäus 23,16-19. <strong>Die</strong> Priester legten Gottes For<strong>de</strong>rungen nach ihren eigenen<br />

falschen und beengten Begriffen aus. So erkühnten sie sich, spitzfindige Unterschie<strong>de</strong> im<br />

Hinblick auf die jeweilige Höhe <strong>de</strong>r Schuld bei verschie<strong>de</strong>nen Sün<strong>de</strong>n aufzustellen. Dabei<br />

gingen sie über einige Sün<strong>de</strong>n leicht hinweg und stellten an<strong>de</strong>re, die mitunter weniger<br />

ver<strong>de</strong>rbliche Folgen zeitigten, als unvergebbar hin. Für eine finanzielle Gegenleistung<br />

entban<strong>de</strong>n sie zum Beispiel jeman<strong>de</strong>n von einem bereits geleisteten Eid. Für entsprechend<br />

höhere Geldsummen waren sie manchmal sogar bereit, weit schlimmere Verbrechen zu dul<strong>de</strong>n.<br />

419


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Zur gleichen Zeit aber verhängten dieselben Priester und Obersten in an<strong>de</strong>ren Fällen harte<br />

Strafen für unbe<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Übertretungen.<br />

„Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr verzehntet Minze, Dill und<br />

Kümmel und lasset dahinten das Wichtigste im Gesetz, nämlich das Recht, die Barmherzigkeit<br />

und <strong>de</strong>n Glauben! <strong>Die</strong>s sollte man tun und jenes nicht lassen.“ Matthäus 23,23. Der Heiland<br />

verurteilt hier noch einmal <strong>de</strong>n Mißbrauch heiliger Verpflichtungen. <strong>Die</strong> Verpflichtung selbst<br />

ließ er bestehen. <strong>Die</strong> Gabe <strong>de</strong>s Zehnten war von Gott eingesetzt, sie ist von <strong>de</strong>n frühesten Zeiten<br />

an eingehalten wor<strong>de</strong>n. Abraham, <strong>de</strong>r Vater <strong>de</strong>r Gläubigen, bezahlte <strong>de</strong>n Zehnten von allem,<br />

was er hatte. Auch die jüdischen Obersten anerkannten zu Recht die Pflicht, <strong>de</strong>n Zehnten zu<br />

geben; sie ließen jedoch das Volk nicht nach eigener Überzeugung han<strong>de</strong>ln. Für je<strong>de</strong>n Fall<br />

hatten sie willkürlich Regeln aufgestellt, und die For<strong>de</strong>rungen waren so erschwert wor<strong>de</strong>n, daß<br />

es <strong>de</strong>m Volke unmöglich war, sie zu erfüllen; niemand wußte, wann er seinen Verpflichtungen<br />

nachkam. Gottes Gebot, wie er es gegeben hatte, war gerecht und vernünftig, aber die Priester<br />

und Rabbiner hatten es zu einer Last gemacht.<br />

Je<strong>de</strong> göttliche Verordnung ist be<strong>de</strong>utungsvoll. Jesus betrachtete das geben <strong>de</strong>s Zehnten als<br />

selbstverständliche Verpflichtung, machte aber darauf aufmerksam, daß es keineswegs die<br />

Vernachlässigung an<strong>de</strong>rer Pflichten entschuldige. <strong>Die</strong> Pharisäer waren sehr genau im<br />

Verzehnten <strong>de</strong>r Gartenkräuter, wie Minze, Dill und Raute. <strong>Die</strong>s kostete sie wenig, verschaffte<br />

ihnen aber <strong>de</strong>n Ruf <strong>de</strong>r Genauigkeit und Frömmigkeit; gleichzeitig aber setzten sie das Volk mit<br />

ihren nutzlosen Einschränkungen unter Druck und zerstörten die Achtung vor <strong>de</strong>r Heiligkeit <strong>de</strong>r<br />

göttlichen Ordnung. Sie beschäftigten die Sinne <strong>de</strong>r Menschen mit unbe<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n<br />

Unterscheidungen und lenkten dadurch die Aufmerksamkeit von wichtigen Wahrheiten ab. <strong>Die</strong><br />

schwerwiegendsten Dinge <strong>de</strong>s Gesetzes — Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Glaube —<br />

wur<strong>de</strong>n übersehen. Darum sagte Jesus mit Recht, das eine solle man tun und das an<strong>de</strong>re nicht<br />

lassen.<br />

Noch an<strong>de</strong>re Gesetze waren von <strong>de</strong>n Rabbinern in ähnlicher Weise entstellt wor<strong>de</strong>n. So war<br />

es in <strong>de</strong>n durch Mose gegebenen Verordnungen verboten, etwas unreines zu essen. Darunter fiel<br />

<strong>de</strong>r Genuß <strong>de</strong>s Fleisches von Schweinen und bestimmten an<strong>de</strong>ren Tieren, da dadurch offenbar<br />

das Blut verunreinigt und das Leben verkürzt wür<strong>de</strong>. <strong>Die</strong> Pharisäer beließen es aber nicht bei<br />

<strong>de</strong>n Beschränkungen, die Gott ihnen geboten hatte, son<strong>de</strong>rn übertrieben die Erfüllung <strong>de</strong>r<br />

göttlichen Verordnungen in ungerechtfertigter Weise. Unter an<strong>de</strong>rem mußten die Leute alles<br />

Wasser vor <strong>de</strong>m Gebrauch seihen, damit nicht das kleinste Ungeziefer darin verbliebe, das<br />

eventuell zu <strong>de</strong>n unreinen Tieren gehöre. Der Heiland verglich diese Kleinlichkeitskrämerei mit<br />

<strong>de</strong>r Größe ihrer wirklichen Sün<strong>de</strong>n und sagte zu <strong>de</strong>n Pharisäern: „Ihr blin<strong>de</strong>n Führer, die ihr<br />

Mücken seihet und Kamele verschluckt!“ Matthäus 23,24.<br />

„Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr seid gleichwie die<br />

übertünchten Gräber, welche auswendig hübsch scheinen, aber inwendig sind sie voller<br />

Totengebeine und lauter Unrat!“ Matthäus 23,27. Wie die übertünchten und schön<br />

geschmückten Gräber die verwesen<strong>de</strong>n Überreste verbargen, so lag hinter <strong>de</strong>r äußeren<br />

Heiligkeit <strong>de</strong>r Priester und Obersten ihre Sündhaftigkeit verborgen. Jesus fuhr fort: „Weh euch,<br />

420


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr <strong>de</strong>n Propheten Grabmäler bauet und<br />

schmücket <strong>de</strong>r Gerechten Gräber und sprecht: Wären wir zu unsrer Väter Zeiten gewesen, so<br />

wären wir nicht mit ihnen schuldig gewor<strong>de</strong>n an <strong>de</strong>r Propheten Blut! So gebt ihr über euch<br />

selbst Zeugnis, daß ihr Kin<strong>de</strong>r seid <strong>de</strong>rer, die die Propheten getötet haben.“ Matthäus 23,29-31.<br />

Um ihre Wertschätzung <strong>de</strong>r verstorbenen Propheten zu zeigen, waren die Ju<strong>de</strong>n eifrig<br />

bemüht, <strong>de</strong>ren Gräber zu verschönern; dabei beherzigten sie we<strong>de</strong>r ihre Lehren, noch<br />

beachteten sie ihre Zurechtweisungen. Zur Zeit <strong>Christi</strong> zollte man <strong>de</strong>n Ruhestätten <strong>de</strong>r Toten<br />

eine abergläubische Achtung; große Geldsummen wur<strong>de</strong>n für ihre Ausschmückung verwen<strong>de</strong>t.<br />

Vor Gott war das Götzendienst; <strong>de</strong>nn in ihrer übertriebenen Verehrung <strong>de</strong>r Toten zeigten die<br />

Menschen, daß sie Gott nicht über alles liebten noch ihren Nächsten wie sich selbst. Solche<br />

Übertreibungen in <strong>de</strong>r Totenverehrung fin<strong>de</strong>n wir in noch größerem Umfang auch heute. Viele<br />

vernachlässigen die Witwen und Waisen, die Kranken und Armen, nur um <strong>de</strong>n Toten kostbare<br />

Ge<strong>de</strong>nksteine setzen zu können. Zeit, Geld und Arbeit wer<strong>de</strong>n hierfür bereitwillig gegeben,<br />

während die Pflichten gegen die Leben<strong>de</strong>n — Aufgaben, die Christus <strong>de</strong>utlich eingeschärft<br />

hatte — versäumt wer<strong>de</strong>n.<br />

<strong>Die</strong> Pharisäer bauten <strong>de</strong>r Propheten Grabstätten, schmückten <strong>de</strong>ren Gräber und sagten<br />

zueinan<strong>de</strong>r: Wenn wir in <strong>de</strong>n Tagen unserer Väter gelebt hätten, wür<strong>de</strong>n wir uns nicht mit ihnen<br />

vereint haben, das Blut <strong>de</strong>r <strong>Die</strong>ner Gottes zu vergießen. Und doch planten sie zur gleichen Zeit,<br />

das Leben <strong>de</strong>s Sohnes Gottes zu vernichten. Das sollte uns eine Lehre sein und uns die Augen<br />

öffnen, die Macht Satans zu erkennen, welche alle Menschen täuscht, die sich von <strong>de</strong>m Licht<br />

<strong>de</strong>r Wahrheit abwen<strong>de</strong>n. Viele folgen <strong>de</strong>n Wegen <strong>de</strong>r Pharisäer. Sie ehren die Menschen, die<br />

um ihres Glaubens willen gestorben sind; sie wun<strong>de</strong>rn sich über die Blindheit <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n, die<br />

Jesus verwarfen, und erklären: Hätten wir zu seiner Zeit gelebt, wür<strong>de</strong>n wir seine Lehren mit<br />

Freu<strong>de</strong>n angenommen haben; wir wären niemals mit jenen schuldig gewor<strong>de</strong>n, die ihn<br />

verwarfen. Wenn aber <strong>de</strong>r Gehorsam gegen Gott Demütigung und Selbstverleugnung erfor<strong>de</strong>rt,<br />

dann sind es gera<strong>de</strong> diese Menschen, die ihre Überzeugung verleugnen und <strong>de</strong>n Gehorsam<br />

verweigern und dadurch <strong>de</strong>n gleichen Geist bekun<strong>de</strong>n wie einst die Pharisäer, die Christus<br />

verurteilten.<br />

Wie wenig erkannten die Ju<strong>de</strong>n die furchtbare Verantwortung, die sie mit <strong>de</strong>r Verwerfung<br />

Jesu auf sich nahmen! Seit <strong>de</strong>r Zeit, da erstmals unschuldiges Blut vergossen wur<strong>de</strong>, als <strong>de</strong>r<br />

gerechte Abel durch die Hand Kains fiel, hat sich das gleiche Geschehen mit wachsen<strong>de</strong>r<br />

Schuld wie<strong>de</strong>rholt. Zu je<strong>de</strong>r Zeit haben treue Verkündiger Gottes ihre Stimme gegen die<br />

Sün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Könige, <strong>de</strong>r Obersten und <strong>de</strong>s Volkes erhoben, in<strong>de</strong>m sie sprachen, was Gott ihnen<br />

geboten hatte. Unter Einsatz ihres Lebens gehorchten sie seinem Willen. Von Geschlecht zu<br />

Geschlecht hat sich das schreckliche Strafmaß über die Verleugner <strong>de</strong>s Lichtes und <strong>de</strong>r<br />

Wahrheit angehäuft. <strong>Die</strong>s wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>n Fein<strong>de</strong>n <strong>Christi</strong> nun auf sie selbst herabbeschworen.<br />

<strong>Die</strong> Sün<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Priester und Obersten war größer als die irgen<strong>de</strong>ines an<strong>de</strong>ren Geschlechtes; <strong>de</strong>nn<br />

durch die Verwerfung Jesu hafteten sie für das Blut aller erschlagenen Gerechten von Abel bis<br />

zu Christus. Sie stan<strong>de</strong>n im Begriff, <strong>de</strong>n Kelch ihrer Missetaten zum Überlaufen zu bringen.<br />

421


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Bald wür<strong>de</strong> dieser in vergelten<strong>de</strong>r Gerechtigkeit über ihrem Haupt ausgegossen wer<strong>de</strong>n. Jesus<br />

warnte sie davor:<br />

„Auf daß über euch komme all das gerechte Blut, das vergossen ist auf Er<strong>de</strong>n, von <strong>de</strong>m Blut<br />

<strong>de</strong>s gerechten Abel an bis auf das Blut <strong>de</strong>s Zacharias, <strong>de</strong>s Sohnes Barachjas, welchen ihr getötet<br />

habt zwischen Tempel und Altar. Wahrlich, ich sage euch, daß solches alles wird über dies<br />

Geschlecht kommen.“ Matthäus 23,35.36. <strong>Die</strong> Schriftgelehrten und Pharisäer, die <strong>de</strong>m Herrn<br />

zuhörten, wußten, daß er die Wahrheit sprach. Sie wußten, wie <strong>de</strong>r Prophet Zacharias getötet<br />

wor<strong>de</strong>n war. Während er die Warnungsbotschaft Gottes verkündigte, ergriff <strong>de</strong>n abtrünnigen<br />

König satanische Wut, und auf seinen Befehl hin wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Prophet getötet. Sein Blut hatte auf<br />

<strong>de</strong>n Steinen <strong>de</strong>s Tempelhofes unaustilgbare Spuren hinterlassen und zeugte gegen das<br />

abgefallene Israel. Solange <strong>de</strong>r Tempel stän<strong>de</strong>, wür<strong>de</strong>n die Spuren <strong>de</strong>s Blutes dieses Gerechten<br />

zu Gott um Rache schreien. Als Jesus auf die schrecklichen Folgen dieser Sün<strong>de</strong>n hinwies,<br />

wur<strong>de</strong> die Menge von Schau<strong>de</strong>r ergriffen.<br />

Der Heiland aber weissagte ferner, daß die Unbußfertigkeit <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n und ihre<br />

Unduldsamkeit gegen die <strong>Die</strong>ner Gottes unverän<strong>de</strong>rt fortbestehen wür<strong>de</strong>n. Er sagte: „Darum<br />

siehe, ich sen<strong>de</strong> zu euch Propheten und Weise und Schriftgelehrte; und <strong>de</strong>ren wer<strong>de</strong>t ihr etliche<br />

töten und kreuzigen, und etliche wer<strong>de</strong>t ihr geißeln in euren Synagogen und wer<strong>de</strong>t sie<br />

verfolgen von einer Stadt zu <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rn.“ Matthäus 23,34. Propheten und weise Männer, voll<br />

Glaubens und voll Heiligen Geistes — Stephanus, Jakobus und viele an<strong>de</strong>re —, wür<strong>de</strong>n<br />

verurteilt und getötet wer<strong>de</strong>n. Mit zum Himmel emporgestreckter Hand sprach Christus, von<br />

göttlichem Licht umhüllt, als Richter zu jenen, die vor ihm stan<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> Stimme, die so oft<br />

gütig und bittend geklungen hatte, sprach jetzt ta<strong>de</strong>lnd und verurteilend, so daß die Zuhörer<br />

angstvoll erbebten. Niemals wür<strong>de</strong>n sie <strong>de</strong>n Eindruck seiner Worte und seinen Flammenblick<br />

aus ihrem Gedächtnis auslöschen können!<br />

<strong>Die</strong> Entrüstung <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s richtete sich gegen die Heuchelei, die groben Sün<strong>de</strong>n, durch<br />

die die Menschen ihre Seele verdarben, das Volk verführten und Gott entehrten. Er erkannte in<br />

<strong>de</strong>n nur auf Scheingrün<strong>de</strong>n beruhen<strong>de</strong>n, trügerischen Beweisführungen <strong>de</strong>r Priester und<br />

Obersten das Wirken satanischer Kräfte. Scharf und durchdringend prangerte er die Sün<strong>de</strong> an,<br />

ohne ein Wort von Vergeltung zu sprechen. Er hatte einen heiligen Zorn gegen <strong>de</strong>n Fürsten <strong>de</strong>r<br />

Finsternis; aber er zeigte sich nicht in gereizter Stimmung. So wird auch <strong>de</strong>r Christ, <strong>de</strong>r in<br />

Einklang mit Gott lebt und Liebe und Barmherzigkeit besitzt, eine gerechte Entrüstung gegen<br />

die Sün<strong>de</strong> empfin<strong>de</strong>n; aber er wird sich nicht aufreizen lassen, jene zu schelten, die ihn<br />

schmähen. Selbst wenn er mit solchen Menschen zusammentrifft, die von einer satanischen<br />

Macht bewegt wer<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>r Lüge dienen, wird er noch immer Ruhe und Selbstbeherrschung<br />

bewahren.<br />

Göttliches Mitleid überwältigte <strong>de</strong>n Heiland, als er seinen Blick über <strong>de</strong>n Tempel und über<br />

seine Zuhörer gleiten ließ. Mit vor tiefer Herzensangst und bitteren Tränen fast erstickter<br />

Stimme rief er aus: „Jerusalem, Jerusalem, die du tötest die Propheten und steinigst, die zu dir<br />

gesandt sind! Wie oft habe ich <strong>de</strong>ine Kin<strong>de</strong>r versammeln wollen, wie eine Henne versammelt<br />

ihre Küchlein unter ihre Flügel; und ihr habt nicht gewollt!“ Matthäus 23,37. Aus <strong>Christi</strong> Klage<br />

422


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

spricht Gottes Barmherzigkeit. Sie ist das geheimnisvolle Abschiedswort seiner langmütigen<br />

Liebe. <strong>Die</strong> Pharisäer und Sadduzäer waren zum Schweigen gebracht. Der Herr rief seine Jünger<br />

und verließ <strong>de</strong>n Tempel. Er ging nicht als besiegter o<strong>de</strong>r als ein durch die Gegenwart seiner<br />

Wi<strong>de</strong>rsacher Bezwungener, son<strong>de</strong>rn als einer, <strong>de</strong>ssen Werk vollen<strong>de</strong>t war. Er verließ als Sieger<br />

diesen Streit.<br />

<strong>Die</strong> Perlen <strong>de</strong>r Wahrheit, die Jesus an jenem ereignisreichen Tag ausgeteilt hatte, wur<strong>de</strong>n in<br />

manchem Herzen treu bewahrt. Neue Gedanken bil<strong>de</strong>ten sich, neues Streben wur<strong>de</strong> erweckt,<br />

und ein neues Erleben begann. <strong>Die</strong>se Bekenner Jesu traten nach <strong>de</strong>r Kreuzigung und<br />

Auferstehung <strong>Christi</strong> öffentlich hervor und erfüllten ihren göttlichen Auftrag mit einer Weisheit<br />

und einem Eifer, die <strong>de</strong>r Größe ihrer Aufgabe entsprachen. Sie trugen eine Botschaft, die zu <strong>de</strong>n<br />

Herzen <strong>de</strong>r Menschen sprach und die die alten abergläubischen Gewohnheiten schwächte,<br />

welche das Leben Tausen<strong>de</strong>r lange Zeit nie<strong>de</strong>rgehalten hatten. Vor ihrem Zeugnis wur<strong>de</strong>n<br />

menschliche Lehren und Philosophien eitle Fabeln. Machtvoll wirkten die Worte <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s,<br />

die er zu jener verwun<strong>de</strong>rten und erschütterten Menge im Tempel zu Jerusalem gesprochen<br />

hatte.<br />

Israel als Volk aber hatte sich von Gott getrennt. <strong>Die</strong> natürlichen Zweige <strong>de</strong>s Ölbaumes<br />

waren abgebrochen. In<strong>de</strong>m er einen letzten Blick in das Innere <strong>de</strong>s Tempels warf, sprach Jesus<br />

mit trauriger Stimme: „Siehe, euer Haus soll euch wüste gelassen wer<strong>de</strong>n. Denn ich sage euch:<br />

Ihr wer<strong>de</strong>t mich von jetzt an nicht sehen, bis ihr sprecht: Gelobt sei, <strong>de</strong>r da kommt im Namen<br />

<strong>de</strong>s Herrn!“ Matthäus 23,38.39. Bisher hatte er <strong>de</strong>n Tempel seines Vaters Haus genannt; doch<br />

jetzt, da er als <strong>de</strong>r Sohn Gottes jene Mauern verlassen sollte, wür<strong>de</strong> sich Gottes Gegenwart für<br />

immer von <strong>de</strong>m zu seiner Herrlichkeit erbauten Tempel zurückziehen. Künftig wür<strong>de</strong>n seine<br />

Zeremonien ohne Be<strong>de</strong>utung sein und seine Gottesdienste nur noch Schein.<br />

423


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 68: Im Vorhof <strong>de</strong>s Tempels<br />

„Es waren aber etliche Griechen unter <strong>de</strong>nen, die hinaufgekommen waren, daß sie anbeteten<br />

auf <strong>de</strong>m Fest. <strong>Die</strong> traten zu Philippus, <strong>de</strong>r von Bethsaida aus Galiläa war, baten ihn und<br />

sprachen: Herr, wir wollten Jesus gerne sehen. Philippus kommt und sagt‘s Andreas, und<br />

Philippus und Andreas sagten‘s Jesus weiter.“ Johannes 12,20-22. Es schien, als ob <strong>Christi</strong><br />

Werk zu dieser Zeit eine empfindliche Nie<strong>de</strong>rlage erlitten hätte. Christus war aus <strong>de</strong>m<br />

Wortstreit mit <strong>de</strong>n Priestern und Pharisäern wohl als Sieger hervorgegangen, doch es war<br />

offensichtlich, daß er von ihnen nie als Messias anerkannt wür<strong>de</strong>. <strong>Die</strong> Trennung war endgültig;<br />

<strong>de</strong>n Jüngern schien die Lage hoffnungslos. Jesus aber näherte sich <strong>de</strong>r Vollendung seines<br />

Werkes. Das große Ereignis, das nicht nur das jüdische Volk, son<strong>de</strong>rn die ganze Welt betraf,<br />

stand nahe bevor. Als <strong>de</strong>r Heiland die eifrig vorgetragene Bitte: „Wir wollten Jesus gerne<br />

sehen“ vernahm und in ihr das sehnsüchtige Verlangen <strong>de</strong>r ganzen Welt ausgedrückt fand,<br />

erhellte sich sein Angesicht, und er sagte: „<strong>Die</strong> Zeit ist gekommen, daß <strong>de</strong>s Menschen Sohn<br />

verherrlicht wer<strong>de</strong>.“ Johannes 12,23. In <strong>de</strong>m Verlangen <strong>de</strong>r Griechen erkannte er einen ersten<br />

Hinweis auf die außeror<strong>de</strong>ntliche Wirkung seines großen Opfers.<br />

Wie einst die Weisen aus <strong>de</strong>m Morgenland am Anfang seines irdischen Lebens zu Christus<br />

gekommen waren, so kamen jetzt am En<strong>de</strong> seines Lebens die Männer aus <strong>de</strong>m Westen. Zur Zeit<br />

<strong>de</strong>r Geburt <strong>Christi</strong> waren die Ju<strong>de</strong>n so sehr von ihren ehrgeizigen Plänen erfüllt, daß sie nichts<br />

von seiner Ankunft wußten. <strong>Die</strong> Weisen aus einem heidnischen Lan<strong>de</strong> mußten mit ihren<br />

Geschenken zur Krippe kommen, um <strong>de</strong>n Heiland anzubeten. Ebenso kamen jetzt die Griechen<br />

als Vertreter <strong>de</strong>r Völker <strong>de</strong>r Welt, um Jesus zu sehen. Auf die gleiche Weise wür<strong>de</strong>n die<br />

Menschen aller Län<strong>de</strong>r und aller Zeiten durch das Kreuz <strong>Christi</strong> angezogen wer<strong>de</strong>n. „Viele<br />

wer<strong>de</strong>n kommen vom Osten und vom Westen und mit Abraham und Isaak und Jakob im<br />

Himmelreich sitzen.“ Matthäus 8,11.<br />

<strong>Die</strong> Griechen hatten von Jesu triumphalen Einzug in Jerusalem gehört. Manche nahmen an<br />

— und sie hatten dieses Gerücht auch verbreitet —, daß Jesus die Priester und Obersten aus<br />

<strong>de</strong>m Tempel gejagt und von <strong>de</strong>m Thron Davids Besitz ergriffen hätte und nun als König über<br />

Israel herrsche. <strong>Die</strong> Griechen wollten sich jetzt über diesen Jesus und seine Mission Gewißheit<br />

verschaffen. „Wir wollten Jesus gerne sehen“, sagten sie. Ihr Wunsch wur<strong>de</strong> erfüllt. Als Jesus<br />

von <strong>de</strong>m Verlangen <strong>de</strong>r Griechen erfuhr, befand er sich gera<strong>de</strong> in jenem Teil <strong>de</strong>s Tempels, in<br />

<strong>de</strong>m sich nur Ju<strong>de</strong>n aufhalten durften, doch er ging hinaus in <strong>de</strong>n Vorhof und sprach dort mit<br />

ihnen.<br />

<strong>Die</strong> Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Verherrlichung <strong>Christi</strong> war gekommen. Er stand bereits im Schatten <strong>de</strong>s<br />

Kreuzes, und das Verlangen <strong>de</strong>r Griechen bestätigte ihm, daß durch das Opfer seines Lebens<br />

viele Seelen für Gott gewonnen wür<strong>de</strong>n. Er wußte auch, daß die Griechen ihn bald in einer Lage<br />

sehen wür<strong>de</strong>n, wie sie es niemals vermutet hätten; sie wür<strong>de</strong>n ihn bald neben Barabbas, einem<br />

Räuber und Mör<strong>de</strong>r, erblicken, <strong>de</strong>n man sogar ihm noch vorzöge. Sie wür<strong>de</strong>n auch hören, wie<br />

das von <strong>de</strong>n Priestern und Obersten beeinflußte Volk seine Wahl träfe und auf die Frage <strong>de</strong>s<br />

Pilatus: „Was soll ich <strong>de</strong>nn machen mit Jesus?“ antwortete: „Laß ihn kreuzigen!“ Matthäus<br />

424


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

27,22. Der Herr wußte aber auch, daß durch dieses Sühneopfer für die Sün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Welt sein<br />

Reich vollen<strong>de</strong>t und über alle Völker ausge<strong>de</strong>hnt, daß er als Welterneuerer wirken und sein<br />

Geist endlich siegen wür<strong>de</strong>. Für einen Augenblick schaute er in die Zukunft und hörte Stimmen<br />

in allen Teilen <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> ausrufen: „Siehe, das ist Gottes Lamm, welches <strong>de</strong>r Welt Sün<strong>de</strong><br />

trägt!“ Johannes 1,29. Er sah in diesen Fremdlingen das Unterpfand einer großen Ernte, wenn<br />

die Schei<strong>de</strong>wand zwischen Ju<strong>de</strong>n und Hei<strong>de</strong>n nie<strong>de</strong>rgerissen wür<strong>de</strong> und alle Geschlechter,<br />

Sprachen und Zungen die Botschaft vom Reich hörten. <strong>Die</strong>se Erwartung, dieses Ziel seiner<br />

Hoffnungen fand seinen Ausdruck in <strong>de</strong>n Worten: „<strong>Die</strong> Zeit ist gekommen, daß <strong>de</strong>s Menschen<br />

Sohn verherrlicht wer<strong>de</strong>.“ Johannes 12,23. <strong>Die</strong> Art und Weise dieser Verherrlichung war ihm<br />

durchaus bewußt. Das Einsammeln <strong>de</strong>r Hei<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong> nach seinem To<strong>de</strong> beginnen; nur durch<br />

sein Opfer am Kreuz konnte die Welt erlöst wer<strong>de</strong>n. Gleich <strong>de</strong>m Weizenkorn mußte <strong>de</strong>s<br />

Menschen Sohn in die Er<strong>de</strong> gelegt wer<strong>de</strong>n, sterben und begraben wer<strong>de</strong>n, um wie<strong>de</strong>rum zu<br />

leben.<br />

Christus sprach über seine Zukunft; dabei stütze er sich auf Beispiele aus <strong>de</strong>r Natur, damit<br />

die Jünger verstehen sollten, daß die wahre Frucht seines Werkes nur durch seinen Tod reifen<br />

konnte. „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Er<strong>de</strong> fällt und<br />

erstirbt, so bleibt‘s allein; wenn es aber erstirbt, so bringt es viel Frucht.“ Johannes 12,24. Wenn<br />

das Weizenkorn in die Er<strong>de</strong> fällt und stirbt, geht es auf und bringt seine Frucht. So wür<strong>de</strong> auch<br />

<strong>de</strong>r Tod <strong>Christi</strong> Frucht tragen für das Reich Gottes. In Übereinstimmung mit <strong>de</strong>n<br />

Gesetzmäßigkeiten <strong>de</strong>s Pflanzenreiches ist das Leben die Frucht <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s <strong>Christi</strong>. Ein<br />

Landmann ist sich dieses natürlichen Vorganges stets bewußt. Jahr für Jahr bewahrt er sich<br />

einen Kornvorrat, in<strong>de</strong>m er scheinbar <strong>de</strong>n ausgesuchtesten Teil wegwirft. Eine Zeitlang muß<br />

das Korn im Acker verborgen wer<strong>de</strong>n, wo <strong>de</strong>r Herr selbst es bewacht. Dann erst sprießt <strong>de</strong>r<br />

Halm; die Ähre bil<strong>de</strong>t sich und in ihr schließlich die Frucht. <strong>Die</strong>se Entwicklung aber geschieht<br />

erst, wenn das Korn — unseren Augen entzogen — in <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> verborgen wird und damit<br />

anscheinend verlorengeht.<br />

<strong>Die</strong> ausgestreute Saat bringt Frucht, die dann aufs neue <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> anvertraut wird. Auf diese<br />

Weise wird die Ernte ständig vervielfältigt. So bringt auch <strong>Christi</strong> Tod Frucht zum ewigen<br />

Leben. Den Menschen, die dank <strong>de</strong>s Opfers <strong>Christi</strong> ewig leben wer<strong>de</strong>n, wird das Nachsinnen<br />

über das für sie gebrachte Opfer Herrlichkeit be<strong>de</strong>uten. Das Weizenkorn, das sein eigenes<br />

Leben behält, kann keine Frucht bringen; es wird allein bleiben. Christus konnte sich, wenn er<br />

wollte, vor <strong>de</strong>m Tod bewahren; dann wür<strong>de</strong> er aber auch allein bleiben müssen und könnte nicht<br />

Söhne und Töchter zu Gott bringen. Nur durch die Dahingabe seines Lebens konnte er <strong>de</strong>r<br />

Menschheit Leben schenken; nur dadurch, daß er in die Er<strong>de</strong> sank und starb, konnte er <strong>de</strong>r<br />

Same jener reichen Ernte wer<strong>de</strong>n, die aus allen Völkern, Geschlechtern, Sprachen und Zungen<br />

für Gott erkauft wird.<br />

Mit dieser Wahrheit verbin<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r Herr die Lehre von <strong>de</strong>r Selbstaufopferung, die alle lernen<br />

sollten: „Wer sein Leben liebhat, <strong>de</strong>r wird‘s verlieren; und wer sein Leben auf dieser Welt<br />

hasset, <strong>de</strong>r wird‘s erhalten zum ewigen Leben.“ Johannes 12,25. Je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r als Mitarbeiter<br />

<strong>Christi</strong> Frucht bringen will, muß erst in die Er<strong>de</strong> fallen und „sterben“; das Leben muß in die<br />

425


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Ackerfurche <strong>de</strong>r Weltnot geworfen wer<strong>de</strong>n, und Selbstliebe und Eigensucht müssen absterben.<br />

Das Gesetz <strong>de</strong>r Selbstaufopferung ist das Gesetz <strong>de</strong>r Selbsterhaltung. Der Landmann erhält sein<br />

Korn, in<strong>de</strong>m er es fortwirft und <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> anvertraut; so ist es auch im menschlichen Leben.<br />

Geben heißt leben! Das Leben, das erhalten bleibt, ist das Leben, welches freiwillig in <strong>de</strong>n<br />

<strong>Die</strong>nst Gottes und <strong>de</strong>r Menschen gestellt wird. Wer um <strong>Christi</strong> willen sein Leben in dieser Welt<br />

opfert, wird es für das ewige Leben bewahren.<br />

Das eigennützige Leben gleicht <strong>de</strong>m Korn, das gegessen wird; es verschwin<strong>de</strong>t, aber es<br />

vermehrt sich nicht. Ein Mensch mag dauernd für sich schaffen und sammeln; er mag für sich<br />

planen und <strong>de</strong>nken — sein Leben wird vergehen und wird ihm nichts gebracht haben. Das<br />

Gesetz <strong>de</strong>s Sich-selbst-<strong>Die</strong>nens ist im geistlichen Leben das Gesetz <strong>de</strong>r<br />

Selbstvernichtung. „Wer mir dienen will“, sagte Jesus, „<strong>de</strong>r folge mir nach; und wo ich bin, da<br />

soll mein <strong>Die</strong>ner auch sein. Und wer mir dienen wird, <strong>de</strong>n wird mein Vater ehren.“ Johannes<br />

12,26. Alle, die mit <strong>de</strong>m Herrn das Kreuz <strong>de</strong>r Hingabe getragen haben, wer<strong>de</strong>n auch an seiner<br />

Herrlichkeit teilhaben. Es war <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s Freu<strong>de</strong> in seiner Erniedrigung und in seinem<br />

Schmerz, daß seine Jünger mit ihm verherrlicht wür<strong>de</strong>n. Sie sind die Frucht seiner<br />

Selbstaufopferung. <strong>Die</strong> Bekundung seines Wesens und seines Geistes im Leben <strong>de</strong>r Jünger ist<br />

sein Lohn und wird in Ewigkeit seine Freu<strong>de</strong> sein. <strong>Die</strong>se Freu<strong>de</strong> teilen sie mit ihm, wenn sich<br />

die Frucht ihrer Arbeit und ihres Opfers im Leben und in <strong>de</strong>n Herzen an<strong>de</strong>rer zeigt. Sie sind <strong>de</strong>s<br />

Herrn Mitarbeiter, und Gott wird sie ehren, wie er seinen Sohn ehrt.<br />

Durch die Botschaft <strong>de</strong>r Griechen, die die Einsammlung aller Hei<strong>de</strong>n ankündigte, wur<strong>de</strong><br />

Jesus an seine Sendung erinnert. Das ganze Erlösungswerk von <strong>de</strong>r Zeit an, da es im Himmel<br />

geplant wur<strong>de</strong>, bis zu seinem baldigen To<strong>de</strong> auf Golgatha zog an seinem geistigen Auge<br />

vorüber. Eine geheinnisvolle Wolke, <strong>de</strong>ren Schatten alle Umstehen<strong>de</strong>n bemerkten, schien <strong>de</strong>n<br />

Sohn Gottes einzuhüllen, während er selbst gedankenverloren dasaß. Schließlich unterbrach er<br />

das Schweigen mit trauriger Stimme: „Jetzt ist meine Seele betrübt. Und was soll ich sagen?<br />

Vater, hilf mir aus dieser Stun<strong>de</strong>?“ Johannes 12,27. Der Heiland schmeckte schon <strong>de</strong>n bitteren<br />

Kelch, und das Menschliche in ihm schreckte zurück vor <strong>de</strong>r Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Verlassenseins, da er<br />

allem Anschein nach selbst von Gott verlassen sein wür<strong>de</strong>, und wenn alle ihn sähen —<br />

gezüchtigt, von Gott verworfen, nie<strong>de</strong>rgeschlagen. Er schreckte zurück vor <strong>de</strong>r öffentlichen<br />

Bloßstellung, davor, als schlimmster Verbrecher angesehen zu wer<strong>de</strong>n, und vor einem<br />

schmachvollen und unehrenhaften Tod. Eine Ahnung von <strong>de</strong>m Kampf mit <strong>de</strong>n Mächten <strong>de</strong>r<br />

Finsternis, ein Gefühl für die furchtbare Last aller menschlichen Übertretungen und für <strong>de</strong>n<br />

Zorn <strong>de</strong>s Vaters über die Sün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Welt belasteten seinen Geist; To<strong>de</strong>sblässe überzog sein<br />

Angesicht.<br />

Dann aber beugte er sich <strong>de</strong>m Willen seines Vaters und sprach: „Darum bin ich in diese<br />

Stun<strong>de</strong> gekommen. Vater, verherrliche <strong>de</strong>inen Namen!“ Nur durch <strong>Christi</strong> Tod konnte Satans<br />

Reich gestürzt, nur so konnte <strong>de</strong>r Mensch erlöst und Gott verherrlicht wer<strong>de</strong>n. Jesus ergab sich<br />

<strong>de</strong>m To<strong>de</strong>skampf; er nahm das Opfer auf sich — die Majestät <strong>de</strong>s Himmels zeigte sich bereit,<br />

als Sün<strong>de</strong>nträger zu lei<strong>de</strong>n. „Vater, verherrliche <strong>de</strong>inen Namen!“ bat <strong>de</strong>r Heiland. Als Christus<br />

diese Worte sprach, kam die Antwort aus <strong>de</strong>r über ihm schweben<strong>de</strong>n Wolke: „Ich habe ihn<br />

426


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

verherrlicht und will ihn abermals verherrlichen.“ Johannes 12,27.28. Jesu ganzes Leben von<br />

<strong>de</strong>r Krippe an bis zu <strong>de</strong>r Zeit, da diese Worte gesprochen wur<strong>de</strong>n, hatte Gott verherrlicht, und in<br />

<strong>de</strong>r herannahen<strong>de</strong>n Prüfung wür<strong>de</strong>n die göttlich-menschlichen Lei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s <strong>de</strong>n<br />

Namen <strong>de</strong>s himmlischen Vaters aufs neue verherrlichen.<br />

Als die „Stimme vom Himmel“ ertönte, fuhr ein Lichtstrahl aus <strong>de</strong>r Wolke und umgab Jesus,<br />

als ob die Arme <strong>de</strong>r ewigen Macht ihn wie eine feurige Mauer umfingen. Das Volk schaute mit<br />

Schrecken und größtem Erstaunen auf dieses Geschehen. Niemand wagte zu re<strong>de</strong>n.<br />

Schweigend, mit angehaltenem Atem stan<strong>de</strong>n sie alle, die Augen auf Christus gerichtet.<br />

Nach<strong>de</strong>m das Zeugnis <strong>de</strong>s Vaters gegeben war, hob sich die Wolke und verteilte sich über<br />

ihnen. <strong>Die</strong> sichtbare Gemeinschaft zwischen <strong>de</strong>m Vater und <strong>de</strong>m Sohn war erst einmal wie<strong>de</strong>r<br />

been<strong>de</strong>t. „Da sprach das Volk, das dabeistand und zuhörte: Es donnerte. <strong>Die</strong> an<strong>de</strong>rn sprachen:<br />

Es re<strong>de</strong>te ein Engel mit ihm.“ Johannes 12,29. <strong>Die</strong> Griechen sahen die Wolke und hörten die<br />

Stimme, sie verstan<strong>de</strong>n <strong>de</strong>ren Be<strong>de</strong>utung und erkannten wahrhaftig <strong>de</strong>n Heiland; er wur<strong>de</strong> ihnen<br />

als <strong>de</strong>r Gesandte Gottes offenbart. <strong>Die</strong> Stimme Gottes, die bei <strong>de</strong>r Taufe Jesu am Beginn seines<br />

Lehramtes und wie<strong>de</strong>rum bei seiner Verklärung gehört wor<strong>de</strong>n war, war jetzt, am Schluß seines<br />

<strong>Die</strong>nstes, zum drittenmal vor einer großen Volksmenge und unter beson<strong>de</strong>ren Umstän<strong>de</strong>n<br />

erklungen. Jesus hatte <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n gera<strong>de</strong> die so sehr ernste Wahrheit hinsichtlich ihres Zustan<strong>de</strong>s<br />

vor Augen gehalten. Er hatte ihnen eine letzte Warnung zugerufen und ihren Untergang<br />

angekündigt. Da setzte Gott wie<strong>de</strong>rum sein Siegel auf die Botschaft seines Sohnes und<br />

bestätigte ihn, <strong>de</strong>n Israel verworfen hatte. „<strong>Die</strong>se Stimme ist nicht um meinetwillen geschehen,<br />

son<strong>de</strong>rn um euretwillen.“ Johannes 12,30. Sie war <strong>de</strong>r krönen<strong>de</strong> Beweis seiner göttlichen<br />

Sendung; sie war das Zeichen <strong>de</strong>s Allmächtigen, daß Jesus die Wahrheit gesprochen hatte und<br />

daß er <strong>de</strong>r eingeborene Sohn <strong>de</strong>s Himmels war.<br />

„Jetzt geht das Gericht über die Welt“, sagte Jesus weiter. „Nun wird <strong>de</strong>r Fürst dieser Welt<br />

ausgestoßen wer<strong>de</strong>n. Und ich, wenn ich erhöht wer<strong>de</strong> von <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>, so will ich alle zu mir<br />

ziehen. Das sagte er aber, zu zeigen, welches To<strong>de</strong>s er sterben wür<strong>de</strong>.“ Johannes 12,31-33.<br />

Damit wies <strong>de</strong>r Herr auf die Entscheidungsstun<strong>de</strong> für die Welt. Wenn er die Sün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r<br />

Menschen versöhnen wird, dann wird die Welt erleuchtet, Satans Macht über die Seelen<br />

gebrochen, das entstellte Ebenbild Gottes im Menschen wie<strong>de</strong>rhergestellt und eine Familie<br />

gläubiger Kin<strong>de</strong>r Gottes schließlich in <strong>de</strong>r himmlischen Heimat gesammelt wer<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong>s ist das<br />

Ergebnis <strong>de</strong>s Erlösungsto<strong>de</strong>s Jesu. Der Heiland ist in Gedanken bei <strong>de</strong>m Siegesjubel, <strong>de</strong>r sich<br />

entfalten wird; er sieht auch das Kreuz, das fürchterliche Fluchholz, mit all seinen Schrecken in<br />

Herrlichkeit erstrahlen. Doch das Erlösungswerk für die Menschen ist nicht alles, was durch das<br />

Kreuz vollbracht wird. Gottes Liebe offenbart sich <strong>de</strong>m ganzen Weltall. Der Fürst dieser Welt<br />

ist ausgestoßen, die Anklagen Satans gegen Gott wer<strong>de</strong>n wi<strong>de</strong>rlegt, und die Vorwürfe, die er<br />

gegen <strong>de</strong>n Himmel schleu<strong>de</strong>rte, für immer beseitigt. Sowohl Engel als auch Menschen wer<strong>de</strong>n<br />

zu <strong>de</strong>m Erlöser gezogen. „Wenn ich erhöht wer<strong>de</strong> von <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>, so will ich alle zu mir ziehen.“<br />

Viele Menschen waren um <strong>de</strong>n Herrn versammelt, als er diese Worte sprach. „Da antwortete<br />

ihm das Volk: Wir haben gehört im Gesetz, daß <strong>de</strong>r Christus ewiglich bleibe; und wie sagst du<br />

<strong>de</strong>nn: Des Menschen Sohn muß erhöht wer<strong>de</strong>n? Wer ist dieser Menschensohn? Da sprach Jesus<br />

427


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

zu ihnen: Es ist das Licht noch eine kleine Zeit bei euch. Wan<strong>de</strong>lt, solange ihr das Licht habt,<br />

damit euch die Finsternis nicht überfalle. Wer in <strong>de</strong>r Finsternis wan<strong>de</strong>lt, <strong>de</strong>r weiß nicht, wo er<br />

hingeht. Glaubet an das Licht, solange ihr‘s habt, auf daß ihr <strong>de</strong>s Lichtes Kin<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>t ... Und<br />

ob er wohl solche Zeichen vor ihnen getan hatte, glaubten sie doch nicht an ihn.“ Johannes<br />

12,34-37. Einst hatten sie Jesus gefragt: „Was tust du <strong>de</strong>nn für ein Zeichen, auf daß wir sehen<br />

und glauben dir?“ Johannes 6,30. Ungezählte Zeichen waren gegeben wor<strong>de</strong>n; aber sie hatten<br />

ihre Augen vor ihnen verschlossen und ihre Herzen verhärtet. Sogar jetzt, da <strong>de</strong>r Allmächtige<br />

selbst gere<strong>de</strong>t hatte und sie nicht weiter nach einem Zeichen fragen konnten, weigerten sie sich<br />

zu glauben.<br />

„Doch auch <strong>de</strong>r Obersten glaubten viele an ihn; aber um <strong>de</strong>r Pharisäer willen bekannten sie<br />

es nicht, auf daß sie nicht in <strong>de</strong>n Bann getan wür<strong>de</strong>n.“ Johannes 12,42. Sie schätzten<br />

Menschenlob höher als das Wohlgefallen Gottes, und um sich selbst vor Ta<strong>de</strong>l und Schan<strong>de</strong> zu<br />

bewahren, verleugneten sie Christus und verwarfen das Angebot <strong>de</strong>s ewigen Lebens. Wie viele<br />

haben in <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Jahrhun<strong>de</strong>rten das gleiche getan! Ihnen allen gilt die Warnung <strong>de</strong>s<br />

Heilan<strong>de</strong>s: „Wer mich verachtet und nimmt meine Worte nicht auf, <strong>de</strong>r hat schon seinen<br />

Richter: Das Wort, welches ich gere<strong>de</strong>t habe, das wird ihn richten am Jüngsten Tage.“ Johannes<br />

12,48. Wie schmerzlich für die, welche die Zeit ihrer Heimsuchung nicht erkannten! Langsam<br />

und mit trauern<strong>de</strong>m Herzen verließ <strong>de</strong>r Heiland für immer <strong>de</strong>n Bereich <strong>de</strong>s Tempels.<br />

428


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 69: Auf <strong>de</strong>m Ölberg<br />

<strong>Christi</strong> Wort zu <strong>de</strong>n Priestern und Obersten: „Siehe, euer Haus soll euch wüste gelassen<br />

wer<strong>de</strong>n“ (Matthäus 23,38) hatte ihre Herzen mit großer Furcht erfüllt. Sie stellten sich zwar<br />

gleichgültig, doch innerlich beschäftigte sie lebhaft die Frage nach <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung dieser Worte.<br />

Sie fühlten sich wie von einer unsichtbaren Gefahr bedroht. Konnte es sein, daß <strong>de</strong>r herrliche<br />

Tempel, <strong>de</strong>r Ruhm <strong>de</strong>s jüdischen Volkes, bald eine Trümmerstätte sein wür<strong>de</strong>? Auch die Jünger<br />

waren von einer bösen Ahnung erfüllt, und sie warteten voller Unruhe auf eine genauere<br />

Erklärung Jesu. Als sie mit ihm <strong>de</strong>n Tempel verließen, lenkten sie seine Aufmerksamkeit auf<br />

<strong>de</strong>ssen Stärke und Schönheit. <strong>Die</strong> Steine <strong>de</strong>s Tempels waren aus reinstem Marmor, blen<strong>de</strong>nd<br />

weiß, und manche von ihnen von riesenhaften Ausmaßen. Ein Teil <strong>de</strong>r Mauer hatte sogar <strong>de</strong>r<br />

Belagerung durch das Heer Nebukadnezars wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong>n. Das Mauerwerk schien so festgefügt,<br />

als wäre es ein einziger massiver Stein, <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m Steinbruch herausgebrochen wor<strong>de</strong>n war.<br />

Wie diese mächtigen Mauern jemals überwun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n sollten, war <strong>de</strong>n Jüngern<br />

unverständlich.<br />

Welche Gedanken müssen <strong>de</strong>n Heiland wohl bewegt haben, als seine Aufmerksamkeit von<br />

<strong>de</strong>r Herrlichkeit <strong>de</strong>s Tempels gefesselt war! Gewiß, <strong>de</strong>r Anblick, <strong>de</strong>r sich ihm bot, war in <strong>de</strong>r<br />

Tat wun<strong>de</strong>rbar, doch mit tiefer Trauer sagte er: Ich sehe alles. Der Tempel ist wirklich ein<br />

herrlicher Bau. Ihr zeigt auf jene unzerstörbar scheinen<strong>de</strong>n Mauern; doch hört auf meine Worte:<br />

Es kommt <strong>de</strong>r Tag, da wird hier „nicht ein Stein auf <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>rn bleiben, <strong>de</strong>r nicht zerbrochen<br />

wer<strong>de</strong>“. Matthäus 24,2.<br />

Christus hatte zu vielen Zuhörern gesprochen; nun aber, da er allein auf <strong>de</strong>m Ölberg saß,<br />

traten Petrus, Johannes und Jakobus zu ihm mit <strong>de</strong>r Bitte: „Sage uns, wann wird das geschehen?<br />

und welches wird das Zeichen sein <strong>de</strong>ines Kommens und <strong>de</strong>s En<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r Welt?“ Matthäus 24,3.<br />

In seiner Antwort an die Jünger trennte Jesus die Zerstörung Jerusalems nicht von <strong>de</strong>m großen<br />

Tag seines Kommens. Er verband die Schil<strong>de</strong>rung jener bei<strong>de</strong>n Ereignisse. Hätte er die<br />

künftigen Dinge so geschil<strong>de</strong>rt, wie er sie vor seinem Auge sah, dann wären die Jünger unfähig<br />

gewesen, dies alles zu ertragen. In seiner Barmherzigkeit verknüpfte er harmonisch die<br />

Schil<strong>de</strong>rung dieser bei<strong>de</strong>n entscheidungsvollen Ereignisse und überließ es <strong>de</strong>n Jüngern, <strong>de</strong>ren<br />

Be<strong>de</strong>utung herauszufin<strong>de</strong>n. Als er auf die Zerstörung Jerusalems hinwies, bezogen sich seine<br />

prophetischen Worte auch auf <strong>de</strong>n letzten Weltenbrand in jenen Tagen, da <strong>de</strong>r Herr sich<br />

aufmachen wird, die Welt für ihre Bosheit zu strafen, und die Er<strong>de</strong> alles Blut, das vergossen,<br />

ans Licht bringen und die Erschlagenen nicht mehr <strong>de</strong>cken wird. <strong>Die</strong>se Erklärungen gab Jesus<br />

nicht allein um <strong>de</strong>r Jünger willen, son<strong>de</strong>rn er dachte zugleich an alle jene, die in <strong>de</strong>n letzten<br />

Tagen <strong>de</strong>r Menschheitsgeschichte leben wür<strong>de</strong>n.<br />

Der Heiland wandte sich an die Jünger und sprach: „Sehet zu, daß euch nicht jemand<br />

verführe! Es wer<strong>de</strong>n viele kommen unter meinem Namen und sagen: ich bin‘s, und wer<strong>de</strong>n<br />

viele verführen.“ Markus 13,5.6. Viele falsche Messiasse wer<strong>de</strong>n auftreten und <strong>de</strong>n Anspruch<br />

erheben, Wun<strong>de</strong>r zu wirken, und erklären, daß die Zeit <strong>de</strong>r Befreiung <strong>de</strong>s jüdischen Volkes<br />

gekommen sei. <strong>Die</strong>s wird viele Menschen irreführen. <strong>Christi</strong> Worte erfüllten sich. In <strong>de</strong>r Zeit<br />

429


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

zwischen seinem To<strong>de</strong> und <strong>de</strong>r Belagerung Jerusalems erschienen viele falsche Messiasse.<br />

Doch die Warnung Jesu gilt auch jenen, die in unseren Tagen leben; <strong>de</strong>nn die gleichen<br />

Täuschungen, die vor <strong>de</strong>r Zerstörung Jerusalems geschahen, sind durch alle Zeitalter hindurch<br />

geschehen und wer<strong>de</strong>n sich ständig wie<strong>de</strong>rholen.<br />

„Ihr wer<strong>de</strong>t hören von Kriegen und Kriegsgeschrei; sehet zu und erschrecket nicht. Denn das<br />

muß so geschehen; aber es ist noch nicht das En<strong>de</strong>.“ Vor <strong>de</strong>r Zerstörung Jerusalems kämpften<br />

ehrgeizige Männer um die höchste Gewalt im Staate. <strong>Die</strong> Herrscher wur<strong>de</strong>n ermor<strong>de</strong>t,<br />

vermeintliche Nachfolger erschlagen. Es war von „Kriegen und Kriegsgeschrei“ zu hören. „Das<br />

muß so geschehen“, sprach Christus, „aber es ist noch nicht das En<strong>de</strong> . Denn es wird sich<br />

empören ein Volk wi<strong>de</strong>r das an<strong>de</strong>re und ein Königreich wi<strong>de</strong>r das an<strong>de</strong>re, und wer<strong>de</strong>n sein teure<br />

Zeit und Erdbeben hin und her. Das alles aber ist <strong>de</strong>r Anfang <strong>de</strong>r Wehen.“ Matthäus 24,6-8. Der<br />

Herr sagte: Wenn die Rabbiner diese Zeichen sehen, wer<strong>de</strong>n sie diese als Gericht Gottes über<br />

die Völker erklären, die sein auserwähltes Volk in Knechtschaft gehalten haben. Sie wer<strong>de</strong>n<br />

behaupten, dies seien die Zeichen, die die Ankunft <strong>de</strong>s Messias ankündigen. Laßt euch jedoch<br />

nicht täuschen! <strong>Die</strong>se Zeichen sind <strong>de</strong>r Anfang <strong>de</strong>r göttlichen Gerichte. <strong>Die</strong> Menschen haben<br />

auf sich selbst geschaut, sie haben nicht Buße getan und sich nicht bekehrt, daß ich sie reinigen<br />

könnte. <strong>Die</strong> Zeichen, die sie als Beweise ihrer Befreiung von <strong>de</strong>r Knechtschaft ansehen, sind in<br />

Wirklichkeit Zeichen ihres Ver<strong>de</strong>rbens.<br />

„Alsdann wer<strong>de</strong>n sie euch überantworten in Trübsal und wer<strong>de</strong>n euch töten. Und ihr wer<strong>de</strong>t<br />

gehaßt wer<strong>de</strong>n um meines Namens willen von allen Völkern. Dann wer<strong>de</strong>n viele <strong>de</strong>r<br />

Anfechtung erliegen und wer<strong>de</strong>n sich untereinan<strong>de</strong>r verraten und wer<strong>de</strong>n sich untereinan<strong>de</strong>r<br />

hassen.“ Matthäus 24,9.10. <strong>Die</strong>s alles mußten die Christen erlei<strong>de</strong>n. Eltern verrieten ihre<br />

Kin<strong>de</strong>r, Kin<strong>de</strong>r ihre Eltern, und Freun<strong>de</strong> überantworteten einan<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Hohen Rat. <strong>Die</strong><br />

Verfolger vollen<strong>de</strong>ten ihr Vorhaben und töteten Stephanus, Jakobus und viele an<strong>de</strong>re Gläubige.<br />

Gott gab <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n durch seine Boten eine letzte Gelegenheit zur Umkehr. Er offenbarte sich<br />

durch seine Zeugen bei <strong>de</strong>ren Gefangennahme, bei <strong>de</strong>ren Verhör und im Gefängnis; <strong>de</strong>nnoch<br />

fällten ihre Richter das To<strong>de</strong>surteil über sie. <strong>Die</strong> Verurteilten waren Männer, <strong>de</strong>ren die Welt<br />

nicht würdig war. In<strong>de</strong>m die Ju<strong>de</strong>n sie töteten, kreuzigten sie <strong>de</strong>n Sohn Gottes aufs neue, und so<br />

wird es wie<strong>de</strong>r geschehen. <strong>Die</strong> Regierungen wer<strong>de</strong>n Gesetze erlassen, die die religiöse Freiheit<br />

einschränken, und sie wer<strong>de</strong>n sich ein Recht anmaßen, das allein Gott zusteht. Sie wer<strong>de</strong>n die<br />

Auffassung vertreten, sie dürften die Gewissen zwingen, wo doch Gott allein die Regungen <strong>de</strong>s<br />

Gewissens prüfen sollte. Der Anfang dazu ist bereits gemacht, und man wird mit dieser<br />

Bedrückung fortfahren, bis eine Grenze erreicht ist, die nicht überschritten wer<strong>de</strong>n kann. Gott<br />

selbst wird dann zugunsten seines treuen Volkes, das seine Gebote hält, eingreifen.<br />

Bei je<strong>de</strong>r Verfolgung um <strong>de</strong>s Glaubens willen entschei<strong>de</strong>n sich Menschen für o<strong>de</strong>r gegen<br />

Christus. Jene, die ihre Sympathie <strong>de</strong>nen gegenüber bekun<strong>de</strong>n, die ungerechterweise verurteilt<br />

wur<strong>de</strong>n, zeigen dadurch ihre Verbun<strong>de</strong>nheit mit Christus; an<strong>de</strong>re sind verletzt, weil die<br />

Grundsätze <strong>de</strong>r Wahrheit ihre Gewohnheiten durchkreuzen; wie<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re straucheln und fallen<br />

und verlassen <strong>de</strong>n Glauben, <strong>de</strong>n sie einst selbst verteidigten. Alle, die in <strong>de</strong>r Zeit <strong>de</strong>r Trübsal<br />

vom Glauben abfallen, wer<strong>de</strong>n um ihrer Sicherheit willen falsches Zeugnis ablegen und ihre<br />

430


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Brü<strong>de</strong>r verraten. Christus hat davor gewarnt, damit wir nicht überrascht sein sollen von <strong>de</strong>r<br />

unnatürlichen, grausamen Handlungsweise <strong>de</strong>rer, die das Licht verwerfen. Der Heiland gab<br />

seinen Jüngern ein Zeichen <strong>de</strong>s herannahen<strong>de</strong>n Ver<strong>de</strong>rbens über Jerusalem und sagte ihnen<br />

gleichzeitig, wie sie diesem entfliehen könnten: „Wenn ihr aber sehen wer<strong>de</strong>t Jerusalem<br />

belagert von einem Heer, so merket, daß herbeigekommen ist seine Verwüstung. Alsdann, wer<br />

in Judäa ist, <strong>de</strong>r fliehe auf das Gebirge, und wer in <strong>de</strong>r Stadt ist, <strong>de</strong>r gehe hinaus, und wer auf<br />

<strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong> ist, <strong>de</strong>r komme nicht herein.“ Lukas 21,20-22. <strong>Die</strong>se Warnung wur<strong>de</strong> gegeben,<br />

damit sie vierzig Jahre später bei <strong>de</strong>r Zerstörung Jerusalems beachtet wür<strong>de</strong>. <strong>Die</strong> Christen<br />

folgten diesem Aufruf, und nicht ein einziger von ihnen kam bei <strong>de</strong>r Einnahme <strong>de</strong>r Stadt ums<br />

Leben.<br />

„Bittet aber, daß eure Flucht nicht geschehe im Winter o<strong>de</strong>r am Sabbat.“ Matthäus 24,20.<br />

Christus, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Sabbat eingesetzt hatte, hob ihn nicht auf, in<strong>de</strong>m er ihn gewissermaßen an sein<br />

Kreuz heftete; er wur<strong>de</strong> auch durch seinen Tod nicht null und nichtig, son<strong>de</strong>rn er ist vierzig<br />

Jahre nach seiner Kreuzigung noch heiliggehalten wor<strong>de</strong>n. Vierzig Jahre lang mußten die<br />

Christen darum bitten, daß ihre Flucht nicht an einem Sabbat geschehe.<br />

Von <strong>de</strong>r Zerstörung Jerusalems ging Jesus dann rasch auf das größere Geschehen über, <strong>de</strong>m<br />

letzten Glied in <strong>de</strong>r Kette <strong>de</strong>r Weltgeschichte — auf seine Wie<strong>de</strong>rkunft mit großer Kraft und<br />

Herrlichkeit. Zwischen diesen bei<strong>de</strong>n Ereignissen lagen vor Jesu Blick lange Jahrhun<strong>de</strong>rte <strong>de</strong>r<br />

Finsternis, Zeiten, die für seine Nachfolger mit Blut, Tränen und To<strong>de</strong>squalen gekennzeichnet<br />

waren. <strong>Die</strong>se Szenen zu schauen, konnten seine Jünger damals nicht ertragen, und mit einer<br />

kurzen An<strong>de</strong>utung ging er darüber hinweg. „Es wird alsdann eine große Trübsal sein, wie sie<br />

nicht gewesen ist von Anfang <strong>de</strong>r Welt bisher und auch nicht wie<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n wird. Und wenn<br />

diese Tage nicht wür<strong>de</strong>n verkürzt, so wür<strong>de</strong> kein Mensch selig; aber um <strong>de</strong>r<br />

Auserwählten willen wer<strong>de</strong>n die Tage verkürzt.“ Matthäus 24,21.22. Länger als tausend Jahre<br />

sollte eine Verfolgung, wie die Welt sie schrecklicher nie zuvor gesehen hatte, über die<br />

Nachfolger <strong>Christi</strong> kommen; Millionen seiner getreuen Gläubigen wür<strong>de</strong>n getötet wer<strong>de</strong>n.<br />

Wür<strong>de</strong> Gott seine Hand nicht ausstrecken, um sein Volk zu bewahren, alle kämen ums Leben.<br />

„Aber um <strong>de</strong>r Auserwählten willen wer<strong>de</strong>n die Tage verkürzt.“<br />

Unmißverständlich spricht Jesus nun über sein zweites Kommen, und er warnt vor <strong>de</strong>n<br />

Gefahren, die dieser Wie<strong>de</strong>rkunft vorausgehen wer<strong>de</strong>n. „Wenn alsdann jemand zu euch wird<br />

sagen: Siehe, hier ist <strong>de</strong>r Christus! o<strong>de</strong>r da! so sollt ihr‘s nicht glauben. Denn mancher falsche<br />

Christus und falsche Propheten wer<strong>de</strong>n aufstehen und große Zeichen und Wun<strong>de</strong>r tun, so daß,<br />

wenn es möglich wäre, auch die Auserwählten verführt wür<strong>de</strong>n. Siehe, ich habe es euch zuvor<br />

gesagt. Darum, wenn sie zu euch sagen wer<strong>de</strong>n: Siehe, er ist in <strong>de</strong>r Wüste! so gehet nicht<br />

hinaus; siehe, er ist in <strong>de</strong>r Kammer! so glaubt es nicht. Denn wie <strong>de</strong>r Blitz ausgeht vom<br />

Aufgang und leuchtet bis zum Nie<strong>de</strong>rgang, so wird auch sein das Kommen <strong>de</strong>s<br />

Menschensohnes.“ Matthäus 24,23-27. Eines <strong>de</strong>r Zeichen <strong>de</strong>r Zerstörung Jerusalems beschrieb<br />

Christus mit <strong>de</strong>n Worten: „Es wer<strong>de</strong>n sich viele falsche Propheten erheben und wer<strong>de</strong>n viele<br />

verführen.“ Matthäus 24,11.<br />

431


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Tatsächlich erhoben sich überall Irrlehrer, verführten das Volk und lockten viele in die<br />

Wüste. Zauberer und Magier, die <strong>de</strong>n Anspruch erhoben, übernatürliche Kräfte zu besitzen,<br />

zogen das Volk in die Einsamkeit <strong>de</strong>r Berge. <strong>Die</strong>se Weissagung gilt auch für die Endzeit. <strong>Die</strong><br />

geschil<strong>de</strong>rten Ereignisse sind ein Zeichen <strong>de</strong>r nahen Wie<strong>de</strong>rkunft <strong>Christi</strong>. Schon jetzt geschehen<br />

durch falsche Christusse und falsche Propheten große Zeichen und Wun<strong>de</strong>r, um die Gläubigen<br />

zu verführen. Hören wir nicht <strong>de</strong>n Ruf: „Siehe, er ist in <strong>de</strong>r Wüste“? Sind nicht Tausen<strong>de</strong><br />

diesem Ruf gefolgt und in die Wüste gezogen, um dort Christus zu fin<strong>de</strong>n? Erklingt nicht in<br />

Tausen<strong>de</strong>n von Zusammenkünften, wo Menschen <strong>de</strong>n Verkehr mit <strong>de</strong>n Geistern Verstorbener<br />

betreiben, <strong>de</strong>r Ruf: „Siehe, er ist in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Kammer“? Den gleichen Anspruch erhebt <strong>de</strong>r<br />

Spiritismus. Doch was sagt Jesus? „Glaubt es nicht. Denn wie <strong>de</strong>r Blitz ausgeht vom Aufgang<br />

und leuchtet bis zum Nie<strong>de</strong>rgang, so wird auch sein das Kommen <strong>de</strong>s Menschensohnes.“<br />

Der Heiland gab uns Zeichen seiner Wie<strong>de</strong>rkunft, ja mehr noch, er bestimmte die Zeit, wann<br />

das erste Zeichen geschehen sollte. „Bald aber nach <strong>de</strong>r Trübsal jener Zeit wer<strong>de</strong>n Sonne und<br />

Mond <strong>de</strong>n Schein verlieren, und die Sterne wer<strong>de</strong>n vom Himmel fallen, und die Kräfte <strong>de</strong>r<br />

Himmel wer<strong>de</strong>n ins Wanken kommen. Und alsdann wird erscheinen das Zeichen <strong>de</strong>s<br />

Menschensohnes am Himmel. Und alsdann wer<strong>de</strong>n heulen alle Geschlechter auf Er<strong>de</strong>n und<br />

wer<strong>de</strong>n kommen sehen <strong>de</strong>s Menschen Sohn in <strong>de</strong>n Wolken <strong>de</strong>s Himmels mit großer Kraft und<br />

Herrlichkeit. Und er wird sen<strong>de</strong>n seine Engel mit hellen Posaunen, und sie wer<strong>de</strong>n sammeln<br />

seine Auserwählten von <strong>de</strong>n vier Win<strong>de</strong>n, von einem En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Himmels bis zum<br />

an<strong>de</strong>rn.“ Matthäus 24,29-31.<br />

Nach <strong>de</strong>r großen Verfolgung <strong>de</strong>r Gläubigen sollten Sonne und Mond ihren Schein verlieren,<br />

und die Sterne sollten vom Himmel fallen, so erläuterte es Jesus, und er fügte hinzu: „An <strong>de</strong>m<br />

Feigenbaum lernet ein Gleichnis; wenn sein Zweig jetzt treibt und die Blätter kommen, so wißt<br />

ihr, daß <strong>de</strong>r Sommer nahe ist. So auch ihr; wenn ihr das alles sehet, so wisset, daß es nahe vor<br />

<strong>de</strong>r Tür ist.“ Matthäus 24,32.33. Christus hat Zeichen seines Kommens gegeben. Nach seinem<br />

Willen sollten wir erkennen, wann er nahe vor <strong>de</strong>r Tür ist. Von <strong>de</strong>nen, die diese Zeichen<br />

erleben, sagte <strong>de</strong>r Herr: „<strong>Die</strong>s Geschlecht wird nicht vergehen, bis daß dieses alles geschehe.“<br />

<strong>Die</strong>se Zeichen sind erschienen. Wir wissen, daß <strong>de</strong>s Herrn Wie<strong>de</strong>rkunft nahe ist. „Himmel und<br />

Er<strong>de</strong> wer<strong>de</strong>n vergehen; aber meine Worte wer<strong>de</strong>n nicht vergehen.“ Matthäus 24,34.35.<br />

Christus kommt in <strong>de</strong>n Wolken <strong>de</strong>s Himmels mit großer Herrlichkeit; eine Schar glänzen<strong>de</strong>r<br />

Engel wird ihn begleiten. Er wird kommen, um die Toten aufzuwecken und die leben<strong>de</strong>n<br />

Gerechten von Herrlichkeit zu Herrlichkeit zu verwan<strong>de</strong>ln. Er wird wie<strong>de</strong>rkommen, um die zu<br />

ehren und zu sich zu nehmen, die ihn geliebt und seine Gebote gehalten haben; er hat we<strong>de</strong>r sie<br />

noch seine Verheißung vergessen. Erneut wer<strong>de</strong>n wir mit unseren Familienangehörigen<br />

verbun<strong>de</strong>n sein. Wenn wir auf unsere Toten schauen, so dürfen wir an <strong>de</strong>n Morgen <strong>de</strong>nken, an<br />

<strong>de</strong>m die Posaune Gottes erschallen wird, „und die Toten wer<strong>de</strong>n auferstehen unverweslich, und<br />

wir wer<strong>de</strong>n verwan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n.“ 1.Korinther 15,52. Nur noch kurze Zeit, und wir wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n<br />

König <strong>de</strong>r Welten in seiner Herrlichkeit sehen; nicht mehr lange, und er wird abwischen alle<br />

Tränen von unseren Augen und uns „stellen vor das Angesicht seiner Herrlichkeit unsträflich<br />

mit Freu<strong>de</strong>n“. Judas 24. Darum sagte <strong>de</strong>r Heiland, als er von <strong>de</strong>n Zeichen seiner Wie<strong>de</strong>rkunft<br />

432


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

sprach: „Wenn aber dieses anfängt zu geschehen, so sehet auf und erhebet eure Häupter, darum<br />

daß sich eure Erlösung naht.“ Lukas 21,28.<br />

Den Tag aber und die Stun<strong>de</strong> seiner Wie<strong>de</strong>rkunft hat Christus nicht enthüllt; er sagte seinen<br />

Jüngern <strong>de</strong>utlich: „Von <strong>de</strong>m Tage aber und von <strong>de</strong>r Stun<strong>de</strong> weiß niemand, auch die Engel nicht<br />

im Himmel, auch nicht <strong>de</strong>r Sohn, son<strong>de</strong>rn allein <strong>de</strong>r Vater.“ Matthäus 24,36. Hätte er ihnen die<br />

genaue Zeit offenbaren dürfen, warum sollte er sie dann ermahnen, in ständiger Erwartung zu<br />

bleiben? Es gibt Menschen, die angeblich Tag und Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rkunft <strong>Christi</strong> wissen und<br />

es sehr ernst nehmen, die Zukunft zu bestimmen; aber <strong>de</strong>r Herr hat sie davor gewarnt. Der<br />

genaue Zeitpunkt <strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rkunft <strong>Christi</strong> ist allein Gottes Geheimnis.<br />

Christus sagte ferner über <strong>de</strong>n Zustand <strong>de</strong>r Welt vor seinem Kommen: „Wie es in <strong>de</strong>n Tagen<br />

Noahs war, so wird auch sein das Kommen <strong>de</strong>s Menschensohnes. Denn wie sie waren in <strong>de</strong>n<br />

Tagen vor <strong>de</strong>r Sintflut — sie aßen, sie tranken, sie freiten und ließen sich freien bis an <strong>de</strong>n Tag,<br />

da Noah in die Arche hineinging; und sie achteten‘s nicht, bis die Sintflut kam und nahm sie<br />

alle dahin —, so wird auch sein das Kommen <strong>de</strong>s Menschensohnes.“ Matthäus 24,37-39. Der<br />

Heiland spricht hier nicht von einem zeitlichen tausendjährigen Reich auf Er<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>m sich<br />

die Menschen auf die Ewigkeit vorbereiten, son<strong>de</strong>rn er sagt uns, daß es bei seiner Wie<strong>de</strong>rkunft<br />

genauso sein wird wie in <strong>de</strong>n Tagen Noahs.<br />

Wie war es <strong>de</strong>nn zu jener Zeit? „Der Herr sah, daß <strong>de</strong>r Menschen Bosheit groß war auf<br />

Er<strong>de</strong>n und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar ...“ 1.Mose 6,5. <strong>Die</strong><br />

Bewohner <strong>de</strong>r vorsintflutlichen Welt wandten sich von ihrem Schöpfer ab und weigerten sich,<br />

seinem heiligen Willen zu gehorchen. Sie folgten lieber ihren eigenen, unheiligen Vorstellungen<br />

und ver<strong>de</strong>rbten Gedanken. Wegen ihrer Bosheit wur<strong>de</strong>n sie vernichtet; und heute wan<strong>de</strong>lt die<br />

Welt in <strong>de</strong>n gleichen Spuren. Es sieht wirklich nicht nach einer kommen<strong>de</strong>n tausendjährigen<br />

Herrlichkeit aus. <strong>Die</strong> Übertreter <strong>de</strong>s Gesetzes füllen die Er<strong>de</strong> mit ihrer Bosheit. Ihre<br />

Wettlei<strong>de</strong>nschaft, ihr Pfer<strong>de</strong>rennsport, ihr Glücksspiel, ihre Zerstreuung, ihre lüsternen<br />

Handlungen, ihre unmäßigen Lei<strong>de</strong>nschaften breiten sich mit Gewalt in <strong>de</strong>r Welt aus.<br />

In <strong>de</strong>r Weissagung von <strong>de</strong>r Zerstörung Jerusalems sagte <strong>de</strong>r Herr: „Und weil <strong>de</strong>r Unglaube<br />

wird überhandnehmen, wird die Liebe in vielen erkalten. Wer aber beharret bis ans En<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r<br />

wird selig. Und es wird gepredigt wer<strong>de</strong>n dies Evangelium vom Reich in <strong>de</strong>r ganzen Welt zum<br />

Zeugnis für alle Völker, und dann wird das En<strong>de</strong> kommen.“ Matthäus 24,12-14. Auch diese<br />

Weissagung wird sich erfüllen. Der überhandnehmen<strong>de</strong> Unglaube jenes Tages spiegelt sich in<br />

unserer Generation wi<strong>de</strong>r, jedoch auch die Erfüllung <strong>de</strong>r verheißenen weltweiten<br />

Evangeliumsverkündigung. Vor <strong>de</strong>m Fall Jerusalems erklärte Paulus, getrieben vom Heiligen<br />

Geist, daß das Evangelium „gepredigt ist unter aller Kreatur, die unter <strong>de</strong>m Himmel<br />

ist“. Kolosser 1,23. So muß nun auch vor <strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rkunft <strong>Christi</strong> das ewige Evangelium „allen<br />

Nationen und Geschlechtern und Sprachen und Völkern“ (Offenbarung 14,6) gepredigt wer<strong>de</strong>n.<br />

Gott hat „einen Tag gesetzt, an welchem er richten will <strong>de</strong>n Erdkreis“ (Apostelgeschichte<br />

17,31), und Christus teilt uns <strong>de</strong>n Anbruch dieser Zeit mit. Er sagt nicht, daß die ganze Welt<br />

bekehrt wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn nur: „Es wird gepredigt wer<strong>de</strong>n dies Evangelium vom Reich in<br />

433


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

<strong>de</strong>r ganzen Welt zum Zeugnis für alle Völker, und dann wird das En<strong>de</strong> kommen.“ Matthäus<br />

24,12-14. Durch die Verkündigung <strong>de</strong>s Evangeliums liegt es in unserer Macht, <strong>Christi</strong><br />

Wie<strong>de</strong>rkunft zu beschleunigen. Wir sollen nicht nur auf sie warten, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Zukunft <strong>de</strong>s<br />

Herrn entgegeneilen. 2.Petrus 3,12. Hätte die Gemein<strong>de</strong> <strong>Christi</strong> das ihr aufgetragene Werk nach<br />

seinem Willen ausgeführt, dann wür<strong>de</strong> die Welt längst gewarnt wor<strong>de</strong>n sein und <strong>de</strong>r Herr wäre<br />

mit großer Kraft und Herrlichkeit schon auf diese Er<strong>de</strong> gekommen.<br />

Nach<strong>de</strong>m Jesus ihnen die Zeichen seines Kommens gesagt hatte, sprach er weiter: „Wenn ihr<br />

dies alles sehet angehen, so wisset, daß das Reich Gottes nahe ist.“ — „Seid nun wach allezeit<br />

und betet.“ Lukas 21,31.36. Gott hat die Menschen vor kommen<strong>de</strong>n Gerichten stets gewarnt.<br />

Wer seiner Warnungsbotschaft vertraute und — seinen Geboten gehorsam — nach seinem<br />

Willen han<strong>de</strong>lte, blieb vor <strong>de</strong>n Heimsuchungen bewahrt, die über die Ungehorsamen und<br />

Ungläubigen hereinbrachen. Zu Noah wur<strong>de</strong> einst gesagt: „Geh in die Arche, du und <strong>de</strong>in<br />

ganzes Haus; <strong>de</strong>nn dich habe ich gerecht erfun<strong>de</strong>n vor mir zu dieser Zeit.“ 1.Mose 7,1. Noah<br />

folgte <strong>de</strong>r Auffor<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Herrn und wur<strong>de</strong> gerettet. Lot empfing die Botschaft: „Macht euch<br />

auf und geht aus diesem Ort, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Herr wird diese Stadt ver<strong>de</strong>rben.“ 1.Mose 19,14. Lot<br />

begab sich unter die Obhut <strong>de</strong>r himmlischen Boten und wur<strong>de</strong> bewahrt. Auch <strong>Christi</strong> Jünger<br />

wur<strong>de</strong>n vor <strong>de</strong>r Zerstörung Jerusalems gewarnt. Wer von ihnen auf die Zeichen <strong>de</strong>s nahen<strong>de</strong>n<br />

Untergangs achtete und aus <strong>de</strong>r Stadt floh, entging <strong>de</strong>r Vernichtung. So sind auch uns genügend<br />

Zeichen <strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rkunft <strong>Christi</strong> und <strong>de</strong>s Ver<strong>de</strong>rbens, das über die Welt hereinbrechen wird,<br />

gegeben wor<strong>de</strong>n. Wer diese Warnungen beachtet, wird gerettet wer<strong>de</strong>n.<br />

Da wir Tag und Stun<strong>de</strong> seines Kommens nicht wissen, sind wir aufgefor<strong>de</strong>rt, wach zu<br />

bleiben. „Selig sind die Knechte, die <strong>de</strong>r Herr, wenn er kommt, wachend fin<strong>de</strong>t.“ Lukas 12,37.<br />

Alle, die auf das Kommen <strong>de</strong>s Herrn warten, wer<strong>de</strong>n nicht untätig sein. <strong>Die</strong> Erwartung <strong>de</strong>r<br />

Wie<strong>de</strong>rkunft <strong>Christi</strong> wird sie veranlassen, <strong>de</strong>n Herrn und seine Gerichte zu fürchten. Es gilt,<br />

aufzuwachen aus <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>, die in <strong>de</strong>r Ablehnung <strong>de</strong>r göttlichen Gna<strong>de</strong> besteht. <strong>Die</strong> auf Jesu<br />

Erscheinen warten, reinigen ihre Seelen, in<strong>de</strong>m sie <strong>de</strong>r Wahrheit gehorsam sind, und verbin<strong>de</strong>n<br />

ihr aufmerksames Wachen mit eifrigem Wirken. Sie wissen, daß <strong>de</strong>r Tag <strong>de</strong>r Erscheinung<br />

<strong>Christi</strong> nahe ist, und sie lassen darum keine Gelegenheit ungenutzt, mit <strong>de</strong>n himmlischen Wesen<br />

für das Heil von Seelen zusammenzuarbeiten. Das sind die treuen und weisen Haushalter, die<br />

<strong>de</strong>m Gesin<strong>de</strong> zu rechter Zeit geben, was ihnen gebührt; (Lukas 12,42) <strong>de</strong>nn sie lehren die<br />

Wahrheit, die <strong>de</strong>r gegenwärtigen Lage beson<strong>de</strong>rs entspricht. Wie Henoch, Noah, Abraham und<br />

Mose die Wahrheit für ihre Zeit verkündigten, so wer<strong>de</strong>n Gottes Boten nun eine beson<strong>de</strong>re<br />

Warnungsbotschaft auch dieser Generation mitzuteilen haben.<br />

Christus weist aber noch auf eine an<strong>de</strong>re Klasse hin: „Wenn aber <strong>de</strong>rselbe Knecht in seinem<br />

Herzen sagen wird: Mein Herr verzieht zu kommen, — und fängt an, zu schlagen Knechte und<br />

Mäg<strong>de</strong>, auch zu essen und zu trinken und sich vollzusaufen: so wird <strong>de</strong>sselben Knechtes Herr<br />

kommen an <strong>de</strong>m Tage, da er sich‘s nicht versieht.“ Lukas 12,45.46. Solch untreuer Knecht sagt<br />

sich: „Mein Herr kommt noch lange nicht.“ Matthäus 24,48. Er sagt nicht, daß <strong>de</strong>r Herr<br />

überhaupt nicht kommen wird, er spottet auch nicht über <strong>de</strong>n Gedanken seiner Wie<strong>de</strong>rkunft; nur<br />

in seinem Herzen und durch sein Re<strong>de</strong>n und Han<strong>de</strong>ln erklärt er, daß <strong>de</strong>r Herr sein Kommen<br />

434


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

verzögern wird. Er nimmt <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn die Gewißheit <strong>de</strong>r baldigen Wie<strong>de</strong>rkunft <strong>Christi</strong> und<br />

verleitet sie zu einem vermessenen, sorglosen Dahinleben. Sie wer<strong>de</strong>n in ihrer Weltlichkeit und<br />

Abgestumpftheit bestärkt. Irdische Lei<strong>de</strong>nschaften, ver<strong>de</strong>rbte Gedanken nisten in ihrem Gemüt.<br />

Der ungetreue Knecht ißt und trinkt mit <strong>de</strong>n Trunkenen und vereint sich mit <strong>de</strong>r Welt im<br />

Streben nach Vergnügungen. Er quält seine Gefährten, in<strong>de</strong>m er jene anklagt und verurteilt, die<br />

ihrem Herrn ergeben sind. Er vermischt sich mit <strong>de</strong>r Welt und versinkt mit ihr immer tiefer in<br />

Sün<strong>de</strong>. Es ist ein schreckliches Aufgehen in <strong>de</strong>n Verstrickungen <strong>de</strong>r Welt. „So wird <strong>de</strong>sselben<br />

Knechtes Herr kommen an <strong>de</strong>m Tage, da er sich‘s nicht versieht, und zu <strong>de</strong>r Stun<strong>de</strong>, die er nicht<br />

weiß, und wird ihn in Stücke hauen lassen und wird ihm seinen Lohn geben mit <strong>de</strong>n<br />

Ungläubigen.“ Lukas 12,46.<br />

„Wenn du aber nicht wachen wirst, wer<strong>de</strong> ich kommen wie ein <strong>Die</strong>b, und du wirst nicht<br />

wissen, zu welcher Stun<strong>de</strong> ich über dich kommen wer<strong>de</strong>.“ Offenbarung 3,3. Das Kommen<br />

<strong>Christi</strong> wird die falschen Lehrer überraschen, die immer gesagt haben: „Es ist Frie<strong>de</strong>, es hat<br />

keine Gefahr.“ 1.Thessalonicher 5,3. Wie die Priester und Schriftgelehrten vor <strong>de</strong>r Zerstörung<br />

Jerusalems, betrachten sie die Gemein<strong>de</strong> als Mittel, um sich irdischen Wohlergehens und<br />

Ruhmes zu erfreuen. <strong>Die</strong> Zeichen <strong>de</strong>r Zeit legen sie in diesem Sinne aus. Doch was sagt das<br />

Wort Gottes von solchen Menschen? Es „wird sie das Ver<strong>de</strong>rben schnell<br />

überfallen“. 1.Thessalonicher 5,3. Über alle Bewohner <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>, über alle, die diese Welt zu<br />

ihrer Heimat gemacht haben, wird <strong>de</strong>r Tag Gottes wie ein Fallstrick, wie ein schleichen<strong>de</strong>r <strong>Die</strong>b<br />

hereinbrechen.<br />

<strong>Die</strong> Welt — voller Ausschweifungen und gottloser Vergnügungen — schläft und wiegt sich<br />

in fleischlicher Sicherheit. <strong>Die</strong> Menschen weisen die Wie<strong>de</strong>rkunft <strong>de</strong>s Herrn weit von sich und<br />

lachen über die Warnungsbotschaften. Ihre stolze Überheblichkeit spricht: Es „bleibt ... alles,<br />

wie es von Anfang <strong>de</strong>r Schöpfung gewesen ist“, es „soll morgen sein wie heute und noch viel<br />

herrlicher“ (2.Petrus 3,4; Jesaja 56,12); wir wollen uns noch viel ausgelassener ins Vergnügen<br />

stürzen. Christus aber sagt: „Siehe, ich komme wie ein <strong>Die</strong>b.“ Offenbarung 16,15. <strong>Die</strong> Zeichen<br />

<strong>de</strong>s En<strong>de</strong>s erfüllen sich zur selben Zeit, da die Welt verächtlich fragt: „Wo bleibt die<br />

Verheißung seines Kommens?“ 2.Petrus 3,4; Jesaja 56,12. Während sie ruft: „Es ist Frie<strong>de</strong>, es<br />

hat keine Gefahr“, bricht plötzliche Vernichtung über sie herein. Christus wird wie ein <strong>Die</strong>b zu<br />

einer Zeit wie<strong>de</strong>rkommen, da die Spötter und jene, die die Wahrheit zurückweisen, vermessen<br />

gewor<strong>de</strong>n sind, da die Alltagsgeschäfte in <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Branchen ohne Rücksicht auf die<br />

Einhaltung ehrenwerter Grundsätze betrieben wer<strong>de</strong>n und die Forscher auf allen Bereichen<br />

außer <strong>de</strong>m <strong>de</strong>s Bibelstudiums eine Vertiefung ihrer Erkenntnis suchen.<br />

<strong>Die</strong> Welt befin<strong>de</strong>t sich ganz und gar in Aufruhr. <strong>Die</strong> Zeichen <strong>de</strong>r Zeit sind unheilvoll, und<br />

kommen<strong>de</strong> Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. Der Geist Gottes zieht sich von <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong><br />

immer mehr zurück. Schlag auf Schlag folgen Katastrophen zu Wasser und zu Lan<strong>de</strong>: Stürme,<br />

Erdbeben, Riesenbrän<strong>de</strong>, Überschwemmungen und Gewalttaten aller Art. Wer weiß, was die<br />

Zukunft birgt? Wo ist Sicherheit zu fin<strong>de</strong>n? We<strong>de</strong>r bei Menschen noch sonstwo auf Er<strong>de</strong>n gibt<br />

es Geborgenheit. Eilig scharen sich die Menschen unter das von ihnen erwählte Banner und<br />

harren voller Unruhe <strong>de</strong>r Handlungen ihrer Führer. Daneben aber gibt es auch jene an<strong>de</strong>ren<br />

435


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Menschen, die das Erscheinen ihres Herrn wachsam erwarten und sich dafür einsetzen. Wie<strong>de</strong>r<br />

eine an<strong>de</strong>re Gruppe reiht sich unmittelbar in das Kommando <strong>de</strong>s ersten und obersten<br />

Abtrünnigen ein. Nur wenige glauben von Herzen daran, daß wir eine Hölle zu fürchten und<br />

einen Himmel zu gewinnen haben.<br />

So kommt die Entscheidung allmählich immer näher. Noch scheint die Sonne im<br />

Himmelszelt, noch kreist sie auf ihrer Bahn, noch erzählen die Himmel <strong>de</strong>s Ewigen Ehre. <strong>Die</strong><br />

Menschen essen und trinken, pflanzen und bauen, freien und lassen sich freien; sie han<strong>de</strong>ln und<br />

schachern und rempeln einan<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m Wege, um <strong>de</strong>n höchsten Platz zu gewinnen.<br />

Vergnügungssüchtige füllen die Theater, Rennbahnen und Spielhöllen; überall herrscht das<br />

unruhige Hasten und Treiben <strong>de</strong>r Welt. <strong>Die</strong> Gna<strong>de</strong>nzeit neigt sich <strong>de</strong>m En<strong>de</strong> zu, und das<br />

Schicksal <strong>de</strong>s einzelnen wird dann auf ewig entschie<strong>de</strong>n sein. Satan sieht, daß seine Zeit<br />

bemessen ist; er setzt alle seine Kräfte und Möglichkeiten ein, um die Menschen zu täuschen,<br />

irrezuführen, zu fesseln und zu bezaubern, bis die Gna<strong>de</strong>nzeit vorüber ist und die Tür <strong>de</strong>r<br />

Barmherzigkeit sich für immer geschlossen hat.<br />

Ernst und feierlich klingen die warnen<strong>de</strong>n Worte <strong>de</strong>s Herrn, die er einst auf <strong>de</strong>m Ölberg<br />

sprach, durch die Jahrhun<strong>de</strong>rte an unser Ohr: „Hütet euch aber, daß eure Herzen nicht<br />

beschwert wer<strong>de</strong>n mit Fressen und Saufen und mit Sorgen <strong>de</strong>r Nahrung und dieser Tag nicht<br />

schnell über euch komme ... So seid nun wach allezeit und betet, daß ihr stark wer<strong>de</strong>n möget, zu<br />

entfliehen diesem allem, was geschehen soll, und zu stehen vor <strong>de</strong>s Menschen Sohn.“ Lukas<br />

21,34.36.<br />

436


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 70: Der Geringste dieser meiner Brü<strong>de</strong>r<br />

„Wenn aber <strong>de</strong>s Menschen Sohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm,<br />

dann wird er sitzen auf <strong>de</strong>m Thron seiner Herrlichkeit, und wer<strong>de</strong>n vor ihm alle Völker<br />

versammelt wer<strong>de</strong>n. Und er wird sie voneinan<strong>de</strong>r schei<strong>de</strong>n ...“ Matthäus 25,31.32. Auf <strong>de</strong>m<br />

Ölberg entwarf Jesus seinen Jüngern dieses Bild vom großen Gerichtstag, und er schil<strong>de</strong>rte<br />

<strong>de</strong>ssen Be<strong>de</strong>utung, die um einen einzigen Punkt kreist: Wenn die Völker vor ihm versammelt<br />

wer<strong>de</strong>n, wird es nur zwei Klassen von Menschen geben. Ihr ewiges Schicksal wird allein davon<br />

abhängen, was sie ihm in <strong>de</strong>r Gestalt armer, lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Mitmenschen getan o<strong>de</strong>r verweigert<br />

haben.<br />

An jenem Tage wird Christus <strong>de</strong>n Menschen nicht zeigen, welch großes Werk er durch die<br />

Hingabe seines Lebens zu ihrer Erlösung vollbracht hat, son<strong>de</strong>rn er wird würdigen, was sie in<br />

treuem <strong>Die</strong>nst für ihn vollbracht haben. Zu <strong>de</strong>nen zu seiner Rechten wird er sagen: „Kommt her,<br />

ihr Gesegneten meines Vaters, ererbet das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn <strong>de</strong>r Welt!<br />

Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich gespeist. Ich bin durstig gewesen, und ihr<br />

habt mich getränkt. Ich bin ein Fremdling gewesen, und ihr habt mich beherbergt. Ich bin nackt<br />

gewesen, und ihr habt mich beklei<strong>de</strong>t. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin<br />

gefangen gewesen, und ihr seid zu mir gekommen.“ Matthäus 25,34-36. Aber jene, die Christus<br />

lobt, wissen gar nicht, daß sie ihm gedient haben. Zu ihrer Überraschung antwortet er: „Was ihr<br />

getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brü<strong>de</strong>rn, das habt ihr mir getan.“ Matthäus<br />

25,40.<br />

Jesus hatte seine Jünger wissen lassen, daß sie von allen Menschen gehaßt, verfolgt und<br />

gekränkt wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>n. Viele von ihnen wür<strong>de</strong>n aus ihren Häusern vertrieben und <strong>de</strong>r Armut<br />

ausgeliefert wer<strong>de</strong>n. An<strong>de</strong>re wie<strong>de</strong>rum gerieten durch Krankheit und Entbehrung in Not.<br />

Wie<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re wür<strong>de</strong>n ins Gefängnis geworfen wer<strong>de</strong>n. Allen, die um seinetwillen Freun<strong>de</strong> und<br />

Angehörige verlassen müßten, hatte er bereits für dieses Leben hun<strong>de</strong>rtfachen Lohn<br />

versprochen. Jetzt sicherte er <strong>de</strong>nen, die zum Wohl ihrer Brü<strong>de</strong>r wirken, einen beson<strong>de</strong>ren<br />

Segen zu. In allen Menschen, die um meines Namens willen lei<strong>de</strong>n müssen, könnt ihr mich<br />

persönlich erkennen, so etwa sagte er. Wer mir dienen will, wen<strong>de</strong> sich hilfreich ihnen zu.<br />

Damit bezeugt ihr, daß ihr meine Jünger seid.<br />

Je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r in die himmlische Familie hineingeboren wur<strong>de</strong>, ist in beson<strong>de</strong>rem Sinne ein<br />

Bru<strong>de</strong>r unseres Herrn. <strong>Die</strong> Liebe <strong>Christi</strong> verbin<strong>de</strong>t alle Angehörigen seiner Familie. Überall, wo<br />

Liebe bekun<strong>de</strong>t wird, offenbart sich die Zugehörigkeit zu Gott. „Wer liebhat, <strong>de</strong>r ist von Gott<br />

geboren und kennt Gott.“ 1.Johannes 4,7. Vielleicht haben jene, <strong>de</strong>nen <strong>Christi</strong> Lob im Gericht<br />

gilt, nur geringe theologische Kenntnisse, sie haben jedoch seine Grundsätze ausgelebt. Durch<br />

<strong>de</strong>n Einfluß <strong>de</strong>s Heiligen Geistes wur<strong>de</strong>n sie ihrer Umgebung zum Segen. Sogar unter <strong>de</strong>n<br />

Hei<strong>de</strong>n befin<strong>de</strong>n sich Menschen, die <strong>de</strong>n Geist <strong>de</strong>r Güte offenbaren. Noch ehe sie das Wort <strong>de</strong>s<br />

Lebens zu hören bekamen, haben sie <strong>de</strong>n Missionaren Freundschaft erwiesen und ihnen oft<br />

sogar unter Lebensgefahr geholfen. Manche Hei<strong>de</strong>n dienen Gott unwissentlich. Niemals wur<strong>de</strong><br />

ihnen sein Licht durch menschliche Vermittler überbracht. Trotz<strong>de</strong>m wer<strong>de</strong>n sie nicht<br />

437


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

verlorengehen. Zwar kannten sie das geschriebene Gebot Gottes nicht, sie vernahmen aber seine<br />

Stimme in <strong>de</strong>r Natur und taten, was das Gesetz for<strong>de</strong>rt. Ihre Werke bekun<strong>de</strong>ten, daß <strong>de</strong>r Heilige<br />

Geist ihre Herzen berührt hatte, und Gott anerkennt sie als seine Kin<strong>de</strong>r.<br />

Wie überrascht und beglückt wer<strong>de</strong>n die Demütigen unter <strong>de</strong>n Völkern und Hei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>reinst<br />

aus <strong>de</strong>m Mun<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s die Worte vernehmen: „Was ihr getan habt einem unter diesen<br />

meinen geringsten Brü<strong>de</strong>rn, das habt ihr mir getan.“ Matthäus 25,40. Welche Freu<strong>de</strong> wird das<br />

Herz <strong>de</strong>r unendlichen Liebe erfüllen, wenn seine Nachfolger bei seinen Lobesworten überrascht<br />

und voller Freu<strong>de</strong> zu ihm aufschauen wer<strong>de</strong>n! <strong>Christi</strong> Liebe beschränkt sich nicht auf eine<br />

beson<strong>de</strong>re Klasse, vielmehr setzt er sich je<strong>de</strong>m Menschenkind gleich. Damit wir Glie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />

himmlischen Familie wür<strong>de</strong>n, wur<strong>de</strong> er Teil <strong>de</strong>r irdischen Familie. Als Menschensohn wur<strong>de</strong> er<br />

je<strong>de</strong>m Sohn und je<strong>de</strong>r Tochter Adams zum Bru<strong>de</strong>r. Seine Nachfolger sollen sich nicht als<br />

losgelöst von <strong>de</strong>r sie umgeben<strong>de</strong>n untergehen<strong>de</strong>n Welt betrachten, son<strong>de</strong>rn als Teil <strong>de</strong>r großen<br />

menschlichen Familie. In <strong>de</strong>n Augen Gottes sind sie sowohl Brü<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>r als auch Brü<strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>r Heiligen. <strong>Christi</strong> Liebe umschließt alle gefallenen, irren<strong>de</strong>n und sündigen Menschen.<br />

Deshalb betrachtet er je<strong>de</strong> Tat <strong>de</strong>r Güte, je<strong>de</strong>n Akt <strong>de</strong>r Barmherzigkeit, je<strong>de</strong>s Aufhelfen einer<br />

gefallenen Seele so, als wäre es für ihn getan.<br />

<strong>Die</strong> Engel Gottes sind ausgesandt, <strong>de</strong>nen zu dienen, die Erben <strong>de</strong>s Heils wer<strong>de</strong>n sollen. Noch<br />

wissen wir nicht, wer dazu gehört, und noch ist nicht offenbar, wer überwin<strong>de</strong>n und am Erbe<br />

<strong>de</strong>r Heiligen im Licht teilhaben wird. Jedoch gehen himmlische Wesen über die ganze Er<strong>de</strong> in<br />

<strong>de</strong>m Verlangen, die Traurigen zu trösten, die Angefochtenen zu schützen und die Herzen <strong>de</strong>r<br />

Menschen für Christus zu gewinnen. Niemand wird von ihnen übersehen, keiner achtlos<br />

übergangen. Gott schaut nicht die Person an, er sorgt in gleicher Weise für alle seine<br />

Geschöpfe.<br />

Wenn du einem <strong>de</strong>r Notlei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n und Betrübten <strong>Christi</strong> die Tür öffnest, heißt du damit<br />

unsichtbare Engel willkommen. Du lädst dir die Gesellschaft himmlischer Wesen ins Haus, und<br />

sie verbreiten eine geheiligte Atmosphäre <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong> und <strong>de</strong>s Frie<strong>de</strong>ns. Sie kommen mit einem<br />

Lobpreis auf <strong>de</strong>n Lippen, und im Himmel ertönt Antwort. Je<strong>de</strong> Tat <strong>de</strong>r Barmherzigkeit läßt dort<br />

Musik erklingen. Der Vater auf seinem Thron sieht in <strong>de</strong>n selbstlosen <strong>Die</strong>nern seinen größten<br />

Schatz. <strong>Die</strong> Menschen zur Linken <strong>Christi</strong> haben ihn nie in <strong>de</strong>r Gestalt <strong>de</strong>r Armen und<br />

Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n wahrgenommen und waren sich keiner Schuld bewußt. Satan hatte sie verblen<strong>de</strong>t, so<br />

daß sie nicht erkannten, was sie ihren Brü<strong>de</strong>rn schul<strong>de</strong>ten. Sie dachten nur an sich selbst und<br />

hatten für die Not an<strong>de</strong>rer nichts übrig.<br />

Den Reichen hat Gott Wohlstand gegeben in <strong>de</strong>r Erwartung, daß sie seine notlei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />

Kin<strong>de</strong>r unterstützen und trösten. Aber allzuoft zeigen sie kein Empfin<strong>de</strong>n für die Bedürfnisse<br />

an<strong>de</strong>rer. Ihren armen Brü<strong>de</strong>rn gegenüber fühlen sie sich erhaben. Sie versetzen sich nicht in<br />

<strong>de</strong>ren Lage und verstehen daher auch nichts von <strong>de</strong>ren Versuchungen und Kämpfen, so daß die<br />

Barmherzigkeit in ihnen erstirbt. In ihren kostbaren Wohnungen und reich ausgestatteten<br />

Kirchen schließen sich die Reichen von <strong>de</strong>n Armen ab. <strong>Die</strong> Mittel, die Gott ihnen zur Lin<strong>de</strong>rung<br />

<strong>de</strong>r Not anvertraut hat, wer<strong>de</strong>n von ihnen verschwen<strong>de</strong>risch und selbstsüchtig vergeu<strong>de</strong>t.<br />

Täglich wird <strong>de</strong>n Armen die Unterweisung hinsichtlich <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong> Gottes vorenthalten; <strong>de</strong>nn<br />

438


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

eigentlich hat <strong>de</strong>r Herr in reichem Maße dafür Sorge getragen, daß die Armen mit allem<br />

Lebensnotwendigen erquickt wer<strong>de</strong>n könnten. Sie bekommen jedoch die unangenehmen Folgen<br />

<strong>de</strong>r Armut zu spüren und geraten oft in die Gefahr, neidisch, mißtrauisch und argwöhnisch zu<br />

wer<strong>de</strong>n. Wer kaum einmal wirkliche Not an sich selbst erfahren hat, wird die Armen<br />

geringschätzig behan<strong>de</strong>ln und sie in <strong>de</strong>m Gefühl bestärken, als Habenichtse angesehen zu<br />

wer<strong>de</strong>n.<br />

Aber Christus sieht das alles und sagt: Ich war es, <strong>de</strong>r hungrig und durstig vor dir stand. Ich<br />

war <strong>de</strong>r Fremdling, <strong>de</strong>r Kranke, <strong>de</strong>r Gefangene. Während du an <strong>de</strong>iner mit Köstlichkeiten reich<br />

bela<strong>de</strong>nen Tafel Feste feiertest, darbte ich in einer Elendshütte o<strong>de</strong>r auf einsamer Straße. Du<br />

machtest es dir in <strong>de</strong>iner Luxuswohnung bequem, ich aber hatte nicht, wohin ich mein Haupt<br />

legen konnte. Während <strong>de</strong>in Klei<strong>de</strong>rschrank die teuren Gewän<strong>de</strong>r kaum fassen konnte, hüllte<br />

ich mich in Lumpen. Du gingst <strong>de</strong>inen Vergnügungen nach, während ich im Gefängnis<br />

schmachtete. Dachtest du jemals daran, daß du <strong>de</strong>m Herrn <strong>de</strong>r Herrlichkeit etwas darbrachtest,<br />

wenn du <strong>de</strong>m armen Verhungern<strong>de</strong>n nur ein Quentchen Brot o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m erfrieren<strong>de</strong>n nur ein<br />

dünnes Kleidungsstück gabst? Alle Tage <strong>de</strong>ines Lebens war ich in <strong>de</strong>r Person solcher geplagter<br />

Menschen neben dir. Du aber hast mich nicht beachtet. Du bleibst <strong>de</strong>shalb von <strong>de</strong>r Bru<strong>de</strong>rschaft<br />

mit mir ausgeschlossen. Ich kenne dich nicht.<br />

Viele halten es für eine beson<strong>de</strong>re Ehre, die Stätten <strong>de</strong>s irdischen Lebens Jesu aufzusuchen,<br />

seinen Wegen nachzugehen, über <strong>de</strong>n See zu blicken, an <strong>de</strong>ssen Ufern er gelehrt hatte, o<strong>de</strong>r auf<br />

<strong>de</strong>n Bergen und in <strong>de</strong>n Tälern zu weilen, auf <strong>de</strong>nen so oft seine Blicke geruht hatten. Wir<br />

brauchen jedoch nicht erst nach Nazareth, Kapernaum o<strong>de</strong>r Bethanien zu gehen, wenn wir in<br />

seinen Fußtapfen wan<strong>de</strong>ln wollen. Wir fin<strong>de</strong>n seine Gegenwart am Lager <strong>de</strong>r Kranken, in <strong>de</strong>n<br />

Hütten <strong>de</strong>r Armut, in <strong>de</strong>n belebten Straßen <strong>de</strong>r Großstädte und überall dort, wo<br />

Menschenherzen <strong>de</strong>s Trostes bedürfen. Wenn wir Jesus in <strong>de</strong>m nacheifern, was er auf Er<strong>de</strong>n tat,<br />

dann folgen wir seinen Fußspuren.<br />

Betätigung gibt es in dieser Hinsicht für je<strong>de</strong>n. „Arme habt ihr allezeit bei euch“ (Johannes<br />

12,8), sagte Jesus. Niemand braucht das Gefühl zu haben, daß es für ihn keinen Platz gäbe, an<br />

<strong>de</strong>m er <strong>de</strong>m Herrn dienen könnte. Viele Millionen Menschen sind <strong>de</strong>m Ver<strong>de</strong>rben ausgeliefert<br />

und mit Ketten <strong>de</strong>r Unwissenheit und Sün<strong>de</strong> gebun<strong>de</strong>n. Niemals haben sie auch nur das<br />

geringste von <strong>Christi</strong> Liebe zu ihnen gehört. Wären wir an ihrer und sie an unserer Stelle, was<br />

wünschten wir uns dann wohl von ihnen? Alles das sollten wir ihnen, soweit es in unserer<br />

Macht liegt, zuteil wer<strong>de</strong>n lassen. <strong>Christi</strong> Lebensregel, durch die wir beim Gericht stehen o<strong>de</strong>r<br />

fallen wer<strong>de</strong>n, lautet: „Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihnen<br />

auch!“ Matthäus 7,12.<br />

Der Heiland hat sein kostbares Leben dahingegeben, um eine Gemein<strong>de</strong> zu bauen, die fähig<br />

ist, sich um jene Menschen zu kümmern, die in Sorgen und Versuchungen verstrickt sind. Eine<br />

Gemeinschaft von Gläubigen mag arm, ungebil<strong>de</strong>t und unbekannt sein; doch durch Christus<br />

kann sie daheim, in <strong>de</strong>r Nachbarschaft, in <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong> und sogar in <strong>de</strong>r Ferne eine Wirkung<br />

ausüben, <strong>de</strong>ren Früchte erst die Ewigkeit ausweisen wird. Weil diese Aufgabe unterlassen wird,<br />

machen so viele Jünger Jesu kaum Fortschritte im Erlernen <strong>de</strong>s Alphabets christlicher<br />

439


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Erfahrung. Das Licht, das in ihren Herzen aufleuchtete, als Jesus zu ihnen sprach: „Deine<br />

Sün<strong>de</strong>n sind dir vergeben“ (Matthäus 9,2; Lukas 7,48), hätten sie dadurch lebendig erhalten<br />

müssen, daß sie an<strong>de</strong>ren in ihrer Not halfen. <strong>Die</strong> rastlose Tatkraft, die jungen Menschen so oft<br />

gefährlich wer<strong>de</strong>n kann, sollte in Kanäle geleitet wer<strong>de</strong>n, durch die sie als Strom <strong>de</strong>s Segens<br />

weiterfließt. Seine Selbstsucht überwin<strong>de</strong>t man durch ernsthaftes Bemühen, an<strong>de</strong>ren Gutes zu<br />

tun.<br />

Wer an<strong>de</strong>ren dient, <strong>de</strong>m wird <strong>de</strong>r Oberhirte dienen. Er wird selbst vom Lebenswasser trinken<br />

und volle Genüge haben. Sein Sehnen geht nicht auf vergängliche Freu<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r Abwechslung<br />

in seinem Leben aus. Sein Hauptverlangen ist darauf gerichtet, Seelen zu retten, die <strong>de</strong>m<br />

Ver<strong>de</strong>rben ausgeliefert sind. Der Umgang miteinan<strong>de</strong>r wird sich nutzbringend auswirken, und<br />

die Liebe <strong>de</strong>s Erlösers wird die Herzen in Einigkeit verbin<strong>de</strong>n. Wenn wir uns vergegenwärtigen,<br />

daß wir Gottes Mitarbeiter sind, wer<strong>de</strong>n wir seine Verheißungen nicht gleichgültig daherre<strong>de</strong>n.<br />

Sie wer<strong>de</strong>n vielmehr in unseren Herzen brennen und unsere Lippen erregen. Als Mose<br />

aufgefor<strong>de</strong>rt wur<strong>de</strong>, einem unwissen<strong>de</strong>n, ungehorsamen und aufrührerischen Volk zu dienen,<br />

versprach ihm Gott: „Mein Angesicht soll vorangehen; ich will dich zur Ruhe leiten.“ 2.Mose<br />

33,14. „Ich will mit dir sein.“ 2.Mose 3,12. <strong>Die</strong>se Zusage gilt allen, die sich an <strong>Christi</strong> Statt für<br />

die Betrübten und Notlei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n einsetzen.<br />

<strong>Die</strong> Liebe zum Menschen ist die erdwärts gerichtete Bekundung <strong>de</strong>r Liebe Gottes. Um diese<br />

Liebe in uns einzupflanzen und uns zu Kin<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r einen großen Familie zu machen, wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />

König <strong>de</strong>r Herrlichkeit eins mit uns. Wenn sein Abschiedswort: „Das ist mein Gebot, daß ihr<br />

euch untereinan<strong>de</strong>r liebet, gleichwie ich euch liebe“ (Johannes 15,12), von uns erfüllt wird,<br />

wenn wir die Welt so lieben, wie er sie geliebt hat, dann ist sein Auftrag an uns vollen<strong>de</strong>t. Wir<br />

sind bereit für <strong>de</strong>n Himmel, <strong>de</strong>nn wir tragen ihn in unseren Herzen. „Errette, die man zum To<strong>de</strong><br />

schleppt, und entzieh dich nicht <strong>de</strong>nen, die zur Schlachtbank wanken. Sprichst du: Siehe, wir<br />

haben‘s nicht gewußt!, fürwahr, <strong>de</strong>r die Herzen prüft, merkt es, und <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>ine Seele achthat,<br />

weiß es und vergilt <strong>de</strong>m Menschen nach seinem Tun.“ Sprüche 24,11.12. An <strong>de</strong>m großen<br />

Gerichtstag wird <strong>de</strong>r Weltenrichter alle jene zu <strong>de</strong>n Bösewichtern rechnen, die nichts für<br />

Christus getan, son<strong>de</strong>rn nur an sich selbst gedacht und allein für sich gesorgt haben. Sie<br />

verfallen <strong>de</strong>m gleichen Verdammungsspruch wie jene Übeltäter. Je<strong>de</strong>m ist ein beson<strong>de</strong>res Gut<br />

anvertraut wor<strong>de</strong>n. Sie wird <strong>de</strong>r Oberhirte <strong>de</strong>reinst fragen: „Wo ist nun die Her<strong>de</strong>, die dir<br />

befohlen war, <strong>de</strong>ine herrliche Her<strong>de</strong>?“ Jeremia 13,20.<br />

440


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 71: Aller <strong>Die</strong>ner<br />

Im oberen Raum eines Hauses in Jerusalem saß Christus mit seinen Jüngern zu Tisch. Sie<br />

hatten sich hier versammelt, um das Passah zu feiern, und <strong>de</strong>r Heiland wollte dieses Fest mit<br />

seinen Jüngern allein begehen. Er wußte, daß seine Zeit gekommen war; er selbst war das wahre<br />

Opferlamm. An <strong>de</strong>m Tage, an <strong>de</strong>m das Passah gegessen wur<strong>de</strong>, wür<strong>de</strong> er geopfert wer<strong>de</strong>n. Er<br />

stand im Begriff, <strong>de</strong>n Kelch <strong>de</strong>s Zorns zu trinken und wür<strong>de</strong> bald die Lei<strong>de</strong>nstaufe empfangen<br />

müssen. Nur noch wenige Stun<strong>de</strong>n blieben ihm, und diese wollte er zum Wohle seiner geliebten<br />

Jünger verbringen.<br />

Das Leben Jesu auf Er<strong>de</strong>n war ein Leben selbstlosen <strong>Die</strong>nstes gewesen. Alle seine Taten<br />

hatten bezeugt, daß er nicht gekommen war, „daß er sich dienen lasse, son<strong>de</strong>rn daß er<br />

diene“. Matthäus 20,28. Seine Jünger hatten dies noch nicht begriffen; darum wie<strong>de</strong>rholte Jesus<br />

bei diesem letzten Passahmahl seine Lehre mit Hilfe einer anschaulichen Erläuterung, damit sie<br />

ihren Herzen und Sinnen unauslöschlich eingeprägt wer<strong>de</strong>. <strong>Die</strong> Stun<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Alleinseins mit<br />

ihrem Meister — von ihnen allen hochgeschätzt — waren <strong>de</strong>n Jüngern immer ein Quell reicher<br />

Freu<strong>de</strong>. Das Passahmahl war stets ein Ereignis von beson<strong>de</strong>rem Reiz gewesen; doch an diesem<br />

Passahfest zeigte sich <strong>de</strong>r Herr betrübt, sein Herz war bedrückt, und ein Schatten lag auf seinem<br />

Angesicht. Als er mit <strong>de</strong>n Jüngern in <strong>de</strong>m oberen Saal zusammentraf, erkannten diese sofort,<br />

daß irgend etwas sein Gemüt beschwerte; obgleich sie die Ursache nicht wußten, nahmen sie<br />

doch innigen Anteil an seinem Kummer.<br />

Als sie um <strong>de</strong>n Tisch versammelt waren, sagte Jesus mit bewegter Stimme: „Mich hat<br />

herzlich verlangt, dies Osterlamm mit euch zu essen, ehe <strong>de</strong>nn ich lei<strong>de</strong>. Denn ich sage euch,<br />

daß ich hinfort nicht mehr essen wer<strong>de</strong>, bis daß es seine Erfüllung fin<strong>de</strong>t im Reich Gottes. Und<br />

er nahm <strong>de</strong>n Kelch, dankte und sprach: Nehmet ihn und teilet ihn unter euch; <strong>de</strong>nn ich sage<br />

euch: Von nun an wer<strong>de</strong> ich nicht trinken von <strong>de</strong>m Gewächs <strong>de</strong>s Weinstocks, bis das Reich<br />

Gottes kommt.“ Lukas 22,15-18.<br />

Der Heiland wußte, daß die Zeit gekommen war, von dieser Welt zu schei<strong>de</strong>n und zu seinem<br />

Vater zu gehen. Er hat die Seinigen in dieser Welt geliebt, und er liebte sie bis ans En<strong>de</strong>. Nun<br />

befand er sich im Schatten <strong>de</strong>s Kreuzes, und Schmerz peinigte sein Herz. Ihm war bewußt, daß<br />

er in <strong>de</strong>r Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Verrats allein stehen wür<strong>de</strong>. Er wußte, daß er durch <strong>de</strong>n <strong>de</strong>mütigendsten<br />

Prozeß, <strong>de</strong>m Verbrecher je unterworfen wur<strong>de</strong>n, zum To<strong>de</strong> verurteilt wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>. Er kannte<br />

die Undankbarkeit und Grausamkeit <strong>de</strong>rer, die zu retten er gekommen war. Ihm war die Größe<br />

seines Opfers bewußt, und ihm war ebenso bewußt, für wie viele Menschen es vergebens sein<br />

wer<strong>de</strong>. Das Wissen um all diese Dinge wür<strong>de</strong> es verständlich gemacht haben, wenn ihn <strong>de</strong>r<br />

Gedanke an seine Erniedrigung und sein Lei<strong>de</strong>n überwältigt hätte. Er aber blickte auf die Zwölf,<br />

die sich ihm mit ganzem Herzen angeschlossen hatten und die, wenn die Zeit seiner Lei<strong>de</strong>n<br />

vorüber wäre, allein sein wür<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>m Ringen, in dieser Welt zu bestehen. <strong>Die</strong> Gedanken an<br />

sein Opfer verban<strong>de</strong>n sich stets mit <strong>de</strong>r Zukunft seiner Jünger; er dachte nicht an sich selbst,<br />

vielmehr beherrschte ihn auch jetzt die Sorge um sie.<br />

441


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

An diesem letzten Abend hatte Jesus seinen Jüngern viel zu sagen. Wären sie bereit gewesen,<br />

das aufzunehmen, was er ihnen mitteilen wollte, dann wären sie vor herzbrechen<strong>de</strong>r Pein, vor<br />

Enttäuschung und Unglauben bewahrt geblieben. Doch <strong>de</strong>r Heiland sah, daß sie nicht tragen<br />

konnten, was er ihnen zu sagen hatte; er schaute sie bekümmert an, und die mahnen<strong>de</strong>n und<br />

trösten<strong>de</strong>n Worte erstarben auf seinen Lippen. Tiefes Schweigen erfüllte <strong>de</strong>n Raum; <strong>de</strong>r Heiland<br />

schien auf etwas zu warten. Den Jüngern wur<strong>de</strong> es unbehaglich. Das durch <strong>de</strong>n Kummer ihres<br />

Meisters hervorgerufene Mitgefühl und die Anteilnahme an seinem Schicksal schienen<br />

geschwun<strong>de</strong>n zu sein. Seine bekümmerten Worte, die auf seinen Lei<strong>de</strong>nsweg hinwiesen, hatten<br />

nur wenig Eindruck auf sie gemacht; die Blicke, die sie einan<strong>de</strong>r zuwarfen, sprachen vielmehr<br />

von Eifersucht und Streit.<br />

Es war „ein Zank unter ihnen, welcher unter ihnen sollte für <strong>de</strong>n Größten gehalten<br />

wer<strong>de</strong>n“. Lukas 22,24. <strong>Die</strong>ser Streit, <strong>de</strong>n sie auch in Jesu Gegenwartnoch fortsetzten, betrübte<br />

und verletzte <strong>de</strong>n Heiland. <strong>Die</strong> Zwölf klammerten sich an ihren Lieblingswunsch, daß ihr<br />

Meister seine Macht durchsetzen und vom Thron Davids Besitz nehmen möchte, und in seinem<br />

Herzen sehnte sich je<strong>de</strong>r danach, in diesem Reich <strong>de</strong>r Größte zu sein. Sie hatten sich<br />

untereinan<strong>de</strong>r abschätzend betrachtet; aber statt ihren Bru<strong>de</strong>r für würdiger zu achten, hatten sie<br />

sich selbst auf <strong>de</strong>n ersten Platz gesetzt. <strong>Die</strong> Bitte <strong>de</strong>s Jakobus und <strong>de</strong>s Johannes an Jesus, zur<br />

Rechten und Linken seines Thrones sitzen zu dürfen, hatte <strong>de</strong>n Unwillen <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren<br />

hervorgerufen. Daß die bei<strong>de</strong>n Brü<strong>de</strong>r es gewagt hatten, nach <strong>de</strong>m höchsten Platz an <strong>de</strong>r Seite<br />

Jesu zu fragen, erregte die Zehn so sehr, daß sie sich einan<strong>de</strong>r zu entfrem<strong>de</strong>n drohten. Sie<br />

fühlten sich falsch beurteilt, sie fühlten ihre Treue und ihre Begabung nicht richtig gewürdigt;<br />

beson<strong>de</strong>rs Judas stritt sehr heftig gegen Jakobus und Johannes.<br />

Noch beim Eintritt in <strong>de</strong>n Saal waren die Herzen <strong>de</strong>r Jünger mit Groll erfüllt. Judas drängte<br />

sich an Jesu linke Seite, Johannes ging auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rn. Wenn es einen höchsten Platz gab dann<br />

war Judas entschlossen, ihn einzunehmen, und dieser Platz mußte sich in nächster Nähe <strong>de</strong>s<br />

Herrn befin<strong>de</strong>n. Und Judas war ein — Verräter. Eine an<strong>de</strong>re Ursache <strong>de</strong>r Uneinigkeit kam auf.<br />

Zu <strong>de</strong>m Fest war es Brauch, daß ein <strong>Die</strong>ner <strong>de</strong>n Gästen die Füße wusch, und dafür waren die<br />

entsprechen<strong>de</strong>n Vorbereitungen getroffen wor<strong>de</strong>n. Krug, Schüssel und Handtuch waren bereit.<br />

<strong>Die</strong> Fußwaschung konnte beginnen. Da aber kein <strong>Die</strong>ner anwesend war, gehörte es zur Aufgabe<br />

<strong>de</strong>r Jünger, diesen <strong>Die</strong>nst zu erfüllen. Doch keiner <strong>de</strong>r Jünger konnte sich entschließen, seinen<br />

verwun<strong>de</strong>ten Stolz aufzugeben und sich als <strong>Die</strong>ner zu betätigen. Alle zeigten eine sture<br />

Gleichgültigkeit, ohne sich <strong>de</strong>ssen bewußt zu sein, daß hier etwas für sie zu tun war. Durch ihr<br />

Stillschweigen weigerten sie sich, sich zu <strong>de</strong>mütigen.<br />

Wie konnte Jesus diese armen Seelen dahin bringen, daß Satan keinen größeren Einfluß auf<br />

sie gewann? Wie konnte er ihnen verständlich machen, daß nicht allein das Bekenntnis <strong>de</strong>r<br />

Jüngerschaft sie zu seinen Nachfolgern machte o<strong>de</strong>r ihnen einen Platz in seinem Reich sicherte?<br />

Wie konnte er ihnen zeigen, daß wahre Größe in echter Demut und im <strong>Die</strong>nst für an<strong>de</strong>re<br />

besteht? Wie konnte er Liebe in ihren Herzen entzün<strong>de</strong>n? Wie konnte er die Liebe in ihre<br />

Herzen pflanzen und sie befähigen, das zu verstehen, was er ihnen sagen wollte? <strong>Die</strong> Jünger<br />

machten keinerlei Anstalten, einan<strong>de</strong>r zu dienen. Jesus wartete eine Weile, um zu sehen, was sie<br />

442


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

tun wür<strong>de</strong>n, dann erhob er sich von <strong>de</strong>r Tafel, legte das stören<strong>de</strong> Oberkleid ab, „nahm einen<br />

Schurz und umgürtete sich“. Erstaunt sahen die Jünger zu; schweigend warteten sie, was nun<br />

folgen wür<strong>de</strong>. „Danach goß er Wasser in ein Becken, hob an, <strong>de</strong>n Jüngern die Füße zu waschen,<br />

und trocknete sie mit <strong>de</strong>m Schurz, mit <strong>de</strong>m er umgürtet war.“ Johannes 13,4.5. <strong>Die</strong>se Handlung<br />

Jesu öffnete ihnen die Augen, und bittere Scham erfüllte ihre Herzen; sie fühlten sich<br />

ge<strong>de</strong>mütigt. Sie verstan<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n unausgesprochenen Ta<strong>de</strong>l und sahen sich selbst in einem ganz<br />

neuen Licht.<br />

So bekun<strong>de</strong>te Jesus seine Liebe zu seinen Jüngern. Ihr selbstsüchtiger Geist bekümmerte ihn;<br />

aber er ließ sich in dieser Angelegenheit in keinerlei Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit ihnen ein, son<strong>de</strong>rn<br />

gab ihnen ein Beispiel, das sie nie vergessen wür<strong>de</strong>n. Seine Liebe zu ihnen konnte nicht so<br />

leicht gestört o<strong>de</strong>r erstickt wer<strong>de</strong>n. Er „wußte, daß ihm <strong>de</strong>r Vater hatte alles in seine Hän<strong>de</strong><br />

gegeben und daß er von Gott gekommen war und zu Gott ging.“ Johannes 13,3. Er war sich<br />

seiner Göttlichkeit völlig bewußt, hatte aber seine Königskrone und seine königlichen<br />

Gewän<strong>de</strong>r abgelegt und die Gestalt eines Knechtes angenommen. Eine <strong>de</strong>r letzten Handlungen<br />

seines Er<strong>de</strong>nlebens war, sich wie ein <strong>Die</strong>ner zu gürten und die Aufgabe eines <strong>Die</strong>ners zu<br />

erfüllen.<br />

Vor <strong>de</strong>m Passahfest hatte sich Judas ein zweites Mal mit <strong>de</strong>n Pharisäern und Schriftgelehrten<br />

getroffen und mit ihnen vereinbart, Jesus in ihre Hän<strong>de</strong> zu liefern. Ungeachtet <strong>de</strong>ssen mischte er<br />

sich hernach unter die Jünger, als ob er sich nie eines Unrechts schuldig gemacht hätte, ja, er<br />

nahm sogar an <strong>de</strong>n Festvorbereitungen regen Anteil. <strong>Die</strong> Jünger wußten nichts von seiner<br />

Absicht, nur Jesus kannte sein Geheimnis. Dennoch stellte er ihn nicht bloß; <strong>de</strong>nn er sorgte sich<br />

um <strong>de</strong>ssen Seele, für die er die gleiche Bür<strong>de</strong> auf sich lasten fühlte wie für Jerusalem, als er<br />

über die zum Untergang verurteilte Stadt weinte. Sein Herz rief: „Wie könnte ich dich<br />

aufgeben!“ Auch Judas spürte die bezwingen<strong>de</strong> Macht dieser Liebe, und als Jesu Hän<strong>de</strong> seine<br />

beschmutzten Füße wuschen und mit <strong>de</strong>m Schurz abtrockneten, wur<strong>de</strong> sein Herz mächtig<br />

bewegt von <strong>de</strong>m Gedanken, seine Sün<strong>de</strong> sofort zu bekennen. Er schreckte aber vor <strong>de</strong>r<br />

Demütigung zurück und verhärtete sein Herz gegen die in ihm aufbrechen<strong>de</strong> Reue.<br />

<strong>Die</strong> alten Regungen, für einen Augenblick zurückgedrängt, beherrschten ihn wie<strong>de</strong>r; er war<br />

sogar darüber aufgebracht, daß Jesus seinen Jüngern die Füße wusch. Wer sich so weit<br />

erniedrigte, dachte er, konnte nicht Israels König sein! Alle Hoffnungen auf weltliche Ehre in<br />

einem irdischen Königreich waren zunichte gemacht. Judas war überzeugt, daß es in <strong>de</strong>r<br />

Nachfolge <strong>Christi</strong> nichts zu gewinnen gab. Nach<strong>de</strong>m Jesus sich offenbar erniedrigt hatte, fühlte<br />

sich Judas in seiner Absicht bestärkt, ihn nicht mehr als Herrn und Meister anzuerkennen, ja, er<br />

hielt sich sogar für <strong>de</strong>n Betrogenen. Er war von einem bösen Geist besessen und beschloß, das<br />

Werk zu vollen<strong>de</strong>n, das er begonnen hatte: seinen Herrn zu verraten!<br />

Bei <strong>de</strong>r Platzwahl am Tisch <strong>de</strong>s Herrn hatte Judas mit Erfolg versucht, <strong>de</strong>n ersten Platz zu<br />

erlangen, und so diente ihm Jesus auch als erstem. Johannes, gegen <strong>de</strong>n Judas so sehr verbittert<br />

war, mußte bis zuletzt warten; doch er wertete das nicht als Ta<strong>de</strong>l o<strong>de</strong>r als einen Ausdruck <strong>de</strong>r<br />

Geringschätzung. <strong>Die</strong> Jünger waren tief bewegt, als sie Jesu Handlungsweise sahen. Da die<br />

Reihe an Petrus kam rief dieser bestürzt aus: „Herr, solltest du mir meine Füße waschen?“ Jesu<br />

443


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Herablassung bedrückte ihn. Er schämte sich bei <strong>de</strong>m Gedanken, daß nicht einer <strong>de</strong>r Jünger zu<br />

diesem <strong>Die</strong>nst bereit gewesen war. Doch „Jesus antwortete und sprach zu ihm: Was ich tue, das<br />

weißt du jetzt nicht; du wirst es aber hernach erfahren“. Johannes 13,6.7. Petrus konnte es nicht<br />

ertragen, seinen Herrn, von <strong>de</strong>m er glaubte, daß er Gottes Sohn ist, als <strong>Die</strong>ner vor sich zu sehen;<br />

sein ganzes Empfin<strong>de</strong>n lehnte sich gegen diese Demütigung auf. Er erkannte nicht, daß Christus<br />

allein aus diesem Grun<strong>de</strong> in die Welt gekommen war. Mit aller Entschie<strong>de</strong>nheit sprach er:<br />

„Nimmermehr sollst du mir die Füße waschen!“<br />

Feierlich erwi<strong>de</strong>rte ihm Jesus: „Wer<strong>de</strong> ich dich nicht waschen, so hast du kein Teil an<br />

mir.“ Johannes 13,8. Der <strong>Die</strong>nst, <strong>de</strong>n Petrus verweigerte, war das Sinnbild einer an<strong>de</strong>ren<br />

Reinigung. Christus war gekommen, das Herz von <strong>de</strong>n Flecken <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> zu reinigen. In<strong>de</strong>m<br />

Petrus <strong>de</strong>m Herrn nicht erlauben wollte, ihm die Füße zu waschen, wehrte er sich gleichzeitig<br />

gegen die Reinigung seines Herzens und verwarf in Wahrheit damit seinen Herrn. Es ist nicht<br />

<strong>de</strong>mütigend für <strong>de</strong>n Herrn, wenn wir ihm gestatten, uns zu reinigen. Wahre Demut ist es jedoch,<br />

mit dankbarem Herzen je<strong>de</strong> für uns getroffene Fürsorge anzunehmen und mit Eifer für ihn zu<br />

wirken. Bei <strong>de</strong>n Worten: „Wer<strong>de</strong> ich dich nicht waschen, so hast du kein Teil an mir“ ließ<br />

Petrus seinen Stolz und Eigensinn fahren. Den Gedanken <strong>de</strong>r Trennung von Christus konnte er<br />

nicht ertragen; das hätte für ihn <strong>de</strong>n Tod be<strong>de</strong>utet. „Herr, nicht die Füße allein“, rief er aus,<br />

„son<strong>de</strong>rn auch die Hän<strong>de</strong> und das Haupt! Spricht Jesus zu ihm: Wer gewaschen ist, <strong>de</strong>r bedarf<br />

nichts als noch die Füße waschen; <strong>de</strong>nn er ist ganz rein.“ Johannes 13,9.10.<br />

<strong>Die</strong>se Worte meinen mehr als nur die körperliche Reinlichkeit. Der Herr spricht hier von<br />

einer höheren Reinigung, dargestellt durch die niedrigere. Wer aus <strong>de</strong>m Ba<strong>de</strong> kam, war rein; nur<br />

die mit Sandalen beklei<strong>de</strong>ten Füße wur<strong>de</strong>n bald wie<strong>de</strong>r staubig und bedurften aufs neue <strong>de</strong>r<br />

Reinigung. So waren Petrus und seine Mitjünger in <strong>de</strong>r großen Quelle gereinigt wor<strong>de</strong>n, die für<br />

alle Sün<strong>de</strong> und Unreinheit zugänglich ist. Der Herr anerkannte sie als die Seinen, aber die<br />

Versuchung hatte sie zur Sün<strong>de</strong> verführt, und sie bedurften noch seiner reinigen<strong>de</strong>n Gna<strong>de</strong>. Als<br />

sich <strong>de</strong>r Heiland mit <strong>de</strong>m Schurz umgürtete, um <strong>de</strong>n Staub von ihren Füßen zu waschen, wollte<br />

er gera<strong>de</strong> durch diese Handlung ihr Herz von Eifersucht, Zwietracht und Stolz befreien; dies<br />

war die wirkliche Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Fußwaschung. Mit <strong>de</strong>m Geist, <strong>de</strong>r sie damals beherrschte, war<br />

nicht einer von ihnen zur Gemeinschaft mit Jesus fähig. Ehe sie nicht <strong>de</strong>n Geist <strong>de</strong>r Demut und<br />

Liebe besaßen, waren sie nicht vorbereitet, das Passahmahl zu genießen o<strong>de</strong>r an <strong>de</strong>r<br />

Gedächtnisfeier teilzunehmen, die <strong>de</strong>r Heiland gera<strong>de</strong> einsetzen wollte. Ihre Herzen mußten<br />

gereinigt wer<strong>de</strong>n. Stolz und Selbstsucht erzeugen Zwietracht und Haß; dies alles tilgte Jesus,<br />

in<strong>de</strong>m er ihnen die Füße wusch. Ihr Herz än<strong>de</strong>rte sich, und als Jesus auf sie blickte, konnte er<br />

sagen: „Ihr seid rein.“ Johannes 13,9.10. Jetzt herrschte Gemeinschaft <strong>de</strong>r Herzen, und sie<br />

liebten einan<strong>de</strong>r; sie waren beschei<strong>de</strong>n und lernbegierig gewor<strong>de</strong>n. Außer Judas waren sie alle<br />

bereit, einer <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>n höchsten Platz einzuräumen. Sie konnten nun mit ergebenem,<br />

dankbarem Herzen die Worte ihres Meisters aufnehmen.<br />

Wie Petrus und die an<strong>de</strong>rn Jünger, so sind auch wir in <strong>de</strong>m Blut <strong>Christi</strong> gewaschen wor<strong>de</strong>n;<br />

doch wird oft <strong>de</strong>s Herzens Reinheit durch die Berührung mit <strong>de</strong>m Bösen befleckt, und wir<br />

müssen zu Christus kommen, um seine reinigen<strong>de</strong> Gna<strong>de</strong> zu empfangen. Petrus lehnte es<br />

444


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

entsetzt ab, seine staubigen Füße von <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n seines Herrn und Meisters berühren zu<br />

lassen. Wie oft aber kommen unsere sündigen, unreinen Herzen mit <strong>de</strong>r Heiligkeit Jesu in<br />

Berührung! Wie schmerzlich treffen ihn unsere Heftigkeit, unsere Eitelkeit und unser Stolz!<br />

Und doch müssen wir alle Mängel und Gebrechen zu ihm bringen; er allein kann uns davon<br />

reinwaschen. Wir sind nicht auf die Gemeinschaft mit ihm vorbereitet, wenn wir nicht durch<br />

seine Kraft gereingt sind. Jesus sagte <strong>de</strong>n Jüngern: „Ihr seid rein, aber nicht alle.“ Johannes<br />

13,9.10. Auch <strong>de</strong>m Judas waren die Füße gewaschen wor<strong>de</strong>n, aber sein Herz hatte sich Jesus<br />

nicht geöffnet; es war nicht gereinigt. Judas hatte sein Herz Christus nicht ausgeliefert.<br />

Nach<strong>de</strong>m Christus <strong>de</strong>n Jüngern die Füße gewaschen, seine Klei<strong>de</strong>r genommen und sich<br />

wie<strong>de</strong>r nie<strong>de</strong>rgelassen hatte, sprach er: „Wisset ihr, was ich euch getan habe? Ihr heißet mich<br />

Meister und Herr und saget recht daran, <strong>de</strong>nn ich bin‘s auch. Wenn nun ich, euer Herr und<br />

Meister, euch die Füße gewaschen habe, so sollt ihr auch euch untereinan<strong>de</strong>r die Füße waschen.<br />

Ein Beispiel habe ich euch gegeben, daß ihr tut, wie ich euch getan habe. Wahrlich, wahrlich,<br />

ich sage euch: Der Knecht ist nicht größer als sein Herr, noch <strong>de</strong>r Apostel größer als <strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r ihn<br />

gesandt hat.“ Johannes 13,12-16.<br />

Obwohl Christus seinen Jüngern die Füße gewaschen hatte, tat dies seiner Wür<strong>de</strong> keinen<br />

Abbruch; dies wollte er <strong>de</strong>n Jüngern durch sein Beispiel klarmachen. „Ihr heißet mich Meister<br />

und Herr und saget recht daran, <strong>de</strong>nn ich bin‘s auch.“ Johannes 13,12-16. Gera<strong>de</strong> weil er so<br />

unendlich erhaben war, verlieh er <strong>de</strong>m <strong>Die</strong>nen Wür<strong>de</strong> und Be<strong>de</strong>utung. Niemand war so<br />

überragend groß wie Christus, und doch beugte er sich zum <strong>de</strong>mütigendsten <strong>Die</strong>nst. Damit sein<br />

Volk nicht durch die Selbstsucht verführt wür<strong>de</strong>, die im unbekehrten menschlichen Herzen<br />

wohnt und durch Eigenliebe noch gestärkt wird, gab Christus selbst ein Beispiel <strong>de</strong>r Demut. Er<br />

wollte diese wichtige Angelegenheit nicht <strong>de</strong>r menschlichen Verantwortung überlassen. Für ihn<br />

war dies von so großer Tragweite, daß er, <strong>de</strong>r allein mit Gott eins ist, selbst als <strong>Die</strong>ner an seinen<br />

Jüngern han<strong>de</strong>lte. Während sie, die ihn ihren Herrn nannten, sich um <strong>de</strong>n höchsten Rang<br />

stritten, bückte er, vor <strong>de</strong>m sich alle Knie beugen sollen und <strong>de</strong>m zu dienen die heiligen Engel<br />

sich zur Ehre anrechnen, sich vor ihnen nie<strong>de</strong>r und wusch ihnen die Füße. Ja, er wusch sogar<br />

die Füße seines Verräters.<br />

Christus gab in seinem Leben ein vollkommenes Beispiel selbstlosen <strong>Die</strong>nens, das seinen<br />

Ursprung in Gott hat. Gott lebt nicht für sich selbst. In <strong>de</strong>r Erschaffung <strong>de</strong>r Welt und in <strong>de</strong>r<br />

Erhaltung aller Dinge dient er beständig <strong>de</strong>n Menschen. „Er läßt seine Sonne aufgehen über die<br />

Bösen und über die Guten und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ Matthäus 5,45.<br />

<strong>Die</strong>ses Vorbild <strong>de</strong>s <strong>Die</strong>nens übertrug <strong>de</strong>r Vater auf <strong>de</strong>n Sohn. Jesus stand an <strong>de</strong>r Spitze <strong>de</strong>r<br />

Menschheit, die er durch sein Beispiel lehren sollte, was es heißt, zu dienen. Sein ganzes Leben<br />

stand unter <strong>de</strong>m Gesetz <strong>de</strong>s <strong>Die</strong>nstes; er diente allen, und er half allen. So lebte er in<br />

vollkommener Übereinstimmung mit <strong>de</strong>m Willen Gottes und zeigte durch sein Beispiel, wie wir<br />

das Gesetz Gottes erfüllen können. Der Heiland hatte wie<strong>de</strong>r und wie<strong>de</strong>r versucht, seinen<br />

Jüngern diesen Grundsatz einzuprägen. Als Jakobus und Johannes um <strong>de</strong>n Vorrang baten, hatte<br />

er gesagt: „Wer groß sein will unter euch, <strong>de</strong>r sei euer <strong>Die</strong>ner.“ Matthäus 20,26. In meinem<br />

Reich ist kein Raum für irgen<strong>de</strong>ine Bevorzugung und Vorherrschaft. <strong>Die</strong> einzige Größe ist die<br />

445


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

<strong>de</strong>r Demut, und die einzige Auszeichnung besteht in <strong>de</strong>r Hingabe an <strong>de</strong>n <strong>Die</strong>nst für<br />

an<strong>de</strong>re. Jesus sagte, nach<strong>de</strong>m er <strong>de</strong>n Jüngern die Füße gewaschen hatte: „Ein Beispiel habe ich<br />

euch gegeben, daß ihr tut, wie ich euch getan habe.“ Johannes 13,12-16. Mit diesen Worten<br />

hatte Jesus nicht nur das Gewähren <strong>de</strong>r Gastfreundschaft zur Pflicht gemacht; es war mehr<br />

damit gemeint als nur das Waschen <strong>de</strong>r Füße, um sie vom Reisestaub zu säubern. Christus<br />

setzte hiermit eine religiöse Ordnung ein. Durch die Tat unseres Herrn wur<strong>de</strong> diese<br />

<strong>de</strong>mütigen<strong>de</strong> Zeremonie zu einem geheiligten <strong>Die</strong>nst, <strong>de</strong>n die Jünger weiterführen sollten, damit<br />

sie Jesu Lehren <strong>de</strong>r Demut und <strong>de</strong>r Hingabe nicht vergäßen, son<strong>de</strong>rn stets im Gedächtnis<br />

behielten. <strong>Die</strong>se Fußwaschung ist die von Christus bestimmte Vorbereitung zum heiligen<br />

Abendmahl. Solange Stolz, Uneinigkeit und Machtstreben genährt wer<strong>de</strong>n, kann das Herz nicht<br />

zur Einmütigkeit mit Christus gelangen, und wir sind nicht bereit, die Gemeinschaft seines<br />

Leibes und seines Blutes zu empfangen. Deshalb bestimmte Jesus, zuerst das<br />

Gedächtniszeichen seiner Demütigung zu beachten.<br />

Wenn Gottes Kin<strong>de</strong>r zu dieser Feier zusammenkommen, sollten sie sich <strong>de</strong>r Worte Jesu<br />

bewußt sein: „Wisset ihr, was ich euch getan habe? Ihr heißet mich Meister und Herr und saget<br />

recht daran, <strong>de</strong>nn ich bin‘s auch. Wenn nun ich, euer Herr und Meister, euch die Füße<br />

gewaschen habe, so sollt ihr auch euch untereinan<strong>de</strong>r die Füße waschen. Ein Beispiel habe ich<br />

euch gegeben, daß ihr tut, wie ich euch getan habe. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Der<br />

Knecht ist nicht größer als sein Herr, noch <strong>de</strong>r Apostel größer als <strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r ihn gesandt hat. Wenn<br />

ihr solches wisset, selig seid ihr, wenn ihr‘s tut.“ Johannes 13,12-17. Der Mensch neigt von<br />

Natur aus dazu, sich selbst höher zu achten als seinen Bru<strong>de</strong>r; er strebt nach seinem Vorteil und<br />

versucht, <strong>de</strong>n besten Platz zu erringen. Dadurch entstehen übler Argwohn und Bitterkeit. <strong>Die</strong><br />

<strong>de</strong>m Abendmahl vorausgehen<strong>de</strong> Handlung soll diese Mißverständnisse aus <strong>de</strong>m Wege räumen;<br />

sie soll die Seele von <strong>de</strong>r Selbstsucht befreien und sie von <strong>de</strong>n Stelzen <strong>de</strong>r Selbstüberhebung<br />

herabholen zu herzlicher Demut, die sie dahin bringen wird, ihrem Bru<strong>de</strong>r zu dienen.<br />

Der heilige Wächter im Himmel ist bei dieser Handlung gegenwärtig, um sie zu einer Zeit<br />

<strong>de</strong>r Selbstprüfung, <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>nerkenntnis und <strong>de</strong>r Gewißheit <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>nvergebung zu machen.<br />

Christus in <strong>de</strong>r Fülle seiner Gna<strong>de</strong> ist da, um <strong>de</strong>n Lauf <strong>de</strong>r Gedanken, die in selbstsüchtigen<br />

Bahnen fließen, zu än<strong>de</strong>rn. Der Heilige Geist belebt das Empfindungsvermögen jener, die <strong>de</strong>m<br />

Beispiel ihres Heilan<strong>de</strong>s folgen. Wenn wir über die Demütigung <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s, die er für uns<br />

auf sich nahm, nach<strong>de</strong>nken, reiht sich Gedanke an Gedanke; eine Kette von Erinnerungen steht<br />

vor unserem Auge, Erinnerungen an Gottes große Güte sowie an das Wohlwollen und die<br />

Freundlichkeit irdischer Freun<strong>de</strong>. Vergessene Segnungen, mißachtete Gna<strong>de</strong>nerweise,<br />

geringgeschätzte Gefälligkeiten kehren in unser Gedächtnis zurück. Wurzeln <strong>de</strong>r Bitterkeit, die<br />

die kostbare Pflanze <strong>de</strong>r Liebe verdrängt haben, wer<strong>de</strong>n offenbar. Charakterfehler,<br />

Pflichtversäumnisse, Undankbarkeit gegen Gott, Gleichgültigkeit gegenüber unseren Brü<strong>de</strong>rn,<br />

all das wird uns bewußt wer<strong>de</strong>n. Unsere Sündhaftigkeit wer<strong>de</strong>n wir in <strong>de</strong>m Licht sehen, in <strong>de</strong>m<br />

Gott sie sieht. Unsere Gedanken sind nicht Gedanken <strong>de</strong>r Selbstgefälligkeit, son<strong>de</strong>rn Gedanken<br />

strenger Selbstzucht und Demut. Unser Geist wird gestärkt, um alle Schranken nie<strong>de</strong>rzureißen,<br />

die die Entfremdung verursacht haben. Böse Gedanken und Verleumdung wer<strong>de</strong>n<br />

446


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

ausgeschaltet, Sün<strong>de</strong>n bekannt und vergeben. <strong>Die</strong> bezwingen<strong>de</strong> Gna<strong>de</strong> Jesu wird in uns mächtig<br />

wer<strong>de</strong>n, und seine Liebe wird die Herzen zu einer gesegneten Einmütigkeit verbin<strong>de</strong>n.<br />

Wenn die Lehre <strong>de</strong>r Fußwaschung so eingeprägt ist, entsteht das Verlangen nach einem<br />

höheren geistlichen Leben. Einem solchen Wunsch wird <strong>de</strong>r göttliche Zeuge entsprechen. <strong>Die</strong><br />

Seele wird gea<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n, und wir können in <strong>de</strong>m Bewußtsein, daß die Sün<strong>de</strong>n vergeben sind,<br />

an <strong>de</strong>m heiligen Mahl teilnehmen. <strong>Die</strong> Sonne <strong>de</strong>r Gerechtigkeit <strong>Christi</strong> wird Gemüt und Seele<br />

erfüllen, und wir wer<strong>de</strong>n sehen „Gottes Lamm, welches <strong>de</strong>r Welt Sün<strong>de</strong> trägt“. Johannes 1,29.<br />

Wer so <strong>de</strong>n Geist dieser Handlung empfängt, für <strong>de</strong>n kann sie niemals eine bloße Formsache<br />

wer<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn ihre beständige Lehre wird heißen: „Durch die Liebe diene einer <strong>de</strong>m<br />

an<strong>de</strong>rn.“ Galater 5,13. Durch die Fußwaschung bewies Jesus <strong>de</strong>n Jüngern, daß er ihnen je<strong>de</strong>n<br />

<strong>Die</strong>nst, wie <strong>de</strong>mütigend auch immer er sei, erweisen wollte, damit sie mit ihm Erben <strong>de</strong>s<br />

ewigen Reichtums himmlischer Schätze wer<strong>de</strong>n könnten. Seine Jünger verpflichteten sich,<br />

in<strong>de</strong>m sie <strong>de</strong>m gleichen Brauch nachkamen, ebenso ihren Brü<strong>de</strong>rn zu dienen. Wenn immer<br />

dieser Brauch im rechten Geist durchgeführt wird, wer<strong>de</strong>n die Kin<strong>de</strong>r Gottes in eine geheiligte<br />

Beziehung zueinan<strong>de</strong>r gebracht, um sich gegenseitig zu helfen und zu för<strong>de</strong>rn. Sie verpflichten<br />

sich, ihr Leben selbstlosem <strong>Die</strong>nst zu weihen, und das nicht nur füreinan<strong>de</strong>r. Ihr Arbeitsfeld ist<br />

umfassen<strong>de</strong>r, als das ihres Meisters war. <strong>Die</strong> Welt ist voll von Menschen, die unseres <strong>Die</strong>nstes<br />

bedürfen. Arme, Hilflose, Unwissen<strong>de</strong> fin<strong>de</strong>n sich überall. Jene, die das Abendmahl mit<br />

Christus im oberen Saal gehalten haben, wer<strong>de</strong>n hinausgehen, zu dienen, wie er gedient hat.<br />

Der Heiland kam, um aller <strong>Die</strong>ner zu sein. Weil er allen diente, wer<strong>de</strong>n auch ihm alle dienen<br />

und ihn ehren. Wer an seinen göttlichen Eigenschaften und am Anblick <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Erlösten<br />

teilhaben will, muß <strong>de</strong>m Beispiel Jesu folgen und selbstlos dienen. <strong>Die</strong>s alles liegt in <strong>de</strong>n<br />

Worten: „Ein Beispiel habe ich euch gegeben, daß ihr tut, wie ich euch getan habe.“ Das war<br />

<strong>de</strong>r Zweck <strong>de</strong>s von Gott eingesetzten <strong>Die</strong>nstes. „Wenn ihr solches wisset, selig seid ihr, wenn<br />

ihr‘s tut.“ Johannes 13,17.<br />

447


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

„Der Herr Jesus in <strong>de</strong>r Nacht, da er verraten ward, nahm er das Brot, dankte und brach‘s und<br />

sprach: Nehmet, esset, das ist mein Leib, <strong>de</strong>r für euch gegeben wird; solches tut zu meinem<br />

Gedächtnis. Desselbigengleichen auch <strong>de</strong>n Kelch nach <strong>de</strong>m Mahl und sprach: dieser Kelch ist<br />

das neue Testament in meinem Blut; solches tut, sooft ihr‘s trinket, zu meinem Gedächtnis.<br />

Denn sooft ihr von diesem Brot esset und von diesem Kelch trinket, verkündigt ihr <strong>de</strong>s Herrn<br />

Tod, bis daß er kommt.“ 1.Korinther 11,23-26. <strong>Die</strong> Gestalt Jesu <strong>Christi</strong> steht am Schnittpunkt<br />

zweier religiöser Ordnungen und ihrer jeweiligen Feste. Er, das makellose Lamm Gottes, war<br />

im Begriff, sich als Sündopfer darzugeben, und er wollte dadurch die Reihe <strong>de</strong>r Sinnbil<strong>de</strong>r und<br />

gottesdienstlichen Handlungen, die viertausend Jahre lang auf seinen Tod hingewiesen hatten,<br />

beschließen. Während er mit seinen Jüngern das Passahmahl nahm, setzte er an <strong>de</strong>ssen Stelle<br />

<strong>de</strong>n <strong>Die</strong>nst ein, <strong>de</strong>r an sein großes Opfer erinnern sollte. Das rein jüdische Fest war damit für<br />

immer aufgehoben. <strong>Die</strong> gottesdienstliche Handlung, die Christus einsetzte, sollte von seinen<br />

Nachfolgern in allen Län<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> und zu allen Zeiten befolgt wer<strong>de</strong>n.<br />

Mit <strong>de</strong>m Passah gedachten die Ju<strong>de</strong>n alljährlich ihrer Befreiung aus <strong>de</strong>r ägyptischen<br />

Knechtschaft. Gott hatte geboten, daß <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn Jahr für Jahr, wenn sie nach <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung<br />

dieses Festes fragten, die Geschichte dieses Erlebens erzählt wer<strong>de</strong>n sollte, damit die Tatsache<br />

<strong>de</strong>r wun<strong>de</strong>rbaren Befreiung vom frem<strong>de</strong>n Joch allen Geschlechtern in frischer Erinnerung<br />

bliebe. <strong>Die</strong> Feier <strong>de</strong>s heiligen Abendmahles wur<strong>de</strong> eingesetzt zum Gedächtnis <strong>de</strong>r großen<br />

Erlösung, die durch <strong>de</strong>n Tod <strong>Christi</strong> erwirkt wur<strong>de</strong>, und sie soll bis zu seiner Wie<strong>de</strong>rkunft in<br />

Kraft und Herrlichkeit vollzogen wer<strong>de</strong>n, um dadurch das große Werk <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s in<br />

unserem Gedächtnis lebendig zu erhalten.<br />

Unmittelbar vor ihrem Auszug aus Ägypten aßen die Israeliten stehend das Passahmahl, die<br />

Len<strong>de</strong>n umgürtet, mit <strong>de</strong>m Stab in <strong>de</strong>r Hand, bereit für ihre Wan<strong>de</strong>rung. 2.Mose 12,11. <strong>Die</strong> Art<br />

und Weise, in <strong>de</strong>r sie diese Anordnung durchführten, entsprach genau ihrer Lage; <strong>de</strong>nn ihnen<br />

stand bevor, Ägypten verlassen zu müssen und eine mühevolle, schwierige Reise durch die<br />

Wüste zu beginnen. Aber zu <strong>Christi</strong> Zeit hatte sich die Situation geän<strong>de</strong>rt. Da sollten sie kein<br />

frem<strong>de</strong>s Land verlassen, <strong>de</strong>nn die Ju<strong>de</strong>n waren Bewohner eines eigenen Lan<strong>de</strong>s. <strong>Die</strong> Ruhe, die<br />

ihnen als Volk geschenkt war, äußerte sich darin, daß die Menschen, die am Passah teilnahmen,<br />

in ihrer Haltung völlig entspannt waren. Polster lagen um <strong>de</strong>n Tisch herum. Auf ihnen ruhten<br />

die Gäste. Sie stützten sich auf <strong>de</strong>n linken Arm und hatten die rechte Hand frei zum Essen. In<br />

dieser Stellung konnte ein Gast sein Haupt auf die Brust <strong>de</strong>ssen legen, <strong>de</strong>r ihm am nächsten saß.<br />

Und die Füße, die sich zum äußeren En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Lagers hin ausstreckten, konnten von jemand<br />

gewaschen wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r an <strong>de</strong>r Außenseite <strong>de</strong>s Kreises herumging.<br />

Christus sitzt schweigend an <strong>de</strong>r Tafel, auf <strong>de</strong>r das Passahmahl aufgetragen wor<strong>de</strong>n ist. <strong>Die</strong><br />

ungesäuerten Brote, die in <strong>de</strong>r Passahzeit gegessen wur<strong>de</strong>n, liegen vor ihm. Der unvergorene<br />

Passahwein steht auf <strong>de</strong>m Tisch. Für Christus sind diese Dinge Sinnbil<strong>de</strong>r für sein eigenes<br />

makelloses Opfer. Nicht verdorben durch Gärung, <strong>de</strong>m Sinnbild <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> und <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s,<br />

weisen sie auf Jesus als „eines unschuldigen und unbefleckten Lammes“ hin. 1.Petrus<br />

448


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

1,19. „Und in<strong>de</strong>m sie aßen, nahm Jesus das Brot, dankte und brach‘s und gab‘s ihnen und<br />

sprach: Nehmet; das ist mein Leib. Und nahm <strong>de</strong>n Kelch und dankte und gab ihnen <strong>de</strong>n; und sie<br />

tranken alle daraus. Und er sprach zu ihnen: Das ist mein Blut <strong>de</strong>s neuen Testaments, das für<br />

viele vergossen wird. Wahrlich, ich sage euch, daß ich hinfort nicht trinken wer<strong>de</strong> vom<br />

Gewächs <strong>de</strong>s Weinstocks bis auf <strong>de</strong>n Tag, da ich‘s neu trinke in <strong>de</strong>m Reich Gottes.“ Markus<br />

14,22-25. Judas, <strong>de</strong>r Verräter, nahm an dieser heiligen Handlung teil. Er empfing aus <strong>de</strong>r Hand<br />

Jesu die Sinnbil<strong>de</strong>r seines gebrochenen Leibes und seines vergossenen Blutes. Er hörte die<br />

Worte: „Solches tut zu meinem Gedächtnis.“ 1.Korinther 11,23-26. Obgleich er in Jesu<br />

unmittelbarer Nähe saß, brütete <strong>de</strong>r Verräter an seinen dunklen Absichten und nährte seine<br />

finsteren, rachsüchtigen Gedanken.<br />

Bei <strong>de</strong>r Fußwaschung hatte Christus <strong>de</strong>n ein<strong>de</strong>utigen Beweis gegeben, daß er <strong>de</strong>n Charakter<br />

<strong>de</strong>s Judas erkannte. „Ihr seid nicht alle rein“ (Johannes 13,11), hatte er gesagt. <strong>Die</strong>se Worte<br />

überzeugten <strong>de</strong>n falschen Jünger, daß Jesus von seinen geheimen Absichten wußte. Jetzt sprach<br />

Christus noch <strong>de</strong>utlicher. Als sie um <strong>de</strong>n Tisch saßen, sagte er, und dabei blickte er seine Jünger<br />

an: „Nicht re<strong>de</strong> ich von euch allen; ich weiß, welche ich erwählt habe. Aber es muß die Schrift<br />

erfüllt wer<strong>de</strong>n: ‚Der mein Brot isset, <strong>de</strong>r tritt mich mit Füßen.‘“ Johannes 13,18.<br />

<strong>Die</strong> Jünger hegten selbst jetzt noch keinen Verdacht gegen Judas; sie bemerkten aber, daß<br />

<strong>de</strong>r Heiland sehr bedrückt schien. Schatten lagerten über ihnen, eine Vorahnung <strong>de</strong>s<br />

schrecklichen Geschehens, <strong>de</strong>ssen Sinn sie nicht verstan<strong>de</strong>n. Als sie schweigend aßen, sagte<br />

Jesus: „Wahrlich, ich sage euch: Einer unter euch wird mich verraten.“ Matthäus 26,21. Bei<br />

diesen Worten ergriff sie Verwun<strong>de</strong>rung und Bestürzung. Sie konnten nicht verstehen, wie einer<br />

von ihnen ihren göttlichen Lehrer so verräterisch behan<strong>de</strong>ln sollte. Warum sollte ihn jemand<br />

verraten? Und an wen? Wessen Herz konnte einen solchen Plan hervorbringen? Gewiß keiner<br />

von <strong>de</strong>n Zwölfen, die das Vorrecht hatten, seine Lehren zu hören, die seine wun<strong>de</strong>rsame Liebe<br />

teilten und <strong>de</strong>nen er solch große Achtung erwies, in<strong>de</strong>m er sie in seine unmittelbare<br />

Gemeinschaft zog!<br />

Als sie die Tragweite seiner Worte erkannten und sich daran erinnerten, wie wahr seine<br />

Re<strong>de</strong>n sonst waren, überfiel sie Furcht und Mißtrauen gegen sich selbst. Sie begannen ihre<br />

eigenen Herzen zu erforschen, ob auch nur ein Gedanke gegen ihren Meister dort Raum hätte.<br />

In schmerzlichster Erregung fragte dann einer nach <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>rn: „Herr, bin ich‘s?“ Nur Judas<br />

schwieg. Tief betrübt fragte Johannes endlich: „Herr, wer ist‘s?“ Matthäus 26,22; Johannes<br />

13,25. Und Jesus antwortete: „Der die Hand mit mir in die Schüssel getaucht hat, <strong>de</strong>r wird mich<br />

verraten. Des Menschen Sohn geht zwar dahin, wie von ihm geschrieben steht; doch weh <strong>de</strong>m<br />

Menschen, durch welchen <strong>de</strong>s Menschen Sohn verraten wird! Es wäre ihm besser, daß <strong>de</strong>rselbe<br />

Mensch nie geboren wäre.“ Matthäus 26,23.24. <strong>Die</strong> Jünger hatten einan<strong>de</strong>r scharf angesehen,<br />

als sie fragten: „Herr, bin ich‘s?“ Nun aber zog Judas durch sein Schweigen alle Blicke auf sich.<br />

Wegen <strong>de</strong>r durch die Fragen und Antworten entstan<strong>de</strong>nen Unruhe und Bestürzungen hatte Judas<br />

die Antwort Jesu auf die Frage <strong>de</strong>s Johannes überhört. Um <strong>de</strong>n prüfen<strong>de</strong>n Blicken <strong>de</strong>r Jünger zu<br />

entgehen, fragte er nun auch, wie sie es getan hatten: „Bin ich‘s, Rabbi?“ Jesus erwi<strong>de</strong>rte mit<br />

ernster Stimme: „Du sagst es.“ Matthäus 26,25.<br />

449


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Von <strong>de</strong>r Preisgabe seiner Absicht überrascht und verwirrt, erhob sich Judas eilends, um <strong>de</strong>n<br />

Raum zu verlassen. „Da sprach Jesus zu ihm: Was du tust das tue bald! ... Da er nun <strong>de</strong>n Bissen<br />

genommen hatte, ging er alsbald hinaus. Und es war Nacht.“ Johannes 13,27.30. Nacht war es<br />

für <strong>de</strong>n Verräter, als er sich von Christus abwandte und in die Dunkelheit hinausging. Bis zu<br />

diesem Schritt hatte er immer noch Gelegenheit gehabt, seinen Sinn zu än<strong>de</strong>rn. Doch als er<br />

seinen Herrn und seine Gefährten verließ, war die Entscheidung endgültig gefallen. Judas hatte<br />

die Grenzlinie überschritten.<br />

Ganz eigenartig war die Langmut <strong>de</strong>s Herrn in <strong>de</strong>r Behandlung dieser verführten Seele<br />

gewesen. Nichts hatte er unterlassen, um Judas zu retten. Nach<strong>de</strong>m dieser zweimal zugesagt<br />

hatte, seinen Herrn zu verraten, gab ihm Jesus noch Gelegenheit zur Umkehr. Er las im Herzen<br />

<strong>de</strong>s Verräters <strong>de</strong>ssen geheime Absicht und gab ihm dadurch <strong>de</strong>n überzeugendsten Beweis seiner<br />

Gottheit. Es war <strong>de</strong>r letzte Appell an <strong>de</strong>n treulosen Jünger, zu bereuen. Kein Aufruf <strong>de</strong>s<br />

göttlich-menschlichen Herzens <strong>Christi</strong> war unterlassen wor<strong>de</strong>n. Obwohl die Wogen <strong>de</strong>r<br />

Barmherzigkeit in unbeugsamem Stolz abgewiesen wur<strong>de</strong>n, kehrten sie <strong>de</strong>nnoch in einer<br />

starken Flut werben<strong>de</strong>r Liebe zurück. Obgleich Judas von <strong>de</strong>r Ent<strong>de</strong>ckung seiner Schuld<br />

überrascht und erschreckt war, han<strong>de</strong>lte er nur um so entschie<strong>de</strong>ner. Er verließ das heilige Mahl,<br />

um sein verräterisches Werk zu vollen<strong>de</strong>n.<br />

Mit <strong>de</strong>m Weheruf über <strong>de</strong>n Verräter verband <strong>de</strong>r Heiland zugleich eine Gna<strong>de</strong>nabsicht mit<br />

<strong>de</strong>n Jüngern. Er vermittelte ihnen auf diese Weise <strong>de</strong>n krönen<strong>de</strong>n Beweis seines Messiasamtes.<br />

„Jetzt sage ich‘s euch, ehe <strong>de</strong>nn es geschieht, damit, wenn es geschehen ist, ihr glaubet, daß ich<br />

es bin.“ Johannes 13,19. Wür<strong>de</strong> Jesus in scheinbarer Unwissenheit von <strong>de</strong>n Dingen, die über ihn<br />

kommen sollten, geschwiegen haben, dann hätten die Jünger annehmen können, ihr Meister<br />

wäre ohne göttliche Vorausschau gewesen und durch die Auslieferung an seine Fein<strong>de</strong><br />

überrascht wor<strong>de</strong>n. Ein Jahr zuvor hatte Jesus seinen Jüngern erzählt, daß er ihrer zwölf erwählt<br />

habe und daß einer von ihnen ein Teufel sei. Jetzt wür<strong>de</strong>n seine Worte an Judas, die zeigten,<br />

daß ihm <strong>de</strong>ssen Verrat bekannt war, <strong>de</strong>n Glauben seiner Nachfolger während seiner<br />

Erniedrigung stärken. Nach <strong>de</strong>m Tod <strong>de</strong>s Judas wür<strong>de</strong>n sie sich daran erinnern, welches Wehe<br />

er über <strong>de</strong>n Verräter ausgesprochen hatte.<br />

Der Heiland verfolgte noch eine an<strong>de</strong>re Absicht. Er hatte seinen <strong>Die</strong>nst auch <strong>de</strong>m nicht<br />

verweigert, von <strong>de</strong>m er wußte, daß er ein Verräter war. <strong>Die</strong> Jünger verstan<strong>de</strong>n we<strong>de</strong>r seine<br />

Worte bei <strong>de</strong>r Fußwaschung: „Ihr seid nicht alle rein“ (Johannes 13,11), noch seine Erklärung<br />

bei Tisch: „Der mein Brot isset, <strong>de</strong>r tritt mich mit Füßen.“ Johannes 13,18. Erst als später <strong>de</strong>ren<br />

Sinn <strong>de</strong>utlich wur<strong>de</strong>, erkannten sie die Größe <strong>de</strong>r Geduld und Barmherzigkeit Gottes mit <strong>de</strong>m so<br />

schrecklich Irren<strong>de</strong>n. Obwohl Jesus <strong>de</strong>n Verräter von Anfang an kannte, wusch er ihm die Füße,<br />

ja, dieser durfte sogar mit Christus an <strong>de</strong>m heiligen Mahl teilnehmen. Ein langmütiger Heiland<br />

bot <strong>de</strong>m Sün<strong>de</strong>r je<strong>de</strong> Möglichkeit, ihn anzunehmen, zu bereuen und von <strong>de</strong>r Befleckung durch<br />

die Sün<strong>de</strong> gereinigt zu wer<strong>de</strong>n. Darin liegt eine Lehre für uns. Wenn wir vermuten, daß sich<br />

jemand in Irrtum und Sün<strong>de</strong> befin<strong>de</strong>t, sollen wir uns nicht von ihm zurückziehen. Wir dürfen<br />

ihn nicht durch eine gleichgültige Trennung <strong>de</strong>r Versuchung als Opfer überlassen o<strong>de</strong>r ihn auf<br />

Satans Schlachtfeld treiben. Das ist nicht <strong>Christi</strong> Art. Weil seine Jünger irrten und<br />

450


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

unvollkommen waren, wusch er ihnen die Füße und machte sie dadurch bis auf einen bereit zur<br />

Buße.<br />

<strong>Christi</strong> Beispiel verbietet, jeman<strong>de</strong>n vom Abendmahl fernzuhalten. Aber es ist wahr, daß<br />

offene Sün<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Schuldigen davon ausschließt. Das lehrt <strong>de</strong>r Heilige Geist sehr <strong>de</strong>utlich.<br />

Darüber hinaus sollte niemand ein Urteil fällen. Gott hat es nicht Menschen überlassen,<br />

festzulegen, wer an diesen Gelegenheiten dabeisein darf. Denn wer kann in die Herzen blicken?<br />

Wer kann die Spreu vom Weizen unterschei<strong>de</strong>n? „Der Mensch prüfe aber sich selbst, und so<br />

esse er von diesem Brot und trinke von diesem Kelch.“ Denn „welcher nun unwürdig von<br />

diesem Brot isset o<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>m Kelch <strong>de</strong>s Herrn trinket, <strong>de</strong>r ist schuldig an <strong>de</strong>m Leib und Blut<br />

<strong>de</strong>s Herrn“. „Welcher also isset und trinket, daß er nicht unterschei<strong>de</strong>t <strong>de</strong>n Leib <strong>de</strong>s Herrn, <strong>de</strong>r<br />

isset und trinket sich selber zum Gericht.“ 1.Korinther 11,28.27.29.<br />

Wenn sich die Gläubigen zum Abendmahl versammeln, sind auch Boten anwesend, die<br />

menschliche Augen nicht sehen können. Selbst ein Judas kann dabeisein. In diesem Falle fehlen<br />

sogar nicht die Boten <strong>de</strong>s Fürsten <strong>de</strong>r Finsternis; <strong>de</strong>nn sie suchen alle jene auf, die sich nicht<br />

vom Heiligen Geist leiten lassen wollen. Ebenfalls anwesend sind himmlische Engel. <strong>Die</strong>se<br />

himmlischen Besucher sind bei je<strong>de</strong>r solchen Gelegenheit gegenwärtig. Manchmal mögen<br />

Personen in die Versammlung kommen, <strong>de</strong>ren Herzen nicht von Wahrheit und Heiligkeit erfüllt<br />

sind, die aber doch gerne an diesem Gottesdienst teilnehmen möchten. Es sollte ihnen nicht<br />

verwehrt wer<strong>de</strong>n. Zeugen sind dabei, die miterlebten, wie Jesus die Füße seiner Jünger und <strong>de</strong>s<br />

Judas wusch. An<strong>de</strong>re als nur menschliche Augen blickten auf diese Szene.<br />

Christus ist durch <strong>de</strong>n Heiligen Geist gegenwärtig, um <strong>de</strong>r von ihm selbst verordneten Feier<br />

sein göttliches Siegel aufzudrücken. Er ist da, um die Herzen zu überzeugen und zu gewinnen!<br />

Kein Blick, kein Gedanke <strong>de</strong>r Reue entgeht seiner Aufmerksamkeit; er wartet ja auf die<br />

zerbrochenen, reumütigen Seelen und hat alles für ihren Empfang vorbereitet. Er, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Judas<br />

die Füße wusch, sehnt sich danach, je<strong>de</strong>s Herz von <strong>de</strong>n „Flecken und Runzeln“ <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> zu<br />

befreien. Niemand sollte sich vom Abendmahl ausschließen, nur weil manche daran<br />

teilnehmen, die unwürdig sind. Je<strong>de</strong>r Nachfolger <strong>Christi</strong> ist aufgerufen, an <strong>de</strong>m heiligen Mahl<br />

teilzunehmen und dadurch zu bezeugen, daß er Jesus als seinen persönlichen Heiland<br />

angenommen hat. Dabei will Christus seinem Volk begegnen und es durch seine Gegenwart<br />

stärken. Selbst wenn unwürdige Hän<strong>de</strong> und Herzen die gottesdienstliche Handlung vollziehen,<br />

ist Christus gegenwärtig, um seinen Kin<strong>de</strong>rn zu dienen. Alle, die ihren Glauben auf ihn<br />

grün<strong>de</strong>n, wer<strong>de</strong>n reich gesegnet wer<strong>de</strong>n; alle, die diese göttlichen Gelegenheiten versäumen,<br />

wer<strong>de</strong>n Scha<strong>de</strong>n erlei<strong>de</strong>n. Auf sie mag zutreffen, was gesagt ist: „Ihr seid nicht alle rein.“<br />

In<strong>de</strong>m er das Abendmahl mit ihnen nahm, verpflichtete sich Christus seinen Jüngern als ihr<br />

Erlöser. Er vertraute ihnen <strong>de</strong>n Neuen Bund an, durch <strong>de</strong>n alle, die sich zu ihm bekennen,<br />

Kin<strong>de</strong>r Gottes und Miterben <strong>Christi</strong> wer<strong>de</strong>n. Je<strong>de</strong>r Segen, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Himmel für das jetzige und<br />

das künftige Leben schenken konnte, sollte ihnen durch dieses Bündnis zuteil wer<strong>de</strong>n, das durch<br />

das Blut <strong>Christi</strong> bestätigt wur<strong>de</strong>. <strong>Die</strong> Einsetzung <strong>de</strong>s heiligen Abendmahles sollte <strong>de</strong>n Jüngern<br />

das unendlich große Opfer vor Augen halten, das er für je<strong>de</strong>n von ihnen persönlich — als einem<br />

Teil <strong>de</strong>s gefallenen Menschengeschlechtes — brachte.<br />

451


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Doch die Feier <strong>de</strong>s Abendmahles soll keine Zeit <strong>de</strong>r Trauer sein. Dazu wur<strong>de</strong> sie nicht<br />

eingesetzt. Wenn die Gläubigen sich am Tisch <strong>de</strong>s Herrn zusammenfin<strong>de</strong>n, sollen sie nicht ihrer<br />

Verfehlungen und Mängel ge<strong>de</strong>nken und sie beklagen. Sie sollen sich nicht bei ihrer<br />

vergangenen religiösen Erfahrung aufhalten, ganz gleich, ob sie bedrückend war o<strong>de</strong>r erhebend.<br />

Sie sollen sich nicht die Meinungsverschie<strong>de</strong>nheiten mit ihren Mitbrü<strong>de</strong>rn ins Gedächtnis<br />

zurückrufen. Das alles gehört zum Vorbereitungsdienst. <strong>Die</strong> Selbstprüfung, das<br />

Sün<strong>de</strong>nbekenntnis, das Beilegen von Streitigkeiten soll vorher geschehen sein. Jetzt sind sie<br />

gekommen, um <strong>de</strong>m Herrn zu begegnen. Sie stehen nicht im Schatten <strong>de</strong>s Kreuzes, son<strong>de</strong>rn in<br />

seinem erretten<strong>de</strong>n Licht, und sie sollen ihre Seele <strong>de</strong>n leuchten<strong>de</strong>n Strahlen <strong>de</strong>r Sonne <strong>de</strong>r<br />

Gerechtigkeit öffnen. Mit einem durch <strong>Christi</strong> so kostbares Blut gereinigten Herzen, im vollen<br />

Bewußtsein seiner — wenn auch unsichtbaren — Gegenwart sollen sie seine Worte hören:<br />

„Den Frie<strong>de</strong>n lasse ich euch, meinen Frie<strong>de</strong>n gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt<br />

gibt.“ Johannes 14,27.<br />

Der Heiland sagt: Wenn ihr <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> überführt seid, dann <strong>de</strong>nkt daran, daß ich für euch<br />

gestorben bin. Unterdrückt, verfolgt o<strong>de</strong>r peinigt man euch um meinet- o<strong>de</strong>r um <strong>de</strong>s<br />

Evangeliums willen, so erinnert euch meiner Liebe, die so groß war, daß ich für euch mein<br />

Leben gab. Erscheinen euch eure Pflichten hart und streng und eure Lasten zu schwer, sie zu<br />

tragen, dann besinnt euch darauf, daß ich um euretwillen, alle Schmach nicht achtend, das<br />

Kreuz ertrug. Wenn eure Herzen vor schweren Prüfungen zurückweichen, dann wisset, daß euer<br />

Erlöser lebt und für euch bittet.<br />

Das Abendmahl weist auf <strong>Christi</strong> Wie<strong>de</strong>rkunft hin und wur<strong>de</strong> eingesetzt, um diese Hoffnung<br />

in <strong>de</strong>n Herzen <strong>de</strong>r Jünger lebendig zu erhalten. Wann auch immer sie zusammenkamen, um<br />

seines To<strong>de</strong>s zu ge<strong>de</strong>nken, erzählten sie sich, wie er <strong>de</strong>n Kelch nahm, dankte, ihnen <strong>de</strong>n Kelch<br />

gab und sprach: „Trinket alle daraus; das ist mein Blut <strong>de</strong>s neuen Testaments, welches<br />

vergossen wird für viele zur Vergebung <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>n. Ich sage euch: Ich wer<strong>de</strong> von nun an nicht<br />

mehr von diesem Gewächs <strong>de</strong>s Weinstocks trinken bis an <strong>de</strong>n Tag, da ich‘s neu trinken wer<strong>de</strong><br />

mit euch in meines Vaters Reich.“ Matthäus 26,27-29. In ihrer Betrübnis tröstete sie die<br />

Hoffnung auf die Wie<strong>de</strong>rkehr ihres Herrn. Unsagbar wertvoll wur<strong>de</strong>n ihnen die Worte: „Sooft<br />

ihr von diesem Brot esset und von diesem Kelch trinket, verkündigt ihr <strong>de</strong>s Herrn Tod, bis daß<br />

er kommt.“ 1.Korinther 11,23-26.<br />

<strong>Die</strong>s sollen wir nie vergessen. Wir müssen uns Jesu Liebe mit ihrer bezwingen<strong>de</strong>n Kraft<br />

lebendig vor Augen halten. Der Heiland hat diese gottesdienstliche Handlung eingesetzt, damit<br />

sie die unendliche Liebe Gottes vergegenwärtigt, die er uns um unsertwillen erwiesen hat. Es<br />

gibt keine Gemeinschaft unserer Seele mit Gott außer durch Jesus Christus; und auch die<br />

brü<strong>de</strong>rliche Gemeinschaft muß durch die Liebe Jesu gefestigt und zu einer dauerhaften<br />

Verbindung gemacht wer<strong>de</strong>n. Nichts Geringeres als <strong>Christi</strong> Tod konnte seine Liebe für uns<br />

wirksam machen; nur durch seine Opfertat können wir mit Freu<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rkunft <strong>de</strong>s Herrn<br />

entgegensehen. Sein Blutopfer ist <strong>de</strong>r Mittelpunkt unserer Hoffnung. Darauf müssen wir<br />

unseren Glauben grün<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> göttlichen Verordnungen, die auf das Lei<strong>de</strong>n und Sterben<br />

unseres Herrn hinweisen, wer<strong>de</strong>n zu sehr als bloße Zeremonie angesehen. Sie wur<strong>de</strong>n ja um<br />

452


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

einer bestimmten Absicht willen gegeben; <strong>de</strong>nn unsere Sinne müssen geschärft wer<strong>de</strong>n, um das<br />

Geheimnis <strong>de</strong>r Gottseligkeit zu erfassen. Es ist das Vorrecht <strong>de</strong>s gläubigen Christen, die<br />

versöhnen<strong>de</strong>n Lei<strong>de</strong>n <strong>Christi</strong> immer besser zu verstehen. „Wie Mose in <strong>de</strong>r Wüste die Schlange<br />

erhöht hat, so muß <strong>de</strong>s Menschen Sohn erhöht wer<strong>de</strong>n, auf daß alle, die an ihn glauben, das<br />

ewige Leben haben.“ Johannes 3,14.15. Wir müssen unseren Blick auf das Kreuz von Golgatha<br />

richten, das <strong>de</strong>n sterben<strong>de</strong>n Erlöser trug. Unser ewiges Heil verlangt, daß wir unseren Glauben<br />

an Christus bekennen.<br />

Jesus sagte: „Wer<strong>de</strong>t ihr nicht essen das Fleisch <strong>de</strong>s Menschensohnes und trinken sein Blut,<br />

so habt ihr kein Leben in euch ... Denn mein Fleisch ist die rechte Speise, und mein Blut ist <strong>de</strong>r<br />

rechte Trank.“ Johannes 6,53.55. Das entspricht genau unserer leiblichen Natur. Selbst unser<br />

irdisches Leben verdanken wir <strong>de</strong>m Tod <strong>Christi</strong>. Das Brot, das wir essen, ist <strong>de</strong>r Erlös seines<br />

gebrochenen Leibes, und das Wasser, das wir trinken, ist erkauft mit seinem Blut. Niemand, sei<br />

er gerecht o<strong>de</strong>r sündhaft, genießt seine tägliche Nahrung, ohne daß sie durch <strong>de</strong>n Leib und das<br />

Blut <strong>Christi</strong> gesegnet ist. Das Kreuz von Golgatha ist auf je<strong>de</strong>n Laib Brot geprägt; es spiegelt<br />

sich in je<strong>de</strong>r Wasserquelle. <strong>Die</strong>s alles hat <strong>de</strong>r Heiland gelehrt, in<strong>de</strong>m er die Sinnbil<strong>de</strong>r seines<br />

großen Opfers einsetzte. Das Licht, das von <strong>de</strong>m Passahmahl Jesu ausgeht, heiligt auch unsere<br />

tägliche Nahrung. Der Familientisch wird dadurch zum Tisch <strong>de</strong>s Herrn und je<strong>de</strong> Mahlzeit ein<br />

heiliges Mahl.<br />

Wieviel mehr aber entsprechen Jesu Worte unserem geistlichen Leben! Christus erklärte:<br />

„Wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, <strong>de</strong>r hat das ewige Leben.“ Johannes 6,54. Nur<br />

wenn wir das Leben annehmen, das für uns am Kreuz dahingegeben wur<strong>de</strong>, können wir ein<br />

Leben <strong>de</strong>r Frömmigkeit führen. Wir empfangen dieses Leben, in<strong>de</strong>m wir uns zu seinem Wort<br />

bekennen, in<strong>de</strong>m wir die Dinge erfüllen, die er uns geboten hat. Dadurch wer<strong>de</strong>n wir eins mit<br />

ihm. „Wer mein Fleisch isset“, sagte <strong>de</strong>r Heiland, „und trinket mein Blut, <strong>de</strong>r bleibt in mir und<br />

ich in ihm. Wie mich gesandt hat <strong>de</strong>r lebendige Vater und ich lebe um <strong>de</strong>s Vaters willen, so<br />

wird auch, wer mich isset, leben um meinetwillen.“ Johannes 6,56.57. <strong>Die</strong>se Schriftstelle zielt<br />

in einem ganz beson<strong>de</strong>ren Sinn auf die Feier <strong>de</strong>s heiligen Abendmahles. Durch gläubiges<br />

Nach<strong>de</strong>nken über die Opfertat Jesu nimmt die Seele das geistliche Leben <strong>Christi</strong> in sich auf und<br />

erhält durch je<strong>de</strong> Feier <strong>de</strong>s Gedächtnismahles neue und größere Kraft. <strong>Die</strong>se gottesdienstliche<br />

Handlung schafft eine lebendige Verbindung <strong>de</strong>s Gläubigen zu Christus und dadurch auch zum<br />

Vater. Sie formt in einem beson<strong>de</strong>ren Sinn eine Gemeinschaft zwischen abhängigen Menschen<br />

und Gott.<br />

Wenn wir das Brot und <strong>de</strong>n Wein empfangen, die <strong>de</strong>n zerbrochenen Leib und das vergossene<br />

Blut <strong>Christi</strong> versinnbil<strong>de</strong>n, sind wir in Gedanken mit <strong>de</strong>m Geschehen im oberen Saal<br />

verbun<strong>de</strong>n. Wir meinen dann durch <strong>de</strong>n Garten Gethsemane zu gehen, <strong>de</strong>r geweiht ist durch <strong>de</strong>n<br />

To<strong>de</strong>skampf Jesu, welcher unser aller Sün<strong>de</strong>n trug. Wir sind Zeugen <strong>de</strong>s Kampfes, <strong>de</strong>r unsere<br />

Versöhnung mit Gott bewirkte. Wir sehen <strong>de</strong>n gekreuzigten Heiland mitten unter uns. Schauen<br />

wir auf <strong>de</strong>n gekreuzigten Erlöser, dann begreifen wir erst völlig die Größe und Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s<br />

von <strong>de</strong>r Majestät <strong>de</strong>s Himmels dargebrachten Opfers. Der Heilsplan wird vor uns verherrlicht,<br />

und <strong>de</strong>r Gedanke an Golgatha erweckt lebendige und geheiligte Empfindungen in unserer Seele.<br />

453


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Der Lobpreis Gottes und <strong>de</strong>s Lammes wohnt in unserem Herzen und erschallt von unseren<br />

Lippen; Stolz und Selbstvergötterung ge<strong>de</strong>ihen nicht mehr in einer Seele, <strong>de</strong>r das Geschehen<br />

auf Golgatha in lebendiger Erinnerung ist.<br />

Wem Jesu unvergleichliche Liebe vor Augen steht, <strong>de</strong>ssen Gedanken wer<strong>de</strong>n vere<strong>de</strong>lt,<br />

<strong>de</strong>ssen Herz wird gereinigt und <strong>de</strong>ssen Wesen wird umgewan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n. Er wird hinausgehen,<br />

um <strong>de</strong>r Welt ein Licht zu sein und diese geheimnisvolle Liebe in einem gewissen Gra<strong>de</strong><br />

wi<strong>de</strong>rzuspiegeln. Je mehr wir an das Kreuz auf Golgatha <strong>de</strong>nken, <strong>de</strong>sto intensiver wer<strong>de</strong>n wir<br />

die Worte <strong>de</strong>s Apostels beherzigen: „Von mir aber sei es ferne, mich zu rühmen, als allein <strong>de</strong>s<br />

Kreuzes unsres Herrn Jesus Christus, durch welchen mir die Welt gekreuzigt ist und ich <strong>de</strong>r<br />

Welt.“ Galater 6,14.<br />

454


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Christus blickte seine Jünger voll göttlicher Liebe und zärtlicher Hingabe an und sagte: „Nun<br />

ist <strong>de</strong>s Menschen Sohn verherrlicht, und Gott ist verherrlicht in ihm.“ Johannes 13,31. Judas<br />

hatte <strong>de</strong>n Raum verlassen und <strong>de</strong>r Herr war mit <strong>de</strong>n Elfen allein. Er war im Begriff, über die<br />

herannahen<strong>de</strong> Trennung von ihnen zu sprechen, zeigte ihnen aber vorher noch einmal das große<br />

Ziel seiner Sendung, das ihm stets vor Augen stand. Er freute sich, daß durch seine<br />

Erniedrigung und durch sein Lei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Name <strong>de</strong>s Vaters verherrlicht wür<strong>de</strong>, und darauf<br />

richtete er zunächst auch die Gedanken seiner Jünger.<br />

Dann sprach er zu ihnen in liebevollen Worten: „Liebe Kin<strong>de</strong>r, ich bin noch eine kleine<br />

Weile bei euch. Ihr wer<strong>de</strong>t mich suchen; und wie ich zu <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n sagte: Wo ich hingehe, da<br />

könnt ihr nicht hinkommen, so sage ich jetzt auch euch.“ Johannes 13,33. <strong>Die</strong> Jünger<br />

vermochten sich über diese Worte nicht zu freuen. Furcht überfiel sie, und sie drängten sich<br />

näher an <strong>de</strong>n Heiland heran. Ihr Meister und Herr, ihr geliebter Lehrer und Freund war ihnen<br />

teurer als ihr eigenes Leben. Bei ihm hatten sie in allen Schwierigkeiten Hilfe, in allen<br />

Kümmernissen und Enttäuschungen Trost gefun<strong>de</strong>n. Und nun wollte er sie — eine einsame,<br />

abhängige Schar — verlassen! Trübe Ahnungen durchzogen ihr Gemüt.<br />

Doch Jesu Worte waren hoffnungsvoll. Er wußte, daß <strong>de</strong>r Feind sie bestürmen wür<strong>de</strong> und<br />

daß Satans List bei <strong>de</strong>nen beson<strong>de</strong>rs erfolgreich ist, die von Schwierigkeiten nie<strong>de</strong>rgedrückt<br />

sind. Deshalb lenkte er ihre Gedanken von <strong>de</strong>m Sichtbaren auf das Unsichtbare, von <strong>de</strong>m<br />

irdischen Jammertal auf die himmlische Heimat. „Euer Herz erschrecke nicht!“ sagte er.<br />

„Glaubet an Gott und glaubet an mich! In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. Wenn‘s<br />

nicht so wäre, wür<strong>de</strong> ich dann zu euch gesagt haben: Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten?<br />

Und wenn ich hingehe, euch die Stätte zu bereiten, so will ich wie<strong>de</strong>r kommen und euch zu mir<br />

nehmen, damit ihr seid, wo ich bin. Und wo ich hingehe, — <strong>de</strong>n Weg wisset ihr.“ Johannes<br />

14,1-4. Euretwillen kam ich auf diese Er<strong>de</strong>, euretwillen habe ich das Werk aufgenommen, und<br />

wenn ich hingehe, wer<strong>de</strong> ich nicht aufhören, für euch zu wirken. Ich kam in die Welt, um mich<br />

euch zu offenbaren, damit ihr glauben möchtet. Ich gehe zum Vater, um mit ihm für euch zu<br />

sorgen. — Jesu Fortgehen be<strong>de</strong>utete also gera<strong>de</strong> das Gegenteil von <strong>de</strong>m, was die Jünger<br />

befürchteten; es war keine endgültige Trennung. Er ging nur hin, für sie eine Stätte zu bereiten,<br />

um dann wie<strong>de</strong>rzukommen und sie zu sich zu nehmen. Während er Wohnungen für sie<br />

bereitete, sollten sie ihre Charaktere nach <strong>de</strong>m göttlichen Ebenbild entwickeln.<br />

Noch immer waren die Jünger bestürzt. Thomas, stets von Zweifeln geplagt, sagte: „Herr,<br />

wir wissen nicht, wo du hingehst; und wie können wir <strong>de</strong>n Weg wissen?“ Jesus antwortete ihm:<br />

„Ich bin <strong>de</strong>r Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater <strong>de</strong>nn durch<br />

mich.“ Johannes 14,5-7. Es führen nicht viele Wege zum Himmel; kein Mensch kann dabei<br />

seinen eigenen Weg wählen. Der Heiland sprach: „Ich bin <strong>de</strong>r Weg ...; niemand kommt zum<br />

Vater <strong>de</strong>nn durch mich.“ Seit <strong>de</strong>r ersten Evangeliumspredigt im Garten E<strong>de</strong>n, die besagte, daß<br />

<strong>de</strong>r Same <strong>de</strong>s Weibes <strong>de</strong>r Schlange <strong>de</strong>n Kopf zertreten wür<strong>de</strong>, war Christus als <strong>de</strong>r Weg, die<br />

Wahrheit und das Leben weit erhöht wor<strong>de</strong>n. Er war <strong>de</strong>r Weg, <strong>de</strong>n schon Adam gehen mußte<br />

455


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

und <strong>de</strong>n Abel ging, als er das Blut <strong>de</strong>s geschlachteten Lammes, das Sinnbild <strong>de</strong>s Erlösers, Gott<br />

darbrachte. Er war <strong>de</strong>r Weg, auf <strong>de</strong>m die Patriarchen und Propheten gerettet wur<strong>de</strong>n. Er ist <strong>de</strong>r<br />

Weg, <strong>de</strong>r allein uns <strong>de</strong>n Zugang zu Gott öffnet.<br />

„Wenn ihr mich kenntet, so kenntet ihr auch meinen Vater. Und von nun an kennet ihr ihn<br />

und habt ihn gesehen.“ Johannes 14,5-7. Aber noch immer verstan<strong>de</strong>n ihn die Jünger nicht.<br />

„Herr, zeige uns <strong>de</strong>n Vater, so ist‘s uns genug“ (Johannes 14,8), rief Philippus. Verwun<strong>de</strong>rt über<br />

<strong>de</strong>ssen Unverständnis, fragte Jesus schmerzlich berührt: „So lange bin ich bei euch, und du<br />

kennst mich nicht, Philippus?“ Ist es möglich, daß du <strong>de</strong>n Vater nicht in <strong>de</strong>n Werken erkennst,<br />

die er durch mich tut? Glaubst du nicht, daß ich kam, um von ihm zu zeugen? „Wie sprichst du<br />

<strong>de</strong>nn: Zeige uns <strong>de</strong>n Vater?“ „Wer mich sieht, <strong>de</strong>r sieht <strong>de</strong>n Vater!“ Johannes 4,9. Christus hatte<br />

nicht aufgehört, Gott zu sein, als er Mensch wur<strong>de</strong>. Obgleich er sich erniedrigte und<br />

menschliche Gestalt annahm, wohnte die Gottheit noch immer in ihm. Er allein konnte <strong>de</strong>r<br />

menschlichen Natur <strong>de</strong>n Vater offenbaren, und die Jünger hatten länger als drei Jahre <strong>de</strong>n<br />

Vorzug gehabt, diese Offenbarung <strong>de</strong>s Himmels wahrzunehmen.<br />

„Glaubet mir, daß ich im Vater und <strong>de</strong>r Vater in mir ist; wo nicht, so glaubet mir doch um<br />

<strong>de</strong>r Werke willen.“ Johannes 14,11. Ihr Glaube konnte sicher ruhen auf <strong>de</strong>m Zeugnis, das in <strong>de</strong>n<br />

Werken <strong>Christi</strong> zum Ausdruck kam; in Werken, die kein Mensch aus sich selbst je getan hatte<br />

noch tun konnte. <strong>Christi</strong> Werke bezeugten seine Göttlichkeit. Durch ihn war <strong>de</strong>r Vater<br />

geoffenbart wor<strong>de</strong>n.<br />

Glaubten die Jünger an diese lebendige Verbindung zwischen <strong>de</strong>m Vater und <strong>de</strong>m Sohn,<br />

dann wür<strong>de</strong> ihr Vertrauen auf Christus sie beim Anblick seines Lei<strong>de</strong>ns und Sterbens, wodurch<br />

er eine verlorene Welt zu retten hoffte, nicht verlassen. Jesus versuchte die Jünger von ihrem<br />

niedrigen Glaubensstand zu <strong>de</strong>r Erfahrung zu bringen, die sie machen könnten, wenn sie<br />

wirklich erkennten, was er war: Gott in menschlicher Gestalt! Er wünschte, ihr Glaube führte<br />

sie allmählich zu Gott und fän<strong>de</strong> dort festen Grund. Wie ernsthaft und beharrlich war <strong>de</strong>r<br />

barmherzige Heiland bemüht, seine Jünger auf <strong>de</strong>n Sturm <strong>de</strong>r Versuchung vorzubereiten, <strong>de</strong>r<br />

bald über sie hereinbrechen wür<strong>de</strong>! Er wollte sie dann mit ihm in Gott geborgen wissen.<br />

Während Jesus mit ihnen re<strong>de</strong>te, leuchtete die Herrlichkeit Gottes auf seinem Antlitz, und<br />

alle Umstehen<strong>de</strong>n überkam eine heilige Ehrfurcht, als sie mit gespannter Aufmerksamkeit<br />

seinen Worten lauschten. Ihre Herzen fühlten sich immer enger zu ihm hingezogen; und da sie<br />

Christus in größerer Liebe verbun<strong>de</strong>n waren, kamen sie sich auch untereinan<strong>de</strong>r näher. Sie<br />

fühlten die Nähe <strong>de</strong>s Himmels und ahnten, daß die Worte, <strong>de</strong>nen sie zuhörten, eine an sie<br />

gerichtete Botschaft ihres himmlischen Vaters waren. „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer<br />

an mich glaubt, <strong>de</strong>r wird die Werke auch tun, die ich tue, und wird größere als diese tun; <strong>de</strong>nn<br />

ich gehe zum Vater.“ Johannes 14,12. Jesus war eindringlich bestrebt, seinen Jüngern<br />

verständlich zu machen, zu welchem Zweck seine Gottheit sich mit <strong>de</strong>r menschlichen Natur<br />

verbun<strong>de</strong>n hatte. Er war in die Welt gekommen, um die Herrlichkeit Gottes zu entfalten, damit<br />

die Menschen durch <strong>de</strong>ren erneuern<strong>de</strong> Kraft gebessert wer<strong>de</strong>n sollten. Gott offenbarte sich in<br />

ihm, damit Jesus in ihnen offenbart wür<strong>de</strong>. Jesus besaß keine Eigenschaften und verfügte über<br />

keinerlei Kräfte, <strong>de</strong>ren die Menschen durch <strong>de</strong>n Glauben an ihn nicht auch teilhaftig wer<strong>de</strong>n<br />

456


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

könnten. Seine Vollkommenheit als Mensch können alle seine Nachfolger besitzen, wenn sie<br />

sich Gott so unterwerfen, wie er es tat.<br />

„Und wird größere als diese tun; <strong>de</strong>nn ich gehe zum Vater.“ Johannes 14,12. Der Heiland<br />

wollte damit nicht sagen, daß die Arbeit <strong>de</strong>r Jünger be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>r sein wür<strong>de</strong> als sein Werk, er<br />

meinte damit nur die räumlich größere Aus<strong>de</strong>hnung. Er bezog sich nicht allein auf Wun<strong>de</strong>rtaten,<br />

son<strong>de</strong>rn auf all das, was durch die Kraft <strong>de</strong>s Heiligen Geistes geschehen wür<strong>de</strong>. Nach <strong>de</strong>r<br />

Himmelfahrt <strong>de</strong>s Herrn erkannten die Jünger die Erfüllung seines Versprechens. <strong>Die</strong> Vorgänge<br />

<strong>de</strong>r Kreuzigung, <strong>de</strong>r Auferstehung und <strong>de</strong>r Himmelfahrt waren ihnen lebendige Wirklichkeit<br />

gewor<strong>de</strong>n — die Weissagungen hatten sich buchstäblich erfüllt! Sie forschten in <strong>de</strong>n heiligen<br />

Schriften und nahmen ihre Lehre mit einem Vertrauen und einer Zuversicht an, die ihnen bis<br />

dahin unbekannt waren. Sie wußten, daß <strong>de</strong>r göttliche Lehrer alles das war, was er zu sein<br />

vorgegeben hatte. Als sie von ihren Erfahrungen berichteten und die Liebe Gottes verkündigten,<br />

wur<strong>de</strong>n die Herzen <strong>de</strong>r Menschen angerührt und im Innersten überwältigt, und eine große<br />

Menge glaubte an <strong>de</strong>n Herrn.<br />

Jesu Verheißung an seine Jünger war gleichzeitig ein Versprechen an seine Gemein<strong>de</strong> bis<br />

ans En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Zeit. Gott wollte nicht, daß sein herrlicher Erlösungsplan nur unbe<strong>de</strong>uten<strong>de</strong><br />

Ergebnisse zeitigen sollte. Alle, die hinausgehen, um im Weinberg <strong>de</strong>s Herrn zu arbeiten und<br />

dabei nicht auf die eigene Kraft vertrauen, son<strong>de</strong>rn darauf, daß Gott für und durch sie wirken<br />

kann, wer<strong>de</strong>n ganz gewiß die Erfüllung seines Versprechens erkennen: Ihr wer<strong>de</strong>t größere<br />

Werke „als diese tun; <strong>de</strong>nn ich gehe zum Vater“. Bis jetzt kannten die Jünger noch nicht die<br />

unbegrenzten Hilfsmittel und die Macht ihres Herrn. Er sagte zu ihnen: „Bisher habt ihr nichts<br />

gebeten in meinem Namen.“ Johannes 16,24. Damit wollte er sie darauf aufmerksam machen,<br />

daß das Geheimnis ihres Erfolges darin liege, in seinem Namen Stärke und Gna<strong>de</strong> zu erflehen;<br />

<strong>de</strong>nn er wer<strong>de</strong> bei <strong>de</strong>m Vater sein, um für sie zu bitten. Er bringt das Gebet <strong>de</strong>s <strong>de</strong>mütigen<br />

Bitten<strong>de</strong>n um dieses Bitten<strong>de</strong>n willen als seinen eigenen Wunsch vor <strong>de</strong>n Vater. Je<strong>de</strong>s<br />

aufrichtige Gebet wird im Himmel gehört wer<strong>de</strong>n; mag es auch nur stockend gesprochen sein.<br />

Wenn es von Herzen kommt, wird es zu <strong>de</strong>m Heiligtum emporsteigen, in <strong>de</strong>m Christus dient. Er<br />

wird es dann nicht als verlegenes Stammeln vor <strong>de</strong>n Vater bringen, seine Worte wer<strong>de</strong>n<br />

wohlklingend sein und <strong>de</strong>n Geruch seiner Vollkommenheit ausströmen.<br />

Der Weg <strong>de</strong>r Aufrichtigkeit und Redlichkeit ist nicht frei von Hin<strong>de</strong>rnissen; in je<strong>de</strong>r<br />

Schwierigkeit aber sollen wir eine Auffor<strong>de</strong>rung zum Gebet erkennen. Es gibt nieman<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r<br />

irgen<strong>de</strong>ine Stärke besäße, die er nicht vom Schöpfer empfangen hätte; die Quelle dieser Kraft<br />

steht auch <strong>de</strong>m Schwächsten offen. „Was ihr bitten wer<strong>de</strong>t in meinem Namen, das will ich tun,<br />

auf daß <strong>de</strong>r Vater verherrlicht wer<strong>de</strong> in <strong>de</strong>m Sohne. Was ihr mich bitten wer<strong>de</strong>t in meinem<br />

Namen, das will ich tun.“ Johannes 14,13.14. „In meinem Namen!“ So gebot <strong>de</strong>r Herr seinen<br />

Jüngern zu beten. In seinem Namen sollen <strong>Christi</strong> Nachfolger vor Gott stehen. Durch die Größe<br />

<strong>de</strong>s für sie dargebrachten Opfers sind sie in <strong>de</strong>n Augen Gottes wertvoll gewor<strong>de</strong>n; wegen <strong>de</strong>r<br />

ihnen zugemessenen Gerechtigkeit ihres Erlösers wer<strong>de</strong>n sie von Gott hochgeachtet. Um <strong>Christi</strong><br />

willen vergibt <strong>de</strong>r Herr allen, die ihn fürchten. Er sieht in ihnen nicht die Schlechtigkeit <strong>de</strong>s<br />

Sün<strong>de</strong>rs, son<strong>de</strong>rn er erkennt in ihnen das Bild seines Sohnes, an <strong>de</strong>n sie glauben.<br />

457


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Gott ist enttäuscht, wenn seine Kin<strong>de</strong>r sich selbst gering einschätzen. Er wünscht vielmehr,<br />

seine Auserwählten sollten sich nach <strong>de</strong>m Preis beurteilen, <strong>de</strong>n er für sie bezahlt hat. Den Herrn<br />

verlangte nach ihnen. An<strong>de</strong>rnfalls hätte er seinen Sohn nicht mit einem so teuren Auftrag,<br />

nämlich sie zu erlösen, gesandt. Er hat eine Aufgabe für sie, und es gefällt ihm, wenn sie ihn bis<br />

zum äußersten beanspruchen, um seinen Namen verherrlichen zu können. Sie dürfen große<br />

Dinge erwarten, wenn sie seinen Verheißungen glauben. Es be<strong>de</strong>utet viel, in <strong>Christi</strong> Namen zu<br />

beten. Es will heißen, das wir sein Wesen annehmen, seinen Geist offenbaren und seine Werke<br />

tun. Der Heiland selbst knüpft eine Bedingung an seine Verheißung: „Liebet ihr mich, so<br />

wer<strong>de</strong>t ihr meine Gebote halten.“ Johannes 14,15. Gott errettet die Menschen nicht in, son<strong>de</strong>rn<br />

von ihren Sün<strong>de</strong>n; und alle, die <strong>de</strong>n Herrn lieben, wer<strong>de</strong>n ihre Liebe durch Gehorsam<br />

beweisen.<br />

Aller wahre Gehorsam entspringt <strong>de</strong>m Herzen. Auch bei Christus war er eine Herzenssache.<br />

Wenn wir mit ihm übereinstimmen, wird Christus sich so mit unseren Gedanken und Zielen<br />

i<strong>de</strong>ntifizieren und unsere Herzen und Sinne so mit seinem Willen verschmelzen, daß wir, wenn<br />

wir ihm gehorsam sind, unsere eigenen Absichten verwirklichen. Der Wille wird, geläutert und<br />

geheiligt, sein höchstes Entzücken darin fin<strong>de</strong>n, seinem Beispiel <strong>de</strong>r Hingabe zu folgen. Wenn<br />

wir Gott so kennten, wie wir ihn nach seiner Gna<strong>de</strong> kennen sollten, dann wür<strong>de</strong> unser Leben ein<br />

Leben beständigen Gehorsams sein. Durch die Wertschätzung <strong>de</strong>s Wesens <strong>Christi</strong>, durch die<br />

Verbindung mit Gott wür<strong>de</strong> uns die Sün<strong>de</strong> verhaßt wer<strong>de</strong>n.<br />

Wie sich Jesus einst als Mensch unter das Gesetz beugte, so können auch wir es tun, wenn<br />

wir uns an seine Stärke halten. Doch wir dürfen die Verantwortung für unsere Pflicht nicht auf<br />

an<strong>de</strong>re abwälzen und von ihnen erwarten, daß sie uns sagen, was zu tun ist. Wir dürfen nicht<br />

von <strong>de</strong>m Rat <strong>de</strong>r Menschen abhängig sein. Gott wird uns unsere Pflicht ebenso bereitwillig<br />

lehren, wie er sie irgen<strong>de</strong>inen an<strong>de</strong>ren auch lehren wird. Wenn wir im Glauben zu ihm<br />

kommen, wird er uns seinen Willen kundtun. Unser Herz wird oft in uns brennen, wenn <strong>de</strong>r<br />

Eine sich uns nähert, um mit uns ebenso in Verbindung zu kommen wie einst mit Henoch. Jene,<br />

die sich entschie<strong>de</strong>n haben, in keiner Weise etwas zu tun, was Gott mißfällt, wer<strong>de</strong>n, nach<strong>de</strong>m<br />

sie ihm ihre Angelegenheit dargelegt haben, genau wissen, welchen Weg sie gehen müssen. Sie<br />

wer<strong>de</strong>n nicht nur Weisheit erhalten, son<strong>de</strong>rn auch Stärke. Sie wer<strong>de</strong>n die Kraft haben, gehorsam<br />

zu sein und zu dienen, wie Jesus es verheißen hat. Alles, was Christus empfing — alle Mittel,<br />

um <strong>de</strong>n Nöten <strong>de</strong>s gefallenen Menschengeschlechts abzuhelfen —, wur<strong>de</strong> ihm als Haupt und<br />

Vertreter <strong>de</strong>r Menschen gegeben. „Was wir bitten, wer<strong>de</strong>n wir von ihm nehmen; <strong>de</strong>nn wir<br />

halten seine Gebote und tun, was vor ihm gefällig ist.“ 1.Johannes 3,22.<br />

Ehe er sich selbst als Opfer gab, wollte <strong>de</strong>r Heiland seinen Jüngern die wichtigste und<br />

vollkommenste Gabe verleihen, eine Gabe, die ihre Herzen offen ließe für die grenzenlosen<br />

Möglichkeiten <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong>. „Ich will <strong>de</strong>n Vater bitten“, sagte er ihnen, „und er wird euch einen<br />

an<strong>de</strong>rn Tröster geben, daß er bei euch sei ewiglich: <strong>de</strong>n Geist <strong>de</strong>r Wahrheit, welchen die Welt<br />

nicht kann empfangen; <strong>de</strong>nn sie sieht ihn nicht und kennt ihn nicht. Ihr aber kennet ihn; <strong>de</strong>nn er<br />

bleibt bei euch und wird in euch sein. Ich will euch nicht als Waisen zurücklassen; ich komme<br />

zu euch.“ Johannes 14,16-18. Der Heilige Geist war schon vorher in <strong>de</strong>r Welt wirksam<br />

458


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

gewesen; er hatte seit <strong>de</strong>m Beginn <strong>de</strong>s Erlösungswerkes auf die Herzen <strong>de</strong>r Menschen Einfluß<br />

gehabt. Doch während <strong>de</strong>r Heiland auf Er<strong>de</strong>n weilte, hatten die Jünger nach keinem an<strong>de</strong>rn<br />

Tröster verlangt. Erst nach Jesu Himmelfahrt wür<strong>de</strong> in ihnen das Bedürfnis nach <strong>de</strong>r Gegenwart<br />

<strong>de</strong>s Heiligen Geistes geweckt, und dann sollte er kommen.<br />

Der Heilige Geist vertritt Christus, wenn auch bar allen menschlichen Wesens und völlig<br />

unabhängig davon. Der Heiland konnte durch seine menschliche Natur auf Er<strong>de</strong>n nicht überall<br />

gegenwärtig sein. Es war darum ausschließlich zum Besten seiner Nachfolger, daß er wie<strong>de</strong>r<br />

zum Vater ging und <strong>de</strong>n Heiligen Geist als seinen Stellvertreter sandte. Niemand konnte dann<br />

wegen seines Aufenthaltsortes o<strong>de</strong>r wegen seiner persönlichen Verbindung mit Christus<br />

irgen<strong>de</strong>inen Vorteil haben. Durch <strong>de</strong>n Heiligen Geist wür<strong>de</strong> Jesus allen Menschen erreichbar<br />

sein. In diesem Sinne konnte er ihnen näher sein, als wenn er nicht zum Himmel aufgefahren<br />

wäre.<br />

„Wer mich aber liebt, <strong>de</strong>r wird von meinem Vater geliebt wer<strong>de</strong>n, und ich wer<strong>de</strong> ihn lieben<br />

und mich ihm offenbaren.“ Johannes 14,21. Der Heiland kannte das irdische Schicksal seiner<br />

Jünger. Er sah einen aufs Schafott gebracht, einen ans Kreuz geheftet, einen an<strong>de</strong>rn auf die<br />

einsame Felseninsel im Meer verbannt und wie<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re verfolgt und erschlagen. Er stärkte sie<br />

mit <strong>de</strong>r Verheißung, in je<strong>de</strong>r Schwierigkeit mit ihnen zu sein. <strong>Die</strong>se Verheißung hat noch nichts<br />

von ihrer Kraft verloren. Der Herr weiß alles über seine treuen <strong>Die</strong>ner, die um seinetwillen im<br />

Gefängnis schmachten o<strong>de</strong>r auf einsamen Inseln verbannt leben müssen. Er tröstet sie durch die<br />

Verheißung seiner Gegenwart. Steht <strong>de</strong>r Gläubige um <strong>de</strong>r Wahrheit willen vor <strong>de</strong>n Schranken<br />

eines ungerechten Gerichtes, dann ist ihm <strong>de</strong>r Herr zur Seite; alle Beschuldigungen, <strong>de</strong>nen er<br />

sich gegenübersieht, fallen auf Christus, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Gestalt seines Jüngers abermals verurteilt<br />

wird. Ist jemand im Gefängnis eingekerkert, beglückt Christus <strong>de</strong>ssen Herz mit seiner Liebe,<br />

und erdul<strong>de</strong>t jemand <strong>de</strong>n Tod um seinetwillen, so hat dieser sein Wort: Ich bin „<strong>de</strong>r Lebendige.<br />

Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel <strong>de</strong>r<br />

Hölle und <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s“. Offenbarung 1,18. Das für Christus dahingegebene Leben wird bewahrt<br />

für die ewige Herrlichkeit.<br />

Überall und zu allen Zeiten, in allen Kümmernissen und Glaubensnöten, wenn <strong>de</strong>r Ausblick<br />

dunkel erscheint und die Zukunft verwirrend und wir uns hilflos und allein fühlen, wird Gott<br />

<strong>de</strong>n Tröster, <strong>de</strong>n Heiligen Geist, sen<strong>de</strong>n als Antwort auf unsere Gebete. <strong>Die</strong> Verhältnisse mögen<br />

uns von allen Freun<strong>de</strong>n trennen, nichts aber, kein beson<strong>de</strong>rer Umstand, keine Entfernung,<br />

vermag uns von <strong>de</strong>m himmlischen Tröster zu schei<strong>de</strong>n. Wo immer wir sind, wo immer wir<br />

hingehen, er ist uns stets zur Seite, um uns zu stützen und zu kräftigen, um uns beizustehen und<br />

zu ermutigen.<br />

<strong>Die</strong> Jünger verstan<strong>de</strong>n Jesu Worte immer noch nicht in ihrer geistlichen Be<strong>de</strong>utung, und <strong>de</strong>r<br />

Herr mußte sie ihnen abermals erklären. „Der Tröster, <strong>de</strong>r Heilige Geist, welchen mein Vater<br />

sen<strong>de</strong>n wird in meinem Namen, <strong>de</strong>r wird euch alles lehren und euch erinnern alles <strong>de</strong>s, was ich<br />

euch gesagt habe.“ Johannes 14,26. Dann wer<strong>de</strong>t ihr nicht mehr sagen: Ich kann es nicht<br />

verstehen! Ihr wer<strong>de</strong>t nicht mehr „durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort“ (1.Korinther<br />

13,12) sehen, son<strong>de</strong>rn ihr wer<strong>de</strong>t begreifen können „mit allen Heiligen, welches da sei die<br />

459


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Breite und die Länge und die Höhe und die Tiefe; auch erkennen die Liebe <strong>Christi</strong>, die doch alle<br />

Erkenntnis übertrifft“. Epheser 3,18.19. <strong>Die</strong> Jünger sollten Zeugnis ablegen von <strong>de</strong>m Leben und<br />

Wirken ihres Herrn; durch ihr Wort wollte Jesus zu allen Menschen auf <strong>de</strong>m ganzen Er<strong>de</strong>nkreis<br />

re<strong>de</strong>n. Doch die Demütigungen und <strong>de</strong>r Tod <strong>Christi</strong> wür<strong>de</strong>n ihnen schwere Anfechtungen und<br />

Enttäuschungen bringen. Damit nach diesen Erfahrungen ihr Wort überzeugungskräftig und<br />

genau wäre, verhieß ihnen Jesus <strong>de</strong>n Heiligen Geist, „<strong>de</strong>r wird euch alles lehren und euch<br />

erinnern alles <strong>de</strong>s, was ich euch gesagt habe“. Johannes 14,26.<br />

„Ich habe euch noch viel zu sagen“, sprach Jesus weiter, „aber ihr könnt es jetzt nicht tragen.<br />

Wenn aber jener, <strong>de</strong>r Geist <strong>de</strong>r Wahrheit, kommen wird, <strong>de</strong>r wird euch in alle Wahrheit leiten.<br />

Denn er wird nicht aus sich selber re<strong>de</strong>n; son<strong>de</strong>rn was er hören wird, das wird er re<strong>de</strong>n, und was<br />

zukünftig ist, wird er euch verkündigen. Derselbe wird mich verherrlichen; <strong>de</strong>nn von <strong>de</strong>m<br />

Meinen wird er‘s nehmen und euch verkündigen.“ Johannes 16,12-14. Der Heiland hatte seinen<br />

Jüngern ein weites Gebiet <strong>de</strong>r Wahrheit geöffnet; aber es wur<strong>de</strong> ihnen sehr schwer, seine<br />

Lehren von <strong>de</strong>n Überlieferungen und Grundsätzen <strong>de</strong>r Schriftgelehrten und Pharisäer <strong>de</strong>utlich<br />

zu trennen. Sie waren unterwiesen wor<strong>de</strong>n, die Lehren <strong>de</strong>r Rabbiner als Stimme Gottes<br />

anzunehmen; diese Erziehung übte noch einen großen Einfluß auf ihr Verständnis aus und<br />

formte ihre Gesinnung. Irdische Vorstellungen und weltliche Dinge nahmen in ihren Gedanken<br />

noch einen breiten Raum ein, und sie verstan<strong>de</strong>n nicht die geistliche Natur <strong>de</strong>s Reiches <strong>Christi</strong>,<br />

obgleich er sie ihnen oft erklärt hatte. Sie wur<strong>de</strong>n verwirrt und begriffen nicht die Wichtigkeit<br />

<strong>de</strong>r von Christus angeführten Schriftstellen; viele seiner Lehren schienen sie überhaupt nicht zu<br />

erreichen. Der Heiland erkannte, daß sie die wahre Be<strong>de</strong>utung seiner Re<strong>de</strong>n nicht verstan<strong>de</strong>n,<br />

und in seiner Barmherzigkeit versprach er ihnen, daß <strong>de</strong>r Heilige Geist ihnen diese Worte<br />

wie<strong>de</strong>r ins Gedächtnis zurückrufen wer<strong>de</strong>. Er ließ viele Dinge ungesagt, die die Jünger doch<br />

nicht verstehen konnten; auch diese wür<strong>de</strong> ihnen <strong>de</strong>r Heilige Geist später mitteilen. Er wür<strong>de</strong><br />

ihnen ihr Verständnis beleben, damit sie die himmlischen Dinge würdigen könnten. „Wenn aber<br />

jener, <strong>de</strong>r Geist <strong>de</strong>r Wahrheit, kommen wird, <strong>de</strong>r wird euch in alle Wahrheit leiten.“ Johannes<br />

16,12-14.<br />

Der Tröster wird <strong>de</strong>r „Geist <strong>de</strong>r Wahrheit“ genannt; es ist seine Aufgabe, die Wahrheit zu<br />

bestimmen und festzuhalten. Er wohnt zuerst im Herzen als Geist <strong>de</strong>r Wahrheit und wird<br />

dadurch zum Tröster; <strong>de</strong>nn nur in <strong>de</strong>r Wahrheit liegen Trost und Frie<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> Falschheit kennt<br />

keinen wahren Frie<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r Trost. Satan gewinnt durch falsche Lehren und Überlieferungen die<br />

Gewalt über <strong>de</strong>n Verstand, und in<strong>de</strong>m er die Menschen in <strong>de</strong>n Irrtum verführt, entstellt er ihr<br />

ursprüngliches Wesen. Der Heilige Geist aber spricht durch die Heilige Schrift zum Herzen <strong>de</strong>s<br />

Menschen und prägt ihm die Wahrheit ein. Dadurch legt er <strong>de</strong>n Irrtum bloß und vertreibt ihn<br />

aus <strong>de</strong>r Seele. Durch <strong>de</strong>n Geist <strong>de</strong>r Wahrheit, <strong>de</strong>r sich uns durch Gottes Wort mitteilt, macht<br />

sich <strong>de</strong>r Herr sein auserwähltes Volk untertan.<br />

In<strong>de</strong>m Jesus seinen Jüngern das Amt <strong>de</strong>s Heiligen Geistes beschrieb, versuchte er in ihnen<br />

die Freu<strong>de</strong> und Hoffnung zu erwecken, die ihn selbst beseelte. Er freute sich über die reiche<br />

Unterstützung, die für seine Gemein<strong>de</strong> vorgesehen war; <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Heilige Geist war die<br />

wertvollste aller Gaben, die er von seinem Vater zur Erhöhung seines Volkes erbitten konnte.<br />

460


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

<strong>Die</strong>ser Geist sollte uns als eine erneuern<strong>de</strong> Kraft erfüllen, ohne die das Opfer <strong>Christi</strong> wertlos<br />

gewesen wäre. Der Hang zum Bösen war jahrhun<strong>de</strong>rtelang gestärkt wor<strong>de</strong>n, und die<br />

Unterwerfung <strong>de</strong>r Menschen unter diese satanische Knechtschaft war höchst bestürzend. Nur<br />

durch die machtvolle Kraft <strong>de</strong>r dritten Person <strong>de</strong>r Gottheit konnte <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong>n und<br />

sie überwun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. Der Heilige Geist sollte nicht in beschränktem Maße, son<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>r<br />

Fülle göttlicher Kraft über ihnen ausgegossen wer<strong>de</strong>n. Er macht lebendig, was <strong>de</strong>r Heiland <strong>de</strong>r<br />

Welt erwirkt hat. Er reinigt das Herz, und durch ihn wird <strong>de</strong>r Gläubige Teilhaber <strong>de</strong>r göttlichen<br />

Natur. Christus hat seinen Geist als eine göttliche Kraft gegeben, um alle ererbten und<br />

anerzogenen Neigungen zum Bösen zu überwin<strong>de</strong>n und seiner Gemein<strong>de</strong> sein Wesen<br />

aufzuprägen.<br />

Er sagte ferner von <strong>de</strong>m Geist: „Derselbe wird mich verherrlichen.“ Der Heiland kam, um<br />

<strong>de</strong>n Vater durch die Darstellung seiner Liebe zu verherrlichen. Ebenso soll <strong>de</strong>r Heilige Geist<br />

<strong>de</strong>n Heiland verklären, in<strong>de</strong>m er seine Gna<strong>de</strong>nfülle <strong>de</strong>r Welt offenbart. Das Ebenbild Gottes soll<br />

im Menschen wie<strong>de</strong>rhergestellt wer<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> Ehre Gottes, die Ehre <strong>Christi</strong> sind untrennbar<br />

verbun<strong>de</strong>n mit einer unta<strong>de</strong>ligen charakterlichen Entwicklung seines Volkes.<br />

„Wenn <strong>de</strong>rselbe kommt, wird er <strong>de</strong>r Welt die Augen auftun über die Sün<strong>de</strong> und über die<br />

Gerechtigkeit und über das Gericht.“ Johannes 16,8. <strong>Die</strong> Verkündigung <strong>de</strong>s Wortes Gottes wird<br />

ohne die beständige Gegenwart und Hilfe <strong>de</strong>s Heiligen Geistes erfolglos sein; <strong>de</strong>nn er ist <strong>de</strong>r<br />

einzige erfolgreiche Lehrer <strong>de</strong>r göttlichen Wahrheit. Nur wenn die Kraft <strong>de</strong>s Geistes das Wort<br />

<strong>de</strong>r Wahrheit in die Herzen senkt, wird es das Gewissen wecken und das Leben umgestalten.<br />

Ein Mensch kann fähig sein, das Wort Gottes buchstabengetreu mitzuteilen, er kann mit allen<br />

seinen Geboten und Verheißungen vertraut sein; doch wenn <strong>de</strong>r Heilige Geist die Wahrheit<br />

nicht fest grün<strong>de</strong>t, wird keine Seele auf <strong>de</strong>n „Eckstein“ fallen und daran „zerschellen“. Lukas<br />

20,17.18. We<strong>de</strong>r ein hohes Maß an Bildung noch irdische Vorteile, wie groß sie auch sein<br />

mögen, können <strong>de</strong>n Menschen ohne die Mitwirkung <strong>de</strong>s Geistes Gottes zum Lichtträger<br />

machen. <strong>Die</strong> Aussaat <strong>de</strong>s Evangeliumssamens wird nicht aufgehen, wenn nicht <strong>de</strong>r Tau <strong>de</strong>s<br />

Himmels ihn zum Leben erweckt. Ehe eins <strong>de</strong>r neutestamentlichen Bücher geschrieben war, ehe<br />

eine Predigt nach <strong>de</strong>r Himmelfahrt <strong>Christi</strong> gehalten wur<strong>de</strong>, kam <strong>de</strong>r Heilige Geist auf die<br />

beten<strong>de</strong>n Apostel, so daß selbst ihre Fein<strong>de</strong> sagen mußten: „Ihr habt Jerusalem erfüllt mit eurer<br />

Lehre.“ Apostelgeschichte 5,28.<br />

Christus hat seiner Gemein<strong>de</strong> die Gabe <strong>de</strong>s Heiligen Geistes versprochen. <strong>Die</strong>se Verheißung<br />

gehört uns so gut wie <strong>de</strong>n ersten Gläubigen. Doch wie je<strong>de</strong> an<strong>de</strong>re Verheißung auch ist sie an<br />

Bedingungen geknüpft. Es gibt viele, die an die Verheißungen <strong>de</strong>s Herrn glauben und vorgeben,<br />

sie in Anspruch zu nehmen. Sie sprechen über Christus und über <strong>de</strong>n Heiligen Geist und<br />

empfangen <strong>de</strong>nnoch keinerlei Segen. Sie öffnen ihre Seele nicht <strong>de</strong>r göttlichen Wirksamkeit,<br />

damit sie geleitet und beherrscht wer<strong>de</strong>. Wir besitzen nicht die Fähigkeit, <strong>de</strong>n Heiligen Geist in<br />

unseren <strong>Die</strong>nst zu nehmen, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Heilige Geist muß sich — umgekehrt — unser<br />

bedienen. Gott wirkt durch <strong>de</strong>n Geist in seinen Kin<strong>de</strong>rn „das Wollen und das Vollbringen, zu<br />

seinem Wohlgefallen“. Philipper 2,13.<br />

461


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Doch viele Menschen wollen sich <strong>de</strong>m nicht unterwerfen; sie wollen sich auf sich selbst<br />

verlassen und empfangen darum nicht die himmlische Gabe. Nur <strong>de</strong>nen, die <strong>de</strong>mütig auf <strong>de</strong>n<br />

Herrn harren und auf seine Führung und auf seine Gna<strong>de</strong>ngabe achthaben, wird <strong>de</strong>r Heilige<br />

Geist zuteil. <strong>Die</strong> Kraft Gottes wartet darauf, daß die Menschen nach ihr verlangen und sie<br />

annehmen. Wird dieser verheißene Segen im Glauben beansprucht, so zieht er alle an<strong>de</strong>ren<br />

Segnungen nach sich. Er wird nach <strong>de</strong>m Reichtum <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong> <strong>Christi</strong> gegeben wer<strong>de</strong>n; er kann<br />

die Bedürfnisse je<strong>de</strong>r Seele befriedigen, soweit diese fähig ist, die göttliche Kraft<br />

aufzunehmen.Jesus machte in seinem Gespräch mit <strong>de</strong>n Jüngern keine traurigen An<strong>de</strong>utungen<br />

über sein Lei<strong>de</strong>n und Sterben; sein letztes Vermächtnis an sie war vielmehr die Versicherung<br />

göttlichen Frie<strong>de</strong>ns. Er sagte ihnen: „Den Frie<strong>de</strong>n lasse ich euch, meinen Frie<strong>de</strong>n gebe ich euch.<br />

Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich<br />

nicht.“ Johannes 14,27. Ehe sie <strong>de</strong>n Abendmahlsraum verließen, stimmte <strong>de</strong>r Heiland mit <strong>de</strong>n<br />

Jüngern einen Lobgesang an. Seine Stimme erklang nicht in einem trauern<strong>de</strong>n Klagegesang,<br />

son<strong>de</strong>rn in einem frohen Passahlied: „Lobet <strong>de</strong>n Herrn, alle Hei<strong>de</strong>n! Preiset ihn, alle Völker!<br />

Denn seine Gna<strong>de</strong> und Wahrheit waltet über uns in Ewigkeit. Halleluja!“ Psalm 117.<br />

Nach diesem Lobgesang gingen sie hinaus. Sie bahnten sich einen Weg durch die Menge, die<br />

auf <strong>de</strong>n Straßen hin und her wogte, und gelangten durch das Stadttor in <strong>de</strong>r Nähe <strong>de</strong>s Ölberges<br />

hinaus ins Freie. Je<strong>de</strong>r tief in Gedanken versunken, wan<strong>de</strong>rten sie langsam dahin. Als sie an <strong>de</strong>n<br />

Ölberg kamen, sagte <strong>de</strong>r Heiland bekümmert: „In dieser Nacht wer<strong>de</strong>t ihr alle Ärgernis nehmen<br />

an mir. Denn es steht geschrieben: ‚Ich wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Hirten schlagen, und die Schafe <strong>de</strong>r Her<strong>de</strong><br />

wer<strong>de</strong>n sich zerstreuen.‘“ Matthäus 26,31. Traurig und bestürzt schwiegen die Jünger. Sie<br />

dachten daran, wie sich in <strong>de</strong>r Synagoge zu Kapernaum, als Christus von sich als <strong>de</strong>m Brot <strong>de</strong>s<br />

Lebens sprach, viele aufgebracht von ihm abgewandt hatten; sie aber waren ihm treu geblieben,<br />

und Petrus hatte im Namen aller ihre Ergebenheit bekun<strong>de</strong>t. Darauf hatte <strong>de</strong>r Herr erwi<strong>de</strong>rt:<br />

„Habe ich nicht euch Zwölf erwählt? Und euer einer ist ein Teufel.“ Johannes 6,70. Und heute<br />

Abend hatte <strong>de</strong>r Meister beim Passahmahl gesagt, daß einer <strong>de</strong>r Zwölf ihn verraten und daß<br />

Petrus ihn verleugnen wür<strong>de</strong>; jetzt aber schlossen seine Worte sie alle ein.<br />

Wie<strong>de</strong>r war es Petrus, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Herrn mit lei<strong>de</strong>nschaftlicher Stimme zurief: „Und wenn sie<br />

alle an dir Ärgernis nähmen, so doch ich nicht.“ Markus 14,29. Oben im Saal hatte er sogar<br />

erklärt: „Ich will mein Leben für dich lassen.“ Johannes 13,37. Jesus hatte ihm darauf erwi<strong>de</strong>rt,<br />

daß er seinen Heiland noch in <strong>de</strong>rselben Nacht verraten wür<strong>de</strong>. Jetzt wie<strong>de</strong>rholte er seine<br />

Warnung: „Wahrlich, ich sage dir: Heute, in dieser Nacht, ehe <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Hahn zweimal kräht,<br />

wirst du mich dreimal verleugnen.“ Petrus aber „re<strong>de</strong>te noch weiter: Wenn ich auch mit dir<br />

sterben müßte, wollte ich dich nicht verleugnen. Desgleichen sagten sie alle“. Markus 14,30.31.<br />

In ihrem Selbstvertrauen wi<strong>de</strong>rsprachen sie <strong>de</strong>r wie<strong>de</strong>rholten Feststellung <strong>de</strong>ssen, <strong>de</strong>r alle Dinge<br />

weiß. Auf eine Prüfung aber waren sie nicht vorbereitet; darum wür<strong>de</strong>n sie ihre Schwäche erst<br />

erkennen, wenn die Versuchung sie überraschte.<br />

Petrus meinte es mit je<strong>de</strong>m Wort aufrichtig, als er <strong>de</strong>m Herrn versprach, ihm in<br />

Gefangenschaft und Tod zu folgen; aber er kannte sich selbst zuwenig. In seinem Herzen<br />

verborgen, schlummerten noch böse Neigungen, die durch beson<strong>de</strong>re Umstän<strong>de</strong> leicht geweckt<br />

462


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

wer<strong>de</strong>n konnten und ihn unweigerlich <strong>de</strong>m ewigen Ver<strong>de</strong>rben überantworten wür<strong>de</strong>n, wenn<br />

man ihm nicht diese Gefahr <strong>de</strong>utlich zum Bewußtsein brächte. Jesus sah in ihm eine Eigenliebe<br />

und ein Selbstvertrauen, die sogar über seine Liebe zum Herrn hinausgehen wür<strong>de</strong>n. Viel<br />

Schwachheit, unbeherrschte Sün<strong>de</strong>, Achtlosigkeit <strong>de</strong>s Geistes, Jähzorn und Sorglosigkeit<br />

gegenüber starken Versuchungen hatten die Erfahrungen <strong>de</strong>s Petrus bestimmt.<br />

Jesu ernstes Mahnwort sollte ihn zur Selbstprüfung veranlassen. Petrus durfte sich nicht so<br />

sehr auf sich selbst verlassen, son<strong>de</strong>rn sollte gläubiger <strong>de</strong>m Heiland anhangen. Hätte er die<br />

Warnung <strong>de</strong>mütig angenommen, so wür<strong>de</strong> er <strong>de</strong>n Hirten <strong>de</strong>r Her<strong>de</strong> gebeten haben, seine Schafe<br />

zu bewahren. Als er einst auf <strong>de</strong>m See Genezareth am Versinken war, hatte er nach <strong>de</strong>m Herrn<br />

gerufen: „Herr, hilf mir!“ Und Christus hatte seine Hand ausgestreckt und ihn ergriffen. So<br />

wäre er auch jetzt bewahrt wor<strong>de</strong>n, wenn er seinen Heiland gebeten hätte: Hilf mir vor mir<br />

selber! Aber Petrus empfand Jesu Worte nur als Mißtrauen und fühlte sich gekränkt; sein<br />

Selbstvertrauen jedoch war nicht im geringsten erschüttert. Der Herr schaute voller Mitleid auf<br />

seine Jünger. Er konnte sie nicht vor <strong>de</strong>r kommen<strong>de</strong>n Versuchung bewahren, aber er verließ sie<br />

nicht ungetröstet. Er gab ihnen die Zusicherung, daß er die Fesseln <strong>de</strong>s Grabes zerbrechen und<br />

daß seine Liebe zu ihnen niemals aufhören wer<strong>de</strong>. „Wenn ich aber auferstehe“, sagte er, „will<br />

ich vor euch hingehen nach Galiläa.“ Matthäus 26,32. Schon vor <strong>de</strong>r Verleugnung erhielten sie<br />

die Gewißheit seiner Vergebung. Nach seinem To<strong>de</strong> und seiner Auferstehung wußten sie, daß<br />

ihnen vergeben war und daß sie <strong>de</strong>m Herzen <strong>Christi</strong> nahestan<strong>de</strong>n.<br />

Der Heiland befand sich mit seinen Jüngern auf <strong>de</strong>m Wege nach Gethsemane, einem ruhig<br />

gelegenen Ort am Fuße <strong>de</strong>s Ölberges, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Herr oft aufgesucht hatte, um nachzu<strong>de</strong>nken und<br />

zu beten. Jesus hatte <strong>de</strong>n Jüngern das Wesen seiner Sendung und ihre geistliche Bindung zu<br />

ihm, die sie unterhalten sollten, erklärt. Nun veranschaulichte er ihnen diese Erklärung. Das<br />

silberne Licht <strong>de</strong>s Mon<strong>de</strong>s enthüllte einen Weinstock, <strong>de</strong>r voller Reben war. Der Heiland lenkte<br />

die Aufmerksamkeit <strong>de</strong>r Jünger auf dieses Bild und benutzte es als Symbol. „Ich bin <strong>de</strong>r rechte<br />

Weinstock“ (Johannes 15,1), sagte er. Statt die anmutige Palme, die stattliche Ze<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r die<br />

starke Eiche für seinen Vergleich heranzuziehen, wies <strong>de</strong>r Herr auf <strong>de</strong>n Weinstock mit <strong>de</strong>n sich<br />

anklammern<strong>de</strong>n Ranken und verglich sich mit ihm. Palmen, Ze<strong>de</strong>rn und Eichen stehen allein;<br />

sie brauchen keine Stütze. Der Wein aber rankt sich am Spalier entlang und strebt dadurch<br />

himmelwärts. So war Christus als Mensch von <strong>de</strong>r göttlichen Macht abhängig. „Der Sohn kann<br />

nichts von sich selber tun“ (Johannes 5,19), erklärte er.<br />

„Ich bin <strong>de</strong>r rechte Weinstock.“ <strong>Die</strong> Ju<strong>de</strong>n hatten <strong>de</strong>n Weinstock stets als die e<strong>de</strong>lste aller<br />

Pflanzen betrachtet; sie nahmen ihn als Sinnbild alles <strong>de</strong>ssen, was stark, herrlich und fruchtbar<br />

war. Israel selbst war als ein Weinstock dargestellt wor<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n Gott in <strong>de</strong>m verheißenen Lan<strong>de</strong><br />

gepflanzt hatte. <strong>Die</strong> Ju<strong>de</strong>n grün<strong>de</strong>ten die Hoffnung ihres Heils auf die Tatsache, daß sie mit<br />

Israel verbun<strong>de</strong>n waren; aber Jesus sagte: „Ich bin <strong>de</strong>r rechte Weinstock.“ Glaubt nicht, daß ihr<br />

durch die Verbindung mit Israel Teilhaber <strong>de</strong>s göttlichen Lebens und Erben seiner Verheißung<br />

wer<strong>de</strong>t; durch mich allein wird geistliches Leben empfangen.<br />

„Ich bin <strong>de</strong>r rechte Weinstock, und mein Vater <strong>de</strong>r Weingärtner.“ Auf Palästinas Hügeln<br />

hatte <strong>de</strong>r himmlische Vater diesen guten Weinstock gepflanzt, und er selbst war <strong>de</strong>r<br />

463


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Weingärtner. Viele wur<strong>de</strong>n durch die Schönheit dieses Weinstockes angezogen und bekannten,<br />

er sei himmlischen Ursprungs. Nur <strong>de</strong>n Führern Israels erschien er wie eine Wurzel auf dürrem<br />

Erdreich. Sie nahmen die Pflanze, beschädigten sie und zertraten sie unter ihren unheiligen<br />

Füßen in <strong>de</strong>r Hoffnung, sie für immer zu vernichten; doch <strong>de</strong>r himmlische Weingärtner ließ das<br />

edle Reis nicht aus <strong>de</strong>m Auge. Nach<strong>de</strong>m die Menschen glaubten, es vernichtet zu haben, nahm<br />

er es und verpflanzte es auf die an<strong>de</strong>re Seite <strong>de</strong>r Mauer. So war <strong>de</strong>r Weinstock nunmehr nicht<br />

länger sichtbar, und er blieb <strong>de</strong>n zerstören<strong>de</strong>n Angriffen <strong>de</strong>r Menschen entzogen. Aber seine<br />

Reben hingen über die Mauer und wiesen wie<strong>de</strong>rum auf <strong>de</strong>n Weinstock; durch sie konnten<br />

immer noch Wildlinge mit <strong>de</strong>m guten Weinstock verbun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. Auch sie haben Früchte<br />

gezeitigt und sind zur Ernte gewor<strong>de</strong>n, die die Vorübergehen<strong>de</strong>n eingebracht haben.<br />

„Ich bin <strong>de</strong>r Weinstock, ihr seid die Reben.“ Das sagte <strong>de</strong>r Herr zu seinen Jüngern. Obgleich<br />

er im Begriff stand, sie zu verlassen, war ihre geistliche Verbindung mit ihm unverän<strong>de</strong>rt. <strong>Die</strong><br />

Verbindung <strong>de</strong>r Rebe mit <strong>de</strong>m Weinstock, so sagte er, veranschaulicht das Verhältnis, in <strong>de</strong>m<br />

ihr zu mir bleiben sollt. Der junge Trieb wird <strong>de</strong>m Weinstock eingepfropft und wächst Faser auf<br />

Faser, A<strong>de</strong>r auf A<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Stamm ein, so daß das Leben <strong>de</strong>s Weinstocks sich mit <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r<br />

Rebe vereinigt. So empfängt auch die in Schuld und in Sün<strong>de</strong>n abgestorbene Seele neues Leben<br />

durch die Verbindung mit Christus, die durch <strong>de</strong>n Glauben an ihn als einen persönlichen<br />

Heiland hergestellt wird. Der Sün<strong>de</strong>r vereinigt seine Schwachheit mit <strong>de</strong>r Stärke <strong>Christi</strong>, seine<br />

Leere mit <strong>de</strong>r Fülle Jesu und seine Gebrechlichkeit mit <strong>Christi</strong> ausdauern<strong>de</strong>r Kraft. Er wird<br />

eines Sinnes mit ihm; die menschliche Natur <strong>Christi</strong> hat unser Menschsein berührt und unsere<br />

menschliche Natur die Gottheit. So wird <strong>de</strong>r Mensch durch die Vermittlung <strong>de</strong>s Heiligen<br />

Geistes <strong>de</strong>r göttlichen Natur teilhaftig; er ist „begna<strong>de</strong>t ... in <strong>de</strong>m Geliebten“. Epheser 1,6.<br />

<strong>Die</strong>se Verbindung mit Christus muß, wenn sie einmal entstan<strong>de</strong>n ist, aufrechterhalten<br />

wer<strong>de</strong>n. Der Herr sagte: „Bleibet in mir und ich in euch. Gleichwie die Rebe kann keine Frucht<br />

bringen von sich selber, sie bleibe <strong>de</strong>nn am Weinstock, so auch ihr nicht, ihr bleibet <strong>de</strong>nn in<br />

mir.“ Johannes 15,4. <strong>Die</strong>s ist aber keine zufällige Berührung, keine gelegentliche Verbindung,<br />

son<strong>de</strong>rn die Rebe wird ein Teil <strong>de</strong>s Weinstocks. Leben, Kraft und Fruchtbarkeit fließen ihr<br />

ungehin<strong>de</strong>rt und beständig aus <strong>de</strong>r Wurzel zu. Getrennt vom Weinstock aber ist die Rebe nicht<br />

lebensfähig. Auch ihr, so sprach Jesus, könnt nicht leben ohne mich. Das Leben, das ihr von mir<br />

empfangen habt, kann nur durch die beständige Gemeinschaft mit mir bewahrt wer<strong>de</strong>n. Ohne<br />

mich könnt ihr we<strong>de</strong>r eine Sün<strong>de</strong> überwin<strong>de</strong>n noch einer Versuchung wi<strong>de</strong>rstehen.<br />

„Bleibet in mir und ich in euch.“ Das be<strong>de</strong>utet ein beständiges Empfangen seines Geistes, ein<br />

Leben <strong>de</strong>r vorbehaltlosen Hingabe an seinen <strong>Die</strong>nst. <strong>Die</strong> Verbindung zwischen <strong>de</strong>m einzelnen<br />

und seinem Gott darf nicht unterbrochen wer<strong>de</strong>n. Wie die Rebe unaufhörlich <strong>de</strong>n Saft aus <strong>de</strong>m<br />

leben<strong>de</strong>n Weinstock zieht, so müssen wir uns an Jesus klammern und von ihm durch <strong>de</strong>n<br />

Glauben die Stärke und Vollkommenheit seines Wesens empfangen. <strong>Die</strong> Wurzel sen<strong>de</strong>t die<br />

Nahrung durch die ganze Rebe hindurch in die äußersten Spitzen; ebenso übermittelt <strong>de</strong>r Herr<br />

<strong>de</strong>m Gläubigen Ströme voller geistlicher Stärke. Solange die Seele mit Christus verbun<strong>de</strong>n ist,<br />

besteht keine Gefahr, daß sie verwelkt o<strong>de</strong>r umkommt.<br />

464


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Das Leben <strong>de</strong>s Weinstocks zeigt sich <strong>de</strong>utlich in seinen duften<strong>de</strong>n Früchten. „Wer in mir<br />

bleibt und ich in ihm, <strong>de</strong>r bringt viel Frucht; <strong>de</strong>nn ohne mich könnt ihr nichts tun.“ Johannes<br />

15,5. Leben wir durch <strong>de</strong>n Glauben an <strong>de</strong>n Sohn Gottes, dann wer<strong>de</strong>n sich die Früchte <strong>de</strong>s<br />

Geistes in unserem Wan<strong>de</strong>l offenbaren; nicht eine einzige Frucht wird fehlen.<br />

„Und mein Vater <strong>de</strong>r Weingärtner. Eine jegliche Rebe an mir die nicht Frucht bringt, wird er<br />

wegnehmen.“ Johannes 15,1.2. Während das eingepfropfte Reis äußerlich mit <strong>de</strong>m Weinstock<br />

verbun<strong>de</strong>n ist, so kann doch die lebendige Verbindung fehlen. Dann wer<strong>de</strong>n sich we<strong>de</strong>r<br />

Wachstum noch Fruchtbarkeit zeigen. So gibt es auch eine scheinbare Verbindung mit Christus,<br />

ohne durch <strong>de</strong>n Glauben wirklich mit ihm eins zu sein. Ein Glaubensbekenntnis macht <strong>de</strong>n<br />

Menschen wohl zum Mitglied einer christlichen Gemeinschaft; aber erst Charakter und<br />

Lebensführung beweisen, ob er mit Christus verbun<strong>de</strong>n ist. Trägt solch Bekenner keine Frucht,<br />

dann wird er wie eine schlechte Rebe verwelken und vergehen. „Wer nicht in mir bleibt, <strong>de</strong>r<br />

wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer,<br />

und müssen brennen.“ Johannes 15,6.<br />

„Eine jegliche Rebe an mir ... die da Frucht bringt, wird er reinigen, daß sie mehr Frucht<br />

bringe.“ Von <strong>de</strong>r Jüngerschar, die Jesus erwählt hatte, stand einem unmittelbar bevor, wie eine<br />

verdorrte Rebe fortgeworfen zu wer<strong>de</strong>n, die an<strong>de</strong>rn aber wür<strong>de</strong>n unter das Winzermesser<br />

scharfer Prüfungen kommen. In ernster Besorgnis erklärte Jesus die Absicht <strong>de</strong>s Weingärtners.<br />

Das Beschnei<strong>de</strong>n verursacht Schmerzen, aber es ist <strong>de</strong>r Vater, <strong>de</strong>r das Messer führt. Er arbeitet<br />

nicht mit lässiger Hand o<strong>de</strong>r mit gleichgültigem Herzen. Einige Reben wachsen am Bo<strong>de</strong>n; sie<br />

müssen daher von <strong>de</strong>n irdischen Stützen getrennt wer<strong>de</strong>n, an <strong>de</strong>nen ihre Ranken haften. Sie<br />

sollen sich aufwärts entwickeln und an Gott Halt fin<strong>de</strong>n. Das überreichliche Laub, das <strong>de</strong>r<br />

Frucht die Lebenskraft entzieht, muß beschnitten wer<strong>de</strong>n; es muß entfernt wer<strong>de</strong>n, damit<br />

gleichzeitig die mil<strong>de</strong>n Strahlen <strong>de</strong>r Sonne <strong>de</strong>r Gerechtigkeit eindringen können. Der<br />

Weingärtner schnei<strong>de</strong>t <strong>de</strong>n zu üppigen Wuchs ab, damit die Früchte schöner und reichlicher<br />

ge<strong>de</strong>ihen können.<br />

„Darin wird mein Vater verherrlicht, daß ihr viel Frucht bringet.“ Johannes 15,8. Gott will<br />

die Heiligkeit, die Güte und das Erbarmen seines Wesens durch uns offenbaren. Dennoch<br />

gebietet Jesus <strong>de</strong>n Jüngern nicht, danach zu trachten, Frucht zu bringen; er sagt ihnen nur, in<br />

ihm zu bleiben. „Wenn ihr in mir bleibet“, sprach er, „und meine Worte in euch bleiben, wer<strong>de</strong>t<br />

ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch wi<strong>de</strong>rfahren.“ Johannes 15,7. Christus bleibt in <strong>de</strong>n<br />

Gläubigen durch sein Wort. Das ist die gleiche lebendige Verbindung, wie sie durch das<br />

Abendmahl versinnbil<strong>de</strong>t wird. <strong>Christi</strong> Worte sind Geist und Leben. Wer sie aufnimmt,<br />

empfängt das Leben <strong>de</strong>s Weinstocks. Wir leben „von einem jeglichen Wort, das durch <strong>de</strong>n<br />

Mund Gottes geht“. Matthäus 4,4. Das Leben <strong>Christi</strong> in uns erzeugt die gleichen Früchte wie in<br />

ihm, und wenn wir in Christus leben, an ihm hangen, von ihm gestützt wer<strong>de</strong>n und unsere<br />

Nahrung von ihm nehmen, dann tragen wir auch Frucht gleich ihm.<br />

Bei diesem letzten Zusammensein mit seinen Jüngern sprach Jesus die große Bitte aus, daß<br />

sie sich untereinan<strong>de</strong>r lieben möchten, wie er sie geliebt hatte. Immer wie<strong>de</strong>r äußerte er diesen<br />

Gedanken. „Das ist mein Gebot“, so hatte er wie<strong>de</strong>rholt gesprochen, „daß ihr euch<br />

465


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

untereinan<strong>de</strong>r liebet.“ Johannes 15,12. Jetzt, beim Abendmahl, schärfte er ihnen als erstes ein:<br />

„Ein neu Gebot gebe ich euch, daß ihr euch untereinan<strong>de</strong>r liebet, wie ich euch geliebt habe,<br />

damit auch ihr einan<strong>de</strong>r liebhabet.“ Johannes 13,34. Den Jüngern war dieses Gebot neu; <strong>de</strong>nn<br />

sie hatten einan<strong>de</strong>r nicht so geliebt, wie Jesus sie liebte. Er erkannte, daß neue Gedanken und<br />

neue Antriebskräfte sie erfüllen, daß sie nach neuen Grundsätzen han<strong>de</strong>ln müßten. Durch sein<br />

Leben und Sterben sollten sie einen neuen Begriff von <strong>de</strong>r Liebe erhalten. Das Gebot <strong>de</strong>r<br />

brü<strong>de</strong>rlichen Liebe erhielt im Licht seiner Selbstaufopferung eine neue Be<strong>de</strong>utung. Das ganze<br />

Wirken <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong> ist ein beständiger <strong>Die</strong>nst <strong>de</strong>r Liebe, <strong>de</strong>r Selbstverleugnung und <strong>de</strong>r<br />

Selbstaufopferung. In je<strong>de</strong>r Stun<strong>de</strong> seines Er<strong>de</strong>nlebens gingen unaufhaltsame Ströme <strong>de</strong>r Liebe<br />

Gottes von Jesus aus, und alle, die seines Geistes sind, wer<strong>de</strong>n Liebe üben, wie er sie vorlebte.<br />

Der gleiche Grundgedanke, <strong>de</strong>r Jesus beseelte, wird auch sie in ihrem Han<strong>de</strong>ln untereinan<strong>de</strong>r<br />

leiten.<br />

<strong>Die</strong>se Liebe ist <strong>de</strong>r Beweis ihrer Jüngerschaft. „Daran wird je<strong>de</strong>rmann erkennen, daß ihr<br />

meine Jünger seid, so ihr Liebe untereinan<strong>de</strong>r habt.“ Johannes 13,35. Wenn Menschen nicht aus<br />

Zwang o<strong>de</strong>r eigenem Interesse, son<strong>de</strong>rn aus Liebe miteinan<strong>de</strong>r verbun<strong>de</strong>n sind, macht sich in<br />

ihrem Leben das Wirken einer Macht bemerkbar, die über je<strong>de</strong>m irdischen Einfluß steht. Wo<br />

dieses Einssein besteht, ist es ein Beweis dafür, daß das Ebenbild Gottes im Menschen<br />

wie<strong>de</strong>rhergestellt ist, daß ein neuer Lebensgrundsatz eingepflanzt wur<strong>de</strong>. Es wird sich dann<br />

zeigen, daß in <strong>de</strong>r göttlichen Natur Kraft genug ist, <strong>de</strong>n übernatürlichen Mächten <strong>de</strong>s Bösen zu<br />

wi<strong>de</strong>rstehen, und daß die Gna<strong>de</strong> Gottes auch die <strong>de</strong>m natürlichen Herzen eigene Selbstsucht<br />

überwin<strong>de</strong>t.<br />

Wird solche Liebe in <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong> offenbar wird sie gewiß <strong>de</strong>n Zorn Satans erregen. Der<br />

Heiland hat seinen Jüngern keinen leichten Weg bestimmt. Er sagte ihnen: „Wenn euch die<br />

Welt hasset, so wisset, daß sie mich vor euch gehaßt hat. Wäret ihr von <strong>de</strong>r Welt, so hätte die<br />

Welt das Ihre lieb. Weil ihr aber nicht von <strong>de</strong>r Welt seid, son<strong>de</strong>rn ich euch von <strong>de</strong>r Welt erwählt<br />

habe, darum hasset euch die Welt. Ge<strong>de</strong>nket an mein Wort, das ich euch gesagt habe: Der<br />

Knecht ist nicht größer als sein Herr. Haben sie mich verfolgt, so wer<strong>de</strong>n sie euch auch<br />

verfolgen; haben sie mein Wort gehalten, so wer<strong>de</strong>n sie eures auch halten. Aber das alles<br />

wer<strong>de</strong>n sie euch tun um meines Namens willen; <strong>de</strong>nn sie kennen <strong>de</strong>n nicht, <strong>de</strong>r mich gesandt<br />

hat.“ Johannes 15,18-21. Das Evangelium wird unter beständigem Kampf inmitten von<br />

Wi<strong>de</strong>rstand, Gefahr, Verlust und Lei<strong>de</strong>n verbreitet wer<strong>de</strong>n. Nur wer sich dieser Aufgabe<br />

unterzieht, folgt wahrhaft seines Meisters Fußtapfen.<br />

Als Erlöser <strong>de</strong>r Welt mußte Christus fortwährend scheinbaren Fehlschlägen entgegentreten.<br />

Er, <strong>de</strong>r Bote <strong>de</strong>r Barmherzigkeit an unsere Welt, schien nur wenig von <strong>de</strong>m <strong>Die</strong>nst ausführen zu<br />

können, nach <strong>de</strong>m sein Herz sich sehnte: Menschen aus <strong>de</strong>r Welt herauszuheben und zu retten!<br />

Satanische Einflüsse waren beständig am Wirken, um seinen Weg zu verstellen; aber er ließ<br />

sich nicht entmutigen. Durch die Worte <strong>de</strong>s Propheten Jesaja erklärte er: „Ich aber dachte, ich<br />

arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz, wiewohl mein Recht bei<br />

<strong>de</strong>m Herrn und mein Lohn bei meinem Gott ist ... daß ... Israel zu ihm gesammelt wer<strong>de</strong>, —<br />

darum bin ich vor <strong>de</strong>m Herrn wert geachtet, und mein Gott ist meine Stärke ... So spricht <strong>de</strong>r<br />

466


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Herr, <strong>de</strong>r Erlöser Israels, sein Heiliger, zu <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r verachtet ist von <strong>de</strong>n Menschen und<br />

verabscheut von <strong>de</strong>n Hei<strong>de</strong>n, zu <strong>de</strong>m Knecht, <strong>de</strong>r unter Tyrannen ist: Könige sollen sehen und<br />

aufstehen, und Fürsten sollen nie<strong>de</strong>rfallen um <strong>de</strong>s Herrn willen, <strong>de</strong>r treu ist ... So spricht <strong>de</strong>r<br />

Herr: Ich ... habe dich behütet und zum Bund für das Volk bestellt, daß du das Land aufrichtest<br />

und das verwüstete Erbe zuteilst, zu sagen <strong>de</strong>n Gefangenen: Geht heraus! und zu <strong>de</strong>nen in <strong>de</strong>r<br />

Finsternis: Kommt hervor! ... Sie wer<strong>de</strong>n we<strong>de</strong>r hungern noch dürsten, sie wird we<strong>de</strong>r Hitze<br />

noch Sonne stechen; <strong>de</strong>nn ihr Erbarmer wird sie führen und sie an die Wasserquellen<br />

leiten.“ Jesaja 49,4.5.7-10.<br />

Auf diese Verheißung vertraute <strong>de</strong>r Herr und ließ Satan zu keinem Erfolg kommen. Als er<br />

die letzten Schritte seiner Erniedrigung zu gehen hatte, als <strong>de</strong>r schmerzlichste Kummer seine<br />

Seele bedrückte, sagte er zu seinen Jüngern: „Es kommt <strong>de</strong>r Fürst <strong>de</strong>r Welt. Er hat keine Macht<br />

über mich.“ Johannes 14,30. „Der Fürst dieser Welt ist gerichtet.“ Johannes 16,11. „Nun wird<br />

<strong>de</strong>r Fürst dieser Welt ausgestoßen wer<strong>de</strong>n.“ Johannes 12,31. Mit <strong>de</strong>m Blick <strong>de</strong>s göttlichen<br />

Sehers überschaute Christus die kommen<strong>de</strong>n Ereignisse <strong>de</strong>s letzten großen Kampfes; er wußte,<br />

daß <strong>de</strong>r ganze Himmel frohlocken wür<strong>de</strong>, wenn er ausriefe: „Es ist vollbracht!“ Sein Ohr<br />

vernahm schon die ferne Musik und die Siegesrufe im Himmel. Er wußte, daß dann die<br />

Sterbeglocke für Satans Reich schlagen und <strong>de</strong>r Name <strong>Christi</strong> von einem Himmelskörper zum<br />

an<strong>de</strong>rn verkündigt wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>.<br />

Der Heiland freute sich, daß er für seine Nachfolger mehr tun konnte, als sie zu bitten o<strong>de</strong>r<br />

zu ahnen vermochten. Er sprach bestimmt zu ihnen, in <strong>de</strong>r Gewißheit, daß ein allmächtiger<br />

Ratschluß gefaßt wor<strong>de</strong>n war, noch ehe diese Welt bestand. Er wußte, daß die Wahrheit —<br />

gerüstet mit <strong>de</strong>r Allmacht <strong>de</strong>s Heiligen Geistes — im Kampf mit <strong>de</strong>m Bösen siegen und daß das<br />

blutgetränkte Banner im Triumph über seinen Nachfolgern wehen wür<strong>de</strong>. Er wußte, daß das<br />

Leben <strong>de</strong>r ihm vertrauen<strong>de</strong>n Jünger <strong>de</strong>m seinen gleichen und eine ununterbrochene Reihe von<br />

Siegen sein wür<strong>de</strong> — als solche nicht wahrgenommen auf Er<strong>de</strong>n, aber erkannt in <strong>de</strong>r<br />

Ewigkeit. „Solches habe ich mit euch gere<strong>de</strong>t, daß ihr in mir Frie<strong>de</strong>n habet. In <strong>de</strong>r Welt habt ihr<br />

Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwun<strong>de</strong>n.“ Johannes 16,33.<br />

Christus verzagte nicht und wur<strong>de</strong> nicht entmutigt, und seine Nachfolger sollen die gleiche<br />

Stetigkeit im Glauben haben. Sie sollen leben, wie er lebte, und wirken, wie er wirkte, weil sie<br />

sich auf ihn als Führer und Berater verlassen können. Sie müssen Mut, Tatkraft und Ausdauer<br />

besitzen und in seiner Gna<strong>de</strong> vorangehen, auch wenn sich ihnen unüberwindlich scheinen<strong>de</strong><br />

Hin<strong>de</strong>rnisse in <strong>de</strong>n Weg stellen. Sie sind berufen, Schwierigkeiten zu überwin<strong>de</strong>n, statt zu<br />

beklagen; sie sollen an nichts verzweifeln, son<strong>de</strong>rn auf alles hoffen. Mit <strong>de</strong>r gol<strong>de</strong>nen Kette<br />

seiner unvergleichlichen Liebe hat Christus sie an <strong>de</strong>n Thron Gottes gebun<strong>de</strong>n. Er will, daß <strong>de</strong>r<br />

höchste Einfluß im Weltall, <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Quelle aller Kraft ausgeht, zu ihrer Verfügung steht. Sie<br />

sollen Macht haben, <strong>de</strong>m Bösen zu wi<strong>de</strong>rstehen; solche Macht, daß we<strong>de</strong>r die Er<strong>de</strong>, noch <strong>de</strong>r<br />

Tod, noch die Hölle sie überwältigen können; Macht, die sie befähigen wird, zu überwin<strong>de</strong>n,<br />

wie Christus überwand.<br />

Jesus wünscht, daß die Gemein<strong>de</strong> Gottes die himmlische Ordnung und Harmonie, die<br />

himmlische Art <strong>de</strong>r Herrschaft auf Er<strong>de</strong>n darstelle und er auf diese Weise durch seine Kin<strong>de</strong>r<br />

467


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

verherrlicht wer<strong>de</strong>. Durch sie wird die Sonne <strong>de</strong>r Gerechtigkeit in ungetrübtem Glanz <strong>de</strong>r Welt<br />

scheinen. Er hat seinem Volk be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Gaben verliehen, so daß große Herrlichkeit von<br />

seinem erlösten und erkauften Eigentum auf ihn zurückstrahlen kann. Er hat seinem Volk<br />

Fähigkeiten und Segnungen verliehen, damit es ein Spiegel seiner Vollkommenheit wer<strong>de</strong>. <strong>Die</strong><br />

Gemein<strong>de</strong>, ausgestattet mit <strong>de</strong>r Gerechtigkeit <strong>Christi</strong>, ist seine Verwahrerin, in <strong>de</strong>r die Fülle<br />

seiner Barmherzigkeit, Gna<strong>de</strong> und Liebe zu letzter und völliger Entfaltung kommen soll.<br />

Christus blickt auf sein Volk, das rein und vollkommen vor ihm steht — ein köstlicher Preis<br />

seiner Erniedrigung und eine Ergänzung seiner Herrlichkeit, und er selbst <strong>de</strong>r große<br />

Mittelpunkt, von <strong>de</strong>m alle Herrlichkeit ausstrahlt.<br />

Hoffnungsvoll beschloß <strong>de</strong>r Heiland die Unterweisung seiner Jünger. Dann schüttete er die<br />

Last seiner Seele im Gebet für seine Jünger aus, und seine Augen zum Himmel emporhebend,<br />

sprach er: „Vater, die Stun<strong>de</strong> ist da: verherrliche <strong>de</strong>inen Sohn, auf daß dich <strong>de</strong>r Sohn<br />

verherrliche, wie du ihm Macht gegeben hast über alles Fleisch, damit er das ewige Leben gebe<br />

allen, die du ihm gegeben hast. Das ist aber das ewige Leben, daß sie dich, <strong>de</strong>r du allein wahrer<br />

Gott bist, und <strong>de</strong>n du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen.“ Johannes 17,1-3.<br />

Christus hatte das Werk vollen<strong>de</strong>t, das ihm aufgetragen war. Er hatte Gott auf Er<strong>de</strong>n verklärt,<br />

er hatte <strong>de</strong>n Namen <strong>de</strong>s Vaters offenbart und jene erwählt, die sein Werk unter <strong>de</strong>n Menschen<br />

fortsetzen sollten. Von ihnen sagte er: „Ich bin in ihnen verherrlicht. Und ich bin nicht mehr in<br />

<strong>de</strong>r Welt; sie aber sind in <strong>de</strong>r Welt, und ich komme zu dir. Heiliger Vater, erhalte sie in <strong>de</strong>inem<br />

Namen, <strong>de</strong>n du mir gegeben hast, daß sie eins seien gleichwie wir ... Ich bitte aber nicht allein<br />

für sie, son<strong>de</strong>rn auch für die, die durch ihr Wort an mich glauben wer<strong>de</strong>n, auf daß sie alle eins<br />

seien, gleichwie du, Vater, in mir und ich in dir; daß auch sie in uns eins seien, damit die Welt<br />

glaube, du habest mich gesandt. Und ich habe ihnen gegeben die Herrlichkeit, die du mir<br />

gegeben hast, daß sie eins seien, gleichwie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir, auf daß sie<br />

vollkommen eins seien und die Welt erkenne, daß du mich gesandt hast und liebst sie, gleichwie<br />

du mich liebst.“ Johannes 17,10.11.20-23. Mit diesen Worten übergab Jesus Christus seine<br />

auserwählte Gemein<strong>de</strong> in die Obhut <strong>de</strong>s himmlischen Vaters. Er trat für sein Volk wie ein<br />

geweihter Hoherpriester ein und sammelte seine Her<strong>de</strong> wie ein treuer Hirte unter <strong>de</strong>n Schutz<br />

<strong>de</strong>s Allmächtigen, einer starken und sicheren Zuflucht. Auf ihn wartete nun <strong>de</strong>r letzte Kampf<br />

mit Satan, und er ging hinaus, ihn aufzunehmen.<br />

468


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 74: Gethsemane<br />

Langsam wan<strong>de</strong>rte <strong>de</strong>r Heiland mit seinen Jüngern nach <strong>de</strong>m Garten Gethsemane. Der<br />

Passah-Mond stand hell und voll am wolkenlosen Himmel; die Stadt <strong>de</strong>r Pilgerzelte ruhte in<br />

tiefem Schweigen. Jesus hatte sich bis hierher angelegentlich mit seinen Jüngern unterhalten<br />

und sie unterwiesen. Je näher sie jedoch <strong>de</strong>m Garten Gethsemane kamen, <strong>de</strong>sto schweigsamer<br />

wur<strong>de</strong> er. Oft hatte er sich an diesen Ort zurückgezogen, um sich auszuruhen und um neue Kraft<br />

und Sammlung im Gebet zu fin<strong>de</strong>n; noch nie aber war er mit einem so bekümmerten Herzen<br />

hierhergekommen wie in dieser Nacht seines letzten Ringens. Während seines ganzen<br />

Er<strong>de</strong>nlebens war er im Licht <strong>de</strong>r Gegenwart Gottes gewan<strong>de</strong>lt, und selbst im Zwiespalt mit<br />

Menschen, die vom Geist Satans besessen waren, konnte er sagen: „Der mich gesandt hat, ist<br />

mit mir. Der Vater läßt mich nicht allein; <strong>de</strong>nn ich tue allezeit, was ihm gefällt.“ Johannes 8,29.<br />

Jetzt aber schien er von <strong>de</strong>m bewahren<strong>de</strong>n Licht <strong>de</strong>r Gegenwart Gottes ausgeschlossen zu sein;<br />

er wur<strong>de</strong> nun zu <strong>de</strong>n Übeltätern gerechnet. Er mußte die Schuld <strong>de</strong>r gefallenen Menschheit<br />

tragen; auf ihn, <strong>de</strong>r von keiner Sün<strong>de</strong> wußte, mußte alle unsere Missetat gelegt wer<strong>de</strong>n. So<br />

schrecklich erschien ihm die Sün<strong>de</strong>, so groß war die Last <strong>de</strong>r Schuld, die er zu tragen hatte, daß<br />

er befürchtete, auf ewig von <strong>de</strong>r Liebe <strong>de</strong>s Vaters ausgeschlossen zu wer<strong>de</strong>n. Als er empfand,<br />

wie furchtbar <strong>de</strong>r Zorn Gottes wegen <strong>de</strong>r Übertretung seiner Gebote ist, rief er aus: „Meine<br />

Seele ist betrübt bis an <strong>de</strong>n Tod.“ Matthäus 26,38.<br />

Als sie <strong>de</strong>n Garten erreichten, bemerkten die Jünger die Verän<strong>de</strong>rung, die mit ihrem Herrn<br />

vor sich gegangen war; sie hatten ihn noch nie so über alle Maßen traurig und still gesehen. Je<br />

weiter er ging, <strong>de</strong>sto tiefer wur<strong>de</strong> diese ungewöhnliche Betrübnis; <strong>de</strong>nnoch wagtensie nicht, ihn<br />

nach <strong>de</strong>r Ursache seines Kummers zu fragen. Seine Gestalt schwankte, als wür<strong>de</strong> er je<strong>de</strong>n<br />

Augenblick fallen. Nach<strong>de</strong>m sie <strong>de</strong>n Garten betreten hatten, schauten die Jünger besorgt nach<br />

<strong>de</strong>m Platz, an <strong>de</strong>n sich Jesus gewöhnlich zurückzog, und wünschten, daß ihr Meister dort ruhen<br />

möge. Je<strong>de</strong>r Schritt, <strong>de</strong>n er nun vorwärts ging, wur<strong>de</strong> zur Anstrengung. Er stöhnte vernehmlich,<br />

als stün<strong>de</strong> er unter einer schrecklichen Belastung. Zweimal mußten ihn seine Gefährten stützen,<br />

sonst wäre er gefallen.<br />

In <strong>de</strong>r Nähe <strong>de</strong>s Eingangs zum Garten ließ Jesus seine Jünger bis auf drei zurück und<br />

for<strong>de</strong>rte sie auf, für sich selbst und für ihn zu beten. Mit Petrus, Jakobus und Johannes ging er<br />

an jenen Ort <strong>de</strong>r Abgeschie<strong>de</strong>nheit; diese drei waren seine vertrautesten Gefährten. Sie hatten<br />

seine Herrlichkeit auf <strong>de</strong>m Verklärungsberg erlebt; sie hatten Mose und Elia mit ihm sprechen<br />

sehen; sie hatten auch die Stimme vom Himmel gehört — jetzt wollte sie Christus während<br />

seines großen Kampfes in seiner Nähe wissen. Oft schon hatten sie eine Nacht mit ihm in dieser<br />

Zurückgezogenheit verbracht, waren aber stets nach einer Zeit <strong>de</strong>s Wachens und Betens abseits<br />

gegangen, um in einiger Entfernung von ihrem Meister ungestört zu schlafen, bis er sie morgens<br />

zu neuem Tagewerk weckte. Doch jetzt sollten sie nach <strong>de</strong>s Meisters Wunsch die ganze Nacht<br />

mit ihm wachen und beten, obwohl es ihm unerträglich war, daß sie zu Zeugen seines<br />

Seelenkampfes, <strong>de</strong>n er auf sich nehmen mußte, wer<strong>de</strong>n sollten.<br />

469


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

„Bleibet hier“, sagte er ihnen, „und wachet mit mir!“ Matthäus 26,38. Er ging einige Schritte<br />

abseits, gera<strong>de</strong> so weit, daß sie ihn noch sehen und hören konnten, und fiel auf die Er<strong>de</strong> nie<strong>de</strong>r.<br />

<strong>Die</strong> Sün<strong>de</strong> trennte ihn von seinem Vater, das fühlte er. Der Abgrund war so breit, so dunkel und<br />

so tief, daß sein Geist davor zurückschau<strong>de</strong>rte. Er durfte seine göttliche Macht nicht benutzen,<br />

um diesem Kampf zu entrinnen. Als Mensch mußte er die Folgen <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Menschheit<br />

erlei<strong>de</strong>n, als Mensch mußte er <strong>de</strong>n Zorn Gottes über die Übertretungen ertragen.<br />

<strong>Die</strong> Stellung Jesu war jetzt eine an<strong>de</strong>re als je zuvor. Sein Lei<strong>de</strong>n läßt sich am besten mit <strong>de</strong>n<br />

Worten <strong>de</strong>s Propheten Sacharja ausdrücken: „Schwert, mach dich auf über meinen Hirten, über<br />

<strong>de</strong>n Mann, <strong>de</strong>r mir <strong>de</strong>r nächste ist! spricht <strong>de</strong>r Herr Zebaoth.“ Sacharja 13,7. Als Vertreter und<br />

Bürge <strong>de</strong>r sündigen Menschen litt Christus unter <strong>de</strong>r göttlichen Gerechtigkeit, <strong>de</strong>ren ganzen<br />

Umfang er nun erkannte. Bisher war er ein Fürsprecher für an<strong>de</strong>re gewesen, jetzt sehnte er sich<br />

danach, selbst einen Fürsprecher zu haben.<br />

Als <strong>de</strong>r Heiland fühlte, daß sein Einssein mit <strong>de</strong>m himmlischen Vater unterbrochen war,<br />

fürchtete er, in seiner menschlichen Natur unfähig zu sein, <strong>de</strong>n kommen<strong>de</strong>n Kampf mit <strong>de</strong>n<br />

Mächten <strong>de</strong>r Finsternis zu bestehen. Schon in <strong>de</strong>r Wüste <strong>de</strong>r Versuchung hatte das Schicksal <strong>de</strong>s<br />

Menschengeschlechts auf <strong>de</strong>m Spiel gestan<strong>de</strong>n — doch Jesus war Sieger geblieben. Jetzt war<br />

<strong>de</strong>r Versucher zum letzten schrecklichen Kampf gekommen, auf <strong>de</strong>n er sich während <strong>de</strong>r<br />

dreijährigen Lehrtätigkeit <strong>de</strong>s Herrn vorbereitet hatte. Alles hing von <strong>de</strong>m Ausgang dieses<br />

Kampfes ab. Verlor Satan, dann war seine Hoffnung auf die Oberherrschaft gebrochen; die<br />

Reiche <strong>de</strong>r Welt wür<strong>de</strong>n schließlich Christus gehören; er selbst wür<strong>de</strong> überwältigt und<br />

ausgestoßen wer<strong>de</strong>n. Ließe sich Christus aber überwin<strong>de</strong>n, dann wür<strong>de</strong> die Er<strong>de</strong> Satans Reich<br />

wer<strong>de</strong>n und das Menschengeschlecht für immer in seiner Gewalt bleiben. <strong>Die</strong> Folgen dieses<br />

Streites vor Augen, war <strong>Christi</strong> Seele erfüllt von <strong>de</strong>m Entsetzen über die Trennung von Gott.<br />

Satan sagte <strong>de</strong>m Herrn, daß er als Bürge für die sündige Welt ewig von Gott getrennt wäre; er<br />

wür<strong>de</strong> dann zu Satans Reich gehören und niemals mehr mit Gott verbun<strong>de</strong>n sein.<br />

Was war durch dieses Opfer zu gewinnen? Wie hoffnungslos erschienen die Schuld und die<br />

Undankbarkeit <strong>de</strong>r Menschen! In härtesten Zügen schil<strong>de</strong>rte Satan <strong>de</strong>m Herrn die Lage: Alle<br />

jene, die für sich in Anspruch nehmen, ihre Mitmenschen in zeitlichen und geistlichen Dingen<br />

zu überragen, haben dich verworfen. Sie suchen dich zu vernichten, dich, <strong>de</strong>r du <strong>de</strong>r Grund, <strong>de</strong>r<br />

Mittelpunkt und das Siegel aller Weissagungen bist, die ihnen als einem auserwählten Volk<br />

offenbart wur<strong>de</strong>n. Einer <strong>de</strong>iner eigenen Jünger, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>inen Unterweisungen gelauscht hat, <strong>de</strong>r<br />

einer <strong>de</strong>r ersten <strong>de</strong>iner Mitarbeiter gewesen ist, wird dich verraten; einer <strong>de</strong>iner eifrigsten<br />

Nachfolger wird dich verleugnen, ja, alle wer<strong>de</strong>n dich verlassen!<br />

<strong>Christi</strong> ganzes Sein wehrte sich bei diesen Gedanken. Daß jene, die er retten wollte und die<br />

er so sehr liebte, sich an Satans Plänen beteiligten, schnitt ihm ins Herz. Der Wi<strong>de</strong>rstreit war<br />

schrecklich. Sein Maßstab war die Schuld seines Volkes, seiner Ankläger und seines Verräters;<br />

die Schuld einer in Gottlosigkeit darnie<strong>de</strong>rliegen<strong>de</strong>n Welt. <strong>Die</strong> Sün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Menschen lasteten<br />

schwer auf ihm, und das Bewußtsein <strong>de</strong>s Zornes Gottes überwältigte ihn.<br />

470


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Seht ihn über <strong>de</strong>n Preis nachsinnen, <strong>de</strong>r für die menschliche Seele bezahlt wer<strong>de</strong>n muß! In<br />

seiner Angst krallt er sich fest in die kalte Er<strong>de</strong>, als ob er verhin<strong>de</strong>rn wolle, seinem Vater noch<br />

ferner zu rücken. Der frostige Tau <strong>de</strong>r Nacht legt sich auf seine hingestreckte Gestalt, aber er<br />

merkt es nicht. Seinen bleichen Lippen entringt sich <strong>de</strong>r qualvolle Schrei: „Mein Vater, ist‘s<br />

möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber.“ Und er fügt hinzu: „Doch nicht wie ich will,<br />

son<strong>de</strong>rn wie du willst!“ Matthäus 26,39. Das menschliche Herz sehnt sich im Schmerz nach<br />

Anteilnahme; auch Christus war in seinem Innersten von dieser Sehnsucht erfüllt. In äußerster<br />

seelischer Not kam er zu seinen Jüngern mit <strong>de</strong>m brennen<strong>de</strong>n Verlangen, bei ihnen, die er so oft<br />

gesegnet und getröstet sowie in Kummer und Verzweiflung behütet hatte, einige Worte <strong>de</strong>s<br />

Trostes zu fin<strong>de</strong>n. Er, <strong>de</strong>r für sie stets Worte <strong>de</strong>s Mitgefühls gehabt hatte, litt jetzt selbst<br />

übermenschliche Schmerzen und sehnte sich danach, zu wissen, daß sie für sich und für ihn<br />

beteten. Wie dunkel erschien die Boshaftigkeit <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>! Ungeheuer groß war die<br />

Versuchung, <strong>de</strong>m Menschengeschlecht selbst die Folgen <strong>de</strong>r eigenen Schuld aufzubür<strong>de</strong>n,<br />

während er unschuldig vor Gott stün<strong>de</strong>. Wenn er nur wüßte, daß seine Jünger das erkannten und<br />

begriffen; es wür<strong>de</strong> ihn mit neuer Kraft erfüllen.<br />

Nach<strong>de</strong>m er sich unter quälen<strong>de</strong>r Mühe erhoben hatte, wankte er zu <strong>de</strong>m Platz, an <strong>de</strong>m er<br />

seine Getreuen zurückgelassen hatte; aber er „fand sie schlafend“. Matthäus 26,40. Wenn er sie<br />

betend gefun<strong>de</strong>n hätte, wie wür<strong>de</strong> es ihm geholfen haben! Wenn sie bei Gott Zuflucht gesucht<br />

hätten; damit die teuflischen Mächte sie nicht überwältigen könnten, dann wäre er durch ihren<br />

standhaften Glauben getröstet wor<strong>de</strong>n. Sie hatten aber seine mehrmalige Auffor<strong>de</strong>rung:<br />

„Wachet und betet!“ (Matthäus 26,41) schlecht beherzigt. Zuerst waren sie sehr beunruhigt<br />

gewesen, ihren Meister, <strong>de</strong>r sonst so ruhig und wür<strong>de</strong>voll auftrat, mit einem Schmerz ringen zu<br />

sehen, <strong>de</strong>r alle Fassungskraft überstieg. Sie hatten gebetet, als sie die laute Qual <strong>de</strong>s Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />

hörten, und sie wollten keineswegs ihren Herrn im Stich lassen. Doch sie schienen wie gelähmt<br />

von einer Erstarrung, die sie hätten abschütteln können, wenn sie beständig im Gebet mit Gott<br />

verbun<strong>de</strong>n gewesen wären. So aber erkannten sie nicht die Notwendigkeit <strong>de</strong>s Wachens und<br />

Betens, um <strong>de</strong>r Versuchung wi<strong>de</strong>rstehen zu können.<br />

Kurz bevor Jesus seine Schritte nach <strong>de</strong>m Garten lenkte, hatte er seinen Jüngern noch gesagt:<br />

„Ihr wer<strong>de</strong>t alle an mir Ärgernis nehmen.“ Markus 14,27. <strong>Die</strong> Jünger aber hatten ihm mit<br />

starken Worten versichert, daß sie mit ihm ins Gefängnis und in <strong>de</strong>n Tod gehen wollten. Und<br />

<strong>de</strong>r bedauernswerte, selbstbewußte Petrus hatte hinzugefügt: „Und wenn sie alle an dir Ärgernis<br />

nähmen, so doch ich nicht.“ Markus 14,29. <strong>Die</strong> Jünger aber bauten auf sich selbst, sie blickten<br />

nicht auf <strong>de</strong>n mächtigen Helfer, wie <strong>de</strong>r Herr es ihnen geraten hatte; <strong>de</strong>shalb fand <strong>de</strong>r Heiland<br />

sie schlafend, als er ihrer Anteilnahme und ihrer Gebete am meisten bedurfte. Selbst Petrus<br />

schlief.<br />

Und Johannes, <strong>de</strong>r liebevolle Jünger, <strong>de</strong>r an Jesu Brust gelehnt hatte, schlief ebenfalls.<br />

Gewiß, die Liebe zu seinem Meister hätte ihn wachhalten sollen, seine aufrichtigen Gebete<br />

hätten sich in <strong>de</strong>r Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r äußersten Qual mit <strong>de</strong>n Gebeten seines geliebten Heilan<strong>de</strong>s<br />

vereinigen sollen. Der Erlöser hatte in langen, einsamen Nächten für seine Jünger gebetet, daß<br />

ihr Glaube nicht aufhören möge. Hätte er jetzt an Jakobus und Johannes die Frage gerichtet, die<br />

471


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

er ihnen einmal gestellt hatte: „Könnt ihr <strong>de</strong>n Kelch trinken, <strong>de</strong>n ich trinken wer<strong>de</strong> und euch<br />

taufen lassen mit <strong>de</strong>r Taufe, mit <strong>de</strong>r ich getauft wer<strong>de</strong>?“ (Matthäus 20,22), sie wür<strong>de</strong>n nicht<br />

gewagt haben, diese noch einmal zu bejahen.<br />

Jesu Stimme ließ die schlafen<strong>de</strong>n Jünger erwachen, aber sie erkannten ihn kaum, so sehr<br />

hatte die auszustehen<strong>de</strong> Qual sein Antlitz verän<strong>de</strong>rt. Jesus wandte sich an Petrus und fragte ihn:<br />

„Simon, schläfst du? Vermochtest du nicht eine Stun<strong>de</strong> zu wachen? Wachet und betet, daß ihr<br />

nicht in Versuchung fallet! Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach.“ Markus 14,37.38.<br />

<strong>Die</strong> Schwachheit seiner Jünger erweckte Jesu Mitgefühl. Er fürchtete, daß sie die Prüfung, die<br />

durch <strong>de</strong>n Verrat an ihm und durch seinen Tod über sie kommen wür<strong>de</strong>, nicht bestehen könnten.<br />

Er ta<strong>de</strong>lte sie nicht, son<strong>de</strong>rn bat: „Wachet und betet, daß ihr nicht in Versuchung fallet!“ Sogar<br />

in seiner großen To<strong>de</strong>snot suchte er ihre Schwachheit zu entschuldigen. „Der Geist ist willig“,<br />

sagte er „aber das Fleisch ist schwach.“<br />

Aufs neue wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Heiland von übermenschlicher Angst ergriffen. Fast ohnmächtig vor<br />

Schwäche und völlig erschöpft, taumelte er an seinen Platz zurück. Seine Qual wur<strong>de</strong> noch<br />

größer als vorher, und in <strong>de</strong>r To<strong>de</strong>sangst seiner Seele wur<strong>de</strong> „sein Schweiß wie Blutstropfen,<br />

die fielen auf die Er<strong>de</strong>“. Lukas 22,44. <strong>Die</strong> Zypressen und Palmen waren stille Zeugen seines<br />

Ringens; von ihren blätterreichen Zweigen fielen schwere Tautropfen auf seine Gestalt, als ob<br />

die Natur über ihren Schöpfer weinte, <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>n Mächten <strong>de</strong>r Finsternis einen einsamen<br />

Kampf ausfocht.<br />

Erst kürzlich hatte Jesus gleich einer mächtigen Ze<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Sturm <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>r sich<br />

wütend gegen ihn erhob, Trotz geboten. Halsstarrige Köpfe sowie boshafte und verschlagene<br />

Herzen hatten vergebens versucht, ihn zu verwirren und zu überwältigen. In göttlicher Majestät<br />

hatte er sich als Sohn Gottes unbeugsam gezeigt. Jetzt dagegen glich er einem windgepeitschten<br />

Schilfrohr. Er war <strong>de</strong>r Vollendung seiner Aufgabe wie ein Held entgegengegangen; mit je<strong>de</strong>m<br />

Schritt errang er einen Sieg über die Mächte <strong>de</strong>r Finsternis. Als ein schon Verklärter hatte er<br />

seine Verbun<strong>de</strong>nheit mit Gott behauptet; mit fester Stimme hatte er seine Lobgesänge<br />

ausströmen lassen und seine Jünger aufgemuntert und getröstet. Aber jetzt war die Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />

Macht <strong>de</strong>r Finsternis über ihn hereingebrochen. Seine Stimme klang wie <strong>de</strong>r Hauch <strong>de</strong>r<br />

Abendlüfte, sie hörte sich nicht an wie Triumphgesang, son<strong>de</strong>rn war voller Angst und Sorge, als<br />

sie an die Ohren <strong>de</strong>r schlaftrunkenen Jünger drang: „Mein Vater, ist‘s nicht möglich, daß dieser<br />

Kelch an mir vorübergehe, ich trinke ihn <strong>de</strong>nn, so geschehe <strong>de</strong>in Wille!“ Matthäus 26,42.<br />

Der erste Gedanke <strong>de</strong>r Jünger war, zu ihm zu gehen; aber <strong>de</strong>r Herr hatte ihnen ja geboten, an<br />

ihrem Platz zu bleiben, zu wachen und zu beten. Als <strong>de</strong>r Heiland erneut zu ihnen kam, fand er<br />

sie „abermals schlafend“. Wie<strong>de</strong>r hatte er sich nach ihrer Gesellschaft gesehnt, nach einigen<br />

Worten von ihnen, die ihm hätten Erleichterung bringen und die Zeit <strong>de</strong>r Finsternis brechen<br />

können, die ihn fast überwältigte. Aber ihre Augen waren „voll Schlafs, und sie wußten nicht,<br />

was sie ihm antworten sollten.“ Markus 14,40. Seine Gegenwart machte sie wach; sie schauten<br />

sein vom blutigen Schweiß entstelltes Angesicht, und sie fürchteten sich. Sie konnten seine<br />

Seelenangst nicht verstehen, dazu war „seine Gestalt häßlicher ... als die an<strong>de</strong>rer Leute und sein<br />

Aussehen als das <strong>de</strong>r Menschenkin<strong>de</strong>r“. Jesaja 52,14.<br />

472


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Wie<strong>de</strong>rum wandte sich Jesus ab und ging an seinen Zufluchtsort zurück; von <strong>de</strong>n Schrecken<br />

einer großen Finsternis überwältigt, fiel er zu Bo<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> menschliche Natur Jesu zitterte in<br />

dieser entscheidungsschweren Stun<strong>de</strong>; er betete jetzt nicht für seine Jünger, daß ihr Glaube<br />

nicht wankend wer<strong>de</strong>n möge, son<strong>de</strong>rn für seine eigene geprüfte und gemarterte Seele. Der<br />

schreckliche Augenblick war gekommen, jene Stun<strong>de</strong>, die das Schicksal <strong>de</strong>r Welt entschei<strong>de</strong>n<br />

sollte. Das Geschick <strong>de</strong>r Menschenkin<strong>de</strong>r war noch in <strong>de</strong>r Schwebe. Noch konnte sich Christus<br />

weigern, <strong>de</strong>n für die sündige Menschheit bestimmten Kelch zu trinken; noch war es nicht zu<br />

spät. Jesus konnte sich immer noch <strong>de</strong>n blutigen Schweiß von seiner Stirn wischen und <strong>de</strong>n<br />

Menschen in seiner Gottlosigkeit ver<strong>de</strong>rben lassen. Er konnte sagen: Laß <strong>de</strong>n Übertreter die<br />

Strafe seiner Schuld empfangen; ich will zurückgehen zu meinem Vater im Himmel. Will <strong>de</strong>r<br />

Sohn Gottes <strong>de</strong>n bitteren Kelch <strong>de</strong>r Erniedrigung und <strong>de</strong>s Lei<strong>de</strong>ns bis zur Neige leeren? Will er,<br />

<strong>de</strong>r unschuldig war, die Folgen <strong>de</strong>s Fluches <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> erlei<strong>de</strong>n, um die Schuldigen zu retten?<br />

Von <strong>de</strong>n bleichen Lippen Jesu fielen — stammelnd — die Worte: „Mein Vater, ist‘s nicht<br />

möglich, daß dieser Kelch an mir vorübergehe, ich trinke ihn <strong>de</strong>nn, so geschehe <strong>de</strong>in<br />

Wille!“ Matthäus 26,42.<br />

Dreimal hatte Jesus so gebetet; dreimal war das Menschliche in ihm vor <strong>de</strong>m letzten,<br />

krönen<strong>de</strong>n Opfer zurückgeschreckt. Nun zieht im Geiste noch einmal die ganze Geschichte <strong>de</strong>s<br />

Menschengeschlechtes an <strong>de</strong>m Welterlöser vorüber. Er sieht <strong>de</strong>n Gesetzesbrecher untergehen,<br />

wenn dieser sich auf sich selbst verläßt; er sieht die Hilflosigkeit <strong>de</strong>r Menschen und die Macht<br />

<strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>. Das Elend und die Klagen einer verurteilten Welt steigen vor ihm auf, er erkennt<br />

<strong>de</strong>ren drohen<strong>de</strong>s Geschick, und — sein Entschluß ist gefaßt. Er will die Menschen retten, koste<br />

es, was es wolle. Er nimmt die Bluttaufe an, damit Millionen Verdammter das ewige Leben<br />

gewinnen können. Er hatte die himmlischen Höfe, wo Reinheit, Freu<strong>de</strong> und Herrlichkeit<br />

herrschten, verlassen, um das eine verlorene Schaf — die durch Übertretung gefallene Welt —<br />

zu retten. Er will sich seiner Aufgabe nicht entziehen. Er wird <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> verfallenen<br />

Geschlecht die Versöhnung ermöglichen. Sein Gebet nun ist Ergebung in sein Schicksal: „So<br />

geschehe <strong>de</strong>in Wille!“<br />

Nach dieser Entscheidung fiel er wie tot zu Bo<strong>de</strong>n, von <strong>de</strong>m er sich halb aufgerichtet hatte.<br />

Wo waren jetzt seine Jünger, um liebevoll ihre Hän<strong>de</strong> unter das Haupt <strong>de</strong>s ohnmächtigen<br />

Erlösers zu legen, um jene Stirn zu netzen, die stärker zerfurcht war als bei <strong>de</strong>n Menschen<br />

sonst? Der Heiland trat die Kelter allein, und niemand unter <strong>de</strong>n Völkern war bei ihm. Jesaja<br />

63,3. Aber <strong>de</strong>r Vater im Himmel litt mit seinem Sohn, und die Engel waren Zeugen seiner<br />

Qualen. Sie sahen ihren Herrn inmitten von Legionen satanischer Kräfte, nie<strong>de</strong>rgebeugt von<br />

schau<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>m, geheimnisvollem Entsetzen. Im Himmel herrschte tiefe Stille; kein Harfenklang<br />

ertönte. Hätten Sterbliche die Bestürzung <strong>de</strong>r Engelscharen wahrgenommen, als diese in stillem<br />

Schmerz beobachteten, wie <strong>de</strong>r himmlische Vater seinem geliebten Sohn die Strahlen <strong>de</strong>s<br />

Lichts, <strong>de</strong>r Liebe und <strong>de</strong>r Herrlichkeit entzog, dann wür<strong>de</strong>n sie besser verstehen, wie verhaßt in<br />

seinen Augen die Sün<strong>de</strong> ist.<br />

<strong>Die</strong> nicht gefallenen Welten und die himmlischen Engel hatten mit größter Anteilnahme<br />

zugeschaut, wie <strong>de</strong>r Kampf sich seinem En<strong>de</strong> näherte. Auch Satan und seine Verbün<strong>de</strong>ten,<br />

473


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Legionen <strong>de</strong>r Abtrünnigen, beobachteten aufmerksam diese Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Entscheidung im ganzen<br />

Heilsgeschehen. <strong>Die</strong> Mächte <strong>de</strong>s Guten und <strong>de</strong>s Bösen hielten sich zurück, um zu sehen, wie die<br />

Antwort auf Jesu dreimalige Bitte lautete. <strong>Die</strong> Engel hatten sich danach gesehnt, <strong>de</strong>m göttlichen<br />

Dul<strong>de</strong>r Hilfe zu bringen, aber das durfte nicht geschehen. Es gab kein Entrinnen für <strong>de</strong>n Sohn<br />

Gottes. In dieser furchtbaren Krise, da alles auf <strong>de</strong>m Spiel stand, da <strong>de</strong>r geheimnisvolle Kelch in<br />

<strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n Jesu zitterte, öffnete sich <strong>de</strong>r Himmel, und ein Licht durchbrach das unruhige<br />

Dunkel dieser entscheidungsschweren Stun<strong>de</strong>; <strong>de</strong>r Engelfürst, <strong>de</strong>r anstelle <strong>de</strong>s ausgestoßenen<br />

Satans in <strong>de</strong>r Gegenwart Gottes seinen Platz hat, trat an Jesu Seite. Der Engel kam nicht, um<br />

Christus <strong>de</strong>n Lei<strong>de</strong>nskelch aus <strong>de</strong>r Hand zu nehmen, son<strong>de</strong>rn um ihn durch die Versicherung<br />

<strong>de</strong>r Liebe <strong>de</strong>s Vaters zu stärken, <strong>de</strong>n Kelch zu trinken.<br />

Er kam, um <strong>de</strong>m göttlich-menschlichen Bittsteller Kraft zu spen<strong>de</strong>n. Er zeigte ihm <strong>de</strong>n<br />

offenen Himmel und sprach zu ihm von <strong>de</strong>n Seelen, die durch sein Lei<strong>de</strong>n gerettet wür<strong>de</strong>n. Er<br />

gab ihm die Gewißheit, daß sein Vater im Himmel größer und mächtiger ist als Satan, daß sein<br />

Tod die vernichtendste Nie<strong>de</strong>rlage Satans be<strong>de</strong>utet und daß das Königreich dieser Welt <strong>de</strong>n<br />

Heiligen <strong>de</strong>s Allerhöchsten gegeben wer<strong>de</strong>n wird. Er erzählte ihm, daß „er das Licht schauen<br />

und die Fülle haben“ wer<strong>de</strong>, „weil seine Seele sich abgemüht hat“ (Jesaja 53,11), <strong>de</strong>nn eine<br />

große Schar auf ewig Erlöster wür<strong>de</strong> für ihn zeugen.<br />

<strong>Christi</strong> Seelenschmerz hörte nicht auf; aber die Nie<strong>de</strong>rgeschlagenheit und Entmutigung<br />

verließen ihn. Der Sturm in seiner Seele hatte keineswegs nachgelassen; aber Christus, gegen<br />

<strong>de</strong>n sein Wüten gerichtet war, fühlte sich gekräftigt, ihm zu wi<strong>de</strong>rstehen. Ruhig und gefaßt ging<br />

er aus <strong>de</strong>m Kampf hervor; himmlischer Frie<strong>de</strong> ruhte auf seinem Angesicht. Er hatte erdul<strong>de</strong>t,<br />

was kein menschliches Wesen jemals wür<strong>de</strong> ertragen können; <strong>de</strong>nn er hatte die Lei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s<br />

To<strong>de</strong>s für alle Menschen durchlebt.<br />

<strong>Die</strong> schlafen<strong>de</strong>n Jünger waren durch das helle Licht, das <strong>de</strong>n Heiland umstrahlte, plötzlich<br />

aufgeweckt wor<strong>de</strong>n. Sie sahen <strong>de</strong>n Engel sich über ihren hingestreckt liegen<strong>de</strong>n Meister<br />

beugen, <strong>de</strong>ssen Haupt gegen seine Brust lehnen und die Hand zum Himmel erheben. Sie hörten<br />

<strong>de</strong>n wun<strong>de</strong>rsamen Wohllaut seiner Stimme, die Worte <strong>de</strong>s Trostes und <strong>de</strong>r Hoffnung sprach. Sie<br />

riefen sich das Geschehen auf <strong>de</strong>m Verklärungsberge ins Gedächtnis zurück, sie erinnerten sich<br />

<strong>de</strong>r Herrlichkeit, die Jesus im Tempel zu Jerusalem umgeben hatte, und <strong>de</strong>r Stimme Gottes, die<br />

aus <strong>de</strong>r Wolke an ihr Ohr gedrungen war. Nun offenbarte sich ihnen hier die gleiche<br />

Herrlichkeit, und fortan fürchteten sie nichts mehr für ihren Meister. Sie wußten ihn jetzt unter<br />

<strong>de</strong>r Fürsorge Gottes, <strong>de</strong>r einen mächtigen Engel zum Schutze <strong>de</strong>s Erlösers gesandt hatte. Doch<br />

wie<strong>de</strong>r überlassen sich die Jünger in ihrer Müdigkeit jenem ungewöhnlichen Dämmerzustand,<br />

und Jesus fin<strong>de</strong>t sie abermals schlafend.<br />

Traurig blickt er auf die Schlafen<strong>de</strong>n und spricht zu ihnen: „Ach, wollt ihr nun schlafen und<br />

ruhen? Siehe, die Stun<strong>de</strong> ist da, daß <strong>de</strong>s Menschen Sohn in <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>r Hän<strong>de</strong> überantwortet<br />

wird.“ Noch während er diese Worte sprach, hörte er die Schritte <strong>de</strong>rer, die ihn suchten, und er<br />

fügte hinzu: „Stehet auf, laßt uns gehen! Siehe, er ist da, <strong>de</strong>r mich verrät.“ Matthäus<br />

26,45.46. Jesus zeigte keinerlei Spuren mehr <strong>de</strong>s eben überstan<strong>de</strong>nen inneren Ringens, als er<br />

<strong>de</strong>m Verräter entgegentrat. Allein vor seinen Jüngern stehend, sagte er: „Wen suchet ihr?“ Sie<br />

474


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

antworteten: „Jesus von Nazareth.“ Da sprach Jesus zu ihnen: „Ich bin‘s!“ Johannes 18,4.5. In<br />

diesem Augenblick trat <strong>de</strong>r Engel, <strong>de</strong>r Jesus kurz zuvor erst gedient hatte, zwischen ihn und die<br />

Schar <strong>de</strong>r Häscher. Göttliches Licht erhellte Jesu Angesicht, und ein taubenähnlicher Schatten<br />

fiel auf seine Gestalt. <strong>Die</strong> Gegenwart dieser himmlischen Herrlichkeit konnten die<br />

Mordgesellen nicht ertragen; sie wichen zurück, und Priester, Älteste, Soldaten, selbst Judas,<br />

sanken wie tot zu Bo<strong>de</strong>n.<br />

Der Engel zog sich zurück, und das Licht verblaßte. Jesus hatte die Möglichkeit zu fliehen,<br />

doch er blieb, gelassen und seiner selbst gewiß. Wie ein Verklärter stand er inmitten dieser<br />

hartgesottenen Schar, die jetzt nie<strong>de</strong>rgestreckt und hilflos zu seinen Füßen lag. <strong>Die</strong> Jünger<br />

blickten schweigend, scheu und verwun<strong>de</strong>rt auf das Geschehen vor ihren Augen. Doch das Bild<br />

än<strong>de</strong>rte sich schnell. <strong>Die</strong> Häscher sprangen auf; die römischen Soldaten, die Priester und Judas<br />

umringten Christus. Sie schienen sich ihrer Schwäche zu schämen und fürchteten, er wür<strong>de</strong><br />

ihnen entrinnen. Da wie<strong>de</strong>rholte Jesus nochmals die Frage: „Wen suchet ihr?“ Sie hatten zwar<br />

schon einen ausreichen<strong>de</strong>n Beweis dafür erhalten, daß <strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r vor ihnen stand, <strong>de</strong>r Sohn Gottes<br />

war, aber sie wollten sich nicht überzeugen lassen. Auf die Frage: „Wen suchet ihr?“<br />

antworteten sie wie<strong>de</strong>rum: „Jesus von Nazareth.“ Johannes 18,7. Der Heiland sagte darauf: „Ich<br />

habe es euch gesagt, daß ich‘s bin. Suchet ihr <strong>de</strong>nn mich, so lasset diese gehen!“ (Johannes<br />

18,8) — und zeigte auf seine Jünger. Er kannte ihren schwachen Glauben und wünschte sie vor<br />

Versuchungen und Anfechtungen zu bewahren. Er war bereit, sich für sie zu opfern.<br />

Judas, <strong>de</strong>r Verräter, vergaß seine Absicht nicht. Als die Häscher <strong>de</strong>n Garten betraten, hatte er<br />

sie angeführt, dicht gefolgt von <strong>de</strong>m Hohen Priester. Mit <strong>de</strong>n Verfolgern Jesu hatte er ein<br />

Zeichen vereinbart und zu ihnen gesagt: „Welchen ich küssen wer<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r ist‘s; <strong>de</strong>n<br />

greifet.“ Matthäus 26,48. Jetzt tat er so, als habe er mit ihnen gar keine Verbindung. Er ging auf<br />

<strong>de</strong>n Herrn zu, ergriff freundschaftlich seine Hand, küßte ihn wie<strong>de</strong>rholt mit <strong>de</strong>n Worten:<br />

„Gegrüßet seist du, Rabbi!“ und gab sich <strong>de</strong>n Anschein, als weine er aus Mitleid mit ihm in<br />

<strong>de</strong>ssen gefahrvoller Lage.<br />

Jesus sprach zu ihm: „Mein Freund, warum bist du gekommen?“ Seine Stimme zitterte vor<br />

Wehmut, als er hinzufügte: „Judas, verrätst du <strong>de</strong>s Menschen Sohn mit einem Kuß?“ Matthäus<br />

26,49.50; Lukas 22,48. <strong>Die</strong>se Worte hätten das Gewissen <strong>de</strong>s Verräters wachrütteln und sein<br />

verstocktes Herz anrühren müssen, aber Ehre, Treue und menschliches Empfin<strong>de</strong>n hatten ihn<br />

verlassen. Dreist und herausfor<strong>de</strong>rnd stand er da, und er ließ durch nichts erkennen, daß er<br />

bereit war, nachzugeben. Er hatte sich Satan verschrieben und war völlig unfähig, ihm zu<br />

wi<strong>de</strong>rstehen. Jesus aber wies nicht einmal <strong>de</strong>n Kuß <strong>de</strong>s Verräters zurück. Der Pöbel wur<strong>de</strong><br />

kühn, als er sah, daß Judas <strong>de</strong>n berührte, <strong>de</strong>r soeben vor ihren Augen verklärt wor<strong>de</strong>n war. Sie<br />

ergriffen <strong>de</strong>n Heiland und begannen die teuren Hän<strong>de</strong>, die nur Gutes getan hatten, zu fesseln.<br />

<strong>Die</strong> Jünger hatten nicht gedacht, daß sich ihr Meister gefangennehmen ließe. <strong>Die</strong> gleiche<br />

Macht, die die Verfolger wie tot zu Bo<strong>de</strong>n gestreckt hatte, konnte diese doch so lange zur<br />

Hilflosigkeit verurteilen, bis sie und ihr Meister gerettet wären. Sie waren enttäuscht und<br />

aufgebracht, als sie die Stricke sahen, mit <strong>de</strong>nen die Hän<strong>de</strong> <strong>de</strong>ssen gebun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n sollten,<br />

<strong>de</strong>n sie liebten. Petrus zog in seinem Zorn rasch sein Schwert und wollte seinen Meister<br />

475


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

verteidigen; er traf <strong>de</strong>n <strong>Die</strong>ner <strong>de</strong>s Hohenpriesters und hieb ihm ein Ohr ab. Als Jesus sah, was<br />

geschehen war, befreite er seine Hän<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>r Gewalt <strong>de</strong>r römischen Soldaten, sagte: „Haltet<br />

ein! Und er rührte sein Ohr an und heilte ihn.“ Lukas 22,51.<br />

Dann sagte er zu <strong>de</strong>m heftigen Petrus: „Stecke <strong>de</strong>in Schwert an seinen Ort! Denn wer das<br />

Schwert nimmt, <strong>de</strong>r soll durchs Schwert umkommen. O<strong>de</strong>r meinst du, daß ich nicht könnte<br />

meinen Vater bitten, daß er mir zuschickte alsbald mehr als zwölf Legionen Engel?“ (Matthäus<br />

26,52.53) — für je<strong>de</strong>n Jünger eine Legion. Warum, dachten die Jünger, rettet er nicht sich und<br />

uns!? Da antwortete ihnen <strong>de</strong>r Herr auf ihre unausgesprochene Frage: „Wie wür<strong>de</strong> dann aber<br />

die Schrift erfüllt, daß es muß also geschehen?“ — „Soll ich <strong>de</strong>n Kelch nicht trinken, <strong>de</strong>n mir<br />

mein Vater gegeben hat?“ Matthäus 26,54; Johannes 18,11.<br />

Ihre amtliche Wür<strong>de</strong> hatte die jüdischen Obersten nicht davon abhalten können, sich <strong>de</strong>r<br />

Verfolgung Jesu anzuschließen. Seine Gefangennahme war eine zu wichtige Angelegenheit, um<br />

sie ausschließlich ihren Untergebenen zu überlassen; sie hatten sich <strong>de</strong>r Tempelwache und <strong>de</strong>m<br />

lärmen<strong>de</strong>n Pöbel angeschlossen und waren Judas nach Gethsemane gefolgt. Welch eine<br />

Gesellschaft für jene Wür<strong>de</strong>nträger! Eine wil<strong>de</strong>, ungeordnete Hor<strong>de</strong>, die nach Sensationen<br />

hungerte und mit allerlei Werkzeugen bewaffnet war, als wollte sie einem wil<strong>de</strong>n Tier<br />

nachstellen.<br />

Christus wandte sich <strong>de</strong>n Priestern und Ältesten zu und blickte sie durchdringend an. <strong>Die</strong><br />

Worte, die er zu ihnen sprach, wür<strong>de</strong>n sie ihr Leben lang nicht vergessen. Sie wirkten wie<br />

scharfe Pfeile aus <strong>de</strong>r Hand <strong>de</strong>s Allmächtigen. Er sagte: Ihr seid ausgegangen wie zu einem<br />

Mör<strong>de</strong>r mit Schwertern und mit Stangen, mich zu fangen. Ich bin täglich bei euch gewesen und<br />

habe im Tempel gelehrt, und ihr habt mich nicht gegriffen. <strong>Die</strong> Nacht eignet sich besser für euer<br />

Werk, jetzt ist eure Stun<strong>de</strong> und die Macht <strong>de</strong>r Finsternis! Lukas 22,52.53; Markus 14,48.49. <strong>Die</strong><br />

Jünger waren sehr erschrocken, als sie sahen, daß Jesus sich seinen Fein<strong>de</strong>n auslieferte. Sie<br />

ärgerten sich, daß er diese Demütigung über sich und über sie brachte; sie konnten sein<br />

Verhalten nicht verstehen und ta<strong>de</strong>lten ihn, daß er sich <strong>de</strong>m Mob unterwarf. In ihrer Furcht und<br />

Entrüstung schlug Petrus vor, daß sie sich selbst retteten, und auf seine Eingebung hin<br />

„verließen ihn alle und flohen“. Markus 14,50. Doch Jesus hatte ihre Flucht vorausgesehen.<br />

„Siehe“, so hatte er gesagt, „es kommt die Stun<strong>de</strong> und ist schon gekommen, daß ihr zerstreut<br />

wer<strong>de</strong>t, ein jeglicher in das Seine, und mich allein lasset. Aber ich bin nicht allein, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r<br />

Vater ist bei mir.“ Johannes 16,32.<br />

476


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 75: Jesus vor Hannas und Kaiphas<br />

Über <strong>de</strong>n Bach Kidron, an Gärten und Olivenhainen vorbei, durch die Straßen <strong>de</strong>r<br />

schlafen<strong>de</strong>n Stadt trieben sie <strong>de</strong>n Heiland. Mitternacht war vorüber, und das Geschrei <strong>de</strong>s<br />

höhnen<strong>de</strong>n Pöbels, <strong>de</strong>r ihm folgte, brach sich schrill an <strong>de</strong>r nächtlichen Stille. Der Heiland war<br />

gefesselt und scharf bewacht; er konnte sich nur unter Schmerzen fortbewegen. Dennoch<br />

trieben ihn seine Wächter eiligst nach <strong>de</strong>m Palast <strong>de</strong>s Hohenpriesters Hannas. Hannas war das<br />

Oberhaupt <strong>de</strong>r amtieren<strong>de</strong>n Priesterfamilie. Mit Rücksicht auf sein Alter wur<strong>de</strong> er vom Volk als<br />

Hoherpriester anerkannt; sein Rat war gesucht und als Stimme Gottes geachtet. Darum mußte<br />

Jesus als Gefangener <strong>de</strong>r Priester zuerst zu Hannas gebracht wer<strong>de</strong>n; dieser mußte bei <strong>de</strong>m<br />

Verhör dabeisein aus <strong>de</strong>r Befürchtung heraus, <strong>de</strong>r noch wenig erfahrene Kaiphas könnte ihre<br />

ausgeklügelte Anklagebegründung zum Scheitern bringen. Seine arglistige, schlaue und<br />

spitzfindige Art wur<strong>de</strong> bei diesem Fall gebraucht, um die Verurteilung Jesu unter allen<br />

Umstän<strong>de</strong>n zu sichern.<br />

Nach <strong>de</strong>r Voruntersuchung durch Hannas sollte Jesus vor <strong>de</strong>m Hohen Rat verhört wer<strong>de</strong>n.<br />

Unter <strong>de</strong>r römischen Besatzung durfte <strong>de</strong>r Hohe Rat keine To<strong>de</strong>surteile vollstrecken lassen; er<br />

durfte nur <strong>de</strong>n Gefangenen verhören und gegebenenfalls verurteilen; das Urteil mußte aber von<br />

<strong>de</strong>r römischen Obrigkeit bestätigt wer<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> Priester mußten darum die Anklage auf solche<br />

Vergehen stützen, die bei <strong>de</strong>n Römern als Verbrechen galten und die gleichzeitig Jesus in <strong>de</strong>n<br />

Augen <strong>de</strong>s jüdischen Volkes verdammten. Nicht wenige Priester und Oberste waren durch Jesus<br />

überzeugt wor<strong>de</strong>n; nur die Furcht, in <strong>de</strong>n Bann getan zu wer<strong>de</strong>n, hin<strong>de</strong>rte sie daran, sich zu ihm<br />

zu bekennen. <strong>Die</strong> Priester erinnerten sich noch gut <strong>de</strong>r Frage <strong>de</strong>s Niko<strong>de</strong>mus: „Richtet unser<br />

Gesetz auch einen Menschen, ehe man ihn verhört hat und erkennt, was er tut?“ Johannes 7,51.<br />

Wegen dieser Frage war damals ihre Sitzung abgebrochen wor<strong>de</strong>n, so daß ihre Pläne<br />

durchkreuzt wur<strong>de</strong>n. Niko<strong>de</strong>mus und auch Joseph von Arimathia sollten daher jetzt nicht<br />

eingela<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n; doch es könnten an<strong>de</strong>re wagen, für Recht und Gerechtigkeit einzutreten.<br />

Das Verhör mußte <strong>de</strong>shalb so geschickt geleitet wer<strong>de</strong>n, daß alle Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Hohen Rates<br />

Jesus einstimmig verurteilten. Zwei Anklagen waren es, die die Priester erheben wollten. Wenn<br />

man Jesus als Gotteslästerer bezichtigen könnte, dann wür<strong>de</strong> ihn das jüdische Volk verurteilen.<br />

Gelänge es ferner, ihn <strong>de</strong>s Aufruhrs für schuldig zu erklären, dann wäre auch seine Verurteilung<br />

durch die Römer gewiß. <strong>Die</strong> zweite Anklage versuchte Hannas zuerst zu begrün<strong>de</strong>n. Er fragte<br />

Jesus nach seinen Jüngern und nach seinen Lehren, wobei er hoffte, <strong>de</strong>r Gefangene, wür<strong>de</strong><br />

etwas sagen, daß Anlaß böte, gegen ihn vorzugehen. Könnte Hannas auch nur einige<br />

Bemerkungen aus Jesus herauslocken als Beweis dafür, daß er einen Geheimbund grün<strong>de</strong>n<br />

wollte mit <strong>de</strong>r Absicht, ein neues Königreich aufzurichten, dann wür<strong>de</strong>n die Priester einen<br />

Grund haben, ihn als Frie<strong>de</strong>nsstörer und Unruhestifter <strong>de</strong>n Römern auszuliefern.<br />

Christus durchschaute die Absicht <strong>de</strong>r Priester. Als ob er ihre verborgensten Gedanken lesen<br />

wür<strong>de</strong>, verneinte er, daß es einen geheimen Bund zwischen ihm und seinen Jüngern gäbe und<br />

daß er sie heimlich und bei Dunkelheit versammelte, um seine Absichten zu verbergen. Sein<br />

Vorhaben und seine Lehren waren frei von Geheimnissen. „Ich habe frei öffentlich gere<strong>de</strong>t vor<br />

477


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

<strong>de</strong>r Welt“, sagte er. „Ich habe allezeit gelehrt in <strong>de</strong>r Synagoge und in <strong>de</strong>m Tempel, wo alle<br />

Ju<strong>de</strong>n zusammenkommen, und habe nichts im Verborgenen gere<strong>de</strong>t.“ Johannes 18,20.<br />

Der Heiland verglich die Art seines Wirkens mit <strong>de</strong>n Metho<strong>de</strong>n seiner Ankläger. Monatelang<br />

hatten sie Jagd auf ihn gemacht, um ihn in eine Falle zu locken und vor ein geheimes Gericht zu<br />

bringen, wo sie, notfalls durch Meineid, erreichen konnten, was bei einem ehrlichen Verfahren<br />

unmöglich war. Nun führten sie ihre Absicht aus. <strong>Die</strong> mitternächtliche Festnahme durch <strong>de</strong>n<br />

Pöbel, seine Verspottung und Mißhandlung, bevor er verurteilt o<strong>de</strong>r zumin<strong>de</strong>st angeklagt war,<br />

entsprach ihrer Art zu han<strong>de</strong>ln und nicht seiner. Ihr Vorgehen stand im Wi<strong>de</strong>rspruch zum<br />

Gesetz. Ihre eigenen Gesetze verlangten, daß je<strong>de</strong>r als unschuldig zu gelten habe, solang seine<br />

Schuld nicht erwiesen sei. Von ihren eigenen Geboten wur<strong>de</strong>n die Priester verurteilt.<br />

Darauf wandte er sich an <strong>de</strong>n Fragesteller, <strong>de</strong>n Hohenpriester, und sagte: „Was fragst du<br />

mich?“ Hatten nicht die Priester und Obersten Kundschafter ausgesandt, sein Tun und Treiben<br />

zu beobachten und je<strong>de</strong>s seiner Worte mitzuteilen? Hatten diese nicht an je<strong>de</strong>r Versammlung<br />

teilgenommen und dann ihren Auftraggebern über seine Schritte Bericht erstattet? „Frage die,<br />

die gehört haben, was ich zu ihnen gere<strong>de</strong>t habe“, erwi<strong>de</strong>rte er <strong>de</strong>m Hohenpriester. „Siehe, diese<br />

wissen, was ich gesagt habe.“ Johannes 18,21. Hannas wur<strong>de</strong> durch diese entschie<strong>de</strong>ne Antwort<br />

zum Schweigen gebracht. Er befürchtete, daß Christus seine verwerfliche Handlungsweise<br />

enthüllen wür<strong>de</strong>, und sagte jetzt nichts mehr zu ihm. Einer seiner <strong>Die</strong>ner, <strong>de</strong>r vor Zorn<br />

ergrimmte, als er sah, daß Hannas schwieg, schlug <strong>de</strong>m Herrn ins Gesicht und sprach:<br />

„Antwortest du so <strong>de</strong>m Hohenpriester?“<br />

Christus entgegnete gelassen: „Habe ich übel gere<strong>de</strong>t, so beweise, daß es böse sei; habe ich<br />

aber recht gere<strong>de</strong>t, was schlägst du mich?“ Johannes 18,22.23. Er sprach keine flammen<strong>de</strong>n<br />

Worte <strong>de</strong>r Rache, son<strong>de</strong>rn seine ruhige Antwort kam aus einem sündlosen Herzen voller Geduld<br />

und Sanftmut, das sich nicht erzürnen ließ. Innerlich aber litt <strong>de</strong>r Herr schwer unter <strong>de</strong>n<br />

Mißhandlungen und Beleidigungen. Aus <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>rer, die er selbst geschaffen hatte und<br />

für die er sich aufzuopfern bereit war, empfing er je<strong>de</strong> nur <strong>de</strong>nkbare Schmach. Er litt so sehr,<br />

wie es <strong>de</strong>m Unterschied zwischen seiner Vollkommenheit und <strong>de</strong>m Ausmaß <strong>de</strong>r menschlichen<br />

Sün<strong>de</strong> entsprach. Sein Verhör durch Menschen, die sich wie Teufel aufführten, war für ihn ein<br />

fortwähren<strong>de</strong>s Opfer. Von Menschen umgeben zu sein, die sich unter <strong>de</strong>r Macht Satans<br />

befan<strong>de</strong>n, war empörend für ihn. Er wußte, daß er durch ein plötzliches Aufblitzen seiner<br />

göttlichen Kraft seine Peiniger auf <strong>de</strong>r Stelle in <strong>de</strong>n Staub werfen konnte. Gera<strong>de</strong> das machte<br />

seine Prüfung noch schwerer erträglich.<br />

<strong>Die</strong> Ju<strong>de</strong>n warteten auf einen Messias, <strong>de</strong>r sich in äußerlichem Glanz offenbaren wür<strong>de</strong>. Sie<br />

erwarteten von ihm — durch ein Hervorbrechen seines alles überwältigen<strong>de</strong>n Willens —, die<br />

Gedanken <strong>de</strong>r Menschen zu än<strong>de</strong>rn und sie zur Anerkennung seiner Herrschaft zu zwingen.<br />

Dadurch, so glaubten sie, sichere er seine eigene Erhöhung und befriedige auch ihre ehrgeizigen<br />

Hoffnungen. Als Christus nun Verachtung begegnete, war er versucht, sein göttliches Wesen zu<br />

offenbaren. Durch ein Wort, durch einen Blick konnte er seine Verfolger zu <strong>de</strong>m Bekenntnis<br />

zwingen, daß er Herr war über Könige und Fürsten, über Priester und Tempel. Doch es war<br />

478


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

seine schwere Aufgabe, sich zu <strong>de</strong>r Stellung zu bekennen, die er als ein Mensch „gleichwie wir“<br />

erwählt hatte.<br />

<strong>Die</strong> Engel im Himmel beobachteten je<strong>de</strong> Tat, die sich gegen ihren Herrn richtete. Sie sehnten<br />

sich danach, ihn zu befreien. Unter göttlicher Führung haben sie unbegrenzte Gewalt — sie<br />

hatten bei einer Gelegenheit auf <strong>Christi</strong> Befehl einhun<strong>de</strong>rtfünfundachtzigtausend Mann <strong>de</strong>r<br />

assyrischen Streitkräfte in einer Nacht geschlagen. Wie leicht hätten die Engel beim Anblick<br />

<strong>de</strong>s schmachvollen Verhörs Jesu ihre Empörung beweisen können, in<strong>de</strong>m sie die Fein<strong>de</strong> Gottes<br />

vernichteten! Doch sie hatten dazu keinen Auftrag. Er, <strong>de</strong>r seine Fein<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> hätte<br />

strafen können, erdul<strong>de</strong>te ihre Grausamkeit. <strong>Die</strong> Liebe zu seinem Vater und sein von Anbeginn<br />

<strong>de</strong>r Welt gegebenes Versprechen, <strong>de</strong>r Welt Sün<strong>de</strong> auf sich zu nehmen, veranlaßten ihn, ohne<br />

Klagen die rohe Behandlung <strong>de</strong>rer zu ertragen, die zu retten er gekommen war. Es war ein Teil<br />

seiner Aufgabe, <strong>de</strong>n ganzen Hohn und alle Verachtung, die Menschen auf ihn häufen konnten,<br />

zu tragen. <strong>Die</strong> einzige Hoffnung <strong>de</strong>r Menschheit lag in dieser Unterwerfung Jesu.<br />

Jesus hatte nichts gesagt, woraus seine Ankläger einen Vorteil hätten ziehen können;<br />

<strong>de</strong>nnoch wur<strong>de</strong> er gebun<strong>de</strong>n als Zeichen, daß er verurteilt war. Um aber <strong>de</strong>n Schein <strong>de</strong>r<br />

Gerechtigkeit zu wahren, mußte eine gerichtliche Untersuchung erfolgen, und die Obersten<br />

waren entschlossen, rasch zu han<strong>de</strong>ln. Sie unterschätzten nicht das Ansehen, daß Jesus beim<br />

Volk genoß, und sie fürchteten <strong>de</strong>shalb Versuche, ihn zu befreien, sobald die Nachricht von<br />

seiner Haft erst überall bekannt wäre. Außer<strong>de</strong>m wür<strong>de</strong>n sich Verhör und Urteilsvollstreckung,<br />

brächte man das Verfahren nicht sofort zum Abschluß, wegen <strong>de</strong>s Passahfestes eine Woche<br />

verzögern, und dies hätte ihre Pläne vereiteln können. Um Jesu Verurteilung zu sichern, ließ<br />

man <strong>de</strong>m Geschrei <strong>de</strong>s Pöbels breitesten Raum. Sollte sich das ganze um eine Woche<br />

verzögern, wür<strong>de</strong> die Erregung abklingen und vermutlich eine Gegenwirkung einsetzen. Der<br />

besonnenere Teil <strong>de</strong>s Volkes träte auf die Seite Jesu; viele wür<strong>de</strong>n sich mel<strong>de</strong>n, um ein Zeugnis<br />

zu seiner Rechtfertigung abzulegen, und so die mächtigen Werke offenbar machen, die er getan<br />

hatte. <strong>Die</strong>s riefe allgemeinen Unwillen gegen <strong>de</strong>n Hohen Rat hervor. Dessen Verfahren wür<strong>de</strong><br />

mißbilligt und Jesus wie<strong>de</strong>r in Freiheit gesetzt wer<strong>de</strong>n, wo er aufs neue die Huldigung <strong>de</strong>r<br />

Menge entgegennähme. <strong>Die</strong> Priester und Obersten beschlossen <strong>de</strong>shalb, ehe ihre Absichten<br />

mißlingen konnten, Jesus <strong>de</strong>n Römern zu übergeben.<br />

Vor allem aber mußte ein ausreichen<strong>de</strong>r Anklagepunkt gefun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n; bisher hatten sie<br />

jedoch nichts erreicht. Hannas befahl kurz entschlossen, <strong>de</strong>n Herrn zu Kaiphas zu bringen.<br />

<strong>Die</strong>ser gehörte zu <strong>de</strong>n Sadduzäern, die mit zu <strong>de</strong>n erbittertsten Fein<strong>de</strong>n Jesu zählten. Er war,<br />

obschon ihm je<strong>de</strong> charakterliche Stärke fehlte, genauso streng, unbarmherzig und gewissenlos<br />

wie Hannas; er wür<strong>de</strong> kein Mittel unversucht lassen, um Jesus zu vernichten. Es war früh am<br />

Morgen und noch dunkel. Mit Fackeln und Laternen zog <strong>de</strong>r bewaffnete Haufe mit Christus<br />

zum Palast <strong>de</strong>s Hohenpriesters. Hier wur<strong>de</strong>, während sich unter<strong>de</strong>ssen <strong>de</strong>r Hohe Rat<br />

versammelte, <strong>de</strong>r Herr wie<strong>de</strong>rum von Hannas und Kaiphas verhört, aber auch jetzt ohne<br />

Erfolg. Als <strong>de</strong>r Rat in <strong>de</strong>r Gerichtshalle versammelt war, nahm Kaiphas seinen Platz als<br />

Vorsitzen<strong>de</strong>r dieser Versammlung ein. Auf bei<strong>de</strong>n Seiten stan<strong>de</strong>n die Richter und alle, die ein<br />

sachlich begrün<strong>de</strong>tetes Interesse an <strong>de</strong>m Verhör hatten. <strong>Die</strong> römischen Soldaten stan<strong>de</strong>n auf<br />

479


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

einer Art Tribüne unterhalb <strong>de</strong>s Präsi<strong>de</strong>ntenstuhles; vor diesem Stuhl stand Jesus. Alle Blicke<br />

waren auf ihn gerichtet; es herrschte ungeheure Aufregung im Saal. Nur Christus war ruhig und<br />

gelassen. <strong>Die</strong> unmittelbare Atmosphäre, die ihn umgab, schien von einer heiligen Kraft<br />

durchdrungen.<br />

Kaiphas hatte Jesus als seinen Nebenbuhler betrachtet; <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Eifer <strong>de</strong>s Volkes, ihn zu<br />

hören, und die offensichtliche Bereitschaft, seine Lehren anzunehmen, hatten die erbitterte<br />

Eifersucht <strong>de</strong>s Hohenpriesters geweckt. Doch als Kaiphas auf <strong>de</strong>n Gefangenen blickte, konnte<br />

er eine in ihm aufsteigen<strong>de</strong> Bewun<strong>de</strong>rung für <strong>de</strong>ssen edles und würdiges Verhalten nicht<br />

unterdrücken. Es ging ihm auf, daß dieser Mann göttlicher Herkunft sein mußte. Doch schon im<br />

nächsten Augenblick wies er diesen Gedanken verächtlich von sich. Sogleich befahl er <strong>de</strong>m<br />

Herrn mit spöttischer, anmaßen<strong>de</strong>r Stimme, vor dieser erwählten Versammlung eines seiner<br />

mächtigen Wun<strong>de</strong>r zu tun. Aber seine Worte fan<strong>de</strong>n keinerlei Echo beim Herrn. Das Volk<br />

verglich das aufgeregte, bösartige Verhalten <strong>de</strong>r Hohenpriester Hannas und Kaiphas mit <strong>de</strong>r<br />

ruhigen, majestätischen Haltung Jesu. Selbst in <strong>de</strong>n Herzen jener gefühllosen Menge erhob sich<br />

die Frage, ob dieser Mann von gottähnlichem Auftreten als ein Verbrecher verurteilt wer<strong>de</strong>n<br />

könne.<br />

Kaiphas bemerkte diesen Einfluß auf die Menge und beschleunigte das Verhör. Jesu Fein<strong>de</strong><br />

waren in großer Verwirrung. Sie waren entschlossen, ihn zu verurteilen, aber sie wußten nicht,<br />

wie sie es machen sollten. <strong>Die</strong> Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Rates setzten sich aus Pharisäern und Sadduzäern<br />

zusammen. Zwischen ihnen bestan<strong>de</strong>n Spannungen und Feindschaften. Manche strittigen<br />

Themen wagte man aus Angst vor Zänkereien nicht anzusprechen. Mit wenigen Worten hätte<br />

Jesus ihre gegenseitigen Vorurteile erregen und so ihren Zorn von sich abwen<strong>de</strong>n können.<br />

Kaiphas wußte das, und genau das wollte er vermei<strong>de</strong>n. Viele konnten bezeugen, daß Christus<br />

die Priester und Schriftgelehrten angegriffen und sie Heuchler und Mör<strong>de</strong>r genannt hatte. Doch<br />

dieses Zeugnis reichte nicht aus, um gegen ihn vorzugehen, hatten doch die Sadduzäer bei ihren<br />

scharfen Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen mit <strong>de</strong>n Pharisäern ähnliche Ausdrücke gebraucht. Eine solche<br />

Anschuldigung hätten auch die Römer, die von <strong>de</strong>m anmaßen<strong>de</strong>n Verhalten <strong>de</strong>r Pharisäer<br />

angewi<strong>de</strong>rt waren, als belanglos angesehen. Es waren genug Beweise vorhan<strong>de</strong>n, daß Jesus die<br />

Überlieferungen <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n mißachtet und über viele ihrer Vorschriften unziemlich gesprochen<br />

hatte; doch bezüglich <strong>de</strong>r Auslegung <strong>de</strong>r Tradition stan<strong>de</strong>n sich Pharisäer und Sadduzäer<br />

feindlich gegenüber. Außer<strong>de</strong>m hätte eine solche Beweisführung keinerlei Eindruck auf die<br />

Römer gemacht. <strong>Die</strong> Fein<strong>de</strong> Jesu wagten es nicht, ihn wegen <strong>de</strong>r Übertretung <strong>de</strong>s Sabbatgebotes<br />

anzuklagen, weil sie fürchteten, daß eine Untersuchung das göttliche Wesen seines Wirkens<br />

offenbaren wür<strong>de</strong>. Wenn nämlich seine Wun<strong>de</strong>rtaten alle bekannt wür<strong>de</strong>n, dann wäre die<br />

Absicht <strong>de</strong>r Priester vereitelt.<br />

Falsche Zeugen waren gedungen wor<strong>de</strong>n, um Jesus <strong>de</strong>s Aufruhrs und <strong>de</strong>s versuchten<br />

Lan<strong>de</strong>sverrats anzuklagen. Ihre Aussagen aber erwiesen sich als unklar und wi<strong>de</strong>rspruchsvoll.<br />

Im Verhör wi<strong>de</strong>rlegten sie ihre eigenen Behauptungen. Jesus hatte einst, am Beginn seines<br />

<strong>Die</strong>nstes, gesagt: „Brechet diesen Tempel ab, und in drei Tagen will ich ihn<br />

aufrichten.“ Johannes 2,19. In <strong>de</strong>r bildhaften Sprache <strong>de</strong>r Weissagung hatte er seinen Tod und<br />

480


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

seine Auferstehung vorhergesagt; „er ... re<strong>de</strong>te von <strong>de</strong>m Tempel seines Leibes“. Johannes 2,21.<br />

<strong>Die</strong> Ju<strong>de</strong>n hatten diese Worte Jesu buchstäblich aufgefaßt und gemeint, sie bezögen sich auf <strong>de</strong>n<br />

Tempel in Jerusalem. Unter allem, was Christus gesagt hatte, konnten die Priester nichts fin<strong>de</strong>n,<br />

um es gegen ihn zu verwen<strong>de</strong>n, als nur diese Worte. In<strong>de</strong>m sie sie falsch auslegten, hofften sie,<br />

einen Vorteil zu gewinnen. <strong>Die</strong> Römer hatten zu <strong>de</strong>m Wie<strong>de</strong>raufbau und zu <strong>de</strong>r<br />

Ausschmückung <strong>de</strong>s Tempels beigetragen und waren stolz auf ihn; ihn zu mißachten, wür<strong>de</strong><br />

gewiß ihren Unwillen hervorrufen. Hier konnten Römer und Ju<strong>de</strong>n, Pharisäer und Sadduzäer<br />

sich einigen; <strong>de</strong>nn sie alle hielten <strong>de</strong>n Tempel in hohen Ehren.<br />

Es wur<strong>de</strong>n zwei „Zeugen“ gefun<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>ren Aussagen nicht so wi<strong>de</strong>rspruchsvoll waren wie<br />

die <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n ersten. Einer von ihnen, <strong>de</strong>r bestochen war, Jesus anzuklagen, sagte nun aus: „Er<br />

hat gesagt: Ich kann <strong>de</strong>n Tempel Gottes abbrechen und in drei Tagen aufbauen.“ Matthäus<br />

26,61. So wur<strong>de</strong>n Jesu Worte entstellt, die selbst vor <strong>de</strong>m Hohen Rat zu einer Verurteilung<br />

nicht ausgereicht hätten, wenn sie wahrheitsgemäß wie<strong>de</strong>rgegeben wor<strong>de</strong>n wären. Wäre Jesus<br />

nur ein einfacher Mann gewesen, wie die Ju<strong>de</strong>n behaupteten, so hätte man seine Äußerungen<br />

nur als Ausdruck eines unvernünftigen, prahlerischen Geistes werten und sie nicht als Lästerung<br />

hinstellen können. Selbst in <strong>de</strong>r miß<strong>de</strong>uteten Darstellung <strong>de</strong>r falschen Zeugen enthielten seine<br />

Worte nichts, was von <strong>de</strong>n Römern als to<strong>de</strong>swürdiges Verbrechen angesehen wer<strong>de</strong>n konnte.<br />

Geduldig hörte Jesus die sich wi<strong>de</strong>rsprechen<strong>de</strong>n Aussagen an; kein Wort äußerte er zu seiner<br />

Verteidigung. Schließlich verwickelten sich seine Ankläger in Wi<strong>de</strong>rsprüche, wur<strong>de</strong>n verwirrt<br />

und wütend. Das Verhör brachte keinerlei Fortschritte; es schien, als wür<strong>de</strong>n die Anschläge <strong>de</strong>r<br />

Obersten fehlschlagen. Kaiphas war verzweifelt. Nun blieb nur noch eine letzte Möglichkeit<br />

offen: Christus mußte gezwungen wer<strong>de</strong>n, sich selbst schuldig zu sprechen. Der Hohepriester<br />

sprang von seinem Richterstuhl auf, sein Gesicht war vor Zorn entstellt, seine Stimme und sein<br />

Verhalten verrieten <strong>de</strong>utlich, daß er <strong>de</strong>n vor ihm stehen<strong>de</strong>n Gefangenen nie<strong>de</strong>rschlagen wür<strong>de</strong>,<br />

wenn er dazu die Macht hätte. „Antwortest du nichts zu <strong>de</strong>m, was diese wi<strong>de</strong>r dich zeugen?“<br />

(Matthäus 26,62) rief er aus.<br />

Jesus schwieg. „Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie<br />

ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem<br />

Scherer, tat er seinen Mund nicht auf.“ Jesaja 53,7. Schließlich erhob Kaiphas seine rechte<br />

Hand zum Himmel und drang in Jesus: „Ich beschwöre dich bei <strong>de</strong>m lebendigen Gott, daß du<br />

uns sagest, ob du seist <strong>de</strong>r Christus, <strong>de</strong>r Sohn Gottes.“ Matthäus 26,63. Auf diese Frage mußte<br />

Jesus antworten. Es gibt eine Zeit zu schweigen, aber es gibt auch eine Zeit zu re<strong>de</strong>n. Er hatte<br />

nicht gesprochen, bis er direkt gefragt wur<strong>de</strong>. Er wußte, daß diese Frage zu beantworten seinen<br />

Tod besiegeln wür<strong>de</strong>; doch diese Auffor<strong>de</strong>rung wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>m Vertreter <strong>de</strong>r höchsten<br />

Obrigkeit <strong>de</strong>s jüdischen Volkes und im Namen <strong>de</strong>s Allerhöchsten an ihn gerichtet. Christus<br />

wollte nicht versäumen, <strong>de</strong>m Gesetz <strong>de</strong>n schuldigen Respekt zu erweisen; darüber hinaus war<br />

seine ganze Beziehung zu seinem himmlischen Vater in Zweifel gezogen. Er mußte nun<br />

unmißverständlich sein Amt und seinen Auftrag bekennen; <strong>de</strong>nn einst hatte er seinen Jüngern<br />

erklärt: „Wer nun mich bekennet vor <strong>de</strong>n Menschen, <strong>de</strong>n will ich auch bekennen vor meinem<br />

himmlischen Vater.“ Matthäus 10,32.<br />

481


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Jetzt bekräftigte er diese Lehre durch sein eigenes Beispiel. Je<strong>de</strong>s Ohr war gespitzt, je<strong>de</strong>r<br />

Blick unverwandt auf ihn gerichtet, als er antwortete: „Du sagst es.“ Ein himmlisches Licht<br />

schien sein bleiches Antlitz zu erleuchten, als er hinzufügte: „Auch sage ich euch: Von nun an<br />

wird‘s geschehen, daß ihr sehen wer<strong>de</strong>t <strong>de</strong>s Menschen Sohn sitzen zur Rechten <strong>de</strong>r Kraft und<br />

kommen in <strong>de</strong>n Wolken <strong>de</strong>s Himmels.“ Matthäus 26,64. Für einen Augenblick leuchtete <strong>Christi</strong><br />

Göttlichkeit durch seine menschliche Gestalt hindurch. Der Hohepriester wich vor <strong>de</strong>n<br />

durchdringen<strong>de</strong>n Blicken <strong>de</strong>s Heilands zurück. Sie schienen seine geheimen Gedanken zu lesen<br />

und brannten in seinem Herzen. Sein Leben lang vergaß er nicht diesen forschen<strong>de</strong>n Blick, <strong>de</strong>n<br />

<strong>de</strong>r gepeinigte Sohn Gottes auf ihn geworfen hatte. „Von nun an wird‘s geschehen“, sagte Jesus,<br />

„daß ihr sehen wer<strong>de</strong>t <strong>de</strong>s Menschen Sohn sitzen zur Rechten <strong>de</strong>r Kraft und kommen in <strong>de</strong>n<br />

Wolken <strong>de</strong>s Himmels.“ Matthäus 26,64. Mit diesen Worten schil<strong>de</strong>rte Jesus das Gegenteil <strong>de</strong>r<br />

gegenwärtigen Lage. Er, <strong>de</strong>r Herr <strong>de</strong>s Lebens und aller Herrlichkeit, wird zur Rechten <strong>de</strong>s<br />

Allerhöchsten sitzen und über die Er<strong>de</strong> richten. Gegen seine Entscheidung kann es keine<br />

Berufung geben. Dann wer<strong>de</strong>n alle Geheimnisse im Licht <strong>de</strong>r Gegenwart Gottes offenbar, und<br />

über je<strong>de</strong>n Menschen wird das Urteil gesprochen wer<strong>de</strong>n nach seinen Werken.<br />

Jesu Worte erschreckten <strong>de</strong>n Hohenpriester. Der Gedanke, daß es eine Auferstehung gebe,<br />

nach welcher alle Menschen vor <strong>de</strong>m Richterstuhl Gottes stehen und sie nach ihren Werken<br />

gerichtet wür<strong>de</strong>n, bereitete Kaiphas größtes Unbehagen. Er wollte nicht glauben, daß er nach<br />

seinem To<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Urteilsspruch nach seinen Werken empfangen wür<strong>de</strong>. Blitzschnell zogen an<br />

seinem geistigen Auge die Szenen <strong>de</strong>s Jüngsten Gerichtes vorüber. Er sah die Gräber sich<br />

öffnen und die Toten hervorkommen mit all ihren Geheimnissen, die sie auf ewig verborgen<br />

gewähnt hatten. Er fühlte sich in diesem Augenblick selbst vor <strong>de</strong>m ewigen Richter stehen, <strong>de</strong>r<br />

ihn mit einem Blick, <strong>de</strong>m alle Dinge offenbar sind, durchschaute und all seine Geheimnisse ans<br />

Licht brachte, die er mit sich ins Grab genommen hatte.<br />

Der Priester fand aus jenem Geschehen wie<strong>de</strong>r in die Wirklichkeit zurück. <strong>Christi</strong> Worte<br />

hatten ihn, <strong>de</strong>n Sadduzäer, bis ins Innerste getroffen. Er hatte die Lehre von <strong>de</strong>r Auferstehung,<br />

<strong>de</strong>m Gericht und <strong>de</strong>m zukünftigen Leben geleugnet. Nun wur<strong>de</strong> er von satanischer Wut<br />

befallen. Sollte dieser Mann, ein Gefangener, seine vornehmsten Lehren angreifen? Er zerriß<br />

sein Kleid, damit alle Anwesen<strong>de</strong>n seine angebliche Erregung wahrnehmen konnten, und<br />

for<strong>de</strong>rte, <strong>de</strong>n Gefangenen ohne weitere Verhandlungen wegen Gotteslästerung zu verurteilen.<br />

„Was bedürfen wir weiter Zeugnis?“ rief er. „Siehe, jetzt habt ihr seine Gotteslästerung gehört.<br />

Was dünkt euch?“ Matthäus 26,65.66. Da sprachen sie ihn alle <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s<br />

schuldig. Überzeugung und Lei<strong>de</strong>nschaft bewogen Kaiphas zu <strong>de</strong>m, was er tat. Er war auf sich<br />

selber wütend, weil er <strong>Christi</strong> Worten glaubte; aber statt sein Herz unter das tiefe Verlangen<br />

nach Wahrheit zu <strong>de</strong>mütigen und Jesus als <strong>de</strong>n Messias zu bekennen, zerriß er sein<br />

Priestergewandin entschlossenem Wi<strong>de</strong>rstand. <strong>Die</strong>ser Vorgang war von tiefer Be<strong>de</strong>utung.<br />

Kaiphas wur<strong>de</strong> sich ihr kaum bewußt. Mit diesem Akt, <strong>de</strong>r die Richter beeinflussen und die<br />

Verurteilung <strong>Christi</strong> herbeiführen sollte, verurteilte <strong>de</strong>r Hohepriester sich selbst. Nach <strong>de</strong>m<br />

Gesetz Gottes war er zum Priestertum unfähig gewor<strong>de</strong>n. Er hatte sich selbst das To<strong>de</strong>surteil<br />

gesprochen.<br />

482


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Ein Hoherpriester durfte nicht sein Gewand zerreißen. Nach <strong>de</strong>m levitischen Gesetz war das<br />

bei To<strong>de</strong>sstrafe verboten; es durfte unter gar keinen Umstän<strong>de</strong>n, bei keiner Gelegenheit<br />

geschehen. Dabei gehörte es zum Brauch <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n, beim To<strong>de</strong> eines Freun<strong>de</strong>s das Kleid zu<br />

zerreißen; nur die Priester waren davon ausgeschlossen. Christus hatte dazu durch Mose<br />

entsprechen<strong>de</strong> Verordnungen gegeben. „Da sprach Mose zu Aaron und seinen Söhnen Eleasar<br />

und Ithamar: Ihr sollt euer Haupthaar nicht wirr hängen lassen und eure Klei<strong>de</strong>r nicht zerreißen,<br />

daß ihr nicht sterbet und <strong>de</strong>r Zorn über die ganze Gemein<strong>de</strong> komme.“ 3.Mose 10,6.<br />

Je<strong>de</strong>s Kleidungsstück, das <strong>de</strong>r Priester trug, mußte ganz und fehlerlos sein. Durch das<br />

vollkommene priesterliche Amtskleid sollte das makellose Wesen <strong>de</strong>s großen Vorbil<strong>de</strong>s Jesus<br />

Christus dargestellt wer<strong>de</strong>n. Allein die Vollkommenheit in Kleidung und Gebaren, in Wort und<br />

Geist war Gott angenehm. Gott ist heilig, und seine göttliche Herrlichkeit und Vollkommenheit<br />

mußten durch <strong>de</strong>n irdischen <strong>Die</strong>nst versinnbil<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n; nur etwas Vollkommenes konnte die<br />

Heiligkeit <strong>de</strong>s himmlischen <strong>Die</strong>nstes in geeigneter Weise darstellen. Der sterbliche Mensch<br />

mochte sein Herz zerreißen, in<strong>de</strong>m er sich reuevoll und <strong>de</strong>mütig zeigte; das wür<strong>de</strong> Gott<br />

erkennen. Aber ein priesterliches Kleid mußte fehlerlos sein, sonst wür<strong>de</strong> das Bild <strong>de</strong>s<br />

Himmlischen entstellt wer<strong>de</strong>n. Der Hohepriester, <strong>de</strong>r es wagte, mit einem zerrissenen Gewand<br />

an sein heiliges Amt zu gehen und <strong>de</strong>n <strong>Die</strong>nst im Heiligtum auszuüben, wur<strong>de</strong> angesehen, als<br />

hätte er sich von Gott getrennt. In<strong>de</strong>m er sein Kleid zerriß, entäußerte er sich selbst seiner<br />

beson<strong>de</strong>ren priesterlichen Eigenschaft. Eine Handlungsweise wie die <strong>de</strong>s Kaiphas verriet<br />

menschlichen Zorn und menschliche Unvollkommenheit.<br />

Kaiphas machte durch das Zerreißen seines Gewan<strong>de</strong>s das Gesetz Gottes wirkungslos, um<br />

menschlicher Überlieferung zu folgen. Eine menschliche Satzung gestattete einem Priester im<br />

Fall einer Gotteslästerung als Ausdruck <strong>de</strong>s Abscheues vor <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>, seine Klei<strong>de</strong>r zu<br />

zerreißen und <strong>de</strong>nnoch schuldlos zu sein. So wur<strong>de</strong> Gottes Gebot durch Menschensatzungen<br />

aufgehoben. Je<strong>de</strong> Handlung <strong>de</strong>s Hohenpriesters wur<strong>de</strong> vom Volk mit großer Aufmerksamkeit<br />

verfolgt, und Kaiphas wollte offen seine Frömmigkeit zeigen. Doch in seinem Tun, das als<br />

Anklage gegen Christus gedacht war, schmähte er <strong>de</strong>n, von <strong>de</strong>m Gott gesagt hatte, daß sein<br />

Name in ihm sei. 2.Mose 23,21. Er selbst, Kaiphas, beging eine freventliche Lästerung. Und<br />

während er unter <strong>de</strong>m Verdammungsurteil Gottes stand, verurteilte er Christus als<br />

Gotteslästerer.<br />

Als Kaiphas sein Gewand zerriß, zeigte diese Handlung an, welche Position die Ju<strong>de</strong>n als<br />

Volk Gott gegenüber einnehmen wür<strong>de</strong>n. Das einst begünstigte Volk Gottes trennte sich von<br />

ihm und wur<strong>de</strong> bald eine Nation, zu <strong>de</strong>r Jahwe sich nicht mehr bekannte. Als Christus am Kreuz<br />

ausrief: „Es ist vollbracht!“ und <strong>de</strong>r Vorhang im Tempel zerriß, erklärte <strong>de</strong>r heilige Wächter,<br />

daß das jüdische Volk <strong>de</strong>n verworfen hatte, <strong>de</strong>r das Vorbild ihres ganzen Gottesdienstes, das<br />

Wesen aller ihrer „Schatten“ war. Israel war von Gott geschie<strong>de</strong>n. Kaiphas mochte wohl sein<br />

Amtsgewand zerreißen, das ihn als Repräsentanten <strong>de</strong>s großen Hohenpriesters auswies; <strong>de</strong>nn es<br />

hatte von nun an keine Be<strong>de</strong>utung mehr für ihn und sein Volk. Durchaus mit Recht konnte <strong>de</strong>r<br />

Hohepriester aus Entsetzen vor sich und seinem Volk sein Kleid zerreißen.<br />

483


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Der Hohe Rat hatte Jesus die To<strong>de</strong>sstrafe zuerkannt; nach <strong>de</strong>m jüdischen Gesetz aber war es<br />

strafbar, einen Gefangenen in <strong>de</strong>r Nacht zu verhören. Eine rechtskräftige Verurteilung konnte<br />

nur am Tage vor einer vollzähligen Versammlung <strong>de</strong>s Hohen Rates geschehen. Trotz<strong>de</strong>m wur<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>r Heiland jetzt wie ein abgeurteilter Verbrecher behan<strong>de</strong>lt und <strong>de</strong>r Willkür niedrigster und<br />

gemeinster Knechte überlassen. Der Palast <strong>de</strong>s Hohenpriesters umschloß einen großen Hof, in<br />

<strong>de</strong>m sich Soldaten und viele Neugierige versammelt hatten. Über diesen Hof wur<strong>de</strong> Jesus in <strong>de</strong>n<br />

Wachraum geführt, begleitet von spöttischen Bemerkungen über seinen Anspruch, <strong>de</strong>r Sohn<br />

Gottes zu sein. Seine eigenen Worte, daß sie sehen wür<strong>de</strong>n „<strong>de</strong>s Menschen Sohn sitzen zur<br />

Rechten <strong>de</strong>r Kraft und kommen in <strong>de</strong>n Wolken <strong>de</strong>s Himmels“ (Matthäus 26,64), wur<strong>de</strong>n ihm<br />

immer wie<strong>de</strong>r höhnisch entgegengerufen. Niemand schützte ihn, während er im Wachraum auf<br />

sein rechtmäßiges Verhör wartete. Der unwissen<strong>de</strong> Pöbel hatte die Roheit gesehen, mit <strong>de</strong>r er<br />

vor <strong>de</strong>m Hohen Rat behan<strong>de</strong>lt wor<strong>de</strong>n war; <strong>de</strong>shalb erlaubten sie sich, alle satanischen Züge<br />

ihres Wesens hervorzukehren. <strong>Christi</strong> wür<strong>de</strong>volles und gottähnliches Verhalten reizte ihren<br />

Zorn. Seine Sanftmut, seine Unschuld und seine göttliche Geduld erfüllten sie mit satanischem<br />

Haß. Barmherzigkeit und Gerechtigkeit wur<strong>de</strong> mit Füßen getreten. Niemals wur<strong>de</strong> ein<br />

Verbrecher so unmenschlich behan<strong>de</strong>lt wie <strong>de</strong>r Sohn Gottes.<br />

Doch eine tiefere Qual zerriß das Herz <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s: <strong>de</strong>r Schlag, <strong>de</strong>n er hinnehmen mußte,<br />

kam nicht von eines Fein<strong>de</strong>s Hand. Während er vor Kaiphas die Nie<strong>de</strong>rträchtigkeiten <strong>de</strong>s<br />

Verhörs ertrug, verleugnete ihn einer seiner Getreuesten. Nach<strong>de</strong>m die Jünger ihren Meister im<br />

Garten Gethsemane verlassen hatten, wagten es zwei von ihnen, Petrus und Johannes, <strong>de</strong>r<br />

Schar, die Jesus gefangengenommen hatte, in einiger Entfernung zu folgen. Den Priestern war<br />

Johannes als Jünger Jesu gut bekannt. Sie gestatteten ihm <strong>de</strong>n Zutritt zum Verhandlungshaus in<br />

<strong>de</strong>r Hoffnung, daß er sich als Zeuge <strong>de</strong>r Demütigung Jesu von <strong>de</strong>r Auffassung lossage, daß<br />

dieser Gottes Sohn sei. Durch Johannes erhielt auch Petrus die Erlaubnis, das Gebäu<strong>de</strong> zu<br />

betreten. Im Hof hatte man ein Feuer angezün<strong>de</strong>t; <strong>de</strong>nn es war die kälteste Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Nacht,<br />

kurz vor Anbruch <strong>de</strong>r Dämmerung. Eine Anzahl Menschen umstan<strong>de</strong>n das Feuer, und Petrus<br />

drängte sich dreist mitten unter sie. Er wollte nicht als Jünger Jesu erkannt wer<strong>de</strong>n. In<strong>de</strong>m er<br />

sich unbekümmert unter die Menge mischte, hoffte er für einen von <strong>de</strong>nen gehalten zu wer<strong>de</strong>n,<br />

die Jesus zum Gerichtsgebäu<strong>de</strong> gebracht hatten.<br />

Doch als ein Feuerschein auf sein Gesicht fiel, warf die Türhüterin einen prüfen<strong>de</strong>n Blick auf<br />

ihn. Sie hatte ihn mit Johannes kommen sehen, hatte ihm auch seine gedrückte Stimmung gleich<br />

am Gesicht ablesen können und daher vermutet, daß dieser Mann ein Jünger Jesu sei. Sie<br />

gehörte zu <strong>de</strong>n <strong>Die</strong>nerinnen im Hause <strong>de</strong>s Kaiphas und war sehr neugierig. So sprach sie zu<br />

Petrus: „Du warst auch mit <strong>de</strong>m Jesus aus Galiläa.“ Matthäus 26,69. Petrus erschrak und wur<strong>de</strong><br />

verwirrt; alle schauten ihn an. Da tat er so, als hätte er sie nicht verstan<strong>de</strong>n. Doch die Magd<br />

war hartnäckig, und sie sagte zu <strong>de</strong>n Umstehen<strong>de</strong>n, daß dieser Mann mit Jesus zusammen<br />

gewesen war. Petrus fühlte sich dadurch zu einer Antwort genötigt und erwi<strong>de</strong>rte ärgerlich: „Ich<br />

weiß nicht und verstehe nicht, was du sagst.“ Markus 14,68. Das war die erste Verleugnung,<br />

und unmittelbar darauf krähte <strong>de</strong>r Hahn. O Petrus, so bald schon schämst du dich <strong>de</strong>s Meisters,<br />

so bald schon verleugnest du <strong>de</strong>inen Herrn!<br />

484


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Johannes hatte beim Betreten <strong>de</strong>r Gerichtshalle gar nicht erst zu verbergen gesucht, daß er<br />

ein Nachfolger Jesu war. Er mischte sich nicht unter das grobe Volk, das seinen Herrn mit<br />

Schmähungen überhäufte. Es fragte ihn auch niemand; <strong>de</strong>nn er verstellte sich nicht und setzte<br />

sich so keiner Verdächtigung aus. Er wählte sich eine einsame Ecke, wo er <strong>de</strong>r Aufmerksamkeit<br />

<strong>de</strong>s Pöbels verborgen blieb, aber doch Jesus so nahe wie möglich war. Hier konnte er alles<br />

sehen und hören, was beim Verhör seines Herrn vor sich ging.<br />

Petrus hatte sich nicht zu erkennen geben wollen. In<strong>de</strong>m er sich jetzt gleichgültig stellte,<br />

begab er sich auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Fein<strong>de</strong>s und wur<strong>de</strong> eine leichte Beute <strong>de</strong>r Versuchung. Wäre er<br />

berufen wor<strong>de</strong>n für seinen Meister zu kämpfen, er wäre bestimmt ein tapferer Streiter gewesen.<br />

Als man aber mit Verachtung auf ihn schaute, erwies er sich als Feigling. Viele, die <strong>de</strong>n offenen<br />

Kampf für ihren Herrn nicht scheuen, wer<strong>de</strong>n durch Spott und Hohn dahin gebracht, ihren<br />

Glauben zu verleugnen. Durch <strong>de</strong>n Umgang mit Menschen, die sie mei<strong>de</strong>n sollten, lassen sie<br />

sich auf <strong>de</strong>n Weg <strong>de</strong>r Versuchung locken. Sie for<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>n Feind gera<strong>de</strong>zu heraus, sie zu<br />

verführen, und sie sagen und tun schließlich das, woran sie unter an<strong>de</strong>ren Umstän<strong>de</strong>n niemals<br />

schuldig gewor<strong>de</strong>n wären. Der Nachfolger <strong>Christi</strong>, <strong>de</strong>r in unseren Tagen seinen Glauben aus<br />

Furcht vor Lei<strong>de</strong>n und Schmähungen nicht frei bekennt, verleugnet seinen Herrn genauso wie<br />

einst Petrus auf <strong>de</strong>m Hofe <strong>de</strong>s Gerichtshauses.<br />

Petrus versuchte gleichgültig zu scheinen; aber sein Herz litt schwer, als er die grausamen<br />

Schmähungen hörte und die Mißhandlungen sah, die Jesus zu ertragen hatte. Mehr als das: er<br />

war überrascht und ärgerlich zugleich, daß <strong>de</strong>r Herr sich und seine Jünger <strong>de</strong>rart <strong>de</strong>mütigte,<br />

in<strong>de</strong>m er sich solch eine schmachvolle Behandlung gefallen ließ. Um seine wahren Gefühle zu<br />

verbergen, bemühte sich Petrus, seine Verbun<strong>de</strong>nheit mit <strong>de</strong>n Verfolgern Jesu und ihren<br />

unziemlichen Spötteleien erkennen zu lassen. Doch sein Auftreten war unnatürlich, und er<br />

han<strong>de</strong>lte unaufrichtig. Obgleich er versuchte, unbefangen zu re<strong>de</strong>n, gelang es ihm doch nicht,<br />

seinen Unwillen über die auf seinen Meister gehäufte Schmach zu unterdrücken.<br />

Zum zweiten Male richtete sich aller Aufmerksamkeit auf ihn, und er wur<strong>de</strong> abermals<br />

beschuldigt, ein Nachfolger Jesu zu sein. Aber Petrus schwor: „Ich kenne <strong>de</strong>n Menschen<br />

nicht.“ Matthäus 26,72. Noch eine an<strong>de</strong>re Gelegenheit wur<strong>de</strong> ihm gegeben. Es war etwa eine<br />

Stun<strong>de</strong> später, als ihn ein <strong>Die</strong>ner <strong>de</strong>s Hohenpriesters und naher Verwandter <strong>de</strong>s Mannes, <strong>de</strong>m er<br />

das Ohr abgehauen hatte, fragte: „Sah ich dich nicht im Garten bei ihm?“ — „Wahrlich, du bist<br />

einer von ihnen; <strong>de</strong>nn du bist ein Galiläer.“ Johannes 18,26; Markus 14,70. Über diese Worte<br />

wur<strong>de</strong> Petrus zornig. Jesu Jünger waren gera<strong>de</strong> wegen ihrer einwandfreien Sprache bekannt.<br />

Um seine Fragesteller endgültig zu täuschen und um seine angenommene Haltung zu<br />

rechtfertigen, verleugnete Petrus seinen Herrn jetzt unter Fluchen und Schwören. Wie<strong>de</strong>rum<br />

krähte <strong>de</strong>r Hahn. <strong>Die</strong>smal hörte ihn Petrus, und er erinnerte sich <strong>de</strong>r Worte Jesu: „Ehe <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r<br />

Hahn zweimal kräht, wirst du mich dreimal verleugnen.“ Markus 14,30.<br />

Noch während die herabsetzen<strong>de</strong>n Schwüre aus <strong>de</strong>m Mun<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Petrus kamen und das<br />

schrille Krähen <strong>de</strong>s Hahnes in <strong>de</strong>ssen Ohren klang, wandte sich Jesus von <strong>de</strong>n finster<br />

blicken<strong>de</strong>n Richtern ab und schaute seinen armen Jünger voll an. Im gleichen Augenblick<br />

fühlten sich auch <strong>de</strong>s Petrus Augen zu seinem Meister hingelenkt. Jesu Angesicht drückte tiefes<br />

485


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Mitleid und großen Kummer aus; kein Zorn war in ihm zu lesen. Der Anblick jenes bleichen,<br />

gequälten Antlitzes, jener beben<strong>de</strong>n Lippen und jener erbarmen<strong>de</strong>n und vergeben<strong>de</strong>n Züge<br />

drang ihm gleich einem Stachel tief ins Herz. Das Gewissen war erwacht, die Erinnerung wur<strong>de</strong><br />

lebendig. Petrus dachte an sein vor wenigen Stun<strong>de</strong>n gegebenes Versprechen, seinen Herrn ins<br />

Gefängnis, ja sogar in <strong>de</strong>n Tod zu begleiten. Er erinnerte sich seines Kummers, als <strong>de</strong>r Heiland<br />

ihm beim Abendmahl erzählte, daß er ihn noch in dieser Nacht dreimal verleugnen wür<strong>de</strong>. Eben<br />

erst hatte er erklärt, Jesus nicht zu kennen, doch nun wur<strong>de</strong> ihm in bitterem Schmerz bewußt,<br />

wie gut <strong>de</strong>r Herr ihn kannte und wie genau er in seinem Herzen jene Falschheit gelesen hatte,<br />

die ihm selbst unbekannt geblieben war.<br />

Eine Flut von Erinnerungen überströmte Petrus. <strong>Die</strong> Barmherzigkeit <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s, seine<br />

Freundlichkeit und Langmut, seine Güte und Geduld gegen seine irren<strong>de</strong>n Jünger — all das<br />

kam ihm wie<strong>de</strong>r zum Bewußtsein. Ihm fiel auch Jesu Warnung ein: „Simon, Simon, siehe, <strong>de</strong>r<br />

Satan hat euer begehrt, daß er euch möchte sichten wie <strong>de</strong>n Weizen. Ich aber habe für dich<br />

gebeten, daß <strong>de</strong>in Glaube nicht aufhöre.“ Lukas 22,31.32. Er war entsetzt über seine<br />

Undankbarkeit, seine Falschheit und seinen Meineid. Noch einmal schaute er seinen Heiland an,<br />

und er sah eine frevelhafte Hand erhoben, bereit, Jesus ins Gesicht zu schlagen. Unfähig, diesen<br />

Anblick länger zu ertragen, stürzte er mit bekümmertem Herzen aus <strong>de</strong>m Haus.<br />

Es trieb ihn vorwärts in Einsamkeit und Dunkelheit; er wußte nicht wohin. Schließlich fand<br />

er sich im Garten Gethsemane wie<strong>de</strong>r. <strong>Die</strong> Ereignisse <strong>de</strong>r letzten Stun<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>n wie<strong>de</strong>r in ihm<br />

lebendig. Das lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Antlitz seines Herrn, vom Blutschweiß entstellt und vor Angst völlig<br />

verkrampft, stand ihm wie<strong>de</strong>r vor Augen. In tiefer Reue dachte er daran, daß Jesus allein<br />

geweint und allein im Gebet gerungen hatte, während sie, die in dieser Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Prüfung mit<br />

ihm verbun<strong>de</strong>n sein sollten, schliefen. Er erinnerte sich <strong>de</strong>r ernsten Auffor<strong>de</strong>rung Jesu: „Wachet<br />

und betet, daß ihr nicht in Anfechtung fallet!“ Matthäus 26,41. Noch einmal erlebte er das<br />

Geschehen in <strong>de</strong>r Gerichtshalle. Für sein wun<strong>de</strong>s Herz war es eine Marter zu wissen, daß er zu<br />

<strong>de</strong>r Erniedrigung und zu <strong>de</strong>m Schmerz <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s <strong>de</strong>n größten Beitrag geleistet hatte. An<br />

<strong>de</strong>mselben Platz, an <strong>de</strong>m Jesus in To<strong>de</strong>sangst seine Seele <strong>de</strong>m himmlischen Vater anvertraut<br />

hatte, fiel Petrus auf sein Angesicht nie<strong>de</strong>r und wünschte sich <strong>de</strong>n Tod.<br />

In<strong>de</strong>m Petrus schlief, obwohl Jesus geboten hatte, zu wachen und zu beten, geriet er auf <strong>de</strong>n<br />

Weg <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>. Alle Jünger erlitten einen schweren Verlust, weil sie in dieser kritischen Stun<strong>de</strong><br />

schliefen. Christus kannte die Feuerprobe, durch die sie gehen mußten. Er wußte, wie Satan<br />

wirken wür<strong>de</strong>, um ihre Sinne zu lähmen, damit sie <strong>de</strong>r großen Prüfung unvorbereitet<br />

gegenüberstün<strong>de</strong>n. Aus diesem Grund hatte er sie gewarnt. Hätten sie diese Stun<strong>de</strong>n im Garten<br />

Gethsemane gewacht und gebetet, dann wür<strong>de</strong> sich Petrus nicht auf seine eigene schwache<br />

Kraft verlassen haben. Er hätte seinen Herrn nicht verleugnet. Hätten die Jünger mit Christus<br />

während seines Ringens im Garten gewacht, wären sie vorbereitet gewesen, Zeugen seines<br />

Lei<strong>de</strong>ns am Kreuz auf Golgatha zu sein. Sie hätten das Ausmaß seiner unaussprechlichen Qual<br />

annähernd verstan<strong>de</strong>n. Sie wären auch fähig gewesen, sich <strong>de</strong>r Worte zu erinnern, mit <strong>de</strong>nen er<br />

seine Lei<strong>de</strong>n, seinen Tod und seine Auferstehung vorhergesagt hatte. Inmitten <strong>de</strong>r Düsternis<br />

486


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

dieser schwersten Stun<strong>de</strong> hätte mancher Hoffnungsstrahl die Finsternis erhellt und ihren<br />

Glauben gestärkt.<br />

Sobald es Tag war, versammelte sich <strong>de</strong>r Hohe Rat aufs neue, und wie<strong>de</strong>r wur<strong>de</strong> Jesus in <strong>de</strong>n<br />

Versammlungsraum gebracht. Er hatte erklärt, <strong>de</strong>r Sohn Gottes zu sein, und seine Verfolger<br />

hatten dieses Bekenntnis in eine Anklage gegen ihn selbst umgemünzt. Auf Grund <strong>de</strong>ssen<br />

konnten sie ihn aber nicht verurteilen, <strong>de</strong>nn viele <strong>de</strong>r Ratsmitglie<strong>de</strong>r hatten an <strong>de</strong>m nächtlichen<br />

Verhör nicht teilgenommen und <strong>de</strong>shalb seine Worte nicht gehört. Außer<strong>de</strong>m wußten sie sehr<br />

genau, daß das römische Gericht an diesen Worten nichts fin<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>, was eine To<strong>de</strong>sstrafe<br />

rechtfertigen könnte. Doch wenn sie alle Zeugen seiner eigenen Worte wären, dann könnte ihr<br />

Vorhaben noch Erfolg haben. Seinem Anspruch, <strong>de</strong>r Messias zu sein, wür<strong>de</strong>n sie ein<br />

aufrührerisches, politisches Ziel unterstellen.<br />

„Bist du <strong>de</strong>r Christus, so sage es uns!“ fragten sie ihn. Aber Christus schwieg. Mit immer<br />

neuen Fragen drangen die Priester in ihn. Schließlich antwortete er ihnen mit trauriger Stimme:<br />

„Sage ich‘s euch, so glaubet ihr‘s nicht; frage ich aber, so antwortet ihr nicht.“ Um ihnen aber<br />

je<strong>de</strong>n Rechtfertigungsgrund zu nehmen, fügte er hinzu: „Von nun an wird <strong>de</strong>s Menschen Sohn<br />

sitzen zur rechten Hand <strong>de</strong>r Kraft Gottes.“ „Bist du <strong>de</strong>nn Gottes Sohn?“ fragten sie darauf wie<br />

aus einem Mun<strong>de</strong>, und er antwortete ihnen: „Ihr sagt‘s, ich bin‘s.“ Sie aber riefen: „Was<br />

bedürfen wir weiter Zeugnis? Wir haben‘s selbst gehört aus seinem Mun<strong>de</strong>.“ Lukas 22,67-<br />

71. So wur<strong>de</strong> Jesus zum drittenmal von <strong>de</strong>n jüdischen Obersten zum To<strong>de</strong> verurteilt. Alles, was<br />

sie jetzt noch brauchten, war, so dachten sie, daß die Römer das Urteil bestätigten und ihnen<br />

<strong>de</strong>n Herrn auslieferten. Dann kam es zum drittenmal zu Mißhandlungen und Schmähungen, die<br />

noch schlimmer waren als jene, die Jesus von <strong>de</strong>m unwissen<strong>de</strong>n Pöbel hinnehmen mußte. <strong>Die</strong>s<br />

alles geschah in <strong>de</strong>r Gegenwart <strong>de</strong>r Priester und Obersten und mit ihrer Billigung. Je<strong>de</strong>s Gefühl<br />

<strong>de</strong>r Teilnahme o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Menschlichkeit hatte sie verlassen. Reichten ihre Argumente nicht aus,<br />

seine Stimme zum Schweigen zu bringen, sie hatten an<strong>de</strong>re Waffen, solche wie sie zu allen<br />

Zeiten angewandt wur<strong>de</strong>n, um An<strong>de</strong>rsgläubige zum Verstummen zu bringen — Lei<strong>de</strong>n,<br />

Gewalttat und Tod.<br />

Als das Urteil gegen Jesus von <strong>de</strong>n Richtern verkün<strong>de</strong>t war, bemächtigte sich <strong>de</strong>s Volkes<br />

eine satanische Wut. Das Geschrei ihrer Stimmen glich <strong>de</strong>m Brüllen wil<strong>de</strong>r Tiere. <strong>Die</strong> Menge<br />

stürzte auf <strong>de</strong>n Herrn zu und rief: „Er ist es To<strong>de</strong>s schuldig.“ Matthäus 26,66. Wären nicht die<br />

römischen Soldaten gewesen, Jesus hätte nicht mehr lebendig ans Kreuz geschlagen wer<strong>de</strong>n<br />

können. Er wäre vor seinen Richtern zerrissen wor<strong>de</strong>n, wür<strong>de</strong>n nicht die Römer<br />

dazwischengetreten sein und mit Waffengewalt die Ausschreitungen <strong>de</strong>s Pöbels verhin<strong>de</strong>rt<br />

haben.<br />

Heidnische Männer ärgerten sich über die brutale Behandlung <strong>de</strong>ssen, <strong>de</strong>m keine Schuld<br />

hatte nachgewiesen wer<strong>de</strong>n können. <strong>Die</strong> römischen Offiziere erklärten, die Ju<strong>de</strong>n hätten mit <strong>de</strong>r<br />

Verurteilung Jesu nicht nur gegen die römische Macht verstoßen, son<strong>de</strong>rn auch gegen das<br />

jüdische Gesetz, das ein<strong>de</strong>utig verbiete, einen Menschen auf Grund seiner eigenen Aussage zum<br />

To<strong>de</strong> zu verurteilen. <strong>Die</strong>ser Einwand ließ die Verhandlungen vorübergehend ins Stocken<br />

geraten, doch die jüdischen Obersten fühlten we<strong>de</strong>r Schan<strong>de</strong> noch Scham. Priester und Oberste<br />

487


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

vergaßen die Wür<strong>de</strong> ihres Amtes und beleidigten <strong>de</strong>n Sohn Gottes durch gemeine Re<strong>de</strong>nsarten.<br />

Sie verhöhnten ihn wegen seiner Geburt, und sie erklärten, daß seine Anmaßung, sich selbst als<br />

Messias auszugeben, <strong>de</strong>n schimpflichsten Tod verdient hätte. <strong>Die</strong> wüstesten Gesellen waren<br />

dabei, <strong>de</strong>n Heiland auf infame Weise zu mißhan<strong>de</strong>ln. Ein altes Gewand wur<strong>de</strong> über seinen Kopf<br />

geworfen, und seine Verfolger schlugen ihn ins Gesicht und riefen dabei: „Weissage uns,<br />

Christe, wer ist‘s <strong>de</strong>r dich schlug?“ Matthäus 26,68. Als ihm das Tuch wie<strong>de</strong>r abgenommen<br />

wur<strong>de</strong>, spie ein heruntergekommener Bösewicht <strong>de</strong>m Herrn ins Angesicht.<br />

<strong>Die</strong> Engel Gottes verzeichneten gewissenhaft je<strong>de</strong>n beleidigen<strong>de</strong>n Blick, je<strong>de</strong>s Wort und je<strong>de</strong><br />

Tat, die gegen ihren Herrn gerichtet waren. Einst wer<strong>de</strong>n alle, die das stille, bleiche Antlitz<br />

<strong>Christi</strong> verhöhnten und besu<strong>de</strong>lten, dieses Antlitz in einer Herrlichkeit erblicken, die glanzvoller<br />

leuchtet als die Sonne.<br />

488


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 76: Judas<br />

<strong>Die</strong> Geschichte <strong>de</strong>s Judas zeigt das traurige En<strong>de</strong> eines Lebens, das ebensogut bei Gott hätte<br />

Annahme fin<strong>de</strong>n können. Wäre Judas vor seiner letzten Reise nach Jerusalem gestorben, dann<br />

hätte man ihn nicht nur als einen Mann angesehen, würdig eines Platzes unter <strong>de</strong>n Zwölfen,<br />

son<strong>de</strong>rn man hätte ihn auch stark vermißt. Der Abscheu, <strong>de</strong>r sich in allen Jahrhun<strong>de</strong>rten mit<br />

seinem Namen verband, wäre ohne die Geschehnisse am En<strong>de</strong> seines Lebens gar nicht erst<br />

aufgekommen. Aber sein wahres Wesen wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Welt enthüllt, all <strong>de</strong>nen zur Warnung, die<br />

gleich ihm an heiligen Gütern zum Verräter wer<strong>de</strong>n sollten. Kurz vor <strong>de</strong>m Passahfest hatte<br />

Judas seinen Vertrag mit <strong>de</strong>n Priestern erneuert, um ihnen Jesus in die Hän<strong>de</strong> zu spielen. Es war<br />

verabre<strong>de</strong>t wor<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n Heiland an einem <strong>de</strong>r einsamen Orte, wo er gewöhnlich einige Zeit in<br />

tiefem Nach<strong>de</strong>nken und im Gebet verbrachte, gefangenzunehmen. Seit <strong>de</strong>m Fest im Hause<br />

Simons war Judas Gelegenheit gegeben, über sein Vorhaben nachzu<strong>de</strong>nken, das auszuführen er<br />

sich verpflichtet hatte; doch seine Absicht blieb unverän<strong>de</strong>rt. Für dreißig Silberlinge — <strong>de</strong>n<br />

Preis für einen Sklaven — überantwortete er <strong>de</strong>n Herrn <strong>de</strong>r Herrlichkeit <strong>de</strong>r Schmach und <strong>de</strong>m<br />

To<strong>de</strong>.<br />

Judas hatte von Natur aus eine beson<strong>de</strong>re Vorliebe für Geld; aber er war nicht immer so<br />

schlecht gewesen, um einer solchen Tat wie dieser fähig zu sein. Er hatte <strong>de</strong>n bösen Geist <strong>de</strong>r<br />

Habsucht so lange genährt, bis dieser die beherrschen<strong>de</strong> Antriebskraft seines Lebens wur<strong>de</strong>. <strong>Die</strong><br />

Liebe zum Mammon gewann die Oberhand über die Liebe zu Christus. In<strong>de</strong>m er zum Sklaven<br />

eines Lasters wur<strong>de</strong>, gab er sich selbst in die Hän<strong>de</strong> Satans, um in allen Sün<strong>de</strong>n versucht zu<br />

wer<strong>de</strong>n. Judas hatte sich <strong>de</strong>n Jüngern angeschlossen, als Jesus eine große Menge nachfolgte.<br />

<strong>Die</strong> Lehren <strong>de</strong>s Meisters bewegten die Herzen <strong>de</strong>r Menschen, als sie im Innersten überwältigt<br />

seinen Worten lauschten, die er in <strong>de</strong>r Synagoge, am Meeresufer und am Bergeshang zu ihnen<br />

sprach. Judas erlebte, wie Kranke, Lahme und Blin<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>n Städten zu Jesus strömten. Er sah,<br />

wie Sterben<strong>de</strong> ihm zu Füßen gelegt wur<strong>de</strong>n. Er war Zeuge <strong>de</strong>r machtvollen Bekundungen <strong>de</strong>s<br />

Heilan<strong>de</strong>s, wenn er die Kranken heilte, die Teufel austrieb und die Toten auferweckte. Er spürte<br />

an sich selbst die Macht Jesu und war sich bewußt, daß Jesu Lehren alles überragten, was er<br />

bisher gehört hatte.<br />

Er liebte <strong>de</strong>n großen Lehrer und sehnte sich danach, bei ihm zu sein. Er hatte das Verlangen,<br />

daß sein Wesen und sein Leben umgewan<strong>de</strong>lt wür<strong>de</strong>n, und er hoffte dies durch seine<br />

Verbindung mit Jesus zu erleben. Der Heiland wies Judas nicht zurück. Er gab ihm einen Platz<br />

unter <strong>de</strong>n Zwölfen, vertraute ihm das Amt eines Evangelisten an und stattete ihn aus mit <strong>de</strong>r<br />

Kraft, Kranke zu heilen und Teufel auszutreiben. Dennoch konnte sich Judas nicht überwin<strong>de</strong>n,<br />

völlig in Christus aufzugehen. We<strong>de</strong>r gab er seinen weltlichen Ehrgeiz auf noch seine Liebe<br />

zum Geld. Obgleich er das Amt eines <strong>Die</strong>ners <strong>Christi</strong> annahm, überließ er sich nicht <strong>de</strong>m<br />

göttlichen Einfluß. Er war <strong>de</strong>r Ansicht, sich ein eigenes Urteil und eine eigene Meinung<br />

bewahren zu können, und hegte damit die Neigung, an<strong>de</strong>re zu kritisieren und anzuklagen.<br />

Unter <strong>de</strong>n Jüngern war Judas hoch geachtet, und er übte großen Einfluß auf sie aus. Er hatte<br />

eine hohe Meinung von seinen Fähigkeiten und glaubte sich seinen Brü<strong>de</strong>rn an Urteilskraft und<br />

489


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Talent stark überlegen. Er meinte, sie wür<strong>de</strong>n die sich ihnen bieten<strong>de</strong>n Gelegenheiten nicht<br />

erkennen und keinen Vorteil daraus ziehen. <strong>Die</strong> christliche Gemein<strong>de</strong> könne mit solch<br />

kurzsichtigen Männern an <strong>de</strong>r Spitze nicht ge<strong>de</strong>ihen. Petrus war ungestüm; er wür<strong>de</strong> oft ohne<br />

Überlegung han<strong>de</strong>ln. Johannes, <strong>de</strong>r <strong>Christi</strong> Lehre in sich aufnahm und bewahrte, war in Judas‘<br />

Augen ein schlechter Haushalter. Matthäus, <strong>de</strong>ssen Erziehung ihn gelehrt hatte, in allen Dingen<br />

peinlich genau zu sein, legte größten Wert auf Rechtschaffenheit. Er dachte stets über alle<br />

Worte <strong>Christi</strong> gründlich nach und vertiefte sich <strong>de</strong>rart darein, daß ihm nach Meinung <strong>de</strong>s Judas<br />

keine Aufträge anvertraut wer<strong>de</strong>n konnten, die Scharfsinn und Weitblick verlangten. In dieser<br />

Weise nahm sich Judas alle Jünger vor, und er schmeichelte sich, daß <strong>de</strong>r Jüngerkreis oft in<br />

Verwirrung und Verlegenheit geraten wäre, wenn es ihn mit seiner Fähigkeit als guten<br />

Haushalter nicht gegeben hätte. Er war <strong>de</strong>r Überzeugung, daß niemand ihm das Wasser reichen<br />

konnte. Nach seinem eigenen Urteil hielt er sich für eine Zier<strong>de</strong> dieses Kreises;<br />

<strong>de</strong>mentsprechend war seine Haltung.<br />

Judas war blind gegenüber seinen Charakterschwächen, und Jesus wies ihm einen Platz an,<br />

wo es ihm möglich gewesen wäre, seine Mängel zu erkennen und zu bekämpfen. Als<br />

Schatzmeister <strong>de</strong>r Jünger mußte er für die leiblichen Bedürfnisse dieser kleinen Gemeinschaft<br />

sorgen und auch die Not <strong>de</strong>r Armen lin<strong>de</strong>rn. Als Jesus in <strong>de</strong>m Raum, wo sie das Passahmahl<br />

einnahmen, zu ihm sagte: „Was du tust, das tue bald!“ (Johannes 13,27), glaubten die Jünger,<br />

Jesus hätte ihm geboten, etwas für das Fest einzukaufen o<strong>de</strong>r aber <strong>de</strong>n Armen eine Gabe<br />

zukommen zu lassen. Durch <strong>de</strong>n <strong>Die</strong>nst für an<strong>de</strong>re hätte Judas einen selbstlosen Geist<br />

entwickeln können; doch während er täglich <strong>de</strong>n Lehren Jesu zuhörte und Zeuge <strong>de</strong>ssen<br />

uneigennützigen Wan<strong>de</strong>ls war, nährte er seine habgierigen Neigungen. <strong>Die</strong> kleinen Beträge, die<br />

durch seine Hän<strong>de</strong> gingen, waren für ihn eine ständige Versuchung. Oft, wenn er <strong>de</strong>m Herrn<br />

einen kleinen <strong>Die</strong>nst erwiesen o<strong>de</strong>r seine Zeit auf religiöse Dinge verwandt hatte, nahm er sich<br />

selbst seinen Lohn aus <strong>de</strong>r beschei<strong>de</strong>nen Kasse. Ihm dienten solche Gelegenheiten als Vorwand,<br />

seine Handlungsweise zu entschuldigen; in Gottes Augen aber war er ein <strong>Die</strong>b.<br />

<strong>Christi</strong> oft wie<strong>de</strong>rholte Feststellung, daß sein Reich nicht von dieser Welt sei, ärgerte Judas.<br />

So hatte er bereits einen Plan entworfen, nach <strong>de</strong>m zu han<strong>de</strong>ln er von Jesus erwartete. Ein Teil<br />

dieses Planes bestand darin, Johannes <strong>de</strong>n Täufer aus <strong>de</strong>m Gefängnis zu befreien; aber siehe,<br />

Johannes blieb eingekerkert und wur<strong>de</strong> enthauptet. Und Jesus, statt sein königliches Recht zu<br />

wahren und <strong>de</strong>n Tod <strong>de</strong>s Täufers zu rächen, zog sich mit <strong>de</strong>n Jüngern an einen ländlichen Ort<br />

zurück. Judas wünschte ein schneidigeres Vorgehen. Er glaubte, daß sie ihre Aufgabe<br />

be<strong>de</strong>utend erfolgreicher lösen könnten, wenn Jesus sie nicht immer davon abhielte, ihre Pläne<br />

durchzuführen. Er bemerkte die zunehmen<strong>de</strong> Feindseligkeit <strong>de</strong>r jüdischen Oberen und mußte<br />

erleben, daß ihr Verlangen, von Christus ein göttliches Zeichen zu sehen, unbeachtet blieb. Sein<br />

Herz öffnete sich <strong>de</strong>m Unglauben, und Satan säte Gedanken <strong>de</strong>s Zweifels und <strong>de</strong>r Auflehnung.<br />

Warum hielt sich Jesus so lange mit <strong>de</strong>n Dingen auf, die entmutigend waren? Warum weissagte<br />

er von Prüfungen und Verfolgungen, die ihn und seine Jünger treffen sollten? Ihn, Judas, hatte<br />

doch hauptsächlich die Aussicht auf eine einflußreiche Stellung in <strong>de</strong>m neuen Königreich<br />

bewogen, für die Sache <strong>Christi</strong> einzutreten. Sollten seine Hoffnungen enttäuscht wer<strong>de</strong>n? Judas<br />

490


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

hatte keineswegs entschie<strong>de</strong>n, daß Jesus nicht Gottes Sohn sei, aber er zweifelte und suchte<br />

nach einer Erklärung für <strong>de</strong>s Herrn mächtige Taten.<br />

Ungeachtet <strong>de</strong>r Äußerungen Jesu verbreitete Judas fortgesetzt die I<strong>de</strong>e, daß Jesus als König<br />

in Jerusalem herrschen wer<strong>de</strong>. Bei <strong>de</strong>r Speisung <strong>de</strong>r Fünftausend versuchte er sie sogar zu<br />

verwirklichen. Er half bei <strong>de</strong>r Verteilung <strong>de</strong>r Speise an die hungrige Menge und konnte dabei<br />

wahrnehmen, welche Wohltat darin liegt, an<strong>de</strong>ren zu geben. Er fühlte die Befriedigung, die<br />

einen stets im <strong>Die</strong>nst für Gott überkommt. Auch half er mit, die Kranken und Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n, die<br />

sich in <strong>de</strong>r Menge befan<strong>de</strong>n, zu Christus zu führen. Hierbei erkannte er, welche Erleichterung<br />

und wieviel Freu<strong>de</strong> und Frohsinn durch die heilen<strong>de</strong> Kraft <strong>de</strong>s Erlösers in Menschenherzen<br />

einziehen können. Hier hätte er die Handlungsweise Jesu verstehen lernen können; aber durch<br />

seine selbstsüchtigen Wünsche war er völlig verblen<strong>de</strong>t. Judas war <strong>de</strong>r erste, <strong>de</strong>r die<br />

Begeisterung <strong>de</strong>r Menge über das Wun<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Speisung ausnutzen wollte; er war es, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n<br />

Plan aufbrachte, Christus mit Gewalt zum König zu machen. Seine Hoffnungen waren<br />

hochgespannt — seine Enttäuschung mußte um so bitterer sein.<br />

Als Jesus in <strong>de</strong>r Schule zu Kapernaum vom Brot <strong>de</strong>s Lebens sprach, ging in Judas eine<br />

entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Wandlung vor sich. Er hörte die Worte: „Wer<strong>de</strong>t ihr nicht essen das Fleisch <strong>de</strong>s<br />

Menschensohnes und trinken sein Blut, so habt ihr kein Leben in euch.“ Johannes 6,53. Judas<br />

begriff hier, daß Jesus mehr geistliche als weltliche Güter vermittelte. Er hielt sich für äußerst<br />

weitblickend und glaubte zu erkennen, daß <strong>de</strong>r Herr keine weltlichen Ehren annehmen wer<strong>de</strong><br />

und <strong>de</strong>n Jüngern keine angesehene Stellung verschaffen könne. Deshalb beschloß er, sich nur so<br />

weit an Christus anzuschließen, daß er sich je<strong>de</strong>rzeit wie<strong>de</strong>r von ihm lossagen konnte. Er nahm<br />

sich vor, wachsam zu sein, und das war er auch!<br />

Von nun an ließ Judas Zweifel laut wer<strong>de</strong>n, die die Jünger verwirrten. Er warf Streitfragen<br />

auf und erweckte zwiespältige Empfindungen, in<strong>de</strong>m er die von <strong>de</strong>n Schriftgelehrten und<br />

Pharisäern gebrauchten Argumente gegen <strong>de</strong>n Anspruch Jesu wie<strong>de</strong>rholte. Alle kleinen und<br />

größeren Unannehmlichkeiten, Nöte und Schwierigkeiten sowie offensichtliche Hin<strong>de</strong>rnisse bei<br />

<strong>de</strong>r Ausbreitung <strong>de</strong>s Evangeliums <strong>de</strong>utete Judas als Beweise gegen die Wahrhaftigkeit <strong>de</strong>r<br />

göttlichen Botschaft. Er führte Schriftstellen an, die mit <strong>de</strong>n von Christus verkündigten<br />

Wahrheiten in gar keiner Verbindung stan<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong>se Schriftworte, aus <strong>de</strong>m Zusammenhang<br />

gerissen, beunruhigten die Jünger und vergrößerten die Entmutigung, unter <strong>de</strong>r sie in<br />

wachsen<strong>de</strong>m Maße litten. <strong>Die</strong>ses Vorgehen <strong>de</strong>s Judas geschah <strong>de</strong>nnoch in einer Weise, daß er<br />

als äußerst gewissenhaft erschien. Während die Jünger nach Zeugnissen suchten, um die Worte<br />

<strong>de</strong>s großen Lehrers zu bestätigen, führte sie Judas unmerklich auf eine an<strong>de</strong>re Bahn. In dieser<br />

frommen und scheinbar klugen Weise stellte er viele Dinge an<strong>de</strong>rs dar als Jesus und unterlegte<br />

<strong>de</strong>ssen Worten eine Be<strong>de</strong>utung, die dieser nie gemeint hatte. Seine Einflüsterungen weckten bei<br />

<strong>de</strong>n Jüngern ehrgeizige Wünsche nach weltlicher Größe und lenkten sie dadurch von <strong>de</strong>n<br />

wichtigen Dingen ab, <strong>de</strong>nen sie sich hätten widmen sollen. Der Streit, wer <strong>de</strong>r Größte unter<br />

ihnen sein sollte, wur<strong>de</strong> gewöhnlich von Judas hervorgerufen.<br />

Als <strong>de</strong>r Heiland <strong>de</strong>n reichen Jüngling mit <strong>de</strong>n Bedingungen <strong>de</strong>r Jüngerschaft bekannt<br />

machte, war Judas unzufrie<strong>de</strong>n und glaubte, daß hier ein Fehler gemacht wor<strong>de</strong>n sei. Wenn sich<br />

491


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

nämlich solche Männer wie dieser Oberste mit <strong>de</strong>n Gläubigen verbän<strong>de</strong>n, dann wür<strong>de</strong>n sie dazu<br />

beitragen, das Werk <strong>Christi</strong> zu för<strong>de</strong>rn. Wür<strong>de</strong> man ihn, Judas, nur einmal als Ratgeber anhören,<br />

er könnte manch einen Vorschlag machen zum Wohl <strong>de</strong>r kleinen Gemein<strong>de</strong>. Seine Grundsätze<br />

und Metho<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>n wohl etwas von <strong>de</strong>n Grundsätzen Jesu abweichen; dafür glaubte er aber<br />

auch, in diesen Angelegenheiten klüger zu sein als <strong>de</strong>r Herr. An allem, was Jesus seinen<br />

Jüngern sagte, war etwas, womit Judas innerlich nicht übereinstimmte. Unter seinem Einfluß<br />

begann <strong>de</strong>r Sauerteig <strong>de</strong>r Unzufrie<strong>de</strong>nheit schnell zu wirken. <strong>Die</strong> Jünger erkannten nicht <strong>de</strong>n<br />

wahren Urheber alles <strong>de</strong>ssen; aber Jesus wußte, daß Satan <strong>de</strong>n Judas stark beeinflußte und<br />

dadurch einen Weg fand, auch die an<strong>de</strong>ren Jünger in seinen Bann zu ziehen. Schon ein Jahr vor<br />

<strong>de</strong>m Verrat <strong>de</strong>s Judas hatte Christus erklärt: „Habe ich nicht euch Zwölf erwählt? Und euer<br />

einer ist ein Teufel.“ Johannes 6,70.<br />

Doch Judas wandte sich nicht offen gegen <strong>de</strong>n Heiland; auch schien er <strong>de</strong>ssen Lehren nicht<br />

anzuzweifeln. Er trat mit seiner Unzufrie<strong>de</strong>nheit erst bei <strong>de</strong>m Fest in Simons Haus offen hervor.<br />

Als Maria die Füße <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s salbte, zeigte sich seine habsüchtige Gesinnung. Der Ta<strong>de</strong>l,<br />

<strong>de</strong>n ihm Jesus daraufhin aussprach, ärgerte ihn sehr. Verletzter Stolz und das Verlangen nach<br />

Rache rissen alle Schranken nie<strong>de</strong>r. <strong>Die</strong> Habgier, <strong>de</strong>r er bisher nachgegeben hatte, beherrschte<br />

ihn jetzt völlig. <strong>Die</strong> gleiche Erfahrung wird je<strong>de</strong>r machen, <strong>de</strong>r sich beharrlich mit <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong><br />

abgibt. Üble Neigungen, <strong>de</strong>nen wir nicht wi<strong>de</strong>rstehen und die wir nicht überwin<strong>de</strong>n, verleiten<br />

dazu, <strong>de</strong>n Versuchungen <strong>de</strong>s Bösen nachzugeben. Der Mensch wird damit ein Gefangener<br />

Satans.<br />

Judas aber war für <strong>de</strong>n Geist <strong>Christi</strong> noch nicht völlig unempfänglich gewor<strong>de</strong>n. Selbst<br />

nach<strong>de</strong>m er sich schon zweimal vorgenommen hatte, <strong>de</strong>n Heiland zu verraten, hätte er noch<br />

Gelegenheit zur Umkehr gehabt. Beim Abendmahl bewies <strong>de</strong>r Heiland seine Göttlichkeit,<br />

in<strong>de</strong>m er die Absicht <strong>de</strong>s Verräters offenbarte. In warmherziger Liebe schloß er <strong>de</strong>nnoch Judas<br />

in <strong>de</strong>n <strong>Die</strong>nst ein, <strong>de</strong>n er seinen Jüngern erwies. Aber auch dieses letzte Liebeswerben beachtete<br />

Judas nicht. Daraufhin war sein Fall entschie<strong>de</strong>n: die Füße, die <strong>de</strong>r Heiland gewaschen hatte,<br />

eilten hinaus, um <strong>de</strong>n Verrat zu vollen<strong>de</strong>n.<br />

Wenn Jesus bestimmt war, gekreuzigt zu wer<strong>de</strong>n, re<strong>de</strong>te Judas sich ein, dann mußte es auch<br />

so kommen. Ob er da <strong>de</strong>n Herrn verriete o<strong>de</strong>r nicht, wür<strong>de</strong> daran nichts än<strong>de</strong>rn. Lag <strong>de</strong>r Tod<br />

Jesu nicht im Plan <strong>de</strong>r Vorsehung, so wäre er wenigstens gezwungen, sich zu befreien. Auf<br />

je<strong>de</strong>n Fall aber wür<strong>de</strong> Judas Gewinn aus seinem Verrat ziehen. Er rechnete, daß er ein gutes<br />

Geschäft gemacht habe, in<strong>de</strong>m er <strong>de</strong>n Herrn verriet. Judas war allerdings nicht <strong>de</strong>r Meinung,<br />

daß sich Jesus gefangennehmen ließe. Durch seinen Verrat wollte er Jesus eine Lehre geben und<br />

ihn veranlassen, ihn, Judas, in Zukunft mit gebühren<strong>de</strong>r Achtung zu behan<strong>de</strong>ln. Judas wußte<br />

nicht, daß er Jesus tatsächlich <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> überantwortete. Wie oft waren, als Jesus in<br />

Gleichnissen re<strong>de</strong>te, die Schriftgelehrten und Pharisäer von seinen treffen<strong>de</strong>n Bil<strong>de</strong>rn<br />

gepackt wor<strong>de</strong>n! Wie oft hatten sie sich ihr eigenes Urteil sprechen müssen! Häufig, wenn die<br />

Wahrheit ihnen durchs Herz ging, waren sie von Zorn erfüllt gewesen und hatten Steine<br />

aufgehoben, um nach <strong>de</strong>m Herrn zu werfen. Doch immer wie<strong>de</strong>r war Jesus ungehin<strong>de</strong>rt von<br />

492


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

ihnen gegangen. Da er schon so vielen Nachstellungen entkommen war, nahm Judas an, daß er<br />

sich gewiß auch diesmal nicht festnehmen lassen wür<strong>de</strong>.<br />

Judas beschloß, es darauf ankommen zu lassen. War Jesus wirklich <strong>de</strong>r Messias, dann wür<strong>de</strong><br />

das Volk, für das er so viel getan hatte, sich um ihn scharen und ihn zum König ausrufen. Das<br />

wür<strong>de</strong> manches Gemüt, das jetzt noch unsicher war, für immer im Glauben festigen. Und er,<br />

Judas, hätte dann <strong>de</strong>n Ruhm, Jesus auf <strong>de</strong>n Thron Davids gehoben zu haben. <strong>Die</strong>se Handlung<br />

wür<strong>de</strong> ihm auch <strong>de</strong>n höchsten Platz nach Christus in <strong>de</strong>m neuen Königreich sichern.<br />

So ging <strong>de</strong>r falsche Jünger hin und verriet seinen Herrn. Als er <strong>de</strong>n Anführern <strong>de</strong>s Pöbels im<br />

Garten sagte: „Welchen ich küssen wer<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r ist‘s, <strong>de</strong>n greifet“ (Matthäus 26,48), war er noch<br />

fest davon überzeugt, daß Christus ihren Hän<strong>de</strong>n entkommen wer<strong>de</strong>. Sollte man ihm später<br />

Vorwürfe machen, dann wür<strong>de</strong> er erklären: Sagte ich euch nicht, ihr solltet ihn greifen? Judas<br />

blickte die Knechte an, wie sie <strong>de</strong>n Herrn auf sein Wort hin fest ban<strong>de</strong>n. Zu seiner Bestürzung<br />

sah er, daß <strong>de</strong>r Heiland sich fortführen ließ. Beunruhigt folgte er ihm vom Garten aus zum<br />

Verhör vor <strong>de</strong>n jüdischen Obersten. Bei je<strong>de</strong>r Bewegung schaute er erwartungsvoll zu ihm hin,<br />

ob Jesus wohl seine Fein<strong>de</strong> überraschen wer<strong>de</strong>, in<strong>de</strong>m er vor ihnen als <strong>de</strong>r Sohn Gottes<br />

erschiene und ihre Anschläge wie ihre ganze Gewalt zunichte machte. Als jedoch Stun<strong>de</strong> um<br />

Stun<strong>de</strong> verrann und Jesus alle auf ihn gehäuften Schmähungen ertrug, überkam <strong>de</strong>n Verräter<br />

schreckliche Angst, und er fragte sich, ob er seinen Herrn in <strong>de</strong>n Tod verkauft habe.<br />

Kurz vor Beendigung <strong>de</strong>s Verhörs konnte Judas die Qual seines schuldbela<strong>de</strong>nen Gewissens<br />

nicht länger ertragen. Plötzlich gellte ein heiserer Schrei, <strong>de</strong>r alle Herzen mit Furcht erfüllte,<br />

durch das Haus: Er ist unschuldig! Gib ihn frei, Kaiphas! Alles blickte auf die hochgewachsene<br />

Gestalt <strong>de</strong>s Judas, <strong>de</strong>r sich durch die aufgeregte Menge drängte. Sein Gesicht war kalkweiß<br />

und wirkte verfallen, große Schweißtropfen stan<strong>de</strong>n auf seiner Stirn. Er stürzte auf <strong>de</strong>n<br />

Richterstuhl zu, warf die dreißig Silberlinge, <strong>de</strong>n Preis für seinen Verrat, <strong>de</strong>m Hohenpriester vor<br />

die Füße, ergriff in ungeduldiger Hast das Gewand <strong>de</strong>s Kaiphas und flehte ihn an, Jesus<br />

freizugeben. Er erklärte, daß dieser nichts getan hätte, was <strong>de</strong>n Tod rechtfertigte. Erbost<br />

schüttelte ihn Kaiphas ab. Doch er war verwirrt und wußte nicht, was er sagen sollte. <strong>Die</strong><br />

Hinterlist <strong>de</strong>r Priester trat klar zutage. Es war augenscheinlich, daß sie <strong>de</strong>n Jünger bestochen<br />

hatten, Jesus zu verraten.<br />

„Ich habe übel getan“, schrie Judas, „daß ich unschuldig Blut verraten habe.“ Aber <strong>de</strong>r<br />

Hohepriester, <strong>de</strong>r sich schnell gefaßt hatte, erwi<strong>de</strong>rte verächtlich: „Was geht uns das an? Da<br />

siehe du zu!“ Matthäus 27,4.5. <strong>Die</strong> Priester waren bereit gewesen, Judas als Werkzeug zu<br />

benutzen; gleichzeitig verachteten sie aber seine niedrige Gesinnung. Als er sich mit seinem<br />

Geständnis an sie wandte, wiesen sie ihn ab. Judas warf sich nun Jesus zu Füßen, anerkannte<br />

ihn als <strong>de</strong>n Sohn Gottes und bat ihn inständig, sich zu befreien. Der Heiland machte seinem<br />

Verräter keine Vorwürfe. Er wußte, daß Judas nicht bereute. Das Geständnis, das sich <strong>de</strong>ssen<br />

schuldbela<strong>de</strong>ner Seele entrang, war nur durch die schreckliche Angst vor <strong>de</strong>r Verdammnis und<br />

<strong>de</strong>m kommen<strong>de</strong>n Gericht erzwungen wor<strong>de</strong>n. Er fühlte jedoch keinen tiefen, herzzerreißen<strong>de</strong>n<br />

Kummer darüber, daß er <strong>de</strong>n Sohn Gottes, <strong>de</strong>r ohne je<strong>de</strong> Schuld war, verraten und <strong>de</strong>n Heiligen<br />

493


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

in Israel verleugnet hatte. Dennoch verdammte ihn Jesus mit keinem Wort, son<strong>de</strong>rn mitleidig<br />

schaute er Judas an und sagte: Wegen dieser Stun<strong>de</strong> bin ich in die Welt gekommen.<br />

Ein Räuspern <strong>de</strong>r Überraschung ging durch die Versammlung. Sie wun<strong>de</strong>rten sich, als sie die<br />

Langmut Jesu mit <strong>de</strong>m Verräter erlebten. <strong>Die</strong>ses Geschehen ließ aufs neue die Überzeugung in<br />

ihnen aufklingen, daß dieser Mensch mehr als ein Sterblicher sei. Doch wenn er Gottes Sohn<br />

sei, so fragten sie sich weiter, warum befreite er sich dann nicht von seinen Ban<strong>de</strong>n und<br />

triumphierte über seine Ankläger? Als Judas erkannte, daß sein Bitten erfolglos blieb, rannte er<br />

aus <strong>de</strong>m Richthause und rief laut: Es ist zu spät! Es ist zu spät! Er fühlte, daß er es nicht<br />

ertragen konnte, <strong>de</strong>n gekreuzigten Jesus ein Leben lang vor sich zu sehen. Verzweifelt ging er<br />

hin und erhängte sich.<br />

Etwas später am gleichen Tage wur<strong>de</strong> auf <strong>de</strong>m Wege vom Palast <strong>de</strong>s Pilatus nach Golgatha<br />

das Geschrei und Gespött all <strong>de</strong>r bösartigen Menschen, die Jesus zur Kreuzigungsstätte<br />

begleiteten, jäh unterbrochen. An einer einsamen Stelle erblickten sie am Fuße eines<br />

abgestorbenen Baumes <strong>de</strong>n Leichnam <strong>de</strong>s Judas. Welch ein abstoßen<strong>de</strong>s Bild! Sein schwerer<br />

Körper hatte <strong>de</strong>n Strick zerrissen, mit <strong>de</strong>m er sich am Baum aufgehängt hatte. Durch <strong>de</strong>n Sturz<br />

war sein Leib aufgeplatzt, und gierig verschlangen ihn die Hun<strong>de</strong>. Seine Überreste wur<strong>de</strong>n<br />

sogleich außer Sichtweite begraben. Von nun an ließ <strong>de</strong>r Spott unter <strong>de</strong>r Volksmenge nach, und<br />

manch ein fahles Gesicht offenbarte die Gedanken <strong>de</strong>s Herzens. Vergeltung schien bereits jene<br />

heimzusuchen, die am Blute Jesu schuldig waren.<br />

494


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 77: Bei Pilatus<br />

In <strong>de</strong>r Gerichtshalle <strong>de</strong>s römischen Landpflegers Pilatus stand Christus als Gefangener, um<br />

ihn herum die Wächter. <strong>Die</strong> Halle füllte sich schnell mit Schaulustigen. Vor <strong>de</strong>m Eingang<br />

fan<strong>de</strong>n sich die Richter <strong>de</strong>s Hohen Rates, Priester, Oberste, Älteste und <strong>de</strong>r Pöbel ein. Nach Jesu<br />

Verurteilung hatten sich die Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Hohen Rates zu Pilatus begeben, damit dieser das<br />

Urteil bestätigte und es vollstrecken ließe. <strong>Die</strong> jüdischen Beamten wollten jedoch die römische<br />

Gerichtshalle nicht betreten, da sie nach ihrem Zeremonialgesetz dadurch verunreinigt wür<strong>de</strong>n<br />

und dann am Passahfest nicht teilnehmen könnten. In ihrer Verblendung erkannten sie nicht,<br />

daß mordsüchtiger Haß ihre Herzen schon verunreinigt hatte. Sie begriffen nicht, daß Jesus das<br />

wahre Passahlamm war und daß das große Fest, seit sie ihn verworfen hatten, für sie längst<br />

be<strong>de</strong>utungslos gewor<strong>de</strong>n war. Als Jesus in das Richthaus geführt wur<strong>de</strong>, blickte ihn Pilatus<br />

unfreundlich an. Man hatte ihn in aller Eile aus seinem Schlafgemach gerufen, und er wollte<br />

sich nun dieses Falles so rasch wie möglich entledigen. Er war gewillt, <strong>de</strong>n Gefangenen mit<br />

gebieterischer Strenge zu behan<strong>de</strong>ln. Er nahm einen ernsten Gesichtsausdruck an und wandte<br />

sich um, <strong>de</strong>n Mann zu mustern, <strong>de</strong>n er verhören sollte und um <strong>de</strong>ssentwillen er zu so früher<br />

Morgenstun<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>m Schlaf geholt wor<strong>de</strong>n war. Ihm war bewußt, daß es sich um jemand<br />

han<strong>de</strong>ln mußte, <strong>de</strong>n die jüdischen Obersten unverzüglich verhört und bestraft sehen wollten.<br />

Pilatus schaute zu <strong>de</strong>n Männern hin, die Jesus bewachten; dann ruhte sein Blick forschend<br />

auf Jesus. Er hatte schon mit Verbrechern aller Art zu tun gehabt; aber noch nie war ein Mensch<br />

zu ihm gebracht wor<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r so viel Güte und natürlichen A<strong>de</strong>l ausstrahlte. Kein Anzeichen<br />

einer Schuld, keinen Ausdruck von Furcht o<strong>de</strong>r Dreistigkeit erkannte er auf <strong>de</strong>ssen Antlitz. Er<br />

sah einen Mann von ruhiger Wesensart und Wür<strong>de</strong> vor sich, <strong>de</strong>ssen Gesichtszüge nicht die<br />

Kennzeichen eines Verbrechers trugen, son<strong>de</strong>rn die eines mit <strong>de</strong>m Himmel verbun<strong>de</strong>nen<br />

Menschen.<br />

<strong>Christi</strong> Erscheinung machte einen guten Eindruck auf Pilatus, <strong>de</strong>ssen bessere Natur sich<br />

angesprochen fühlte. Er hatte von Jesus und seinem Wirken gehört; auch seine Frau hatte ihm<br />

manches über die wun<strong>de</strong>rbaren Taten <strong>de</strong>s galiläischen Propheten mitgeteilt, <strong>de</strong>r die Kranken<br />

heilte und Tote auferweckte. Das alles kam ihm jetzt wie<strong>de</strong>r — gleich einem vergessenen<br />

Traum — zum Bewußtsein. Er entsann sich gewisser Gerüchte, die ihm von verschie<strong>de</strong>nen<br />

Seiten zugegangen waren, und er beschloß, die Ju<strong>de</strong>n zu fragen, welche Anklage sie gegen<br />

diesen Mann vorzubringen hätten. Wer ist dieser Mann, und weshalb habt ihr ihn hergebracht?<br />

fragte er sie. Wessen beschuldigt ihr ihn? <strong>Die</strong> Ju<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>n verwirrt. Da sie sehr wohl wußten,<br />

daß sie ihre gegen Jesus gerichteten Anklagen nicht beweisen konnten, wünschten sie keine<br />

öffentliche Untersuchung. Sie antworteten <strong>de</strong>shalb, er sei ein Betrüger und wer<strong>de</strong> Jesus von<br />

Nazareth genannt.<br />

Pilatus fragte noch einmal: „Was bringet ihr für Klage wi<strong>de</strong>r diesen Menschen?“ <strong>Die</strong> Priester<br />

beantworteten seine Frage nicht, aber mit <strong>de</strong>m, was sie sagten, verrieten sie ihre große<br />

Erregung: „Wäre dieser nicht ein Übeltäter, wir hätten dir ihn nicht überantwortet.“ Johannes<br />

18,29.30. Wenn die Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Hohen Rates, die angesehensten Männer <strong>de</strong>s Volkes, dir<br />

495


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

einen Mann bringen, <strong>de</strong>n sie <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s für würdig halten, ist es dann noch nötig, nach einer<br />

Anklage gegen ihn zu fragen? Auf diese Weise hofften sie Pilatus von ihrer eigenen Wichtigkeit<br />

überzeugen zu können und ihn dadurch zu veranlassen, ihren Wunsch ohne weitere<br />

Förmlichkeit zu erfüllen. Sie waren um eine schnelle Bestätigung ihres Urteilsspruches bemüht;<br />

<strong>de</strong>nn sie wußten, daß das Volk, das <strong>Christi</strong> Wun<strong>de</strong>rtaten erlebt hatte, eine Geschichte erzählen<br />

konnte, die sich wesentlich von <strong>de</strong>n Erdichtungen unterschei<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>, die sie selbst jetzt<br />

vorbrachten.<br />

<strong>Die</strong> Priester waren <strong>de</strong>r Annahme, bei <strong>de</strong>m schwachen, unschlüssigen Pilatus ihre Absichten<br />

ohne Schwierigkeit durchführen zu können; hatte er doch bis dahin To<strong>de</strong>surteile unbe<strong>de</strong>nklich<br />

unterzeichnet und dadurch Menschen <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> überantwortet, die, wie sie wußten, eine solche<br />

Strafe nie verdient hatten. Das Leben eines Gefangenen zählte bei ihm nicht viel; ob jemand<br />

schuldig o<strong>de</strong>r unschuldig war, spielte keine beson<strong>de</strong>re Rolle. So hofften die Priester, er wer<strong>de</strong><br />

auch jetzt das To<strong>de</strong>surteil über Jesus verhängen, ohne ihm noch Gehör zu schenken. Das<br />

erbaten sie sich als eine beson<strong>de</strong>re Gunst anläßlich ihres großen nationalen Festes. Aber Pilatus<br />

sah etwas in <strong>de</strong>m Gefangenen, das ihn von allzu schnellem Han<strong>de</strong>ln zurückhielt. Er wagte nicht,<br />

ihn zu verurteilen. Auch erkannte er die Absicht <strong>de</strong>r Priester. Er erinnerte sich, daß dieser Jesus<br />

erst kürzlich einen Mann namens Lazarus, <strong>de</strong>r schon vier Tage tot gewesen war, wie<strong>de</strong>r<br />

auferweckt hatte; darum beschloß er, erst in Erfahrung zu bringen, worin die Anklagen gegen<br />

ihn bestän<strong>de</strong>n und ob sie bewiesen wer<strong>de</strong>n könnten, ehe er das Urteil unterschriebe.<br />

Wenn euer Urteil berechtigt ist, sagte er, warum bringt ihr diesen Mann dann noch zu mir?<br />

„So nehmet ihr ihn hin und richtet ihn nach eurem Gesetz.“ Johannes 18,31. Auf diese Weise in<br />

die Enge getrieben, konnten die Priester nur antworten, daß sie Jesus bereits verurteilt hätten,<br />

daß <strong>de</strong>r Spruch aber noch seiner Bestätigung bedürfte, damit er rechtskräftig wür<strong>de</strong>. Wie lautet<br />

euer Richterspruch? fragte Pilatus. Wir haben ihn zum To<strong>de</strong> verurteilt, antworteten sie darauf,<br />

doch es ist uns nach <strong>de</strong>m Gesetz nicht erlaubt, die To<strong>de</strong>sstrafe zu vollstrecken. Sie baten ihn,<br />

auf ihr Wort hin <strong>Christi</strong> Schuld anzuerkennen und ihr Urteil zu bestätigen; sie wür<strong>de</strong>n die<br />

Verantwortung dafür auf sich nehmen.<br />

Pilatus war we<strong>de</strong>r ein gerechter noch ein gewissenhafter Richter. Obwohl in seiner inneren<br />

Haltung schwankend, weigerte er sich <strong>de</strong>nnoch, diese Bitte zu gewähren. Er wollte Jesus nicht<br />

verurteilen, bis eine Anklage gegen ihn erhoben wor<strong>de</strong>n wäre. <strong>Die</strong> Priester gerieten in große<br />

Verlegenheit. Sie mußten ihre Heuchelei unter einem undurchdringlichen Deckmantel<br />

verbergen und durften keinesfalls <strong>de</strong>n Anschein erwecken, als sei Jesus aus religiösen Grün<strong>de</strong>n<br />

festgenommen wor<strong>de</strong>n. Eine solche Beweisführung wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Römer nicht anerkennen. Sie<br />

mußten vielmehr glaubhaft machen, daß sich Jesus gegen die Staatsgesetze vergangen habe;<br />

dann erst konnte er als politischer Verbrecher bestraft wer<strong>de</strong>n. Aufruhr und Wi<strong>de</strong>rstand gegen<br />

die römische Staatsgewalt waren bei <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n an <strong>de</strong>r Tagesordnung. <strong>Die</strong> Römer griffen in<br />

solchen Fällen hart durch, und sie waren darauf bedacht, je<strong>de</strong>n Aufstand im Keime zu<br />

ersticken.<br />

Erst wenige Tage zuvor hatten die Pharisäer versucht, <strong>de</strong>m Herrn eine Falle zu stellen, in<strong>de</strong>m<br />

sie ihn fragten: „Ist‘s recht, daß wir <strong>de</strong>m Kaiser Steuer geben, o<strong>de</strong>r nicht?“ Lukas 20,22. Jesus<br />

496


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

aber hatte ihre Heuchelei durchschaut. Einigen Römern, die dabeistan<strong>de</strong>n, war <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utliche<br />

Fehlschlag in <strong>de</strong>n Bemühungen <strong>de</strong>r Verschwörer und <strong>de</strong>ren Unbehagen bei Jesu Antwort nicht<br />

entgangen; <strong>de</strong>nn Jesus hatte ihnen gesagt: „Gebet <strong>de</strong>m Kaiser, was <strong>de</strong>s Kaisers ist, und Gott,<br />

was Gottes ist!“ Lukas 20,25. Jetzt wollten die Priester es so darstellen, als hätte Jesus bei dieser<br />

Gelegenheit das gelehrt, was sie zu hören gehofft hatten. In höchster Verlegenheit riefen sie<br />

falsche Zeugen zu Hilfe und „fingen an, ihn zu verklagen, und sprachen: <strong>Die</strong>sen haben wir<br />

gefun<strong>de</strong>n, wie er unser Volk abwendig macht und verbietet, <strong>de</strong>m Kaiser Steuern zu geben, und<br />

spricht, er sei Christus, ein König“. Lukas 23,2. Das waren drei Anklagen, alle drei ohne je<strong>de</strong><br />

Grundlage. <strong>Die</strong> Priester waren sich darüber durchaus im klaren, doch sie waren sogar bereit,<br />

einen Meineid zu leisten, wenn sie damit ihr Ziel erreichen konnten.<br />

Pilatus aber durchschaute ihre Absichten. Er glaubte nicht, daß <strong>de</strong>r Gefangene sich gegen<br />

<strong>de</strong>n Staat aufgelehnt hatte. Dessen ruhiges und beschei<strong>de</strong>nes Wesen stimmte ganz und gar nicht<br />

mit <strong>de</strong>n Anklagepunkten überein. Pilatus war davon überzeugt, daß es sich hier um eine<br />

nie<strong>de</strong>rträchtige Verschwörung han<strong>de</strong>lte, um einen unschuldigen Menschen zu vernichten, <strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>n jüdischen Wür<strong>de</strong>nträgern im Wege stand. Er wandte sich an Jesus und fragte: „Bist du <strong>de</strong>r<br />

Ju<strong>de</strong>n König?“ Der Heiland aber antwortete: „Du sagst es.“ Matthäus 27,11. Bei diesen Worten<br />

hellte sich sein Angesicht auf, als ob ein Sonnenstrahl darauf schiene. Als Kaiphas und seine<br />

Begleiter diese Antwort vernahmen, riefen sie Pilatus zum Zeugen dafür auf, daß Jesus das<br />

Verbrechen bekannt hätte, <strong>de</strong>ssen er angeklagt wur<strong>de</strong>. Unter lärmen<strong>de</strong>n Zurufen for<strong>de</strong>rten<br />

Priester, Schriftgelehrte und Oberste das To<strong>de</strong>surteil. <strong>Die</strong>se Rufe wur<strong>de</strong>n vom Volk<br />

aufgenommen, und es entstand ein ohrenbetäuben<strong>de</strong>s Geschrei. Das alles verwirrte Pilatus. Als<br />

er sah, daß Jesus seinen Anklägern nicht erwi<strong>de</strong>rte, sagte er zu ihm: „Antwortest du nichts?<br />

Siehe, wie hart sie dich verklagen!“— „Jesus aber antwortete nichts mehr.“ Markus 15,4.5.<br />

Christus, <strong>de</strong>r hinter Pilatus stand und von allen in <strong>de</strong>r Gerichtshalle gesehen wer<strong>de</strong>n konnte,<br />

vernahm die Schmähungen, doch antwortete er mit keinem Wort auf alle diese falschen<br />

Anschuldigungen. Seine ganze Haltung zeugte davon, daß er sich seiner Schuldlosigkeit bewußt<br />

war. Er stand unbewegt angesichts <strong>de</strong>r Wellen entfesselter Wut, die gegen ihn anbran<strong>de</strong>ten. Es<br />

war, als wenn die Wogen <strong>de</strong>s Zorns, höher und höher steigend, <strong>de</strong>n ungestümen Sturzseen <strong>de</strong>s<br />

Ozeans gleich, über ihm zusammenschlugen, ohne ihn überhaupt zu berühren. Jesus stand<br />

schweigend; aber sein Schweigen war voller Beredsamkeit, als ob ein Licht von <strong>de</strong>m inneren<br />

auf <strong>de</strong>n äußeren Menschen fiel.<br />

Pilatus war über das Verhalten Jesu erstaunt. Mißachtet dieser Mann <strong>de</strong>n Gang <strong>de</strong>r<br />

Untersuchung, weil er sein Leben nicht retten will? fragte er sich. Er schaute Jesus an, <strong>de</strong>r Spott<br />

und Mißhandlungen ertrug, ohne sich dagegen aufzulehnen, und empfand, daß dieser Mann<br />

nicht so ungerecht und gottlos sein konnte wie jene lärmen<strong>de</strong>n Priester. In <strong>de</strong>r Hoffnung, von<br />

ihm die Wahrheit zu erfahren und zugleich <strong>de</strong>m Aufruhr <strong>de</strong>r Menge zu entgehen, nahm Pilatus<br />

<strong>de</strong>n Herrn beiseite und fragte ihn noch einmal: „Bist du <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n König?“<br />

Der Heiland beantwortete diese Frage nicht unmittelbar. Er wußte, daß <strong>de</strong>r Heilige Geist an<br />

Pilatus wirkte, und er gab ihm Gelegenheit, seiner Überzeugung Ausdruck zu verleihen.<br />

„Re<strong>de</strong>st du das von dir selbst“, fragte er ihn, „o<strong>de</strong>r haben‘s dir an<strong>de</strong>re von mir<br />

497


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

gesagt?“ Johannes 18,33.34. Mit an<strong>de</strong>ren Worten: Waren es die Anschuldigungen <strong>de</strong>r Priester<br />

o<strong>de</strong>r war es das Verlangen, mehr Licht von Christus zu erhalten, die Pilatus diese Frage<br />

eingaben? Der römische Landpfleger verstand die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Frage <strong>de</strong>s Herrn; aber Stolz<br />

erhob sich in seinem Herzen. Er wollte nicht seine innere Überzeugung offenbaren, die ihn<br />

veranlaßt hatte, <strong>de</strong>n Herrn zu befragen. So sagte er <strong>de</strong>nn: „Bin ich ein Ju<strong>de</strong>? Dein Volk und die<br />

Hohenpriester haben dich mir überantwortet. Was hast du getan?“ Johannes 18,35.<br />

Pilatus hat die gute Gelegenheit, die ihm Gott hiermit gab, ungenutzt vorübergehen lassen;<br />

<strong>de</strong>nnoch erhellte ihm Jesus abermals sein Verständnis. In<strong>de</strong>m er die direkte Beantwortung <strong>de</strong>r<br />

Frage <strong>de</strong>s Pilatus umging, erklärte er ihm <strong>de</strong>utlich seine göttliche Sendung. So gab er <strong>de</strong>m<br />

Römer zu verstehen, daß er nicht nach irdischer Macht gestrebt hatte.<br />

Jesus sagte zu Pilatus: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser<br />

Welt, meine <strong>Die</strong>ner wür<strong>de</strong>n darum kämpfen, daß ich <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n nicht überantwortet wür<strong>de</strong>; aber<br />

nun ist mein Reich nicht von dieser Welt. Da sprach Pilatus zu ihm: So bist du <strong>de</strong>nnoch ein<br />

König? Jesus antwortete: Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt<br />

gekommen, daß ich für die Wahrheit zeugen soll. Wer aus <strong>de</strong>r Wahrheit ist, <strong>de</strong>r höret meine<br />

Stimme.“ Johannes 18,36.37.<br />

Christus bestätigte damit, daß sein Wort ein Schlüssel ist, <strong>de</strong>r allen, die bereit sind, es zu<br />

empfangen, das Geheimnis Gottes erschließt. Es entfaltet eine in ihm selbst liegen<strong>de</strong> Kraft, und<br />

nur so ist es erklärbar, daß sich Jesu Reich <strong>de</strong>r Wahrheit so weit auszu<strong>de</strong>hnen vermochte. Jesus<br />

wollte Pilatus verständlich machen, daß sein verpfuschtes Leben nur erneuert wer<strong>de</strong>n könne,<br />

wenn er die göttliche Wahrheit annehmen und in ihr aufgehen wür<strong>de</strong>. Pilatus hatte <strong>de</strong>n Wunsch,<br />

die Wahrheit kennenzulernen. Er war innerlich beunruhigt und klammerte sich an Jesu Worte.<br />

Sein Herz sehnte sich danach, zu erfahren, was es mit <strong>de</strong>r von Jesus verkündigten Wahrheit auf<br />

sich habe und wie er sie erlangen könne. „Was ist Wahrheit?“ (Johannes 18,38), fragte er <strong>de</strong>n<br />

Herrn. Doch wartete er eine Antwort nicht mehr ab. Der Lärm draußen gemahnte ihn an die<br />

Be<strong>de</strong>utung dieser Stun<strong>de</strong>; <strong>de</strong>nn die Priester verlangten ungestüm eine sofortige Entscheidung.<br />

Er ging zu <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n hinaus und erklärte ihnen mit Nachdruck: „Ich fin<strong>de</strong> keine Schuld an<br />

ihm.“<br />

<strong>Die</strong>se Worte eines heidnischen Richters waren eine vernichten<strong>de</strong> Anklage gegen die<br />

Hinterlist und Falschheit <strong>de</strong>r Obersten in Israel, die <strong>de</strong>n Heiland verklagten. Als die Priester und<br />

Ältesten die Worte <strong>de</strong>s Pilatus hörten, kannten ihre Wut und Enttäuschung keine Grenzen.<br />

Lange hatten sie Pläne geschmie<strong>de</strong>t und auf eine solche Gelegenheit gewartet! Als sie jetzt die<br />

Möglichkeit <strong>de</strong>r Freilassung erkannten, hätten sie Jesus am liebsten in Stücke gerissen. Mit<br />

lauter Stimme klagten sie Pilatus an und drohten ihm mit einem Verweis <strong>de</strong>r römischen<br />

Verwaltung. Sie warfen ihm vor, er habe sich geweigert, diesen Jesus, <strong>de</strong>r sich, so erklärten sie,<br />

gegen <strong>de</strong>n Kaiser erhoben hätte, zu verurteilen.<br />

Erregte Stimmen wur<strong>de</strong>n laut, die behaupteten, daß <strong>de</strong>r aufrührerische Einfluß Jesu doch im<br />

ganzen Land bekannt sei. <strong>Die</strong> Priester riefen: „Er wiegelt das Volk auf damit, daß er lehrt hin<br />

und her im ganzen jüdischen Lan<strong>de</strong> und hat in Galiläa angefangen bis hierher.“ Lukas<br />

498


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

23,5. Pilatus hatte bis dahin nicht die Absicht gehabt, Jesus zu verurteilen; <strong>de</strong>nn er wußte, daß<br />

die Klage <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n nur aus Haß und Vorurteil erfolgt war. Auch kannte er seine Pflicht genau.<br />

<strong>Die</strong> Gerechtigkeit verlangte, Jesus sofort wie<strong>de</strong>r freizulassen; doch fürchtete Pilatus <strong>de</strong>n<br />

Unwillen <strong>de</strong>s Volkes. Weigerte er sich, ihnen Jesus zu überantworten, wür<strong>de</strong> sich ein Tumult<br />

erheben, und diesen scheute er. Als er hörte, daß Jesus aus Galiläa stammte, beschloß er, ihn zu<br />

Hero<strong>de</strong>s zu sen<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n König über jene Provinz, <strong>de</strong>r sich gera<strong>de</strong> in Jerusalem aufhielt. Auf<br />

diese Weise gedachte er die Verantwortung für die Gerichtsverhandlung von sich auf Hero<strong>de</strong>s<br />

zu schieben. Zugleich sah er darin eine gute Gelegenheit, einen alten Streit zwischen ihm und<br />

Hero<strong>de</strong>s zu schlichten. Und so geschah es. <strong>Die</strong> bei<strong>de</strong>n Herrscher schlossen Freundschaft über<br />

<strong>de</strong>m Verhör <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s.<br />

Pilatus übergab Jesus abermals <strong>de</strong>n Soldaten, und unter <strong>de</strong>n Spottrufen und Schmähungen<br />

<strong>de</strong>s Volkes wur<strong>de</strong> er eilends zum Richthause <strong>de</strong>s Hero<strong>de</strong>s gebracht. „Da aber Hero<strong>de</strong>s Jesus<br />

sah, ward er sehr froh.“ Er war noch nie mit <strong>de</strong>m Heiland zusammengetroffen; <strong>de</strong>shalb hätte er<br />

„ihn längst gerne gesehen; <strong>de</strong>nn er hatte von ihm gehört und hoffte, er wür<strong>de</strong> ein Zeichen von<br />

ihm sehen“. Lukas 23,8. <strong>Die</strong>ser Hero<strong>de</strong>s hatte seine Hän<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>m Blut Johannes <strong>de</strong>s Täufers<br />

befleckt. Als er zum ersten Mal von Jesus hörte, sagte er schreckerfüllt: „Johannes, <strong>de</strong>n ich<br />

enthauptet habe, <strong>de</strong>r ist auferstan<strong>de</strong>n“; „<strong>de</strong>shalb wirken in ihm solche Kräfte“. Markus<br />

6,16; Matthäus 14,2. Dennoch wünschte Hero<strong>de</strong>s Jesus kennenzulernen. Nun bot sich die<br />

Gelegenheit, das Leben dieses Propheten zu retten, und <strong>de</strong>r König hoffte, die Erinnerung an das<br />

blutige Haupt, das ihm in einer Schüssel gebracht wor<strong>de</strong>n war, für immer aus seinem<br />

Gedächtnis verbannen zu können. Darüber hinaus wollte er unbedingt seine Neugier<strong>de</strong><br />

befriedigen. Gäbe man Christus irgen<strong>de</strong>ine Aussicht auf Freilassung, wäre er sicherlich bereit,<br />

alles zu tun, worum man ihn bitten wür<strong>de</strong>, so dachte er.<br />

Eine große Schar Priester und Älteste hatte Jesus zu Hero<strong>de</strong>s begleitet. Als <strong>de</strong>r Heiland in<br />

<strong>de</strong>n Palast gebracht wur<strong>de</strong>, klagten ihn diese Wür<strong>de</strong>nträger mit aufgeregter Stimme an. Doch<br />

Hero<strong>de</strong>s schenkte ihren Anklagen wenig Beachtung. Er gebot Schweigen, weil er<br />

selbst Christus Fragen stellen wollte, und befahl, Christus die Fesseln abzunehmen. Gleichzeitig<br />

warf er <strong>de</strong>n Fein<strong>de</strong>n Jesu vor, ihn grob behan<strong>de</strong>lt zu haben. Voller Mitgefühl sah er in das<br />

ruhige Antlitz <strong>de</strong>s Erlösers <strong>de</strong>r Welt und las darin nur Weisheit und Reinheit. Wie Pilatus war<br />

auch er davon überzeugt, daß Christus aus Arglist und Mißgunst angeklagt wur<strong>de</strong>.<br />

Hero<strong>de</strong>s fragte Jesus mancherlei; aber <strong>de</strong>r Heiland bewahrte die ganze Zeit hindurch tiefes<br />

Schweigen. Auf Anordnung <strong>de</strong>s Königs brachte man Kranke und Gebrechliche herein, und<br />

Jesus wur<strong>de</strong> aufgefor<strong>de</strong>rt, seinen Anspruch durch ein Wun<strong>de</strong>r zu rechtfertigen. Hero<strong>de</strong>s sagte<br />

ihm: Man behauptet, du könnest Kranke heilen. Mir ist sehr daran gelegen zu sehen, ob <strong>de</strong>ine<br />

weitverbreitete Berühmtheit sich nicht auf Lügen grün<strong>de</strong>t. Jesus erwi<strong>de</strong>rte nichts, und Hero<strong>de</strong>s<br />

versuchte noch weiter, Jesus zu nötigen: Wenn du für an<strong>de</strong>re Wun<strong>de</strong>r tun kannst, so wirke sie<br />

jetzt zu <strong>de</strong>inem eigenen Besten; das wird dir dienlich sein. Immer wie<strong>de</strong>r for<strong>de</strong>rte er: Zeige uns<br />

durch Zeichen, daß du die Macht hast, die man dir nachsagt. Doch Jesus schien nichts zu hören<br />

und zu sehen. Der Sohn Gottes war Mensch gewor<strong>de</strong>n, und er mußte sich auch so verhalten wie<br />

499


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Menschen in <strong>de</strong>r gleichen Lage. Er wollte kein Wun<strong>de</strong>r wirken, um sich dadurch <strong>de</strong>m Leid und<br />

<strong>de</strong>r Erniedrigung zu entziehen, die Menschen unter ähnlichen Umstän<strong>de</strong>n erdul<strong>de</strong>n mußten.<br />

Hero<strong>de</strong>s versprach <strong>de</strong>m Heiland sogar die Freiheit, wenn er in seiner Gegenwart irgen<strong>de</strong>in<br />

Wun<strong>de</strong>r wirken wür<strong>de</strong>. <strong>Christi</strong> Ankläger hatten mit eigenen Augen die durch göttliche Kraft<br />

vollbrachten machtvollen Taten gesehen. Sie hatten gehört, wie er die Toten aus <strong>de</strong>m Grabe rief<br />

und wie sie, seiner Stimme gehorchend, auferstan<strong>de</strong>n. Furcht ergriff sie, daß er jetzt ein Wun<strong>de</strong>r<br />

vollbringen sollte; <strong>de</strong>nn nichts fürchteten sie so sehr wie eine Äußerung seiner Macht. Eine<br />

<strong>de</strong>rartige Machtbekundung wür<strong>de</strong> ihren Plänen <strong>de</strong>n To<strong>de</strong>sstoß versetzen und sie vielleicht gar<br />

das Leben kosten. In großer Besorgnis schleu<strong>de</strong>rten die Priester und Obersten aufs neue ihre<br />

Anklagen gegen Jesus. Mit lauter Stimme schrien sie: Er ist ein Verbrecher, ein Lästerer! Er<br />

vollbringt seine Wun<strong>de</strong>r durch die ihm von Beelzebub, <strong>de</strong>m Fürsten <strong>de</strong>s Bösen, verliehene<br />

Macht. <strong>Die</strong> Halle bot ein Bild <strong>de</strong>r Verwirrung; einer überschrie <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn.<br />

Das Gewissen <strong>de</strong>s Hero<strong>de</strong>s war bei weitem nicht mehr so empfindlich wie zu jener Zeit, da<br />

er bei <strong>de</strong>r Bitte <strong>de</strong>r Herodias um das Haupt Johannes <strong>de</strong>s Täufers vor Entsetzen gezittert hatte.<br />

Eine Zeitlang war er wegen jener schrecklichen Tat von heftigen Gewissensbissen gequält<br />

wor<strong>de</strong>n, aber sein ausschweifen<strong>de</strong>s Leben hatte im Laufe <strong>de</strong>r Zeit sein sittliches<br />

Empfindungsvermögen immer mehr abstumpfen lassen. Jetzt war sein Herz so verhärtet, daß er<br />

sich sogar <strong>de</strong>r Strafe zu rühmen vermochte, die über Johannes verhängt wor<strong>de</strong>n war, weil dieser<br />

es gewagt hatte, ihn zu ta<strong>de</strong>ln. Er bedrohte Jesus und hielt ihm mehrmals vor, daß er die Macht<br />

hätte, ihn freizulassen o<strong>de</strong>r zu verdammen. Doch Jesus gab durch nichts zu erkennen, daß er<br />

auch nur ein Wort davon gehört hätte.<br />

<strong>Die</strong>ses andauern<strong>de</strong> Schweigen Jesu brachte Hero<strong>de</strong>s auf, da es äußerste Gleichgültigkeit<br />

gegenüber seiner Machtstellung anzu<strong>de</strong>uten schien. Den eingebil<strong>de</strong>ten und prahlerischen König<br />

hätte ein offener Ta<strong>de</strong>l weniger beleidigt, als in dieser Weise nicht beachtet zu wer<strong>de</strong>n. Wie<strong>de</strong>r<br />

bedrohte er ärgerlich <strong>de</strong>n Herrn — doch dieser verharrte still und unbewegt. Es war nicht die<br />

Aufgabe Jesu in dieser Welt, eitle Neugier<strong>de</strong> zu befriedigen; er war vielmehr gekommen, um<br />

die zerbrochenen Herzen zu heilen. Hätte er ein Wort sprechen können, um die Wun<strong>de</strong>n<br />

sün<strong>de</strong>nkranker Menschen zu heilen, er wür<strong>de</strong> bestimmt nicht geschwiegen haben. Aber jenen,<br />

die die Wahrheit unter ihre unheiligen Füße treten wür<strong>de</strong>n, hatte er nichts zu sagen.<br />

Gewiß hätte Christus <strong>de</strong>m Hero<strong>de</strong>s manches mitteilen können, das <strong>de</strong>m innerlich verhärteten<br />

König durch und durch gegangen wäre. Es hätte <strong>de</strong>n König mit Furcht und mit Zittern erfüllt,<br />

wür<strong>de</strong> er ihm seine ganze Sündhaftigkeit und die Schrecken <strong>de</strong>s über ihn hereinbrechen<strong>de</strong>n<br />

Gerichts gezeigt haben. Doch <strong>Christi</strong> Stillschweigen war <strong>de</strong>r härteste Ta<strong>de</strong>l, <strong>de</strong>n er in diesem<br />

Falle austeilen konnte. Hero<strong>de</strong>s hatte die Wahrheit verworfen, die ihm von <strong>de</strong>m größten aller<br />

Propheten vermittelt wor<strong>de</strong>n war; keine an<strong>de</strong>re Botschaft sollte er mehr empfangen. Nicht ein<br />

Wort hatte <strong>de</strong>r Herr <strong>de</strong>s Himmels für ihn. <strong>Die</strong> Ohren, die <strong>de</strong>m menschlichen Leid stets geöffnet<br />

waren, hörten nicht auf die Auffor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s jüdischen Königs. <strong>Die</strong> Augen, die stets in<br />

mitleidsvoller und barmherziger Liebe <strong>de</strong>m reumütigen Sün<strong>de</strong>r zugewandt waren, hatten keinen<br />

Blick für Hero<strong>de</strong>s. <strong>Die</strong> Lippen, die die eindrucksvollsten Wahrheiten verkün<strong>de</strong>t und die zärtlich<br />

500


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

bittend mit <strong>de</strong>n Sündigsten und <strong>de</strong>n am tiefsten Gefallenen gebetet hatten, blieben für <strong>de</strong>n<br />

hochmütigen König, <strong>de</strong>r nicht das Bedürfnis nach einem Heiland spürte, geschlossen.<br />

Das Gesicht <strong>de</strong>s Hero<strong>de</strong>s wur<strong>de</strong> dunkelrot vor Zorn. Sich an das Volk wen<strong>de</strong>nd, klagte er mit<br />

erregter Stimme Jesus als Betrüger an. Zum Herrn sagte er darauf: Wenn du keinen Beweis für<br />

<strong>de</strong>ine Behauptung geben willst, wer<strong>de</strong> ich dich <strong>de</strong>n Soldaten und <strong>de</strong>m Volk ausliefern;<br />

vielleicht wer<strong>de</strong>n sie dich zum Sprechen bringen. Bist du ein Betrüger, dann ist <strong>de</strong>r Tod aus<br />

ihren Hän<strong>de</strong>n nur das Urteil, das du verdienst; bist du aber Gottes Sohn, dann rette dich, in<strong>de</strong>m<br />

du ein Wun<strong>de</strong>r wirkst!<br />

Kaum waren diese Worte gefallen, als ein Sturm gegen Jesus losbrach. Gleich wil<strong>de</strong>n Tieren<br />

stürzte sich die Menge auf ihre Beute. Jesus wur<strong>de</strong> hin und her gerissen, und auch Hero<strong>de</strong>s<br />

folgte <strong>de</strong>r Menge in <strong>de</strong>r Absicht, <strong>de</strong>n Sohn Gottes zu <strong>de</strong>mütigen. Hätten nicht die römischen<br />

Soldaten eingegriffen und die wil<strong>de</strong> Schar zurückgedrängt, <strong>de</strong>r Heiland wäre in Stücke gerissen<br />

wor<strong>de</strong>n. „Hero<strong>de</strong>s mit seinem Hofgesin<strong>de</strong> verachtete und verspottete ihn, legte ihm ein weißes<br />

Kleid an und sandte ihn wie<strong>de</strong>r zu Pilatus.“ Lukas 23,11. <strong>Die</strong> römischen Soldaten beteiligten<br />

sich an diesen Übergriffen. Alle Mißhandlungen, die sich diese boshaften, ver<strong>de</strong>rbten Krieger,<br />

von Hero<strong>de</strong>s und <strong>de</strong>n jüdischen Wür<strong>de</strong>nträgern unterstützt, aus<strong>de</strong>nken konnten, häufte man auf<br />

<strong>de</strong>n Heiland. Dennoch verließ ihn nicht einen Augenblick seine göttliche Geduld.<br />

Jesu Verfolger hatten versucht, sein Wesen an ihrem eigenen Charakter zu messen; sie hatten<br />

ihn als ebenso niedrig und gemein hingestellt, wie sie selbst waren. Doch abgesehen von <strong>de</strong>m<br />

<strong>de</strong>rzeitigen Schauspiel drängte sich vielen ein an<strong>de</strong>res Geschehen auf — ein Bild, das ihnen<br />

eines Tages in aller Herrlichkeit offenbar wer<strong>de</strong>n wird. Einige waren unter ihnen, die in <strong>Christi</strong><br />

Gegenwart zu zittern begannen. Während sich die rohe Volksmenge spottend vor ihm<br />

verbeugte, wandten sich an<strong>de</strong>re erschrocken und wortlos um, ohne ihr Vorhaben ausgeführt zu<br />

haben. Selbst Hero<strong>de</strong>s kam seine Schuld zum Bewußtsein. <strong>Die</strong> letzten Strahlen barmherzigen<br />

Lichtes fielen auf sein durch die Sün<strong>de</strong> verhärtetes Herz. Er fühlte, daß Jesus kein gewöhnlicher<br />

Mensch war; <strong>de</strong>nn göttliches Licht hatte seine Menschlichkeit durchleuchtet. Während Jesus<br />

von Spöttern, Ehebrechern und Mör<strong>de</strong>rn umringt wur<strong>de</strong>, glaubte Hero<strong>de</strong>s einen Gott auf seinem<br />

Thron zu erblicken.<br />

So gefühllos Hero<strong>de</strong>s auch war, er wagte es nicht, das Urteil über Jesus zu bestätigen. Er<br />

wollte sich von dieser schrecklichen Verantwortung befreien und sandte Jesus wie<strong>de</strong>r zum<br />

römischen Richthaus zurück. Pilatus war enttäuscht und sehr unwillig. Als die Ju<strong>de</strong>n mit ihrem<br />

Gefangenen zurückkamen, fragte er sie ungeduldig, was er nach ihrer Meinung noch tun solle.<br />

Er erinnerte sie daran, daß er Jesus bereits verhört und keine Schuld an ihm gefun<strong>de</strong>n habe.<br />

Auch sagte er ihnen, daß sie ihn zwar verklagt hätten, ohne jedoch in <strong>de</strong>r Lage gewesen zu sein,<br />

auch nur einen Anklagepunkt zu beweisen. Er habe Jesus zu Hero<strong>de</strong>s gesandt, <strong>de</strong>m Vierfürsten<br />

in Galiläa — einem Ju<strong>de</strong>n wie sie auch —, doch auch dieser hatte nichts To<strong>de</strong>swürdiges an ihm<br />

fin<strong>de</strong>n können. „Ich will ihn also züchtigen lassen und losgeben.“ Lukas 23,16.<br />

Hier zeigte Pilatus seine Schwäche. Er hatte erklärt, daß Jesus unschuldig sei; <strong>de</strong>nnoch<br />

wollte er ihn um seiner Verkläger willen geißeln lassen. Er war bereit, Grundsätze und<br />

501


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Gerechtigkeit zu opfern, um mit <strong>de</strong>m Volke einen Vergleich zu schließen. Er brachte sich aber<br />

dadurch selbst in eine ungünstige Lage. <strong>Die</strong> Menge rechnete jetzt mit seiner Unentschlossenheit<br />

und for<strong>de</strong>rte dreister das Leben <strong>de</strong>s Gefangenen. Wäre Pilatus anfangs fest geblieben und hätte<br />

er sich geweigert, einen als unschuldig erfun<strong>de</strong>nen Menschen zu verurteilen, dann wür<strong>de</strong> er die<br />

unheilvolle Kette zerbrochen haben, die ihn ein Leben lang an Schuld und Gewissensnot bin<strong>de</strong>n<br />

sollte. Hätte er von Anfang an gemäß seiner Überzeugung gehan<strong>de</strong>lt, wären die Ju<strong>de</strong>n nicht so<br />

anmaßend gewor<strong>de</strong>n, ihm Vorschriften zu machen. Christus wäre getötet wor<strong>de</strong>n; aber die<br />

Schuld hätte nicht auf Pilatus gelastet. Doch nun hatte er Schritt für Schritt sein Gewissen<br />

preisgegeben. Er hatte es unterlassen, gerecht und unparteiisch zu han<strong>de</strong>ln, und fand sich jetzt<br />

nahezu hilflos in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Priester und Obersten. Sein Schwanken und seine<br />

Unentschlossenheit gereichten ihm schließlich zum Ver<strong>de</strong>rben.<br />

Sogar jetzt noch brauchte Pilatus nicht unbesonnen zu han<strong>de</strong>ln. Eine von Gott gesandte<br />

Botschaft warnte ihn vor <strong>de</strong>r Tat, die er im Begriff war zu vollziehen. Auf <strong>Christi</strong> Gebet hin war<br />

die Frau <strong>de</strong>s Pilatus von einem himmlischen Engel aufgesucht wor<strong>de</strong>n, und in einem Traum<br />

hatte sie Jesus erblickt und mit ihm gesprochen. <strong>Die</strong> Frau <strong>de</strong>s Pilatus war keine Jüdin. Als sie<br />

jedoch in ihrem Traum auf Jesus schaute, zweifelte sie nicht im geringsten an seinem Wesen<br />

o<strong>de</strong>r an seiner Sendung. Sie erkannte in ihm <strong>de</strong>n gesalbten Gottes. Sie sah ihn beim Verhör im<br />

Gerichtshaus; sie sah seine Hän<strong>de</strong> gefesselt wie die eines Verbrechers. Sie sah Hero<strong>de</strong>s und<br />

seine Soldaten ihr entsetzliches Werk tun; sie hörte die nei<strong>de</strong>rfüllten, heimtückischen Priester<br />

und Obersten ihn hartnäckig anklagen und vernahm die Worte: „Wir haben ein Gesetz, und<br />

nach <strong>de</strong>m Gesetz muß er sterben.“ Johannes 19,7. Sie sah auch, wie Pilatus ihn geißeln ließ,<br />

nach<strong>de</strong>m er erklärt hatte: „Ich fin<strong>de</strong> keine Schuld an ihm.“ Johannes 18,38. Sie hörte, wie<br />

Pilatus das To<strong>de</strong>surteil sprach, und sah, wie er Christus <strong>de</strong>n Mör<strong>de</strong>rn übergab. Sie sah das<br />

Kreuz auf Golgatha und die Er<strong>de</strong> in Finsternis gehüllt, und sie hörte <strong>de</strong>n geheimnisvollen<br />

Schrei: „Es ist vollbracht!“ Johannes 19,30. Dann schaute sie noch ein an<strong>de</strong>res Bild. Sie<br />

erkannte Jesus auf einer großen, weißen Wolke sitzend, während die Er<strong>de</strong> im Weltraum hin und<br />

her taumelte und seine Mör<strong>de</strong>r vor <strong>de</strong>r Offenbarung seiner Herrlichkeit flohen. Mit einem<br />

Schrei <strong>de</strong>s Entsetzens erwachte sie, und unverzüglich schrieb sie Pilatus eine<br />

Warnungsbotschaft.<br />

Während Pilatus noch überlegte, was er tun solle, drängte sich ein Bote durch die Menge und<br />

übergab ihm das Schreiben seiner Frau, in <strong>de</strong>m es hieß: „Habe du nichts zu schaffen mit diesem<br />

Gerechten; ich habe heute viel erlitten im Traum seinetwegen.“ Matthäus 27,19. Pilatus<br />

erbleichte. Einan<strong>de</strong>r wi<strong>de</strong>rstreben<strong>de</strong> Empfindungen verwirrten ihn. Doch während er noch<br />

entschlußlos zögerte, schürten die Priester und Obersten noch weiter die Erregung <strong>de</strong>s Volkes.<br />

Pilatus war gezwungen zu han<strong>de</strong>ln. Da entsann er sich eines Brauches, <strong>de</strong>r <strong>Christi</strong> Freilassung<br />

gewährleisten könnte. Es war üblich, anläßlich <strong>de</strong>s Passahfestes einen Gefangenen, <strong>de</strong>n das<br />

Volk sich wählen durfte, freizulassen. <strong>Die</strong>ser Brauch war heidnischen Ursprungs und mit <strong>de</strong>m<br />

Grundsatz <strong>de</strong>r Gerechtigkeit völlig unvereinbar; <strong>de</strong>nnoch wur<strong>de</strong> er von <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n sehr<br />

geschätzt.<br />

502


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

In römischem Gewahrsam befand sich zu jener Zeit ein Verbrecher namens Barabbas, <strong>de</strong>r<br />

zum To<strong>de</strong> verurteilt war. <strong>Die</strong>ser Mann hatte sich als Messias ausgegeben. Er hatte behauptet,<br />

die Vollmacht zu besitzen, eine an<strong>de</strong>re Ordnung aufzustellen, um die Welt zu vervollkommnen.<br />

Unter teuflischem Einfluß beanspruchte er, daß alles, was er durch <strong>Die</strong>bstahl und Raub erlangte,<br />

ihm gehöre. Mit satanischer Hilfe hatte er große Dinge vollbracht; er besaß unter <strong>de</strong>m Volk eine<br />

große Anhängerschar und hatte auch einen Aufstand gegen die Römer angezettelt. Unter <strong>de</strong>m<br />

Deckmantel religiöser Begeisterung verbarg sich ein hartherziger, verwegener Schurke,<br />

ausgerichtet allein auf Aufruhr und Grausamkeit. In<strong>de</strong>m Pilatus das Volk vor die Entscheidung<br />

stellte, zwischen diesem Mann und <strong>de</strong>m unschuldigen Heiland zu wählen, wollte er sich an das<br />

Gerechtigkeitsgefühl <strong>de</strong>s Volkes wen<strong>de</strong>n. Er hoffte, trotz <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r Priester und<br />

Obersten ihr Mitgefühl für Jesus gewinnen zu können. So fragte er mit beson<strong>de</strong>rem Ernst, als er<br />

sich <strong>de</strong>r Menge zuwandte: „Welchen wollt ihr, daß ich euch losgebe, Barabbas o<strong>de</strong>r Jesus, von<br />

<strong>de</strong>m gesagt wird, er sei <strong>de</strong>r Christus?“ Matthäus 27,17.<br />

<strong>Die</strong> Antwort <strong>de</strong>s Volkes glich <strong>de</strong>m Brüllen wil<strong>de</strong>r Tiere: „Gib uns Barabbas los!“ Lukas<br />

23,18. Immer stärker schwoll das Schreien an: Barabbas! Barabbas! In <strong>de</strong>r Meinung, das Volk<br />

habe seine Frage nicht verstan<strong>de</strong>n, sagte Pilatus nochmals: „Wollt ihr nun, daß ich euch <strong>de</strong>r<br />

Ju<strong>de</strong>n König losgebe?“ Aber sie schrien wie<strong>de</strong>r: „Nicht diesen, son<strong>de</strong>rn Barabbas!“ Johannes<br />

18,39.40. Pilatus aber fragte dagegen: „Was soll ich <strong>de</strong>nn machen mit Jesus, von <strong>de</strong>m gesagt<br />

wird, er sei <strong>de</strong>r Christus?“ Matthäus 27,22. Wie<strong>de</strong>rum schrie die Menge wie vom Teufel<br />

besessen. Tatsächlich befan<strong>de</strong>n sich böse Geister in menschlicher Gestalt unter <strong>de</strong>n<br />

Versammelten. Wie hätte daher eine an<strong>de</strong>re Antwort als: „Laß ihn kreuzigen!“ (Matthäus<br />

27,22) erwartet wer<strong>de</strong>n können!<br />

Pilatus war bestürzt. Daß es so weit kommen wür<strong>de</strong>, hatte er nicht gedacht. Er schreckte<br />

davor zurück, einen unschuldigen Menschen <strong>de</strong>m schimpflichsten und grausamsten Tod zu<br />

überantworten. Als das Stimmengewirr nachgelassen hatte, wandte er sich an das Volk und<br />

fragte: „Was hat er <strong>de</strong>nn Übles getan?“ Matthäus 27,23. Aber Worte konnten hier keinen<br />

Umschwung mehr hervorrufen. <strong>Die</strong> Menge verlangte nicht mehr einen Beweis für die Unschuld<br />

<strong>Christi</strong>, son<strong>de</strong>rn seinen Tod. Immer noch versuchte Pilatus <strong>de</strong>n Herrn zu retten und wandte sich<br />

<strong>de</strong>shalb zum drittenmal an die Menge: „Was hat <strong>de</strong>nn dieser Übles getan? Ich fin<strong>de</strong> nichts an<br />

ihm, was <strong>de</strong>n Tod verdient hätte; darum will ich ihn züchtigen und losgeben.“ Lukas 23,22.<br />

Aber die Erwähnung seiner Freilassung erregte das Volk bis zum Wahnsinn. Unablässig schrie<br />

es: „Kreuzige ihn! Kreuzige ihn!“ Markus 15,13.14. Der Aufruhr, <strong>de</strong>n Pilatus durch seine<br />

Unentschlossenheit hervorgerufen hatte, schwoll immer mehr an.<br />

Jesus, ermattet, schwach und mit Wun<strong>de</strong>n be<strong>de</strong>ckt, wur<strong>de</strong> gepackt und vor <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>r<br />

Menge gegeißelt. „<strong>Die</strong> Kriegsknechte aber führten ihn hinein in die Burg, das ist ins Richthaus,<br />

und riefen zusammen die ganze Schar, und sie zogen ihm einen Purpur an und flochten eine<br />

Dornenkrone und setzen sie ihm auf und fingen an, ihn zu grüßen: Gegrüßet seist du, <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n<br />

König! Und ... spien ihn an und fielen auf die Knie und huldigten ihm.“ Markus 15,16-19. Von<br />

Zeit zu Zeit ergriffen einige Boshafte das Rohr, das man Jesus in die Hand gegeben hatte, und<br />

503


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

schlugen damit auf die Krone, die seine Stirn drückte, so daß die Dornen in seine Schläfen<br />

drangen und das Blut an Wangen und Bart herabtropfte.<br />

Wun<strong>de</strong>re dich, Himmel! Und staune, Er<strong>de</strong>! Seht die Unterdrücker und <strong>de</strong>n Unterdrückten!<br />

Eine wutentbrannte Menschenmenge umringt <strong>de</strong>n Heiland <strong>de</strong>r Welt! Spott und Hohn mischen<br />

sich mit groben Flüchen und Lästerungen. Seine einfache Herkunft und sein <strong>de</strong>mütiges Leben<br />

wer<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>m gefühllosen Pöbel als Anlaß zur Kritik genommen. Sein Anspruch, <strong>de</strong>r Sohn<br />

Gottes zu sein, wird ins Lächerliche gezogen, und gemeine Scherze und kränken<strong>de</strong>r Hohn<br />

machen die Run<strong>de</strong>.<br />

Satan führte diese unbarmherzige, <strong>de</strong>n Heiland beschimpfen<strong>de</strong> Schar selbst an. Es war seine<br />

Absicht, <strong>de</strong>n Herrn, wenn möglich, zu einem Vergeltungsschlag zu reizen o<strong>de</strong>r ihn dazu zu<br />

bewegen, zu seiner Befreiung ein Wun<strong>de</strong>r zu wirken und auf diese Weise <strong>de</strong>n Erlösungsplan<br />

zunichte zu machen. Ein einziger Makel auf Jesu Leben, ein einmaliges Versagen seiner<br />

menschlichen Natur beim Ertragen dieser furchtbaren Prüfung wür<strong>de</strong> genügen, aus <strong>de</strong>m Lamm<br />

Gottes ein unvollkommenes Opfer zu machen und die Erlösung <strong>de</strong>r Menschheit zu vereiteln.<br />

Aber er, <strong>de</strong>r auf einen Befehl hin die himmlischen Heerscharen hätte zu Hilfe rufen können, er,<br />

<strong>de</strong>r durch eine Offenbarung seiner göttlichen Majestät die Menge hätte veranlassen können, in<br />

panischem Schrecken vor seinem Angesicht zu fliehen — er unterwarf sich in vollkommenem<br />

Schweigen <strong>de</strong>n häßlichsten Beschimpfungen und Ausschreitungen. Jesu Fein<strong>de</strong> hatten als<br />

Beweis seiner Gottheit ein Wun<strong>de</strong>r gefor<strong>de</strong>rt. Weitaus größere Beweise, als sie überhaupt<br />

verlangt hatten, wur<strong>de</strong>n ihnen zuteil. Wie die Grausamkeit seine Peiniger nicht mehr<br />

menschenwürdig erscheinen ließ und sie zum Ebenbil<strong>de</strong> Satans herabzog, so erhoben seine<br />

Sanftmut und Geduld Christus über alles Menschliche hinaus und offenbarten seine<br />

Verwandtschaft mit Gott. Seine Erniedrigung war das Unterpfand seiner Erhöhung. <strong>Die</strong><br />

Blutstropfen seiner Schmerzen, die von seiner verwun<strong>de</strong>ten Schläfe auf Gesicht und Bart<br />

nie<strong>de</strong>rfielen, waren die Bürgschaft seiner Salbung mit <strong>de</strong>m „Öl <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong>“ (Hebräer 1,9) als<br />

unser großer Hoherpriester.<br />

Satans Zorn wuchs, als er erkennen mußte, daß alle gegen <strong>de</strong>n Heiland gerichteten<br />

Schmähungen auch nicht die geringste Äußerung aus seinem Mun<strong>de</strong> erzwingen konnten.<br />

Obwohl Jesus die menschliche Natur angenommen hatte, wur<strong>de</strong> er durch eine göttliche Kraft<br />

unterstützt und wich in keinem Fall von <strong>de</strong>m Willen seines Vaters ab. Als Pilatus Jesus <strong>de</strong>r<br />

Geißelung und Verspottung auslieferte, meinte er, damit das Mitleid <strong>de</strong>r Volksmenge wecken<br />

zu können. Er hoffte, sie wür<strong>de</strong> entschei<strong>de</strong>n, daß diese Bestrafung genüge. Selbst <strong>de</strong>r Haß <strong>de</strong>r<br />

Priester wür<strong>de</strong> nun befriedigt sein, so dachte er. Aber die Ju<strong>de</strong>n erkannten sehr <strong>de</strong>utlich, wie<br />

haltlos eine solche Bestrafung eines Mannes sein mußte, <strong>de</strong>r als unschuldig erklärt wor<strong>de</strong>n war.<br />

Sie durchschauten <strong>de</strong>n Versuch <strong>de</strong>s Pilatus, das Leben <strong>de</strong>s Gefangenen zu retten, und waren fest<br />

entschlossen, eine Freilassung Jesu zu verhin<strong>de</strong>rn. Um uns einen Gefallen zu tun und uns<br />

zufrie<strong>de</strong>nzustellen, hat Pilatus ihn geißeln lassen, so dachten sie. Wir müssen nur mit allem<br />

Nachdruck unser Ziel anstreben, dann wer<strong>de</strong>n wir es am En<strong>de</strong> auch erreichen. Pilatus ließ jetzt<br />

Barabbas zum Richthaus holen. Dann stellte er die bei<strong>de</strong>n Gefangenen nebeneinan<strong>de</strong>r und sagte<br />

504


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

mit ernster Stimme, in<strong>de</strong>m er auf Jesus <strong>de</strong>utete: „Sehet, welch ein Mensch!“ „Sehet, ich führe<br />

ihn heraus zu euch, damit ihr erkennet, daß ich keine Schuld an ihm fin<strong>de</strong>.“ Johannes 19,4.5.<br />

Da stand <strong>de</strong>r Sohn Gottes, angetan mit <strong>de</strong>m Spottgewand und <strong>de</strong>r Dornenkrone. Bis zum<br />

Gürtel entblößt, zeigte sein Rücken lange, entsetzliche Striemen, von <strong>de</strong>nen das Blut in Bächen<br />

herunterrann. Sein Gesicht war blutbefleckt und trug die Zeichen <strong>de</strong>s Lei<strong>de</strong>ns und <strong>de</strong>r<br />

Erschöpfung; aber nie erschien es schöner als gera<strong>de</strong> jetzt. So wie er seinen Fein<strong>de</strong>n<br />

gegenüberstand, war sein Aussehen keineswegs entstellt. Je<strong>de</strong>r Gesichtszug bekun<strong>de</strong>te Sanftmut<br />

und Ergebenheit und zärtliches Erbarmen mit seinen grausamen Fein<strong>de</strong>n. In seinem Wesen lag<br />

nicht etwa feige Schwäche, son<strong>de</strong>rn die Kraft und die Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Langmut. Einen auffälligen<br />

Gegensatz zu ihm bot <strong>de</strong>r Gefangene an seiner Seite. Je<strong>de</strong>r Gesichtszug <strong>de</strong>s Barabbas offenbarte<br />

<strong>de</strong>n verstockten Raufbold, <strong>de</strong>r er war. <strong>Die</strong>ser Unterschied zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Gefangenen<br />

wur<strong>de</strong> allen Zuschauern <strong>de</strong>utlich. Viele von ihnen weinten. Als sie auf Jesus blickten, waren<br />

ihre Herzen voller Mitgefühl. Selbst die Priester und Obersten kamen zu <strong>de</strong>r Überzeugung, daß<br />

seine Haltung völlig seinem göttlichen Anspruch entsprach.<br />

<strong>Die</strong> römischen Soldaten, die Christus umgaben, waren nicht alle rauh und hart; einige von<br />

ihnen suchten aufrichtig in <strong>de</strong>m Antlitz Jesu nach einem Ausdruck, <strong>de</strong>r auf ein verbrecherisches<br />

und allgemeingefährliches Wesen schließen ließe. Ab und zu warfen sie auch einen<br />

geringschätzigen Blick auf Barabbas. Es bedurfte keines beson<strong>de</strong>rs scharfen Blickes, um auf<br />

<strong>de</strong>n Grund seiner Seele schauen zu können. Doch dann ruhten ihre Augen wie<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m<br />

einen, <strong>de</strong>r unter Anklage stand. Der göttliche Dul<strong>de</strong>r besaß ihr ungeteiltes Mitleid. Seine stille<br />

Demut prägte sich ihnen ein wie ein Bild, das niemals mehr verlöschen wür<strong>de</strong>, bis sie ihn<br />

entwe<strong>de</strong>r als Christus angenommen o<strong>de</strong>r, in<strong>de</strong>m sie ihn verwarfen, ihr eigenes Schicksal<br />

besiegelt hätten.<br />

Pilatus war äußerst verwun<strong>de</strong>rt über die grenzenlose Geduld Jesu. Er hatte nicht daran<br />

gezweifelt, daß <strong>de</strong>r Anblick dieses Mannes — im Gegensatz zu Barabbas — die Sympathie <strong>de</strong>r<br />

Ju<strong>de</strong>n erwecken wür<strong>de</strong>. Doch er verstand nicht <strong>de</strong>n lei<strong>de</strong>nschaftlichen Haß <strong>de</strong>r Priester gegen<br />

<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r als das Licht <strong>de</strong>r Welt ihre Finsternis und ihren Irrtum offenbar gemacht hatte. Sie<br />

hatten das Volk zu irrer Wut aufgestachelt, und erneut stimmten Priester, Oberste und das Volk<br />

<strong>de</strong>n entsetzlichen Ruf an: „Kreuzige! kreuzige!“ Da verlor Pilatus die Geduld mit<br />

ihrer vernunftwidrigen Grausamkeit und rief verzweifelt aus: „Nehmt ihr ihn hin und kreuzigt<br />

ihn, <strong>de</strong>nn ich fin<strong>de</strong> keine Schuld an ihm.“ Johannes 19,6. Der an Grausamkeiten gewöhnte<br />

römische Landpfleger hatte Mitleid mit <strong>de</strong>m lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Gefangenen, <strong>de</strong>r — verurteilt und<br />

gegeißelt, mit bluten<strong>de</strong>r Stirn und mit zerschun<strong>de</strong>nem Rücken — selbst jetzt noch die Haltung<br />

eines Königs auf seinem Thron bewahrte. Doch die Priester erklärten: „Wir haben ein Gesetz,<br />

und nach <strong>de</strong>m Gesetz muß er sterben, <strong>de</strong>nn er hat sich selbst zu Gottes Sohn<br />

gemacht.“ Johannes 19,7.<br />

Pilatus erschrak. Er besaß noch keine genaue Vorstellung von Jesus und seiner Aufgabe;<br />

aber in ihm regte sich ein unbestimmbarer Glaube an Gott und an Wesen, die mehr als<br />

Menschen sind. Ein Gedanke, <strong>de</strong>r ihn schon einmal beschäftigt hatte, nahm jetzt <strong>de</strong>utliche<br />

505


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Gestalt an. Er fragte sich, ob dieser Mensch, <strong>de</strong>r vor ihm stand, beklei<strong>de</strong>t mit <strong>de</strong>m Purpur <strong>de</strong>s<br />

Spottes und <strong>de</strong>r Krone aus Dornen, nicht ein göttliches Wesen sein könne.<br />

Erneut ging er zurück in das Richthaus und fragte <strong>de</strong>n Herrn: „Woher bist du?“ Johannes<br />

19,9. Jesus aber antwortete ihm jetzt nicht. Der Heiland hatte offen mit Pilatus gesprochen und<br />

seine Aufgabe als Zeuge für die Wahrheit erläutert; doch Pilatus hatte das Licht verachtet. Er<br />

hatte sein hohes Richteramt mißbraucht, in<strong>de</strong>m er seine Grundsätze und seine Autorität <strong>de</strong>n<br />

For<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Volksmenge opferte. Jesus konnte ihm keine weitere Erkenntnis vermitteln.<br />

Über Jesu Schweigen verärgert, sagte Pilatus hochmütig: „Re<strong>de</strong>st du nicht mit mir? Weißt du<br />

nicht, daß ich Macht habe, dich loszugeben, und Macht habe, dich zu kreuzigen?“<br />

Jesus antwortete: „Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir nicht wäre von oben her<br />

gegeben. Darum: <strong>de</strong>r mich dir überantwortet hat, <strong>de</strong>r hat größere Sün<strong>de</strong>.“ Johannes 19,10.11. So<br />

entschuldigte <strong>de</strong>r mitleidvolle Erlöser inmitten seines größten Lei<strong>de</strong>s und Schmerzes soweit als<br />

möglich die Handlungsweise <strong>de</strong>s römischen Statthalters, <strong>de</strong>r ihn zur Kreuzigung auslieferte.<br />

Welch ein Bild, das <strong>de</strong>r Nachwelt für alle Zeit überliefert wer<strong>de</strong>n sollte! Welch ein Licht wirft<br />

es auf <strong>de</strong>n Charakter <strong>de</strong>ssen, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Richter aller Welt ist! „Darum: <strong>de</strong>r mich dir überantwortet<br />

hat“, sagte Jesus, „<strong>de</strong>r hat größere Sün<strong>de</strong>.“ Damit meinte Jesus <strong>de</strong>n Kaiphas, <strong>de</strong>r als<br />

Hoherpriester das jüdische Volk repräsentierte. <strong>Die</strong> Priester kannten die Grundsätze, die für die<br />

römischen Machthaber galten. Dazu besaßen sie die Erkenntnis aus <strong>de</strong>n Weissagungen, die sich<br />

auf <strong>de</strong>n Messias bezogen, sowie aus seinen eigenen Lehren und seinem Wirken. <strong>Die</strong> jüdischen<br />

Richter hatten unmißverständliche Beweise für die Göttlichkeit <strong>de</strong>ssen erhalten, <strong>de</strong>n sie zum<br />

To<strong>de</strong> verurteilten. Und nach ihrer Erkenntnis wer<strong>de</strong>n sie gerichtet wer<strong>de</strong>n.<br />

<strong>Die</strong> größte Schuld und die schwerste Verantwortung lastete auf <strong>de</strong>nen, die die höchsten<br />

Stellungen im Volke beklei<strong>de</strong>ten, auf <strong>de</strong>n Hütern <strong>de</strong>r heiligen Wahrheiten, die sie in<br />

schimpflicher Weise preisgaben. Pilatus, Hero<strong>de</strong>s und die römischen Soldaten wußten<br />

verhältnismäßig wenig von Jesus. Sie gedachten <strong>de</strong>n Priestern und Obersten einen <strong>Die</strong>nst zu<br />

erweisen, in<strong>de</strong>m sie <strong>de</strong>n Heiland mißhan<strong>de</strong>lten; sie hatten nicht die Erkenntnis, die <strong>de</strong>m<br />

jüdischen Volk in so reichem Maße vermittelt wor<strong>de</strong>n war.<br />

Noch einmal schlug Pilatus vor, <strong>de</strong>n Heiland freizulassen. <strong>Die</strong> Ju<strong>de</strong>n aber schrien: „Läßt du<br />

diesen los, so bist du <strong>de</strong>s Kaisers Freund nicht.“ Johannes 19,12. Auf diese Weise gaben jene<br />

Heuchler vor, auf das Ansehen <strong>de</strong>s Kaisers bedacht zu sein; in Wirklichkeit aber waren sie die<br />

erbittertsten aller Gegner <strong>de</strong>r römischen Herrschaft. Wo ihnen kein Scha<strong>de</strong>n daraus erwuchs,<br />

setzten sie ihre eigenen nationalen und religiösen Belange rücksichtslos durch; wollten sie aber<br />

irgen<strong>de</strong>ine schändliche Tat begehen, dann rühmten sie die Macht <strong>de</strong>s Kaisers. Um die<br />

Vernichtung Jesu zu vollen<strong>de</strong>n, beteuerten sie ihre Ergebenheit gegenüber <strong>de</strong>r frem<strong>de</strong>n Macht,<br />

die sie in Wahrheit verabscheuten.<br />

„Wer sich zum König macht, <strong>de</strong>r ist wi<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Kaiser“ (Johannes 19,12), fügten sie hinzu.<br />

<strong>Die</strong>se Worte berührten Pilatus an einem wun<strong>de</strong>n Punkt. Er war <strong>de</strong>r römischen Regierung bereits<br />

verdächtig und wußte, daß ein <strong>de</strong>rartiger Bericht sein Ver<strong>de</strong>rben be<strong>de</strong>utete. Auch war er sich<br />

darüber im klaren, daß sich <strong>de</strong>r Zorn <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n gegen ihn richten wür<strong>de</strong>, falls er ihre Absichten<br />

506


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

durchkreuzte. Sie wür<strong>de</strong>n nichts unversucht lassen, um sich zu rächen. Pilatus sah sich einem<br />

beson<strong>de</strong>ren Beispiel <strong>de</strong>r Hartnäckigkeit gegenüber, mit <strong>de</strong>r sie <strong>de</strong>m Einen nach <strong>de</strong>m Leben<br />

trachteten, <strong>de</strong>n sie grundlos haßten.<br />

Pilatus nahm nun seinen Richterplatz wie<strong>de</strong>r ein, stellte Jesus noch einmal vor das Volk und<br />

sagte: „Sehet, das ist euer König!“ Wie<strong>de</strong>rum erhob sich ein wüten<strong>de</strong>s Geschrei: „Weg, weg mit<br />

<strong>de</strong>m! Kreuzige ihn!“ Da fragte Pilatus so laut, daß alle ihn verstehen konnten: „Soll ich euren<br />

König kreuzigen?“ Aus gottlosem, lästerlichem Mun<strong>de</strong> kam die Antwort: „Wir haben keinen<br />

König <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>n Kaiser.“ Johannes 19,14.15.<br />

In<strong>de</strong>m die Ju<strong>de</strong>n sich zu einem heidnischen Herrscher bekannten, hatten sie sich von <strong>de</strong>r<br />

Gottesherrschaft losgesagt und Gott als ihren König verworfen. Seit<strong>de</strong>m hatten sie keinen<br />

Befreier, keinen König außer <strong>de</strong>m römischen Kaiser. Dahin hatten die Priester und Obersten das<br />

Volk geführt; sie trugen dafür sowie für die fruchtbaren Folgen die Verantwortung. <strong>Die</strong> Sün<strong>de</strong><br />

und das Ver<strong>de</strong>rben eines ganzen Volkes waren <strong>de</strong>n religiösen Führern zuzuschreiben. „Da aber<br />

Pilatus sah, daß er nichts ausrichtete, son<strong>de</strong>rn vielmehr ein Getümmel entstand, nahm er Wasser<br />

und wusch die Hän<strong>de</strong> vor <strong>de</strong>m Volk und sprach: Ich bin unschuldig an seinem Blut; sehet ihr<br />

zu!“ Matthäus 27,24.<br />

Scheu und voller Vorwürfe gegen sich selbst schaute er auf <strong>de</strong>n Heiland. Von <strong>de</strong>n zahllosen<br />

Gesichtern, die auf ihn gerichtet waren, zeigte allein das Antlitz Jesu inneren Frie<strong>de</strong>n. Von<br />

seinem Haupt schien ein sanftes Licht auszugehen. Pilatus bewegte in seinem Herzen <strong>de</strong>n<br />

Gedanken: Er ist ein Gott! Dann wandte er sich <strong>de</strong>r Menge zu und erklärte: Ich will mit seinem<br />

Blut nichts zu tun haben. Nehmt ihr ihn und kreuzigt ihn. Aber <strong>de</strong>nkt daran, Priester und<br />

Oberste, ich erkläre ihn zu einem gerechten Menschen! Möge <strong>de</strong>r, <strong>de</strong>n er als seinen Vater<br />

anruft, euch und nicht mich für diesen Tag zur Rechenschaft ziehen. Darauf wandte er sich an<br />

Jesus und sagte: Vergib mir diese Tat, aber ich kann dich nicht retten. Und nach<strong>de</strong>m er Jesus<br />

noch einmal hatte geißeln lassen, übergab er ihn <strong>de</strong>m Kreuzestod.<br />

Pilatus hätte Jesus gern freigegeben. An<strong>de</strong>rseits erkannte er, daß er seine Freilassung nicht<br />

durchsetzen durfte, wenn er seine Stellung und sein Ansehen behalten wollte. Lieber opferte er<br />

ein unschuldiges Leben, als daß er seine irdische Machtstellung verlöre. Wie viele opfern in<br />

gleicher Weise ihre Grundsätze, nur um Leid und Verlust zu entgehen! Das Gewissen und die<br />

Pflicht weisen einen an<strong>de</strong>ren Weg als die eigensüchtigen Wünsche. Der Gang <strong>de</strong>r Ereignisse<br />

treibt in die falsche Bahn, doch wer sich mit <strong>de</strong>m Bösen einläßt, wird in <strong>de</strong>n Stru<strong>de</strong>l <strong>de</strong>r Schuld<br />

gerissen.<br />

Pilatus gab <strong>de</strong>n For<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s Volkes nach. Er übergab <strong>de</strong>n Heiland lieber <strong>de</strong>m<br />

Kreuzesto<strong>de</strong>, als Gefahr zu laufen, seine Stellung zu verlieren. Ungeachtet seiner<br />

Vorsichtsmaßnahmen kam das Unglück, das er befürchtete, später <strong>de</strong>nnoch über ihn. Er wur<strong>de</strong><br />

seiner Ehre beraubt und seines hohen Amtes enthoben. Bald nach <strong>de</strong>r Kreuzigung Jesu machte<br />

er, von Gewissensbissen gequält und von verletztem Stolz ge<strong>de</strong>mütigt, seinem Leben ein En<strong>de</strong>.<br />

So wer<strong>de</strong>n alle, die mit <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> Kompromisse schließen, nur Sorgen und Ver<strong>de</strong>rben ernten.<br />

„Manchem scheint ein Weg recht, aber zuletzt bringt er ihn zum To<strong>de</strong>.“ Sprüche 14,12. Als<br />

507


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Pilatus erklärte, daß er unschuldig sei am Blute Jesu, antwortete Kaiphas herausfor<strong>de</strong>rnd: „Sein<br />

Blut komme über uns und unsre Kin<strong>de</strong>r!“ <strong>Die</strong>se schrecklichen Worte wur<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>n Priestern<br />

und Obersten aufgenommen und fan<strong>de</strong>n lauten Wi<strong>de</strong>rhall bei <strong>de</strong>r großen Volksmenge in einem<br />

unmenschlichen Gebrüll. Alle riefen sie: „Sein Blut komme über uns und unsre<br />

Kin<strong>de</strong>r!“ Matthäus 27,25.<br />

Das Volk Israel hatte seine Wahl getroffen. Es hatte auf Jesus hingewiesen und geschrien:<br />

„Hinweg mit diesem und gib uns Barabbas los!“ Lukas 23,18. Barabbas, ein Räuber und<br />

Mör<strong>de</strong>r, war <strong>de</strong>r Vertreter Satans. Christus war <strong>de</strong>r Vertreter Gottes. Barabbas wur<strong>de</strong> erwählt,<br />

Christus verworfen. Sie sollten Barabbas haben. Mit dieser Wahl nahmen sie jenen an, <strong>de</strong>r von<br />

Anbeginn ein Lügner und Mör<strong>de</strong>r war. Satan war ihr Führer. Als Nation wür<strong>de</strong>n sie nach seiner<br />

Weisung han<strong>de</strong>ln. Seine Werke wür<strong>de</strong>n sie tun. Seine Herrschaft mußten sie ertragen. Jene<br />

Menschen, die Barabbas statt Christus wählten, sollten bis zum En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Zeit die Grausamkeit<br />

<strong>de</strong>s Barabbas zu spüren bekommen.<br />

Angesichts <strong>de</strong>s gemarterten Lammes Gottes riefen die Ju<strong>de</strong>n aus: „Sein Blut komme über<br />

uns und unsere Kin<strong>de</strong>r!“ Matthäus 27,25. <strong>Die</strong>ser furchtbare Ruf stieg zum Thron Gottes empor;<br />

dieses selbstgesprochene Urteil wur<strong>de</strong> im Himmel festgehalten; dieser Wunsch wur<strong>de</strong> erhört.<br />

Das Blut <strong>de</strong>s Sohnes Gottes kam über ihre Kin<strong>de</strong>r und Kin<strong>de</strong>skin<strong>de</strong>r als ein ewiger Fluch. Auf<br />

schreckliche Weise erfüllte sich dieser Fluch bei <strong>de</strong>r Zerstörung Jerusalems. Nicht weniger<br />

furchtbar bekun<strong>de</strong>te er sich in <strong>de</strong>m Zustand <strong>de</strong>s jüdischen Volkes während mehr als<br />

achtzehnhun<strong>de</strong>rt Jahren: eine vom Weinstock getrennte Rebe, ein abgestorbener, dürrer Zweig,<br />

dazu da, aufgelesen und verbrannt zu wer<strong>de</strong>n. Von Land zu Land und durch die ganze Welt,<br />

von Jahrhun<strong>de</strong>rt zu Jahrhun<strong>de</strong>rt: tot in Übertretungen und Sün<strong>de</strong>n. Ebenso entsetzlich wird die<br />

Erfüllung jenes Ausrufes am Jüngsten Tage sein. Wenn Christus wie<strong>de</strong>r zur Er<strong>de</strong><br />

hernie<strong>de</strong>rfahren wird, dann wird die Menschheit ihn nicht mehr als einen von einem<br />

Pöbelhaufen umgebenen Gefangenen sehen. Sie wird ihn dann als <strong>de</strong>n Himmelskönig erkennen.<br />

Christus wird in seiner, in seines Vaters und <strong>de</strong>r heiligen Engel Herrlichkeit erscheinen.<br />

Zehntausendmal zehntausend und tausendmal tausend Engel, die schönen und siegreichen<br />

Söhne Gottes, die eine alles übertreffen<strong>de</strong> Lieblichkeit und Pracht besitzen, wer<strong>de</strong>n ihn auf<br />

seinem Weg begleiten. Dann wird er auf <strong>de</strong>m Thron seiner Herrlichkeit sitzen, und alle Völker<br />

wer<strong>de</strong>n um ihn versammelt sein. Je<strong>de</strong>s Auge wird ihn sehen; auch die, „die ihn durchbohrt<br />

haben“. Offenbarung 1,7.<br />

Statt <strong>de</strong>r Dornenkrone wird er die Krone <strong>de</strong>r Herrlichkeit tragen. Statt <strong>de</strong>s verblichenen<br />

purpurnen Königsmantels wird er angetan sein mit Klei<strong>de</strong>rn aus reinstem Weiß, wie „sie kein<br />

Bleicher auf Er<strong>de</strong>n so weiß machen kann“. Markus 9,3. Auf seinem Gewand wird ein Name<br />

geschrieben sein: „König aller Könige und Herr aller Herren.“ Offenbarung 19,16. <strong>Die</strong> ihn<br />

verhöhnt und mißhan<strong>de</strong>lt haben, wer<strong>de</strong>n dabeisein. <strong>Die</strong> Priester und Obersten wer<strong>de</strong>n nochmals<br />

jenes Schauspiel im Gerichtshaus an sich vorüberziehen sehen. Alle Einzelheiten wer<strong>de</strong>n vor<br />

ihnen erscheinen wie mit feurigen Lettern geschrieben. Schließlich wer<strong>de</strong>n jene, die ausriefen:<br />

„Sein Blut komme über uns und unsre Kin<strong>de</strong>r“ (Matthäus 27,25), die Antwort auf ihr Begehren<br />

erhalten. <strong>Die</strong> ganze Welt wird dann wissen, verstehen und erkennen, gegen wen sie als arme,<br />

508


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

schwache und sterbliche Wesen gekämpft haben. In To<strong>de</strong>sangst und Schrecken wer<strong>de</strong>n sie zu<br />

<strong>de</strong>n Bergen und Felsen rufen: „Fallet über uns und verberget uns vor <strong>de</strong>m Angesichte <strong>de</strong>s, <strong>de</strong>r<br />

auf <strong>de</strong>m Thron sitzt, und vor <strong>de</strong>m Zorn <strong>de</strong>s Lammes! Denn es ist gekommen <strong>de</strong>r große Tag<br />

seines Zorns, und wer kann bestehen?“ Offenbarung 6,16.17.<br />

509


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 78: Golgatha<br />

„Als sie kamen an die Stätte, die da heißt Schä<strong>de</strong>lstätte, kreuzigten sie ihn daselbst.“ Lukas<br />

23,33. „Darum hat auch Jesus, damit er heiligte das Volk durch sein eigen Blut, gelitten<br />

draußen vor <strong>de</strong>m Tor.“ Hebräer 13,12. Weil Adam und Eva Gottes Gesetz übertreten hatten,<br />

wur<strong>de</strong>n sie aus <strong>de</strong>m Garten E<strong>de</strong>n verbannt. Christus litt als unser Vertreter außerhalb <strong>de</strong>r<br />

Grenzen Jerusalems. Er starb dort, wo Verbrecher und Mör<strong>de</strong>r hingerichtet wur<strong>de</strong>n: außerhalb<br />

<strong>de</strong>s Tores. Einen tiefen Sinn enthalten die Worte: „Christus aber hat uns erlöst von <strong>de</strong>m Fluch<br />

<strong>de</strong>s Gesetzes, da er ward ein Fluch für uns.“ Galater 3,13.<br />

Eine ungeheure Menschenmenge folgte Jesus vom Gerichtshaus nach Golgatha. <strong>Die</strong><br />

Nachricht von seiner Verurteilung hatte sich in ganz Jerusalem verbreitet, und Menschen aller<br />

Klassen und je<strong>de</strong>n Stan<strong>de</strong>s strömten nach <strong>de</strong>r Richtstätte. <strong>Die</strong> Priester und Obersten hatten<br />

versprechen müssen, Jesu Anhänger nicht zu belästigen, wenn er selbst ihnen ausgeliefert<br />

wür<strong>de</strong>. So schlossen sich auch die Jünger und die Gläubigen aus <strong>de</strong>r Stadt und <strong>de</strong>r Umgebung<br />

<strong>de</strong>r Menge an, die <strong>de</strong>m Heiland folgte.Als Jesus das Tor <strong>de</strong>s Gerichtshauses durchschritten<br />

hatte, wur<strong>de</strong> das für Barabbas vorbereitete Kreuz auf seine wun<strong>de</strong>n und bluten<strong>de</strong>n Schultern<br />

gelegt. Zwei Gefährten <strong>de</strong>s Barabbas sollten zur selben Zeit mit Jesus <strong>de</strong>n Tod erlei<strong>de</strong>n, und<br />

auch ihnen wur<strong>de</strong>n Kreuze aufgelegt.<br />

Dem Heiland war diese Last infolge seines geschwächten und lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Zustan<strong>de</strong>s zu<br />

schwer; <strong>de</strong>nn er hatte seit <strong>de</strong>m Passahmahl mit seinen Jüngern we<strong>de</strong>r Speise noch Trank zu sich<br />

genommen. Er hatte im Garten von Gethsemane mit <strong>de</strong>n Mächten <strong>de</strong>r Finsternis gerungen; er<br />

hatte die Schmach <strong>de</strong>s Verrats ertragen und sehen müssen, wie ihn seine Jünger verließen und<br />

flohen. Er war von Hannas zu Kaiphas, von diesem zu Pilatus, dann zu Hero<strong>de</strong>s und wie<strong>de</strong>r zu<br />

Pilatus geführt wor<strong>de</strong>n. Beleidigungen und Mißhandlungen, Spott und Hohn und die Qualen <strong>de</strong>r<br />

zweimaligen Geißelung — die ganze Nacht hindurch hatten sich die Ereignisse überstürzt, die<br />

dazu angetan waren, einen Menschen bis zum äußersten auf die Probe zu stellen. Christus war<br />

nicht unterlegen. Er hatte kein Wort gesprochen, außer es diente zu Gottes Ehre. Während <strong>de</strong>s<br />

ganzen Verhörs, das nur eine schändliche Posse darstellte, hatte er eine feste, würdige Haltung<br />

bewahrt. Als ihm aber nach <strong>de</strong>r zweiten Geißelung das schwere Kreuz aufgelegt wur<strong>de</strong>,<br />

vermochte die menschliche Natur diese Last nicht mehr zu tragen. Ohnmächtig brach er<br />

zusammen.<br />

<strong>Die</strong> Menge, die <strong>de</strong>m Heiland folgte, sah seine kraftlosen, taumeln<strong>de</strong>n Schritte, aber sie half<br />

ihm nicht, son<strong>de</strong>rn sie verhöhnte und verspottete ihn, weil er das schwere Kreuz nicht tragen<br />

konnte. Aufs neue legte man die Bür<strong>de</strong> auf ihn, und wie<strong>de</strong>r fiel er entkräftet zu Bo<strong>de</strong>n. Da<br />

erkannten seine Peiniger, daß es für ihn unmöglich war, die Last noch weiter zu tragen. Sie<br />

waren darum verlegen, wer die unwürdige Last tragen sollte. Ein Ju<strong>de</strong> durfte es nicht tun; <strong>de</strong>nn<br />

die damit verbun<strong>de</strong>ne Verunreinigung hätte ihn vom Passahmahl ausgeschlossen. Selbst von <strong>de</strong>r<br />

nachfolgen<strong>de</strong>n Menge wür<strong>de</strong> sich niemand so weit erniedrigen, das Kreuz zu tragen. Da<br />

begegnete ein Frem<strong>de</strong>r, Simon von Kyrene, <strong>de</strong>r vom Lan<strong>de</strong> hereinkam, jener großen Schar. Er<br />

vernahm die spöttischen und lästerlichen Re<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Menge; er hörte, wie immerzu verächtlich<br />

510


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

gerufen wur<strong>de</strong>: Platz für <strong>de</strong>n König <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n! Bestürzt betrachtete er dieses Geschehen, und als<br />

er sein Mitgefühl mit Christus äußerte, ergriff man ihn und legte das Kreuz <strong>de</strong>s Herrn auf seine<br />

Schultern.<br />

Simon hatte schon von Jesus gehört. Seine Söhne glaubten an <strong>de</strong>n Heiland; aber er selbst<br />

gehörte nicht zu <strong>de</strong>n Jüngern. Das Tragen <strong>de</strong>s Kreuzes nach Golgatha jedoch wur<strong>de</strong> ihm zum<br />

Segen, und er ist später immer für diese Fügung dankbar gewesen. Sie war <strong>de</strong>r Anlaß, daß er<br />

das Kreuz <strong>Christi</strong> freiwillig auf sich nahm und es stets freudig trug. Nicht wenige Frauen<br />

befin<strong>de</strong>n sich unter <strong>de</strong>r Menge, die <strong>de</strong>m unschuldig Verurteilten zur Kreuzigungsstätte folgt.<br />

Ihre Aufmerksamkeit ist ganz auf Jesus gerichtet. Einige von ihnen haben ihn schon früher<br />

gesehen; manche haben ihre Kranken und Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n zu ihm gebracht o<strong>de</strong>r sind selbst geheilt<br />

wor<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong>se Frauen wun<strong>de</strong>rn sich über <strong>de</strong>n Haß, <strong>de</strong>n die Menge <strong>de</strong>s Volkes <strong>de</strong>m<br />

entgegenbringt, <strong>de</strong>m sie zugetan sind und für <strong>de</strong>n sie sich opfern wür<strong>de</strong>n. Ungeachtet <strong>de</strong>r<br />

Haltung jener rasen<strong>de</strong>n Menschenmenge und <strong>de</strong>r zornigen Worte <strong>de</strong>r Priester und Obersten<br />

geben sie ihrer Zuneigung offen Ausdruck, und sie wehklagen laut, als Jesus unter <strong>de</strong>r Last <strong>de</strong>s<br />

Kreuzes zusammenbricht.<br />

<strong>Die</strong>se Anteilnahme war das einzige, was <strong>Christi</strong> Aufmerksamkeit erregte, obwohl er selbst<br />

tiefstes Leid erdul<strong>de</strong>te, während er die Sün<strong>de</strong>nlast dieser Welt trug, ließ ihn <strong>de</strong>r Ausdruck <strong>de</strong>s<br />

Kummers dieser Frauen nicht gleichgültig. Er blickte sie mit herzlichem Erbarmen an. <strong>Die</strong>se<br />

glaubten nicht an ihn, und er wußte, daß sie ihn nicht als <strong>de</strong>n von Gott Gesandten beweinten,<br />

son<strong>de</strong>rn daß es nur menschliches Mitgefühl war, das sie bekun<strong>de</strong>ten. Er wies ihr Mitgefühl<br />

nicht zurück; es erweckte vielmehr in ihm eine noch größere Anteilnahme für sie. „Ihr Töchter<br />

von Jerusalem“, rief er ihnen zu, „weinet nicht über mich, son<strong>de</strong>rn weinet über euch selbst und<br />

über eure Kin<strong>de</strong>r.“ Lukas 23,28. Von <strong>de</strong>n vor seinen Augen sich abspielen<strong>de</strong>n Geschehnissen<br />

ausgehend, dachte Christus an die Zerstörung Jerusalems. Während jener schrecklichen Zeit<br />

wür<strong>de</strong>n auch von diesen Frauen, die jetzt über ihn weinten, viele mit ihren Kin<strong>de</strong>rn<br />

umkommen.<br />

Von <strong>de</strong>r Zerstörung Jerusalems wan<strong>de</strong>rten seine Gedanken weiter zu einem noch<br />

umfassen<strong>de</strong>ren Gericht. In <strong>de</strong>r Zerstörung <strong>de</strong>r unbußfertigen Stadt sah er ein Gleichnis für die<br />

endgültige Vernichtung, die über die ganze Welt kommen wird. So fuhr er fort: „Dann wer<strong>de</strong>n<br />

sie anfangen, zu sagen zu <strong>de</strong>n Bergen: Fallet über uns! und zu <strong>de</strong>n Hügeln: Decket uns! Denn so<br />

man das tut am grünen Holz, was will am dürren wer<strong>de</strong>n?“ Lukas 23,30.31. Mit <strong>de</strong>m grünen<br />

Holz meinte er sich selbst, <strong>de</strong>n unschuldigen Erlöser. Gott ließ seinen Zorn über die Sün<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />

Menschheit auf seinen geliebten Sohn kommen, <strong>de</strong>r dafür gekreuzigt wer<strong>de</strong>n mußte. Wieviel<br />

Leid müßten dann die Sün<strong>de</strong>r ertragen, die in <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> verharren? <strong>Die</strong> Unbußfertigen und<br />

Ungläubigen wür<strong>de</strong>n einen Schmerz und eine Trübsal erlei<strong>de</strong>n, die sich nicht mit Worten<br />

beschreiben lassen.<br />

Eine große Anzahl <strong>de</strong>rer, die <strong>de</strong>m Heiland auf seinem Weg nach Golgatha folgten, hatte ihn<br />

bei seinem glorreichen Einzug in Jerusalem mit jubeln<strong>de</strong>n Hosiannarufen begrüßt und<br />

Palmzweige geschwungen. Nicht wenige, die ihn damals laut gepriesen hatten, weil alle es<br />

taten, stimmten jetzt lei<strong>de</strong>nschaftlich mit ein in <strong>de</strong>n Ruf: „Kreuzige, kreuzige ihn!“ Lukas 23,21.<br />

511


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

An jenem Tage <strong>de</strong>s Einzugs in die Stadt waren die Hoffnungen <strong>de</strong>r Jünger aufs äußerste<br />

gestiegen. Sie selbst hatten sich in Jesu nächster Nähe aufgehalten und ihre Verbun<strong>de</strong>nheit mit<br />

<strong>de</strong>m Herrn als hohe Ehre empfun<strong>de</strong>n. Nun folgten sie <strong>de</strong>m ge<strong>de</strong>mütigten Herrn in einiger<br />

Entfernung. Sie waren von Kummer erfüllt und fühlten sich vor Enttäuschung<br />

nie<strong>de</strong>rgeschlagen. Wie hatten sich doch Jesu Worte bewahrheitet: „In dieser Nacht wer<strong>de</strong>t ihr<br />

alle Ärgernis nehmen an mir. Denn es steht geschrieben: ‚Ich wer<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Hirten schlagen, und<br />

die Schafe <strong>de</strong>r Her<strong>de</strong> wer<strong>de</strong>n sich zerstreuen.‘“ Matthäus 26,31.<br />

Nach<strong>de</strong>m die Kreuzigungsstätte erreicht war, wur<strong>de</strong>n die Gefangenen an das Marterholz<br />

gebun<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> zwei Übeltäter wan<strong>de</strong>n sich in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>rer, die sie ans Kreuz heften<br />

sollten; Jesus leistete keinen Wi<strong>de</strong>rstand. Seine Mutter war ihm, gestützt von Johannes, <strong>de</strong>m<br />

Lieblingsjünger, bis zum Kreuz gefolgt. Sie hatte ihn unter <strong>de</strong>r schweren Last<br />

zusammenbrechen sehen und sehnte sich danach, sein verwun<strong>de</strong>tes Haupt mit ihren Hän<strong>de</strong>n zu<br />

stützen und das Antlitz zu waschen, das einmal an ihrer Brust geruht hatte. Aber selbst solch<br />

trauriger Liebesdienst war ihr nicht gestattet wor<strong>de</strong>n. Mit <strong>de</strong>n Jüngern hoffte sie immer noch,<br />

daß Jesus seine Macht offenbaren und sich von seinen Fein<strong>de</strong>n befreien wür<strong>de</strong>; an<strong>de</strong>rseits<br />

wollte ihr Herz verzagen, als sie sich seiner Worte erinnerte, in <strong>de</strong>nen er die gera<strong>de</strong><br />

stattfin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Ereignisse vorausgesagt hatte. Als die Übeltäter ans Kreuz gebun<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>n, sah<br />

sie in qualvoller Erwartung zu. Wür<strong>de</strong> er, <strong>de</strong>r Toten das Leben wie<strong>de</strong>rgegeben hatte, sich selbst<br />

kreuzigen lassen? Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Sohn Gottes sich auf solch grauenvolle Weise umbringen lassen?<br />

Mußte sie ihren Glauben aufgeben, daß Jesus <strong>de</strong>r Messias ist? Mußte sie Zeuge seiner Schmach<br />

und seines Schmerzes sein, ohne ihm in seiner schwersten Stun<strong>de</strong> beistehen zu können? Sie sah<br />

die ausgestreckten Hän<strong>de</strong> am Kreuz; Hammer und Nägel wur<strong>de</strong>n gebracht, und als die Stifte in<br />

<strong>de</strong>n Körper <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s drangen, mußten die zutiefst erschütterten Jünger die ohnmächtig<br />

gewor<strong>de</strong>ne Mutter Jesu von <strong>de</strong>m grausamen Schauplatz hinwegtragen.<br />

Kein Laut <strong>de</strong>r Klage kam über die Lippen <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s. Sein Gesicht blieb ruhig und<br />

gelassen, wenn auch große Schweißtropfen auf seiner Stirn stan<strong>de</strong>n. We<strong>de</strong>r regte sich eine<br />

mitleidsvolle Hand, <strong>de</strong>n To<strong>de</strong>sschweiß von seinem Angesicht zu wischen, noch erquickten<br />

Worte <strong>de</strong>r Teilnahme und <strong>de</strong>r unverän<strong>de</strong>rten Treue sein menschliches Herz. Während die<br />

Kriegsknechte ihr schreckliches Werk been<strong>de</strong>ten, betete Jesus für seine Fein<strong>de</strong>: „Vater, vergib<br />

ihnen; <strong>de</strong>nn sie wissen nicht, was sie tun!“ Lukas 23,34. Trotz seiner Schmerzen beschäftigten<br />

sich seine Gedanken mit <strong>de</strong>n Sün<strong>de</strong>n seiner Peiniger und <strong>de</strong>r schrecklichen Vergeltung, die<br />

ihrer wartete. Er fluchte nicht <strong>de</strong>n Soldaten, die ihn so roh behan<strong>de</strong>lten; er verwünschte auch<br />

nicht die Priester und Obersten, die sich über das Gelingen ihres Planes hämisch freuten. Der<br />

Herr vielmehr bemitlei<strong>de</strong>te sie in ihrer Unwissenheit und Schuld. Flüsternd nur bat er für sie,<br />

daß ihnen vergeben wür<strong>de</strong>, „<strong>de</strong>nn sie wissen nicht, was sie tun“.<br />

Wäre ihnen bewußt gewesen, daß sie <strong>de</strong>njenigen Folterqualen aussetzten, <strong>de</strong>r gekommen<br />

war, die sündige Menschheit vor <strong>de</strong>m ewigen Ver<strong>de</strong>rben zu retten, dann hätten Gewissensnot<br />

und Schrecken sie erfaßt. Doch ihre Unwissenheit hob ihre Schuld nicht auf; <strong>de</strong>nn es war ihr<br />

Vorrecht gewesen, Jesus als ihren Heiland zu erkennen und anzunehmen. Einige von ihnen<br />

wür<strong>de</strong>n vielleicht noch ihre Sün<strong>de</strong> einsehen und bereuen und sich bekehren; an<strong>de</strong>re aber wür<strong>de</strong>n<br />

512


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

verstockt bleiben und es dadurch unmöglich machen, daß sich Jesu Bitte an ihnen erfüllte. Aber<br />

gera<strong>de</strong> auf diese Weise ging Gottes Plan seiner Vollendung entgegen. Jesus erhielt das Recht,<br />

je<strong>de</strong>n Aufrichtigen vor seinem Vater im Himmel fürbittend zu vertreten.<br />

Jenes Gebet <strong>Christi</strong> für seine Fein<strong>de</strong> umspannte die ganze Welt; je<strong>de</strong>r einzelne Sün<strong>de</strong>r, ob er<br />

schon gelebt hatte o<strong>de</strong>r noch leben wür<strong>de</strong>, von Anbeginn <strong>de</strong>r Welt bis ans En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Zeiten, war<br />

in diese Bitte eingeschlossen. Denn auf je<strong>de</strong>m einzelnen ruht auch die Schuld <strong>de</strong>r Kreuzigung<br />

<strong>de</strong>s Sohnes Gottes, und je<strong>de</strong>m einzelnen wird Vergebung bereitwillig angeboten. „Wer da will“,<br />

kann Frie<strong>de</strong>n mit Gott haben und das ewige Leben erlangen.<br />

Sobald man Jesus ans Kreuz genagelt hatte, wur<strong>de</strong> dieses von kräftigen Männern angehoben<br />

und mit aller Gewalt in das dafür vorbereitete Loch gestoßen. <strong>Die</strong>ses Aufrichten <strong>de</strong>s Kreuzes<br />

verursachte <strong>de</strong>m Sohn Gottes die heftigsten Schmerzen. Pilatus ließ über <strong>de</strong>m Haupt Jesu eine<br />

Inschrift in Hebräisch, Griechisch und Lateinisch ans Kreuz heften, auf <strong>de</strong>r zu lesen stand:<br />

„Jesus von Nazareth, <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n König.“ Johannes 19,19. <strong>Die</strong>se Worte ärgerten die Ju<strong>de</strong>n. Im<br />

Gerichtssaal hatten sie gerufen: „Kreuzige ihn!... Wir haben keinen König <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>n<br />

Kaiser.“ Johannes 19,15. Sie hatten je<strong>de</strong>n als Verräter bezeichnet, <strong>de</strong>r sich zu einem an<strong>de</strong>rn<br />

König bekannte. Pilatus faßte also in <strong>de</strong>r Inschrift über <strong>de</strong>m Kreuz nur zusammen, was die<br />

Ju<strong>de</strong>n als ihre Meinung zum Ausdruck gebracht hatten. Es bestand keine an<strong>de</strong>re Anklage gegen<br />

Jesus als die, <strong>de</strong>r König <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n zu sein. Jene Inschrift war eigentlich eine Bestätigung <strong>de</strong>r<br />

Untertanenpflicht <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n gegenüber <strong>de</strong>r römischen Macht. Sie besagte nämlich, daß je<strong>de</strong>r,<br />

<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Anspruch erhebe, König von Israel zu sein, <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s würdig sei. <strong>Die</strong> Priester waren zu<br />

weit gegangen. Als sie über Jesu Tod berieten, hatte Kaiphas es für nützlicher gehalten, daß<br />

einer stürbe, <strong>de</strong>nn daß das ganze Volk unterginge. Jetzt wur<strong>de</strong> ihre Heuchelei offenbar: um<br />

Jesus Christus zu vernichten, waren sie sogar bereit gewesen, ihre nationalen Belange aufs Spiel<br />

zu setzen.<br />

Als die Priester erkannten, welche Torheit sie begangen hatten, baten sie Pilatus, die Inschrift<br />

über <strong>de</strong>m Kreuz zu än<strong>de</strong>rn. Sie sagten zu ihm: „Schreibe nicht: Der Ju<strong>de</strong>n König, son<strong>de</strong>rn daß<br />

er gesagt habe: Ich bin <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n König.“ Aber Pilatus, <strong>de</strong>r sich über seine frühere Schwäche<br />

ihnen gegenüber ärgerte und dazu die eifersüchtigen und listigen Priester und Obersten<br />

gründlich verachtete, erwi<strong>de</strong>rte kalt: „Was ich geschrieben habe, das habe ich<br />

geschrieben.“ Johannes 19,21.22. <strong>Die</strong>se Inschrift war unter <strong>de</strong>m Einfluß einer höheren Macht<br />

als <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Pilatus o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n über Jesu Haupt angebracht wor<strong>de</strong>n. Nach göttlicher<br />

Bestimmung sollten dadurch die Menschen zum Nach<strong>de</strong>nken und zum Studium <strong>de</strong>r heiligen<br />

Schriften angeregt wer<strong>de</strong>n. Der Ort <strong>de</strong>r Kreuzigung lag nahe bei <strong>de</strong>r Stadt. Tausen<strong>de</strong> von<br />

Menschen aus vielen Nationen befan<strong>de</strong>n sich in Jerusalem, und die Inschrift, die Jesus von<br />

Nazareth als <strong>de</strong>n Messias bezeichnete, wür<strong>de</strong> von ihnen gelesen wer<strong>de</strong>n. Sie war eine lebendige<br />

Wahrheit, nie<strong>de</strong>rgeschrieben von einer Hand, die Gott geführt hatte.<br />

Durch die Lei<strong>de</strong>n Jesu am Kreuz wur<strong>de</strong> die Weissagung erfüllt. Jahrhun<strong>de</strong>rte vor <strong>de</strong>r<br />

Kreuzigung hatte <strong>de</strong>r Heiland alles, was ihm wi<strong>de</strong>rfahren wür<strong>de</strong>, vorausgesagt mit <strong>de</strong>n Worten:<br />

„Hun<strong>de</strong> haben mich umgeben, und <strong>de</strong>r Bösen Rotte hat mich umringt; sie haben meine Hän<strong>de</strong><br />

und Füße durchgraben. Ich kann alle meine Knochen zählen; sie aber schauen zu und sehen auf<br />

513


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

mich herab. Sie teilen meine Klei<strong>de</strong>r unter sich und werfen das Los um mein Gewand.“ Psalm<br />

22,17-19. <strong>Die</strong> Weissagung, die sich auf seine Klei<strong>de</strong>r bezog, erfüllte sich buchstäblich, ohne<br />

daß es dazu eines Anstoßes o<strong>de</strong>r einer Einmischung <strong>de</strong>r Freun<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r Fein<strong>de</strong> Jesu bedurfte. <strong>Die</strong><br />

Kriegsknechte, die ihn gekreuzigt hatten, erhielten seine Gewän<strong>de</strong>r. Der Heiland hörte ihren<br />

Zank, als sie die Klei<strong>de</strong>r unter sich teilten. Sein Rock war ohne Naht in einem Stück gewebt,<br />

und so sagten sie: „Lasset uns <strong>de</strong>n nicht zerteilen, son<strong>de</strong>rn darum losen, wes er sein<br />

soll.“ Johannes 19,24.<br />

In einer an<strong>de</strong>ren Prophezeiung hatte <strong>de</strong>r Heiland erklärt: „<strong>Die</strong> Schmach bricht mir mein Herz<br />

und macht mich krank. Ich warte, ob jemand Mitleid habe, aber da ist niemand, und auf Tröster,<br />

aber ich fin<strong>de</strong> keine. Sie geben mir Galle zu essen und Essig zu trinken für meinen<br />

Durst.“ Psalm 69,21.22. Es war erlaubt, <strong>de</strong>n am Kreuze Sterben<strong>de</strong>n einen betäuben<strong>de</strong>n Trank zu<br />

reichen, um das Schmerzgefühl zu dämpfen. Ein solcher Trunk wur<strong>de</strong> auch Jesus angeboten,<br />

aber als er ihn schmeckte, wies er das Getränk zurück. Er wollte nichts nehmen, was seinen<br />

Geist trüben könnte; sein Glaube mußte seinen festen Halt an Gott bewahren! Das war seine<br />

einzige Stärke. <strong>Die</strong> Sinne betäuben aber hieße Satan einen Vorteil einräumen.<br />

Noch am Kreuz ließen Jesu Fein<strong>de</strong> ihre Wut an ihm aus. Priester, Oberste und<br />

Schriftgelehrte verhöhnten gemeinsam mit <strong>de</strong>m Pöbel <strong>de</strong>n sterben<strong>de</strong>n Heiland. Bei <strong>de</strong>r Taufe<br />

und bei <strong>de</strong>r Verklärung Jesu war Gottes Stimme gehört wor<strong>de</strong>n, die Christus als seinen Sohn<br />

verkün<strong>de</strong>te. Auch kurz vor <strong>de</strong>m Verrat hatte <strong>de</strong>r Vater die Gottheit <strong>de</strong>s Sohnes bezeugt. Doch<br />

jetzt am Kreuz schwieg <strong>de</strong>r Himmel. Kein Zeugnis zu Jesu Gunsten erschallte. Allein erlitt er<br />

die Mißhandlungen und ertrug er <strong>de</strong>n Spott ver<strong>de</strong>rbter Menschen.<br />

„Bist du Gottes Sohn“, sagten sie, „so steig herab vom Kreuz!“ Matthäus 27,40. „Er helfe<br />

sich selber, ist er <strong>de</strong>r Christus, <strong>de</strong>r Auserwählte Gottes.“ Lukas 23,35. In <strong>de</strong>r Wüste <strong>de</strong>r<br />

Versuchung hatte einst Satan gesagt: „Bist du Gottes Sohn, so sprich, daß diese Steine Brot<br />

wer<strong>de</strong>n ... Bist du Gottes Sohn, so wirf dich hinab“ (Matthäus 4,3.6) von <strong>de</strong>r Zinne <strong>de</strong>s<br />

Tempels. Auch jetzt weilte <strong>de</strong>r Teufel mit seinen Engeln — in Menschengestalt — an <strong>de</strong>r<br />

Kreuzigungsstätte. Der Erzfeind und seine Heerscharen arbeiteten mit <strong>de</strong>n Priestern und<br />

Obersten zusammen. <strong>Die</strong> Lehrer hatten das unwissen<strong>de</strong> Volk aufgestachelt, über <strong>de</strong>n ein Urteil<br />

zu fällen, <strong>de</strong>n viele nie zuvor gesehen hatten, bis es gezwungen war, gegen ihn Zeugnis<br />

abzulegen. Satanische Raserei vereinte die Priester, Obersten, Pharisäer und <strong>de</strong>n gefühllosen<br />

Volkshaufen. <strong>Die</strong> religiösen Führer verban<strong>de</strong>n sich mit Satan und seinen Engeln. Sie alle<br />

führten seine Befehle aus. Jesus hörte, lei<strong>de</strong>nd und sterbend, je<strong>de</strong>s Wort, als die Priester<br />

erklärten: „An<strong>de</strong>rn hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen. Ist er <strong>de</strong>r König Israels, so<br />

steige er nun vom Kreuz. Dann wollen wir an ihn glauben.“ Matthäus 27,42. Christus hätte vom<br />

Kreuz herabsteigen können. Weil er aber sich selbst nicht retten wollte, darf <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>r auf<br />

Vergebung und Gna<strong>de</strong> vor <strong>de</strong>m himmlischen Vater hoffen.<br />

Als sie <strong>de</strong>n Heiland verhöhnten, wie<strong>de</strong>rholten die Männer, die vorgaben, Ausleger <strong>de</strong>r<br />

prophetischen Schriften zu sein, gera<strong>de</strong> jene Verse, die sie nach <strong>de</strong>r Vorausschau <strong>de</strong>s göttlichen<br />

Wortes bei dieser Gelegenheit sprechen sollten. Doch in ihrer Blindheit erkannten sie nicht, daß<br />

sie die Weissagung über Jesus erfüllten. Jene, die höhnend sagten: „Er hat Gott vertraut; <strong>de</strong>r<br />

514


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

erlöse ihn nun, hat er Lust zu ihm; <strong>de</strong>nn er hat gesagt: Ich bin Gottes Sohn“ (Matthäus 27,43),<br />

ahnten nicht, daß ihr Zeugnis durch alle künftigen Zeiten klingen wür<strong>de</strong>. <strong>Die</strong>se Worte, im Spott<br />

gesprochen, veranlaßten viele Menschen, die Schrift zu erforschen, wie sie es nie zuvor getan<br />

hatten. Kluge Leute hörten das Wort Gottes, suchten in <strong>de</strong>r Schrift, überdachten alles und<br />

beteten. Es waren jene, die nicht eher ruhten, bis sie, in<strong>de</strong>m sie Schriftstelle mit Schriftstelle<br />

verglichen, die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Sendung <strong>Christi</strong> erkannten. Auch war nie zuvor die Erkenntnis<br />

über Jesus so verbreitet, als da er am Kreuze hing. Das Licht <strong>de</strong>r Wahrheit schien in die Herzen<br />

vieler, die <strong>de</strong>r Kreuzigung beiwohnten und die Worte Jesu hörten.<br />

In seiner To<strong>de</strong>snot am Kreuz erhielt <strong>de</strong>r Heiland einen schwachen Trost durch die Bitte <strong>de</strong>s<br />

reumütigen Übeltäters. <strong>Die</strong> bei<strong>de</strong>n Verbrecher, die mit ihm gekreuzigt wur<strong>de</strong>n, hatten ihn zuerst<br />

gelästert; beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>r eine wur<strong>de</strong> durch seine Schmerzen immer herausfor<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>r<br />

und trotziger. Nicht han<strong>de</strong>lte so sein Gefährte, <strong>de</strong>n man nicht als einen verstockten Verbrecher<br />

ansehen konnte, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r lediglich durch schlechte Gesellschaft verführt wor<strong>de</strong>n war und<br />

weniger Schuld auf sich gela<strong>de</strong>n hatte als viele <strong>de</strong>r Umstehen<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>n Heiland schmähten.<br />

Er hatte Jesus gesehen und gehört und war von seiner Lehre überzeugt wor<strong>de</strong>n, aber die Priester<br />

und Obersten hatten ihn vom Herrn abgewen<strong>de</strong>t. In<strong>de</strong>m er seine gewonnene Überzeugung zu<br />

unterdrücken suchte, war er immer tiefer in die Sün<strong>de</strong> eingetaucht, bis man ihn endlich<br />

festnahm, als Verbrecher überführte und zum Kreuzestod verurteilte. Im Gerichtssaal und auf<br />

<strong>de</strong>m Wege nach Golgatha war er in Jesu Nähe gewesen und hatte auch die Worte <strong>de</strong>s Pilatus<br />

gehört: „Ich fin<strong>de</strong> keine Schuld an ihm.“ Johannes 18,38.<br />

Er hatte Jesu göttliches Verhalten beobachtet und erlebt, wie er seinen Peinigern mitleidsvoll<br />

vergab. Vom Kreuze herab sieht er zahlreiche religiöse Eiferer vor Jesus verächtlich die Zunge<br />

herausstrecken und ihn lächerlich machen. Er sieht sie die Köpfe über <strong>de</strong>n Heiland schütteln,<br />

und er hört das Schimpfen seines Gefährten: „Bist du nicht <strong>de</strong>r Christus? Hilf dir selbst und<br />

uns!“ Lukas 23,39. Aber er vernimmt auch, wie mancher <strong>de</strong>r Vorübergehen<strong>de</strong>n Jesus verteidigt,<br />

seine Worte wie<strong>de</strong>rholt und von seinem Wirken erzählt. So gewinnt die Überzeugung wie<strong>de</strong>r<br />

Raum in seinem Herzen, daß es Christus ist, <strong>de</strong>r neben ihm am Kreuz hängt. Er wen<strong>de</strong>t sich an<br />

<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Schächer und ruft ihm zu: „Fürchtest du dich auch nicht vor Gott, <strong>de</strong>r du doch in<br />

gleicher Verdammnis bist?“ <strong>Die</strong> sterben<strong>de</strong>n Übeltäter haben nichts mehr von <strong>de</strong>n Menschen zu<br />

fürchten; <strong>de</strong>m einen aber wird immer gewisser, daß es einen Gott gibt, <strong>de</strong>r zu fürchten ist, und<br />

eine Zukunft, die ihn zittern macht. Nun steht er am En<strong>de</strong> seines sün<strong>de</strong>nbefleckten Lebens, und<br />

er stöhnt: „Wir zwar sind mit Recht darin, <strong>de</strong>nn wir empfangen, was unsre Taten wert sind;<br />

dieser aber hat nichts Unrechtes getan.“ Lukas 23,40.41.<br />

Das ist für ihn keine Frage. Er hat keine Zweifel und Vorwürfe. Als er für sein Verbrechen<br />

verurteilt wur<strong>de</strong>, versank <strong>de</strong>r <strong>Die</strong>b in Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Aber seltsam, vage<br />

Gedanken tauchen nun in ihm auf. Er ruft sich all das in Erinnerung, was er von Jesus gehört<br />

hatte wie dieser Kranke heilte und Sün<strong>de</strong>n vergab. Er hatte die Worte <strong>de</strong>rer gehört, die an Jesus<br />

glaubten und ihm weinend gefolgt waren. Er hatte die Schrift über <strong>de</strong>m Kopf <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s<br />

gesehen und gelesen und hatte die vorbeigehen<strong>de</strong>n diese Worte murmeln hören, manche mit<br />

beben<strong>de</strong>n, zittern<strong>de</strong>n Lippen, an<strong>de</strong>re voller Spott und Hohn. Der Heilige Geist erleuchtet das<br />

515


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Verständnis dieses reumütigen Sün<strong>de</strong>rs und hilft ihm nach und nach zur Erkenntnis <strong>de</strong>r<br />

Wahrheit. Seine Augen sehen in <strong>de</strong>m zerschlagenen, verspotteten und gekreuzigten Jesus das<br />

Lamm Gottes, das <strong>de</strong>r Welt Sün<strong>de</strong> trägt. Seine Stimme drückt Hoffnung und Furcht zugleich<br />

aus, als sich die hilflose, sterben<strong>de</strong> Seele <strong>de</strong>m mit <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> ringen<strong>de</strong>n Heiland ausliefert:<br />

„Herr, ge<strong>de</strong>nke an mich“, so ruft er, „wenn du in <strong>de</strong>in Reich kommst!“ Lukas 23,42<br />

(Jubiläumsbibel).<br />

<strong>Die</strong> Antwort kommt rasch. Mit weicher und melodischer Stimme, voller Liebe, Mitgefühl<br />

und Kraft, versichert ihm Jesus: „Wahrlich, ich sage dir heute: Mit mir wirst du im Paradiese<br />

sein.“ Lukas 23,43 (Reinhardt). Lange, qualvolle Stun<strong>de</strong>n hindurch hat Jesus <strong>de</strong>n Hohn und<br />

Spott hören müssen. Während er am Kreuze hängt, dringen immer noch Flüche und Spottre<strong>de</strong>n<br />

an sein Ohr. Mit sehnsüchtigem Herzen hat es ihn danach verlangt, von seinen Jüngern ein Wort<br />

<strong>de</strong>s Vertrauens zu hören. Doch er vernahm lediglich ihre verzagten Worte: „Wir aber hofften, er<br />

sei es, <strong>de</strong>r Israel erlösen wür<strong>de</strong>.“ Lukas 24,21. Wie wohltuend war <strong>de</strong>shalb das gläubige<br />

Vertrauen und die Liebe, die ihm <strong>de</strong>r sterben<strong>de</strong> Schächer entgegenbrachte! Während die<br />

Obersten <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n ihn verleugnen und selbst die Jünger an seiner Gottheit zweifeln, nennt<br />

diese arme, an <strong>de</strong>r Schwelle <strong>de</strong>r Ewigkeit stehen<strong>de</strong> Seele ihn „Herr“. Viele waren bereit<br />

gewesen ihn so anzure<strong>de</strong>n, als er noch Wun<strong>de</strong>r wirkte, und sie waren es wie<strong>de</strong>r, nach<strong>de</strong>m er aus<br />

<strong>de</strong>m Grabe auferstan<strong>de</strong>n war; aber niemand beugte sich vor ihm, als er sterbend am Kreuz hing<br />

und in letzter Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>m bußfertigen Übeltäter das ewige Leben verhieß.<br />

<strong>Die</strong> Umstehen<strong>de</strong>n hörten, wie <strong>de</strong>r Übeltäter <strong>de</strong>n Gekreuzigten „Herr“ nannte. <strong>Die</strong> Stimme<br />

<strong>de</strong>s reuigen Sün<strong>de</strong>rs ließ sie aufmerksam wer<strong>de</strong>n. Selbst die Kriegsknechte, die sich am Fuße<br />

<strong>de</strong>s Kreuzes um <strong>de</strong>n Rock <strong>Christi</strong> gestritten hatten und nun dabei waren, um ihn zu losen,<br />

horchten auf. Ihre zornigen Stimmen waren verstummt; mit angehaltenem Atem blickten sie auf<br />

Jesus und warteten, daß seine verlöschen<strong>de</strong> Stimme Antwort gab.<br />

Bei Jesu Verheißung fiel ein helles Licht vom Himmel auf Golgatha und durchbrach die<br />

dunkle Wolke, die das Kreuz <strong>Christi</strong> zu verhüllen schien. Der bußfertige Schächer wur<strong>de</strong> mit<br />

jenem vollkommenen Frie<strong>de</strong>n erfüllt, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Bewußstsein <strong>de</strong>r Versöhnung mit Gott entspringt.<br />

Christus wur<strong>de</strong> in seiner Erniedrigung verherrlicht. Er, <strong>de</strong>n alle an<strong>de</strong>ren für unterlegen hielten,<br />

war in Wirklichkeit <strong>de</strong>r Sieger. Er wur<strong>de</strong> offenbar als jener, <strong>de</strong>r unsere Sün<strong>de</strong>n trägt. Menschen<br />

konnten sich seines irdischen Körpers bemächtigen. Sie vermochten ihm die Dornenkrone aufs<br />

Haupt zu drücken, ihm das Gewand auszuziehen und um <strong>de</strong>ssen Aufteilung zu streiten. Aber sie<br />

konnten ihn nicht <strong>de</strong>r Macht berauben, Sün<strong>de</strong>n zu vergeben. Noch im Sterben zeugte er von<br />

seiner Göttlichkeit und von <strong>de</strong>r Ehre seines Vaters. Seine Ohren sind nicht so taub, daß er nicht<br />

hören, sein Arm ist nicht so kurz, daß er nicht helfen könnte. Es ist sein königliches Recht, allen<br />

die Erlösung zu schenken, die durch ihn zu Gott kommen.<br />

„Wahrlich, ich sage dir heute: Mit mir wirst du im Paradiese sein.“ Lukas 23,43 (Reinhardt).<br />

Jesus versprach nicht, noch am Tage <strong>de</strong>r Kreuzigung mit <strong>de</strong>m Schächer im Paradiese zu sein. Er<br />

selbst ging an jenem Tage nicht zum Paradies ein. Bis zum Auferstehungsmorgen ruhte er im<br />

Grabe. An diesem Morgen sprach er dann zu Maria: „Rühre mich nicht an! <strong>de</strong>nn ich bin noch<br />

nicht aufgefahren zum Vater.“ Johannes 20,17. Am Tage <strong>de</strong>r Kreuzigung aber, <strong>de</strong>m Tage <strong>de</strong>r<br />

516


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

scheinbaren Nie<strong>de</strong>rlage und Finsternis, wur<strong>de</strong> das erlösen<strong>de</strong> Versprechen gegeben. „Heute“,<br />

während er selbst als Übeltäter am Kreuz stirbt, versichert Christus <strong>de</strong>m armen Sün<strong>de</strong>r: „Mit<br />

mir wirst du im Paradiese sein.“<br />

<strong>Die</strong> Übeltäter, die mit Jesus gekreuzigt waren, hatten ihren Platz ihm zur Rechten und zur<br />

Linken. Lukas 23,33. <strong>Die</strong>s geschah auf Veranlassung <strong>de</strong>r Priester und Obersten. Jesu Stellung<br />

zwischen <strong>de</strong>n Übeltätern sollte an<strong>de</strong>uten, daß er von ihnen <strong>de</strong>r größte Verbrecher sei. Dadurch<br />

erfüllte sich wie<strong>de</strong>rum die Schrift: Er ist „<strong>de</strong>n Übeltätern gleichgerechnet“. Jesaja 53,12. Doch<br />

diese wahre Be<strong>de</strong>utung ihrer Handlung erkannten die Ju<strong>de</strong>n nicht. Wie Jesus mitten unter <strong>de</strong>n<br />

Übeltätern gekreuzigt wur<strong>de</strong>, so ragt sein Kreuz auch mitten aus einer in Sün<strong>de</strong> liegen<strong>de</strong>n Welt.<br />

<strong>Die</strong> Worte <strong>de</strong>r Vergebung, die er zu <strong>de</strong>m reumütigen Verbrecher sprach, ließen ein Licht<br />

aufleuchten, das in die entlegensten Teile <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> scheinen wird.<br />

Mit Verwun<strong>de</strong>rung sahen die Engel im Himmel die grenzenlose Liebe <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>r<br />

während <strong>de</strong>r schwersten leiblichen und seelischen Qualen nur an an<strong>de</strong>re dachte und die<br />

reumütige Seele zum Glauben ermutigte. In seiner tiefsten Erniedrigung hatte er als Prophet die<br />

weinen<strong>de</strong>n Frauen auf <strong>de</strong>m Kreuzesweg angesprochen; er hatte als Priester und Fürsprecher<br />

selbst für seine Mör<strong>de</strong>r beim Vater um Vergebung ihrer Sün<strong>de</strong>n gebeten, und als lieben<strong>de</strong>r<br />

Heiland hatte er <strong>de</strong>m reuigen Schächer vergeben. Als Christus seine Augen über die Menge<br />

gleiten ließ, die das Kreuz umstand, erregte eine Person seine beson<strong>de</strong>re Aufmerksamkeit. Am<br />

Fuße <strong>de</strong>s Kreuzes stand, von Johannes gestützt, seine Mutter. Ihr wäre es unerträglich gewesen,<br />

wür<strong>de</strong> sie ihrem Sohn ferngeblieben sein. Als Johannes sah, daß das En<strong>de</strong> Jesu nahe war, hatte<br />

er Maria wie<strong>de</strong>r zum Kreuz gebracht. Der Heiland gedachte in seiner Sterbestun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />

lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Mutter. Als er in ihr kummervolles Angesicht blickte und dann seine Augen auf<br />

Johannes richtete, sagte er zu ihr: „Weib, siehe, das ist <strong>de</strong>in Sohn!“ Und zu Johannes gewandt,<br />

sprach er: „Siehe, das ist <strong>de</strong>ine Mutter!“ Johannes 19,26.27.<br />

Johannes verstand diese Worte seines Herrn und übernahm die ihm aufgetragene Pflicht. Er<br />

führte Maria sogleich in sein Haus und sorgte von Stund an mit rühren<strong>de</strong>r Liebe für sie. Welch<br />

ein mitleidsvoller, lieben<strong>de</strong>r Heiland! In seiner unbeschreiblichen körperlichen Qual und in<br />

seinem seelischen Schmerz dachte er fürsorglich an seine Mutter. Er hatte keinerlei Mittel, die<br />

ihr Wohlergehen sichergestellt hätten; aber er hatte einen Platz im Herzen seines Jüngers, und<br />

diesem vertraute er seine Mutter als kostbares Vermächtnis an. Damit gab er seiner Mutter das,<br />

was sie am dringendsten brauchte — die zärtliche Liebe eines Menschen, <strong>de</strong>r ihr zugetan war,<br />

weil sie Jesus liebte. Und in<strong>de</strong>m er sie als anvertrautes kostbares Gut aufnahm, empfing<br />

Johannes selbst großen Segen; <strong>de</strong>nn Maria erinnerte ihn beständig an seinen geliebten Meister.<br />

Jesu vorbildliche Kin<strong>de</strong>sliebe leuchtet in ungetrübtem Glanz durch das Dunkel aller Zeiten.<br />

Fast dreißig Jahre lang hatte Christus durch seine tägliche Arbeit geholfen, die Lasten <strong>de</strong>r<br />

Familie zu tragen. Jetzt, in seiner To<strong>de</strong>sstun<strong>de</strong> noch, sorgte er für seine trauern<strong>de</strong>, verwitwete<br />

Mutter. <strong>Die</strong> gleiche Einstellung wer<strong>de</strong>n alle wahren Nachfolger <strong>de</strong>s Herrn offenbaren. Wer<br />

Christus nachfolgt, wird es als eine Verpflichtung seines Glaubens ansehen, die Eltern zu achten<br />

und für sie zu sorgen. Wer Jesu Liebe im Herzen bewahrt, <strong>de</strong>r wird es nicht versäumen, seinen<br />

Eltern aufmerksame Pflege zu gewähren und liebevolle Anteilnahme entgegenzubringen. Der<br />

517


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Herr <strong>de</strong>r Herrlichkeit starb zur Erlösung <strong>de</strong>s Menschengeschlechtes. Während er sein teures<br />

Leben dahingab, hielt ihn keine triumphieren<strong>de</strong> Freu<strong>de</strong> aufrecht. Über allem lag eine<br />

bedrücken<strong>de</strong> Düsternis. Doch nicht <strong>de</strong>r Schrecken <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s war es, <strong>de</strong>r auf ihm lastete. Es<br />

waren nicht die Pein und die Schmach <strong>de</strong>s Kreuzes, die seine unnennbaren seelischen Qualen<br />

verursachten. Christus war <strong>de</strong>r Fürst <strong>de</strong>r Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n; aber sein Schmerz entstand aus <strong>de</strong>m<br />

Bewußtsein von <strong>de</strong>r Bösartigkeit <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>, aus <strong>de</strong>m Wissen, daß durch <strong>de</strong>n Umgang mit <strong>de</strong>m<br />

Bösen die Menschen blind wer<strong>de</strong>n gegen <strong>de</strong>ssen Abscheulichkeit. Christus sah, wie tief das<br />

Böse in <strong>de</strong>n Menschenherzen verwurzelt ist und wie wenige bereit sind, sich von dieser<br />

teuflischen Macht loszureißen. Er wußte, daß die Menschheit ohne Gottes Hilfe ver<strong>de</strong>rben<br />

müßte, und er sah zahllose Menschen umkommen, obwohl sie ausreichen<strong>de</strong> Hilfe hätten haben<br />

können.<br />

Auf ihn als unsern Stellvertreter und Bürgen wur<strong>de</strong> unser aller Ungerechtigkeit gelegt. Er<br />

wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Übertretern gleichgerechnet, damit er uns von <strong>de</strong>r Verdammnis <strong>de</strong>s Gesetzes erlösen<br />

konnte. <strong>Die</strong> Schuld <strong>de</strong>r Menschen seit Adam lastete schwer auf seinem Herzen, und <strong>de</strong>r Zorn<br />

Gottes über die Sün<strong>de</strong>, die furchtbare Bekundung seines Mißfallens an <strong>de</strong>r Gottlosigkeit erfüllte<br />

die Seele <strong>Christi</strong> mit Bestürzung. Sein ganzes Leben hindurch hatte er <strong>de</strong>r gefallenen Welt die<br />

frohe Botschaft von <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong> und <strong>de</strong>r vergeben<strong>de</strong>n Liebe <strong>de</strong>s Vaters verkündigt; das Heil auch<br />

für <strong>de</strong>n größten Sün<strong>de</strong>r war stets das Ziel seines Wirkens gewesen. Doch nun, da er die<br />

schreckliche Sün<strong>de</strong>nlast trug, konnte er das versöhnliche Angesicht <strong>de</strong>s Vaters nicht sehen! Ein<br />

Schmerz, <strong>de</strong>n kein Menschenherz nachempfin<strong>de</strong>n kann, durchdrang sein Herz, da ihm in dieser<br />

Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r höchsten Not die göttliche Gegenwart entzogen war. Seine Seelenqual war so groß,<br />

daß er die körperlichen Schmerzen kaum wahrnahm.<br />

Satan quälte <strong>de</strong>n Heiland mit heftigen Versuchungen. Der Blick Jesu konnte nicht durch die<br />

Pforten <strong>de</strong>s Grabes dringen. Keine aufhellen<strong>de</strong> Hoffnung zeigte ihm sein Hervorkommen aus<br />

<strong>de</strong>m Grabe als Sieger o<strong>de</strong>r bestätigte ihm die Annahme seines Opfers beim Vater. Er<br />

befürchtete, daß Maß <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> wür<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n Augen Gottes so schwer wiegen, daß er auf ewig<br />

von seinem Vater getrennt wäre. Er fühlte die Seelenangst, die <strong>de</strong>n Sün<strong>de</strong>r befallen wird, wenn<br />

die erlösen<strong>de</strong> Gna<strong>de</strong> nicht länger mehr für das schuldige Geschlecht Fürbitte einlegt. Es war das<br />

Gefühl für die auf ihm ruhen<strong>de</strong> Sün<strong>de</strong>nlast, die <strong>de</strong>n Zorn <strong>de</strong>s Vaters auf ihn als <strong>de</strong>n<br />

Stellvertreter <strong>de</strong>r Menschen fallen ließ und die <strong>de</strong>n Lei<strong>de</strong>nskelch so bitter machte, daß sein Herz<br />

brach.<br />

<strong>Die</strong> Engel verfolgten mit höchster Bestürzung <strong>de</strong>n Verzweiflungskampf Jesu; die<br />

Heerscharen <strong>de</strong>s Himmels verhüllten ihr Angesicht vor diesem schrecklichen Anblick. <strong>Die</strong><br />

unbelebte Natur trauerte um ihren geschmähten, sterben<strong>de</strong>n Schöpfer; die Sonne verhielt ihren<br />

Schein, um nicht Zeuge dieses grausamen Geschehens zu sein. Noch um die Mittagsstun<strong>de</strong><br />

fielen ihre hellen, vollen Strahlen auf das Land; doch urplötzlich schien die Sonne erloschen zu<br />

sein. Vollständige Dunkelheit umhüllte das Kreuz wie ein Leichentuch. „Von <strong>de</strong>r sechsten<br />

Stun<strong>de</strong> an ward eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stun<strong>de</strong>.“ Matthäus 27,45.<br />

Es war keine Sonnenfinsternis o<strong>de</strong>r irgen<strong>de</strong>ine an<strong>de</strong>re Naturerscheinung, welche diese<br />

Dunkelheit bewirkte, die so tief war wie eine Nacht ohne Mond o<strong>de</strong>r Sternenschimmer. Es war<br />

518


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

ein wun<strong>de</strong>rbares Zeugnis, das Gott gegeben hatte, um <strong>de</strong>n Glauben späterer Geschlechter zu<br />

stärken.<br />

In dieser dichten Finsternis war Gottes Gegenwart verborgen; <strong>de</strong>nn er macht die Dunkelheit<br />

zu seinem Gezelt und verbirgt seine Herrlichkeit vor <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>r Menschen. Gott und seine<br />

heiligen Engel waren neben <strong>de</strong>m Kreuz; <strong>de</strong>r Vater stand bei seinem Sohn. Doch seine<br />

Gegenwart wur<strong>de</strong> nicht offenbar. Hätte seine Herrlichkeit aus <strong>de</strong>r Wolke hervorgeleuchtet, so<br />

wären alle menschlichen Augenzeugen ringsumher vernichtet wor<strong>de</strong>n. Auch sollte Jesus in<br />

dieser erhabenen Stun<strong>de</strong> nicht durch die Gegenwart <strong>de</strong>s Vaters gestärkt wer<strong>de</strong>n. Er trat die<br />

Kelter allein — niemand unter <strong>de</strong>n Völkern war mit ihm. Jesaja 63,3. Gott verhüllte die letzte<br />

Seelenqual seines Sohnes in dichter Dunkelheit. Alle, die Jesu Lei<strong>de</strong>n gesehen hatten, waren<br />

von seiner Göttlichkeit überzeugt wor<strong>de</strong>n. Wer sein Angesicht einmal gesehen hatte, konnte es<br />

niemals mehr vergessen. Wie das Gesicht Kains seine Schuld als Mör<strong>de</strong>r ausdrückte, so<br />

offenbarte Jesu Angesicht die Unschuld, Lauterkeit und Güte seines Wesens — das Ebenbild<br />

Gottes. Doch seine Ankläger achteten nicht auf dieses Zeugnis <strong>de</strong>s Himmels. Während langer,<br />

schmerzensreicher Stun<strong>de</strong>n hatte die höhnen<strong>de</strong> Menge auf Jesus gestarrt. Nun verhüllte Gott ihn<br />

gnädig wie unter einem Mantel.<br />

Grabesstille schien über Golgatha zu liegen. Ungeheurer Schrecken bemächtigte sich <strong>de</strong>r das<br />

Kreuz umstehen<strong>de</strong>n Menge. Das Fluchen und Schmähen brach mitten im Satz ab. Männer,<br />

Frauen und Kin<strong>de</strong>r stürzten zu Bo<strong>de</strong>n. Grelle Blitze zuckten hin und wie<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>n Wolken<br />

und beleuchteten für Bruchteile von Sekun<strong>de</strong>n das Kreuz mit <strong>de</strong>m sterben<strong>de</strong>n Erlöser. Priester,<br />

Oberste, Schriftgelehrte, Kriegsknechte und das Volk glaubten, die Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Vergeltung sei<br />

gekommen. Nach kurzer Zeit flüsterten einige, daß Jesus jetzt vom Kreuz herabsteigen wür<strong>de</strong>.<br />

An<strong>de</strong>re versuchten, sich an die Brust schlagend und zitternd vor Furcht, nach <strong>de</strong>r Stadt<br />

zurückzutappen.<br />

Um die neunte Stun<strong>de</strong> wich die Finsternis von <strong>de</strong>n Versammelten; sie hüllte nur noch das<br />

Kreuz ein — ein Sinnbild <strong>de</strong>r Angst und <strong>de</strong>s Grauens, die auf Jesu Herzen lasteten. Kein Auge<br />

konnte durch diese Dunkelheit schauen; niemand vermochte die Finsternis zu durchdringen, die<br />

die lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Seele <strong>de</strong>s Herrn vor <strong>de</strong>n Blicken verbarg. <strong>Die</strong> zornigen Blitze schienen auf ihn, <strong>de</strong>r<br />

am Kreuz hing, geschleu<strong>de</strong>rt zu wer<strong>de</strong>n. Dann „schrie Jesus laut und sprach: Eli, Eli, lama<br />

asabthani? das ist: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Matthäus 27,46. Als<br />

die Dunkelheit sich um <strong>de</strong>n Heiland verdichtete, riefen verschie<strong>de</strong>ne Stimmen: <strong>Die</strong> Rache <strong>de</strong>s<br />

Himmels lastet auf ihm! <strong>Die</strong> Pfeile <strong>de</strong>s göttlichen Zorns treffen ihn, weil er <strong>de</strong>n Anspruch<br />

erhob, Gottes Sohn zu sein. Viele, die an ihn glaubten, hörten ebenfalls seinen<br />

Verzweiflungsschrei, und alle Hoffnung verließ sie. Wenn Gott selbst Jesus verlassen hatte, auf<br />

wen sollten sie dann noch ihr Vertrauen setzen?<br />

Als die Finsternis von <strong>de</strong>m nie<strong>de</strong>rgebeugten Geist <strong>Christi</strong> gewichen war, stellte sich bei ihm<br />

erneut das Gefühl <strong>de</strong>r körperlichen Schmerzen ein, und er rief: „Mich dürstet!“ Johannes 19,28.<br />

Einer <strong>de</strong>r römischen Soldaten, vom Anblick <strong>de</strong>r trockenen Lippen Jesu gerührt, nahm einen<br />

Schwamm, steckte ihn auf ein langes Ysoprohr, tauchte ihn in Essig und reichte ihn Christus.<br />

Aber die Priester spotteten <strong>de</strong>r Qualen Jesu. Als Finsternis noch die Er<strong>de</strong> be<strong>de</strong>ckte, hatten sie<br />

519


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

sich gefürchtet; doch sobald ihr Schrecken nachließ, begannen sie zu argwöhnen, daß er ihnen<br />

immer noch entkommen könne. Seine Worte: „Eli, Eli, lama asabthani?“ hatten sie falsch<br />

verstan<strong>de</strong>n. Mit beißen<strong>de</strong>r Verachtung sagten sie: „Der ruft <strong>de</strong>n Elia.“ <strong>Die</strong> letzte Gelegenheit,<br />

Jesu Lei<strong>de</strong>n zu vermin<strong>de</strong>rn, ließen sie ungenutzt vorübergehen. Kaltherzig sagten sie: „Halt, laß<br />

sehen, ob Elia komme und ihm helfe!“ Matthäus 27,47.49.<br />

Der Sohn Gottes, fleckenlos und ohne Makel, hing am Kreuz. Sein Fleisch war von <strong>de</strong>n<br />

Mißhandlungen zerrissen; die Hän<strong>de</strong>, die er so oft segnend ausgestreckt hatte, waren an das<br />

Holz genagelt; die Füße, die unermüdlich Wege <strong>de</strong>r Liebe gegangen waren, hatte man ans<br />

Kreuz geheftet; das königliche Haupt war von <strong>de</strong>r Dornenkrone verwun<strong>de</strong>t; die beben<strong>de</strong>n<br />

Lippen waren im Schmerz verzogen! Alles, was <strong>de</strong>r Heiland erdul<strong>de</strong>te — die von seinem<br />

Kopfe, seinen Hän<strong>de</strong>n und Füßen fallen<strong>de</strong>n Blutstropfen, die seinen Körper quälen<strong>de</strong>n<br />

Schmerzen und die unaussprechliche Seelenqual, als <strong>de</strong>r Vater sein Antlitz verbarg —; es ist<br />

<strong>de</strong>inetwegen geschehen! Für dich hat er sich bereitgefun<strong>de</strong>n, jene Schul<strong>de</strong>nlast zu tragen; für<br />

dich hat er die Macht <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s gebrochen und die Pforten <strong>de</strong>s Paradieses wie<strong>de</strong>r geöffnet. Er,<br />

<strong>de</strong>r das stürmische Meer stillte und auf <strong>de</strong>n schäumen<strong>de</strong>n Wogen wan<strong>de</strong>lte, <strong>de</strong>r die Teufel<br />

erzittern machte und Krankheiten verbannte, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Blin<strong>de</strong>n die Augen öffnete und <strong>de</strong>n Toten<br />

neues Leben gab, er brachte sich selbst am Kreuz zum Opfer, weil er dich liebt. Er, <strong>de</strong>r<br />

Sün<strong>de</strong>nträger, erdul<strong>de</strong>te <strong>de</strong>n Zorn <strong>de</strong>r göttlichen Gerechtigkeit und wur<strong>de</strong> um <strong>de</strong>inetwillen<br />

selbst „zur Sün<strong>de</strong> gemacht“. 2.Korinther 5,21.<br />

Schweigend wartete das Volk auf das En<strong>de</strong> dieses furchtbaren Geschehens. <strong>Die</strong> Sonne<br />

schien wie<strong>de</strong>r; nur um das Kreuz Jesu war es noch dunkel. Priester und Oberste schauten nach<br />

Jerusalem hin. Da gewahrten sie, daß sich die dunkle Wolke über <strong>de</strong>r Stadt und über <strong>de</strong>r Ebene<br />

von Judäa festgesetzt hatte. <strong>Die</strong> Sonne <strong>de</strong>r Gerechtigkeit, das Licht <strong>de</strong>r Welt, hatte seine<br />

segnen<strong>de</strong>n Strahlen <strong>de</strong>m einst begünstigten Jerusalem entzogen. <strong>Die</strong> zucken<strong>de</strong>n Blitze <strong>de</strong>s<br />

Zornes Gottes waren nun gegen die <strong>de</strong>m Ver<strong>de</strong>rben geweihte Stadt gerichtet. Plötzlich lichtete<br />

sich das Dunkel um das Kreuz, und mit heller, lauter Stimme, die durch die ganze Schöpfung zu<br />

hallen schien, rief <strong>de</strong>r Herr: „Es ist vollbracht!“ — „Vater, ich befehle meinen Geist in <strong>de</strong>ine<br />

Hän<strong>de</strong>!“ Johannes 19,30; Lukas 23,46. Ein blen<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Lichtschein umgab jetzt das Kreuz, und<br />

das Angesicht <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s leuchtete wie <strong>de</strong>r Glanz <strong>de</strong>r Sonne. Dann neigte Jesus sein Haupt<br />

auf die Brust und verschied.<br />

Inmitten <strong>de</strong>r schrecklichen Finsternis, scheinbar von Gott verlassen, hatte Jesus <strong>de</strong>n<br />

Lei<strong>de</strong>nskelch bis zur Neige geleert. In diesen furchtbaren Stun<strong>de</strong>n hatte er sich auf die ihm<br />

vorher gegebene Zusicherung verlassen, daß ihn <strong>de</strong>r Vater annehmen wer<strong>de</strong>. Er kannte das<br />

Wesen seines Vaters, und er verstand auch <strong>de</strong>ssen Gerechtigkeit, Erbarmen und große Liebe. In<br />

festem Glauben verließ er sich auf Gott, <strong>de</strong>m er stets freudig gehorcht hatte. Als er sein Leben<br />

nun <strong>de</strong>mütig Gott anvertraute, wur<strong>de</strong> das Gefühl, <strong>de</strong>r Vater habe ihn verlassen, langsam<br />

zurückgedrängt. Durch <strong>de</strong>n Glauben wur<strong>de</strong> Christus Sieger.<br />

Noch nie hatte die Welt ein <strong>de</strong>rartiges Geschehen erlebt. <strong>Die</strong> Menge stand wie gelähmt und<br />

starrte mit angehaltenem Atem auf <strong>de</strong>n Heiland. Da ballte sich noch einmal dichtes Dunkel über<br />

ihnen zusammen, und ein lautes Rollen, gleich einem heftigen Gewitter, drang an ihr Ohr. Es<br />

520


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

war ein starkes Erdbeben, das die Gegend erschütterte. <strong>Die</strong> Menschen wur<strong>de</strong>n umhergeworfen;<br />

ein wil<strong>de</strong>s Durcheinan<strong>de</strong>r entstand. In <strong>de</strong>n umliegen<strong>de</strong>n Bergen zerbarsten die Felsen und<br />

stürzten donnernd in die Tiefe; Gräber taten sich auf, und die Toten wur<strong>de</strong>n herausgeworfen. Es<br />

schien, als zerfiele die ganze Schöpfung in kleinste Teile. Priester, Oberste, Soldaten, das<br />

Kreuzigungskommando und alle an<strong>de</strong>rn lagen stumm vor Schreck am Bo<strong>de</strong>n.<br />

Als <strong>de</strong>r Ruf: „Es ist vollbracht!“ über die Lippen Jesu kam, wur<strong>de</strong> im Tempel gera<strong>de</strong> das<br />

Abendopfer dargebracht. Das Christus versinnbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Opferlamm hatte man hereingeführt,<br />

damit es geschlachtet wür<strong>de</strong>. Mit seinem symbolträchtigten, prachtvollen Gewand angetan,<br />

erhob <strong>de</strong>r Priester gera<strong>de</strong> das Messer — ähnlich wie Abraham, als er im Begriff war, seinen<br />

Sohn zu töten. Gebannt verfolgt das Volk diese Handlung. Doch da zittert und bebt plötzlich die<br />

Er<strong>de</strong> unter ihren Füßen, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Herr selbst nähert sich. Mit durchdringen<strong>de</strong>m Geräusch wird<br />

<strong>de</strong>r innere Vorhang <strong>de</strong>s Tempels von einer unsichtbaren Hand von oben bis unten<br />

durchgerissen, und das Allerheiligste, in <strong>de</strong>m Gott sich einst offenbart hatte, liegt <strong>de</strong>n Blicken<br />

<strong>de</strong>s Volkes offen. Hier hatte die Herrlichkeit (Schechina) Gottes geweilt, hier hatte Gott seine<br />

Macht über <strong>de</strong>m Gna<strong>de</strong>nstuhl offenbart. Allein <strong>de</strong>r Hohepriester durfte <strong>de</strong>n Vorhang<br />

zurückschieben, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n dahinterliegen<strong>de</strong>n Raum vom übrigen Tempel trennte. Einmal im Jahr<br />

ging er dort hinein, um die Sün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Volkes zu versöhnen. Doch dieser Vorhang ist nun<br />

in zwei Teile zerrissen. Der heiligste Ort <strong>de</strong>s irdischen Heiligtums war nicht länger mehr eine<br />

geweihte Stätte.<br />

Überall herrschen Schrecken und Verwirrung. Der Priester wollte gera<strong>de</strong> das Opfertier töten,<br />

doch seiner kraftlosen Hand entfällt das Schlachtmesser, und das Opferlamm entschlüpft.<br />

Vorbild und Symbol begegnen sich im To<strong>de</strong> Jesu <strong>Christi</strong>. Das große Opfer war gebracht wor<strong>de</strong>n<br />

— <strong>de</strong>r Weg zum Allerheiligsten ist geöffnet: ein neuer, lebendiger Weg, <strong>de</strong>r allen offensteht.<br />

<strong>Die</strong> sich ängstigen<strong>de</strong>, sündige Menschheit braucht nicht länger auf <strong>de</strong>n Hohenpriester zu<br />

warten; hinfort wird <strong>de</strong>r Heiland selbst als Priester und Fürsprecher <strong>de</strong>r Menschen im Himmel<br />

dienen. Es war, als hätte eine lebendige Stimme <strong>de</strong>n Anbeten<strong>de</strong>n gesagt: Es hat ein En<strong>de</strong> mit<br />

allen Opfern und Gaben für die Sün<strong>de</strong>. Der Sohn Gottes ist gekommen nach seiner Verheißung:<br />

„Siehe, ich komme — im Buch steht von mir geschrieben —, daß ich tue, Gott, <strong>de</strong>inen<br />

Willen.“ Hebräer 10,7. Er ist „durch sein eigen Blut ein für allemal in das Heilige eingegangen<br />

und hat eine ewige Erlösung erworben“. Hebräer 9,12.<br />

521


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel<br />

Jesu Leben auf Er<strong>de</strong>n fand nicht eher seinen Abschluß, als bis er das Werk vollen<strong>de</strong>t hatte,<br />

das auszuführen er gekommen war. Erst mit <strong>de</strong>m letzten Atemzug am Kreuz rief er aus: „Es ist<br />

vollbracht!“ Johannes 19,30. Der Kampf war gewonnen! Seine Rechte und sein heiliger Arm<br />

hatten ihm <strong>de</strong>n Sieg erstritten. Psalm 98,1. Als Sieger hatte er sein Banner auf <strong>de</strong>n ewigen<br />

Höhen errichtet. Herrschte darüber nicht Freu<strong>de</strong> unter <strong>de</strong>n Engeln? Der ganze Himmel nahm<br />

jubelnd Anteil an <strong>de</strong>m Sieg <strong>de</strong>s Erlösers. Satan war geschlagen, und er wußte, daß ihm sein<br />

Reich verloren war.<br />

Für die Engel und die nicht gefallenen Welten war Jesu Ruf: „Es ist vollbracht!“ von tiefer<br />

Be<strong>de</strong>utung. Es war für sie wie auch für uns das Zeichen, daß das große Erlösungswerk vollen<strong>de</strong>t<br />

wor<strong>de</strong>n war. Uns allen kommen die Früchte <strong>de</strong>s Sieges <strong>Christi</strong> zugute. Erst beim To<strong>de</strong> <strong>Christi</strong><br />

wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Engeln und allen nicht gefallenen Welten <strong>de</strong>r wahre Charakter Satans völlig<br />

offenbar. Der Erzfeind hatte sich so geschickt verstellt, daß selbst heilige Wesen we<strong>de</strong>r seine<br />

Grundsätze verstan<strong>de</strong>n noch die Natur seiner Empörung klar erkannt hatten. Als Wesen von<br />

wun<strong>de</strong>rbarer Kraft und Herrlichkeit hatte er sich gegen Gott erhoben, <strong>de</strong>r von ihm sagte: „Du<br />

warst das Abbild <strong>de</strong>r Vollkommenheit, voller Weisheit und über die Maßen schön.“ Hesekiel<br />

28,12. Luzifer hatte als schirmen<strong>de</strong>r Cherub in <strong>de</strong>r Gegenwart Gottes gestan<strong>de</strong>n. Er war das<br />

höchste aller Geschöpfe gewesen und hatte beson<strong>de</strong>ren Anteil daran gehabt, Gottes Absichten<br />

<strong>de</strong>m Universum zu offenbaren. Nach<strong>de</strong>m er gesündigt hatte, war seine betrügerische Macht um<br />

so größer und die Enthüllung seines wahren Charakters um so schwieriger, weil er eine<br />

bevorzugte Stellung bei Gott eingenommen hatte.<br />

Gott hätte Satan und seine Anhänger so leicht vernichten können, wie man einen Kieselstein<br />

zur Er<strong>de</strong> fallen lassen kann; aber er tat es nicht. <strong>Die</strong> Empörung sollte nicht mit Gewalt<br />

überwun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. Zwangsmaßnahmen wer<strong>de</strong>n nur unter Satans Herrschaft angewandt;<br />

Gottes Grundsätze sind an<strong>de</strong>re. Seine Macht stützt sich auf Güte, Gna<strong>de</strong> und Liebe. <strong>Die</strong>se<br />

Eigenschaften sollen nach seinem Willen zur Anwendung kommen. Gottes Regierung ist<br />

vorbildlich; Wahrheit und Liebe sollen die vorherrschen<strong>de</strong>n Kräfte sein.<br />

Es lag in Gottes Absicht, alle Dinge auf eine ewige, sichere Grundlage zu stellen. Im<br />

Ratschluß <strong>de</strong>s Himmels wur<strong>de</strong> entschie<strong>de</strong>n, Satan Zeit zu geben, seine Grundsätze zu<br />

entwickeln, auf <strong>de</strong>nen seine Herrschaft beruhen sollte. Er hatte behauptet, daß diese Grundsätze<br />

erfolgreicher seien als die göttlichen. Der Entfaltung satanischer Regeln wur<strong>de</strong> Zeit gewährt,<br />

damit <strong>de</strong>ren Auswirkungen von <strong>de</strong>n himmlischen Welten beobachtet wer<strong>de</strong>n könnten. Satan<br />

verführte <strong>de</strong>n Menschen zur Sün<strong>de</strong>, und daraufhin wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Erlösungsplan eingesetzt.<br />

Viertausend Jahre lang wirkte Christus für eine Besserung <strong>de</strong>r Menschheit, während sich Satan<br />

um <strong>de</strong>ren Herabsetzung und Vernichtung bemühte. Und <strong>de</strong>r Himmel war Zeuge dieses<br />

Ringens.<br />

Als Jesus in die Welt kam, wandte sich Satans Macht gegen ihn. Von <strong>de</strong>r Zeit an, da Jesus<br />

als Kindlein in Bethlehem erschien, kämpfte <strong>de</strong>r Thronräuber darum, ihn zu vernichten. Er<br />

versuchte mit allen Mitteln, Jesus daran zu hin<strong>de</strong>rn, sich zu einem vollkommenen Kin<strong>de</strong>, zu<br />

522


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

einem unta<strong>de</strong>ligen Mann, zu einem heiligen <strong>Die</strong>ner und zu einem fleckenlosen Opfer zu<br />

entwickeln. Doch es gelang ihm nicht. Er konnte <strong>de</strong>n Erlöser nicht zur Sün<strong>de</strong> verleiten; er<br />

konnte ihn we<strong>de</strong>r entmutigen noch von <strong>de</strong>r Aufgabe fernhalten, um <strong>de</strong>rentwillen er auf diese<br />

Er<strong>de</strong> gekommen war. Von <strong>de</strong>r Wüste bis nach Golgatha stürmte <strong>de</strong>r Zorn Satans auf ihn ein;<br />

aber je erbarmungsloser <strong>de</strong>r Böse ihn angriff, <strong>de</strong>sto fester hielt Jesus die Hand <strong>de</strong>s Vaters. Alle<br />

Anstrengungen Satans, Christus zu unterdrücken und zu überwin<strong>de</strong>n, ließen <strong>de</strong>ssen makelloses<br />

Wesen nur um so heller erstrahlen.<br />

Der Himmel und die nicht gefallenen Welten waren Zeugen jenes Konfliktes. Mit<br />

wachsen<strong>de</strong>r Anteilnahme verfolgten sie <strong>de</strong>n zu En<strong>de</strong> gehen<strong>de</strong>n Kampf. Sie sahen <strong>de</strong>n Heiland<br />

<strong>de</strong>n Garten Gethsemane betreten, seine Seele gebeugt unter <strong>de</strong>m Schrecken einer großen<br />

Finsternis. Sie hörten seinen schmerzbewegten Ruf: „Mein Vater, ist‘s möglich, so gehe dieser<br />

Kelch an mir vorüber.“ Matthäus 26,39. Als sich ihm die Gegenwart <strong>de</strong>s Vaters versagte, sahen<br />

sie <strong>de</strong>n Herrn in noch größerer Seelennot als bei seinem letzten großen To<strong>de</strong>skampf. Blutiger<br />

Schweiß drang aus seinen Poren und fiel in schweren Tropfen auf die Er<strong>de</strong>. Dreimal entrang<br />

sich seinen Lippen ein Gebet um Errettung. Der Himmel konnte diesen furchtbaren Anblick<br />

nicht länger ertragen, und Gott sandte einen Boten, um <strong>de</strong>n Sohn zu trösten und zu stärken.<br />

Der Himmel sah das Opfer verraten in <strong>de</strong>r Hand <strong>de</strong>s mör<strong>de</strong>rischen Volkes und mit Spott und<br />

Gewalt von einer Gerichtsverhandlung zur an<strong>de</strong>ren gehetzt. Er hörte das Hohngelächter <strong>de</strong>r<br />

Verfolger Jesu, die sich über seine nie<strong>de</strong>re Herkunft lustig machten, und bis zu ihm drang die<br />

mit Fluchen und Schwören bekräftigte Verleugnung Jesu durch einen seiner Lieblingsjünger.<br />

Engel sahen das rasen<strong>de</strong> Wirken Satans und seine Macht, die er über die Herzen <strong>de</strong>r Menschen<br />

hatte. Welch ein schreckliches Schauspiel! Der Heiland wur<strong>de</strong> um Mitternacht in Gethsemane<br />

ergriffen, hin- und hergeschleppt zwischen Palast und Gerichtshaus, zweimal vor die Priester<br />

gestellt, zweimal vor <strong>de</strong>n Hohen Rat, zweimal vor Pilatus und einmal vor Hero<strong>de</strong>s; er wur<strong>de</strong><br />

verhöhnt, gegeißelt, verurteilt und dann, mit <strong>de</strong>r Bür<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Kreuzes belastet, unter <strong>de</strong>m<br />

Wehklagen <strong>de</strong>r Töchter Jerusalems und <strong>de</strong>m Johlen <strong>de</strong>s Volkshaufens zur Kreuzigungsstätte<br />

geführt.<br />

Schmerzlich bewegt und voller Bestürzung sah <strong>de</strong>r Himmel <strong>de</strong>n Heiland am Kreuz hängen.<br />

Blut strömte von seinen verwun<strong>de</strong>ten Schläfen herab, und blutig gefärbter Schweiß stand auf<br />

seiner Stirn. Von seinen Hän<strong>de</strong>n und Füßen fiel das Blut tropfenweise auf <strong>de</strong>n Felsen, in <strong>de</strong>n<br />

das Kreuz eingelassen war. <strong>Die</strong> von <strong>de</strong>n Nägeln gerissenen Wun<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>n durch das Gewicht<br />

<strong>de</strong>s Körpers immer größer. Sein Atem ging tief und stoßweise, als seine Seele unter <strong>de</strong>r<br />

Sün<strong>de</strong>nlast <strong>de</strong>r ganzen Welt ächzte. Der ganze Himmel war von Verwun<strong>de</strong>rung erfüllt, als Jesus<br />

inmitten dieser furchtbaren Not betete: „Vater, vergib ihnen; <strong>de</strong>nn sie wissen nicht, was sie<br />

tun!“ Lukas 23,34. Doch das Kreuz umstan<strong>de</strong>n nach <strong>de</strong>m Bil<strong>de</strong> Gottes gestaltete Menschen, die<br />

sich zusammengetan hatten, das Leben <strong>de</strong>s eingeborenen Gottessohnes zu vernichten. Welch<br />

ein Anblick für die himmlischen Welten!<br />

Alle Mächte und Gewalten <strong>de</strong>r Finsternis waren um das Kreuz versammelt und warfen <strong>de</strong>n<br />

höllischen Schatten <strong>de</strong>s Unglaubens in dieHerzen <strong>de</strong>r Menschen. Als Gott diese Wesen schuf,<br />

damit sie vor seinem Thron stün<strong>de</strong>n, waren sie schön und herrlich. Ihre Schönheit und<br />

523


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Heiligkeit entsprach ihrer hohen Stellung. Sie waren reich an Weisheit Gottes und umgürtet mit<br />

<strong>de</strong>r Rüstung <strong>de</strong>s Himmels; sie waren <strong>Die</strong>ner Jahwes. Wer konnte jedoch jetzt noch in diesen<br />

gefallenen Engeln die herrlichen Seraphim erkennen, die einst im Himmel dienten?! Satanische<br />

Kräfte verban<strong>de</strong>n sich mit bösen Menschen und veranlaßten das Volk zu glauben, daß Christus<br />

<strong>de</strong>r Größte unter <strong>de</strong>n Sün<strong>de</strong>rn und verachtenswert sei. Jene, die <strong>de</strong>n Herrn am Kreuz<br />

verspotteten, wur<strong>de</strong>n vom Geiste <strong>de</strong>s ersten großen Rebellen beeinflußt. Er ließ sie gemeine und<br />

wi<strong>de</strong>rliche Re<strong>de</strong>n führen und bestärkte sie in ihren Hohnre<strong>de</strong>n. Doch bei alle<strong>de</strong>m erreichte<br />

Satan nichts.<br />

Hätte an Christus ein Unrecht gefun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n können, hätte er auch nur im geringsten <strong>de</strong>m<br />

Versucher nachgegeben, um <strong>de</strong>n schrecklichen Qualen zu entgehen, dann wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Feind<br />

Gottes und <strong>de</strong>r Menschen triumphiert haben. Jesus neigte sein Haupt und starb, aber er hatte<br />

seinen Glauben bewahrt und war seinem Vater gehorsam geblieben. „Ich hörte eine große<br />

Stimme, die sprach im Himmel: Nun ist das Heil und die Kraft und das Reich unsres Gottes<br />

gewor<strong>de</strong>n und die Macht seines Christus, weil <strong>de</strong>r Verkläger unsrer Brü<strong>de</strong>r verworfen ist, <strong>de</strong>r<br />

sie verklagte Tag und Nacht vor unsrem Gott.“ Offenbarung 12,10.<br />

Satan erkannte, daß ihm seine Maske abgerissen war. Seine Handlungsweise wur<strong>de</strong> vor <strong>de</strong>n<br />

nicht gefallenen Engeln und <strong>de</strong>m ganzen Himmel offenbar. Er hatte sich selbst als Mör<strong>de</strong>r zu<br />

erkennen gegeben. In<strong>de</strong>m er das Blut <strong>de</strong>s Sohnes Gottes vergoß, begab er sich aller Sympathien<br />

<strong>de</strong>r himmlischen Wesen. Fortan war sein Wirken beschränkt. Welche Haltung er auch immer<br />

einnehmen wür<strong>de</strong>, er konnte nicht mehr auf die Engel warten, wenn sie von <strong>de</strong>n himmlischen<br />

Höfen kamen, und vor ihnen <strong>Christi</strong> Brü<strong>de</strong>r verklagen, daß sie mit unreinen, sün<strong>de</strong>nbefleckten<br />

Klei<strong>de</strong>rn angetan seien. Das letzte Band <strong>de</strong>r Zuneigung zwischen <strong>de</strong>r himmlischen Welt und<br />

Satan war zerrissen. Dennoch wur<strong>de</strong> Satan damals nicht vernichtet. <strong>Die</strong> Engel verstan<strong>de</strong>n selbst<br />

jetzt noch nicht, was <strong>de</strong>r große Kampf alles in sich vereinte. <strong>Die</strong> auf <strong>de</strong>m Spiel stehen<strong>de</strong>n<br />

Grundsätze mußten erst völlig offenbart wer<strong>de</strong>n, und um <strong>de</strong>r Menschen willen mußte Satans<br />

Existenz erhalten bleiben. Menschen wie Engel mußten <strong>de</strong>n großen Gegensatz zwischen <strong>de</strong>m<br />

Fürsten <strong>de</strong>s Lichts und <strong>de</strong>m Fürsten <strong>de</strong>r Finsternis erkennen und sich entschei<strong>de</strong>n, wem sie<br />

dienen wollten.<br />

Zu Beginn <strong>de</strong>s großen Kampfes hatte Satan erklärt, daß Gottes Gesetz nicht gehalten wer<strong>de</strong>n<br />

könne, daß Gerechtigkeit und Barmherzigkeit unvereinbar seien und daß es, sollte das Gesetz<br />

übertreten wer<strong>de</strong>n, für <strong>de</strong>n Sün<strong>de</strong>r unmöglich sei, Vergebung zu erlangen. Je<strong>de</strong> Sün<strong>de</strong> müsse<br />

bestraft wer<strong>de</strong>n, sagte Satan, und wenn Gott die Strafe erlassen wür<strong>de</strong>, wäre er kein Gott <strong>de</strong>r<br />

Wahrheit und Gerechtigkeit. So oft die Menschen Gottes Gebote verletzten und <strong>de</strong>m göttlichen<br />

Willen trotzten, triumphierte Satan. Er behauptete je<strong>de</strong>smal, es sei nun erwiesen, daß man das<br />

Gesetz nicht halten und daß <strong>de</strong>n Menschen nicht vergeben wer<strong>de</strong>n könne. Weil er nach seiner<br />

Empörung aus <strong>de</strong>m Himmel ausgestoßen wor<strong>de</strong>n war, for<strong>de</strong>rte er, daß auch das<br />

Menschengeschlecht von <strong>de</strong>r Gunst Gottes ausgeschlossen sein sollte. Gott könne nicht gerecht<br />

sein und zugleich einem Sün<strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong> erweisen.<br />

Der Mensch war aber — selbst als Sün<strong>de</strong>r — in einer an<strong>de</strong>ren Lage als Satan. Luzifer hatte<br />

im Himmel im Lichte <strong>de</strong>r Herrlichkeit Gottes gesündigt. Ihm war die Liebe Gottes offenbart<br />

524


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

wor<strong>de</strong>n wie keinem an<strong>de</strong>ren Geschöpf. Er kannte das Wesen Gottes und seine Güte und wählte<br />

sich <strong>de</strong>nnoch seinen eigenen selbstsüchtigen, unabhängigen Weg. Seine Wahl war endgültig.<br />

Gott konnte nichts mehr tun, um ihn zu retten. Der Mensch aber wur<strong>de</strong> getäuscht, sein Geist<br />

wur<strong>de</strong> durch die ausgeklügelten Spitzfindigkeiten Satans verdunkelt; er kannte nicht die Höhe<br />

und Tiefe <strong>de</strong>r Liebe Gottes. Für ihn bestand Hoffnung, wenn er die Liebe Gottes kennenlernen<br />

wür<strong>de</strong>. Durch die Betrachtung <strong>de</strong>s göttlichen Wesens konnte er wie<strong>de</strong>r zu Gott gezogen<br />

wer<strong>de</strong>n. Durch Jesus wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Menschen Gottes Barmherzigkeit offenbart; doch<br />

Barmherzigkeit hebt die Gerechtigkeit nicht auf. Das Gesetz ist ein Spiegel <strong>de</strong>s Wesens Gottes;<br />

nicht ein Jota davon kann geän<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n, um <strong>de</strong>m Menschen in seinem gefallenen Zustand<br />

entgegenzukommen. Gott än<strong>de</strong>rte sein Gesetz nicht, aber er opferte sich selbst in Jesus Christus<br />

zur Erlösung <strong>de</strong>r Menschen. „Gott versöhnte in Christus die Welt mit ihm selber.“ 2.Korinther<br />

5,19.<br />

Das Gesetz for<strong>de</strong>rt Gerechtigkeit — ein gerechtes Leben, einen vollkommenen Charakter.<br />

Der Mensch kann dies nicht erfüllen; er kann <strong>de</strong>n Anfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s göttlichen Willens nicht<br />

genügen. Aber Christus, <strong>de</strong>r als Mensch auf die Er<strong>de</strong> kam, führte ein heiliges Leben und<br />

entwickelte einen vollkommenen Charakter. Er bietet diese Möglichkeiten je<strong>de</strong>m an, <strong>de</strong>r sie für<br />

sich in Anspruch nehmen will; sein Leben bürgt für das Leben <strong>de</strong>r Menschen. So erfahren sie<br />

durch die Langmut Gottes Vergebung ihrer in <strong>de</strong>r Vergangenheit liegen<strong>de</strong>n Sün<strong>de</strong>n. Mehr noch:<br />

Christus durchdringt die Menschen mit <strong>de</strong>n Eigenschaften Gottes. Er formt <strong>de</strong>n menschlichen<br />

Charakter nach <strong>de</strong>m himmlischen Vorbild und verleiht ihm geistliche Kraft und Schönheit.<br />

Dadurch wird gera<strong>de</strong> die Gerechtigkeit <strong>de</strong>s Gesetzes in <strong>Christi</strong> Nachfolgern erfüllt. Es gilt, daß<br />

Gott „allein gerecht sei und gerecht mache <strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r da ist <strong>de</strong>s Glaubens an Jesus“. Römer 3,26.<br />

Gottes Liebe hat sich in seiner Gerechtigkeit nicht weniger bekun<strong>de</strong>t als in seiner Gna<strong>de</strong>.<br />

Gerechtigkeit ist die Grundlage seiner Herrschaft und die Frucht seiner Liebe. Satan wollte die<br />

Gna<strong>de</strong> von <strong>de</strong>r Wahrheit und Gerechtigkeit trennen; er versuchte zu beweisen, daß die<br />

Gerechtigkeit <strong>de</strong>s göttlichen Gesetzes seinem Frie<strong>de</strong>n wi<strong>de</strong>rspreche. Christus aber zeigte, daß<br />

nach <strong>de</strong>m Plane Gottes bei<strong>de</strong>s unlösbar miteinan<strong>de</strong>r verbun<strong>de</strong>n ist und daß das eine nicht ohne<br />

das an<strong>de</strong>re bestehen kann. Er will, „daß Güte und Treue einan<strong>de</strong>r begegnen, Gerechtigkeit und<br />

Frie<strong>de</strong> sich küssen“. Psalm 85,11.<br />

Durch sein Leben und durch seinen Tod bewies Christus, daß die Gerechtigkeit Gottes nicht<br />

seine Barmherzigkeit zunichte macht, son<strong>de</strong>rn daß die Sün<strong>de</strong> vergeben wird, daß das Gesetz<br />

gerecht ist und gänzlich gehalten wer<strong>de</strong>n kann. Satans Anklagen waren wi<strong>de</strong>rlegt. Gott hatte<br />

<strong>de</strong>n Menschen einen ein<strong>de</strong>utigen Beweis seiner Liebe gegeben. Nun versuchte Satan eine<br />

an<strong>de</strong>re Täuschung. Er erklärte, daß Gna<strong>de</strong> die Gerechtigkeit zunichte gemacht und <strong>Christi</strong> Tod<br />

das Gesetz <strong>de</strong>s Vaters aufgehoben habe. Wäre es möglich gewesen, Gottes Gesetz zu verän<strong>de</strong>rn<br />

o<strong>de</strong>r abzuschaffen, dann hätte Christus nicht zu sterben brauchen. Aber das Gesetz aufheben,<br />

hieße die Übertretungen verewigen und die Welt <strong>de</strong>r Herrschaft Satans unterstellen. Weil das<br />

Gesetz unverän<strong>de</strong>rlich war, weil <strong>de</strong>r Mensch aber nur durch <strong>de</strong>n Gehorsam gegen seine<br />

Vorschriften gerettet wer<strong>de</strong>n konnte, wur<strong>de</strong> Christus am Kreuz erhöht. Und doch stellte Satan<br />

die Mittel, durch die Jesus das Gesetz aufrichtete, so dar, als ob sie das Gesetz zunichte<br />

525


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

machten. Hierüber wird <strong>de</strong>r letzte Streit <strong>de</strong>s großen Kampfes zwischen Christus und Satan<br />

entbrennen.<br />

Satan behauptet jetzt, das von Gott selbst verkün<strong>de</strong>te Gesetz sei fehlerhaft und einige seiner<br />

Vorschriften seien aufgehoben wor<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong>s ist <strong>de</strong>r letzte große Betrug, <strong>de</strong>n er <strong>de</strong>r Welt bringen<br />

wird. Er braucht nicht das ganze Gesetz anzugreifen; wenn er nur die Menschen dazu verleiten<br />

kann, eine Vorschrift zu verachten, ist seine Absicht schon erreicht; „<strong>de</strong>nn so jemand das ganze<br />

Gesetz hält und sündiget an einem, <strong>de</strong>r ist‘s ganz schuldig“. Jakobus 2,10. Lassen sich die<br />

Menschen darauf ein, auch nur ein Gebot zu übertreten, so begeben sie sich unter Satans<br />

Gewalt. Der Teufel versucht die Welt dadurch zu beherrschen, daß er Menschengebote an die<br />

Stelle <strong>de</strong>r göttlichen Verordnungen setzt. <strong>Die</strong>ses Vorhaben ist bereits durch das prophetische<br />

Wort verkündigt wor<strong>de</strong>n; <strong>de</strong>nn es heißt von <strong>de</strong>r großen abtrünnigen Macht, die <strong>de</strong>r Stellvertreter<br />

Satans ist, daß sie „wird <strong>de</strong>n Höchsten lästern und die Heiligen <strong>de</strong>s Höchsten vernichten und<br />

wird sich unterstehen, Festzeiten und Gesetz zu än<strong>de</strong>rn. Sie wer<strong>de</strong>n in seine Hand gegeben<br />

wer<strong>de</strong>n“. Daniel 7,25.<br />

<strong>Die</strong> Menschen wer<strong>de</strong>n sicherlich mit eigenen Gesetzen <strong>de</strong>n Gesetzen Gottes<br />

entgegenarbeiten. Sie wer<strong>de</strong>n die Gewissen an<strong>de</strong>rer zu zwingen suchen und in ihrem Eifer,<br />

ihren Gesetzen Geltung zu verschaffen, ihre Mitmenschen unterdrücken. Der Kampf gegen<br />

Gottes Gesetz, <strong>de</strong>r im Himmel seinen Anfang nahm, wird bis zum En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Zeit fortgesetzt.<br />

Je<strong>de</strong>r Mensch wird geprüft wer<strong>de</strong>n. Gehorsam o<strong>de</strong>r Ungehorsam, das ist die Frage, die von <strong>de</strong>r<br />

ganzen Welt entschie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n muß. Alle wer<strong>de</strong>n ihre Wahl treffen müssen zwischen <strong>de</strong>m<br />

Gesetz Gottes und <strong>de</strong>n Geboten <strong>de</strong>r Menschen; hier wird die große Schei<strong>de</strong>linie gezogen<br />

wer<strong>de</strong>n. Es wird dann nur zwei Klassen geben. Der Charakter eines je<strong>de</strong>n Menschen wird<br />

vollständig entwickelt sein, und alle wer<strong>de</strong>n zeigen, ob sie Treue o<strong>de</strong>r Empörung gewählt<br />

haben.<br />

Dann wird das En<strong>de</strong> kommen. Gott wird sein Gesetz rechtfertigen und sein Volk erlösen.<br />

Satan und alle, die sich mit ihm in <strong>de</strong>r Empörung verbun<strong>de</strong>n haben, wer<strong>de</strong>n umkommen. Sün<strong>de</strong><br />

und Sün<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n untergehen, und es wer<strong>de</strong>n „ihnen we<strong>de</strong>r Wurzel noch Zweig“ (Maleachi<br />

3,19) gelassen wer<strong>de</strong>n. Des Herrn Wort wird sich an <strong>de</strong>m Fürsten <strong>de</strong>s Bösen erfüllen: „Weil<br />

sich <strong>de</strong>in Herz überhebt, als wäre es eines Gottes Herz ... verstieß ich dich vom Berge Gottes<br />

und tilgte dich, du schirmen<strong>de</strong>r Cherub, hinweg aus <strong>de</strong>r Mitte <strong>de</strong>r feurigen Steine ... Alle, die<br />

dich kannten unter <strong>de</strong>n Völkern, haben sich über dich entsetzt, daß du so plötzlich<br />

untergegangen bist und nicht mehr aufkommen kannst.“ Hesekiel 28,6.16.19. Dann wird <strong>de</strong>r<br />

Gottlose nicht mehr sein, „und wenn du nach seiner Stätte siehst, ist er weg.“ Psalm 37,10. <strong>Die</strong>s<br />

ist keine willkürliche Handlung Gottes; vielmehr ernten die Verächter seiner Gna<strong>de</strong>, was sie<br />

gesät haben. Gott ist <strong>de</strong>r Ursprung <strong>de</strong>s Lebens, und wer <strong>de</strong>n <strong>Die</strong>nst <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> wählt, trennt sich<br />

von Gott und verscherzt sich selbst das Leben. Er ist dann „fremd gewor<strong>de</strong>n <strong>de</strong>m Leben, das<br />

aus Gott ist“. Epheser 4,18. Der Herr sagt: „Alle, die mich hassen, lieben <strong>de</strong>n Tod.“ Sprüche<br />

8,36. Gott läßt sie eine Zeitlang gewähren, damit sie ihren Charakter entwickeln und ihre<br />

Grundsätze offenbaren können. Wenn dies geschehen ist, empfangen sie die Früchte ihrer Wahl.<br />

Durch ein Leben <strong>de</strong>r Empörung stellten sich Satan und seine Verbün<strong>de</strong>te so völlig außerhalb<br />

526


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

<strong>de</strong>r Übereinstimmung mit Gott, daß allein <strong>de</strong>ssen heilige Gegenwart für sie ein verzehrend<br />

Feuer ist.<br />

Zu Beginn <strong>de</strong>s großen Kampfes verstan<strong>de</strong>n die Engel dies nicht. Hätten Satan und seine<br />

Scharen zu jener Zeit schon alle Folgen ihrer Übertretung ernten müssen, wären sie<br />

umgekommen; aber die himmlischen Wesen wür<strong>de</strong>n dann nicht klar erkannt haben, daß die<br />

Vernichtung das unvermeidliche Ergebnis <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> gewesen wäre. In ihren Herzen wäre ein<br />

Zweifel an Gottes Güte als böses Samenkorn zurückgeblieben, und eine todbringen<strong>de</strong> Frucht<br />

<strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> und <strong>de</strong>s Elends hätte reifen können. So wird es nun nicht mehr sein, wenn <strong>de</strong>r große<br />

Kampf been<strong>de</strong>t ist. Wenn <strong>de</strong>r große Erlösungplan vollen<strong>de</strong>t ist, wird das Wesen Gottes allen<br />

vernunftbegabten Geschöpfen offenbar sein. <strong>Die</strong> Vorschriften seines Gesetzes wer<strong>de</strong>n sich als<br />

vollkommen und unverän<strong>de</strong>rlich erweisen. <strong>Die</strong> Sün<strong>de</strong> hat ihre Natur, Satan seinen Charakter<br />

bekun<strong>de</strong>t. Dann wird die Ausrottung <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> Gottes Liebe rechtfertigen und seine Ehre in<br />

einem Weltall wie<strong>de</strong>rherstellen, <strong>de</strong>ssen Bewohner mit Freu<strong>de</strong>n seinen Willen tun und sein<br />

Gesetz in ihrem Herzen tragen.<br />

So mögen sich die Engel <strong>de</strong>nn gefreut haben, als sie auf <strong>de</strong>n am Kreuz hängen<strong>de</strong>n Heiland<br />

schauten. Wenn sie auch noch nicht alles begriffen, wußten sie doch, daß die Vernichtung <strong>de</strong>r<br />

Sün<strong>de</strong> und <strong>de</strong>s Teufels für alle Zeiten gewiß, daß die Erlösung <strong>de</strong>r Menschen gesichert und das<br />

Weltall auf ewig gerettet war. Der Heiland selbst kannte genau die Folgen seines Opfers auf<br />

Golgatha. <strong>Die</strong>se sah er vor sich, als er am Kreuz ausrief: „Es ist vollbracht!“ Johannes 19,30.<br />

527


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 80: In Josephs Grab<br />

Nun ruhte Jesus endlich: Der lange Tag <strong>de</strong>r Schmach und Qual war vorüber. Als die letzten<br />

Strahlen <strong>de</strong>r untergehen<strong>de</strong>n Sonne <strong>de</strong>n Sabbat ankündigten, lag <strong>de</strong>r Heiland still in Josephs<br />

Grab. Seine Aufgabe vollbracht, seine Hän<strong>de</strong> friedlich ineinan<strong>de</strong>rgefaltet, so ruhte er während<br />

<strong>de</strong>r heiligen Stun<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Sabbats. Bei <strong>de</strong>r Schöpfung hatten Vater und Sohn am Sabbat von<br />

ihren Werken ausgeruht. Als „Himmel und Er<strong>de</strong> mit ihrem ganzen Heer“ (1.Mose 2,1)<br />

vollen<strong>de</strong>t waren, freute sich <strong>de</strong>r Schöpfer mit allen himmlischen Wesen beim Anblick jenes<br />

herrlichen Bil<strong>de</strong>s, „als mich die Morgensterne miteinan<strong>de</strong>r lobten und jauchzten alle<br />

Gottessöhne“. Hiob 38,7. Jetzt ruhte Jesus aus von <strong>de</strong>m Erlösungsgeschehen, und trotz <strong>de</strong>r<br />

Trauer <strong>de</strong>rer, die ihn auf Er<strong>de</strong>n liebten, herrschte Freu<strong>de</strong> im Himmel. In <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>r<br />

himmlischen Wesen erschien die Verheißung <strong>de</strong>r Zukunft in strahlen<strong>de</strong>m Glanz. Eine<br />

wie<strong>de</strong>rhergestellte Schöpfung, ein erlöstes Menschengeschlecht, das niemals wie<strong>de</strong>r fallen<br />

konnte, weil es die Sün<strong>de</strong> überwun<strong>de</strong>n hatte — so sahen Gott und die Engel die Früchte <strong>de</strong>s von<br />

Christus vollbrachten Erlösungswerkes. Mit dieser frohen Aussicht ist Jesu Sterbetag auf<br />

Golgatha für immer verknüpft, <strong>de</strong>nn „seine Werke sind vollkommen“ (5.Mose 32,4), und „alles,<br />

was Gott tut, das besteht für ewig“. Prediger 3,14. Auch noch zu <strong>de</strong>r Zeit, da „wie<strong>de</strong>rgebracht<br />

wird, wovon Gott gere<strong>de</strong>t hat durch <strong>de</strong>n Mund seiner heiligen Propheten von Anbeginn“<br />

(Apostelgeschichte 3,21), wird <strong>de</strong>r Schöpfungssabbat, <strong>de</strong>r Tag, an <strong>de</strong>m Jesus in Josephs Grab<br />

ruhte, ein Tag <strong>de</strong>s Frie<strong>de</strong>ns und <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong> sein. Himmel und Er<strong>de</strong> wer<strong>de</strong>n vereint Gott loben,<br />

während die Völker <strong>de</strong>r Geretteten „einen Sabbat nach <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>rn“ (Jesaja 66,23) Gott und das<br />

Lamm anbeten wer<strong>de</strong>n.<br />

Während <strong>de</strong>r Schlußereignisse <strong>de</strong>s Kreuzigungstages wur<strong>de</strong> ein neuer Beweis für die<br />

Erfüllung <strong>de</strong>r Weissagung erbracht und ein neues Zeugnis für die Gottheit Jesu gegeben. Als die<br />

Dunkelheit das Kreuz wie<strong>de</strong>r freigab und <strong>de</strong>r Sterberuf Jesu verklungen war, hörte man<br />

unmittelbar darauf eine Stimme sagen: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!“ Matthäus<br />

27,54. <strong>Die</strong>se Worte wur<strong>de</strong>n keineswegs im Flüsterton gesprochen. Aller Augen wandten sich<br />

um und versuchten zu erkennen, woher sie kamen. Wer hatte das gesagt? Kein an<strong>de</strong>rer als <strong>de</strong>r<br />

Hauptmann, <strong>de</strong>r römische Soldat. <strong>Die</strong> göttliche Geduld <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s, sein plötzlicher Tod, <strong>de</strong>n<br />

Siegesruf noch auf <strong>de</strong>n Lippen, hatte <strong>de</strong>n Hei<strong>de</strong>n sehr beeindruckt; er erkannte in <strong>de</strong>m<br />

verwun<strong>de</strong>ten, zerschlagenen Körper am Kreuz die Gestalt <strong>de</strong>s Sohnes Gottes. Er konnte nicht<br />

an<strong>de</strong>rs, er mußte seinen Glauben bekennen! So wur<strong>de</strong> aufs neue ein Beweis dafür gegeben, daß<br />

das Ringen <strong>de</strong>s Erlösers nicht erfolglos war. An seinem To<strong>de</strong>stage bekannten sich drei Männer<br />

von sehr unterschiedlicher Art und Stellung zu ihrem Heiland: <strong>de</strong>r Befehlshaber <strong>de</strong>r römischen<br />

Wache; Simon, <strong>de</strong>r Träger <strong>de</strong>s Kreuzes Jesu und <strong>de</strong>r Übeltäter am Kreuz.<br />

Als <strong>de</strong>r Abend hereinbrach, lag eine unnatürliche Stille über Golgatha. die Menschen<br />

zerstreuten sich, und viele kehrten nach Jerusalem ganz an<strong>de</strong>ren Sinnes zurück, als sie es am<br />

Morgen verlassen hatten. Viele waren aus Neugier<strong>de</strong> zur Kreuzigung gekommen und nicht aus<br />

Haß gegen Christus; doch sie glaubten <strong>de</strong>n Anschuldigungen <strong>de</strong>r Priester und sahen in Christus<br />

einen Übeltäter. Von <strong>de</strong>r Erregung <strong>de</strong>r Masse angestachelt, hatten sie in die Schmährufe gegen<br />

Jesus mit eingestimmt. Als sich aber die Er<strong>de</strong> plötzlich in dichte Finsternis hüllte und ihr<br />

528


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Gewissen sie hart anklagte, fühlten sie ihr Unrecht. Während dieser schrecklichen Finsternis<br />

hörte man keinerlei Scherze o<strong>de</strong>r spöttisches Gelächter mehr, und als sich das Dunkel lichtete,<br />

gingen sie in ernstem Schweigen wie<strong>de</strong>r nach Hause. Sie hatten erkannt, daß die<br />

Beschuldigungen <strong>de</strong>r Priester falsch waren, daß Jesus kein Betrüger war. Als Petrus einige<br />

Wochen danach am Pfingsttage predigte, befan<strong>de</strong>n auch sie sich unter <strong>de</strong>n Tausen<strong>de</strong>n, die an<br />

Jesus Christus gläubig wur<strong>de</strong>n.<br />

<strong>Die</strong> Obersten <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n aber blieben von <strong>de</strong>m Erlebten unberührt. Ihr Haß auf Jesus hatte<br />

nicht nachgelassen. <strong>Die</strong> Dunkelheit, die während <strong>de</strong>r Kreuzigung die Er<strong>de</strong> überzogen hatte, war<br />

nicht dichter gewesen als die geistliche Finsternis, die noch immer die Sinne <strong>de</strong>r Priester und<br />

Obersten umgab. Ein Stern hatte <strong>Christi</strong> Geburt verkün<strong>de</strong>t und die Weisen zum Stall geführt, in<br />

<strong>de</strong>m Jesus lag. <strong>Die</strong> himmlischen Heerscharen hatten <strong>de</strong>n Heiland verkün<strong>de</strong>t und ihm über <strong>de</strong>n<br />

Fel<strong>de</strong>rn von Bethlehem Lob und Preis gesungen. Dem Meer war seine Stimme vertraut<br />

gewesen, und es hatte seinem Gebot gehorcht. Krankheit und Tod hatten seine Vollmacht<br />

anerkannt und ihm ihre Opfer ausgeliefert. <strong>Die</strong> Sonne hatte beim Anblick seines To<strong>de</strong>skampfes<br />

ihre Strahlen verborgen; die Felsen hatten ihn gekannt und waren bei seinem To<strong>de</strong>skampf<br />

zersplittert. <strong>Die</strong> unbelebte Natur hatte <strong>Christi</strong> Göttlichkeit <strong>de</strong>utlich bezeugt. Nur die Priester und<br />

Obersten in Israel verschlossen sich <strong>de</strong>m Sohne Gottes.<br />

Doch Ruhe fan<strong>de</strong>n sie nicht. Sie hatten ihre Absicht erreicht und Jesus getötet, aber sie<br />

konnten ihres Sieges nicht froh wer<strong>de</strong>n. Selbst in <strong>de</strong>r Stun<strong>de</strong> ihres augenscheinlichen Triumphes<br />

wur<strong>de</strong>n sie von Zweifeln beunruhigt, was als nächstes geschehen wer<strong>de</strong>. Sie hatten Jesu Ruf<br />

„Es ist vollbracht!“ (Johannes 19,30) sowie seine Worte: „Vater, ich befehle meinen Geist in<br />

<strong>de</strong>ine Hän<strong>de</strong>!“ (Lukas 23,46) gehört. Zu<strong>de</strong>m hatten sie gesehen, wie die Felsen zersprangen,<br />

und gespürt, wie die Er<strong>de</strong> bebte. <strong>Die</strong>s alles machte sie ruhelos und ängstlich. Sie waren auf <strong>de</strong>n<br />

Einfluß <strong>de</strong>s Herrn eifersüchtig gewesen, <strong>de</strong>n er auf das Volk ausübte, als er noch lebte; nun<br />

waren sie sogar auf <strong>de</strong>n Toten eifersüchtig. Sie fürchteten <strong>de</strong>n toten Christus noch weit mehr,<br />

als sie <strong>de</strong>n Leben<strong>de</strong>n je gefürchtet hatten. Sie waren besorgt, daß sich die Aufmerksamkeit <strong>de</strong>s<br />

Volkes weiterhin auf die Ereignisse richten wür<strong>de</strong>, die während <strong>de</strong>r Kreuzigung geschahen. Sie<br />

hatten Angst vor <strong>de</strong>n Folgen ihres Han<strong>de</strong>lns an jenem Tage. Auf keinen Fall sollte darum Jesu<br />

Körper während <strong>de</strong>s Sabbats am Kreuze hängen bleiben. Der Sabbat stand bevor, und die<br />

Heiligkeit dieses Tages wür<strong>de</strong> durch die am Kreuz verbleiben<strong>de</strong>n Körper verletzt wer<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong>s<br />

als Vorwand benutzend, baten die jüdischen Obersten Pilatus, daß <strong>de</strong>r To<strong>de</strong>skampf <strong>de</strong>r<br />

verurteilten abgekürzt und ihre Leiber noch vor Sonnenuntergang vom Kreuz genommen<br />

wür<strong>de</strong>n.<br />

Pilatus wollte ebensowenig wie sie Jesus am Kreuz hängen lassen. Mit seiner Zustimmung<br />

wur<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Übeltätern die Beine gebrochen, um ihren Tod zu beschleunigen; doch Jesus<br />

war bereits gestorben. <strong>Die</strong> rohen Soldaten waren durch alles, was sie von Jesus gesehen und<br />

gehört hatten, mil<strong>de</strong> gestimmt wor<strong>de</strong>n, und sie verzichteten darauf, ihm die Beine zu brechen.<br />

So erfüllte sich in <strong>de</strong>r Opferung <strong>de</strong>s Gotteslammes das Passahgesetz: „Sie sollen nichts davon<br />

übriglassen bis zum Morgen, auch keinen Knochen davon zerbrechen und sollen‘s ganz nach<br />

<strong>de</strong>r Ordnung <strong>de</strong>s Passah halten.“ 4.Mose 9,12. <strong>Die</strong> Priester und Obersten waren überrascht, daß<br />

529


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Jesus schon gestorben war. Der Kreuzestod be<strong>de</strong>utete ein sehr langsames Sterben, und es war<br />

schwer festzustellen, wann das Herz <strong>de</strong>s Gekreuzigten aufgehört hatte zu schlagen. Es war<br />

außergewöhnlich, wenn jemand innerhalb sechs Stun<strong>de</strong>n nach <strong>de</strong>r Kreuzigung starb. <strong>Die</strong><br />

Priester aber wollten Gewißheit über <strong>de</strong>n Tod Jesu haben, und auf ihre Veranlassung stieß ein<br />

Kriegsknecht einen Speer in die Seite <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s. Aus <strong>de</strong>r auf diese Weise entstan<strong>de</strong>nen<br />

Wun<strong>de</strong> flossen Wasser und Blut. Das wur<strong>de</strong> von allen festgestellt, die das Kreuz umstan<strong>de</strong>n,<br />

und Johannes vermittelt dieses Geschehen sehr genau: „Der Kriegsknechte einer öffnete seine<br />

Seite mit einem Speer, und alsbald ging Blut und Wasser heraus. Und <strong>de</strong>r das gesehen hat, <strong>de</strong>r<br />

hat es bezeugt, und sein Zeugnis ist wahr, und er weiß, daß er die Wahrheit sagt, damit auch ihr<br />

glaubet. Denn solches ist geschehen, daß die Schrift erfüllt wür<strong>de</strong>: ‚Ihr sollt ihm kein Bein<br />

brechen.‘ Und abermals spricht die Schrift: ‚Sie wer<strong>de</strong>n sehen auf <strong>de</strong>n, in welchen sie gestochen<br />

haben.‘“ Johannes 19,34-37.<br />

Nach <strong>de</strong>r Auferstehung verbreiteten die Priester und Obersten das Gerücht, Christus sei nicht<br />

am Kreuz gestorben, son<strong>de</strong>rn nur ohnmächtig gewor<strong>de</strong>n, und man habe ihn später wie<strong>de</strong>rbelebt.<br />

Auch wur<strong>de</strong> behauptet, daß nicht ein wirklicher Leib aus Fleisch und Knochen, son<strong>de</strong>rn ein<br />

nachgeahmter Körper ins Grab gelegt wor<strong>de</strong>n sei. <strong>Die</strong> Tat <strong>de</strong>r römischen Kriegsknechte aber<br />

wi<strong>de</strong>rlegte diese Lügen. Sie brachen seine Beine nicht, weil er bereits gestorben war. Nur um<br />

die Priester zufrie<strong>de</strong>nzustellen, stießen sie in seine Seite. Wäre Jesu Leben nicht schon<br />

erloschen gewesen, so hätte diese Wun<strong>de</strong> seinen Tod herbeigeführt. Aber nicht <strong>de</strong>r Stich mit<br />

<strong>de</strong>m Speer und auch nicht die Schmerzen am Kreuz riefen <strong>de</strong>n Tod Jesu hervor. Sein lauter<br />

Schrei im Augenblick <strong>de</strong>s Sterbens (Matthäus 27,50; Lukas 23,46) sowie das Heraustreten von<br />

Wasser und Blut aus seiner Seite beweisen, daß er an gebrochenem Herzen starb. Seelenangst<br />

war die Ursache. <strong>Die</strong> Sün<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Welt hat ihn getötet.<br />

Mit <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> Jesu schwan<strong>de</strong>n die Hoffnungen <strong>de</strong>r Jünger. Sie schauten auf seine<br />

geschlossenen Augenli<strong>de</strong>r und auf das geneigte Haupt, auf sein mit Blut getränktes Haar, seine<br />

durchbohrten Hän<strong>de</strong> und Füße, und ihr Schmerz war unbeschreiblich. Bis zum letzten<br />

Augenblick hatten sie sich gegen <strong>de</strong>n Gedanken seines To<strong>de</strong>s gewehrt; sie konnten es nicht<br />

fassen, daß ihr Heiland wirklich gestorben war. In ihrem Kummer dachten sie nicht an seine<br />

Worte, die gera<strong>de</strong> dieses Geschehen vorhergesagt hatten. Nichts von alle<strong>de</strong>m, was er ihnen<br />

mitgeteilt hatte, konnte sie trösten. Sie sahen nur das Kreuz und das bluten<strong>de</strong> Opfer. <strong>Die</strong><br />

Zukunft schien ihnen von Hoffnungslosigkeit verdunkelt. Ihr Glaube an Jesus war<br />

verlorengegangen, und doch hatten sie <strong>de</strong>n Herrn nie mehr geliebt als jetzt. Nie zuvor hatten sie<br />

seine Be<strong>de</strong>utung und die Notwendigkeit seiner Gegenwart stärker empfun<strong>de</strong>n als in diesen<br />

Stun<strong>de</strong>n.<br />

Sogar <strong>de</strong>r tote Leib <strong>Christi</strong> war <strong>de</strong>n Jüngern überaus teuer. Sie wollten ihm gern ein würdiges<br />

Begräbnis geben; nur wußten sie nicht, wie sie dies bewerkstelligen sollten. Jesus war wegen<br />

Verrats an <strong>de</strong>r römischen Macht verurteilt wor<strong>de</strong>n. Wer auf Grund einer solchen Anklage<br />

hingerichtet wor<strong>de</strong>n war, <strong>de</strong>n schaffte man auf einen eigens für diese Verbrecher angelegten<br />

Begräbnisplatz. Der Jünger Johannes war mit <strong>de</strong>n Frauen aus Galiläa an <strong>de</strong>r Kreuzigungsstätte<br />

geblieben. Sie wollten <strong>de</strong>n Leib ihres Herrn nicht in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n gefühlloser Soldaten und in<br />

530


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

einem unehrenhaften Grab wissen. Doch sie konnten es nicht verhin<strong>de</strong>rn, da sie kein<br />

Verständnis von <strong>de</strong>n jüdischen Obersten erwarten durften und auch keinen Einfluß auf Pilatus<br />

hatten.<br />

In dieser Notlage kamen Joseph von Arimathia und Niko<strong>de</strong>mus <strong>de</strong>n Jüngern zu Hilfe. Bei<strong>de</strong><br />

waren Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Hohen Rates und mit Pilatus gut bekannt; dazu waren sie reich und<br />

besaßen großen Einfluß. <strong>Die</strong>se Männer waren entschlossen, <strong>de</strong>m Leib <strong>de</strong>s Herrn ein ehrenhaftes<br />

Begräbnis zu geben. Joseph ging kurzentschlossen zu Pilatus und bat ihn um <strong>de</strong>n Leichnam<br />

Jesu. Jetzt erst erfuhr Pilatus, daß Jesus gestorben war. Wi<strong>de</strong>rspruchsvolle Berichte über die<br />

Begleiterscheinungen während <strong>de</strong>r Kreuzigung hatte er schon gehört, doch die Kun<strong>de</strong> vom<br />

To<strong>de</strong> Jesu war ihm vorsätzlich verheimlicht wor<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> Priester und Obersten hatten ihn in<br />

Bezug auf <strong>de</strong>n Leichnam Jesu bereits vor einem Betrugsversuch <strong>de</strong>r Anhänger Jesu gewarnt.<br />

Als er von Josephs Bitte hörte, sandte er <strong>de</strong>shalb nach <strong>de</strong>m Hauptmann, <strong>de</strong>r die Wache am<br />

Kreuz hatte, und erhielt von ihm die Gewißheit <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s Jesu. Er ließ sich von ihm auch einen<br />

Bericht über die Geschehnisse auf Golgatha geben, <strong>de</strong>r Josephs Darstellung bestätigte. <strong>Die</strong> Bitte<br />

Josephs wur<strong>de</strong> gewährt. Während sich Johannes noch um das Begräbnis seines Meisters sorgte,<br />

kehrte Joseph mit <strong>de</strong>r von Pilatus getroffenen Anordnung zurück, <strong>de</strong>n Leichnam Jesu vom<br />

Kreuz zu nehmen. Niko<strong>de</strong>mus beschaffte darauf eine wertvolle, hun<strong>de</strong>rt Pfund schwere<br />

Mischung von Myrrhe und Aloe zum Einbalsamieren. Dem Angesehensten in ganz Jerusalem<br />

hätte zu seinem To<strong>de</strong> keine größere Ehre erwiesen wer<strong>de</strong>n können. <strong>Die</strong> Jünger waren erstaunt,<br />

daß jene begüterten Obersten <strong>de</strong>m Begräbnis ihres Herrn die gleiche Anteilnahme<br />

entgegenbrachten wie sie selbst.<br />

We<strong>de</strong>r Joseph von Arimathia noch Niko<strong>de</strong>mus hatten sich öffentlich zum Heiland bekannt,<br />

als er noch lebte. Sie wußten, ein solcher Schritt wür<strong>de</strong> sie vom Hohen Rat ausschließen;<br />

außer<strong>de</strong>m hofften sie, ihn durch ihren Einfluß in <strong>de</strong>n Beratungen schützen zu können. Eine<br />

Zeitlang schienen sie auch Erfolg gehabt zu haben, aber die verschlagenen Priester hatten bald<br />

die Schutzmaßnahmen <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Ratsmitglie<strong>de</strong>r vereitelt, als sie <strong>de</strong>ren Bewun<strong>de</strong>rung für<br />

Christus erkannten. In ihrer Abwesenheit wur<strong>de</strong> Jesus verurteilt und <strong>de</strong>m Kreuzestod<br />

übergeben. Jetzt, da Jesus gestorben war, verbargen sie nicht länger ihre Zuneigung zu ihm.<br />

Während die Jünger zu furchtsam waren, um sich öffentlich als seine Nachfolger zu bekennen,<br />

traten Joseph und Niko<strong>de</strong>mus mutig hervor, um ihnen zu helfen. <strong>Die</strong> Hilfe dieser bei<strong>de</strong>n<br />

wohlhaben<strong>de</strong>n und hochgeachteten Männer war in dieser Stun<strong>de</strong> äußerst wertvoll. Sie konnten<br />

für <strong>de</strong>n toten Meister tun, was <strong>de</strong>n armen Jüngern unmöglich gewesen wäre. Ihr Reichtum und<br />

Einfluß schützte die Jünger auch weitgehend vor <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rtracht <strong>de</strong>r Priester und Obersten.<br />

Vorsichtig und ehrerbietig nahmen sie Jesu Leichnam eigenhändig vom Kreuz ab. Tränen<br />

<strong>de</strong>s Mitleids schossen ihnen in die Augen, als sie seinen geschlagenen und verwun<strong>de</strong>ten Körper<br />

betrachteten. Joseph besaß ein neues, in einen Felsen gehauenes Grab. Er hatte es für sich selbst<br />

bestimmt; da es aber nahe bei Golgatha gelegen war, bereitete er es nun für die Aufnahme <strong>de</strong>s<br />

Leichnams Jesu vor. Dann wur<strong>de</strong> Jesu Leib zusammen mit <strong>de</strong>n Spezereien, die Niko<strong>de</strong>mus<br />

mitgebracht hatte, sorgfältig in ein Leinentuch eingeschlagen und zum Grabe getragen. Dort<br />

streckten die drei Jünger seine verkrümmten Glie<strong>de</strong>r und falteten die zerstochenen Hän<strong>de</strong> auf<br />

531


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

seiner Brust. <strong>Die</strong> Frauen aus Galiläa kamen, um sich davon zu überzeugen, daß alles getan<br />

wor<strong>de</strong>n war, was für <strong>de</strong>n Leichnam ihres geliebten Lehrers getan wer<strong>de</strong>n konnte. Dann sahen<br />

sie, wie ein schwerer Stein vor <strong>de</strong>n Eingang <strong>de</strong>s Grabgewölbes gewälzt und <strong>de</strong>r Heiland <strong>de</strong>r<br />

Ruhe überlassen wur<strong>de</strong>. <strong>Die</strong> Frauen waren die letzten am Kreuz gewesen, sie waren auch die<br />

letzten am Grabe <strong>Christi</strong>. <strong>Die</strong> Abendschatten hatten sich schon auf das Land gesenkt, da weilten<br />

sie immer noch an <strong>de</strong>r Ruhestätte ihres Herrn und beweinten in bitteren Tränen das Schicksal<br />

<strong>de</strong>ssen, <strong>de</strong>n sie liebten. „Sie kehrten aber um ... Und <strong>de</strong>n Sabbat über waren sie still nach <strong>de</strong>m<br />

Gesetz.“ Lukas 23,56.<br />

<strong>Die</strong>sen Sabbat konnten we<strong>de</strong>r die trauern<strong>de</strong>n Jünger noch die Priester, Obersten,<br />

Schriftgelehrten und das Volk jemals wie<strong>de</strong>r vergessen. Bei Sonnenuntergang erschallten am<br />

Rüsttag die Trompeten, die <strong>de</strong>n Beginn <strong>de</strong>s Sabbats ankün<strong>de</strong>ten. Das Passah wur<strong>de</strong> gefeiert wie<br />

seit Jahrhun<strong>de</strong>rten, während <strong>de</strong>r, auf <strong>de</strong>n es hinwies, von ruchlosen Hän<strong>de</strong>n getötet wor<strong>de</strong>n war<br />

und in Josephs Grab lag. Am Sabbat war <strong>de</strong>r Tempelhof mit Gläubigen gefüllt; <strong>de</strong>r<br />

Hohepriester, <strong>de</strong>r auf Golgatha Christus verspottet hatte, war prächtig geschmückt in seinen<br />

priesterlichen Gewän<strong>de</strong>rn. Priester mit weißen Turbanen gingen eifrig ihren Aufgaben nach.<br />

Doch manche <strong>de</strong>r Anwesen<strong>de</strong>n fühlten sich beunruhigt, als die Stiere und Ziegen als Sündopfer<br />

dargebracht wur<strong>de</strong>n. Sie erkannten zwar nicht, daß das Wesen bereits <strong>de</strong>n Schatten aufgehoben<br />

hatte, daß ein ewiges Opfer für die Sün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Welt dargebracht wor<strong>de</strong>n war. Auch wußten sie<br />

nicht, daß ihr sinnbildlicher Gottesdienst allen weiteren Wert verloren hatte. Doch nie zuvor<br />

hatten die Menschen einem solchen Gottesdienst mit <strong>de</strong>rartig wi<strong>de</strong>rstreiten<strong>de</strong>n Gefühlen<br />

beigewohnt. <strong>Die</strong> Posaunen, die Musikinstrumente und die Stimmen <strong>de</strong>r Sänger klangen so laut<br />

und klar wie immer. Jedoch lag ein Hauch <strong>de</strong>r Fremdheit über allem. Einer nach <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>rn<br />

fragte, welches son<strong>de</strong>rbare Ereignis stattgefun<strong>de</strong>n habe. Das Allerheiligste, das bisher geschützt<br />

war, lag offen vor aller Augen; <strong>de</strong>r schwere Vorhang, aus reinem Leinen gewebt und mit Gold,<br />

Purpur und Scharlach prächtig durchwirkt, war von oben bis unten zerrissen. Der Platz, an <strong>de</strong>m<br />

Gott <strong>de</strong>m Hohenpriester gegenübertrat, um seine Herrlichkeit mitzuteilen, <strong>de</strong>r Ort, <strong>de</strong>r bisher<br />

Gottes heiliger Audienzraum gewesen war, lag vor aller Augen offen da — er war eine Stätte,<br />

die <strong>de</strong>r Herr nicht länger anerkannte. Mit dunklen Vorahnungen dienten die Priester am Altar;<br />

die Entschleierung <strong>de</strong>s göttlichen Geheimnisses im Allerheiligsten erfüllte sie mit Furcht vor<br />

einem kommen<strong>de</strong>n Unheil.<br />

<strong>Die</strong> Gedanken vieler waren noch mit <strong>de</strong>n Vorgängen auf Golgatha beschäftigt. Von <strong>de</strong>r<br />

Kreuzigung bis zur Auferstehung durchforschten viele schlaflose Augen beständig die<br />

Weissagungen <strong>de</strong>r heiligen Schriften. Einige wollten sich <strong>de</strong>r vollen Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s<br />

Passahfestes vergewissern; an<strong>de</strong>re wollten feststellen, daß Jesus nicht <strong>de</strong>r war, für <strong>de</strong>n er sich<br />

ausgegeben hatte; wie<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re suchten mit trauern<strong>de</strong>m Herzen nach Beweisen, daß Jesus <strong>de</strong>r<br />

wahre Messias war. Obgleich sie mit verschie<strong>de</strong>nen Zielsetzungen die heiligen Schriften<br />

durchforschten, wur<strong>de</strong>n sie doch alle von einer Wahrheit überzeugt: daß sich die Prophezeiung<br />

in <strong>de</strong>n Ereignissen <strong>de</strong>r letzten Tage erfüllt hatte und daß <strong>de</strong>r Gekreuzigte <strong>de</strong>r Erlöser <strong>de</strong>r Welt<br />

war. Viele, die diesem Gottesdienst beiwohnten, haben niemals wie<strong>de</strong>r am Passahfest<br />

teilgenommen. Sogar viele Priester wur<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>m edlen Charakter Jesu überzeugt. Ihr<br />

532


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Suchen in <strong>de</strong>n Schriften war nicht vergebens gewesen; und nach Jesu Auferstehung anerkannten<br />

sie ihn als <strong>de</strong>n Sohn Gottes.<br />

Als Niko<strong>de</strong>mus Jesus am Kreuz erhöht sah, erinnerte er sich <strong>de</strong>r Worte, die Jesus in jener<br />

Nacht am Ölberg gesprochen hatte: „Wie Mose in <strong>de</strong>r Wüste die Schlange erhöht hat, so muß<br />

<strong>de</strong>s Menschen Sohn erhöht wer<strong>de</strong>n, auf daß alle, die an ihn glauben, das ewige Leben<br />

haben.“ Johannes 3,14.15. An jenem Sabbat, als Jesus im Grabe ruhte, hatte Niko<strong>de</strong>mus<br />

Gelegenheit, über diese Worte nachzu<strong>de</strong>nken. Ein helleres Licht erleuchtet jetzt seinen<br />

Verstand, und Jesu Worte blieben ihm nicht mehr länger geheimnisvoll. Er fühlte, daß er vieles<br />

versäumt hatte, weil er nicht schon zu <strong>de</strong>ssen Lebzeiten mit Jesus in Verbindung getreten war.<br />

Jetzt kamen ihm die Ereignisse auf Golgatha in <strong>de</strong>n Sinn. Jesu Gebet für seine Mör<strong>de</strong>r und seine<br />

Antwort auf die Bitte <strong>de</strong>s sterben<strong>de</strong>n Übeltäters gingen <strong>de</strong>m gelehrten Ratsmitglied zu Herzen.<br />

Vor seinem inneren Auge erblickte er noch einmal <strong>de</strong>n sterben<strong>de</strong>n Heiland, und wie<strong>de</strong>r hörte er<br />

jenen letzten Aufschrei, wie aus <strong>de</strong>m Mun<strong>de</strong> eines siegreichen Eroberers: „Es ist<br />

vollbracht!“ Johannes 19,30. Erneut sah er die taumeln<strong>de</strong> Er<strong>de</strong>, <strong>de</strong>n verfinsterten Himmel, <strong>de</strong>n<br />

zerrissenen Vorhang, die erbeben<strong>de</strong>n Felsen — und sein Glaube war für immer gegrün<strong>de</strong>t.<br />

Gera<strong>de</strong> das Geschehen, das die Hoffnungen <strong>de</strong>r Jünger vernichtete, überzeugte Joseph und<br />

Niko<strong>de</strong>mus von <strong>de</strong>r Gottheit Jesu. Ihre Befürchtungen wur<strong>de</strong>n durch <strong>de</strong>n Mut eines festen,<br />

unerschütterlichen Glaubens überwun<strong>de</strong>n.<br />

Nie hatte Christus so sehr die Aufmerksamkeit <strong>de</strong>r Menge erregt wie jetzt, da er im Grabe<br />

ruhte. Gewohnheitsgemäß brachte das Volk seine Kranken und Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n in die Höfe <strong>de</strong>s<br />

Tempels und fragte: Wer kann uns sagen, wo Jesus von Nazareth ist? Viele waren von weit her<br />

gekommen, um <strong>de</strong>n zu sehen, <strong>de</strong>r Kranke geheilt und Tote auferweckt hatte. Von allen Seiten<br />

erscholl <strong>de</strong>r Ruf: Wir wollen zu Christus, <strong>de</strong>m großen Arzt! Bei dieser Gelegenheit wur<strong>de</strong>n alle<br />

jene von <strong>de</strong>n Priestern untersucht, bei <strong>de</strong>nen man Symptome <strong>de</strong>s Aussatzes festzustellen<br />

glaubte. Viele mußten mit anhören, wie ihre Männer, Frauen o<strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r als aussätzig erklärt<br />

wur<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong>se Armen mußten daraufhin ihre Heime verlassen, auf die Fürsorge seitens ihrer<br />

Freun<strong>de</strong> verzichten und je<strong>de</strong>n Fremdling mit <strong>de</strong>m traurigen Ruf „Unrein, unrein!“ davor<br />

warnen, sich ihnen zu nähern. Jesu gütige Hän<strong>de</strong> hatten sich nie geweigert, die ekelerregen<strong>de</strong>n<br />

Leprakranken mit heilen<strong>de</strong>r Kraft zu berühren. Jetzt lagen sie gefaltet auf seiner Brust. Seine<br />

Lippen, die <strong>de</strong>r Aussätzigen Bitten mit <strong>de</strong>n tröstlichen Worten beantwortet hatten: „Ich will‘s<br />

tun; sei gereinigt!“ (Matthäus 8,3) waren nun verstummt. Viele Menschen flehten die<br />

Hohenpriester und Obersten an, Mitleid mit ihnen zu haben und ihnen zu helfen. Es war<br />

vergebens. Allem Anschein nach wollten sie <strong>de</strong>n leben<strong>de</strong>n Christus wie<strong>de</strong>r in ihrer Mitte haben.<br />

Mit beharrlichem Ernst fragten sie nach ihm und ließen sich nicht abweisen. Deshalb vertrieb<br />

man sie aus <strong>de</strong>n Tempelhöfen. Soldaten bewachten die Tore; sie sollten das Volk zurückhalten,<br />

das mit <strong>de</strong>n Kranken und Sterben<strong>de</strong>n kam und Einlaß begehrte.<br />

<strong>Die</strong> Kranken, die gekommen waren, um vom Heiland geheilt zu wer<strong>de</strong>n, wur<strong>de</strong>n bitter<br />

enttäuscht. <strong>Die</strong> Straßen füllten sich mit Klagen<strong>de</strong>n. Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> starben, weil sie von Jesu<br />

heilen<strong>de</strong>r Hand nicht berührt wer<strong>de</strong>n konnten. Ärzte fragte man vergeblich um Rat. Keiner<br />

besaß die Fähigkeit <strong>de</strong>s Mannes, <strong>de</strong>r nun in Josephs Grab lag. Das Wehklagen <strong>de</strong>r Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />

533


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

machte Tausen<strong>de</strong>n von Menschen bewußt, daß in <strong>de</strong>r Welt ein großes Licht erloschen war.<br />

Ohne Christus war es dunkel und finster auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>. Viele, die <strong>de</strong>n Ruf „Kreuzige, kreuzige<br />

ihn!“ mit ihren Stimmen verstärkt hatten, erkannten jetzt, welches Unglück sie getroffen hatte.<br />

Am liebsten hätten sie jetzt — wenn <strong>de</strong>r Heiland noch gelebt hätte —, genauso laut gerufen:<br />

Gebt uns Jesus!<br />

Als bekannt wur<strong>de</strong>, daß Jesus auf Anstiften <strong>de</strong>r Priester getötet wor<strong>de</strong>n war, erfragte man<br />

Näheres über sein Sterben. <strong>Die</strong> Einzelheiten über sein Verhör hielt man so geheim wie möglich;<br />

doch während er im Grabe ruhte, war sein Name auf Tausen<strong>de</strong>n von Lippen, und Berichte von<br />

<strong>de</strong>m Scheinverhör Jesu und von <strong>de</strong>r unmenschlichen Haltung <strong>de</strong>r Priester und Obersten<br />

machten überall die Run<strong>de</strong>. Menschen von Verstand und Urteilskraft for<strong>de</strong>rten von <strong>de</strong>n<br />

Priestern und Obersten eine klare Auslegung <strong>de</strong>r Messiasweissagungen im alten Testament.<br />

Während diese als Antwort Lügen zu ersinnen versuchten, gebär<strong>de</strong>ten sie sich wie<br />

Geistesgestörte. Sie konnten die Weissagungen, die sich auf <strong>Christi</strong> Lei<strong>de</strong>n und Sterben<br />

beziehen, nicht erklären, und viele Fragesteller wur<strong>de</strong>n davon überzeugt, daß sich die Schrift<br />

erfüllt habe.<br />

<strong>Die</strong> Rache, die die Priester sich so süß gedacht hatten, wur<strong>de</strong> ihnen immer mehr zur<br />

Bitterkeit. Sie wußten, daß sie schweren Vorwürfen <strong>de</strong>s Volkes ausgesetzt sein wür<strong>de</strong>n und daß<br />

jetzt gera<strong>de</strong> diejenigen, die sie gegen Jesus beeinflußt hatten, über ihr schandbares Werk<br />

entsetzt waren. <strong>Die</strong> Priester hatten glauben machen wollen, daß Jesus ein Betrüger sei; aber es<br />

war vergebens gewesen. Einige von ihnen hatten am Grabe <strong>de</strong>s Lazarus gestan<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>n<br />

Toten ins Leben zurückkehren sehen. Sie zitterten vor Furcht, daß Jesus sich selbst ins Leben<br />

zurückrufen könnte und wie<strong>de</strong>r vor ihnen erscheinen wür<strong>de</strong>, hatten sie ihn doch sagen hören,<br />

daß er Macht habe, sein Leben zu lassen und es wie<strong>de</strong>rzunehmen. Sie dachten ferner daran, daß<br />

er gesagt hatte: „Brechet diesen Tempel ab, und in drei Tagen will ich ihn aufrichten.“ Johannes<br />

2,19. Von Judas waren ihnen Jesu Worte wie<strong>de</strong>rholt wor<strong>de</strong>n, die er auf <strong>de</strong>r letzten Reise nach<br />

Jerusalem zu seinen Jüngern gesprochen hatte: „Siehe, wir ziehen hinauf nach Jerusalem, und<br />

<strong>de</strong>s Menschen Sohn wird <strong>de</strong>n Hohenpriestern und Schriftgelehrten überantwortet wer<strong>de</strong>n; und<br />

sie wer<strong>de</strong>n ihn verdammen zum To<strong>de</strong> und wer<strong>de</strong>n ihn überantworten <strong>de</strong>n Hei<strong>de</strong>n, ihn zu<br />

verspotten und zu geißeln und zu kreuzigen, und am dritten Tage wird er<br />

auferstehen.“ Matthäus 20,18.19. Über diese Worte hatten sie damals gespottet und gelacht.<br />

Doch jetzt fiel ihnen auf, daß sich Jesu Vorhersagen bisher stets erfüllt hatten. Er hatte gesagt,<br />

er wür<strong>de</strong> am dritten Tage auferstehen, und wer wollte behaupten, daß sich das nicht auch<br />

erfüllte? Sie bemühten sich zwar, diese Gedanken zu verbannen, aber es ging nicht. Gleich<br />

ihrem Vater, <strong>de</strong>m Teufel, glaubten sie und zitterten.<br />

Nach<strong>de</strong>m nun die heftige Erregung gewichen war, drängte sich Jesu Bild <strong>de</strong>n Priestern<br />

immer stärker auf. Sie sahen ihn, wie er gelassen und ohne zu klagen vor seinen Fein<strong>de</strong>n stand<br />

und <strong>de</strong>n Beschimpfungen und Mißhandlungen wortlos standhielt. Alle Phasen <strong>de</strong>s Verhörs und<br />

<strong>de</strong>r Kreuzigung zogen in Gedanken noch einmal an ihnen vorüber und brachten sie<br />

unwi<strong>de</strong>rstehlich zu <strong>de</strong>r Überzeugung, daß Jesus <strong>de</strong>r Sohn Gottes war. Sie fühlten, daß er zu<br />

irgen<strong>de</strong>iner Zeit wie<strong>de</strong>r vor ihnen stehen könne, nicht mehr als Angeklagter, son<strong>de</strong>rn als<br />

534


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Ankläger, als Richter und nicht mehr als Gerichteter; <strong>de</strong>r Ermor<strong>de</strong>te wür<strong>de</strong> Gerechtigkeit durch<br />

die Vernichtung seiner Mör<strong>de</strong>r for<strong>de</strong>rn.<br />

<strong>Die</strong> Priester konnten an diesem Sabbat nur wenig Ruhe fin<strong>de</strong>n. Obwohl sie sonst die<br />

Schwelle eines heidnischen Hauses nicht überschritten, weil sie fürchteten, sich dabei zu<br />

verunreinigen, kamen sie doch zusammen, um sich über <strong>de</strong>n Leichnam Jesu zu beraten. Tod<br />

und Grab durften <strong>de</strong>n nicht wie<strong>de</strong>r hergeben, <strong>de</strong>n sie gekreuzigt hatten. „Des an<strong>de</strong>rn Tages ...<br />

kamen die Hohenpriester und Pharisäer sämtlich zu Pilatus und sprachen: Herr, wir haben<br />

bedacht, daß dieser Verführer sprach, da er noch lebte: Ich will nach drei Tagen auferstehen.<br />

Darum befiehl, daß man das Grab verwahre bis an <strong>de</strong>n dritten Tag, auf daß nicht seine Jünger<br />

kommen und stehlen ihn und sagen zum Volk: Er ist auferstan<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>n Toten; und wer<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>r letzte Betrug ärger als <strong>de</strong>r erste. Pilatus sprach zu ihnen: Da habt ihr die Hüter; gehet hin<br />

und verwahret es, so gut ihr könnt.“ Matthäus 27,62-65.<br />

<strong>Die</strong> Priester gaben alle Anweisungen zur Sicherung <strong>de</strong>s Grabes. Ein großer Stein war vor<br />

<strong>de</strong>n Eingang gewälzt wor<strong>de</strong>n; über diesen zogen sie Schnüre, befestigten die En<strong>de</strong>n an <strong>de</strong>m<br />

massiven Felsen und versiegelten sie mit <strong>de</strong>m römischen Siegel. Der Stein konnte also nicht<br />

beseitigt wer<strong>de</strong>n, ohne das Siegel zu verletzen. Eine Wache von hun<strong>de</strong>rt Soldaten wur<strong>de</strong> dann<br />

um das Grab aufgestellt, um es vor Unberufenen zu schützen. <strong>Die</strong> Priester taten alles ihnen nur<br />

mögliche, damit <strong>Christi</strong> Leichnam dort bliebe, wo er hingelegt wor<strong>de</strong>n war. Der Tote wur<strong>de</strong> so<br />

gesichert, als sollte er bis in alle Ewigkeit im Grabe ruhen.<br />

So berieten und planten schwache Menschen. Wie wenig erkannten diese Mör<strong>de</strong>r die<br />

Zwecklosigkeit ihrer Bemühungen! Doch durch ihre Tat wur<strong>de</strong> Gott verherrlicht; <strong>de</strong>nn gera<strong>de</strong><br />

die Anstrengungen, die gemacht wur<strong>de</strong>n, um <strong>Christi</strong> Auferstehung zu verhin<strong>de</strong>rn, mußten die<br />

überzeugendsten Beweise liefern. Je größer die Zahl <strong>de</strong>r das Grab bewachen<strong>de</strong>n Soldaten, <strong>de</strong>sto<br />

stärker wür<strong>de</strong> das Zeugnis seiner Auferstehung sein. Jahrhun<strong>de</strong>rte vor <strong>Christi</strong> Tod hatte die<br />

Heilige Schrift durch <strong>de</strong>n Psalmisten erklärt: „Warum toben die Hei<strong>de</strong>n und murren die Völker<br />

so vergeblich? <strong>Die</strong> Könige <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> lehnen sich auf, und die Herren halten Rat miteinan<strong>de</strong>r<br />

wi<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Herrn und seinen Gesalbten ... aber <strong>de</strong>r im Himmel wohnt, lachet ihrer, und <strong>de</strong>r Herr<br />

spottet ihrer.“ Psalm 2,1.2.4. Römische Soldaten und römische Waffen waren machtlos, um <strong>de</strong>n<br />

Herrn <strong>de</strong>s Lebens im Grabe festzuhalten. <strong>Die</strong> Stun<strong>de</strong> seiner Befreiung stand nahe bevor.<br />

535


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 81: Der Herr ist auferstan<strong>de</strong>n!<br />

Der Sabbat war vergangen und <strong>de</strong>r erste Wochentag angebrochen. Es war die Zeit <strong>de</strong>r<br />

dunkelsten Stun<strong>de</strong>, kurz vor Tagesanbruch. Christus lag noch als Gefangener in <strong>de</strong>m engen<br />

Grab; <strong>de</strong>r große Stein war noch davor, das Siegel war ungebrochen, und die römischen Soldaten<br />

hielten ihre Wache. Auch unsichtbare Wächter, Scharen böser Engel, hatten sich um <strong>de</strong>n Platz<br />

gelagert. Wäre es möglich gewesen, dann hätte <strong>de</strong>r Fürst <strong>de</strong>r Finsternis mit seinem Heer von<br />

Abgefallenen auf ewig das Grab versiegelt gelassen, das <strong>de</strong>n Sohn Gottes gefangenhielt. Aber<br />

auch eine himmlische Schar umgab die Grabstätte. Mit beson<strong>de</strong>rer Kraft ausgestattete Engel<br />

wachten ebenfalls und warteten darauf, <strong>de</strong>n Fürsten <strong>de</strong>s Lebens zu begrüßen. „Und siehe, es<br />

geschah ein großes Erdbeben. Denn ein Engel <strong>de</strong>s Herrn kam vom Himmel herab.“ Beklei<strong>de</strong>t<br />

mit <strong>de</strong>r Rüstung Gottes, hatte dieser Engel die himmlischen Höfe verlassen. <strong>Die</strong> hellen Strahlen<br />

<strong>de</strong>r Herrlichkeit Gottes gingen vor ihm her und erleuchteten seinen Pfad. „Seine Erscheinung<br />

war wie <strong>de</strong>r Blitz und sein Kleid weiß wie Schnee. <strong>Die</strong> Hüter aber erschraken vor Furcht und<br />

wur<strong>de</strong>n, als wären sie tot.“ Matthäus 28,2-4.<br />

Ihr Priester und Obersten, wo bleibt jetzt die Macht eurer Wache? Tapfere Soldaten, die vor<br />

keiner menschlichen Gewalt zurückgeschreckt waren, waren ohne Schwert o<strong>de</strong>r Lanze<br />

„gefesselt“. Was sie vor sich sahen, war nicht <strong>de</strong>r Anblick eines sterblichen Kriegers; sie sahen<br />

das Angesicht <strong>de</strong>s Mächtigsten im Heer <strong>de</strong>s Herrn. <strong>Die</strong>ser Himmelsbote war kein an<strong>de</strong>rer als<br />

<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r Luzifers einstige Stellung eingenommen hatte; es war <strong>de</strong>rselbe, <strong>de</strong>r auch auf<br />

Bethlehems Fluren die Geburt <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s verkündigte. <strong>Die</strong> Er<strong>de</strong> erzitterte bei seinem<br />

Herannahen, die Scharen <strong>de</strong>r Finsternis flohen erschreckt, und als er <strong>de</strong>n Stein von Jesu Grab<br />

fortwälzte, schien es, als neigte sich <strong>de</strong>r Himmel auf die Er<strong>de</strong>. <strong>Die</strong> Soldaten sahen, daß er <strong>de</strong>n<br />

Stein wie einen Kiesel zur Seite schob, und hörten ihn mit lauter Stimme rufen: Du Sohn<br />

Gottes, komm heraus! Dein Vater ruft dich! Dann wur<strong>de</strong>n sie gewahr, wie Jesus seinem Grabe<br />

entstieg und über <strong>de</strong>r leeren Grabeshöhle laut ausrief: „Ich bin die Auferstehung und das<br />

Leben.“ Johannes 11,25. Als er in Majestät und Herrlichkeit herauskam, beugte sich die<br />

Engelschar in Anbetung tief vor <strong>de</strong>m Erlöser und jubelte <strong>de</strong>m Auferstan<strong>de</strong>nen in Loblie<strong>de</strong>rn zu.<br />

Ein Erdbeben kennzeichnete die Stun<strong>de</strong>, da Jesus sein Leben ließ; ein Erdbeben wie<strong>de</strong>rum<br />

bezeugte <strong>de</strong>n Augenblick, da er es im Triumph wie<strong>de</strong>rnahm. Er, <strong>de</strong>r Tod und Grab überwun<strong>de</strong>n<br />

hatte, entstieg unter <strong>de</strong>m Schwanken <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>, unter <strong>de</strong>m Zucken <strong>de</strong>r Blitze und <strong>de</strong>m Rollen <strong>de</strong>s<br />

Donners im Schritt eines Siegers seiner Gruft. Wenn er wie<strong>de</strong>rkommen wird, dann wird er<br />

„nicht allein die Er<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn auch <strong>de</strong>n Himmel“ (Hebräer 12,26) bewegen. „<strong>Die</strong> Er<strong>de</strong> wird<br />

taumeln wie ein Trunkener und wird hin und her geworfen wie eine schwanken<strong>de</strong> Hütte.“ Jesaja<br />

24,20. „Der Himmel wird zusammengerollt wer<strong>de</strong>n wie eine Buchrolle.“ Jesaja 34,4. „<strong>Die</strong><br />

Elemente aber wer<strong>de</strong>n vor Hitze schmelzen, und die Er<strong>de</strong> und die Werke, die darauf sind,<br />

wer<strong>de</strong>n verbrennen.“ 2.Petrus 3,10. „Aber seinem Volk wird <strong>de</strong>r Herr eine Zuflucht sein und<br />

eine Burg <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn Israel.“ Joel 4,16.<br />

Bei Jesu Tod hatten die Soldaten die Er<strong>de</strong> am Tage in Finsternis gehüllt gesehen; bei seiner<br />

Auferstehung aber sahen sie, wie <strong>de</strong>r Glanz <strong>de</strong>r Engel die Nacht erleuchtete, und sie hörten die<br />

536


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

große Freu<strong>de</strong> und <strong>de</strong>n Jubel <strong>de</strong>r himmlischen Scharen, als diese sangen: Du hast Satan und die<br />

Mächte <strong>de</strong>r Finsternis überwun<strong>de</strong>n; du hast <strong>de</strong>n Tod verschlungen in <strong>de</strong>n Sieg! Christus kam<br />

verherrlicht aus <strong>de</strong>m Grabe hervor, und die römischen Soldaten sahen ihn. Sie konnten ihre<br />

Augen nicht abwen<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>m Antlitz <strong>de</strong>ssen, <strong>de</strong>n sie vor kurzem noch so verspottet und<br />

verhöhnt hatten. In diesem verklärten Wesen erkannten sie <strong>de</strong>n Gefangenen, <strong>de</strong>n sie im<br />

Richthaus gesehen und <strong>de</strong>m sie eine Dornenkrone geflochten hatten. Das war genau er, <strong>de</strong>r<br />

wehrlos vor Pilatus und Hero<strong>de</strong>s gestan<strong>de</strong>n hatte und <strong>de</strong>ssen Leib durch die grausame<br />

Geißelung so schlimm zugerichtet wor<strong>de</strong>n war. Er war an das Kreuz genagelt wor<strong>de</strong>n, und über<br />

ihn hatten die Priester und Obersten überheblich ihre Köpfe geschüttelt, wobei sie ausriefen:<br />

„An<strong>de</strong>rn hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen.“ Matthäus 27,42. Ihn hatte man in<br />

Josephs neues Grab gelegt. Aber <strong>de</strong>r Befehl <strong>de</strong>s Himmels hatte <strong>de</strong>m Gefangenen die Freiheit<br />

wie<strong>de</strong>rgegeben. Wür<strong>de</strong> man auch Berge über Berge auf sein Grab getürmt haben, nichts hätte<br />

ihn daran hin<strong>de</strong>rn können, das Grab zu verlassen.<br />

Beim Anblick <strong>de</strong>r Engel und <strong>de</strong>s verklärten Heilan<strong>de</strong>s waren die römischen Wächter<br />

ohnmächtig gewor<strong>de</strong>n und lagen wie tot am Bo<strong>de</strong>n. Als dann das himmlische Gefolge vor ihren<br />

Augen verborgen wur<strong>de</strong>, erhoben sie sich und rannten, so schnell ihre zittern<strong>de</strong>n Glie<strong>de</strong>r sie<br />

tragen konnten, zum Ausgang <strong>de</strong>s Gartens. Wie Trunkene taumelten sie in die Stadt und<br />

erzählten allen, <strong>de</strong>nen sie begegneten, diese wun<strong>de</strong>rbare Neuigkeit. Sie waren auf <strong>de</strong>m Wege zu<br />

Pilatus; aber ihr Bericht war bereits <strong>de</strong>r jüdischen Obrigkeit überbracht wor<strong>de</strong>n, und die<br />

Hohenpriester und Obersten verlangten sie zuerst zu sehen. <strong>Die</strong> Soldaten boten einen seltsamen<br />

Anblick. Zitternd vor Furcht, mit farblosen Gesichtern, berichteten sie von <strong>de</strong>r Auferstehung<br />

Jesu. Sie erzählten alles genauso, wie sie es erlebt hatten; es war ihnen keine Zeit geblieben,<br />

etwas an<strong>de</strong>res zu <strong>de</strong>nken o<strong>de</strong>r zu sagen als die Wahrheit. Schmerzlich bewegt sagten sie: Es war<br />

<strong>de</strong>r Sohn Gottes, <strong>de</strong>r gekreuzigt wor<strong>de</strong>n ist. Wir haben gehört, daß ihn ein Engel als Majestät<br />

<strong>de</strong>s Himmels, als König <strong>de</strong>r Herrlichkeit ankündigte.<br />

Totenblässe legte sich auf die Gesichter <strong>de</strong>r Priester Kaiphas versuchte zu sprechen; seine<br />

Lippen bewegten sich, aber er brachte keinen Laut heraus. <strong>Die</strong> Soldaten waren schon im<br />

Begriff, <strong>de</strong>n Raum wie<strong>de</strong>r zu verlassen, als eine Stimme sie zurückhielt. Kaiphas hatte endlich<br />

seine Sprache wie<strong>de</strong>rgefun<strong>de</strong>n. Wartet, wartet! beschwor er sie. Erzählt nieman<strong>de</strong>m, was ihr<br />

gesehen habt.<br />

Sie wur<strong>de</strong>n beauftragt, unwahre Mitteilungen zu machen. „Saget“, so be<strong>de</strong>uteten ihnen die<br />

Priester, „seine Jünger kamen <strong>de</strong>s Nachts und stahlen ihn, während wir schliefen.“ Matthäus<br />

28,13. Damit betrogen die Priester sich selbst; <strong>de</strong>nn wie konnten die Soldaten aussagen, daß die<br />

Jünger Jesu Leichnam gestohlen hätten, während sie schliefen? Wie konnten sie wissen, was<br />

sich während ihres Schlafes ereignet hatte? Und wenn die Jünger nachweislich <strong>de</strong>n Leichnam<br />

Jesu gestohlen hätten, wären die Priester nicht die ersten gewesen, sie zu verurteilen? O<strong>de</strong>r<br />

wenn die Hüter wirklich am Grabe geschlafen hätten, wären die Priester nicht zuerst bei Pilatus<br />

vorstellig gewor<strong>de</strong>n, um diese anzuklagen?<br />

<strong>Die</strong> Soldaten erschraken bei <strong>de</strong>m Gedanken, daß sie gewissermaßen sich selbst beschuldigen<br />

sollten, auf ihrem Posten geschlafen zu haben. Auf dieses Vergehen stand die To<strong>de</strong>sstrafe.<br />

537


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Sollten sie falsches Zeugnis ablegen, das Volk betrügen und ihr eigenes Leben in Gefahr<br />

bringen? Hatten sie ihren ermü<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n <strong>Die</strong>nst nicht mit größter Aufmerksamkeit versehen? Wie<br />

könnten sie selbst um Gel<strong>de</strong>s willen das kommen<strong>de</strong> Verhör bestehen, wenn sie einen Meineid<br />

leisteten? Damit das Geschehen, <strong>de</strong>ssen Bekanntwer<strong>de</strong>n sie fürchteten, verschwiegen wür<strong>de</strong>,<br />

versprachen die Priester, für die Sicherheit <strong>de</strong>r Wächter sorgen zu wollen, in<strong>de</strong>m sie sich darauf<br />

beriefen, daß Pilatus ebensowenig die Verbreitung ihrer Berichte wünsche wie sie. Da<br />

verkauften die römischen Soldaten ihre Redlichkeit an die jüdischen Obersten. Mit einer höchst<br />

aufregen<strong>de</strong>n, aber wahren Botschaft waren sie zu <strong>de</strong>n Priestern gekommen; sie verließen die<br />

Priester nun mit Geld in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n und einem lügnerischen Bericht auf <strong>de</strong>r Zunge, <strong>de</strong>n diese<br />

für sie erfun<strong>de</strong>n hatten.<br />

Inzwischen war die Kun<strong>de</strong> von <strong>de</strong>r Auferstehung Jesu zu Pilatus gedrungen. Obwohl Pilatus<br />

die Verantwortung dafür trug, Jesus <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> übergeben zu haben, fühlte er sich<br />

verhältnismäßig wenig beunruhigt. Wenn er auch <strong>de</strong>n Heiland nur wi<strong>de</strong>rwillig und mit einem<br />

Gefühl <strong>de</strong>s Mitleids im Herzen verurteilt hatte, so waren ihm bis jetzt noch keine ernstlichen<br />

Be<strong>de</strong>nken gekommen. Doch nach diesem Bericht schloß er sich entsetzt in seinem Hause ein<br />

und ließ niemand zu sich. <strong>Die</strong> Priester verschafften sich trotz<strong>de</strong>m Eingang, erzählten ihm die<br />

von ihnen erfun<strong>de</strong>ne Lügengeschichte und baten ihn, <strong>de</strong>n Soldaten das Pflichtversäumnis<br />

nachzusehen. Doch ehe Pilatus einwilligte, befragte er heimlich die Hüter, die, um ihr Leben<br />

bangend, nichts zu verbergen wagten. Von ihnen erhielt Pilatus einen Bericht über alles, was<br />

geschehen war. Er aber ließ die ganze Angelegenheit auf sich beruhen; doch konnte er seit jener<br />

Zeit nicht mehr zu innerem Frie<strong>de</strong>n gelangen.<br />

Als Jesus ins Grab gelegt wur<strong>de</strong>, triumphierte Satan; er gab sich <strong>de</strong>r Hoffnung hin, daß <strong>de</strong>r<br />

Heiland sein Leben nicht wie<strong>de</strong>r erlangen wür<strong>de</strong>. Er beanspruchte Jesu Leib für sich, setzte<br />

Hüter um das Grab und versuchte Christus als Gefangenen festzuhalten. Er war sehr erzürnt, als<br />

seine Engel beim Nahen <strong>de</strong>r himmlischen Boten flohen. Und als er Jesus siegreich aus <strong>de</strong>m<br />

Grabe kommen sah, wußte er, daß sein Reich ein En<strong>de</strong> haben wür<strong>de</strong> und er schließlich<br />

untergehen müsse.<br />

<strong>Die</strong> Priester hatten sich durch die Ermordung Jesu zu Werkzeugen Satans gemacht. Nun<br />

stan<strong>de</strong>n sie völlig unter seiner Herrschaft. Sie waren in eine Schlinge verstrickt, aus <strong>de</strong>r sie kein<br />

Entweichen sahen, außer sie setzten ihren Kampf gegen Jesus fort. Als ihnen von <strong>Christi</strong><br />

Auferstehung berichtet wur<strong>de</strong>, fürchteten sie <strong>de</strong>n Zorn <strong>de</strong>s Volkes. Sie fühlten, daß ihr eigenes<br />

Leben in Gefahr war. Ihre einzige Hoffnung bestand darin, Jesus als Betrüger hinzustellen,<br />

in<strong>de</strong>m sie seine Auferstehung leugneten. Sie bestachen die Soldaten, nahmen Pilatus das<br />

Versprechen ab, zu schweigen, und verbreiteten ihre Lügenberichte über das ganze Land. Aber<br />

es gab Zeugen, die sie nicht zum Schweigen bringen konnten. Viele hatten von <strong>de</strong>n Soldaten die<br />

Kun<strong>de</strong> über Jesu Auferstehung gehört. Dazu waren einige von <strong>de</strong>nen, die mit Christus<br />

auferstan<strong>de</strong>n waren, einer Reihe von Menschen erschienen und hatten erzählt, daß er<br />

auferstan<strong>de</strong>n war. Den Priestern wur<strong>de</strong>n Mitteilungen von <strong>de</strong>nen überbracht, die diese<br />

Auferstan<strong>de</strong>nen gesehen und ihre Aussagen gehört hatten. Sie und die Obersten befürchteten<br />

ständig, auf <strong>de</strong>n Gassen o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Abgeschlossenheit ihrer Wohnungen plötzlich <strong>de</strong>m Herrn<br />

538


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

gegenüberzustehen. Nirgends fühlten sie sich in Sicherheit. Schlösser und Riegel waren nur ein<br />

äußerst unvollkommener Schutz gegen <strong>de</strong>n Sohn Gottes. Tag und Nacht verfolgte sie jenes<br />

schreckliche Geschehen in <strong>de</strong>r Gerichtshalle, wo sie gerufen hatten: „Sein Blut komme über uns<br />

und unsre Kin<strong>de</strong>r!“ Matthäus 27,25. Niemals mehr wür<strong>de</strong> sie die Erinnerung an diese Szene<br />

verlassen; niemals mehr wür<strong>de</strong>n sie friedlich schlafen können.<br />

Als die Stimme jenes mächtigen Engels vor Jesu Grab erscholl: Dein Vater ruft dich!, da<br />

erschien <strong>de</strong>r Heiland aus seiner Gruft durch das ihm innewohnen<strong>de</strong> Leben. Es erfüllte sich, was<br />

er einst gesagt hatte: Ich lasse mein Leben, „auf daß ich‘s wie<strong>de</strong>r nehme ... Ich habe Macht, es<br />

zu lassen, und habe Macht, es wie<strong>de</strong>rzunehmen“. Johannes 10,17.18. Ebenso erfüllte sich die<br />

Weissagung, die er <strong>de</strong>n Priestern und Obersten gegeben hatte: „Brechet diesen Tempel ab, und<br />

in drei Tagen will ich ihn aufrichten.“ Johannes 2,19. Über <strong>de</strong>m aufgebrochenen Grabe hatte<br />

Jesus sieghaft erklärt: „Ich bin die Auferstehung und das Leben.“ Johannes 11,25. <strong>Die</strong>se Worte<br />

konnten nur von <strong>de</strong>r Gottheit selbst gesprochen sein. Alle erschaffenen Wesen leben durch <strong>de</strong>n<br />

Willen und durch die Macht Gottes; sie sind abhängige Empfänger <strong>de</strong>s Lebens Gottes. Von <strong>de</strong>m<br />

höchsten Seraph bis zum niedrigsten Lebewesen wer<strong>de</strong>n alle von <strong>de</strong>r Quelle <strong>de</strong>s Lebens<br />

gespeist. Nur <strong>de</strong>r mit Gott eins ist, konnte sagen: Ich habe Macht, mein Leben zu lassen, und<br />

„habe Macht, es wie<strong>de</strong>rzunehmen“. Christus besaß in seiner Gottheit die Kraft, die Fesseln <strong>de</strong>s<br />

To<strong>de</strong>s zu brechen.<br />

Christus stand von <strong>de</strong>n Toten auf als <strong>de</strong>r Erstling unter <strong>de</strong>nen, die da schlafen. Er war das<br />

Gegenbild <strong>de</strong>r Webegarbe; seine Auferstehung erfolgte am gleichen Tag, an <strong>de</strong>m die<br />

Webegarbe <strong>de</strong>m Herrn dargebracht wer<strong>de</strong>n sollte. Über einen Zeitraum von mehr als tausend<br />

Jahren war diese sinnbildliche Handlung ausgeführt wor<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> ersten reifen Kornähren<br />

wur<strong>de</strong>n auf <strong>de</strong>m Erntefeld geschnitten, und wenn das Volk zum Passahfest nach Jerusalem<br />

hinaufzog, wur<strong>de</strong> diese Erstlingsgarbe als ein Dankopfer vor <strong>de</strong>m Herrn „gewebt“. Nicht eher,<br />

als bis sie <strong>de</strong>m Herrn dargebracht war, durfte die Sichel an das Korn gelegt und dieses in<br />

Garben gebun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> <strong>de</strong>m Herrn geweihte Garbe war ein Symbol für die Ernte.<br />

Ebenso vertrat Jesus als Erstlingsfrucht die große geistliche Ernte, die für das Reich Gottes<br />

gesammelt wer<strong>de</strong>n wird. Seine Auferstehung ist das Vorbild und das Unterpfand <strong>de</strong>r<br />

Auferstehung aller gerechten Toten. „Denn wenn wir glauben, daß Jesus gestorben und<br />

auferstan<strong>de</strong>n ist, so wird Gott auch, die da entschlafen sind, durch Jesus mit ihm<br />

einherführen.“ 1.Thessalonicher 4,14.<br />

Als Christus auferstand, brachte er eine große Anzahl von <strong>de</strong>nen, die in Gräbern gefangen<br />

waren, ins Leben zurück. Das Erdbeben bei seinem To<strong>de</strong> hatte ihre Gräber geöffnet, und als er<br />

auferstand, kamen sie mit ihm hervor. Sie gehörten zu <strong>de</strong>nen, die Gottes Mitarbeiter gewesen<br />

waren und unter Einsatz ihres Lebens für die Wahrheit Zeugnis abgelegt hatten. Jetzt sollten sie<br />

auch Zeugen sein für <strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r sie von <strong>de</strong>n Toten auferweckt hatte. Während seines irdischen<br />

<strong>Die</strong>nstes hatte Jesus Tote wie<strong>de</strong>r ins Leben zurückgerufen: <strong>de</strong>n Jüngling <strong>de</strong>r Witwe zu Nain, die<br />

Tochter <strong>de</strong>s Obersten Jairus und Lazarus. <strong>Die</strong>se waren aber nicht mit Unsterblichkeit beklei<strong>de</strong>t<br />

wor<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn verfielen, nach<strong>de</strong>m sie auferweckt wor<strong>de</strong>n waren, wie<strong>de</strong>rum <strong>de</strong>m To<strong>de</strong>. <strong>Die</strong><br />

jedoch bei Jesu Auferstehung aus ihren Gräbern hervorgingen, wur<strong>de</strong>n auferweckt zum ewigen<br />

539


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Leben. Sie fuhren mit <strong>de</strong>m Herrn gen Himmel als Zeichen seines Sieges über Tod und Grab.<br />

<strong>Die</strong>se, sagte Jesus, sind nicht länger mehr Gefangene Satans; ich habe sie erlöst. Ich habe sie als<br />

Erstlingsfrüchte meiner Macht aus <strong>de</strong>m Grab hervorgebracht, damit sie bei mir seien, wo ich<br />

bin, um nie wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Tod zu sehen und <strong>de</strong>n Kummer zu schmecken.<br />

<strong>Die</strong>se Auferstan<strong>de</strong>nen gingen in die Stadt, erschienen vielen und verkündigten, daß Christus<br />

von <strong>de</strong>n Toten auferstan<strong>de</strong>n sei und sie mit ihm. Auf diese Weise wur<strong>de</strong> die heilige Wahrheit<br />

<strong>de</strong>r Auferstehung Jesu verewigt. <strong>Die</strong> auferstan<strong>de</strong>nen Heiligen bezeugten die Wahrheit <strong>de</strong>r<br />

Worte: „Deine Toten wer<strong>de</strong>n leben, <strong>de</strong>ine Leichname wer<strong>de</strong>n auferstehen.“ Ihre Auferstehung<br />

veranschaulichte die Erfüllung jener prophetischen Worte: „Wachet auf und rühmet, die ihr<br />

liegt unter <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>! Denn ein Tau <strong>de</strong>r Lichter ist <strong>de</strong>in Tau, und die Er<strong>de</strong> wird die Toten<br />

herausgeben.“ Jesaja 26,19.<br />

Den Gläubigen ist Christus die Auferstehung und das Leben. In unserem Heiland ist das<br />

Leben, das durch die Sün<strong>de</strong> verlorenging, wie<strong>de</strong>rgebracht wor<strong>de</strong>n; <strong>de</strong>nn er hat das Leben in sich<br />

selbst und kann beleben, wen er will. Ihm ist das Recht übertragen, Unsterblichkeit zu<br />

verleihen. Das Leben, das er als Mensch ließ, nahm er wie<strong>de</strong>r zurück, um es <strong>de</strong>r Menschheit zu<br />

geben. „Ich bin gekommen“, sagte er, „daß sie das Leben und volle Genüge haben<br />

sollen.“ Johannes 10,10. „Wer aber von <strong>de</strong>m Wasser trinken wird, das ich ihm gebe, <strong>de</strong>n wird<br />

ewiglich nicht dürsten, son<strong>de</strong>rn das Wasser, das ich ihm geben wer<strong>de</strong>, das wird in ihm ein<br />

Brunnen <strong>de</strong>s Wassers wer<strong>de</strong>n, das in das ewige Leben quillt.“ Johannes 4,14. „Wer mein<br />

Fleisch isset und trinket mein Blut, <strong>de</strong>r hat das ewige Leben, und ich wer<strong>de</strong> ihn am Jüngsten<br />

Tage auferwecken.“ Johannes 6,54.<br />

Der Tod ist <strong>de</strong>m Gläubigen keine sehr wichtige Angelegenheit. Jesus spricht von ihm, als sei<br />

er von geringer Be<strong>de</strong>utung. „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: So jemand mein Wort wird<br />

halten, <strong>de</strong>r wird <strong>de</strong>n Tod nicht sehen ewiglich ... <strong>de</strong>r wird <strong>de</strong>n Tod nicht schmecken<br />

ewiglich.“ Johannes 8,51.52. Für die Nachfolger <strong>Christi</strong> ist <strong>de</strong>r Tod nur ein Schlaf, ein<br />

Augenblick <strong>de</strong>r Stille und <strong>de</strong>r Dunkelheit. Ihr Leben ist verborgen mit Christus in Gott, und<br />

wenn „Christus, unser Leben, sich offenbaren wird, dann wer<strong>de</strong>t ihr auch offenbar wer<strong>de</strong>n mit<br />

ihm in Herrlichkeit“. Kolosser 3,4. <strong>Die</strong> Stimme, die vom Kreuze rief: „Es ist vollbracht!“<br />

(Johannes 19,30), wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>n Toten gehört; sie durchdrang die Mauern <strong>de</strong>r Gräber und<br />

gebot <strong>de</strong>n Schläfern aufzustehen. So wird es auch sein, wenn <strong>Christi</strong> Stimme vom Himmel<br />

erschallen wird. <strong>Die</strong>se Stimme wird in die Tiefe <strong>de</strong>r Gräber dringen, und die Toten in Christus<br />

wer<strong>de</strong>n auferstehen. Bei <strong>de</strong>r Auferstehung <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s wur<strong>de</strong>n nur einige Gräber aufgetan;<br />

aber bei seiner Wie<strong>de</strong>rkunft wer<strong>de</strong>n all die teuren Toten seine Stimme hören und zu herrlichem,<br />

unvergänglichem Leben aus <strong>de</strong>n Gräbern hervorgehen. <strong>Die</strong>selbe göttliche Kraft, die Jesus aus<br />

<strong>de</strong>m Grabe rief, wird auch seine Gemein<strong>de</strong> erwecken und sie mit ihm verherrlichen über alle<br />

Fürstentümer, über alle Mächte und über je<strong>de</strong>n Namen, <strong>de</strong>r genannt ist — nicht nur in dieser<br />

Welt, son<strong>de</strong>rn auch in <strong>de</strong>r zukünftigen.<br />

540


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

541


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

<strong>Die</strong> Frauen, die unter <strong>de</strong>m Kreuz Jesu gestan<strong>de</strong>n hatten, warteten darauf, daß die<br />

Sabbatstun<strong>de</strong>n vergingen. Am ersten Tag <strong>de</strong>r Woche machten sie sich schon sehr früh auf <strong>de</strong>n<br />

Weg zum Grab und nahmen kostbare Spezereien mit, um <strong>de</strong>n Körper <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s zu salben.<br />

Sie dachten nicht im geringsten daran, daß Jesus von <strong>de</strong>n Toten auferstan<strong>de</strong>n sein könnte. <strong>Die</strong><br />

Sonne ihrer Hoffnung war untergegangen, Nacht hatte sich auf ihre Herzen gesenkt. Auf <strong>de</strong>m<br />

Wege zum Grabe dachten sie wohl an Jesu Werke <strong>de</strong>r Liebe und an seine trostreichen Worte,<br />

doch sie erinnerten sich nicht seiner Verheißung: „Ich will euch wie<strong>de</strong>rsehen.“ Johannes<br />

16,22. Sie hatten keine Ahnung, was gera<strong>de</strong> geschah, als sie sich <strong>de</strong>m Garten näherten; sie<br />

überlegten nur: „Wer wälzt uns <strong>de</strong>n Stein von <strong>de</strong>s Grabes Tür?“ Markus 16,3. Sie wußten, daß<br />

sie <strong>de</strong>n schweren Stein nicht bewegen konnten; <strong>de</strong>nnoch setzten sie ihren Weg fort. Da erhellte<br />

<strong>de</strong>n Himmel plötzlich ein Glanz, <strong>de</strong>r nicht von <strong>de</strong>r aufgehen<strong>de</strong>n Sonne kam. <strong>Die</strong> Er<strong>de</strong> zitterte<br />

und bebte. <strong>Die</strong> Frauen sahen, daß <strong>de</strong>r große Stein zur Seite gewälzt und die Gruft selbst leer<br />

war.<br />

Sie waren nicht alle aus <strong>de</strong>rselben Richtung zum Grabe gekommen. Maria Magdalena hatte<br />

als erste die Stätte erreicht. Als sie nun sah, daß das Grab offen war, eilte sie hinweg, um es <strong>de</strong>n<br />

Jüngern mitzuteilen. Inzwischen hatten auch die an<strong>de</strong>ren Frauen <strong>de</strong>n Garten erreicht. Sie sahen<br />

Jesu Grab von einem hellen Licht umleuchtet, aber <strong>de</strong>n Leichnam <strong>de</strong>s Herrn fan<strong>de</strong>n sie nicht.<br />

Als sie noch etwas verweilten, bemerkten sie plötzlich, daß sie nicht allein waren. Ein Jüngling<br />

in weißem Gewand saß im Innenraum <strong>de</strong>s Grabes. Es war <strong>de</strong>r Engel, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n schweren Stein<br />

von <strong>de</strong>r Tür gewälzt hatte. Er hatte Menschengestalt angenommen, um die Freun<strong>de</strong> Jesu nicht<br />

zu beunruhigen. Dennoch umleuchtete ihn das Licht <strong>de</strong>r himmlischen Herrlichkeit, und die<br />

Frauen fürchteten sich. Sie wollten schon fliehen, als die Worte <strong>de</strong>s Engels sie zurückhielten:<br />

„Entsetzet euch nicht!“ sprach er zu ihnen. „Ihr suchet Jesus von Nazareth, <strong>de</strong>n Gekreuzigten.<br />

Er ist auferstan<strong>de</strong>n, er ist nicht hier. Siehe da die Stätte, wo sie ihn hinlegten! Gehet aber hin<br />

und saget seinen Jüngern und Petrus, daß er vor euch hingehen wird nach Galiläa.“ Markus<br />

16,6.7. <strong>Die</strong> Frauen schauten erneut in die Gruft hinein, und abermals hörten sie die wun<strong>de</strong>rbare<br />

Botschaft. Noch ein an<strong>de</strong>rer Engel in Menschengestalt war dort, und dieser sagte jetzt: „Was<br />

suchet ihr <strong>de</strong>n Lebendigen bei <strong>de</strong>n Toten? Er ist nicht hier; er ist auferstan<strong>de</strong>n. Ge<strong>de</strong>nket daran,<br />

wie er euch sagte, da er noch in Galiläa war und sprach: <strong>de</strong>s Menschen Sohn muß überantwortet<br />

wer<strong>de</strong>n in die Hän<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>r und gekreuzigt wer<strong>de</strong>n und am dritten Tage<br />

auferstehen.“ Lukas 24,5-7.<br />

Er ist auferstan<strong>de</strong>n! Er ist auferstan<strong>de</strong>n! <strong>Die</strong> Frauen wie<strong>de</strong>rholen immer wie<strong>de</strong>r diese Worte.<br />

Nun brauchen sie ihre Salben und Spezereien nicht mehr; <strong>de</strong>r Heiland lebt. Jetzt erinnern sie<br />

sich auch daran, daß Jesus, als er von seinem To<strong>de</strong> sprach, ihnen gesagt hat, er wür<strong>de</strong><br />

auferstehen. Welch ein Tag ist dies für die ganze Welt! <strong>Die</strong> Frauen eilten vom Grabe hinweg<br />

„mit Furcht und großer Freu<strong>de</strong> und liefen, daß sie es seinen Jüngern verkündigten“. Matthäus<br />

28,8. Maria hatte die Freu<strong>de</strong>nbotschaft noch nicht erfahren. Sie befand sich auf <strong>de</strong>m Weg zu<br />

Petrus und Johannes und brachte ihnen die erschüttern<strong>de</strong> Nachricht: „Sie haben <strong>de</strong>n Herrn<br />

weggenommen aus <strong>de</strong>m Grabe, und wir wissen nicht, wo sie ihn hingelegt haben.“ Johannes<br />

542


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

20,2. <strong>Die</strong> Jünger liefen sofort zum Grabe und sahen die Worte Marias bestätigt. Sie erkannten<br />

die Leichentücher; aber ihren Herrn selbst fan<strong>de</strong>n sie nicht. Trotz<strong>de</strong>m gab es Beweise von <strong>de</strong>r<br />

Auferstehung <strong>de</strong>s Herrn. <strong>Die</strong> Grabtücher waren nicht etwa achtlos beiseite geworfen, son<strong>de</strong>rn<br />

sie lagen sorgfältig zusammengelegt je<strong>de</strong>s an seinem Platz. Johannes „sah und<br />

glaubte“. Johannes 20,8. Er hatte zwar noch nicht verstan<strong>de</strong>n, daß Jesus nach <strong>de</strong>r Schrift von<br />

<strong>de</strong>n Toten auferstehen müsse; aber er erinnerte sich jetzt aller Worte, die <strong>de</strong>r Heiland von seiner<br />

Auferstehung jemals gesagt hatte.<br />

Der Heiland selbst hatte die Leinentücher sorgfältig an ihren Platz gelegt. Als <strong>de</strong>r Engelfürst<br />

zum Grab hernie<strong>de</strong>rkam, wur<strong>de</strong> er von einem Engel begleitet, <strong>de</strong>r gemeinsam mit an<strong>de</strong>ren <strong>de</strong>n<br />

Leichnam Jesu bewacht hatte. Während <strong>de</strong>r Engelfürst <strong>de</strong>n schweren Stein hinwegwälzte, betrat<br />

<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Engel das Grab und befreite <strong>de</strong>n Leib <strong>de</strong>s Herrn aus <strong>de</strong>r festen Umhüllung. Aber es<br />

war Jesu Hand, die die Tücher faltete und sie an ihren Platz legte. In <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>ssen, <strong>de</strong>r die<br />

Sterne genauso lenkt wie die winzigsten Atome, ist nichts unwichtig. Ordnung und<br />

Vollkommenheit sind das Kennzeichen aller seiner Werke. Maria war <strong>de</strong>n Jüngern wie<strong>de</strong>r zum<br />

Grabe gefolgt. Als diese aber nach Jerusalem zurückkehrten, blieb sie zurück. Sie schaute<br />

wie<strong>de</strong>r in das leere Grab, und ihr Kummer wuchs. Da sah sie die zwei Engel im Grabe stehen<br />

— zu Häupten und zu Füßen <strong>de</strong>r Stelle, wo Jesus gelegen hatte. „Und dieselben sprachen zu ihr:<br />

Weib, was weinest du? Sie spricht zu ihnen: Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich<br />

weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben.“ Johannes 20,13.<br />

Darauf wandte sie sich von <strong>de</strong>n Engeln ab. Sie meinte, sie müsse jeman<strong>de</strong>n fin<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r ihr<br />

Auskunft geben könnte, was mit Jesu Leichnam geschehen sei. Da wur<strong>de</strong> sie von einer an<strong>de</strong>ren<br />

Stimme angesprochen: „Weib, was weinest du? Wen suchest du?“ Mit durch Tränen<br />

verdunkeltem Blick erkannte Maria die Gestalt eines Mannes. Sie glaubte, es sei <strong>de</strong>r Gärtner,<br />

und fragte ihn: „Herr, hast du ihn weggetragen, so sage mir, wo hast du ihn hingelegt, so will<br />

ich ihn holen.“ Johannes 20,15. Sollte <strong>de</strong>s reichen Mannes Grabstätte zu ehrenvoll gewesen sein<br />

für Jesus, dann wür<strong>de</strong> sie selbst einen Platz für ihn zu fin<strong>de</strong>n wissen. Sie dachte an die Gruft,<br />

aus <strong>de</strong>r Jesu eigene Stimme einen Toten herausgerufen hatte; es war das Grab <strong>de</strong>s Lazarus.<br />

Könnte sie dort nicht einen guten Ruheort für ihren Herrn fin<strong>de</strong>n? Sie fühlte, daß es für sie in<br />

ihrem Kummer sehr tröstlich wäre, wenn sie sich um <strong>de</strong>n Leichnam <strong>de</strong>s Gekreuzigten<br />

kümmerte.<br />

Doch plötzlich sagte Jesus in <strong>de</strong>r ihr so wohlbekannten Stimme zu ihr: „Maria!“ Auf einmal<br />

wußte sie, daß es kein Frem<strong>de</strong>r war, <strong>de</strong>r sie auf diese Weise anre<strong>de</strong>te, und als sie sich umdrehte,<br />

sah sie Christus lebendig vor sich stehen. In ihrer Freu<strong>de</strong> vergaß sie, daß er inzwischen<br />

gekreuzigt wor<strong>de</strong>n war. Sie stürzte auf ihn zu, als wollte sie seine Füße umschlingen, und rief:<br />

„Rabbuni! das heißt: Meister!“ Da erhob Jesus seine Hand und sagte ihr: „Rühre mich nicht an!<br />

<strong>de</strong>nn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater. Gehe aber hin zu meinen Brü<strong>de</strong>rn und sage<br />

ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem<br />

Gott.“ Johannes 20,16.17. Und Maria eilte zu <strong>de</strong>n Jüngern, um ihnen die frohe Botschaft zu<br />

bringen.<br />

543


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Jesus wollte nicht eher die Huldigung <strong>de</strong>r Seinen entgegennehmen, bis er die Gewißheit<br />

hatte, daß sein Opfer vom Vater angenommen war. Er stieg zum Himmel empor und empfing<br />

von Gott selbst die Versicherung, daß seine für die Sün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Menschheit vollbrachte<br />

Versöhnung ausreichend gewesen war, so daß durch sein Blut alle Menschen das ewige Leben<br />

erlangen könnten. Der Vater bestätigte das mit Christus getroffene Übereinkommen, daß er<br />

bußfertige und gehorsame Menschen aufnehmen und sie so lieben wür<strong>de</strong> wie seinen Sohn auch.<br />

Christus hatte dafür sein Werk zu vollen<strong>de</strong>n und sein Versprechen zu erfüllen, „daß ein Mann<br />

kostbarer sein soll als Feingold und ein Mensch wertvoller als Goldstücke aus Ophir“. Jesaja<br />

13,12. Alle Macht im Himmel und auf Er<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>m Lebensfürsten gegeben. Er kehrte<br />

zurück zu seinen Nachfolgern in einer sündigen Welt, um ihnen von seiner Macht und<br />

Herrlichkeit mitzuteilen.<br />

Während Jesus in Gottes Gegenwart köstliche Gaben für seine Gemein<strong>de</strong> empfing, dachten<br />

die Jünger an sein leeres Grab, trauerten und weinten. Der Tag, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r ganze Himmel als<br />

Freu<strong>de</strong>ntag feierte, war <strong>de</strong>n Jüngern ein Tag <strong>de</strong>r Ungewißheit, <strong>de</strong>r Verwirrung und Unruhe. Ihr<br />

Unglaube gegenüber <strong>de</strong>m Zeugnis <strong>de</strong>r Frauen bewies, wie tief ihr Glaube gesunken war. <strong>Die</strong><br />

Kun<strong>de</strong> von <strong>de</strong>r Auferstehung <strong>Christi</strong> unterschied sich so sehr von <strong>de</strong>m, was sie erwartet hatten,<br />

daß sie daran nicht zu glauben vermochten. Sie dachten, es sei zu schön, um wahr zu sein. Sie<br />

hatten so viel über die Lehren und die sogenannten wissenschaftlichen Theorien <strong>de</strong>r Sadduzäer<br />

gehört, daß sie sich von <strong>de</strong>r Auferstehung kein klares Bild mehr machen konnten. Sie wußten<br />

kaum noch, was die Auferstehung von <strong>de</strong>n Toten be<strong>de</strong>utete, und waren unfähig, das große<br />

Ereignis zu fassen.<br />

„Gehet aber hin“, so hatten die Engel <strong>de</strong>n Frauen aufgetragen, „und saget seinen Jüngern und<br />

Petrus, daß er vor euch hingehen wird nach Galiläa; da wer<strong>de</strong>t ihr ihn sehen, wie er euch gesagt<br />

hat.“ Markus 16,7. <strong>Die</strong> Engel waren während seines Er<strong>de</strong>nlebens die Beschützer Jesu gewesen;<br />

sie hatten <strong>de</strong>m Verhör und <strong>de</strong>r Kreuzigung beigewohnt und <strong>Christi</strong> Worte an seine Jünger<br />

gehört. Das war auch aus <strong>de</strong>r Botschaft zu ersehen, die sie an die Jünger richteten, und hätte sie<br />

von <strong>de</strong>ren Wahrheit überzeugen müssen. Solche Worte hatten doch nur von <strong>de</strong>n Boten <strong>de</strong>s<br />

auferstan<strong>de</strong>nen Herrn stammen können. „Saget seien Jüngern und Petrus“, hatten die Engel<br />

geboten. Seit <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> <strong>Christi</strong> war Petrus, von Gewissensbissen geplagt, sehr<br />

nie<strong>de</strong>rgeschlagen. Sein schmählicher Verrat am Herrn und <strong>de</strong>r liebevolle und zugleich<br />

schmerzbewegte Blick <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s stan<strong>de</strong>n ihm Tag und Nacht vor Augen. Von allen Jüngern<br />

hatte er am meisten gelitten; nun wur<strong>de</strong> ihm die Versicherung zuteil, daß seine Reue<br />

angenommen und seine Sün<strong>de</strong> vergeben war. Er wur<strong>de</strong> mit Namen genannt.<br />

„Saget seinen Jüngern und Petrus, daß er vor euch hingehen wird nach Galiläa; da wer<strong>de</strong>t ihr<br />

ihn sehen.“ Alle Jünger hatten <strong>de</strong>n Herrn im Stich gelassen, und die Auffor<strong>de</strong>rung, ihn<br />

wie<strong>de</strong>rzutreffen, schloß sie alle ein; er hatte sie nicht verstoßen. Als Maria Magdalena ihnen<br />

verkündigte, daß sie <strong>de</strong>n Herrn gesehen hatte, wie<strong>de</strong>rholte sie die Auffor<strong>de</strong>rung, ihn in Galiläa<br />

zu treffen. Zum dritten Mal gelangte die Botschaft zu ihnen durch die an<strong>de</strong>ren Frauen, <strong>de</strong>nen<br />

Jesus erschien, nach<strong>de</strong>m er zum Vater aufgefahren war. „Seid gegrüßt!“ sagte er zu ihnen. „Und<br />

sie traten zu ihm und umfaßten seine Füße und fielen vor ihm nie<strong>de</strong>r. Da sprach Jesus zu ihnen:<br />

544


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Fürchtet euch nicht! Gehet hin und verkündigt es meinen Brü<strong>de</strong>rn, daß sie gehen nach Galiläa;<br />

daselbst wer<strong>de</strong>n sie mich sehen.“ Matthäus 28,9.10.<br />

Nach seiner Auferstehung bestand <strong>Christi</strong> erste Aufgabe darin, seine Jünger von seiner<br />

unvermin<strong>de</strong>rten Zuneigung und liebevollen Rücksichtnahme ihnen gegenüber zu überzeugen.<br />

Er wollte ihnen beweisen, daß er ihr lebendiger Heiland war, <strong>de</strong>r die Ban<strong>de</strong> <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s zerrissen<br />

hatte und <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Feind Tod nicht hatte halten können. Sie sollten erkennen, daß er dasselbe<br />

Herz voll Liebe besaß wie vorher, als er, ihr geliebter Meister, unter ihnen geweilt hatte.<br />

Deshalb erschien er ihnen immer wie<strong>de</strong>r und schlang das Band <strong>de</strong>r Liebe noch enger um sie.<br />

„Gehet hin und verkündigt es meinen Brü<strong>de</strong>rn, daß sie gehen nach Galiläa.“ Als die Jünger<br />

diese so bestimmt gegebene Anordnung hörten, fielen ihnen Jesu Worte ein, die seine<br />

Auferstehung vorhersagten. Doch auch jetzt freuten sie sich nicht; sie konnten sich von Zweifel<br />

und Verwirrung noch nicht frei machen. Selbst als die Frauen mitteilten, daß sie Jesus gesehen<br />

hatten, wollten die Jünger es nicht glauben; sie meinten, daß jene einer Sinnestäuschung zum<br />

Opfer gefallen wären.<br />

Eine Not schien <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rn zu folgen. Am sechsten Tage <strong>de</strong>r Woche hatten sie ihren Meister<br />

sterben sehen; am ersten Tag <strong>de</strong>r neuen Woche glaubten sie sich seines Leichnams beraubt und<br />

wur<strong>de</strong>n selbst beschuldigt, ihn gestohlen zu haben, um auf diese Weise das Volk zu täuschen.<br />

Sie zweifelten daran, sich jemals von diesem Verdacht reinigen zu können, <strong>de</strong>r sich immer<br />

mehr verstärkte. Dazu fürchteten sie die Feindschaft <strong>de</strong>r Priester und <strong>de</strong>n Zorn <strong>de</strong>s Volkes. Sie<br />

sehnten sich nach Jesu Gegenwart, <strong>de</strong>r ihnen aus je<strong>de</strong>r Verlegenheit geholfen hatte. Oft<br />

wie<strong>de</strong>rholten sie die Worte: „Wir aber hofften, er sei es, <strong>de</strong>r Israel erlösen wür<strong>de</strong>.“ Lukas 24,21.<br />

Allein gelassen und verzagten Herzens dachten sie auch an Jesu Worte: „Denn so man das tut<br />

am grünen Holz, was will am dürren wer<strong>de</strong>n?“ Lukas 23,31. Sie fan<strong>de</strong>n sich im oberen<br />

Stockwerk zusammen und verschlossen und verriegelten die Türen, wußten sie doch, daß sie<br />

je<strong>de</strong>rzeit das Schicksal ihres geliebten Meisters teilen konnten.<br />

Wie groß aber hätte zur gleichen Zeit die Freu<strong>de</strong> sein können, da <strong>de</strong>r Heiland ja auferstan<strong>de</strong>n<br />

war! Maria hatte weinend im Garten gestan<strong>de</strong>n, als <strong>de</strong>r Heiland sich bereits hinter ihr befand.<br />

Ihre Augen waren so voller Tränen, daß sie ihn nicht erkannte. Und das Herz <strong>de</strong>r Jünger war so<br />

grambeschwert, daß sie we<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Botschaft <strong>de</strong>r Engel noch <strong>Christi</strong> eigenen Worten zu glauben<br />

vermochten. Wie viele Christen han<strong>de</strong>ln so wie die Jünger damals! Wie viele klagen mit Maria:<br />

„Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt<br />

haben“! Johannes 20,13. An wie viele Menschen könnten Jesu Worte gerichtet sein: „Was<br />

weinest du? Wen suchest du?“ Johannes 20,15. Er steht dicht hinter ihnen, aber ihre<br />

tränenverhangenen Augen bemerken ihn nicht; er spricht zu ihnen, aber sie verstehen ihn nicht.<br />

Daß sich doch diese gebeugten Häupter aufrichten, die verweinten Augen ihn sehen und die<br />

Ohren seine Stimme hören möchten! „Gehet eilend hin und sagt es seinen Jüngern, daß er<br />

auferstan<strong>de</strong>n sei von <strong>de</strong>n Toten.“ Matthäus 28,7. Bittet sie, ihren Blick nicht auf Josephs neues<br />

Grab zu richten, das mit einem schweren Stein verschlossen und mit <strong>de</strong>m römischen Siegel<br />

verwahrt war. Christus ist nicht dort! Schaut auch nicht nach <strong>de</strong>m leeren Grab! Trauert nicht<br />

wie solche, die ohne Hoffnung und Hilfe sind. Jesus lebt! Und weil er lebt, wer<strong>de</strong>n auch wir<br />

545


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

leben. Aus frohem Herzen und von Lippen, die von göttlichem Feuer brennen, soll <strong>de</strong>r<br />

Jubelgesang erschallen: Christus lebt! Er lebt, um unser Fürsprecher zu sein. Ergreift diese<br />

Hoffnung, und sie wird eure Seele wie ein sicherer und bewährter Anker festhalten! Glaube,<br />

und du wirst die Herrlichkeit Gottes sehen!<br />

546


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 83: Der Gang nach Emmaus<br />

Am späten Nachmittag <strong>de</strong>s Auferstehungstages gingen zwei Jünger nach Emmaus, einer<br />

etwa zwölf Kilometer von Jerusalem entfernt liegen<strong>de</strong>n Kleinstadt. <strong>Die</strong>se Jünger waren im<br />

<strong>Die</strong>nste Jesu nicht weiter in Erscheinung getreten; <strong>de</strong>nnoch konnten sie als ernste Gläubige<br />

gelten. Nach Jerusalem gekommen, um das Passahfest zu feiern, waren sie bestürzt wegen <strong>de</strong>r<br />

Ereignisse, die kürzlich geschehen waren. Sie hatten am Morgen die Kun<strong>de</strong> gehört, daß Jesu<br />

Leib aus <strong>de</strong>m Grabe verschwun<strong>de</strong>n war, und hatten auch <strong>de</strong>n Bericht <strong>de</strong>r Frauen vernommen,<br />

die die Engel gesehen und Jesus getroffen haben wollten. Jetzt kehrten sie wie<strong>de</strong>r nach Hause<br />

zurück, um über alles nachzusinnen und zu beten. Mit traurigen Gedanken gingen sie ihren<br />

abendlichen Weg dahin und unterhielten sich über das Verhör und die Kreuzigung. Noch nie<br />

waren sie so völlig entmutigt gewesen. Verzweifelt und verzagt wan<strong>de</strong>rten sie im Schatten <strong>de</strong>s<br />

Kreuzes.<br />

Sie waren noch nicht weit gekommen, da gesellte sich ein Frem<strong>de</strong>r zu ihnen. Sie waren aber<br />

so sehr in ihrer Schwermut und ihrer Enttäuschung gefangen, daß sie diesen Frem<strong>de</strong>n nicht<br />

näher betrachteten. Sie setzten ihre Unterhaltung fort und tauschten ihre Gedanken aus. Sie<br />

besprachen die Lehren, die ihnen Jesus erteilt hatte und die sie nicht zu verstehen schienen. Als<br />

ihre Unterhaltung wie<strong>de</strong>r auf die jüngsten Ereignisse zurückkam, sehnte sich Jesus danach, sie<br />

zu trösten. Er hatte ihren tiefen Kummer gesehen und verstand die wi<strong>de</strong>rstreiten<strong>de</strong>n, wirren<br />

Gedanken, die in ihnen die Frage aufkommen ließen: Konnte dieser Mann, <strong>de</strong>r sich so sehr<br />

erniedrigen ließ, <strong>de</strong>r Christus sein? Sie konnten ihren Kummer nicht mehr zurückhalten und<br />

weinten. Jesus wußte, daß sie ihn sehr liebten, und es verlangte ihn danach, ihre Tränen<br />

abzuwischen und sie mit Fröhlichkeit und Jubel zu erfüllen. Aber zuerst mußte er ihnen einige<br />

Lehren mitteilen, die sie nicht mehr vergessen wür<strong>de</strong>n.<br />

„Er sprach aber zu ihnen: Was sind das für Re<strong>de</strong>n, die ihr zwischen euch han<strong>de</strong>lt unterwegs?<br />

Da blieben sie traurig stehen. Und <strong>de</strong>r eine, mit Namen Kleopas, antwortete und sprach zu ihm:<br />

Bist du allein unter <strong>de</strong>n Fremdlingen zu Jerusalem, <strong>de</strong>r nicht wisse, was in diesen Tagen darin<br />

geschehen ist?“ Sie berichteten ihm nun von ihrer Enttäuschung mit <strong>de</strong>m Meister, „welcher war<br />

ein Prophet, mächtig von Taten und Worten vor Gott und allem Volk; wie ihn unsre<br />

Hohenpriester und Obersten überantwortet haben zur Verdammnis <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s und gekreuzigt.“<br />

Mit vor Enttäuschung wun<strong>de</strong>m Herzen und mit zittern<strong>de</strong>n Lippen fügten sie hinzu: „Wir aber<br />

hofften, er sei es, <strong>de</strong>r Israel erlösen wür<strong>de</strong>. Und über das alles ist heute <strong>de</strong>r dritte Tag, daß<br />

solches geschehen ist.“ Lukas 24,17-21.<br />

Wie eigenartig war es doch, daß sich die Jünger nicht an Jesu Worte erinnerten und auch<br />

nicht daran dachten, daß er die Ereignisse <strong>de</strong>r letzten Tage vorhergesagt hatte! Sie<br />

vergegenwärtigten sich nicht, daß sich <strong>de</strong>r letzte Teil seiner Weissagung genauso erfüllen wür<strong>de</strong><br />

wie <strong>de</strong>r erste und daß er schließlich am dritten Tage auferstün<strong>de</strong>. Daran hätten sie <strong>de</strong>nken<br />

müssen. Sogar die Priester und Obersten hatten es nicht vergessen. Am Tage, „<strong>de</strong>r da folgt nach<br />

<strong>de</strong>m Rüsttag, kamen die Hohenpriester und Pharisäer sämtlich zu Pilatus und sprachen: Herr,<br />

547


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

wir haben bedacht, daß dieser Verführer sprach, da er noch lebte: Ich will nach drei Tagen<br />

auferstehen.“ Matthäus 27,62.63. <strong>Die</strong> Jünger aber hatten sich dieser Worte nicht erinnert.<br />

„Und er sprach zu ihnen: O ihr Toren und trägen Herzens, zu glauben alle <strong>de</strong>m, was die<br />

Propheten gere<strong>de</strong>t haben! Mußte nicht Christus solches lei<strong>de</strong>n und zu seiner Herrlichkeit<br />

eingehen?“ Lukas 24,25.26. <strong>Die</strong> Jünger fragten sich mit Erstaunen, wer dieser Fremdling sein<br />

mochte, daß er das Innere ihres Wesens ergrün<strong>de</strong>n konnte und daß er mit solchem Ernst, mit<br />

solcher Zärtlichkeit und Teilnahme und dabei doch so hoffnungsvoll zu ihnen sprach. Zum<br />

erstenmal seit <strong>de</strong>m Verrat Jesu faßten sie wie<strong>de</strong>r etwas Mut. Oft blickten sie ihren Begleiter mit<br />

ernstem Gesicht an und dachten, daß seine Aussagen genau <strong>de</strong>n Worten entsprachen, die Jesus<br />

gesprochen hätte. Höchstes Erstaunen erfaßte sie, und ihre Herzen begannen in freudiger<br />

Erwartung schneller zu schlagen.<br />

Beim Buch Mose, <strong>de</strong>m Anfang <strong>de</strong>r biblischen Geschichte, beginnend, erklärte ihnen Christus<br />

alle Schriftstellen, die sich auf ihn bezogen. Hätte er sich ihnen sofort zu erkennen gegeben, so<br />

wären sie zufrie<strong>de</strong>n gewesen, und in <strong>de</strong>r Fülle ihrer Freu<strong>de</strong> wür<strong>de</strong>n sie nichts weiter verlangt<br />

haben. Und doch war es für sie notwendig, die Sinnbil<strong>de</strong>r und Weissagungen <strong>de</strong>s Alten<br />

Testamentes, die auf Jesus hin<strong>de</strong>uteten, zu verstehen; <strong>de</strong>nn darauf sollte ihr Glaube ja gegrün<strong>de</strong>t<br />

sein. Christus tat kein Wun<strong>de</strong>r, um sie zu überzeugen, son<strong>de</strong>rn er sah es als seine erste Aufgabe<br />

an, ihnen die heiligen Schriften zu erklären. Sie hatten seinen Tod als Vernichtung all ihrer<br />

Hoffnungen angesehen, und nun zeigte Jesus ihnen aus <strong>de</strong>n Propheten, daß gera<strong>de</strong> sein<br />

Kreuzestod <strong>de</strong>r stärkste Beweis für ihren Glauben sei.<br />

In<strong>de</strong>m Jesus jene Jünger lehrte, wies er auf die Wichtigkeit <strong>de</strong>s Alten Testamentes hin als ein<br />

Zeugnis seiner Sendung. Viele vorgebliche Christen legen heute das Alte Testament beiseite<br />

und behaupten, daß es nicht mehr länger von Be<strong>de</strong>utung sei. Doch dies lehrte Christus<br />

keineswegs. Er selbst schätzte es so hoch, daß er einmal sagte: „Hören sie Mose und die<br />

Propheten nicht, so wer<strong>de</strong>n sie auch nicht glauben, wenn jemand von <strong>de</strong>n Toten<br />

aufstün<strong>de</strong>.“ Lukas 16,31. Es ist <strong>Christi</strong> Stimme, die durch <strong>de</strong>n Mund <strong>de</strong>r Patriarchen und<br />

Propheten von Adam an bis zur Endzeit hin spricht. Der Heiland wird im Alten Testament<br />

genauso klar offenbart wie im Neuen Testament. Gera<strong>de</strong> das Licht <strong>de</strong>r prophetischen<br />

Vergangenheit läßt das Leben Jesu und die Lehren <strong>de</strong>s Neuen Testaments in aller Wahrheit und<br />

Schönheit hervortreten. Wohl ist <strong>Christi</strong> Wun<strong>de</strong>rwirken ein Beweis seiner Gottheit; aber ein<br />

be<strong>de</strong>utend stärkerer Beweis, daß er <strong>de</strong>r Erlöser <strong>de</strong>r Welt ist, wird durch <strong>de</strong>n Vergleich <strong>de</strong>r<br />

alttestamentlichen Weissagungen mit <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>s Neuen Testamentes erbracht.<br />

An Hand <strong>de</strong>r alttestamentlichen Weissagungen gab Jesus <strong>de</strong>n Jüngern ein genaues Bild<br />

davon, was er in menschlicher Gestalt darstellen sollte. Ihre Erwartung eines Messias, <strong>de</strong>r<br />

seinen Thron und seine Herrschermacht in Übereinstimmung mit menschlichen Wünschen<br />

aufrichten müßte, war irreführend gewesen. <strong>Die</strong>se Auffassung wirkte sich störend darauf aus,<br />

sein Herabsteigen von <strong>de</strong>r höchsten bis zu niedrigsten Stellung, die überhaupt eingenommen<br />

wer<strong>de</strong>n konnte, recht zu begreifen. Christus wünschte, daß die Vorstellungen seiner Jünger in<br />

je<strong>de</strong>r Hinsicht klar und wahr wären. Sie mußten soweit wie irgend möglich alles, was mit <strong>de</strong>m<br />

Lei<strong>de</strong>nskelch zusammenhing, <strong>de</strong>r ihm bestimmt wor<strong>de</strong>n war, verstehen lernen. Er zeigte ihnen,<br />

548


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

daß <strong>de</strong>r schreckliche Kampf, <strong>de</strong>n sie jetzt noch nicht zu begreifen vermochten, die Erfüllung <strong>de</strong>s<br />

Bun<strong>de</strong>s be<strong>de</strong>utete, <strong>de</strong>r vor Grundlegung <strong>de</strong>r Welt beschlossen wor<strong>de</strong>n war. Christus mußte<br />

sterben, wie je<strong>de</strong>r Gesetzesübertreter sterben muß, wenn er in seiner Sün<strong>de</strong> beharrt. <strong>Die</strong>s war<br />

also notwendig; aber das En<strong>de</strong> soll keine Nie<strong>de</strong>rlage, son<strong>de</strong>rn ein herrlicher, ewiger Sieg sein.<br />

Er sagte ihnen ferner, daß alle Anstrengungen gemacht wer<strong>de</strong>n müßten, um die Welt von <strong>de</strong>r<br />

Sün<strong>de</strong> zu befreien. Seine Nachfolger müßten leben, wie er gelebt, und wirken, wie er gewirkt<br />

habe, mit ernstem, beharrlichem Eifer.<br />

So sprach <strong>de</strong>r Herr mit <strong>de</strong>n Jüngern und öffnete ihre geistigen Augen, damit sie die heiligen<br />

Schriften verstün<strong>de</strong>n. Wohl waren die Jünger mü<strong>de</strong>; <strong>de</strong>nnoch erlahmte die Unterhaltung nicht.<br />

Worte <strong>de</strong>s Lebens und <strong>de</strong>r Zuversicht flossen von <strong>de</strong>n Lippen <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s. Aber ihre<br />

leiblichen Augen wur<strong>de</strong>n noch gehalten. Als er ihnen von <strong>de</strong>r Zerstörung Jerusalems erzählte,<br />

blickten sie auf die verurteilte Stadt und weinten. Auch jetzt noch ahnten sie kaum, wer ihr<br />

Weggefährte war. Sie dachten nicht, daß <strong>de</strong>r Herr, von <strong>de</strong>m sie gesprochen hatten, an ihrer Seite<br />

ging; <strong>de</strong>nn Jesus sprach von sich selbst, als wäre er ein an<strong>de</strong>rer. Sie hielten ihn für einen <strong>de</strong>r<br />

Besucher, die zum Passahfest gekommen waren und nun wie<strong>de</strong>r heimwärts zogen. Er ging<br />

ebenso vorsichtig wie sie über die spitzen Steine und hielt ab und zu mit ihnen an, um von <strong>de</strong>r<br />

Mühe <strong>de</strong>s Weges auszuruhen.<br />

So schritten sie auf <strong>de</strong>m bergigen Wege voran, während <strong>de</strong>r eine, <strong>de</strong>r bald seine Stellung zur<br />

Rechten Gottes einnehmen wür<strong>de</strong> und <strong>de</strong>r von sich sagen konnte: „Mir ist gegeben alle Gewalt<br />

im Himmel und auf Er<strong>de</strong>n“ (Matthäus 28,18), neben ihnen herging. Während<strong>de</strong>ssen war die<br />

Sonne untergegangen, und bevor die Reisen<strong>de</strong>n ihr Heim erreichten, hatten die Bauern auf <strong>de</strong>m<br />

Feld ihre Arbeit verlassen. Als die Jünger ihr Haus betreten wollten, schien es, als wolle <strong>de</strong>r<br />

Frem<strong>de</strong> seine Reise fortsetzen. Doch die Jünger fühlten sich zu ihm hingezogen, und ihre Seele<br />

dürstete danach, mehr von ihm zu hören. Sie baten ihn: „Bleibe bei uns.“ Der Herr aber schien<br />

die Einladung nicht beachten zu wollen; darum nötigten sie ihn dringen<strong>de</strong>r: „Es will Abend<br />

wer<strong>de</strong>n, und <strong>de</strong>r Tag hat sich geneigt.“ Da gab Jesus ihrer Bitte nach und „ging hinein, bei<br />

ihnen zu bleiben“. Lukas 24,29.<br />

Hätten die Jünger <strong>de</strong>n Herrn nicht so dringend genötigt, so wür<strong>de</strong>n sie nicht erfahren haben,<br />

daß ihr Reisegefährte <strong>de</strong>r auferstan<strong>de</strong>ne Herr gewesen war. Christus drängt seine Gemeinschaft<br />

nieman<strong>de</strong>m auf; er nimmt sich aber aller an, die ihn brauchen. Gern tritt er in die beschei<strong>de</strong>nste<br />

Hütte und erfreut das Herz <strong>de</strong>s Allergeringsten. Sind die Menschen aber zu gleichgültig, um an<br />

<strong>de</strong>n himmlischen Gast zu <strong>de</strong>nken o<strong>de</strong>r ihn zu bitten, bei ihnen zu bleiben, so geht er weiter.<br />

Viele erlei<strong>de</strong>n auf diese Weise einen großen Verlust. Sie kennen dann Christus nicht besser als<br />

jene Jünger, die mit ihm nach Emmaus wan<strong>de</strong>rten.<br />

Ein einfaches Aben<strong>de</strong>ssen ist bald bereitet und wird <strong>de</strong>m Gast, <strong>de</strong>r am Kopfen<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Tisches<br />

Platz genommen hat, vorgesetzt. Da streckt Jesus seine Hand aus und segnet die Speise. <strong>Die</strong><br />

Jünger stutzen. Ihr Begleiter breitet die Hän<strong>de</strong> genauso aus, wie es ihr Meister zu tun pflegte.<br />

Sie blicken wie<strong>de</strong>r hin — und siehe da, sie erkennen die Nägelmale an seiner Hand. Bei<strong>de</strong> rufen<br />

zugleich aus: Es ist <strong>de</strong>r Herr Jesus! Er ist von <strong>de</strong>n Toten auferstan<strong>de</strong>n! Sie erheben sich, um ihm<br />

zu Füßen zu fallen und ihn anzubeten, aber er ist ihren Blicken entschwun<strong>de</strong>n. Sie schauen auf<br />

549


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

<strong>de</strong>n Platz, auf <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r gesessen hat, <strong>de</strong>ssen Körper vor kurzem noch im Grabe ruhte, und sagen<br />

zueinan<strong>de</strong>r: „Brannte nicht unser Herz in uns, da er mit uns re<strong>de</strong>te auf <strong>de</strong>m Wege, als er uns die<br />

Schrift öffnete?“ Lukas 24,32.<br />

<strong>Die</strong>se große Neuigkeit, die sie verkündigen müssen, erlaubt es ihnen nicht, einfach sitzen zu<br />

bleiben und zu erzählen. Müdigkeit und Hunger sind vergessen. Sie lassen ihre Mahlzeit<br />

unberührt, und voller Freu<strong>de</strong> brechen sie sofort auf und eilen <strong>de</strong>n gleichen Weg, <strong>de</strong>n sie kamen,<br />

wie<strong>de</strong>r in die Stadt zurück, um <strong>de</strong>n Jüngern diese Botschaft zu bringen. An einigen Stellen ist<br />

<strong>de</strong>r Weg unsicher, aber sie klettern über schroffe Steine und eilen auf glattem Fels dahin. Sie<br />

sehen und wissen nicht, daß sie unter <strong>de</strong>m Schutz <strong>de</strong>ssen stehen, <strong>de</strong>r vorher mit ihnen diesen<br />

Weg gegangen ist. Den Stab in <strong>de</strong>r Hand, drängen sie vorwärts und möchten gern noch<br />

schneller gehen, als sie es jetzt schon wagen. Sie verlieren ihren Pfad und fin<strong>de</strong>n ihn wie<strong>de</strong>r.<br />

Manchmal rennend, manchmal stolpernd, eilen sie weiter, ihren unsichtbaren Begleiter während<br />

<strong>de</strong>r ganzen Wegstrecke immer neben sich.<br />

<strong>Die</strong> Nacht ist dunkel, aber die Sonne <strong>de</strong>r Gerechtigkeit scheint auf die eilen<strong>de</strong>n Jünger. Ihr<br />

Herz droht vor Freu<strong>de</strong> zu zerspringen. Sie fühlen sich wie in einer neuen Welt, haben sie doch<br />

erfahren: Christus ist ein lebendiger Heiland! Sie brauchen ihn nicht länger als Toten zu<br />

betrauern. Er ist auferstan<strong>de</strong>n — immer und immer wie<strong>de</strong>r sagen sie es vor sich hin. <strong>Die</strong>se<br />

Botschaft dürfen sie <strong>de</strong>n Trauern<strong>de</strong>n bringen. Sie müssen ihnen die wun<strong>de</strong>rbare Geschichte von<br />

ihrem Gang nach Emmaus erzählen; sie müssen berichten, wer sich ihnen auf <strong>de</strong>m Wege<br />

angeschlossen hat. So tragen sie die größte Botschaft, die je <strong>de</strong>r Welt gegeben wur<strong>de</strong> — eine<br />

frohe Botschaft, auf <strong>de</strong>r alle Hoffnung <strong>de</strong>r menschlichen Familie für Zeit und Ewigkeit ruht.<br />

550


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Endlich haben die bei<strong>de</strong>n Jünger Jerusalem erreicht. Sie gehen durch das östliche Tor, das<br />

bei festlichen Gelegenheiten nachts geöffnet ist. In <strong>de</strong>n Häusern ist alles dunkel und still, aber<br />

die bei<strong>de</strong>n Wan<strong>de</strong>rer fin<strong>de</strong>n ihren Weg durch die engen Gassen beim Schein <strong>de</strong>s aufgehen<strong>de</strong>n<br />

Mon<strong>de</strong>s. Sie gehen zu <strong>de</strong>m Obergemach, in <strong>de</strong>m Jesus <strong>de</strong>n letzten Abend vor seinem To<strong>de</strong><br />

verbrachte. Sie wissen, daß sie hier ihre Brü<strong>de</strong>r fin<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. So spät es auch ist, die Jünger<br />

wür<strong>de</strong>n doch nicht eher zur Ruhe gehen, bis sie Genaues über <strong>de</strong>n Verbleib <strong>de</strong>s Leichnams ihres<br />

Herrn wußten. <strong>Die</strong> Tür zum Gemach ist fest verschlossen; sie klopfen an, aber keine Antwort<br />

erfolgt — alles bleibt still. Dann nennen sie ihre Namen, und endlich wird vorsichtig die Tür<br />

entriegelt. Sie treten ein und mit ihnen noch ein an<strong>de</strong>rer, unsichtbarer Gast. Dann wird die Tür<br />

wie<strong>de</strong>r verriegelt, um Späher fernzuhalten.<br />

<strong>Die</strong> Wan<strong>de</strong>rer fin<strong>de</strong>n alle in höchster Erregung. <strong>Die</strong> im Raum Versammelten brechen immer<br />

wie<strong>de</strong>r in Lobpreis und Dank aus und rufen: „Der Herr ist wahrhaftig auferstan<strong>de</strong>n und Simon<br />

erschienen.“ Lukas 24,34. <strong>Die</strong> Männer von Emmaus, von ihrem eiligen Marsch noch ganz außer<br />

Atem, erzählen darauf die wun<strong>de</strong>rbare Geschichte, wie Jesus ihnen erschienen ist. Sie haben<br />

gera<strong>de</strong> ihren Bericht been<strong>de</strong>t, und einige meinen noch, sie könnten das alles nicht glauben, da es<br />

zu schön sei, um wahr zu sein, als auf einmal noch eine an<strong>de</strong>re Gestalt vor ihnen steht. Aller<br />

Augen richten sich auf <strong>de</strong>n Frem<strong>de</strong>n. Niemand hat um Einlaß gebeten; niemand hat Schritte<br />

vernommen. <strong>Die</strong> Jünger sind bestürzt und fragen sich, was das be<strong>de</strong>uten solle. Doch da hören<br />

sie eine Stimme, die keinem an<strong>de</strong>ren gehört als ihrem Meister Jesus Christus. Klar und <strong>de</strong>utlich<br />

kommen die Worte von seinen Lippen: „Frie<strong>de</strong> sei mit euch!“ „Sie erschraken aber und<br />

fürchteten sich, meinten, sie sähen einen Geist. Und er sprach zu ihnen: Was seid ihr so<br />

erschrocken, und warum kommen solche Gedanken in euer Herz? Sehet meine Hän<strong>de</strong> und<br />

meine Füße, ich bin‘s selber. Fühlet mich an und sehet; <strong>de</strong>nn ein Geist hat nicht Fleisch und<br />

Bein, wie ihr sehet, daß ich habe. Und als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hän<strong>de</strong> und die<br />

Füße.“ Lukas 24,36-40.<br />

<strong>Die</strong> Jünger blickten auf seine grausam durchbohrten Hän<strong>de</strong> und Füße. Sie erkannten auch<br />

seine Stimme, die ihnen wie keine an<strong>de</strong>re in Erinnerung geblieben war. „Da sie aber noch nicht<br />

glaubten vor Freu<strong>de</strong>n und sich verwun<strong>de</strong>rten, sprach er zu ihnen: Habt ihr hier etwas zu essen?<br />

Und sie legten ihm vor ein Stück von gebratenem Fisch und Honigseim. Und er nahm‘s und aß<br />

vor ihnen.“ „Da wur<strong>de</strong>n die Jünger froh, daß sie <strong>de</strong>n Herrn sahen.“ Lukas 24,41-43; Johannes<br />

20,20. An die Stelle ihres Zweifels traten Freu<strong>de</strong> und Glauben. Mit Empfindungen, die nicht<br />

mehr in Worte zu klei<strong>de</strong>n waren, bekannten sie sich zu ihrem auferstan<strong>de</strong>nen Heiland. Bei Jesu<br />

Geburt hatte <strong>de</strong>r Engel <strong>de</strong>n Menschen Frie<strong>de</strong>n und Wohlgefallen verkündigt. Nun, da Jesus zum<br />

erstenmal nach seiner Auferstehung <strong>de</strong>n Jüngern erschien, begrüßte er sie mit <strong>de</strong>m Segenswort:<br />

„Frie<strong>de</strong> sei mit euch!“ Jesus ist stets bereit, <strong>de</strong>nen inneren Frie<strong>de</strong>n zu schenken, <strong>de</strong>ren Seelen<br />

mit Zweifeln und Ängsten erfüllt sind. Er wartet darauf, daß wir ihm unsere Herzenstür öffnen<br />

und zu ihm sagen: Bleibe bei uns! Er spricht: „Siehe, ich stehe vor <strong>de</strong>r Tür und klopfe an. So<br />

jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu <strong>de</strong>m wer<strong>de</strong> ich eingehen und das<br />

Abendmahl mit ihm halten und er mit mir.“ Offenbarung 3,20.<br />

551


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

<strong>Die</strong> Auferstehung Jesu war ein Sinnbild <strong>de</strong>r Auferstehung aller, die in ihm schlafen. Das<br />

Aussehen <strong>de</strong>s auferstan<strong>de</strong>nen Heilan<strong>de</strong>s, sein Wesen und seine Art zu sprechen waren seinen<br />

Jüngern vertraut. Wie Jesus von <strong>de</strong>n Toten auferstand, so sollen alle, die in ihm ruhen, auch<br />

auferstehen. Wir wer<strong>de</strong>n unsere Freun<strong>de</strong> erkennen, wie die Jünger Jesus erkannten. Mögen sie<br />

im irdischen Leben mißgestaltet, krank und verkrüppelt gewesen sein — sie wer<strong>de</strong>n ebenmäßig<br />

und in vollkommener Gesundheit auferstehen. Und doch wird in <strong>de</strong>m verklärten Leib ihre<br />

I<strong>de</strong>ntität vollständig gewahrt sein. Dann wer<strong>de</strong>n wir erkennen wie auch wir erkannt sind.<br />

Vergleiche 1.Korinther 13,12. In Angesichtern, die in <strong>de</strong>m von Jesu Antlitz ausgehen<strong>de</strong>n Licht<br />

hell erglänzen, wer<strong>de</strong>n wir die Züge unserer Lieben wie<strong>de</strong>rerkennen.<br />

Als Jesus seinen Jüngern erschien, erinnerte er sie an die Worte, die er vor seinem To<strong>de</strong> zu<br />

ihnen gesprochen hatte, daß sich nämlich alles erfüllen müsse, was im Gesetz Mose, in <strong>de</strong>n<br />

Propheten und in <strong>de</strong>n Psalmen über ihn geschrieben stehe. „Da öffnete er ihnen das<br />

Verständnis, daß sie die Schrift verstan<strong>de</strong>n, und sprach zu ihnen: Also ist‘s geschrieben, daß<br />

Christus mußte lei<strong>de</strong>n und auferstehen von <strong>de</strong>n Toten am dritten Tage; und daß gepredigt<br />

wer<strong>de</strong>n muß in seinem Namen Buße zur Vergebung <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>n unter allen Völkern. Hebt an zu<br />

Jerusalem und seid <strong>de</strong>s alles Zeugen.“ Lukas 24,45-48.<br />

<strong>Die</strong> Jünger begannen jetzt das Wesen und <strong>de</strong>n Umfang ihrer Aufgabe zu begreifen. Sie<br />

sollten <strong>de</strong>r Welt die herrlichen Wahrheiten verkündigen, die Jesus ihnen anvertraut hatte. <strong>Die</strong><br />

Ereignisse seines Lebens, sein Tod, seine Auferstehung, die Weissagungen, die auf diese<br />

Geschehnisse hinwiesen, die Heiligkeit <strong>de</strong>s Gesetzes Gottes, das Geheimnis <strong>de</strong>s<br />

Erlösungsplanes, die Macht <strong>Christi</strong> zur Vergebung <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>n alles dies konnten sie aus<br />

eigener Erfahrung und Anschauung bezeugen, und sie sollten es <strong>de</strong>r Welt mitteilen. Sie sollten<br />

das Evangelium <strong>de</strong>s Frie<strong>de</strong>ns und <strong>de</strong>r Erlösung durch Buße und die Kraft <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s<br />

verkündigen.<br />

„Da er das gesagt hatte, blies er sie an und spricht zu ihnen: Nehmet hin <strong>de</strong>n heiligen Geist!<br />

Welchen ihr die Sün<strong>de</strong>n erlasset, <strong>de</strong>nen sind sie erlassen; und welchen ihr sie behaltet, <strong>de</strong>nen<br />

sind sie behalten.“ Johannes 20,22.23. Der Heilige Geist war noch nicht völlig offenbart; <strong>de</strong>nn<br />

Christus war noch nicht verherrlicht wor<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> umfassen<strong>de</strong> Gabe <strong>de</strong>s Heiligen Geistes wur<strong>de</strong><br />

ihnen nicht vor <strong>de</strong>r Himmelfahrt <strong>de</strong>s Herrn zuteil. Ehe dies nicht geschehen war, konnten sie<br />

ihren Auftrag, <strong>de</strong>r Welt das Evangelium zu verkündigen, nicht ausführen. Jetzt erhielten sie <strong>de</strong>n<br />

Heiligen Geist aus einem beson<strong>de</strong>ren Grun<strong>de</strong>. Ehe die Jünger ihr Amt in <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong> ausüben<br />

konnten, mußte Jesus ihnen erst seinen Geist eingeben. Er vertraute ihnen damit eine beson<strong>de</strong>rs<br />

heilige Gabe an. So wollte er ihnen die Tatsache einprägen, daß sie ohne diesen Geist ihren<br />

<strong>Die</strong>nst nicht ausführen konnten.<br />

Der Heilige Geist ist <strong>de</strong>r Atem <strong>de</strong>s geistlichen Lebens in <strong>de</strong>r Seele. Jeman<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>m<br />

göttlichen Geist auszurüsten, be<strong>de</strong>utet, ihn mit <strong>de</strong>m Leben <strong>Christi</strong> zu erfüllen. Der Geist<br />

durchdringt <strong>de</strong>n Empfänger mit <strong>de</strong>n Eigenschaften <strong>Christi</strong>. Nur wer auf diese Weise von Gott<br />

unterwiesen ist, wer die nach innen gerichtete Wirksamkeit <strong>de</strong>s Geistes spürt und in wem sich<br />

das christusähnliche Leben offenbart, <strong>de</strong>r kann als Bevollmächtigter <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong> dienen.<br />

552


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

„Welchen ihr die Sün<strong>de</strong>n erlasset“, sagte Christus, „<strong>de</strong>nen sind sie erlassen; und welchen ihr<br />

sie behaltet, <strong>de</strong>nen sind sie behalten.“ Johannes 20,22.23. Der Herr gibt damit nieman<strong>de</strong>m die<br />

Freiheit, über an<strong>de</strong>re ein Urteil zu fällen. Schon in <strong>de</strong>r Bergpredigt for<strong>de</strong>rte Jesus seine Zuhörer<br />

auf, diese Angewohnheit zu lassen; <strong>de</strong>nn das Richten steht allein Gott zu. Der Gemein<strong>de</strong> aber<br />

als Organisation ist vom Herrn eine Verantwortung für je<strong>de</strong>s einzelne Glied auferlegt.<br />

Gegenüber <strong>de</strong>nen, die in Sün<strong>de</strong> fallen, hat die Gemein<strong>de</strong> die Pflicht, zu warnen, zu belehren<br />

und, falls es möglich ist, zu bessern. „Weise zurecht, drohe, ermahne mit aller Geduld und<br />

Lehre“ (2.Timotheus 4,2), so sagt <strong>de</strong>r Herr. Bleibe ehrlich gegenüber je<strong>de</strong>m Unrecht; warne<br />

je<strong>de</strong> Seele, die in Gefahr ist; überlasse niemand <strong>de</strong>m Selbstbetrug; nenne die Sün<strong>de</strong> bei ihrem<br />

richtigen Namen; verkündige, was Gott über die Lüge, über das Brechen <strong>de</strong>s Sabbats, über<br />

Stehlen, Abgötterei und je<strong>de</strong> an<strong>de</strong>re Sün<strong>de</strong> gesagt hat. „<strong>Die</strong> solches tun, wer<strong>de</strong>n das Reich<br />

Gottes nicht erben.“ Galater 5,21. Wenn sie aber in ihrer Sün<strong>de</strong> beharren, wird das Gericht, das<br />

du ihnen aus <strong>de</strong>r Heiligen Schrift angekündigt hast, im Himmel über sie ausgesprochen wer<strong>de</strong>n.<br />

In<strong>de</strong>m sie die Sün<strong>de</strong> wählen, verstoßen sie Christus. <strong>Die</strong> Gemein<strong>de</strong> muß zeigen, daß sie <strong>de</strong>ren<br />

Taten nicht gutheißt, o<strong>de</strong>r sie selbst entehrt ihren Herrn. Sie muß über die Sün<strong>de</strong> ebenso urteilen<br />

wie Gott; sie muß die Übertretungen genauso behan<strong>de</strong>ln, wie Gott es vorgeschrieben hat, dann<br />

wird ihre Handlungsweise im Himmel bestätigt wer<strong>de</strong>n. Wer die Vollmacht <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong><br />

verachtet, <strong>de</strong>r verachtet damit die Autorität <strong>Christi</strong>.<br />

Doch diese Darstellung hat noch eine angenehmere Seite. „Welchen ihr die Sün<strong>de</strong>n erlasset,<br />

<strong>de</strong>nen sind sie erlassen.“ Johannes 20,22.23. <strong>Die</strong>ser Gedanke soll vorherrschend sein. Blickt bei<br />

<strong>de</strong>r Arbeit für die Irren<strong>de</strong>n mit bei<strong>de</strong>n Augen auf <strong>de</strong>n Heiland! <strong>Die</strong> Hirten sollten die Her<strong>de</strong> von<br />

<strong>de</strong>s Herrn Wei<strong>de</strong> mit liebevoller Fürsorge leiten. Den Irren<strong>de</strong>n sollten sie von <strong>de</strong>r vergeben<strong>de</strong>n<br />

Gna<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Herrn erzählen und <strong>de</strong>n Sün<strong>de</strong>r ermutigen, seine Taten zu bereuen und an <strong>de</strong>n zu<br />

glauben, <strong>de</strong>r vergeben kann. Laßt die <strong>Die</strong>ner Gottes im Namen <strong>de</strong>s göttlichen Wortes<br />

verkün<strong>de</strong>n: „Wenn wir aber unsre Sün<strong>de</strong>n bekennen, so ist er treu und gerecht, daß er uns die<br />

Sün<strong>de</strong>n vergibt und reinigt uns von aller Untugend.“ 1.Johannes 1,9. Alle Reumütigen haben<br />

die Versicherung: „Er wird sich unser wie<strong>de</strong>r erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und<br />

alle unsere Sün<strong>de</strong>n in die Tiefen <strong>de</strong>s Meeres werfen.“ Micha 7,19.<br />

Mit dankbarem Herzen sollte die Reue <strong>de</strong>s Sün<strong>de</strong>rs von <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong> angenommen, <strong>de</strong>r<br />

Bußfertige aus <strong>de</strong>r Finsternis <strong>de</strong>s Unglaubens in das Licht <strong>de</strong>s Glaubens und <strong>de</strong>r Gerechtigkeit<br />

geführt und seine zittern<strong>de</strong> Hand in die ihm liebevoll dargebotene Hand Jesu gelegt wer<strong>de</strong>n.<br />

Eine solcherart geübte Vergebung wird <strong>de</strong>r Himmel gutheißen. Nur in diesem Sinne besitzt die<br />

Gemein<strong>de</strong> die Macht, <strong>de</strong>m Sün<strong>de</strong>r zu vergeben; <strong>de</strong>nn das Lösen von <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> kann nur durch<br />

<strong>de</strong>n Verdienst <strong>Christi</strong> erreicht wer<strong>de</strong>n. We<strong>de</strong>r einem Menschen noch einer Vereinigung von<br />

Menschen ist die Macht gegeben, die Seele von Schuld zu befreien. Christus beauftragte seine<br />

Jünger, die Vergebung <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>n in seinem Namen allen Völkern zu predigen; aber sie selbst<br />

waren nicht ermächtigt wor<strong>de</strong>n, auch nur die geringste Sün<strong>de</strong> hinwegzunehmen. In Jesu Namen<br />

allein ist Heil, und „ist auch kein an<strong>de</strong>rer Name unter <strong>de</strong>m Himmel <strong>de</strong>n Menschen gegeben,<br />

darin wir sollen selig wer<strong>de</strong>n“. Apostelgeschichte 4,12.<br />

553


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Als Jesus zum ersten Mal seinen Jüngern im Obergemach erschienen war, hatte Thomas<br />

gefehlt. Er hörte wohl die Berichte <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren und erhielt genügend Beweise für die<br />

Auferstehung <strong>de</strong>s Herrn; <strong>de</strong>nnoch erfüllten Schwermut und Unglaube sein Herz. Als er die<br />

Jünger von <strong>de</strong>n wun<strong>de</strong>rbaren Bekundungen <strong>de</strong>s auferstan<strong>de</strong>nen Heilan<strong>de</strong>s erzählen hörte,<br />

stürzte ihn das nur noch in tiefere Verzweiflung. Wenn Jesus wirklich von <strong>de</strong>n Toten<br />

auferstan<strong>de</strong>n wäre, dann bestün<strong>de</strong> fortan keine Hoffnung mehr auf ein irdisches Königreich im<br />

engeren Sinne <strong>de</strong>s Wortes. Auch verletzte es seine Eitelkeit, wenn er daran dachte, daß sein<br />

Meister sich allen Jüngern außer ihm offenbart haben sollte. Er war daher entschlossen, das<br />

Gehörte nicht zu glauben, und brütete eine ganze Woche lang über seinem Elend, das ihm im<br />

Gegensatz zu <strong>de</strong>r Hoffnung und <strong>de</strong>m Glauben seiner Brü<strong>de</strong>r um so dunkler erschien. Während<br />

dieser Zeit hatte Thomas wie<strong>de</strong>rholt erklärt: „Wenn ich nicht in seinen Hän<strong>de</strong>n sehe die<br />

Nägelmale und lege meinen Finger in die Nägelmale und lege meine Hand in seine Seite, kann<br />

ich‘s nicht glauben.“ Johannes 20,25.<br />

Er wollte nicht durch die Augen seiner Brü<strong>de</strong>r sehen o<strong>de</strong>r einen Glauben üben, <strong>de</strong>r sich auf<br />

ihr Zeugnis stützte. Er liebte seinen Herrn von ganzem Herzen; aber er hatte Eifersucht und<br />

Unglauben in sein Herz und in seine Gedankenwelt eindringen lassen. Einem Teil <strong>de</strong>r Jünger<br />

diente das vertraute obere Gemach als vorläufige Unterkunft, und abends versammelten sich<br />

dort alle außer Thomas. Eines Abends entschied sich auch Thomas, mit <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Jüngern<br />

zusammenzukommen. Trotz seines Unglaubens hegte er die schwache Hoffnung, daß jene gute<br />

Nachricht doch wahr sein könnte. Während <strong>de</strong>s Aben<strong>de</strong>ssens sprachen die Jünger über die<br />

Beweise, die Jesus ihnen in <strong>de</strong>n Weissagungen gegeben hatte. Plötzlich „kommt Jesus, da die<br />

Türen verschlossen waren, und tritt mitten ein und spricht: Frie<strong>de</strong> sei mit euch“! Johannes<br />

20,26.<br />

Dann wandte er sich an Thomas und sagte: „Reiche einen Finger her und siehe meinen<br />

Hän<strong>de</strong> und reiche <strong>de</strong>ine Hand her und lege sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, son<strong>de</strong>rn<br />

gläubig!“ Johannes. 20,27. <strong>Die</strong>se Worte zeigten, daß <strong>de</strong>m Herrn die Gedanken und Worte <strong>de</strong>s<br />

Thomas gut bekannt waren. Der zweifeln<strong>de</strong> Jünger wußte, daß niemand seiner Mitjünger <strong>de</strong>n<br />

Herrn in <strong>de</strong>r vergangenen Woche gesehen hatte. Sie konnten Jesus nichts von seinem<br />

Unglauben erzählt haben. Da erkannte er seinen Herrn, und er wollte keinen weiteren Beweis.<br />

In überströmen<strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong> warf er sich Jesus zu Füßen und rief: „Mein Herr und mein<br />

Gott!“ Johannes 20,28. Jesus nahm sein Bekenntnis an, ta<strong>de</strong>lte ihn aber mit freundlicher Mil<strong>de</strong><br />

wegen seines Unglaubens: „Weil du mich gesehen hast, Thomas, so glaubst du. Selig sind, die<br />

nicht sehen und doch glauben!“ Johannes 20,29. Der Glaube <strong>de</strong>s Thomas hätte <strong>de</strong>n Heiland<br />

mehr gefreut, wür<strong>de</strong> er <strong>de</strong>m Zeugnis seiner Brü<strong>de</strong>r geglaubt haben. Folgte die Welt heute <strong>de</strong>m<br />

Beispiel <strong>de</strong>s Thomas, dann glaubte niemand an die Erlösung; <strong>de</strong>nn alle, die Christus annehmen,<br />

müssen sich auf das Zeugnis an<strong>de</strong>rer stützen.<br />

Viele, die zum Zweifel neigen, entschuldigen sich damit, daß sie behaupten, sie wür<strong>de</strong>n<br />

gewiß glauben, wenn sie <strong>de</strong>n Beweis bekämen, <strong>de</strong>n Thomas von seinen Gefährten bekommen<br />

hatte. Sie erkennen aber nicht, daß sie nicht nur diesen Beweis, son<strong>de</strong>rn noch weitaus<br />

mehr Zeugnisse haben. Viele, die ähnlich wie Thomas darauf warteten, daß ihnen je<strong>de</strong>r Anlaß<br />

554


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

zum Zweifel aus <strong>de</strong>m Wege geräumt wird, wer<strong>de</strong>n nie ihre Wünsche verwirklicht sehen.<br />

Allmählich wer<strong>de</strong>n sie immer tiefer in <strong>de</strong>n Unglauben verstrickt. Wer sich dazu erzieht, nur auf<br />

die schwierige Seite zu schauen, zu murren und zu klagen, erkennt nicht, was er tut. Er sät <strong>de</strong>n<br />

Samen <strong>de</strong>s Zweifels und wird auch eine Ernte <strong>de</strong>s Zweifels einbringen. In einer Zeit, in <strong>de</strong>r<br />

Glaube und Vertrauen beson<strong>de</strong>rs wichtig sind, wer<strong>de</strong>n sich auf diese Weise viele außerstan<strong>de</strong><br />

sehen, zu hoffen und zu glauben. Durch sein Verhalten gegenüber Thomas gab Jesus seinen<br />

Nachfolgern eine gute Lehre. Sein Beispiel zeigt uns, wie wir die Glaubensschwachen und die<br />

Zweifler behan<strong>de</strong>ln sollen. Jesus überhäufte Thomas nicht mit Vorwürfen, noch ließ er sich mit<br />

ihm in Streitfragen ein. Er offenbarte sich <strong>de</strong>m Zweifeln<strong>de</strong>n. Thomas hatte äußerst unvernünftig<br />

gehan<strong>de</strong>lt, als er vorschrieb, unter welchen Bedingungen er glauben wolle; Jesus aber brach<br />

durch seine großmütige Liebe und Rücksicht alle Schranken nie<strong>de</strong>r. Der Unglaube wird selten<br />

durch Wortgefechte überwun<strong>de</strong>n. Er greift gewöhnlich zur Selbstverteidigung und fin<strong>de</strong>t immer<br />

neue Unterstützung und Entschuldigungsgrün<strong>de</strong>. Doch laßt Jesus in seiner Liebe und<br />

Barmherzigkeit als <strong>de</strong>n gekreuzigten Heiland offenbart wer<strong>de</strong>n, und viele einst unwillige<br />

Lippen wer<strong>de</strong>n das Bekenntnis <strong>de</strong>s Thomas nachsprechen: „Mein Herr und mein Gott!“<br />

555


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kapitel 85: Noch einmal am See Genezareth<br />

Jesus hatte die Absicht, seine Jünger in Galiläa zu treffen. Bald nach <strong>de</strong>m En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />

Passahwoche lenkten sie ihre Schritte dorthin. Ihre Abwesenheit von Jerusalem während <strong>de</strong>s<br />

Passahfestes wäre ihnen als Abneigung und Abfall ausgelegt wor<strong>de</strong>n. Deshalb blieben sie bis<br />

zum Schluß <strong>de</strong>r Festwoche und eilten dann erst freudig heimwärts, um ihren Herrn zu treffen,<br />

wie er es geboten hatte. Sieben <strong>de</strong>r Jünger wan<strong>de</strong>rten zusammen. Sie waren in das schlichte<br />

Gewand <strong>de</strong>r Fischer geklei<strong>de</strong>t. Wohl waren sie arm an irdischen Gütern, doch reich in <strong>de</strong>r<br />

Erkenntnis und im Ausleben <strong>de</strong>r Wahrheit, was ihnen in himmlischer Sicht <strong>de</strong>n höchsten Rang<br />

als Lehrer eintrug. Sie hatten zwar keine Prophetenschulen besucht, waren aber drei Jahre lang<br />

von <strong>de</strong>m besten Erzieher, <strong>de</strong>n die Welt je gekannt hat, unterrichtet wor<strong>de</strong>n. Unter seinem<br />

Einfluß waren sie edler, verständiger und vollkommener gewor<strong>de</strong>n — Werkzeuge, durch die<br />

an<strong>de</strong>re Menschen zur Erkenntnis <strong>de</strong>r Wahrheit geführt wer<strong>de</strong>n konnten.<br />

Ein Großteil <strong>de</strong>r Zeit, die Jesu Lehrtätigkeit einnahm, hatten sie in <strong>de</strong>r Nähe <strong>de</strong>s Galiläischen<br />

Meeres verbracht. Als die Jünger sich an einem Ort versammelten, wo sie kaum gestört wer<strong>de</strong>n<br />

konnten, sahen sie sich immer wie<strong>de</strong>r durch die Umgebung an Jesus und seine mächtigen Taten<br />

erinnert. Auf diesem See war er ihnen, auf <strong>de</strong>n Wellen schreitend, zu Hilfe gekommen, als ihre<br />

Herzen sich fürchteten und <strong>de</strong>r wil<strong>de</strong> Sturm sie <strong>de</strong>m Untergang entgegentrieb. Hier war <strong>de</strong>r<br />

Sturm durch sein Wort gestillt wor<strong>de</strong>n. Sie konnten <strong>de</strong>n Strand überschauen, wo mehr als<br />

zehntausend Menschen mit wenigen kleinen Broten und Fischen gespeist wor<strong>de</strong>n waren. Nicht<br />

weit davon entfernt lag Kapernaum, <strong>de</strong>r Schauplatz so vieler Wun<strong>de</strong>r. Wie die Jünger so die<br />

Landschaft betrachteten, waren sie in Gedanken ganz bei ihrem Heiland.<br />

Es war ein angenehmer Abend, und Petrus, <strong>de</strong>r sich noch viel von seiner einstigen<br />

Begeisterung für Boote und Fischfang bewahrt hatte, machte <strong>de</strong>n Vorschlag, auf <strong>de</strong>n See<br />

hinauszufahren und die Netze auszuwerfen. Alle waren sie mit seinem Plan einverstan<strong>de</strong>n; <strong>de</strong>nn<br />

sie brauchten Nahrung und Kleidung, und <strong>de</strong>r Erlös aus einem erfolgreichen nächtlichen<br />

Fischzug wür<strong>de</strong> ihnen dazu verhelfen. So fuhren sie in ihrem Boot hinaus, doch sie fingen<br />

nichts. Sie arbeiteten die ganze Nacht — ohne Erfolg. Während jener langen Nachtstun<strong>de</strong>n<br />

unterhielten sie sich über ihren abwesen<strong>de</strong>n Herrn und riefen sich die wun<strong>de</strong>rbaren Ereignisse<br />

ins Gedächtnis zurück, die sie in <strong>de</strong>r Zeit seines öffentlichen <strong>Die</strong>nstes am See erlebt hatten. Sie<br />

fragten sich, was die Zukunft ihnen bringen wür<strong>de</strong>, und <strong>de</strong>r Ausblick auf die kommen<strong>de</strong> Zeit<br />

machte sie traurig.<br />

<strong>Die</strong> ganze Zeit über folgte ihnen vom Ufer aus ein einsamer Beobachter mit seinen Blicken,<br />

während er selbst unsichtbar blieb. Endlich dämmerte <strong>de</strong>r Morgen. Das Boot war <strong>de</strong>m Ufer<br />

schon sehr nahe gekommen, und jetzt sahen die Jünger einen Frem<strong>de</strong>n am Strand stehen, <strong>de</strong>r sie<br />

mit <strong>de</strong>n Worten ansprach: „Kin<strong>de</strong>r, habt ihr nichts zu essen?“ Als sie die Frage verneinten, sagte<br />

<strong>de</strong>r Frem<strong>de</strong> zu ihnen: „Werfet das Netz zur Rechten <strong>de</strong>s Schiffs, so wer<strong>de</strong>t ihr fin<strong>de</strong>n. Da<br />

warfen sie und konnten‘s nicht mehr ziehen vor <strong>de</strong>r Menge <strong>de</strong>r Fische.“ Johannes<br />

21,5.6. Johannes aber erkannte <strong>de</strong>n Frem<strong>de</strong>n und rief Petrus zu: „Es ist <strong>de</strong>r Herr!“ Petrus war so<br />

übermütig und so voller Freu<strong>de</strong>, daß er sich ungeduldig gleich vom Boot aus ins Wasser warf<br />

556


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

und bald neben seinem Herrn stand. <strong>Die</strong> an<strong>de</strong>ren Jünger fuhren im Boot heran und zogen das<br />

mit Fischen gefüllte Netz hinter sich her. „Als sie nun ausstiegen auf das Land, sahen sie<br />

Kohlen gelegt und Fische darauf und Brot.“ Johannes 21,7.9.<br />

Sie waren zu überrascht, um zu fragen, woher das Feuer und die Speise stammten. Jesus<br />

sagte zu ihnen: „Bringet her von <strong>de</strong>n Fischen, die ihr jetzt gefangen habt!“ Johannes 21,10. Da<br />

stürzte Petrus zu <strong>de</strong>m Netz, das er hatte fallen lassen, und half seinen Brü<strong>de</strong>rn, es an Land zu<br />

ziehen. Nach<strong>de</strong>m sie diese Arbeit erledigt hatten und alle Vorbereitungen getroffen waren, bat<br />

Jesus seine Jünger, mit ihm zu speisen. Er brach das Brot und verteilte es unter sie und wur<strong>de</strong><br />

nunmehr von allen sieben erkannt und anerkannt. Das Wun<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Speisung <strong>de</strong>r<br />

Fünftausend am Berghang kam ihnen auf einmal wie<strong>de</strong>r ins Gedächtnis; doch zeigten sie eine<br />

merkwürdige Scheu, und schweigend schauten sie <strong>de</strong>n auferstan<strong>de</strong>nen Heiland an. Lebhaft<br />

erinnerten sie sich <strong>de</strong>s Geschehens am See, als Jesus ihnen geboten hatte, ihm zu folgen. Sie<br />

dachten daran, wie sie auf sein Geheiß hinausgefahren waren und ihre Netze ausgeworfen<br />

hatten und wie <strong>de</strong>r Fischzug eine so reiche Beute erbracht hatte, daß die Netze zu zerreißen<br />

drohten. Dann waren sie von Jesus aufgefor<strong>de</strong>rt wor<strong>de</strong>n, ihre Fischerboote zu verlassen, und er<br />

hatte ihnen verheißen, aus ihnen Menschenfischer zu machen. Um ihnen dieses Erlebnis wie<strong>de</strong>r<br />

lebendig wer<strong>de</strong>n zu lassen und <strong>de</strong>ssen Eindruck zu vertiefen, hatte er abermals das Wun<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s<br />

Fischzuges vollbracht. <strong>Die</strong>ses Wun<strong>de</strong>r stellte eine Erneuerung <strong>de</strong>s göttlichen Auftrages an die<br />

Jünger dar. Es führte ihnen vor Augen, daß <strong>de</strong>r Tod ihres Meisters ihre Verpflichtung nicht<br />

verringert hatte, die ihnen vom Herrn zugewiesene Aufgabe zu erfüllen. Obwohl sie auf <strong>de</strong>n<br />

persönlichen Umgang mit <strong>de</strong>m Herrn und auf das Bestreiten ihres Lebensunterhaltes aus ihrem<br />

früheren Beruf wür<strong>de</strong>n verzichten müssen, wür<strong>de</strong> sich <strong>de</strong>r auferstan<strong>de</strong>ne Heiland <strong>de</strong>nnoch um<br />

sie kümmern. Solange sie seinen Auftrag ausführten, wür<strong>de</strong> er für ihre Bedürfnisse sorgen. Mit<br />

<strong>de</strong>r Anweisung, ihr Netz rechts vom Schiff auszuwerfen, hatte <strong>de</strong>r Heiland eine bestimmte<br />

Absicht verfolgt. An jener Seite stand er am Ufer; das war die Seite <strong>de</strong>s Glaubens. Arbeiteten<br />

sie mit ihm zusammen, in<strong>de</strong>m sie ihre menschlichen Bemühungen mit seiner göttlichen Macht<br />

verbän<strong>de</strong>n, dann konnte <strong>de</strong>r Erfolg nicht ausbleiben.<br />

Noch eine weitere Lehre, die beson<strong>de</strong>rs Petrus anging, mußte Jesus ihnen erteilen. Daß<br />

Petrus <strong>de</strong>n Herrn verleugnet hatte, war ein schändlicher Gegensatz zu seinen früheren<br />

Treuegelöbnissen gewesen. Er hatte <strong>de</strong>n Herrn entehrt und sich das Mißtrauen seiner Brü<strong>de</strong>r<br />

zugezogen. <strong>Die</strong>se glaubten, daß er seine frühere Stellung unter ihnen nicht mehr einnehmen<br />

dürfe, und auch er selbst fühlte, daß er das Vertrauen in seinen guten Namen verscherzt hatte.<br />

Ehe er nun berufen wur<strong>de</strong> sein Apostelamt wie<strong>de</strong>raufzunehmen, mußte er vor ihnen allen <strong>de</strong>n<br />

Beweis für seine Reue erbringen. An<strong>de</strong>rnfalls hätte seine Schuld, obgleich er sie bereute, seinen<br />

Einfluß als <strong>Die</strong>ner <strong>Christi</strong> untergraben können. Der Heiland schenkte ihm Gelegenheit, das<br />

Vertrauen seiner Brü<strong>de</strong>r wie<strong>de</strong>rzugewinnen und soweit wie möglich die Schmach zu beseitigen,<br />

die sein schändliches Verhalten <strong>de</strong>m Evangelium von <strong>de</strong>r Herrlichkeit Jesu <strong>Christi</strong> gebracht<br />

hatte. Hierdurch wur<strong>de</strong> allen Nachfolgern <strong>Christi</strong> eine Lehre gegeben. Das Evangelium schließt<br />

keinen Vergleich mit <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>; es kann kein Unrecht entschuldigen. Geheime Sün<strong>de</strong>n sollten<br />

Gott im Verborgenen bekannt wer<strong>de</strong>n, offenkundige Sün<strong>de</strong>n aber erfor<strong>de</strong>rn ein öffentliches<br />

Bekenntnis. Wenn die Jünger sündigen, trifft <strong>de</strong>r Vorwurf Christus. Das veranlaßt Satan zum<br />

557


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Triumph und läßt schwache Seelen straucheln. In<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Jünger Reue beweist, soll er, soweit<br />

es in seiner Macht steht, die Schmach beseitigen. Während Jesus gemeinsam mit seinen Jüngern<br />

am Ufer speiste, fragte er Petrus: „Simon, <strong>de</strong>s Johannes Sohn, hast du mich lieber, als mich<br />

diese haben?“ Johannes 21,15. Dabei wies er auf die Gefährten <strong>de</strong>s Petrus, <strong>de</strong>r einst erklärt<br />

hatte: „Wenn sie auch alle Ärgernis nähmen an dir, so will ich‘s doch nimmermehr<br />

tun.“ Matthäus 26,33. Doch jetzt konnte er sich besser beurteilen. „Ja, Herr“, antwortete er, „du<br />

weißt, daß ich dich liebhabe.“ Johannes 21,15. Das ist keine lei<strong>de</strong>nschaftliche Versicherung,<br />

daß seine Liebe die seiner Brü<strong>de</strong>r übersteige. Er gibt nicht einmal seiner eigenen Meinung über<br />

<strong>de</strong>n Wert seiner Hingabe Ausdruck. Vielmehr bittet er <strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r alle Beweggrün<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Herzens<br />

kennt, seine Aufrichtigkeit zu beurteilen: „Herr, du weißt, daß ich dich liebhabe.“ Und Jesus<br />

for<strong>de</strong>rt ihn auf: „Wei<strong>de</strong> meine Lämmer!“ Johannes 21,15.<br />

Abermals prüfte <strong>de</strong>r Herr Petrus, in<strong>de</strong>m er seine Frage wie<strong>de</strong>rholte: „Simon, <strong>de</strong>s Johannes<br />

Sohn, hast du mich lieb?“ <strong>Die</strong>smal fragte er Petrus nicht, ob dieser ihn mehr liebe als seine<br />

Brü<strong>de</strong>r. Doch auch die zweite Antwort glich <strong>de</strong>r ersten; sie war frei von übertriebenen<br />

Beteuerungen: „Ja, Herr, du weißt, daß ich dich liebhabe.“ Jesus sagte ihm darauf: „Wei<strong>de</strong><br />

meine Schafe!“ Johannes 21,16. Aber noch einmal stellte <strong>de</strong>r Heiland die prüfen<strong>de</strong> Frage:<br />

„Simon, <strong>de</strong>s Johannes Sohn, hast du mich lieb?“ Da wur<strong>de</strong> Petrus traurig, glaubte er doch, daß<br />

Jesus an seiner Liebe zweifelte. Er wußte, daß sein Herr Ursache hatte, ihm zu mißtrauen. So<br />

antwortete er mit wehem Herzen: „Herr, du weißt alle Dinge, du weißt, daß ich dich liebhabe.“<br />

Und wie<strong>de</strong>rum wies Jesus ihn an: „Wei<strong>de</strong> meine Schafe!“ Johannes 21,17.<br />

Dreimal hatte Petrus seinen Herrn öffentlich verleugnet, dreimal verlangte Jesus von ihm<br />

nun die Versicherung seiner Liebe und Treue, wobei die wie<strong>de</strong>rholte, gezielte Frage Petrus wie<br />

ein spitzer Pfeil ins wun<strong>de</strong> Herz drang. Vor <strong>de</strong>n versammelten Jüngern enthüllte Jesus, wie tief<br />

Petrus seine Tat bereute, und ließ dadurch erkennen, wie gründlich sich <strong>de</strong>r einst so ruhmredige<br />

Jünger ge<strong>de</strong>mütigt hatte. Petrus war von Natur aus vorwitzig und unbeherrscht, und Satan hatte<br />

diese Wesenseigenschaften zu seinem Vorteil benutzt, um ihn zu Fall zu bringen. Kurz vor<br />

jener schändlichen Tat hatte Jesus zu Petrus gesagt: „Simon, Simon, siehe, <strong>de</strong>r Satan hat euer<br />

begehrt, daß er euch möchte sichten wie <strong>de</strong>n Weizen. Ich aber habe für dich gebeten, daß <strong>de</strong>in<br />

Glaube nicht aufhöre. Und wenn du <strong>de</strong>rmaleinst dich bekehrst, so stärke <strong>de</strong>ine Brü<strong>de</strong>r.“ Lukas<br />

22,31.32. <strong>Die</strong>se Zeit war jetzt gekommen, die Umwandlung im Wesen <strong>de</strong>s Petrus war allen<br />

<strong>de</strong>utlich. <strong>Die</strong> eindringlichen, prüfen<strong>de</strong>n Fragen <strong>de</strong>s Herrn hatten keine vorwitzige,<br />

Selbstzufrie<strong>de</strong>nheit wi<strong>de</strong>rspiegeln<strong>de</strong> Antwort hervorgerufen. Seine Demütigung und seine Reue<br />

hatten Petrus besser als je zuvor darauf vorbereitet, ein Hirte <strong>de</strong>r Her<strong>de</strong> zu sein.<br />

<strong>Die</strong> erste Aufgabe, die Jesus <strong>de</strong>m Petrus anvertraute, als er ihn in <strong>de</strong>n <strong>Die</strong>nst wie<strong>de</strong>reinsetzte,<br />

war das Hüten <strong>de</strong>r Lämmer. Das war eine Tätigkeit, in <strong>de</strong>r Petrus bisher nur wenige<br />

Erfahrungen gesammelt hatte. Sie wür<strong>de</strong> von ihm viel Sorgfalt und Einfühlungsvermögen, viel<br />

Geduld und Ausdauer erfor<strong>de</strong>rn. Es war ein Ruf, <strong>de</strong>nen zu dienen, die jung im Glauben waren;<br />

er sollte die Unwissen<strong>de</strong>n belehren, ihnen die Schrift öffnen und sie zu nützlichen Mitarbeitern<br />

im <strong>Die</strong>nste <strong>Christi</strong> erziehen. Bisher war Petrus we<strong>de</strong>r für diese Aufgabe tauglich gewesen, noch<br />

558


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

verstand er <strong>de</strong>ren Wichtigkeit. Aber gera<strong>de</strong> dazu berief ihn <strong>de</strong>r Herr in jener Stun<strong>de</strong>. Sein Leid<br />

und seine Reue hatten ihn dafür vorbereitet.<br />

Vor seinem Fall hatte Petrus immer wie<strong>de</strong>r unüberlegt aus einem plötzlichem Antrieb heraus<br />

gesprochen. Stets war er bereit gewesen, an<strong>de</strong>re zurechtzuweisen und seine eigene Meinung<br />

kundzutun, bevor er sich über sich selbst o<strong>de</strong>r über das, was er zu sagen hatte, völlig im klaren<br />

war. Der bekehrte Petrus aber han<strong>de</strong>lte ganz an<strong>de</strong>rs. Er behielt wohl seine frühere Begeisterung,<br />

doch die Gna<strong>de</strong> <strong>Christi</strong> leitete seinen Eifer in die richtigen Bahnen. Er war nicht mehr heftig,<br />

selbstvertrauend und überheblich, son<strong>de</strong>rn ruhig, beherrscht und gelehrig. Er konnte sowohl die<br />

Lämmer als auch die Schafe <strong>de</strong>r Her<strong>de</strong> <strong>Christi</strong> wei<strong>de</strong>n. Jesu Handlungsweise gegenüber Petrus<br />

war für diesen wie für seine Brü<strong>de</strong>r sehr lehrreich. Sie führte ihnen die Notwendigkeit vor<br />

Augen, <strong>de</strong>m Übertreter mit Geduld, Mitgefühl und vergeben<strong>de</strong>r Liebe zu begegnen. Obwohl<br />

Petrus seinen Herrn verleugnet hatte, die Liebe, die Jesus ihm entgegenbrachte, schwankte<br />

niemals. Ebensolche Liebe sollte <strong>de</strong>r Unterhirte für seine Schafe und Lämmer aufbringen, die<br />

seiner Obhut übergeben sind. In<strong>de</strong>m er sich seiner eigenen Schwäche und seines Versagens<br />

erinnerte, sollte Petrus ebenso feinfühlig mit seiner Her<strong>de</strong> umgehen, wie Jesus an ihm gehan<strong>de</strong>lt<br />

hatte.<br />

Jesu Frage an Petrus war be<strong>de</strong>utsam. Nur eine Bedingung zur Jüngerschaft und zum <strong>Die</strong>nst<br />

führte er an: „Hast du mich lieb?“ Johannes 21,17. Das ist die wichtigste Voraussetzung. Wür<strong>de</strong><br />

Petrus alle möglichen Befähigungen besessen haben, er hätte ohne die Liebe <strong>Christi</strong> kein treuer<br />

Hirte über die Her<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Herrn sein können. Erkenntnis, Mildtätigkeit, Beredsamkeit,<br />

Dankbarkeit und Eifer sind gute Hilfsmittel im Werk <strong>de</strong>s Herrn, aber wenn ein <strong>Die</strong>ner <strong>Christi</strong><br />

nicht Jesu Liebe im Herzen trägt, wird er vergeblich arbeiten. Jesus ging mit Petrus allein, <strong>de</strong>nn<br />

es gab einiges, das er nur mit ihm besprechen wollte. Vor seinem To<strong>de</strong> hatte Jesus zu ihm<br />

gesagt: „Wo ich hingehe, kannst du mir diesmal nicht folgen; aber du wirst mir nachmals<br />

folgen.“ Darauf hatte Petrus geantwortet: „Herr, warum kann ich dir diesmal nicht folgen? Ich<br />

will mein Leben für dich lassen.“ Johannes 13,36.37. Als er das sagte, hatte er nur wenig<br />

Ahnung davon, über welche Höhen und in welche Tiefen Christus ihm auf <strong>de</strong>m Weg<br />

vorangehen wür<strong>de</strong>. Petrus war gestrauchelt, als die Prüfung kam; aber wie<strong>de</strong>r sollte er<br />

Gelegenheit haben, seine Liebe zu Christus zu beweisen. Damit er für die endgültige<br />

Glaubensprüfung gestärkt wür<strong>de</strong>, breitete <strong>de</strong>r Heiland seine Zukunft vor ihm aus. Er offenbarte<br />

ihm, daß nach einem fruchtbaren Leben, wenn dann das Alter an seinen Kräften zehrte, er<br />

tatsächlich seinem Herrn folgen wür<strong>de</strong>. Jesus sagte ihm: „Als du jünger warst, gürtetest du dich<br />

selbst und wan<strong>de</strong>ltest, wo du hinwolltest: wenn du aber alt wirst, wirst du <strong>de</strong>ine Hän<strong>de</strong><br />

ausstrecken, und ein an<strong>de</strong>rer wird dich gürten und führen, wo du nicht hinwillst. Das sagte er<br />

aber, zu zeigen, mit welchem To<strong>de</strong> er Gott preisen wür<strong>de</strong>.“ Johannes 21,18.19.<br />

Jesus machte Petrus ganz offen mit <strong>de</strong>r Art und Weise seines To<strong>de</strong>s vertraut; er sagte ihm<br />

sogar das Ausstrecken seiner Hän<strong>de</strong> am Kreuz voraus. Erneut for<strong>de</strong>rte er dann seinen Jünger<br />

auf: „Folge mir nach!“ Petrus wur<strong>de</strong> durch diese Offenbarung nicht entmutigt. Er war bereit, für<br />

seinen Herrn je<strong>de</strong>n Tod zu erlei<strong>de</strong>n. Bisher hatte Petrus <strong>de</strong>n Herrn <strong>de</strong>m Fleische nach gekannt,<br />

wie ihn viele auch heute kennen. Doch er sollte nicht länger eine <strong>de</strong>rartig begrenzte Schau<br />

559


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

haben. Er hatte ihn jetzt an<strong>de</strong>rs kennengelernt als zu <strong>de</strong>r Zeit, da er mit ihm in irdischer<br />

Gemeinschaft verbun<strong>de</strong>n war. Er hatte Jesus als Mensch geliebt, als einen vom Himmel<br />

gesandten Lehrer; jetzt liebte er ihn als Gott. Nach und nach hatte er erkannt, daß Jesus ihm<br />

„alles in allem“ (1.Korinther 15,28) war. Nun war er bereit, teilzuhaben an seines Herrn<br />

Aufgabe, die Opfer be<strong>de</strong>utete. Als er schließlich gekreuzigt wer<strong>de</strong>n sollte, wur<strong>de</strong> er auf seine<br />

Bitte hin mit <strong>de</strong>m Haupt nach unten gekreuzigt. Er hielt es für eine zu große Ehre, auf dieselbe<br />

Weise <strong>de</strong>n Tod zu erlei<strong>de</strong>n wie sein Meister.<br />

Für Petrus waren die Worte „Folge mir nach!“ äußerst lehrreich. <strong>Die</strong>se Unterweisung war<br />

ihm nicht nur für sein Sterben, son<strong>de</strong>rn auch für je<strong>de</strong>n Schritt seines Lebens gegeben wor<strong>de</strong>n.<br />

Bisher hatte Petrus lieber selbständig gehan<strong>de</strong>lt, hatte versucht, von sich aus für das Werk<br />

Gottes Pläne auszuarbeiten, statt geduldig zu warten und dann <strong>de</strong>m Plane Gottes zu folgen.<br />

In<strong>de</strong>m er <strong>de</strong>m Herrn vorauseilte, konnte er jedoch nichts gewinnen. Jesu for<strong>de</strong>rt ihn auf: „Folge<br />

mir nach!“ Lauf mir nicht voran. Dann brauchst du <strong>de</strong>n Heeren Satans nicht allein<br />

gegenüberzustehen. Laß mich vorangehen, und <strong>de</strong>r Feind wird dich nicht überwältigen können.<br />

Als Petrus so neben Jesus schritt, sah er, daß Johannes ihnen folgte. Da begehrte er, auch<br />

<strong>de</strong>ssen Zukunft zu erfahren, und so fragte er Jesus: „Herr, was wird aber mit diesem?“ Jesus<br />

antwortete ihm: „Wenn ich will, daß er bleibe, bis ich komme, was geht es dich an? Folge du<br />

mir nach!“ Johannes 21,21.22. Petrus hätte be<strong>de</strong>nken sollen, daß sein Herr ihm alles das<br />

offenbaren wür<strong>de</strong>, was für ihn zu wissen gut wäre. Eines je<strong>de</strong>n Pflicht ist es, Christus<br />

nachzufolgen, ohne dabei eine unangebrachte Besorgnis über die <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn aufgetragene<br />

Arbeit zu hegen. Als Jesus von Johannes sagte: „Wenn ich will, daß er bleibe, bis ich komme“,<br />

gab er damit keineswegs die Versicherung ab, daß dieser Jünger bis zum zweiten Kommen <strong>de</strong>s<br />

Herrn leben wer<strong>de</strong>. Er erläuterte mit diesen Worten lediglich seine unumschränkte Macht, zum<br />

an<strong>de</strong>rn wollte er zeigen, daß es die Aufgabe <strong>de</strong>s Petrus in keiner Weise beeinträchtigen wür<strong>de</strong>,<br />

wenn es tatsächlich sein Wille wäre, daß jener Jünger nicht stürbe. <strong>Die</strong> Zukunft von Johannes<br />

wie auch von Petrus lag in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n ihres Herrn. Bei<strong>de</strong>n jedoch war die Pflicht auferlegt,<br />

ihm im Gehorsam zu folgen.<br />

Wie viele Menschen heute gleichen <strong>de</strong>m Petrus! Sie kümmern sich um die Angelegenheiten<br />

an<strong>de</strong>rer und brennen darauf, <strong>de</strong>ren Pflichten kennenzulernen, während sie Gefahr laufen, ihre<br />

eigenen Aufgaben zu vernachlässigen. Es kommt uns zu, auf Jesus zu schauen und ihm<br />

nachzufolgen. Im Leben und im Charakter an<strong>de</strong>rer Menschen wer<strong>de</strong>n wir Fehler und Mängel<br />

ent<strong>de</strong>cken. <strong>Die</strong> menschliche Natur ist mit Schwachheit behaftet; in Jesus Christus aber wer<strong>de</strong>n<br />

wir Vollkommenheit fin<strong>de</strong>n. In<strong>de</strong>m wir auf ihn sehen, wer<strong>de</strong>n wir verwan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n. Johannes<br />

erreichte ein sehr hohes Alter. Er erlebte die Zerstörung Jerusalems und <strong>de</strong>n Untergang <strong>de</strong>s<br />

prächtigen Tempels — ein Sinnbild für die endgültige Vernichtung <strong>de</strong>r Welt. Bis zu seinem<br />

To<strong>de</strong> folgte er treu seinem Herrn. Der wesentliche Inhalt seines Zeugnisses an die Gemein<strong>de</strong>n<br />

lautete: „Ihr Lieben, lasset uns einan<strong>de</strong>r liebhaben; <strong>de</strong>nn die Liebe ist von Gott ... und wer in <strong>de</strong>r<br />

Liebe bleibt, <strong>de</strong>r bleibt in Gott und Gott in ihm.“ 1.Johannes 4,7.16.<br />

Petrus war wie<strong>de</strong>r in sein Apostelamt eingesetzt wor<strong>de</strong>n, doch die ihm von Christus zuteil<br />

gewor<strong>de</strong>ne Ehre und Vollmacht be<strong>de</strong>utete keine Vorrangstellung gegenüber seinen Brü<strong>de</strong>rn.<br />

560


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Das hatte Jesus klar herausgestellt, als er auf die Frage <strong>de</strong>s Petrus „Was wird aber mit diesem?“<br />

die Antwort gab: „Was geht es dich an? Folge du mir nach!“ Johannes 21,21.22. Petrus wur<strong>de</strong><br />

nicht als Haupt <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong> geehrt. <strong>Die</strong> Gna<strong>de</strong>, die ihm Jesus dadurch erwiesen hatte, daß er<br />

ihm seinen Abfall vergab und ihm die Sorge für die Her<strong>de</strong> anvertraute, sowie seine Treue in <strong>de</strong>r<br />

Nachfolge <strong>Christi</strong> hatten Petrus das Vertrauen seiner Brü<strong>de</strong>r wie<strong>de</strong>rgewonnen. Er besaß großen<br />

Einfluß in <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong>. Aber die Lehre, die ihm <strong>de</strong>r Herr am Galiläischen Meer erteilt hatte,<br />

bewahrte er für sein ganzes Leben. Unter <strong>de</strong>m Einfluß <strong>de</strong>s Heiligen Geistes schrieb er an die<br />

Gemein<strong>de</strong>n: „<strong>Die</strong> Ältesten unter euch ermahne ich, <strong>de</strong>r Mitälteste und Zeuge <strong>de</strong>r Lei<strong>de</strong>n <strong>Christi</strong>,<br />

<strong>de</strong>r ich auch teilhabe an <strong>de</strong>r Herrlichkeit, die offenbart wer<strong>de</strong>n soll: Wei<strong>de</strong>t die Her<strong>de</strong> Gottes,<br />

die euch befohlen ist, nach Gottes Willen, nicht gezwungen, son<strong>de</strong>rn willig nicht um<br />

schändlichen Gewinnes willen, son<strong>de</strong>rn von Herzensgrun<strong>de</strong>; nicht als die über die Gemein<strong>de</strong>n<br />

herrschen, son<strong>de</strong>rn wer<strong>de</strong>t Vorbil<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Her<strong>de</strong>. So wer<strong>de</strong>t ihr, wenn erscheinen wird er<br />

Erzhirte, die unverwelkliche Krone <strong>de</strong>r Ehren empfangen.“ 1.Petrus 5,1-4.<br />

561


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Kurz vor seiner Himmelfahrt versicherte Jesus <strong>de</strong>n Jüngern: „Mir ist gegeben alle Gewalt im<br />

Himmel und auf Er<strong>de</strong>n.“ Daran schloß sich <strong>de</strong>r Auftrag an: „Darum gehet hin und machet zu<br />

Jüngern alle Völker.“ Matthäus 28,18.19. „Gehet hin in alle Welt und prediget das Evangelium<br />

aller Kreatur.“ Markus 16,15. Wie<strong>de</strong>r und wie<strong>de</strong>r wur<strong>de</strong>n diese Worte wie<strong>de</strong>rholt, damit die<br />

Jünger <strong>de</strong>ren Be<strong>de</strong>utung begriffen. Auf alle Bewohner <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>, ob groß o<strong>de</strong>r klein, reich o<strong>de</strong>r<br />

arm, sollte das Licht <strong>de</strong>s Himmels kraftvoll und hell hernie<strong>de</strong>rscheinen. <strong>Die</strong> Jünger sollten mit<br />

ihrem Erlöser zur Errettung <strong>de</strong>r Welt zusammenarbeiten.<br />

Der Auftrag war <strong>de</strong>n Zwölfen schon gegeben wor<strong>de</strong>n, als Jesus ihnen im Obergemach<br />

begegnete; doch nun sollte er einer größeren Anzahl mitgeteilt wer<strong>de</strong>n. Alle Gläubigen, die<br />

zusammengerufen wer<strong>de</strong>n konnten, waren zu dieser Versammlung auf einem Berg in Galiläa<br />

vereint. Christus selber hatte vor seinem To<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Zeitpunkt und <strong>de</strong>n Ort <strong>de</strong>r Zusammenkunft<br />

bestimmt. Der Engel am Grab hatte die Jünger an Jesu Versprechen, sie in Galiläa treffen zu<br />

wollen, erinnert. <strong>Die</strong>se Verheißung wur<strong>de</strong> gegenüber <strong>de</strong>n Gläubigen wie<strong>de</strong>rholt, die sich<br />

während <strong>de</strong>r Passahwoche in Jerusalem trafen und die sie vielen Einsamen übermittelten, die<br />

<strong>de</strong>n Tod ihres Herrn beklagten. Mit brennen<strong>de</strong>r Erwartung blickten sie <strong>de</strong>r Begegnung<br />

entgegen. Auf Umwegen gelangten sie an <strong>de</strong>n Versammlungsort. Sie kamen aus allen<br />

Richtungen, um bei <strong>de</strong>n argwöhnischen Ju<strong>de</strong>n ja keinen Verdacht zu erregen. Staunen<strong>de</strong>n<br />

Herzens kamen sie herbei und besprachen tief ergriffen, was sie über Christus erfahren hatten.<br />

Zur festgesetzten Zeit hatten sich etwa 500 Gläubige in kleinen Gruppen am Bergeshang<br />

eingefun<strong>de</strong>n, die sämtlich danach verlangten, soviel wie irgend möglich von <strong>de</strong>nen zu erfahren,<br />

die Christus seit seiner Auferstehung gesehen hatten. <strong>Die</strong> Jünger gingen von Gruppe zu Gruppe,<br />

berichteten über alles, was sie von Jesus gesehen und gehört hatten, und legten die Schrift aus,<br />

so wie es Jesus bei ihnen getan hatte. Thomas sprach von seinem Unglauben und erzählte, wie<br />

seine Zweifel hinweggefegt wor<strong>de</strong>n waren. Plötzlich stand Jesus mitten unter ihnen. Niemand<br />

konnte sagen, woher o<strong>de</strong>r wie er zu ihnen gekommen war. Viele <strong>de</strong>r Anwesen<strong>de</strong>n hatten ihn nie<br />

zuvor gesehen; aber an seinen Hän<strong>de</strong>n und Füßen sahen sie die Nägelmale <strong>de</strong>r Kreuzigung. Sein<br />

Angesicht erschien wie das Antlitz Gottes, und als sie ihn erblickten, beteten sie ihn an.<br />

Einige aber zweifelten. So wird es immer sein. Es sind jene, <strong>de</strong>nen es schwerfällt, Glauben<br />

zu üben; <strong>de</strong>shalb begeben sie sich auf die Seite <strong>de</strong>r Zweifeln<strong>de</strong>n. Sie verlieren viel wegen ihres<br />

Unglaubens. Das war die einzige Begegnung, die Jesus mit zahlreichen Gläubigen nach seiner<br />

Auferstehung hatte. Er trat zu ihnen und sagte: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf<br />

Er<strong>de</strong>n.“ Matthäus 28,18. <strong>Die</strong> Jünger hatten ihn schon angebetet, bevor er zu ihnen sprach, doch<br />

diese Worte kamen aus einem Mun<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r im To<strong>de</strong> verschlossen gewesen war, und das berührte<br />

die Anwesen<strong>de</strong>n mit beson<strong>de</strong>rer Kraft. Er war in <strong>de</strong>r Tat <strong>de</strong>r auferstan<strong>de</strong>ne Heiland. Viele von<br />

ihnen hatten beobachtet, wie er seine Macht anwandte, um Kranke zu heilen und satanische<br />

Gewalten unter seine Herrschaft zu bringen. Sie glaubten, daß es in seiner Macht läge, sein<br />

Reich in Jerusalem zu errichten, allen Wi<strong>de</strong>rstand zu brechen und die Kräfte <strong>de</strong>r Natur zu<br />

beherrschen. Er hatte das zornige Meer beruhigt, war auf weißschäumen<strong>de</strong>n Wellen gegangen,<br />

562


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

hatte Tote zum Leben erweckt. Nun erklärte er, daß ihm „alle Gewalt“ gegeben sei. Seine<br />

Worte trugen die Gedanken <strong>de</strong>r Zuhörer über irdische und zeitliche Belange hinaus bis zu<br />

himmlischen und ewigen Dingen. Sie erhielten eine außeror<strong>de</strong>ntliche Vorstellung von seiner<br />

Wür<strong>de</strong> und seiner Herrlichkeit.<br />

<strong>Christi</strong> Worte am Bergeshang gaben zu erkennen, daß sein für <strong>de</strong>n Menschen gebrachtes<br />

Opfer vollständig und abgeschlossen war. <strong>Die</strong> Bedingungen zur Versöhnung waren erfüllt<br />

wor<strong>de</strong>n; die Aufgabe, <strong>de</strong>rentwillen er in diese Welt gekommen war, hatte er vollen<strong>de</strong>t. Nun war<br />

er auf <strong>de</strong>m Wege zum Throne Gottes, um von Engeln, Fürstentümern und Gewalten geehrt zu<br />

wer<strong>de</strong>n. Er hatte sein Mittleramt angetreten. Ausgestattet mit unbeschränkter Autorität, erteilte<br />

er <strong>de</strong>n Jüngern seinen Auftrag: „Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: taufet sie<br />

auf <strong>de</strong>n Namen <strong>de</strong>s Vaters und <strong>de</strong>s Sohnes und <strong>de</strong>s heiligen Geistes und lehret sie halten alles,<br />

was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an <strong>de</strong>r Welt<br />

En<strong>de</strong>.“ Matthäus 28,19.20.<br />

<strong>Die</strong> Ju<strong>de</strong>n waren zu Hütern <strong>de</strong>r heiligen Wahrheit bestimmt wor<strong>de</strong>n, aber <strong>de</strong>r Pharisäismus<br />

hatte sie zu <strong>de</strong>n sich am erhabensten dünken<strong>de</strong>n und scheinheiligsten Menschen dieser Welt<br />

wer<strong>de</strong>n lassen. Alles was mit <strong>de</strong>n Priestern und Obersten in Zusammenhang stand — ihre<br />

Kleidung und ihre Gebräuche, ihre Zeremonien und ihre Überlieferungen —, machte sie<br />

untauglich, das Licht <strong>de</strong>r Welt zu sehen. Sie selbst, die jüdische Nation, das war für sie die<br />

Welt. Christus jedoch beauftragte seine Jünger, einen Glauben und eine Anbetung zu<br />

verkündigen, die nichts zu tun hatten mit <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Stellung o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />

Volkszugehörigkeit, einen Glauben, <strong>de</strong>r von allen Völkern, Nationalitäten und<br />

Menschenklassen angenommen wer<strong>de</strong>n könnte.<br />

Bevor Christus seine Jünger verließ, machte er ihnen <strong>de</strong>n Charakter seines Reiches <strong>de</strong>utlich.<br />

Er erinnerte sie daran, was er ihnen früher darüber mitgeteilt hatte. Er erklärte, daß es nicht<br />

seine Absicht gewesen sei, ein zeitliches, son<strong>de</strong>rn vielmehr ein geistliches Reich auf dieser Er<strong>de</strong><br />

zu grün<strong>de</strong>n. Auch wolle er nicht als irdischer König auf Davids Thron herrschen. Erneut zeigte<br />

er ihnen aus <strong>de</strong>r Schrift, daß alles, was er erlitten hatte, schon im Himmel in gemeinsamer<br />

Zwiesprache zwischen ihm und <strong>de</strong>m Vater festgelegt wor<strong>de</strong>n war. Und alles sei von Menschen<br />

vorausgesagt wor<strong>de</strong>n, die vom Heiligen Geist erfaßt waren. Ihr seht, sagte er ihnen, daß alles<br />

eingetroffen ist, was ich euch über meine Verwerfung als Messias offenbart habe. Ebenso ist<br />

alles in Erfüllung gegangen, was ich euch hinsichtlich meiner Demütigung, die ich ertragen,<br />

und meines To<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>n ich erlei<strong>de</strong>n sollte, erklärt habe. Am dritten Tage auferstand ich dann.<br />

Forscht noch sorgfältiger in <strong>de</strong>n Schriften, und ihr wer<strong>de</strong>t erkennen, daß sich in allen diesen<br />

Dingen die von mir zeugen<strong>de</strong>n Aussagen <strong>de</strong>s prophetischen Wortes erfüllt haben.<br />

Christus gebot seinen Jüngern, die Aufgabe durchzuführen, die er ihnen überlassen hatte,<br />

und sie sollten in Jerusalem damit beginnen. Jerusalem war <strong>de</strong>r Schauplatz gewesen, wo er sich<br />

um <strong>de</strong>r Menschen willen am tiefsten zu ihnen herabgelassen hatte. Dort hatte er gelitten, dort<br />

war er verworfen und verurteilt wor<strong>de</strong>n. Judäa war sein Geburtsland. Dort war er, in<br />

menschlicher Gestalt, mit Menschen zusammengewesen, und nur wenige hatten erkannt, wie<br />

nahe <strong>de</strong>r Himmel <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> gekommen war, als Jesus unter ihnen weilte. In Jerusalem mußte die<br />

563


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Arbeit <strong>de</strong>r Apostel beginnen. Im Hinblick auf all das, was Christus dort gelitten hatte, und<br />

angesichts <strong>de</strong>r Vergeblichkeit seines Wirkens hätten die Jünger wohl ein mehr versprechen<strong>de</strong>s<br />

Arbeitsfeld erbitten können; doch sie sprachen kein <strong>de</strong>rartiges Verlangen aus. Gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />

Bo<strong>de</strong>n, auf <strong>de</strong>m Jesus bereits <strong>de</strong>n Samen <strong>de</strong>r göttlichen Wahrheit ausgestreut hatte, sollte von<br />

<strong>de</strong>n Jüngern bearbeitet wer<strong>de</strong>n; die Saat wür<strong>de</strong> aufgehen und eine reiche Ernte hervorbringen.<br />

Bei ihrem <strong>Die</strong>nst wür<strong>de</strong>n sie durch die Eifersucht und <strong>de</strong>n Haß <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n Verfolgung erlei<strong>de</strong>n<br />

müssen; doch Verfolgung hatte auch ihr Meister ertragen, und <strong>de</strong>shalb wollten sie nicht davor<br />

zurückschrecken. Das erste Gna<strong>de</strong>nangebot sollte <strong>de</strong>n Mör<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s gelten.<br />

Es gab in Jerusalem viele, die im geheimen an Jesus geglaubt hatten, und es gab nicht<br />

wenige, die durch die Priester und Obersten betrogen wor<strong>de</strong>n waren. Auch sie sollten mit <strong>de</strong>m<br />

Evangelium bekannt und zur Sinnesän<strong>de</strong>rung aufgerufen wer<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> herrliche Wahrheit, daß<br />

durch Christus allein Vergebung <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>n erlangt wer<strong>de</strong>n könne, sollte offen dargelegt<br />

wer<strong>de</strong>n. Während ganz Jerusalem noch durch die aufregen<strong>de</strong>n Ereignisse <strong>de</strong>r vergangenen<br />

Wochen innerlich bewegt war, wür<strong>de</strong> die Predigt <strong>de</strong>s Evangeliums <strong>de</strong>n tiefsten Eindruck<br />

hinterlassen.<br />

Aber das Werk durfte hier nicht aufhören. Es sollte bis in die entlegensten Gebiete <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong><br />

getragen wer<strong>de</strong>n. Jesus sprach zu seinen Jüngern: Ihr seid Zeugen dafür, daß ich ein Leben <strong>de</strong>r<br />

Selbstaufopferung für diese Welt geführt habe. Auch habt ihr meine Bemühungen um Israel<br />

gesehen. Obgleich sie nicht zu mir kommen wollten, um das Leben zu empfangen; obgleich die<br />

Priester und Obersten an mir han<strong>de</strong>lten, wie es sie gelüstete; obgleich sie mich verworfen<br />

haben, wie es die Schriften vorhersagten — sie sollen noch eine weitere Gelegenheit haben, <strong>de</strong>n<br />

Sohn Gottes anzunehmen. Ihr habt gesehen, daß ich alle bereitwillig annehme, die zu mir<br />

kommen und ihre Sün<strong>de</strong>n bekennen. Wer zu mir kommt, <strong>de</strong>n wer<strong>de</strong> ich auf keinen Fall<br />

hinausstoßen. Alle, die danach verlangt, können mit Gott versöhnt wer<strong>de</strong>n und das ewige Leben<br />

empfangen. Euch, meinen Nachfolgern, übertrage ich diese Gna<strong>de</strong>nbotschaft. Sie soll zuerst<br />

Israel verkündigt wer<strong>de</strong>n, danach allen an<strong>de</strong>ren Nationen, Sprachen und Völkern. Ju<strong>de</strong>n und<br />

Hei<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n sie empfangen, und alle, die daran glauben, sollen in einer Gemein<strong>de</strong> gesammelt<br />

wer<strong>de</strong>n.<br />

Durch die Gabe <strong>de</strong>s Heiligen Geistes sollten die Jünger mit übernatürlicher Kraft ausgerüstet<br />

und ihr Zeugnis durch Zeichen und Wun<strong>de</strong>r bekräftigt wer<strong>de</strong>n. Wun<strong>de</strong>r wür<strong>de</strong>n nicht nur von<br />

<strong>de</strong>n Aposteln vollbracht, son<strong>de</strong>rn auch von <strong>de</strong>nen, die ihre Botschaft annähmen. Jesus verhieß:<br />

„In meinem Namen wer<strong>de</strong>n sie böse Geister austreiben, in neuen Zungen re<strong>de</strong>n, Schlangen<br />

vertreiben, und wenn sie etwas Tödliches trinken, wird‘s ihnen nicht scha<strong>de</strong>n; auf Kranke<br />

wer<strong>de</strong>n sie die Hän<strong>de</strong> legen, so wird‘s besser mit ihnen wer<strong>de</strong>n.“ Markus 16,17.18. Damals<br />

kamen häufig Giftmor<strong>de</strong> vor. Gewissenlose Menschen zögerten nicht, durch <strong>de</strong>rartige Mittel<br />

jene zu beseitigen, die ihrem Ehrgeiz im Wege stan<strong>de</strong>n. Jesus wußte, daß dadurch auch das<br />

Leben seiner Jünger gefähr<strong>de</strong>t war. Viele wür<strong>de</strong>n glauben, Gott einen <strong>Die</strong>nst zu erweisen, wenn<br />

sie seine Zeugen umbrächten. Deshalb versprach er ihnen Schutz vor dieser Gefahr.<br />

<strong>Die</strong> Jünger sollten die gleiche Kraft haben, die Jesus besaß, um „alle Krankheit und alle<br />

Gebrechen im Volk“ (Matthäus 4,23) zu heilen. In<strong>de</strong>m sie in seinem Namen die Krankheiten<br />

564


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

<strong>de</strong>s Körpers heilten, wür<strong>de</strong>n sie Jesu Macht zum Heilen <strong>de</strong>r Seele bezeugen. Eine neue Gabe<br />

wur<strong>de</strong> ihnen nun versprochen. Da die Jünger auch in an<strong>de</strong>ren Län<strong>de</strong>rn predigen sollten, wür<strong>de</strong>n<br />

sie die Macht erhalten, auch in an<strong>de</strong>ren Sprachen zu re<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> Apostel und ihre Begleiter<br />

waren ungelehrte Männer, doch durch die Ausgießung <strong>de</strong>s Geistes zu Pfingsten wur<strong>de</strong> ihre<br />

Re<strong>de</strong> — sowohl die Wortwahl als auch die Aussprache und ganz gleich, ob in ihrer<br />

Muttersprache o<strong>de</strong>r in einer an<strong>de</strong>ren — klar, einfach und fehlerfrei. So erteilte Jesus <strong>de</strong>n<br />

Jüngern ihren Auftrag. Er hatte alle Vorkehrungen für die Durchführung <strong>de</strong>s Werkes getroffen<br />

und übernahm selbst die Verantwortung für <strong>de</strong>ssen Erfolg. Solange sie seinem Wort gehorchten<br />

und in Verbindung mit ihm arbeiteten, wür<strong>de</strong>n sie nicht versagen können. Geht zu allen<br />

Völkern, gebot er ihnen. Geht bis zu <strong>de</strong>n entferntesten Teilen <strong>de</strong>r bewohnten Welt und wißt, daß<br />

ich auch dort sein wer<strong>de</strong>! Wirkt im Glauben und voller Vertrauen, <strong>de</strong>nn es wird nie geschehen,<br />

daß ich euch verlasse.<br />

Jesu Auftrag an seine Jünger schloß alle Gläubigen ein. Bis zum En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Zeiten sind alle,<br />

die an Christus glauben, davon betroffen. Es ist ein verhängnisvoller Irrtum anzunehmen, die<br />

Aufgabe <strong>de</strong>r Seelenrettung beziehe sich allein auf <strong>de</strong>n ordinierten Geistlichen. Vielmehr ist<br />

allen, <strong>de</strong>nen die himmlische Erkenntnis zuteil gewor<strong>de</strong>n ist, die Frohbotschaft anvertraut. Wer<br />

durch Christus neues Leben empfangen hat, ist dazu ausersehen, an <strong>de</strong>r Errettung seiner<br />

Mitmenschen mitzuwirken. Zu diesem Zweck wur<strong>de</strong> die Gemein<strong>de</strong> gegrün<strong>de</strong>t, und alle, die<br />

gelobt haben, zur Gemeinschaft <strong>de</strong>r Gläubigen gehören zu wollen, sind damit als Mitarbeiter<br />

<strong>Christi</strong> verpflichtet.<br />

„Der Geist und die Braut sprechen: Komm! Und wer es hört, <strong>de</strong>r spreche:<br />

Komm!“ Offenbarung 22,17. Je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r Ohren hat zu hören, sollte die Einladung wie<strong>de</strong>rholen.<br />

Ungeachtet seiner beruflichen Pflichten sollte es sein erstes Anliegen sein, Menschen für<br />

Christus zu gewinnen. Er mag nicht in <strong>de</strong>r Lage sein, vor großen Versammlungen zu sprechen,<br />

doch kann er gut für einzelne Seelen arbeiten. Ihnen kann er die Belehrung weitergeben, die er<br />

von Gott erhalten hat. Der <strong>Die</strong>nst für <strong>de</strong>n Herrn besteht nicht nur im Predigen. Es dienen auch<br />

solche, die die Kranken und Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n trösten, die <strong>de</strong>n in Not Geratenen helfen und die <strong>de</strong>n<br />

Verzagten und Schwachen im Glauben Trost und Stärkung zusprechen. Überall gibt es Seelen,<br />

die durch das Bewußtsein ihrer Schuld nie<strong>de</strong>rgedrückt sind. Nicht Bedrängnis, schwere Arbeit<br />

o<strong>de</strong>r Armut entwürdigen die Menschheit, son<strong>de</strong>rn Schuld und sündiges Tun. Das hat Unruhe<br />

und Unzufrie<strong>de</strong>nheit zur Folge. Christus erwartet von seinen <strong>Die</strong>nern, daß sie sün<strong>de</strong>nkranken<br />

Seelen helfen.<br />

<strong>Die</strong> Jünger sollten ihre Aufgabe dort beginnen, wo sie sich befan<strong>de</strong>n. Das schwierigste und<br />

am wenigsten versprechen<strong>de</strong> Feld durfte nicht übergangen wer<strong>de</strong>n. So soll je<strong>de</strong>r Mitarbeiter<br />

<strong>Christi</strong> dort beginnen, wo er sich aufhält. In unserer eigenen Familie mögen Seelen nach<br />

Mitgefühl verlangen, gar nach <strong>de</strong>m Brot <strong>de</strong>s Lebens hungern. Kin<strong>de</strong>r mögen für Christus zu<br />

erziehen sein. Schon in unserer nächsten Umgebung fin<strong>de</strong>n wir Ungläubige. Deshalb wollen wir<br />

gewissenhaft die uns am nächsten liegen<strong>de</strong> Aufgabe erfüllen. Dann erst wollen wir unsere<br />

Bemühungen so weit aus<strong>de</strong>hnen, wie Gottes Hand uns leiten wird. Das Wirken vieler Menschen<br />

mag durch bestimmte Umstän<strong>de</strong> räumlich begrenzt erscheinen; doch wo immer es auch<br />

565


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

geschieht, erfolgt es im Glauben und mit ganzem Einsatz, so wird es bis an die äußersten En<strong>de</strong>n<br />

<strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> zu spüren sein. Als Christus auf dieser Er<strong>de</strong> weilte, schien sein Aufgabenbereich nur<br />

auf ein kleines Feld beschränkt, und doch vernahmen zahllose Menschen aus allen damals<br />

bekannten Län<strong>de</strong>rn seine Botschaft. Gott gebraucht oft die einfachsten Mittel, um die größten<br />

Ergebnisse zu erzielen. Es liegt in seiner Absicht, daß je<strong>de</strong>r Teil seines Werkes sich harmonisch<br />

auf <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn stützen soll, so wie ein Rädchen in das an<strong>de</strong>re greift. Der geringste Arbeiter<br />

wird, vom Heiligen Geist erfaßt, gleichsam unsichtbare Saiten berühren, <strong>de</strong>ren Schwingungen<br />

sich bis an die En<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> fortsetzen und durch alle Zeitalter hindurch erklingen wer<strong>de</strong>n.<br />

Der Befehl: „Gehet hin in alle Welt!“ darf nie aus <strong>de</strong>n Augen verloren wer<strong>de</strong>n. Wir sind<br />

aufgerufen, unsere Blicke auf entfernte Gebiete zu richten. Christus reißt die Schei<strong>de</strong>wand, das<br />

trennen<strong>de</strong> Vorurteil <strong>de</strong>r Volkszugehörigkeit, hinweg und lehrt die Liebe zu allen Angehörigen<br />

<strong>de</strong>r menschlichen Familie. Er hebt die Menschen über <strong>de</strong>n engen Kreis hinaus, <strong>de</strong>n die<br />

Selbstsucht ihnen vorschreibt; er hebt alle nationalen Grenzen und alle künstlich errichteten<br />

gesellschaftlichen Unterschie<strong>de</strong> auf. Christus macht keinen Unterschied zwischen Nachbar und<br />

Fremdling, Freund und Feind. Er lehrt uns, je<strong>de</strong> bedürftige Seele als unseren Bru<strong>de</strong>r und die<br />

Welt als unser Arbeitsgebiet zu betrachten.<br />

Als Jesus gebot: „Gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker“ (Matthäus 28,18.19), da<br />

sagte er auch: „<strong>Die</strong> Zeichen aber, die da folgen wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>nen, die da glauben, sind die: in<br />

meinem Namen wer<strong>de</strong>n sie böse Geister austreiben, in neuen Zungen re<strong>de</strong>n, Schlangen<br />

vertreiben, und wenn sie etwas Tödliches trinken, wird‘s ihnen nicht scha<strong>de</strong>n; auf Kranke<br />

wer<strong>de</strong>n sie die Hän<strong>de</strong> legen, so wird‘s besser mit ihnen wer<strong>de</strong>n.“ Markus 16,17.18. <strong>Die</strong>se<br />

Verheißung ist so weitreichend wie <strong>de</strong>r Auftrag. Natürlich wer<strong>de</strong>n nicht je<strong>de</strong>m Gläubigen alle<br />

Gaben zuteil; <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Geist „teilt einem jeglichen das Seine zu, wie er will“. 1.Korinther<br />

12,11. Doch sind die Gaben <strong>de</strong>s Geistes je<strong>de</strong>m Gläubigen in <strong>de</strong>m Maße verheißen, wie er sie im<br />

<strong>Die</strong>nste für das Werk Gottes benötigt. <strong>Die</strong>se Verheißung ist heute noch genauso wirksam und<br />

vertrauenswürdig wie in <strong>de</strong>n Tagen <strong>de</strong>r Apostel. <strong>Die</strong> Zeichen wer<strong>de</strong>n sich an <strong>de</strong>nen erweisen,<br />

„die da glauben“. Darin besteht <strong>de</strong>r Vorzug <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r Gottes, und im Vertrauen sollten sie an<br />

all <strong>de</strong>m festhalten, damit es als Bekräftigung <strong>de</strong>s Glaubens dienen kann.<br />

„Auf Kranke wer<strong>de</strong>n sie die Hän<strong>de</strong> legen, so wird‘s besser mit ihnen wer<strong>de</strong>n.“ <strong>Die</strong>se Welt ist<br />

ein großes Krankenhaus; doch Christus erschien, um die Kranken zu heilen und <strong>de</strong>n<br />

Gefangenen Satans die Befreiung zu verkün<strong>de</strong>n. Er verkörperte selbst Gesundheit und Stärke.<br />

So gab er von seiner Lebenskraft <strong>de</strong>n Kranken, <strong>de</strong>n Betrübten und <strong>de</strong>n Besessenen. Keinen wies<br />

er ab, <strong>de</strong>r kam, um seine heilen<strong>de</strong> Kraft zu empfangen. Wohl wußte er, daß jene, die ihn um<br />

Hilfe baten, durch eigenes Verschul<strong>de</strong>n krank gewor<strong>de</strong>n waren; <strong>de</strong>nnoch weigerte er sich nicht,<br />

sie zu heilen. Und wenn die in Christus wirken<strong>de</strong> Kraft in diese armen Menschen eindrang,<br />

wur<strong>de</strong>n sie von ihrer Sündhaftigkeit überzeugt, und viele erfuhren Heilung von ihrer geistlichen<br />

und leiblichen Krankheit zugleich. Das Evangelium besitzt heute noch die gleiche Kraft.<br />

Warum sollten wir dann heute nicht auch die gleichen Ergebnisse erwarten?<br />

Christus spürt <strong>de</strong>n Schmerz eines je<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r lei<strong>de</strong>t. Wenn böse Geister <strong>de</strong>n menschlichen<br />

Leib peinigen, dann fühlt Jesus <strong>de</strong>n Fluch; wenn Fieber die Lebenskraft aufzehrt, empfin<strong>de</strong>t er<br />

566


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

die Qual. Er ist heute genauso gern bereit, die Kranken zu heilen, wie damals, als er persönlich<br />

auf Er<strong>de</strong>n weilte. <strong>Christi</strong> <strong>Die</strong>ner sind seine Bevollmächtigten, die Vermittler seines Wirkens.<br />

Durch sie möchte er seine heilen<strong>de</strong> Kraft ausüben. In <strong>de</strong>r Heilweise <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s offenbarten<br />

sich <strong>de</strong>n Jüngern viele Lehren. Bei einer Gelegenheit bestrich er die Augen eines Blin<strong>de</strong>n mit<br />

Lehm und gebot ihm: „Gehe hin zu <strong>de</strong>m Teich Siloah ... und wasche dich! Da ging er hin und<br />

wusch sich und kam sehend.“ Johannes 9,7. <strong>Die</strong> Heilung konnte nur durch die Kraft <strong>de</strong>s großen<br />

Arztes vollbracht wer<strong>de</strong>n, und doch benutzte Christus die einfachen Mittel <strong>de</strong>r Natur. Während<br />

er die ärztliche Behandlung durch Medikamente nicht unterstützte, hieß er <strong>de</strong>n Gebrauch<br />

einfacher und natürlicher Heilmittel gut. Zu manchem ehemals Verzweifelten, <strong>de</strong>r geheilt<br />

wor<strong>de</strong>n war, sagte Jesus: „Sündige hinfort nicht mehr, daß dir nicht etwas Ärgeres<br />

wi<strong>de</strong>rfahre.“ Johannes 5,14. Auf diese Weise lehrte er, daß Krankheit die Folge <strong>de</strong>r<br />

Übertretung <strong>de</strong>s göttlichen Gesetzes ist, und zwar sowohl <strong>de</strong>s für die Natur als auch <strong>de</strong>s für das<br />

geistliche Leben gelten<strong>de</strong>n Gesetzes. Das große Elend in <strong>de</strong>r Welt bestün<strong>de</strong> nicht, wenn die<br />

Menschen nur in Übereinstimmung mit <strong>de</strong>n Bestimmungen <strong>de</strong>s Schöpfers lebten.<br />

Christus war <strong>de</strong>r Führer und Lehrer <strong>de</strong>s alten Israel gewesen und hatte das Volk unterwiesen,<br />

daß Gesundheit die Belohnung für <strong>de</strong>n Gehorsam gegen Gottes Gesetz ist. Der große Arzt, <strong>de</strong>r<br />

die Kranken in Palästina heilte, hatte einst aus <strong>de</strong>r Wolkensäule zu seinem Volk gesprochen und<br />

ihm erklärt, was es selbst tun müßte und was Gott vollbringen wür<strong>de</strong>. So sagte er: „Wirst du <strong>de</strong>r<br />

Stimme <strong>de</strong>s Herrn, <strong>de</strong>ines Gottes, gehorchen und tun, was recht ist vor ihm, und merken auf<br />

seine Gebote und halten alle seine Gesetze, so will ich dir keine <strong>de</strong>r Krankheiten auferlegen, die<br />

ich <strong>de</strong>n Ägyptern auferlegt habe; <strong>de</strong>nn ich bin <strong>de</strong>r Herr, <strong>de</strong>in Arzt.“ 2.Mose 15,26. Der Herr gab<br />

<strong>de</strong>n Israeliten bestimmte Anweisungen für ihre Lebensgewohnheiten und versicherte ihnen:<br />

„Der Herr wird von dir nehmen alle Krankheit.“ 5.Mose 7,15. Solange sie die Bedingungen<br />

erfüllten, bewahrheitete sich an ihnen die Verheißung: „Es war kein Gebrechlicher unter ihren<br />

Stämmen.“ Psalm 105,37.<br />

<strong>Die</strong>se Lehren sind uns gegeben. Wer seine Gesundheit bewahren will, muß bestimmte<br />

Bedingungen erfüllen; alle sollten diese Voraussetzungen kennenlernen. Keiner erweckt das<br />

Wohlgefallen Gottes, <strong>de</strong>r seinem Gesetz unwissend gegenübersteht. In <strong>de</strong>m Bemühen, die<br />

Gesundheit <strong>de</strong>s Leibes und <strong>de</strong>r Seele wie<strong>de</strong>rherzustellen, sollten wir mit Gott<br />

zusammenarbeiten. Wir sind dazu berufen, an<strong>de</strong>re zu lehren, wie sie ihre Gesundheit bewahren<br />

und wie<strong>de</strong>rgewinnen können. Bei <strong>de</strong>n Kranken sollten wir die Heilmittel anwen<strong>de</strong>n, die Gott in<br />

<strong>de</strong>r Natur bereitgestellt hat, und wir sollten auf <strong>de</strong>n hinweisen, <strong>de</strong>r allein Genesung schenken<br />

kann. Es obliegt uns, die Kranken und Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n auf <strong>de</strong>n Armen <strong>de</strong>s Glaubens zu Christus zu<br />

bringen und sie zu lehren, an <strong>de</strong>n großen Arzt zu glauben. Dazu müssen wir seinen<br />

Verheißungen vertrauen und um die Offenbarung seiner Macht beten. Der eigentliche Inhalt <strong>de</strong>s<br />

Evangeliums ist die Wie<strong>de</strong>rherstellung unserer leiblichen und seelischen Gesundheit. Gott<br />

erwartet von uns, daß wir die Kranken, die Hoffnungslosen und die Betrübten auffor<strong>de</strong>rn, seine<br />

Stärke in Anspruch zu nehmen.<br />

<strong>Die</strong> Macht <strong>de</strong>r Liebe bekun<strong>de</strong>te sich in je<strong>de</strong>r von Christus vollbrachten Heilung, und nur<br />

wenn wir durch <strong>de</strong>n Glauben an dieser Liebe teilhaben, können wir Werkzeuge seines <strong>Die</strong>nstes<br />

567


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

sein. Versäumen wir es, uns in göttlicher Verbindung mit Christus zusammenzuschließen, kann<br />

<strong>de</strong>r Strom lebenspen<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Kraft nicht in reichem Maße durch uns auf an<strong>de</strong>re überfließen. Es<br />

gab Orte, in <strong>de</strong>nen selbst <strong>de</strong>r Heiland nicht viele machtvolle Taten vollbringen konnte, da <strong>de</strong>ren<br />

Bewohner ungläubig waren. So trennt <strong>de</strong>r Unglaube auch heute die Gemein<strong>de</strong> von ihrem<br />

göttlichen Helfer. Ihr Vertrauen auf ewige Werte ist schwach. Durch einen solchen<br />

Glaubensmangel wird Gott enttäuscht und seiner Herrlichkeit beraubt. Wenn die Gemein<strong>de</strong> das<br />

Werk <strong>Christi</strong> ausführt, besitzt sie die Verheißung seiner Gegenwart. „Gehet hin und machet zu<br />

Jüngern alle Völker“, sagte Jesus. „Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an <strong>de</strong>r Welt<br />

En<strong>de</strong>.“ Matthäus 28,19.20. Um seine Kraft zu erlangen, ist es eine <strong>de</strong>r ersten Bedingungen, daß<br />

wir sein Joch auf uns nehmen. Tatsächlich hängt das Leben <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong> davon ab, mit<br />

welcher Hingabe sie <strong>de</strong>n Auftrag <strong>de</strong>s Herrn erfüllt. Wenn dieser Auftrag vernachlässigt wird, so<br />

sind mit Sicherheit geistlicher Nie<strong>de</strong>rgang und Verfall die Folge. Wo nicht tatkräftig für an<strong>de</strong>re<br />

gearbeitet wird, dort schwin<strong>de</strong>t die Liebe, und <strong>de</strong>r Glaube wird schwach.<br />

Christus erwartet von seinen <strong>Die</strong>nern, daß sie die Gemein<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Evangeliumsarbeit<br />

anleiten. Sie sollen die Glie<strong>de</strong>r unterweisen, wie sie die Verlorenen suchen und retten können.<br />

Aber sind sie auch mit dieser Aufgabe beschäftigt? Lei<strong>de</strong>r nicht! Wie viele setzen alles daran,<br />

<strong>de</strong>n Lebensfunken in einer Gemein<strong>de</strong> zu entfachen, die im Sterben liegt! Wie viele Gemein<strong>de</strong>n<br />

wer<strong>de</strong>n wie kranke Lämmer gehütet von <strong>de</strong>nen, die eigentlich die verlorenen Schafe suchen<br />

sollten! Und zur gleichen Zeit gehen Millionen und aber Millionen ohne Christus zugrun<strong>de</strong>.<br />

Gottes Liebe hat sich um <strong>de</strong>r Menschen willen über alles Verstehen hinaus offenbart, und die<br />

Engel sind verwun<strong>de</strong>rt, daß die Empfänger dieser Liebesbeweise nur eine oberflächliche<br />

Dankbarkeit erkennen lassen. Ebenso sind sie erstaunt, wie wenig die Liebe Gottes von <strong>de</strong>n<br />

Menschen gewürdigt wird. Der Himmel ist über die Vernachlässigung von Menschenseelen<br />

empört. Wollen wir etwa wissen, was Christus darüber empfin<strong>de</strong>t? Wie wür<strong>de</strong>n wohl ein Vater<br />

und eine Mutter empfin<strong>de</strong>n, wenn sie erführen, daß ihr in Kälte und Schnee verlorengegangenes<br />

Kind von <strong>de</strong>nen übersehen und <strong>de</strong>m Untergang preisgegeben wur<strong>de</strong>, die es hätten retten<br />

können? Wären sie nicht furchtbar traurig und zugleich äußert erregt? Wür<strong>de</strong>n sie nicht diese<br />

Mör<strong>de</strong>r mit einem Zorn anklagen, heiß wie ihre Tränen und stark wie ihre Liebe? Wenn<br />

irgen<strong>de</strong>in Mensch lei<strong>de</strong>t, dann lei<strong>de</strong>t damit ein Kind Gottes, und wer seinen zugrun<strong>de</strong> gehen<strong>de</strong>n<br />

Mitmenschen keine helfen<strong>de</strong> Hand bietet, <strong>de</strong>r for<strong>de</strong>rt Gottes und <strong>de</strong>s Lammes gerechten Zorn<br />

heraus. Allen <strong>de</strong>nen, die angeblich Gemeinschaft mit Christus haben und sich doch nicht um die<br />

Nöte ihrer Mitmenschen kümmern, wird er am Tage <strong>de</strong>s letzten großen Gerichtes erklären: „Ich<br />

weiß nicht, wo ihr her seid; weichet alle von mir, ihr Übeltäter!“ Lukas 13,27.<br />

In seinem Missionsauftrag zeigte Jesus seinen Jüngern nicht nur das Ausmaß, son<strong>de</strong>rn auch<br />

<strong>de</strong>n Inhalt ihrer Aufgabe: „Lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe.“ Matthäus<br />

28,19.20. <strong>Die</strong> Jünger sollten das lehren, worin Jesus sie unterwiesen hatte. Das umfaßte alles,<br />

was er nicht nur persönlich, son<strong>de</strong>rn auch durch die Propheten und Lehrer <strong>de</strong>s alten Bun<strong>de</strong>s<br />

verkündigt hatte. Der Menschen Lehren sind davon ausgenommen. In diesem Auftrag fin<strong>de</strong>n<br />

sich keine Überlieferungen, keine menschlichen Theorien und Beschlüsse o<strong>de</strong>r etwa<br />

Gemein<strong>de</strong>bestimmungen. Auch von kirchlichen Wür<strong>de</strong>nträgern beschlossene Gesetze haben<br />

568


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

keinen Platz darin. <strong>Christi</strong> <strong>Die</strong>ner sollen nichts davon verkündigen. Das „Gesetz und die<br />

Propheten“, dazu die Berichte über die Worte und Taten Jesu sind <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Jüngern anvertraute<br />

Schatz, <strong>de</strong>n sie <strong>de</strong>r Welt weitergeben sollen. <strong>Christi</strong> Name ist ihre Losung und das Zeichen ihrer<br />

Bestimmung; er ist das Band ihrer Einigkeit, die Autorität hinter ihren Handlungen und die<br />

Quelle ihres Erfolges. Was nicht seinen Namen trägt wird, in seinem Reich nicht anerkannt<br />

wer<strong>de</strong>n.<br />

Das Evangelium soll nicht als leblose Lehre, son<strong>de</strong>rn als eine lebendige Kraft dargestellt<br />

wer<strong>de</strong>n, die das Leben verän<strong>de</strong>rt. Gott wünscht, daß die Empfänger seiner Gna<strong>de</strong> zu Zeugen<br />

seiner Macht wer<strong>de</strong>n. Alle, <strong>de</strong>ren bisheriger Lebensweg <strong>de</strong>m Herrn ein Greuel war, nimmt er<br />

bereitwillig auf. Wenn sie ihre Sün<strong>de</strong>n bekennen, so schenkt er ihnen seinen göttlichen Geist,<br />

setzt sie in die höchsten Vertrauensstellungen ein und sen<strong>de</strong>t sie in das Lager <strong>de</strong>r Ungetreuen,<br />

damit sie seine grenzenlose Barmherzigkeit verkündigen. Nach Gottes Willen sollen seine<br />

<strong>Die</strong>ner bezeugen, daß wir als Menschen durch die göttliche Gna<strong>de</strong> einen christusähnlichen<br />

Charakter besitzen können und uns <strong>de</strong>r Gewißheit seiner großen Liebe erfreuen dürfen. Wir<br />

sind aufgerufen zu verkündigen, daß Gott erst dann zufrie<strong>de</strong>n ist, wenn alle Menschen bekehrt<br />

und erneut in ihre heiligen Befugnisse als Söhne und Töchter <strong>de</strong>s Herrn eingesetzt sind.<br />

In Christus sind die Fürsorge <strong>de</strong>s Hirten, die Zuneigung <strong>de</strong>r Eltern und die unvergleichliche<br />

Gna<strong>de</strong> <strong>de</strong>s barmherzigen Erlösers vereint. Seine Segnungen spen<strong>de</strong>t er in <strong>de</strong>r angenehmsten<br />

Form; und er begnügt sich nicht, uns diese Segnungen nur anzukündigen, nein, er stellt sie uns<br />

so begehrenswert dar, daß wir sie gern besitzen wollen. So sind seine <strong>Die</strong>ner angewiesen, die<br />

Herrlichkeit dieser unsagbar gna<strong>de</strong>nreichen Gabe zu verkündigen. <strong>Die</strong> wun<strong>de</strong>rbare Liebe<br />

<strong>Christi</strong> wird dort die Herzen auftauen und bezwingen, wo man mit ständiger Wie<strong>de</strong>rholung von<br />

Lehrpunkten nichts erreicht. „Tröstet, tröstet mein Volk! spricht euer Gott ... Zion, du<br />

Freu<strong>de</strong>nbotin, steig auf einen hohen Berg; Jerusalem, du Freu<strong>de</strong>nbotin, erhebe <strong>de</strong>ine Stimme<br />

mit Macht; erhebe sie und fürchte dich nicht! Sage <strong>de</strong>n Städten Judas: Siehe, da ist euer Gott,<br />

siehe, da ist Gott <strong>de</strong>r Herr! Er kommt gewaltig, und sein Arm wird herrschen. Siehe, was er<br />

gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her. Er wird seine Her<strong>de</strong> wei<strong>de</strong>n wie<br />

ein Hirte. Er wird die Lämmer in seinen Arm sammeln, und im Bausch seines Gewan<strong>de</strong>s tragen<br />

und die Mutterschafe führen.“ Jesaja 40,1.9-11. Erzählt <strong>de</strong>n Menschen von <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r<br />

„auserkoren unter vielen Tausen<strong>de</strong>n“ und an <strong>de</strong>m alles lieblich ist. Hohelied 5,10.16. Worte<br />

allein aber können diese Gedanken nicht ausdrücken; sie müssen sich im Wesen wi<strong>de</strong>rspiegeln<br />

und in <strong>de</strong>r Lebensführung zutage treten. Christus läßt sein Bild in je<strong>de</strong>m Nachfolger erstehen.<br />

Alle hat Gott dazu bestimmt, „daß sie gleich sein sollten <strong>de</strong>m Ebenbil<strong>de</strong> seines Sohnes“. Römer<br />

8,29. In je<strong>de</strong>m einzelnen soll sich <strong>de</strong>r Welt Gottes geduldige Liebe, seine Heiligkeit, Sanftmut,<br />

Barmherzigkeit und Wahrheit offenbaren.<br />

<strong>Die</strong> ersten Jünger gingen hinaus und predigten das Wort. Sie offenbarten Christus durch<br />

ihren Lebenswan<strong>de</strong>l, „und <strong>de</strong>r Herr wirkte mit ihnen und bekräftigte das Wort durch die<br />

mitfolgen<strong>de</strong>n Zeichen“. Markus 16,20. <strong>Die</strong>se Jünger bereiteten sich auf ihre Aufgabe vor. Noch<br />

vor <strong>de</strong>m Pfingstfest kamen sie zusammen und beseitigten alle Meinungsverschie<strong>de</strong>nheiten. Sie<br />

waren einmütig beieinan<strong>de</strong>r und vertrauten Jesu Versprechen, daß sie seinen Segen erhalten<br />

569


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

wür<strong>de</strong>n, und beteten im Glauben. Sie baten jedoch nicht allein für sich, spürten sie doch die<br />

Schwere <strong>de</strong>r Last, für die Errettung von Menschen zu wirken. Das Evangelium sollte bis an die<br />

äußersten En<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> getragen wer<strong>de</strong>n, und so verlangten sie danach, mit <strong>de</strong>r Kraft<br />

ausgerüstet zu wer<strong>de</strong>n, die Christus verheißen hatte. Da wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Heilige Geist ausgegossen,<br />

und Tausen<strong>de</strong> bekehrten sich an einem Tage.<br />

So kann es auch heute sein. Es braucht nur statt menschlicher Spekulationen das Wort Gottes<br />

gepredigt zu wer<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> Christen sollten ihre Zwistigkeiten beiseite schieben und sich Gott<br />

ergeben, um dadurch für die Rettung <strong>de</strong>r Verlorenen wirken zu können. Laßt sie im Glauben um<br />

<strong>de</strong>n Segen Gottes bitten, und er wird ihnen zuteil wer<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> Ausgießung <strong>de</strong>s Geistes in <strong>de</strong>n<br />

Tagen <strong>de</strong>r Apostel war <strong>de</strong>r „Frühregen“, und seine Wirkung war machtvoll. Doch <strong>de</strong>r<br />

„Spätregen“ (Joel 2,23) wird in noch reicherem Maße ausgegossen wer<strong>de</strong>n. Alle, die Leib,<br />

Seele und Geist <strong>de</strong>m Herrn weihen, erhalten ständig neue geistige und körperliche Kraft. <strong>Die</strong><br />

unerschöpflichen Reichtümer <strong>de</strong>s Himmels stehen ihnen zur Verfügung. Christus gibt ihnen <strong>de</strong>n<br />

O<strong>de</strong>m seines Geistes und Leben von seinem Leben. Mit äußerster Kraftentfaltung wirkt <strong>de</strong>r<br />

Heilige Geist an Herz und Sinn. <strong>Die</strong> Gna<strong>de</strong> Gottes vergrößert und vervielfältigt ihre<br />

Fähigkeiten, und die göttliche Vollkommenheit hilft ihnen bei <strong>de</strong>r Rettung von Seelen. In<strong>de</strong>m<br />

sie gemeinsam mit Christus wirken, haben sie auch Anteil an seiner Vollkommenheit. Trotz<br />

ihrer menschlichen Schwäche sind sie fähig, die Taten <strong>de</strong>s Allmächtigen zu vollbringen.<br />

Der Heiland wartet sehnlichst darauf, seine Gna<strong>de</strong> zu offenbaren und sein Wesen <strong>de</strong>r ganzen<br />

Welt einzuprägen. Sie ist sein erkauftes Eigentum, und er will die Menschen frei, rein und<br />

heilig machen. Wenn auch Satan bemüht ist, Jesu Absicht zu verhin<strong>de</strong>rn, so sind doch durch das<br />

für die Welt vergossene Blut Siege zu erringen, die Gott und <strong>de</strong>m Lamm zur Ehre gereichen<br />

wer<strong>de</strong>n. Christus wird nicht eher ruhen, bis <strong>de</strong>r Sieg vollkommen ist. „Weil seine Seele sich<br />

abgemüht hat, wird er das Licht schauen und die Fülle haben.“ Jesaja 53,11. Alle Völker <strong>de</strong>r<br />

Er<strong>de</strong> sollen die frohe Botschaft von seiner Gna<strong>de</strong> hören. Zwar wer<strong>de</strong>n nicht alle seine Gna<strong>de</strong><br />

empfangen, doch „er wird Nachkommen haben, die ihm dienen; vom Herrn wird man<br />

verkündigen Kind und Kin<strong>de</strong>skind“. Psalm 22,31. „Das Reich und die Macht und die Gewalt<br />

über die Königreiche unter <strong>de</strong>m ganzen Himmel wird <strong>de</strong>m Volk <strong>de</strong>r Heiligen <strong>de</strong>s Höchsten<br />

gegeben wer<strong>de</strong>n“ (Daniel 7,27), und „das Land wird voll Erkenntnis <strong>de</strong>s Herrn sein, wie Wasser<br />

das Meer be<strong>de</strong>ckt“. Jesaja 11,9. „Daß <strong>de</strong>r Name <strong>de</strong>s Herrn gefürchtet wer<strong>de</strong> bei <strong>de</strong>nen vom<br />

Nie<strong>de</strong>rgang <strong>de</strong>r Sonne und seine Herrlichkeit bei <strong>de</strong>nen von ihrem Aufgang.“ Jesaja 59,19.<br />

„Wie lieblich sind auf <strong>de</strong>n Bergen die Füße <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong>nboten, die da Frie<strong>de</strong>n verkündigen,<br />

Gutes predigen, Heil verkündigen, die da sagen zu Zion: Dein Gott ist König! ... Seid fröhlich<br />

und rühmt miteinan<strong>de</strong>r, ihr Trümmer Jerusalems; <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Herr hat sein Volk getröstet ... Der<br />

Herr hat offenbart seinen heiligen Arm vor <strong>de</strong>n Augen aller Völker, daß aller Welt En<strong>de</strong>n sehen<br />

das Heil unsres Gottes.“ Jesaja 52,7.9.10.<br />

570


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

571


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Für Jesus war die Stun<strong>de</strong> gekommen, zu seines Vaters Thron aufzusteigen. Als göttlicher<br />

Überwin<strong>de</strong>r wür<strong>de</strong> er mit <strong>de</strong>m Zeichen <strong>de</strong>s Sieges zu <strong>de</strong>n himmlischen Höfen zurückkehren.<br />

Vor seinem To<strong>de</strong> hatte er seinem Vater erklärt: „Ich habe ... vollen<strong>de</strong>t das Werk, das du mir<br />

gegeben hast, daß ich es tun sollte.“ Johannes 17,4. Nach seiner Auferstehung blieb er noch für<br />

kurze Zeit auf Er<strong>de</strong>n, damit seine Jünger ihn in seinem auferstan<strong>de</strong>nen und verklärten Leib<br />

kennenlernen konnten. Jetzt wollte er Abschied nehmen. Er hatte unumstößlich bewiesen, daß<br />

er ein lebendiger Heiland ist. Seine Nachfolger brauchten nun nicht länger an das Grab zu<br />

<strong>de</strong>nken, wenn sie an ihn dachten. Sie konnten ihren Meister als <strong>de</strong>n in Erinnerung behalten, <strong>de</strong>r<br />

vor himmlischen Welten verklärt wor<strong>de</strong>n war.<br />

Zum Schauplatz <strong>de</strong>r Himmelfahrt wählte Jesus jenen Ort, <strong>de</strong>r so oft durch seine Gegenwart<br />

geheiligt wor<strong>de</strong>n war, als er noch unter <strong>de</strong>n Menschen weilte. We<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Berg Zion, auf <strong>de</strong>m<br />

die Stadt Davids lag, noch <strong>de</strong>r Berg Morija, auf <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Tempel stand, sollten durch dieses<br />

Ereignis ausgezeichnet wer<strong>de</strong>n. Dort war Jesus gelästert und verworfen wor<strong>de</strong>n; dort waren die<br />

Wellen <strong>de</strong>r göttlichen Barmherzigkeit an Herzen abgeprallt, die so hart wie Stein waren; von<br />

dort war Jesus mü<strong>de</strong> und mit schwerem Herzen fortgegangen, um am Ölberg Ruhe zu fin<strong>de</strong>n.<br />

Als die Herrlichkeit Gottes vom ersten Tempel gewichen war, hatte sie auf <strong>de</strong>m östlichen Berge<br />

verweilt, als wollte sie die auserwählte Stadt nicht verlassen. Ebenso stand Christus auf <strong>de</strong>m<br />

Ölberg und schaute wehmütigen Herzens auf Jerusalem. <strong>Die</strong> Haine und Talmul<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s<br />

Ölberges waren durch seine Gebete und Tränen geheiligt wor<strong>de</strong>n. An <strong>de</strong>n steilen Hängen hatten<br />

sich die begeisterten Schreie <strong>de</strong>r Menge gebrochen, die ihn zum König ausrief. Auf<br />

<strong>de</strong>r abfallen<strong>de</strong>n Seite <strong>de</strong>s Berges war ihm bei Lazarus in Bethanien ein gastliches Heim<br />

gewor<strong>de</strong>n, und im Garten Gethsemane am Fuße <strong>de</strong>s Berges hatte er allein gebetet und gerungen.<br />

Und von diesem Berge wollte er nun gen Himmel fahren. Auf seinem Gipfel wird er auch<br />

verweilen, wenn er wie<strong>de</strong>r erscheinen wird. Nicht als ein Mann <strong>de</strong>r Schmerzen, son<strong>de</strong>rn als<br />

siegreicher und triumphieren<strong>de</strong>r König wird er dann auf <strong>de</strong>m Ölberg stehen, während die große<br />

Schar <strong>de</strong>r Erlösten ihren Lobgesang anhebt: Krönt ihn, <strong>de</strong>n Herrn aller Herren!<br />

Jetzt schritt Jesus mit <strong>de</strong>n elf Jüngern <strong>de</strong>m Berge zu. Als sie das Jerusalemer Tor passierten,<br />

schauten viele <strong>de</strong>r kleinen Gruppe nach, die von einem angeführt wur<strong>de</strong>, <strong>de</strong>n die Obersten erst<br />

vor einigen Wochen verurteilt und ans Kreuz geschlagen hatten. <strong>Die</strong> Jünger wußten nicht, daß<br />

dies ihr letztes Beisammensein mit <strong>de</strong>m Meister sein wür<strong>de</strong>. Jesus unterhielt sich die ganze Zeit<br />

über mit ihnen und wie<strong>de</strong>rholte dabei, was er ihnen früher schon mitgeteilt hatte. Als sie sich<br />

dann Gethsemane näherten, blieb Jesus stehen, damit sich die Jünger <strong>de</strong>r Lehren erinnern<br />

sollten, die er ihnen in <strong>de</strong>r Nacht seines großen Seelenkampfes gegeben hatte. Erneut<br />

betrachtete er <strong>de</strong>n Weinstock, <strong>de</strong>r ihm damals dazu gedient hatte, die Gemeinschaft <strong>de</strong>r<br />

Gläubigen mit ihm selbst und mit seinem Vater zu versinnbil<strong>de</strong>n, und er sprach abermals von<br />

<strong>de</strong>n Wahrheiten, die er seinerzeit enthüllt hatte. Alles um ihn herum barg Erinnerungen an seine<br />

unerwi<strong>de</strong>rt gebliebene Liebe. Selbst die Jünger, die ihm so nahestan<strong>de</strong>n, hatten ihm in <strong>de</strong>r<br />

Stun<strong>de</strong> seiner Erniedrigung Vorwürfe gemacht und ihn verlassen.<br />

572


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

Christus war dreiunddreißig Jahre lang auf dieser Er<strong>de</strong> gewesen. Während dieser Zeit hatte<br />

er Verachtung, Beschimpfung und Spott ertragen; er war verworfen und gekreuzigt wor<strong>de</strong>n.<br />

Nun, da er im Begriff ist, zum Thron seiner Herrlichkeit emporzusteigen — und er noch einmal<br />

die Undankbarkeit <strong>de</strong>rer über<strong>de</strong>nkt, die zu retten er gekommen war —, wird er ihnen da nicht<br />

seine Teilnahme und Liebe entziehen? Wird sich seine Zuneigung nicht dorthin wen<strong>de</strong>n, wo er<br />

recht gewürdigt wird und wo sündlose Engel auf seine Befehle warten? O nein; <strong>de</strong>nen, die er<br />

liebt und auf Er<strong>de</strong>n zurücklassen muß, hat er versprochen: „Ich bin bei euch alle Tage bis an <strong>de</strong>r<br />

Welt En<strong>de</strong>.“ Matthäus 28,20.<br />

Als sie <strong>de</strong>n Ölberg erreicht hatten, führte sie Jesus quer über <strong>de</strong>n Gipfel auf die nach<br />

Bethanien weisen<strong>de</strong> Seite. Hier verweilte er, und seine Jünger scharten sich um ihn. Von seinem<br />

Antlitz schienen Lichtstrahlen auszugehen, als er sie liebevoll anschaute. Er ta<strong>de</strong>lte sie nicht für<br />

ihre Fehler und ihr Versagen. <strong>Die</strong> letzten Worte, die aus seinem Mun<strong>de</strong> kamen und die Ohren<br />

seiner Zuhörer erreichten, waren von tiefer Innigkeit getragen. Mit segnend ausgebreiteten<br />

Hän<strong>de</strong>n, damit gleichsam die Gewißheit seiner schützen<strong>de</strong>n Gegenwart verbürgend, stieg er<br />

langsam aus ihrer Mitte auf — von einer Gewalt gen Himmel gezogen, die alle irdische<br />

Anziehungskraft übertraf. Als er sich himmelwärts entfernte, schauten ihm die Jünger, von<br />

Ehrfurcht ergriffen, gespannt nach, um noch einen letzten Blick ihres entschwin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Herrn<br />

zu erhaschen. Dann verbarg ihn eine herrliche Wolke vor ihren Augen. Und als <strong>de</strong>r aus Engeln<br />

bestehen<strong>de</strong> Wolkenwagen <strong>de</strong>n Herrn aufnahm, vernahmen sie erneut die Worte: „Und siehe, ich<br />

bin bei euch alle Tage bis an <strong>de</strong>r Welt En<strong>de</strong>.“ Matthäus 28,20. Zugleich hörten sie aus <strong>de</strong>r Höhe<br />

die lieblichen, von großer Freu<strong>de</strong> erfüllten Gesänge <strong>de</strong>s Engelchores.<br />

Während die Jünger immer noch nach oben starrten, wur<strong>de</strong>n sie von einer Stimme<br />

angesprochen, die ihnen wie klangvolle Musik ans Ohr drang. Sie wandten sich um und sahen<br />

zwei Engel in menschlicher Gestalt, die zu ihnen sagten: „Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr<br />

und sehet gen Himmel? <strong>Die</strong>ser Jesus, welcher von euch ist aufgenommen gen Himmel, wird so<br />

kommen, wie ihr ihn habt gen Himmel fahren sehen.“ Apostelgeschichte 1,11. <strong>Die</strong>se Engel<br />

gehörten zu <strong>de</strong>r Schar, die in einer leuchten<strong>de</strong>n Wolke auf <strong>de</strong>n Heiland gewartet hatte, um ihn<br />

in seine himmlische Heimat zu begleiten. Als beson<strong>de</strong>rs ausgezeichnete Engel hatten diese<br />

bei<strong>de</strong>n zur Zeit <strong>de</strong>r Auferstehung Jesu an seinem Grabe gestan<strong>de</strong>n; auch waren sie während<br />

seines Er<strong>de</strong>nlebens immer um ihn gewesen. Mit ungeduldigem Verlangen hatte <strong>de</strong>r ganze<br />

Himmel auf das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Aufenthaltes Jesu in einer durch <strong>de</strong>n Fluch <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> ver<strong>de</strong>rbten<br />

Welt gewartet. Endlich war für die himmlische Welt die Stun<strong>de</strong> gekommen, ihren König zu<br />

empfangen. Sehnten sich nicht auch die bei<strong>de</strong>n Engel danach, bei <strong>de</strong>r Schar zu sein, die Jesus<br />

begrüßte? Sie jedoch blieben in liebevoller Anteilnahme zurück, um <strong>de</strong>nen tröstend<br />

beizustehen, die er verlassen hatte. „Sind sie nicht allzumal dienstbare Geister, ausgesandt zum<br />

<strong>Die</strong>nst um <strong>de</strong>rer willen, die das Heil ererben sollen?“ Hebräer 1,14.<br />

Christus war in menschlicher Gestalt gen Himmel gefahren. <strong>Die</strong> Jünger hatten eine Wolke<br />

ihn aufnehmen sehen. Derselbe Jesus, <strong>de</strong>r neben ihnen geschritten war, <strong>de</strong>r mit ihnen gere<strong>de</strong>t<br />

und gebetet hatte, <strong>de</strong>r vor ihnen das Brot gebrochen hatte, <strong>de</strong>r mit ihnen zusammen in ihren<br />

Booten auf <strong>de</strong>m See gewesen war und noch am selben Tage mit ihnen mühsam <strong>de</strong>n Ölberg<br />

573


<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

erstiegen hatte — <strong>de</strong>rselbe Jesus war nun hinweggegangen, um <strong>de</strong>n himmlischen Thron mit<br />

seinem Vater zu teilen. Und die Engel hatten ihnen versichert, daß <strong>de</strong>rselbe Jesus, <strong>de</strong>n sie gen<br />

Himmel hatten fahren sehen, so wie<strong>de</strong>rkommen wür<strong>de</strong>, wie er aufgestiegen war. Er wird<br />

kommen „mit <strong>de</strong>n Wolken, und es wer<strong>de</strong>n ihn sehen alle Augen“. Offenbarung 1,7. „Denn er<br />

selbst, <strong>de</strong>r Herr, wird mit befehlen<strong>de</strong>m Wort, mit <strong>de</strong>r Stimme <strong>de</strong>s Erzengels und mit <strong>de</strong>r<br />

Posaune Gottes hernie<strong>de</strong>rkommen vom Himmel, und die Toten in Christus wer<strong>de</strong>n auferstehen<br />

zuerst.“ 1.Thessalonicher 4,16. „Wenn aber <strong>de</strong>s Menschen Sohn kommen wird in seiner<br />

Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf <strong>de</strong>m Thron seiner<br />

Herrlichkeit.“ Matthäus 25,31. Dann wird sich auch <strong>de</strong>s Herrn Verheißung erfüllen, die er<br />

seinen Jüngern gegeben hatte: „Wenn ich hingehe, euch die Stätte zu bereiten, so will ich<br />

wie<strong>de</strong>r kommen und euch zu mir nehmen, damit ihr seid, wo ich bin.“ Johannes 14,3. So<br />

durften die Jünger sich freuen in <strong>de</strong>r Hoffnung auf die Wie<strong>de</strong>rkunft ihres Herrn Jesus Christus.<br />

Als die Jünger nach Jerusalem zurückkehrten, wur<strong>de</strong>n sie von <strong>de</strong>n Leuten mit Verwun<strong>de</strong>rung<br />

betrachtet. Man hatte gedacht, sie nach <strong>de</strong>m Verhör und <strong>de</strong>r Kreuzigung <strong>Christi</strong><br />

nie<strong>de</strong>rgeschlagen und beschämt zu sehen. Ihre Fein<strong>de</strong> erwarteten, auf ihren Angesichtern Trauer<br />

und Enttäuschung zu erkennen. Statt <strong>de</strong>ssen strahlten sie nur Freu<strong>de</strong> und Siegesgewißheit aus.<br />

Auf ihren Gesichtern leuchtete eine gera<strong>de</strong>zu überirdische Glückseligkeit. Sie betrauerten keine<br />

enttäuschten Hoffnungen mehr, son<strong>de</strong>rn waren voll Lob und Dank gegen Gott. Mit großer<br />

Freu<strong>de</strong> berichteten sie das wun<strong>de</strong>rbare Geschehen von <strong>de</strong>r Auferstehung und Himmelfahrt<br />

<strong>Christi</strong>, und ihr Zeugnis wur<strong>de</strong> von vielen angenommen.<br />

<strong>Die</strong> Jünger hegten auch keine Be<strong>de</strong>nken mehr wegen <strong>de</strong>r Zukunft. Sie wußten, daß Jesus<br />

zwar im Himmel war, daß ihnen aber <strong>de</strong>nnoch seine innigste Anteilnahme galt. Ihnen war<br />

bewußt, daß sie einen Freund am Throne Gottes hatten; <strong>de</strong>shalb brachten sie Gott mit<br />

allem Eifer im Namen Jesu ihre Bitten dar. In heiliger Ehrfurcht beugten sie sich im Gebet und<br />

wie<strong>de</strong>rholten die Verheißung: „Wenn ihr <strong>de</strong>n Vater etwas bitten wer<strong>de</strong>t, so wird er‘s euch geben<br />

in meinem Namen. Bisher habt ihr nichts gebeten in meinem Namen. Bittet, so wer<strong>de</strong>t ihr<br />

nehmen, daß eure Freu<strong>de</strong> vollkommen sei.“ Johannes 16,23.24. Ihr Glaube nahm immer mehr<br />

zu, hatten sie doch das machtvolle Bewußtsein: „Christus ist hier, <strong>de</strong>r gestorben ist, ja vielmehr,<br />

<strong>de</strong>r auch auferweckt ist, welcher ist zur Rechten Gottes und vertritt uns.“ Römer 8,34. Das<br />

Pfingstfest brachte ihnen dann die Fülle <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong> durch die Gegenwart <strong>de</strong>s Trösters, wie es<br />

Christus versprochen hatte.<br />

Der ganze Himmel wartete darauf, <strong>de</strong>n Heiland in <strong>de</strong>n himmlischen Höfen willkommen zu<br />

heißen. Als er auffuhr, führte er <strong>de</strong>n großen Zug <strong>de</strong>rer an, die in <strong>de</strong>n Gräbern gefangen gewesen<br />

und nach seiner Auferstehung befreit wor<strong>de</strong>n waren. Das himmlische Heer begleitete diesen<br />

Freu<strong>de</strong>nzug mit lauten Lobrufen und Gesängen. Als sie sich <strong>de</strong>r Stadt Gottes nähern, rufen die<br />

begleiten<strong>de</strong>n Engel laut: „Machet die Tore weit und die Türen in <strong>de</strong>r Welt hoch, daß <strong>de</strong>r König<br />

<strong>de</strong>r Ehre einziehe!“ Freudig erwi<strong>de</strong>rn die Wächter: „Wer ist <strong>de</strong>r König <strong>de</strong>r Ehre?“ <strong>Die</strong> Engel<br />

stellen diese Frage nicht etwa, weil sie nicht wüßten, wer dieser König ist, son<strong>de</strong>rn um als<br />

Antwort ein begeistertes Lob zu vernehmen: „Es ist <strong>de</strong>r Herr, stark und mächtig, <strong>de</strong>r Herr,<br />

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<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

mächtig im Streit. Machet die Tore weit und die Türen in <strong>de</strong>r Welt hoch, daß <strong>de</strong>r König <strong>de</strong>r<br />

Ehre einziehe!“<br />

Wie<strong>de</strong>rum ist <strong>de</strong>r Ruf zu hören: „Wer ist <strong>de</strong>r König <strong>de</strong>r Ehre?“ Denn die Engel wer<strong>de</strong>n<br />

niemals mü<strong>de</strong>, wenn es darum geht, <strong>Christi</strong> Namen zu verherrlichen. So antworten die<br />

begleiten<strong>de</strong>n Engel wie<strong>de</strong>rum: „Es ist <strong>de</strong>r Herr Zebaoth; er ist <strong>de</strong>r König <strong>de</strong>r Ehre.“ Psalm 24,7-<br />

10. Dann wer<strong>de</strong>n die Tore <strong>de</strong>r Gottesstadt weit geöffnet, und die Engelschar zieht unter lauten<br />

Klängen in die Stadt ein. Dort steht <strong>de</strong>r Thron, umgeben vom Regenbogen <strong>de</strong>r Verheißung. Da<br />

weilen Cherubim und Seraphim. <strong>Die</strong> Anführer <strong>de</strong>r Engelheere, die Söhne Gottes, die Vertreter<br />

<strong>de</strong>r nicht gefallenen Welten sind versammelt. Der himmlische Rat, vor <strong>de</strong>m Luzifer Gott und<br />

seinen Sohn beschuldigt hatte; die Angehörigen jener sündlosen Reiche, über die Satan seine<br />

Herrschaft aus<strong>de</strong>hnen wollte — sie alle stehen bereit, <strong>de</strong>n Erlöser zu grüßen. Sie haben nur <strong>de</strong>n<br />

einen Wunsch, <strong>Christi</strong> Sieg zu verkün<strong>de</strong>n und ihren König zu verherrlichen.<br />

Doch Jesus wehrt <strong>de</strong>m Jubel. Nicht jetzt ist Zeit dafür vorhan<strong>de</strong>n. Er kann in diesem<br />

Augenblick nicht die Ehrenkrone und das königliche Gewand empfangen. Er begibt sich<br />

vielmehr in die Gegenwart seines Vaters. Er weist auf sein verwun<strong>de</strong>tes Haupt, auf die<br />

zerstochene Seite und die entstellten Füße; er hebt seine Hän<strong>de</strong> empor, die noch die Nägelmale<br />

tragen. Er weist auf die Zeichen seines Sieges; dazu bringt er Gott die Webegarbe dar: jene, die<br />

mit ihm auferweckt wur<strong>de</strong>n als Vertreter <strong>de</strong>r großen Schar, die bei seiner Wie<strong>de</strong>rkunft aus ihren<br />

Gräbern hervorgehen wird. Dann nähert er sich <strong>de</strong>m Vater, bei <strong>de</strong>m Freu<strong>de</strong> ist über je<strong>de</strong>n<br />

Sün<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r bereut. Ehe <strong>de</strong>r Welt Grund gelegt wur<strong>de</strong>, hatten <strong>de</strong>r Vater und <strong>de</strong>r Sohn<br />

gemeinsam beschlossen, <strong>de</strong>n Menschen zu erlösen, falls er von <strong>de</strong>r Macht Satans überwun<strong>de</strong>n<br />

wer<strong>de</strong>n sollte. Sie hatten feierlich gelobt, daß Christus <strong>de</strong>r Bürge für das Menschengeschlecht<br />

wer<strong>de</strong>n sollte. <strong>Die</strong>ses Gelüb<strong>de</strong> hat Christus nun erfüllt. Als er am Kreuz ausrief: „Es ist<br />

vollbracht!“ (Johannes 19,30), wandte er sich damit an <strong>de</strong>n Vater. <strong>Die</strong> vor <strong>de</strong>r Erschaffung <strong>de</strong>r<br />

Welt getroffene Übereinkunft war vollständig erfüllt wor<strong>de</strong>n. Nun erklärt er <strong>de</strong>m Vater: Es ist<br />

vollbracht! Deinen Willen, mein Gott, habe ich getan. Ich habe das Erlösungswerk vollen<strong>de</strong>t.<br />

Wenn <strong>de</strong>iner Gerechtigkeit Genüge geschehen ist, dann will ich, „daß, wo ich bin, auch die bei<br />

mir seien, die du mir gegeben hast“. Johannes 17,24.<br />

Da erklärt die Stimme Gottes, daß <strong>de</strong>r Gerechtigkeit Genüge getan und daß Satan besiegt ist;<br />

<strong>Christi</strong> arbeiten<strong>de</strong> und kämpfen<strong>de</strong> Nachfolger seien „begna<strong>de</strong>t ... in <strong>de</strong>m Geliebten“. Epheser<br />

1,6. Vor <strong>de</strong>n himmlischen Engeln und <strong>de</strong>n Vertretern <strong>de</strong>r ungefallenen Welten sind sie als<br />

gerecht erklärt wor<strong>de</strong>n. Wo <strong>de</strong>r Herr ist, da soll seine Gemein<strong>de</strong> auch sein: nämlich dort, wo<br />

„Güte und Treue einan<strong>de</strong>r begegnen, Gerechtigkeit und Frie<strong>de</strong> sich küssen“. Psalm 85,11. Der<br />

Vater schließt die Arme um <strong>de</strong>n Sohn und befiehlt: „Es sollen ihn alle Engel Gottes<br />

anbeten.“ Hebräer 1,6.<br />

Mit unaussprechlicher Freu<strong>de</strong> anerkennen alle Obersten, Fürsten und Gewaltigen die<br />

Oberhoheit <strong>de</strong>s Lebensfürsten. Das Engelheer wirft sich vor ihm nie<strong>de</strong>r, während <strong>de</strong>r frohe Ruf<br />

die himmlischen Höfe erfüllt: „Das Lamm, das erwürget ist, ist würdig, zu nehmen Kraft und<br />

Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob.“ Offenbarung 5,12. Jubellie<strong>de</strong>r<br />

mischen sich mit <strong>de</strong>n Klängen von Engelsharfen, bis <strong>de</strong>r Himmel vor Freu<strong>de</strong> und Lob<br />

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<strong>Die</strong> <strong>Passion</strong> <strong>Christi</strong><br />

überzufließen scheint. <strong>Die</strong> Liebe hat gesiegt. Das Verlorene ist wie<strong>de</strong>rgefun<strong>de</strong>n. Der Himmel<br />

klingt wi<strong>de</strong>r von hellen, melodischen Stimmen, die verkündigen: „Dem, <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Thron<br />

sitzt, und <strong>de</strong>m Lamm sei Lob und Ehre und Preis und Gewalt von Ewigkeit zu<br />

Ewigkeit!“ Offenbarung 5,13.<br />

Von diesem Geschehen himmlischer Freu<strong>de</strong> erreicht uns auf Er<strong>de</strong>n das Echo <strong>de</strong>r<br />

wun<strong>de</strong>rbaren Worte <strong>Christi</strong>: „Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem<br />

Gott und zu eurem Gott.“ Johannes 20,17. <strong>Die</strong> himmlische und die irdische Familie sind eins.<br />

Der Herr ist um unsertwillen gen Himmel gefahren, und für uns lebt er. „Daher kann er auch auf<br />

ewig selig machen, die durch ihn zu Gott kommen; <strong>de</strong>nn er lebt immerdar und bittet für<br />

sie.“ Hebräer 7,25.<br />

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In Erwartung <strong>de</strong>s En<strong>de</strong>s

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